Schwarz-Weiß-Symbolik: Dualistische Denktraditionen und die Imagination von »Rasse«. Religion - Wissenschaft - Anthroposophie [1. Aufl.] 9783839413494

Was haben abendländische Traditionen der Schwarz-Weiß-Symbolik mit Rassentheorie und Rassismus zu tun? Jana Husmann spür

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German Pages 410 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1 Einleitung
1.1 Thema
1.1.1 Zugänge und Umriss des Themas
1.1.2 Differenzierung der Analyseperspektiven und Thesen
1.1.3 Aktuelle Relevanz
1.2 Forschungsstand
1.2.1 Schwarz-Weiß-Symbolik im Rassediskurs
1.2.2 Schwarz-Weiß-Struktur: Binäre Konstruktionsmechanismen
1.2.3 Forschungsstand zu Rassentheorie und Rassismus bei Rudolf Steiner
1.3 Methodik
1.3.1 Inter- und Transdisziplinarität
1.3.2 Diskursanalyse, Repräsentation, Dekonstruktion
1.4 Struktur
2 Schwarz-Weiß-Symbolik: Geistesgeschichtliche Traditionskontexte des Abendlandes
2.1 Einleitung: ›Angst vor der schwarzen Republik‹?
2.2 Schwarz-Weiß: Aktuelle Begriffsdimensionen und Definitionszugänge
2.2.1 ›Alltagsfarben‹: Begriffsdimensionen von Politik, Psychologie bis Physik
2.2.2 Lexika der Symbolik und Rassismus
2.3 Antike Umbrüche: Geist-Materie-Dualismus und griechische Zeugungsmythen
2.3.1 Vorbemerkung
2.3.2 Schrift und Dualismus – ›Neukonstruktion der Genealogie‹
2.3.3 Schwarze Göttin – weißer Zeus
2.3.4 Schwarze Materie – Licht und Logos
2.3.5 Schlussfolgerung
2.4 Christlich-biblische Traditionen: Leib und Zeichen
2.4.1 Vorbemerkung
2.4.2 Teuflisches Schwarz
2.4.3 Totes Fleisch und ›Auferstehungsleib‹ – Paulus’ doppelte Leibkonstruktion
2.4.4 Lichte und finstere Leiber: ›Vom Licht und vom Auge‹
2.4.5 Licht und ›Weißheit‹ Christi
2.4.6 Schwarz auf weiß: Schwarze Zeichen – reine Leiber
2.4.7 Schlussfolgerung
2.5 Gnostische Dualismen: Schöpfungsmythen und Gottesbilder
2.5.1 Vorbemerkung
2.5.2 Finsterer Schöpfergott und (Licht-)Gott des Nichts
2.5.3 Finstere Welt(-werdung) – Erlösung des Lichts
2.5.4 Hyliker, Psychiker, Pneumatiker: Aufstieg zum Licht
2.5.5 Christus als Weiß-Färber
2.5.6 Göttliches Schwarz: Das erste schwarze Wort Gottes
2.5.7 Schlussfolgerung
3 Weißwerden: Historische Vorläufer und Anfänge rassentheoretischer Farbgebung
3.1 Einleitung
3.2 Lichtes Subjekt – schwarz-weiße Natur
3.2.1 Vorbemerkung
3.2.2 Demiurgischer Humanismus – Weltwerdung des Lichts
3.2.3 Rassebegriff und farbliche ›complexion‹
3.2.4 Die Schattenseite der göttlichen Vernunft
3.3 Weißwerden: Licht der Aufklärung und Beginn des ›Wissenschaftlichen Rassismus‹
3.3.1 Vorbemerkung
3.3.2 ›Naturalis lux‹: Anfänge der Rassisierung
3.3.3 Erste Rassenkonstruktionen
3.3.4 Linné: Entwicklung des Hautfarbenschemas
3.3.5 Schönheit, Krankheit, Sündenfall: Ästhetisierung und Pathologisierung
3.3.6 Kant: Weiße Vernunft
3.3.7 ›Reine Formsache‹: Licht und Tugend
3.4 Schlussfolgerung
4 Carl Gustav Carus: ›Symbolik der menschlichen Gestalt‹
4.1 Einleitung
4.2 Licht der Erkenntnis: Idee, Symbol und Weißer Blick
4.3 Das naturalisierte Symbol
4.3.1 Grundannahmen naturgeschichtlicher Entwicklung und ›rassischer‹ Differenz
4.3.2 ›Symbolische‹ Körpernorm(-ierung)
4.3.3 Tag- und Nachtseiten: Explizierung von Geschlecht
4.3.4 Die Juden zwischen Licht und Finsternis
4.4 Schlussfolgerung
5 Rudolf Steiner: Weißsein zwischen Krise und Erlösung
5.1 Einleitung
5.2 Quellen
5.3 Licht der Erkenntnis: Hellsehen und Christus – Finsteres Wissen und Ahriman
5.3.1 Hellseherische ›Wissenschaft‹
5.3.2 Christus: Erlösendes Wissen und Vergeistigung der Materie 245
5.3.3 Ahriman: Geist der materialistischen Wissenschaft
5.4 Leiden am Logos als Weißes Privileg – Christus-Impuls und weiße Haut
5.5 Erlösende Weiblichkeit und Asymmetrie normativer Geschlechter
5.6 Kosmologisches Evolutionsmodell
5.6.1 Schematischer Überblick
5.6.2 Kurzdarstellung
5.6.3 Geschlechtssymbolische Grundstrukturen
5.7 Anfang und Ende der (›Menschen‹-)›Rassen‹
5.8 Rassenmodelle und Individualkörper
5.9 Knochenleib und Lichtleib
5.10 ›Licht-Ich‹ und Hautfarben
5.11 Egalität?
5.12 Schlussfolgerung
6 Keine Rassenlehre bei Rudolf Steiner? Aktuelle anthroposophische Positionen
6.1 Vorbemerkung
6.2 ›Rassismusvorwürfe zurückgewiesen‹
6.3 ›Partielle Diskriminierung‹: Niederländische und deutsche Positionen
6.4 Mythos ›Rasse‹ oder: Rassenlehre mit und ohne ›Rassen‹
6.4.1 Der ›wissenschaftliche‹ Rassebegriff der Anthroposophie
6.4.2 Kulturalisierung von ›Rasse‹
6.5 Plausibilisierungsstrategien: Beispiel ›Arbeitervortrag‹ nach Bader/Ravagli
6.5.1 ›Vorurteile‹ und Farbenlehre
6.5.2 Rassismus als Humanismus: ›Rassische‹ Differenz als Gleichheit
6.5.3 ›Krise des Materialismus‹ und Weiße Erlösung
6.6 ›Materialistische Weltanschauung‹ und Textinterpretation
6.7 Waldorfpädagogik und das »dunkle Herz des Materialismus«
6.8 Geographie oder Steiners Rassenlehre als geographisch-kulturelle Differenz
6.8.1 Zielsetzung des Lehrbuchs »Das lebendige Wesen der Erde«
6.8.2 »Afrika – das Geburtsland der Menschheit«
6.8.3 »Mensch und Natur in anderen Kulturen und Kontinenten«
6.8.4 »Geographische Polaritäten«
6.9 Schlussfolgerung
7 Schlussfolgerung
Literatur- und Quellenverzeichnis
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Schwarz-Weiß-Symbolik: Dualistische Denktraditionen und die Imagination von »Rasse«. Religion - Wissenschaft - Anthroposophie [1. Aufl.]
 9783839413494

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Jana Husmann Schwarz-Weiß-Symbolik

| GenderCodes | Herausgegeben von Christina von Braun, Volker Hess und Inge Stephan | Band 13

Jana Husmann (Dr. phil.), Kulturwissenschaftlerin und Genderforscherin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschlechter- und Rassismusforschung, religiöse Weltanschauungen, Trans- und Interdisziplinarität.

Jana Husmann

Schwarz-Weiß-Symbolik Dualistische Denktraditionen und die Imagination von »Rasse«. Religion – Wissenschaft – Anthroposophie

Das Forschungsprojekt wurde gefördert durch Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus Lektorat & Satz: Jana Husmann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1349-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung ......................................................................................... 9 1 Einleitung ....................................................................................... 11 1.1 Thema............................................................................................... 11 1.1.1 Zugänge und Umriss des Themas ........................................... 11 1.1.2 Differenzierung der Analyseperspektiven und Thesen............. 19 1.1.3 Aktuelle Relevanz .................................................................... 26 1.2 Forschungsstand .............................................................................. 29 1.2.1 Schwarz-Weiß-Symbolik im Rassediskurs ............................... 29 1.2.2 Schwarz-Weiß-Struktur: Binäre Konstruktionsmechanismen ... 33 1.2.3 Forschungsstand zu Rassentheorie und Rassismus bei Rudolf Steiner .................................................................... 38 1.3 Methodik ........................................................................................... 42 1.3.1 Inter- und Transdisziplinarität ................................................... 42 1.3.2 Diskursanalyse, Repräsentation, Dekonstruktion..................... 45 1.4 Struktur ............................................................................................. 48

2 Schwarz-Weiß-Symbolik: Geistesgeschichtliche Traditionskontexte des Abendlandes ......................................... 51 2.1 Einleitung: ›Angst vor der schwarzen Republik‹? ............................. 51 2.2 Schwarz-Weiß: Aktuelle Begriffsdimensionen und Definitionszugänge ........................................................................... 55 2.2.1 ›Alltagsfarben‹: Begriffsdimensionen von Politik, Psychologie bis Physik ............................................................ 55 2.2.2 Lexika der Symbolik und Rassismus ....................................... 58 2.3 Antike Umbrüche: Geist-Materie-Dualismus und griechische Zeugungsmythen .............................................................................. 62 2.3.1 Vorbemerkung ......................................................................... 62 2.3.2 Schrift und Dualismus – ›Neukonstruktion der Genealogie‹ ............................................................................. 63 2.3.3 Schwarze Göttin – weißer Zeus ............................................... 65 2.3.4 Schwarze Materie – Licht und Logos ....................................... 68 2.3.5 Schlussfolgerung ..................................................................... 73 2.4 Christlich-biblische Traditionen: Leib und Zeichen ............................ 74 2.4.1 Vorbemerkung ......................................................................... 74 2.4.2 Teuflisches Schwarz ................................................................ 75 2.4.3 Totes Fleisch und ›Auferstehungsleib‹ – Paulus’ doppelte Leibkonstruktion ........................................... 77 2.4.4 Lichte und finstere Leiber: ›Vom Licht und vom Auge‹ ............ 81 2.4.5 Licht und ›Weißheit‹ Christi ...................................................... 85

2.4.6 Schwarz auf weiß: Schwarze Zeichen – reine Leiber .............. 89 2.4.7 Schlussfolgerung ..................................................................... 94 2.5 Gnostische Dualismen: Schöpfungsmythen und Gottesbilder .......... 95 2.5.1 Vorbemerkung ......................................................................... 95 2.5.2 Finsterer Schöpfergott und (Licht-)Gott des Nichts .................. 97 2.5.3 Finstere Welt(-werdung) – Erlösung des Lichts ..................... 101 2.5.4 Hyliker, Psychiker, Pneumatiker: Aufstieg zum Licht ............. 107 2.5.5 Christus als Weiß-Färber ....................................................... 110 2.5.6 Göttliches Schwarz: Das erste schwarze Wort Gottes ........... 113 2.5.7 Schlussfolgerung ................................................................... 117

3 Weißwerden: Historische Vorläufer und Anfänge rassentheoretischer Farbgebung ............................... 121 3.1 Einleitung ........................................................................................ 121 3.2 Lichtes Subjekt – schwarz-weiße Natur .......................................... 122 3.2.1 Vorbemerkung ....................................................................... 122 3.2.2 Demiurgischer Humanismus – Weltwerdung des Lichts ........ 124 3.2.3 Rassebegriff und farbliche ›complexion‹ ................................ 131 3.2.4 Die Schattenseite der göttlichen Vernunft .............................. 138 3.3 Weißwerden: Licht der Aufklärung und Beginn des ›Wissenschaftlichen Rassismus‹ .................................................... 146 3.3.1 Vorbemerkung ....................................................................... 146 3.3.2 ›Naturalis lux‹: Anfänge der Rassisierung .............................. 147 3.3.3 Erste Rassenkonstruktionen .................................................. 151 3.3.4 Linné: Entwicklung des Hautfarbenschemas ......................... 154 3.3.5 Schönheit, Krankheit, Sündenfall: Ästhetisierung und Pathologisierung .................................................................... 156 3.3.6 Kant: Weiße Vernunft............................................................. 162 3.3.7 ›Reine Formsache‹: Licht und Tugend................................... 169 3.4 Schlussfolgerung ............................................................................ 178

4 Carl Gustav Carus: ›Symbolik der menschlichen Gestalt‹ ..... 183 4.1 Einleitung ........................................................................................ 183 4.2 Licht der Erkenntnis: Idee, Symbol und Weißer Blick ..................... 187 4.3 Das naturalisierte Symbol ............................................................... 198 4.3.1 Grundannahmen naturgeschichtlicher Entwicklung und ›rassischer‹ Differenz ............................................................. 198 4.3.2 ›Symbolische‹ Körpernorm(-ierung) ....................................... 202 4.3.3 Tag- und Nachtseiten: Explizierung von Geschlecht.............. 212 4.3.4 Die Juden zwischen Licht und Finsternis ............................... 223 4.4 Schlussfolgerung ............................................................................ 226

5 Rudolf Steiner: Weißsein zwischen Krise und Erlösung ........ 229 5.1 Einleitung ........................................................................................ 229 5.2 Quellen ........................................................................................... 239 5.3 Licht der Erkenntnis: Hellsehen und Christus – Finsteres Wissen und Ahriman ....................................................... 241 5.3.1 Hellseherische ›Wissenschaft‹ ............................................... 241

5.3.2 Christus: Erlösendes Wissen und Vergeistigung der Materie 245 5.3.3 Ahriman: Geist der materialistischen Wissenschaft ............... 249 5.4 Leiden am Logos als Weißes Privileg – Christus-Impuls und weiße Haut ..................................................... 251 5.5 Erlösende Weiblichkeit und Asymmetrie normativer Geschlechter ................................................................. 259 5.6 Kosmologisches Evolutionsmodell .................................................. 266 5.6.1 Schematischer Überblick ....................................................... 266 5.6.2 Kurzdarstellung ...................................................................... 266 5.6.3 Geschlechtssymbolische Grundstrukturen ............................. 273 5.7 Anfang und Ende der (›Menschen‹-)›Rassen‹ ................................ 276 5.8 Rassenmodelle und Individualkörper .............................................. 285 5.9 Knochenleib und Lichtleib ............................................................... 291 5.10 ›Licht-Ich‹ und Hautfarben ............................................................. 299 5.11 Egalität?......................................................................................... 308 5.12 Schlussfolgerung ........................................................................... 310

6 Keine Rassenlehre bei Rudolf Steiner? Aktuelle anthroposophische Positionen................................... 317 6.1 Vorbemerkung ................................................................................ 317 6.2 ›Rassismusvorwürfe zurückgewiesen‹............................................ 318 6.3 ›Partielle Diskriminierung‹: Niederländische und deutsche Positionen........................................................................ 326 6.4 Mythos ›Rasse‹ oder: Rassenlehre mit und ohne ›Rassen‹ ........... 329 6.4.1 Der ›wissenschaftliche‹ Rassebegriff der Anthroposophie..... 329 6.4.2 Kulturalisierung von ›Rasse‹ .................................................. 332 6.5 Plausibilisierungsstrategien: Beispiel ›Arbeitervortrag‹ nach Bader/Ravagli......................................................................... 333 6.5.1 ›Vorurteile‹ und Farbenlehre .................................................. 333 6.5.2 Rassismus als Humanismus: ›Rassische‹ Differenz als Gleichheit ......................................................................... 335 6.5.3 ›Krise des Materialismus‹ und Weiße Erlösung ..................... 337 6.6 ›Materialistische Weltanschauung‹ und Textinterpretation ............. 340 6.7 Waldorfpädagogik und das »dunkle Herz des Materialismus« ....... 342 6.8 Geographie oder Steiners Rassenlehre als geographisch-kulturelle Differenz ................................................... 345 6.8.1 Zielsetzung des Lehrbuchs »Das lebendige Wesen der Erde« ............................................................................... 345 6.8.2 »Afrika – das Geburtsland der Menschheit« .......................... 347 6.8.3 »Mensch und Natur in anderen Kulturen und Kontinenten« .......................................................................... 349 6.8.4 »Geographische Polaritäten« ................................................ 351 6.9 Schlussfolgerung ............................................................................ 353

7 Schlussfolgerung ........................................................................ 357 Literatur- und Quellenverzeichnis ................................................. 361

Da nk sa gung

Das vorliegende Buch stellt die überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift dar, die Ende 2008 an der Humboldt-Universität zu Berlin im Fach Kulturwissenschaft eingereicht wurde. Ohne die Vielzahl an individuellen und institutionellen Förderungen und fruchtbaren Diskussionszusammenhängen wäre diese Arbeit nicht entstanden. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Christina von Braun, die das Promotionsprojekt in der Funktion der wissenschaftlichen Erstbetreuung auf vielfältige Weise unterstützt hat und durch deren Arbeiten das Projekt maßgeblich inspiriert ist. Ebenso verdanke ich produktive inhaltliche Anregungen und Kritik Prof. Dr. Dorothea Dornhof, die dankenswerterweise die Zweitbetreuung übernommen hat. Ideell und finanziell gefördert wurde das Promotionsprojekt vom »Berliner Programm zur Förderung der Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre«, der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem DFG-Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« der Humboldt-Universität zu Berlin. Bedeutsame Diskussionen und wichtige Denkanstöße verdanke ich dem »Arbeitskreis Gender« der Rosa-Luxemburg-Stiftung (2004-2006), dem unter der Leitung von Prof. Dr. Susan Arndt organisierten »Berliner WhitenessKolloquium« der Humboldt-Universität zu Berlin (2002-2005), dem DoktorandInnen-Kolloquium von Prof. Dr. Christina von Braun und insbesondere den Kolloquien, Semesterworkshops und weiteren Veranstaltungen des DFGGraduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie« (2005-2008). Dabei waren die Arbeitsgruppen »AG Intersektionalität«, »AG Männlichkeiten« und »AG Okzidentalismus« des DFG-Graduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie« für methodologische Reflexionen, die Zuspitzung von Fragestellungen und inhaltliche Konkretisierungen des Projekts unerlässlich. Mein namentlicher Dank für verschiedenste Anregungen und Zusammenarbeiten in den o. g. Kontexten gilt vor allem Dr. des. Claudia Brunner, Dr. Anette Diet-

10 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK

rich, Dr. Ute Frietsch, Sven Glawion, Dr. Sabine Grenz, Dr. des. Elahe Haschemi Yekani, Dr. des. Nanna Heidenreich, Daniela Hrzán, Dr. Eva Johach, Dr. Carsten Junker, Anne Koch-Rhein, Karolina Krasuska, PD Dr. Isabell Lorey, Dr. des. Beatrice Michaelis, Simon Strick, Dipl.-Psych. Martina Tißberger sowie Prof. Dr. Gabriele Dietze, Prof. Dr. Dr. hc Stefanie von Schnurbein, Prof. Dr. Inge Stephan und Prof. Dr. Edith Wenzel. Für spezielle Kommentierungen meines Promotionsprojekts im Rahmen unterschiedlicher Workshops des DFG-Graduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie« bedanke ich mich zudem bei Prof. Dr. Nikita Dhawan, Prof. Dr. María do Mar Castro Varela und bei Prof. Dr. Esther Fischer-Homberger. Vielerlei informative Hinweise und intensive, teils kontroverse, jedoch in jeder Hinsicht produktive Diskussionen zum Themenkomplex ›Anthroposophie‹ verdanke ich Andreas Lichte. Bereichernd war in diesem Kontext u. a. auch die Tagung »Anthroposophie – Kritische Reflexionen« an der Humboldt-Universität zu Berlin (2006), die durch die aktive Unterstützung von Andreas Lichte sowie Dr. Jan Badewien, Prof. Dr. Joachim Ringleben und Prof. Dr. Hartmut Zinser ermöglicht wurde. Für das Lektorat der Dissertationsschrift möchte ich mich herzlich bei Dr. Sabine Grenz, Britta von der Heide, Francisca Hoffmann-Axthelm, Dr. Eva Johach und insbesondere bei Viola Beckmann für ihre insgesamt außerordentliche Unterstützung während der Endphase der Dissertation bedanken. Als Koordinatorin des Graduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie« hat Viola Beckmann zudem die für das Promotionsprojekt unerlässlichen Arbeitszusammenhänge organisatorisch ermöglicht. Und nicht zuletzt verdanke ich ihrer unermüdlichen Akribie und wohltuenden Gelassenheit das Zustandekommen der vorliegenden Druckfassung, die sie unter immensem Zeitaufwand als Lektorin und Freundin auf vielfältige Weise befördert hat. Von besonderem Wert für die Druckfassung war zudem das gewissenhafte und gleichsam zügige Lektorat von Gregor Seebacher, dem ich für seinen bewundernswerten Einsatz ausgesprochen dankbar bin. Ein großes Dankeschön geht – last but not least – an meine Familie für viel Zuspruch und finanzielle Zuschüsse. Ja-El Janks rassismuskritische Ansichten waren von grundlegender Bedeutung für meine vorangegangenen und vorliegenden wissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Berlin, 22.08.2010

1 Einleitung

1.1 Thema 1.1.1 Zugänge und Umriss des Themas »Diese Schwarzen in Afrika haben die Eigentümlichkeit, daß sie alles Licht und alle Wärme vom Weltenraum aufsaugen. Sie nehmen das auf.«1 »Wir sind in der Tat dem Weltenall gegenüber eine weiße Rasse, denn wir werfen alles äußere Licht zurück. Wir werfen alles äußere Licht und im Grunde genommen auch alle Wärme zurück.«2

Schwarz und Weiß beschreiben ›unbunte‹ Farben, kulturelle Symbole und soziale Kategorien zugleich, die zeitspezifisch und je nach sozio-kulturellen Kontexten variieren. In den westlichen Alltagsdiskurs schreibt sich die abendländische Schwarz-Weiß-Symbolik auf verschiedenste Weise ein. Aktuelle Begriffsassoziationen umschließen Wortkombinationen wie: schwarz sehen, schwarz fahren, schwarz arbeiten, schwarz malen, anschwärzen, sich schwarz ärgern, schwarze Aussicht, schwarzer Teufel, schwarze Hexe, schwarze Göttin, schwarze Madonna, schwarze Magie, schwarze Kunst, schwarze Messe, schwarzer Tod, schwarze Nacht, schwarzer Peter, schwarzer Mann, schwarzes Schaf, schwarzer Freitag, Schwarzmarkt, schwarze Kassen, schwarze Zahlen, schwarze Orte, ins Schwarze treffen, schwarzer Humor, schwarze Romantik, schwarze Löcher, Schwarzlicht, Schwarzbuch, schwarzes Gold, schwarze Rasse, schwarzer Körper, schwarze Menschen... 1 2

Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 55 (GA = Rudolf Steiner Gesamtausgabe). Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 57.

12 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK Weißes Licht, weiße Magie, weiße Kunst, weißer Tod, weiße Taube, weiße Väter, weiße Frau, Weißer Sonntag, Weißes Haus, Weißer Ring, Weißbuch, weißes Gold, weiße Weste, Halbgötter in Weiß, sich weiß waschen, weißer Körper, weiße Rasse, weiße Menschen... Schwarz-Weiß-Denken, Schwarz-Weiß-Malerei, Schwarz-Weiß-Bild, schwarz auf weiß...

An Schwarz und Weiß knüpfen sich eine Vielzahl metaphysischer und weltlicher Codierungen, die mit Dualismen von Licht und Finsternis, Reinheit und Unreinheit, Transzendenz und Weltlichkeit verbunden sind, wie sich hier bereits zeigt. Die sprachmetaphorischen Assoziationen beinhalten religiöse, physikalische, politische, philosophische, literarische, mathematische, medientechnische und rassentheoretische Dimensionen. Die vorliegende kulturwissenschaftliche Arbeit widmet sich der Grundfrage: Was haben abendländische Traditionen der Schwarz-Weiß-Symbolik mit Rassentheorie und Rassismus zu tun? Seit den 1990er Jahren sind im deutschen akademischen Bereich, insbesondere auch im Rahmen der Kulturwissenschaft und der Gender Studies, zunehmend Forschungsschwerpunkte zu den Kategorien ›Schwarzsein‹/›Blackness‹ und ›Weißsein‹/›Whiteness‹ vorzufinden. Die theoretisch-akademischen Impulse stammen in erster Linie aus dem US-amerikanischen Kontext der Black Studies3 und Critical Whiteness Studies,4 die über rassismuskritische Perspektiven verschiedentlich mit postkolonialer Kritik bzw. den Postcolonial Studies5 in Verbindung stehen. Hieran schließt das interdisziplinäre For3 4

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Die Black Studies werden häufig parallel unter dem Begriff Africana Studies gefasst. Im US-amerikanischen Raum zählen dazu die African American Studies. Zum US-amerikanischen und britischen Forschungskontext der Critical Whiteness Studies bzw. zu rassismuskritischer Literatur, durch die dieses Forschungsfeld maßgeblich beeinflusst ist, vgl. u. a. Delgado, R./Stefancic, J. (1997); Dyer, R. (2006); Frankenberg, R. (1993); Frankenberg, R. (1999a); hooks, b. (1994); Morrison, T. (1995); Ware, V. (1992). Zum Überblick über das Forschungsfeld der Critical Whiteness Studies vgl. Dietze, G. (2006); Walgenbach, K. (2005), S. 17-43. Siehe auch die Literaturangaben zur Kritischen Weißseinsforschung in Deutschland (Fußnote 6 in diesem Kapitel). Die interdisziplinär organisierten Cultural Studies bilden für die Postcolonial Studies im anglo-amerikanischen und britischen Kontext den akademischen Überbau. Vgl. Baßler, M. (2003), S. 151. Zu postkolonialer Kritik bzw. Postcolonial Theory aus dem anglo-amerikanischen und britischen Forschungskontext vgl. u. a. Bhabha, H. (2000); Gilroy, P. (1993); Hall, S. (1994); McClintock, A. (1995); Mohanty, C. T. (1991); Mohanty, C. T. (2003); Said, E. (1994); Spivak, G. C. (1988); Spivak, G. C. (1990); Spivak, G. C. (1999). Zu Postkolonialer Theorie/Postcolonial Theory in der deutschsprachigen Forschungsliteratur vgl. u. a. Castro Varela, M. d. M./Dhawan, N. (2005a); Castro Varela, M. d. M./ Dhawan, N. (2009); Conrad, S./Randeria, S. (2002); Dietze, G. (2005); Ha,

EINLEITUNG | 13

schungsfeld der Kritischen Weißseinsforschung in Deutschland an.6 Grundlegend inspiriert ist dieser Bereich der Rassismusforschung durch bewegungspolitische und akademische Kritik von People of Color,7 v. a. seitens Schwarzer8 Feministinnen/Women of Color, an hegemonialen Weißen9 Dominanzverhältnissen in Geschichte und Gegenwart.10

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7

8

9

K. N./Lauré al-Samarai, N./Mysorekar, S. (2007a); Steyerl, H./Gutiérrez Rodríguez, E. (2003). Zur Kritischen Weißseinsforschung im deutschsprachigen Raum vgl. u. a. Dietrich, A. (2007); Eggers, M. M./Kilomba, G./Piesche, P./Arndt, S. (2005); L’Homme (2005); Linke, U. (1999); Schmidt-Linsenhoff, V./Hölz, K./Uerlings, H. (2004); Tißberger, M./Dietze, G./Hrzán, D./Husmann-Kastein, J. (2006a); Wachendorfer, U. (2001); Walgenbach, K. (2005); Wollrad, E. (2005). Zu unterschiedlichen rassismustheoretischen Ansätzen im Kontext Kritischer Weißseinsforschung in Deutschland vgl. u. a. Dietze, G. (2006), S. 225-231. Der aus dem bürgerrechtspolitischen Kontext der USA stammende Begriff ›People of Color‹ wird als politische Selbstbezeichnung auch im Deutschen in englischer Fassung verwendet. Vgl. u. a. Eggers, M. M./Kilomba, G./Piesche, P./Arndt, S. (2005); Ha, K. N./Lauré al-Samarai, N./Mysorekar, S. (2007a). Vgl. unter den neueren Definitionsansätzen zum Begriff ›People of Color‹ im deutschsprachigen Kontext v. a. Ha, K. N./Lauré al-Samarai, N./Mysorekar, S. (2007b). Die Großschreibung des Adjektivs ›Schwarz‹ erfolgt in Bezugnahme auf Schreibpraktiken, die ›Schwarz‹ als sozio-politische Kategorie und als politischen (Identitäts-)Begriff emanzipatorischer Selbstbestimmung kennzeichnen. Vgl. u. a. Ayim, M. (2001); Ha, K. N./Lauré al-Samarai, N./Mysorekar, S. (2007b), S. 13; Hügel, I./Lange, C./Ayim, M./Bubeck, I./Aktas, G./Schultz, D. (1993b), S. 13; McLaughlin, A. N. (1993). In der historischen Entwicklung dieser politisch-strategischen Selbstbezeichnung indes war zunächst auch die Kleinschreibung des Begriffs ›schwarz‹ üblich. Vgl. u. a. Afrekete (1988-1990). Die politisch-emanzipatorische (Selbst-)Bezeichnung ›schwarz‹/›Schwarz‹ wurde/wird unterschiedlich weit gefasst. Sie umschließt im deutschen Kontext verschiedentlich die politische Konzeption von ›People of Color‹ und wurde/wird dabei auch für und von Personen verwendet, die aufgrund ihrer Religion, Kultur und/oder ›Ethnie‹ rassistischen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Vgl. Ha, K. N./Lauré al-Samarai, N./Mysorekar, S. (2007b), S. 12f.; Hügel, I./Lange, C./Ayim, M./Bubeck, I./Aktas, G./Schultz, D. (1993b), S. 13; McLaughlin, A. N. (1993); Oguntoye, K. (1989). Zum Zusammenhang von Rassismus und Ethnisierungsprozessen in Deutschland vgl. auch Gutiérrez Rodríguez, E. (1999). Vgl. ferner die Website der Initiative Schwarzer Deutscher (ISD): http://www.isdonline.de/ (Recherchestand: 07.11.07); Website ADEFRA e.V. – Schwarze deutsche Frauen und Schwarze Frauen in Deutschland: http://www. adefra.de/ (Recherchestand: 07.11.07). Die Großschreibung des Adjektivs ›Weiß‹ verweist in Anlehnung an Definitionen zu Schwarz als sozio-politischer Kategorie auf den sozialen Konstruktionscharakter von Weißsein. Vgl. Wachendorfer, U. (2001), S. 99, Anm. 1. Zugleich bleibt zu unterscheiden, dass Schwarz im Gegensatz zu Weiß eine emanzipatorische Selbstbezeichnung darstellt. Die Angleichung der Großschreibweise des Adjektivs Weiß soll so auch nicht suggerieren, es handele sich ebenfalls um einen politischen Emanzipationsbegriff. Im Gegenteil – Weiß(sein) ist als historisch entwickelte soziale Dominanzkategorie zu begreifen. Die Großschreibung

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Die vorliegende kulturwissenschaftliche Untersuchung versteht sich als Beitrag zur Kritischen Weißseinsforschung und nimmt dabei Bezug auf Ansätze, die Schwarzsein und Weißsein als historisch entwickelte soziale Strukturkategorien und sozio-politische Identitäten verhandeln, Weißsein als (›unsichtbare‹) soziale Normkategorie zum zentralen Gegenstand hegemoniekritischer Reflexionen machen und unterschiedliche sozio-kulturelle Kontexte berücksichtigen.11 Diese Definitionsansätze zu Schwarz und Weiß als historisch gewordenen, sozial konstruierten (Identitäts-)Kategorien und sozialen Positionen stehen entsprechend in ihrer anti-essentialistischen und anti-biologistischen Ausrichtung in Opposition zu historisch vorangegangenen rassentheoretischen Bestimmungen, mit denen sich die vorliegende Arbeit auseinandersetzt. Zugleich stellt die Geschichte der Rassentheorie und die ihr inhärente biologistische Kategorienbildung den historischen Hintergrund für rassistische Strukturen sozialer Ungleichheit dar, die sich bis heute fortsetzen.12 Entsprechend ergibt sich die analytische Notwendigkeit, Weißsein/Whiteness13

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verweist somit lediglich auf die Distanzierung gegenüber Vorstellungen biologischer Entitäten und betont die sozialen Konstruktionsprozesse. Vgl. im deutschsprachigen Raum u. a. Afrekete (1988-1990); Eggers, M. M./ Kilomba, G./Arndt, S. (2005); Fuchs, B./Habinger, G. (1996); Ha, K. N./Lauré al-Samarai, N./Mysorekar, S. (2007a); Hügel, I./Lange, C./Ayim, M./Bubeck, I./ Aktas, G./Schultz, D. (1993a); Oguntoye, K./Opitz, M./Schultz, D. (1991); Uremovic, O./Oerter, G. (1994); vgl. im US-amerikanischen Kontext u. a. Collins, P. H. (1998a); Crenshaw, K. W. (1995); hooks, b. (1994); Joseph, I. G. (1993); Lorde, A. (1988); Moraga, C./Anzaldúa, G. E. (1981); Morrison, T. (1995). Weißsein/Whiteness wird hier entsprechend als soziales Normativitätskonstrukt in dekonstruktivistischer Absicht fokussiert. Damit wird sich v. a. an Ansätze angelehnt, welche die Hinterfragung von Weißsein/Whiteness als »the ›unmarked marker‹« (Frankenberg, R. (1999b), S. 1), als machtförmige Subjektkonstruktion und Selbstrepräsentation von ›Farblosigkeit‹ und ›Transparenz‹ (vgl. Spivak (1988); Spivak, G. C. (1999)), als »Unsichtbarkeit einer herrschenden Normalität« (Wachendorfer, U. (2001)), als realitätsmächtige kulturelle Imagination von Normativität (vgl. Dyer, R. (2006); hooks, b. (1994); Morrison, T. (1995)) und als (relationalen) sozialen ›Ort von Privilegien‹ (vgl. Frankenberg, R. (1993)) zur analytischen Disposition stellen. Vgl. auch Tißberger, M./ Dietze, G./Hrzán, D./Husmann-Kastein, J. (2006b), S. 8. Zu Alltagsrassismus und institutionellem Rassismus im deutschen Kontext vgl. u. a. Arndt, S. (2001a); Gutiérrez Rodríguez, E. (1999); Sow, N. (2008). Ich werde im Folgenden den Begriff ›Weißsein‹ statt des englischen Begriffs ›Whiteness‹ verwenden. Zu Recht problematisiert Katharina Walgenbach, dass der deutsche Begriff ›Weißsein‹ einen »äußerst essentialistischen Beiklang hat.« Walgenbach, K. (2005), S. 18. Dennoch erscheint es mir sinnvoll, den englischen Begriff ins Deutsche zu übertragen, nicht zuletzt, um den sprachlichen Eindruck zu vermeiden, es handele sich um ein soziales Phänomen, dass allein im englischsprachigen Kontext seine Wurzeln habe und nur dort Geltung besitze. Ich schließe mich hiermit jedoch Walgenbachs Definition zu Whiteness an, wenn sie formuliert, dass der Begriff »für ein Gesamtkonzept von Konnotatio-

EINLEITUNG | 15

als sozio-strukturelle Position und, damit verbunden, als kulturelle Repräsentation von Normativität und Dominanz kritisch zu fokussieren, soziopolitische Benennungspraktiken zu reflektieren und rassentheoretische Ordnungsmuster selbst auf ihre wirkmächtigen imaginären Gehalte hin zu befragen. »Haben Hautfarben eine Geschichte?« fragt der Historiker Valentin Groebner in einem gleichnamigen Artikel 2003.14 Die vorliegende Arbeit wird diese Frage bejahen und der Geschichte der Rassentheorie als einer Geschichte schwarz-weiß-symbolischer Ordnungsmuster nachspüren. Die Untersuchung historischer Rassendiskurse setzt dabei neue analytisch dekonstruktivistische Schwerpunkte in der Konzentration auf die europäischen Traditionen geistesgeschichtlicher, wissenschaftlicher und sozio-politischer Entwicklungen, und zwar in Bezugnahme auf folgende zwei Forschungsaspekte und Zusammenhänge: erstens die europäischen Traditionen der Schwarz-WeißSymbolik, verstanden als ein komplexes mythologisches, mystisches und religiöses Denk- und Repräsentationssystem des abendländischen Dualismus, dem geschlechtliche Codierungen inhärent sind; zweitens die europäischen Rassendiskurse, innerhalb derer die symbolischen Traditionen wirksam sind und Schwarz und Weiß zu anthropologischen Kategorien konstruiert werden. Es wird hiermit gefragt: Wie und in welchen historischen Wissenskontexten kommt es zur Überlagerung von schwarz-weiß-symbolischen Ordnungsmustern und anthropologischen Kategorienbildungen? Inwiefern prägen bzw. konstituieren dualistische Denktraditionen des Abendlandes rassistische Konstruktionen des ›Eigenen‹ und des ›Anderen‹? Inwiefern sind farbsymbolische Zuordnungen im rassentheoretischen Kontext mit säkularen Ermächtigungsstrategien verknüpft? Und welche Bedeutung kann der symbolgeschichtlichen Überlagerung von dualistischer Farb- und Geschlechtssymbolik für Charakterisierungsstrukturen geschlechtsspezifisch konstruierter Rassismen15 beigemessen werden? Ziel der Untersuchung ist die beispielhafte Verdeutlichung bestimmter kultureller Konstruktionslogiken und damit des kulturell imaginären Charakters rassentheoretischer Modelle, die mit der Wirkmächtigkeit symbolischer Ordnungssysteme im säkularen Kontext diskursiv zusammenhängen. Meine nen, Subjektpositionen, sozialen Ordnungen, Kategorien, Wahrnehmungsmustern, sozialen Erfahrungen und nicht zuletzt für Dominanz [steht].« Walgenbach, K. (2005), S. 18. Siehe auch Fußnote 9 zur Großschreibung des Adjektivs ›Weiß‹ in diesem Kapitel. 14 Groebner, V. (2003). 15 Unter dem Begriff ›geschlechtsspezifisch konstruierter Rassismus‹ werden in dieser Arbeit interdependente Zusammenhänge der Kategorien ›Rasse‹ und Geschlecht fokussiert, die sich auf rassisierte Geschlechterkonstruktionen und vergeschlechtlichte Rassenkonstruktionen beziehen. Siehe dazu ausführlicher Kap. 1.1.2; 1.2.

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Ausgangsthese lautet: Nicht weil die Weißen weiß und die Schwarzen schwarz sind, kommt es im Rahmen rassentheoretischer Konzepte zur Einschreibung schwarz-weiß-symbolischer Codierungen, sondern umgekehrt: Die symbolisch-dualistischen Traditionen des Abendlandes strukturieren die rassentheoretische Farbgebung und Kategorisierung. Ausgehend von der These, dass sich der europäische Säkularisierungsprozess nicht nur als Abkehr vom Religiösen, sondern auch als »Verweltlichung religiöser Denkstrukturen« begreifen lässt,16 wird die Arbeit Prozesse der Naturalisierung17 und (Re)Spiritualisierung schwarz-weiß-symbolischer Ordnungsmuster im historischen Rassediskurs exemplarisch vorstellen. Voraussetzung hierfür ist zunächst eine nähere Auseinandersetzung mit den symbolisch-dualistischen Denktraditionen des Abendlandes selbst. Hierbei wird sich auf antike, christliche und gnostische Traditionskontexte konzentriert, mit denen verschiedene Formen und Ausprägungen des abendländischdualistischen Denkens verbunden sind. Es geht damit um die Skizzierung jeweiliger symbolgeschichtlicher Aufladungen der Farben Schwarz und Weiß und die Erfassung symbolisch-dualistisch strukturierter Bild- und Denkräume, um in einem zweiten Schritt nach der Wirksamkeit der geistesgeschichtlichen Traditionen im Rassediskurs zu fragen.

16 Braun, C. v. (2001), S. 438. Zum Begriff der Säkularisierung vgl. auch Eschenbach, I./Lanwerd, S. (2000). 17 Der hier verwendete Begriff der ›Naturalisierung‹ schließt an Arbeiten aus der Frauen- und Geschlechterforschung an. Unter Naturalisierung kann danach ein sozialer Konstruktionsprozess verstanden werden, mit dem abstrakte, symbolische Prinzipien und Eigenschaften Individuen sozialer Gruppen als ›natürliche‹, quasi biologische Eigenschaften eingeschrieben werden. Der Prozess der Naturalisierung fußt auf der Homogenisierung der jeweiligen sozialen Gruppen. Die ›Naturalisierung der Geschlechterdifferenz‹ ist dabei durch ein symbolischdualistisches Ordnungssystem des Abendlandes bestimmt, dass im Zuge der europäischen Säkularisierung seine ›Naturalisierung‹ erfährt, d. h. zur ›Natur‹ polarisierter ›Geschlechtscharaktere‹ wird. Die Geschlechtscharaktere fußen dabei ihrerseits auf polaren Konstruktionen geschlechtlicher Körper. Soziale (Geschlechter-)Verhältnisse erhalten hiernach den Charakter einer ›Naturordnung‹. Vgl. zu diesen und weiteren Dimensionen der Naturalisierung der Geschlechterordnung Braun, C. v. (2001), S. 58f.; Bublitz, H. (1993); Haraway, D. (1991); Honegger, C. (1996); Orland, B./Scheich, E. (1995); Scheich 2000; Scott, J.W. (2001). In der vorliegenden Arbeit knüpfe ich insbesondere an den Definitionsansatz zur Naturalisierung eines symbolisch-dualistischen Ordnungssystems an. Naturalisierung verstehe ich hiernach als einen diskursiven Prozess, der – unter Berücksichtigung der Interdependenzen von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ – über die Konstruktion von Geschlecht hinaus Relevanz erhält. Zudem wird in erweitertem Sinne an den Ansatz einer »›Naturalisierung des Symbolischen‹« (Braun, C. v. (2001), S. 82) angeschlossen, der mit der Definition von Säkularisierung als »Verweltlichung religiöser Denkstrukturen« (Braun, C. v. (2001), S. 438) korrespondiert. Siehe auch Kap. 1.2.2.

EINLEITUNG | 17

Wissenschaftshistorisch werden zunächst einsetzende Naturalisierungsprozesse des Weißwerdens ›des Europäers‹ skizziert. In Folge wird sich entlang der Schriften des Mediziners Carl Gustav Carus (1789-1869) mit idealistisch-naturphilosophischen Rassenkonstruktionen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auseinandergesetzt. Carus bietet sich insbesondere deshalb an, weil der Begriff der ›Symbolik‹ hier konkret als Wissenschaft einer ›Symbolik der menschlichen Gestalt‹ Bedeutung erlangt. Die Auseinandersetzung mit Carus erhält zudem dadurch eine besondere Relevanz, da seine Rassentheorie bisher nicht ausführlich bearbeitet worden ist18 und sein Erbe bis heute teils ungebrochen geehrt wird (siehe Kap. 1.1.3). Zugleich erweist sich Carus’ naturphilosophisches Denksystem für die okkultistischen Rassenmodelle des Begründers der Anthroposophie, Rudolf Steiner (1861-1925), als bedeutsam, auf welche die vorliegende Arbeit einen analytischen Schwerpunkt legt. Hiermit rücken insgesamt unterschiedliche Arten des Wissens und damit verbunden verschiedene Verobjektivierungs- und Begründungsstrategien des rassentheoretischen Denkens in den Blickpunkt des Interesses. Entgegen einer diametralen Gegenüberstellung von ›rationalem‹ und ›irrationalem‹ Wissen interessieren gerade die jeweiligen Verschränkungen religiös-symbolischer und säkularer Wissensbestände. Im Vergleich mit ›konventionell‹ biologistischen Rassentheorien lassen sich anhand von Steiners okkultistischen Rassenkonstruktionen beispielhaft und in spezifischer Weise Traditionen gnostischer und christlicher Schwarz-Weiß-Symbolik als grundlegende Konstruktionselemente der Differenzierungssystematik ausmachen. Dabei, so die These, basieren die spiritualistischen Rassenkonstruktionen Rudolf Steiners auf historisch vorangegangenen säkularen Rassentheorien, deren unterlegten symbolischen Gehalte respiritualisiert und anthroposophisch spezifisch umgedeutet werden. Hiermit geht eine besondere Konstruktionsstruktur des ›mystisch-okkultistischen Rassismus‹19 einher, eine Struktur, die sich als spi18 So wurden rassentheoretische Dimensionen in Carus’ Werk zwar verschiedentlich benannt, die Rassentheorie der ›Menschheitsstämme‹ jedoch nicht ausführlich verhandelt. Vgl. u. a. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 153, Stichwort Rasse; Hagner, M. (2000), S. 214; Hagner, M. (2009); Mosse, G. L. (1997), S. 56; Mosse, G. L. (2006), S. 52f., 57f.; Melzer, K. (2009a); Melzer, K. (2009b); Müller-Tamm, J. (1995), S. 55f., 134-137; Wurst, I. (2009). 19 Ich beziehe mich grundsätzlich auf einen ›weiten‹ Rassismusbegriff, dem der Ansatz inhärent ist, von verschiedenen Rassismen auszugehen. Avtar Brah fasst diese Perspektive zusammen, wenn sie bemerkt, dass in Europa »eine Vielzahl von Rassismen [existiert], die sich auf ›Farbigkeit‹ konzentrieren und sich gegen Gruppen richten, die als ›nicht-weiß‹ definiert sind. Andere Formen umfassen einen antijüdischen, antimoslemischen, antiarabischen, antitürkischen, antiafrikanischen [...] oder einen gegen ›Zigeuner‹ gerichteten Rassismus.« Brah, A. (1996), S. 38. Der Struktur nach lässt sich Rassismus als Differenzierungs-, Hierarchisierungs-, und Diskriminierungsprozess beschreiben (vgl. Gutiérrez Rodríguez, E. (1999)), in dem auf morphologische, religiöse, nationale und/oder

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ritualistischer Biologismus fassen lässt. Steiners okkultistische Rassenmodelle interessieren zudem vor dem Hintergrund, dass seine Anthroposophie der Grundtenzenz nach weitläufig als humanistisch und universalistisch gilt und die Existenz von Rassentheorie und Rassismus bis heute seitens offizieller VertreterInnen der Anthroposophie und Waldorfpädagogik weitestgehend bestritten wird (siehe Kap. 1.1.3). kulturelle ›Merkmale‹ zurückgegriffen wird. An diese ›Merkmale‹ werden dabei spezifische charakterliche, essentialisierende Eigenschaften gebunden. Die Merkmale selbst sind, wie beim Kriterium ›Hautfarbe‹ besonders offensichtlich, als soziale Konstruktionen zu betrachten: »Mit anderen Worten konstruiert der Rassismus erst die ›rassische‹ Differenz.« Brah, A. (1996), S. 27. Rassismus kann biologistisch, kulturalistisch und/oder spiritualistisch argumentiert werden, kennzeichnend für den Rassismus sind essentialisierende Eigenschaftsbestimmungen, welche den homogenisierten Gruppen und den ihnen untergeordneten Individuen zugewiesen, d. h. ihnen in deterministischer Weise ›eingeschrieben‹ werden. Rassismus ist entsprechend nicht auf eindeutig negative Abwertungen und/oder den Willen zur Vernichtung des ›Anderen‹ beschränkt, sondern kann auch mit vermeintlich ›positiven‹ Zuschreibungen verbunden sein. Vgl. u. a. Arndt, S. (2001b), S. 11-70; Frübis, H. (1997), S. 106-122; Gilman, S. L. (1992), S. 7-9, 119-121; Sow, N. (2008), S. 80-82. Seiner historischen Entstehung nach ist Rassismus als ein säkulares europäisches Phänomen zu verstehen. D. h., Rassismus ist (etwa gegenüber christlichen Traditionen des religiösen Antijudaismus) mit säkularen Begründungsstrategien sozialer Gruppenformationen und ihrer asymmetrischen Positionierung verbunden, die erst mit der europäischen Säkularisierung virulent werden. Eurozentrismus und Antisemitismus bilden dabei den epistemischen und sozio-politischen Hintergrund eines Konstruktions- und Privilegierungszusammenhangs von ›Europäischsein‹, ›Christsein‹ und ›Weißsein‹. Kolonialistischer Rassismus und rassistischer Antisemitismus können hiernach als erste historische Erscheinungsformen des Rassismus begriffen werden. Ist Rassismus seiner historischen Entstehung nach als säkulares Phänomen zu begreifen, so sind die Begründungsstrategien in historischer Folge jedoch nicht auf säkulare Argumentationsstrategien beschränkt. Dies zeigen Formen des mystisch-okkultistisch/spiritualistisch ausgerichteten Rassismus. Stefanie von Schnurbein spricht so auch im Kontext der völkischen Ideologie von »Rassenreligion« und einem »weniger biologisch als weltanschaulichreligiös untermauerte[n] Rassismus und Antisemitismus.« Schnurbein, S. v. (1993), S. 65, 150, Anm. 1. Historische Arbeiten zum ›Rassenmystizismus‹, speziell zum Arier-Mythos, verweisen zugleich auf die substantielle Vermengung biologischer und mystisch-okkulter Momente. Vgl. u. a. Goodrick-Clarke, N. (2004). Bestandteil der mystisch-okkultistischen Rassentheorien ist die »Lehre von der Wiedergeburt«, in deren Rahmen (wie beim Ariosophen Guido von List) »die Zugehörigkeit zu einer ›niederen‹ Rasse als selbstgewählt und sinnvoll dargestellt« wird. Vgl. Schnurbein, S. v. (1993), S. 65. Bei Rudolf Steiner beziehe ich die ›kosmologisch-spiritualistische‹ Ausrichtung auf seine theosophischen und spezifisch anthroposophischen Begründungsstrategien. Zu Ansätzen, die auf eine Mehrzahl von Rassismen verweisen, vgl. u. a. Balibar, E./Wallerstein, I. (1992); Gutiérrez Rodríguez, E. (1999); Memmi, A. (1992); Mosse, G. L. (2006); Rommelspacher, B. (1998); zu Rassismustheorien im Überblick vgl. u. a. Weiß, A. (2001).

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1.1.2 Differenzierung der Analyseperspektiven und Thesen Naturalisierung und Respiritualisierung Ausgangspunkt zu farbsymbolischen Wissensbeständen im Rassediskurs ist, dass das Hautfarbenschema als historisches Produkt des Säkularisierungsprozesses (im Sinne einer Säkularisierung des Symbolischen) verstanden werden kann und durch symbolisch-dualistische Traditionen grundlegend strukturiert wird. D. h., dass die (christlichen) Europäer dezidiert weiß, Afrikaner dezidiert schwarz und andere Außereuropäer20 anderweitig ›bunt‹, auf jeden Fall nicht-weiß wurden, hat weniger mit den unterschiedlichen Graden von Pigmentierung zu tun, als mit einer ›kulturellen Logik‹ der farbsymbolischen Traditionen. Im christlichen Mittelalter kennzeichnen die Farben Schwarz und Weiß als religiöse Symbole für (göttliches) Licht und (teuflische) Finsternis die Gegenüberstellung von Christen und ›Ungläubigen‹. So werden etwa im Kontext der Kreuzzüge die christlichen Kreuzritter mit dem Licht Christi, die muslimischen Mauren hingegen mit den Mächten des Teufels, den ›Söhnen der Finsternis‹, identifiziert – die anthropologische Farbsystematik und ihre vermeintliche visuelle Logik jedoch existiert im christlich sozialen Kontext noch nicht.21 Schwarz und Weiß sind Abstrakta. Erst mit dem Aufkommen des naturwissenschaftlichen Denkens und vor dem mediengeschichtlichen Hintergrund visueller (Bild-)Techniken, gesamtgesellschaftlicher Visualisierungsprozesse und empiristischer Kategorisierungsbestrebungen setzten rassentheoretische Farbgebungsprozesse im Sinne sozial wirkmächtiger Anthropologisierungsververfahren ein. Die (binäre) Gruppenzuweisung ist dabei zutiefst mit der europäischen Kolonialgeschichte, mit sozio-ökonomischen Umbrüchen und, wie näher zu zeigen sein wird, mit der (philosophischen) Subjektkonstituierung eines europäischen Selbst verbunden. Mit der Fokussierung historischer Anfänge der Konstruktion von Weißsein sowie idealistisch-(natur-)philosophischer und okkultistischer Bestimmungen von Schwarz und Weiß als anthropologischen Größen werden hiernach maßgeblich zwei prozessuale Bewegungen verfolgt: Einerseits werden erste Naturalisierungsprozesse verhandelt, in denen die abendländische Schwarz-Weiß-Symbolik, verstanden als ein abstraktes Ordnungssystem, sich 20 Der Begriff ›Außereuropäer‹ stellt eine begriffliche Notlösung dar. Er beinhaltet die Problematik einer Reinszenierung der eurozentrischen Struktur von Zentrum und Peripherie, wie sie auch der begrifflichen Gegenüberstellung Weiß versus Nicht-Weiß eingeschrieben ist. Hier wird der Begriff dennoch verwendet, gerade um die eurozentrischen Konstruktionsprozesse beschreiben zu können. 21 Vgl. Ayim, M. (2001), S. 72; El-Tayeb, F. (2001), S. 11; Gilman, S. L. (1992), S. 25; Martin, P. (2001), S. 21, 23, 90f.

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im säkularen Wissenschaftsdiskurs in Normierungs- und Visualisierungspraktiken einlagert, zur ›reinen‹ Natur, ›menschlich‹, ›sichtbar‹ und als solches ihrer Abstraktheit enthoben wird. Andererseits stehen – in historischer Folge – im Wissenskontext des Idealismus und Okkultismus Prozesse der Rückbindung dieser ›Natur‹ gewordenen (farb-)symbolischen Ordnung an eine ›geistige Ordnung‹ zur Disposition, d. h. die Überführung ihrer Begründung in den Bereich des Transzendenten, in andere, geistig-göttliche Formen von ›Objektivität‹. Hiermit sind Prozesse idealistischer und spiritueller Aufladung der anthropologisierten Farbzeichen selbst verbunden – Konstruktionsprozesse, die sich im okkultistischen Kontext als Respiritualisierung vorangegangener Entspiritualisierungsprozesse bezeichnen lassen. Wie sich der Säkularisierungsprozess als ›Verweltlichung des Symbolischen‹ im jeweiligen rassentheoretischen Kontext konkret ausgestaltet, welche Formen von Naturalisierung, Anthropologisierung, Visualisierung und (Re-)Spiritualisierung schwarz-weiß-symbolischer Codierungen sich ausmachen lassen, soll näher untersucht werden. Der Struktur nach geht es hiermit sowohl um die Relevanz schwarz-weiß-symbolischer Traditionskontexte hinsichtlich säkularer Typenkonstruktionen als auch um die unterlegten (jeweils imaginären) Naturkonzepte, d. h., um die jeweiligen Vorstellungen einer ›reinen‹, objektiv lesbaren Naturordnung und die sich angliedernden Herleitungen und Techniken ›reiner‹ Kategorienbildungen anthropologischer Differenzierung. Wie rassentheoretische Ordnungsmuster in ihrer strukturellen ›Reinheit‹ begründet, ›reine‹ (Rasse-)Typen hergeleitet und inszeniert werden, wird entlang der jeweils unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen im Einzelnen verfolgt. Die Kategorie ›Natur‹ selbst steht damit zur analytischen Disposition und wird auf eine unterlegte ›Schwarz-Weiß-Struktur‹ hin befragt, die sich zwischen binären Konzeptionen einer ›reinen‹ Naturordnung und ›unreiner‹ Natur(en) bewegt. Die geistesgeschichtlichen Hintergründe dieser dualistischen Perspektivierung von ›Natur‹ werden in Auseinandersetzung mit abendländischen Traditionen der Schwarz-Weiß-Symbolik und ihrer Relation zum Geist-Materie-Dualismus zu erläutern sein. Der Gedanke der Verweltlichung symbolischer Reinheit, der hiermit hinsichtlich säkularer Naturkonstruktionen und ›reiner‹ anthropologischer Kategorienbildungen angesprochen ist, schließt prinzipiell an die kulturtheoretische These der Säkularisierung des Symbolischen an.22 Mit Blick auf Rudolf Steiners okkultistisches Denksystem werden die speziell kosmologischen Konzeptionen der Natur, neognostische Geist-Materie-Konzeptionen und damit verwobene Reinheitskonzepte in ihrer Bedeutung für rassentheoretische Kategorienbildung fokussiert. Die symbolgeschichtlichen Traditionen des Abendlandes erweisen sich entsprechend auf mehreren Ebenen als relevant. In 22 Vgl. Braun, C. v. (1997), S. 20f.

EINLEITUNG | 21

Abmessung ihrer Bedeutung für die (im Einzelnen unterschiedlich begründeten) Konstruktionen von Weißsein soll dabei, in Anlehnung an kulturtheoretische Ansätze aus den Critical Whiteness Studies,23 näher gezeigt werden, dass der abendländische Dualismus nicht nur der Systematik nach einen binären, asymmetrischen Konstruktionsmodus Weißer männlicher Subjektkonstituierung prägt (siehe Kap. 1.2.2), sondern symbolische Bild- und Denkräume bereitstellt, welche die Farbe Weiß mit Licht und Geistigkeit verbinden. Welche spezifisch neognostische Verhältnisbestimmung von Geist und Licht in Rudolf Steiners Denkmodelle eingelagert ist, und welche Relevanz ihr mit Blick auf anthroposophische Konstruktionen von Weißsein zukommt, wird zu prüfen sein. In Auseinandersetzung mit unterschiedlich argumentierten Rassenkonstruktionen wird es hierbei auch darum gehen, ein Spannungsfeld auszuloten, in dem sich rassentheoretische Repräsentationen von Weißsein zwischen (naturalisierter) Sichtbarmachung und Formen von Immaterialität und Unsichtbarkeit bewegen. Konzentrieren wird sich die Analyse rassentheoretischer Konstruktionsprozesse auf verschiedene Darstellungen und Begründungsstrategien der schwarzen24 und weißen25 ›Rasse‹. Die Bedeutung der Schwarz-Weiß-Symbolik im rassentheoretischen Kontext bezieht sich jedoch nicht nur auf diese oppositionellen Kategorien, sondern auf die Ausgestaltung diverser Typen in Einbeziehung diverser Rassismen.26 Berücksichtigt wird hiermit eine grundlegende Polarisierung innerhalb des kolonialistischen Rassismus, in dem sich der Konstruktion nach ›weiß‹ und ›nicht-weiß‹/›Farbigkeit‹ gegenüberstehen.27 Demnach wird es im rassentheoretisch typologisch und metaphorisch 23 Vgl. Dyer, R. (2006). 24 Die Farbzuweisungen im rassentheoretischen Kontext erachte ich, wie allein den bisherigen Ausführungen zu entnehmen ist, als soziale Konstruktion. Ich werde die Adjektive schwarz und weiß, insofern sie dezidierte Farbzuweisung markieren, im Folgenden dennoch nicht gesondert kennzeichnen, sondern die herkömmliche Kleinschreibung verwenden. Diese Entscheidung ist lediglich der Lesefreundlichkeit geschuldet. In ihrer Konstruktionshaftigkeit rassentheoretischer Farbmarkierung könnten die Adjektive ebenso in Anführungsstriche gesetzt werden, was den Lesefluss jedoch erheblich hemmen würde. Gleichzeitig erachte ich es als notwendig, zwischen dem kontextuellen Charakter dezidiert farblicher Zuweisung (Kleinschreibung) und der Kennzeichnung von Schwarz und Weiß als sozio-politischen Identitäten bzw. sozialen Positionen (Großschreibung) zu unterscheiden. Siehe zur Großschreibung der Adjektive Schwarz und Weiß die entsprechenden Erläuterungen in den Fußnoten 8 und 9 in diesem Kapitel. 25 Siehe zur herkömmlichen Kleinschreibung des Adjektivs ›weiß‹ im Kontext rassentheoretischer Farbzuweisung die Erläuterung in der vorangegangenen Fußnote. 26 Siehe Fußnote 19 zur Rassismusdefinition in diesem Kapitel. 27 Vgl. u. a. Hall, S. (1994), S. 137-179; McLaughlin, A. N. (1993); Mysorekar, S. (1993). S. 111-115; siehe auch Kap. 1.2.

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übergreifenden Sinne auch um die Bedeutung einer ›Schwarz-Weiß-Logik‹ als Konstruktionsmuster des ›Eigenen‹ und des ›Anderen‹ gehen (siehe Kap. 1.2.2). Weißsein bzw. hegemoniale Weiße Männlichkeit28 stehen dabei als Norm- und Ausgangskategorien im Zentrum dekonstruktivistischer Analyse.

Farb- und Geschlechtssymbolik – ›Rasse‹ und Geschlecht Die Arbeit lenkt einen Fokus darauf, dass den abendländischen Dualismen symbolgeschichtliche Sinnzusammenhänge zugrunde liegen, in denen sich Geist-Materie-Konzeptionen mit farb- und geschlechtssymbolischen Codierungen überlagern: Der Grundstruktur nach lässt sich, so die These, hiernach ein symbolisches Ordnungsschema herauskristallisieren, in dem sich die Kategorien Schwarz/Finsternis/Weiblichkeit/Materie versus Weiß/Licht/Männlichkeit/Geist gegenüberstehen. Diese Verschränkung figuriert sich symbolund religionsgeschichtlich etwa in mythologischen und religiösen Sinnbildern vom weiß symbolisierten Lichtgott Zeus über den monotheistischen Schöpfergott der hebräischen Bibel, von Jesus Christus als ›Licht der Welt‹ bis zum lichten Pneuma der Gnosis. Ihren Gegenpol finden derartige symbolische Figurationen in verschiedenen schwarz und weiblich symbolisierten Sinnbildern der irdisch sterblichen Materie. In der Auseinandersetzung mit dualistischen Denktraditionen des Abendlandes sollen diese symbolischen Zusammenhänge und figurativen Variationen – auch auf ihre Brüche hin – näher untersucht werden. Mit Blick auf historische Rassendiskurse wird nach der Bedeutung der symbolgeschichtlichen Überlagerung von Farb- und Geschlechtssymbolik für geschlechtsspezifisch konstruierte Rassismen gefragt. These ist, dass geschlechtliche Codierungen der Schwarz-Weiß-Symbolik den geistesgeschichtlichen Hintergrund für Charakterisierungsstrukturen geschlechtsspezifisch konstruierter Rassismen beschreiben, d. h., dass sie rassentheoretische Charakterisierungszusammenhänge von Farbgebung und Vergeschlechtlichung als kulturellen Sinnzusammenhang vorstrukturieren. Mit dem Fokus auf geschlechtsspezifisch konstruierte Rassismen werden die Analysekategorien ›Rasse‹ und Geschlecht entsprechend in ihrer Wechselwirkung zur Anwendung kommen. Bezug genommen wird damit auf intersektionale29 bzw. inter28 Unter ›hegemonialer Weißer Männlichkeit‹ wird hier eine historisch entwickelte soziale Konstruktion verstanden. Der Begriff verweist auf eine Differenzierung hegemonialer und marginalisierter Männlichkeiten und ist dabei nicht als statisch, sondern, im Sinne Connells, als »ein Produkt historischer, politischer und symbolischer Aushandlungsprozesse« zu verstehen. Vgl. Glawion, S./Haschemi Yekani, E./Husmann-Kastein, J. (2007b), S. 17; vgl. Connell, R. (1999). 29 Vgl. zu unterschiedlichen Intersektionalitätstheorien im US-amerikanischen und britischen Raum, ihren historischen Vorläufern und verwandten Forschungsperspektiven u. a. Brah, A./Phoenix, A. (2004); Collins, P. H. (1998b); Collins, P.

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dependente30 Analyseperspektiven aus dem Bereich der Rassismus- und Geschlechterforschung. Dabei werden unter Fokussierung der Interdependenzen von ›Rasse‹ und Geschlecht vergeschlechtlichte Rassenkonstruktionen und rassisierte Geschlechterkonstruktionen in den Blick genommen.31 KonzenH. (1999); Combahee River Collective (1981); Crenshaw, K. W. (1989); Crenshaw, K. W. (1995); Ferree, M. M./Lorber, J./Hess, B.B. (1999); Harding, S. (1993); Lorde, A. (1988); McCall, L. (2005); Mohanty, C. T./Russo, A./ Torres, L. (1991); Joseph, G. I. (1993); Rothenberg, P. (1988). Vgl. zur Intersektionalitätsforschung aus dem deutschsprachigen Raum u. a. Dietze, G. (2001); Dietze, G. (2008); Haschemi Yekani, H./Hrzán, D./Husmann-Kastein, J./Junker, C./ Krasuska, K./Michaelis, B. (2008); Kerner, I. (2009); Klinger, C. (2003); Knapp, G.-A. (2005); Walgenbach, K./Dietze, G./Hornscheidt, A./Palm, K. (2007). Vgl. zur Kritik an Klinger, C. (2003) und/oder Knapp, G.-A. (2005) u. a. Dietze, G. (2006), S. 227; Haschemi Yekani, H./Hrzán, D./HusmannKastein, J./Junker, C./ Krasuska, K./Michaelis, B. (2008); Walgenbach, K. (2007), S. 54f. Entscheidend für mein Verständnis einer intersektionalen bzw. interdependenten Analyseperspektive ist unter Rückbezug auf vorangegangene Arbeiten aus dem Bereich der Rassismus- und Geschlechterforschung die Perspektivierung grundlegender Verschränkungen verschiedener sozialer Strukturkategorien, entsprechender sozialer Machtverhältnisse und ihrer komplexen, kontextabhängigen Wirksamkeit auf individueller/personaler, institutioneller und epistemischer Ebene. Vgl. zur analytischen Unterscheidung dieser Ebenen Kerner, I. (2009). Siehe auch die folgende Fußnote zum Begriff interdependent/ Interdependenzen. 30 Mit dem Begriff ›interdependent‹/›Interdependenz‹ lehne ich mich in Teilaspekten an Katharina Walgenbachs Verständnis von »Gender als interdependenter Kategorie« an. Vgl. Walgenbach, K. (2007). Dabei teile ich nicht alle von Walgenbach formulierten Kritiken an historisch vorgängigen Intersectionality/Intersektionalitäts-Konzepten (u. a. an Crenshaw, K. W. (1995)), insbesondere nicht ihre Lesart, den Kategorien würde dort quasi ein »›genuine[r] Kern‹« (Walgenbach, K. 2007, S. 64) beigemessen. Vielmehr erachte ich Walgenbachs Betonung als produktiv, sozio-strukturelle Kategorien und ihre entsprechende Relationierung zu sozialen Herrschaftsverhältnissen ›in sich‹ als interdependent zu fassen. Hieran schließt mein Verständnis von ›Rasse‹ und Geschlecht als interdependenten, d. h. inter- und intra-kategorialen Analysekategorien an. Dabei verbinde ich mit einer interdependenten Analyseperspektive zugleich Theorieelemente aus dem Bereich feministisch postkolonialer Kritik und geschlechtertheoretische Perspektiven der Antisemitismus- sowie der Kritischen Weißseinsforschung. Siehe dazu auch die folgende Fußnote. 31 Die bewusste Konzentration auf ›Rasse‹ und Geschlecht als Analysekategorien und die daran anschließende Reflexion zu rassisierten Geschlechterkonstruktionen und vergeschlechtlichten Rassenkonstruktionen erfolgt mit Rückbezug auf feministisch postkoloniale Ansätze, welche die konstitutive Bedeutung von Geschlechterregimes und Sexualisierungsstrategien im Kontext des Rassismus betont haben. Vgl. u. a. Harding, S. (1993); McClintock, A. (1995); vgl. zu McClintocks Ansatz auch Castro Varela, M. d. M./Dhawan, N. (2005a), S. 122125. Gleichzeitig ist hiermit impliziert, dass westlich-säkulare Geschlechterkonstruktionen ihrer historischen Formierung nach nicht unabhängig vom europäischen Kolonialismus bzw. kolonialistischen Rassismus verstanden werden können. Vgl. u. a. auch Brah, A. (1996); Fuchs, B./Habinger, G. (1995); Fuchs,

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triert wird sich maßgeblich auf ersteren Aspekt und damit auf die kollektive Ebene der Vergeschlechtlichung von (rassisierten) Gemeinschaften, d. h. auf historisch diskursive (rassentheoretische) Prozesse der ›Vermännlichung‹ und ›Verweiblichung‹ sowie Sexualisierung ganzer ›Rassen‹ als Kollektivkonstrukten. Mit Blick auf interdependente Aspekte rassisierter Geschlechterkonstruktionen und vergeschlechtlichter Rassenkonstruktionen werden zugleich Fragen nach heteronormativen Grundstrukturen, nach nationalen bzw. nationalistischen Spezifika, nach sozio-ökonomischen Strukturzusammenhängen32 sowie nach Rassisierungsprozessen von ›Religion‹ relevant.33 Unter Einbeziehung symbolgeschichtlicher Ordnungsmuster und der Frage nach ihrer Wirksamkeit im säkularen Kontext rassentheoretischer Wissensproduktion umschließt Geschlecht als (interdependente) Analysekategorie hiernach symbolische und soziopolitische Dimensionen.

›Licht der Erkenntnis‹ Die historischen Anfänge rassentheoretischer Naturalisierungsprozesse, idealistisch-naturphilosophische und okkultistische Rassentheorien sind mit verschiedenen Konzeptionen eines ›reinen‹ objektiven Wissens verknüpft. InwieB./Habinger, G. (1996); Mamozai, M. (1982). Für eine derartige Perspektive zu Interdependenzen von ›Rasse‹ und Geschlecht sind entsprechend auch geschlechtertheoretische Beiträge aus dem Feld der Kritischen Weißseinsforschungs bedeutsam. Vgl. u. a. Dietrich, A. (2007); Eggers, M. M./Kilomba, G./ Piesche, P./Arndt, S. (2005); Tißberger, M./Dietze, G./Hrzán, D./HusmannKastein, J. (2006a); Walgenbach, K. (2005). Ebenso haben Arbeiten aus der historischen Antisemitismusforschung die – teils paradoxen – Vergeschlechtlichungen und Sexualisierungen im rassistischen Antisemitismus herausgestellt. Vgl. u. a. Braun, C. v. (2000b); Gilman, S. L. (1992); siehe auch Kap. 1.2.1; 1.2.2. 32 Aspekte sozio-ökonomischer Schichtspezifik sind dieser Arbeit in erster Linie hinsichtlich der Verhandlung diskursiver Zusammenhänge von europäischer bürgerlicher Subjektkonstitution und rassentheoretischen Konstruktionen von Weißsein unterlegt. Die übergeordneten ökonomischen Machtstrukturen und Ausbeutungsverhältnisse des europäischen Kolonialismus werden hier nicht dezidiert verhandelt. Sie sind jedoch, meinem Verständnis nach, grundlegender Bestandteil jener sozio-kulturellen Rahmenbedingungen und sozio-politisch diskursiven Praktiken, welche die zu analysierende rassentheoretische Wissensproduktion prägen und gleichzeitig ihrerseits durch rassentheoretisches Wissen geprägt werden. 33 Hiernach erhalten Sexualität, Nation, Klasse und Religion im Rahmen dieser Arbeit als untergliederte Teilaspekte interdependenter Perspektivierungen von ›Rasse‹ und Geschlecht eine analytische Relevanz. Religion wird dabei gegenüber bisherigen intersektionalen/interdependenten Ansätzen zugleich eine erweiterte Bedeutung innerhalb der Analyse zugemessen, die sich aus dem einbezogenen kulturtheoretischen Ansatz einer »Verweltlichung religiöser Denkstrukturen« (Braun, C. v. (2001), S. 438) ergibt; siehe auch Kap. 1.2.

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fern die jeweiligen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen nicht nur unterschiedliche Begründungs- und Verobjektivierungsstrategien rassentheoretischer Modelle hervorbringen, sondern die Symbolik vom ›Licht der Erkenntnis‹ und damit die Kategorie des Wissens selbst die rassentheoretische Konstruktion von Weißsein bedingt, ist eine der Leitfragen dieser Arbeit. Hierbei werden wiederum zwei prozessuale Bewegungen fokussiert, die sich zwischen Naturalisierung und (Re)Spiritualisierung bewegen: Ausgangsthese ist, dass dem rassentheoretischen Weißwerden des Europäers ein frühneuzeitliches ›symbolisches Weißwerden‹ vorausgeht, das sich über diskursive Aneignungsprozesse des Lichts Gottes, des ›Lichts der göttlichen Vernunft‹, erschließt – die farbsymbolischen Identifizierungslogiken und ihre religiösen, symbolgeschichtlichen Hintergründe werden im Zuge des (rassentheoretischen) Verwissenschaftlichungsprozesses zusehends ›unsichtbar‹. In Steiners Anthroposophie verschränken sich dem Anspruch nach Religion und Wissenschaft, womit sich das anthroposophische Heilsversprechen einer Erlösung aus der ›materialistischen Weltsicht‹ verbindet. ›Wahres Wissen‹ ist hier eine spirituell aufgeladene Kategorie. Eingebunden in die Krisendiskurse der Moderne gestaltet sich die Anthroposophie als eine Art ›Erlösungswissenschaft‹, wie zu zeigen sein wird. Die Analyse bezieht dabei die innerhalb der Geschlechterforschung entwickelte These ein, dass Krisendiskurse der Moderne mit Krisendiskursen um hegemoniale Weiße Männlichkeit verbunden sind34 und Krisenszenarien moderne Rassendiskurse, Entartungsdebatten und damit verschränkte sexualwissenschaftliche Diskurse durchziehen.35 Hieran anschließend wird im historisch-spezifischen Kontext der Moderne nach anthroposophischen Konzeptionen von Krise und Erlösung und nach strukturellen Zusammenhängen zwischen Entwürfen eines ›erlösenden‹ Wissens, einer ›geistigen Natur‹ und rassentheoretischen Konzeptionen von Weißsein als ›Erlösung‹ gefragt. Ein Augenmerk wird hierbei auf geschlechtlichen Codierungen des Wissens liegen, die sich in abendländischer Tradition zwischen männlich codierter Rationalität und weiblich codierter Irrationalität bewegen,36 im okkultistischen Kontext jedoch auch eine rhetorische Aufwertung ›weiblicher Spiritualität‹ beherbergen. Hiermit wird Geschlecht als ›Wissenskategorie‹37 bedeutsam und u. a. die Frage aufgeworfen, inwiefern die normative Konstruktion

34 Vgl. u. a. Brunotte, U./Herrn, R. (2008a); Mosse, G. L. (1997); Schnurbein, S. v. (2001). 35 Vgl. u. a. Bergmann, A. (1992); Mosse, G. L. (1997); Foucault, M. (1998), S. 142-147; Dornhof, D. (2005), S. 89-120. 36 Vgl. Braun, C. v./Stephan, I. (2005b). 37 Vgl. Braun, C. v./Stephan, I. (2005b).

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der männlich attributierten weißen ›Rasse‹38 mit symbolgeschichtlichen Mustern von Licht/Geist/Rationalität zusammenhängt. Mit Blick auf Steiners Konzeptionen ergibt sich dabei die weiterführende Frage, inwiefern im Rahmen seiner spiritualistischen ›Kulturkritik‹ (am Materialismus und Intellektualismus) hegemoniale Weiße Männlichkeit gerade über eine Krisenrhetorik um Rationalität ihre Stabilisierung erfährt.

1.1.3 Aktuelle Relevanz Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Rassentheorie folgt keineswegs einem rein historischen Interesse. Bis heute sind rassentheoretische Konzepte als ›wissenschaftlicher Rassismus‹39 Bestandteil des gesamtgesellschaftlichen Rassismus. Die Motivation, Begründung und sozio-politische Praxisrelevanz der Untersuchung ergibt sich demnach aus den fragwürdigen wissenschaftlichen Kontinuitäten und den Verbindungen zwischen wissenschaftlichem Rassismus, Alltagsrassismus und institutionellem Rassismus.40 Die Wirkmächtigkeit der historisch näher aufzuzeigenden Verschränkung von symbolisch-dualistisch organisierten Bild- und Denkräumen und rassentheoretischen Kategorienbildungen bestimmt bis heute rassistische Bild- und Blicktraditionen nicht nur des Wissenschafts-, sondern auch des westlich medialen Alltagsdiskurses. Die gegenwärtige Fortwirkung dieser Allianz verdeutlicht sich bereits in aktuellen lexikalischen Zugängen zur Schwarz-WeißSymbolik selbst (vgl. Kap. 2.2.2). Die Anthroposophie Rudolf Steiners ist eine der einflussreichsten okkultistischen Weltanschauungen der westlichen Moderne und gegenwärtig in vielfältigen gesellschaftlichen Bereichen vertreten – von der anthroposophischen Medizin und Kosmetikindustrie, der ›bio-dynamischen‹ Landwirtschaft, über Finanzdienstleister bis zur Waldorfpädagogik und den Waldorfschulen.41

38 Vgl. u. a. Schiebinger, L. (1995), S. 213-215; McClintock, A. (1995), S. 55; siehe auch Kap. 1.2. 39 Vgl. u. a. Kaupen-Haas, H./Saller, C. (1999). Zur unhinterfragten Fortschreibung des rassentheoretischen Denkens im deutschen wissenschaftlichen Kontext vgl. bspw. Knußmann, R. (1996); vgl. kritisch dazu AG gegen Rassenkunde (1998); Kaupen-Haas, H./Saller, C. (1999). 40 Vgl. u. a. Arndt, S. (2001a); Gutiérrez Rodríguez, E. (1999); Rommelspacher, B. (1998); Sow, N. (2008). 41 Zur Selbstdarstellung anthroposophischer Institutionen vgl. v. a. folgende Websites: Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft: http://www.goetheanum. org/aag.html; Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland: http://www. anthroposophie-de.com/; Bund der Freien Waldorfschulen: http://www.waldorf schule.info/; zu anthroposophischen Unternehmen zählen u. a. die KosmetikFirma »Weleda«: http://www.weleda.de/Unternehmen; der Lebensmittelhersteller »Demeter«: http://www.demeter.de/ und als Finanzdienstleister die GLS-

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Steiners rassentheoretisches Erbe rückt, wie eingangs bemerkt, nicht zuletzt deshalb in den Blickpunkt des Interesses, da die Existenz von Rassentheorie und Rassismus in Steiners Werk seitens offizieller anthroposophischer Institutionen bisher weitestgehend bestritten wird.42 In der hiermit einhergehenden bedenklichen Abwehrhaltung gegenüber der Rassismuskritik an Rudolf Steiner liegt demnach auch eine aktuelle, insbesondere pädagogische Praxisrelevanz begründet. Denn solange der Steinersche Rassismus in offiziellen anthroposophischen Kreisen relativiert, ›werkimmanent plausibilisiert‹43 bzw. gänzlich geleugnet wird, ist einer unreflektierten Tradierung von Steiners Ansichten u. a. in der auf ihm fußenden Waldorfpädagogik der Weg geebnet. Vor diesem Hintergrund erweist sich eine rassismuskritische Auseinandersetzung mit Steiners Werk nicht nur exemplarisch als historisch bedeutsame Differenzierung des rassentheoretischen Denkens, sondern als aktuell gesellschafts- und bildungspolitisch notwendige Intervention. Ein aktualisierendes Kapitel (Kap. 6) wird sich anthroposophischen Abwehrstrategien der Rassismuskritik und Reartikulationen anthroposophischer Rassismen im Einzelnen widmen. Die Tradierung von Carl Gustav Carus’ naturphilosophischer und naturromantischer Medizin ist heute insbesondere in ›alternativen‹ medizinischen Wissenskontexten anzutreffen, die sich dem Gedanken der ›Ganzheitlichkeit‹ verschreiben. So formuliert etwa die Carl Gustav Carus Stiftung als Zielsetzung die »Förderung einer psychosomatischen Medizin, die sich als eine umfassende biopsycho-soziale, die Lebensgeschichte sowie die gesamte Situation des Patienten einbeziehende Heilkunde versteht.«44

Insbesondere in anthroposophischen Kreisen wird Carus in diesem Sinne geehrt und gelehrt.45 Carus’ rassentheoretisches Erbe ist dabei jeweils dethematisiert.

42

43 44

45

Bank: http://www.gls.de/die-gls-bank/ueber-uns/geschichte.html (Recherchestand: 07.10.08). Vgl. u. a. Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland (1995); Bader, H.J./Ravagli, L. (2002); Bader, H.-J./Leist, M./Ravagli, L. (2002); Bohlen, C. (1995); Rassismusvorwurf zurückgewiesen. dpa, 22.03.2000; Hardorp, D. (2006); Kullak-Ublick, H. (2007); Untersuchungskommission »Anthroposophie und die Frage der Rassen« (1998). Der Begriff der »werkimmanenten Plausibilisierung« ist Helmut Zander entlehnt. Vgl. Zander, H. (2001), S. 298, Anm. 15. Website der Carl Gustav Carus Stiftung, Geschichte der Stiftung: http://www. carus-stiftung.org/Wir%20über%20uns/Geschichte%20der%20Stiftung.html (Recherchestand: 08.09.08). Vgl. bspw. die Carl Gustav Carus Akademie e.V., Akademie für eine Erweiterung der Heilkunst Hamburg: www.carus-akademie.de (Recherchestand:

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Über diesen spezifischen Wissenskontext hinaus wird Carus in jüngster Zeit jedoch auch in sehr viel allgemeineren (Bildungs-)Kontexten als romantischer ›Universalgelehrter‹ wiederentdeckt und als solcher einer breiten Öffentlichkeit präsentiert. Davon zeugt die Ausstellung »Carl Gustav Carus. Natur und Idee«, die am 09.10.2009-10.01.2010 in der Alten Nationalgalerie in Berlin zu sehen war. Das renommierte Museum zeigte die Ausstellung »mit dem Anliegen, das Lebenswerk dieser herausragenden Persönlichkeit der deutschen Romantik in seiner gesamten Breite vorzustellen und seine besondere Bedeutung für die Kunst und Wissenschaft seiner Zeit anschaulich zu machen.«46

Im Rahmen dieser insgesamt umfangreichen Ausstellung wurden die rassentheoretischen Dimensionen in Carus’ Werk in einigen wenigen Sätzen abgehandelt. Dabei wurde Carus’ Konzept der verschiedenen ›Menschheitsstämme‹ regelrecht vom rassentheoretischen Denken entkoppelt, indem vom rassenideologischen ›Missbrauch‹ seiner anthropologischen Vorstellungen in historischer Folge gesprochen wurde. So war auf der (einzigen) diesbezüglichen Ausstellungstafel »6. CRANIOSKOPIE / KONSTITUTIONSLEHRE« zu lesen: »Geschlechtliche, ethnologische und geistige Unterschiede der verschiedenen ›Menschheitsstämme‹ wurden in weiteren Schriften Carus’ auf körperliche und konstitutionelle Merkmale zurückgeführt. Diese Rückschlüsse bleiben Hauptkritikpunkte seiner anthropologischen Werke und wurden später für rassenideologische Argumentationen missbraucht. Sein Interesse an einem umfassenden Verständnis der menschlichen Psyche und Physis ist gleichwohl verdienstvoll.«47

Gegenüber dieser verkürzten Darstellung48 und beschönigenden Schlussfolgerung soll die vorliegende Auseinandersetzung mit Carus’ Werk die dort ent04.08.08); hier heißt es u. a.: »Die Carus Akademie ist eine Fortbildungs- und Begegnungsstätte für alle Menschen, die in medizinischen Berufen stehen und denen eine ganzheitliche Anschauung des Menschen in seinem Gesund- und Kranksein unverzichtbarer Anteil ist oder werden soll. [...] Die Carus Akademie baut deshalb auf der Anthroposophie Rudolf Steiners und ihrer Menschenkunde und Kosmologie auf als einer wahren, durch das Denken vermittelten Synthese von Natur- und Geisteswissenschaften.« 46 Website der Ausstellung »Carl Gustav Carus. Natur und Idee« (Alte Nationalgalerie, Berlin, 09.10.2009-10.01.2010): http://webmuseen.de/carl-gustav-carusnatur-und-idee-berlin.html (Recherchestand 28.05.10). 47 Ausstellung »Carl Gustav Carus. Natur und Idee« (Alte Nationalgalerie, Berlin, 09.10.2009-10.01.2010), auszugsweise Abschrift der Ausstellungstafel: »6. CRANIOSKOPIE / KONSTITUTIONSLEHRE«. 48 Im Ausstellungskatalog (vgl. Kuhlmann-Hodick, P./Spitzer, G./Maaz, B. (2009a)) umfasst der Abschnitt »Cranioskopie und Konstitutionslehre« (inklusive Bildmaterial und Verzeichnissen) immerhin 15 Seiten. Auf zwei Seiten fin-

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wickelten rassentheoretischen Dimensionen und geschlechtertheoretischen Implikationen ins aktuelle Bewusstsein rücken und dabei auch zeigen, inwiefern der paradigmatische Ausstellungstitel, »Natur und Idee«, als naturphilosophischer Grundansatz in diesem Kontext Bedeutung erlangt.

1.2 Forschungsstand 1.2.1 Schwarz-Weiß-Symbolik im Rassediskurs Längst wurde nicht nur in den Geistes- und Geschichtswissenschaften, sondern auch im Rahmen der naturwissenschaftlichen Forschung aufgezeigt, dass es sich bei rassentheoretischen Kategorienbildungen prinzipiell um historisch entwickelte soziale Konstruktionen handelt.49 Nichts zeigt dies deutlicher als das dominante, im 18. Jahrhundert entwickelte Modell der vier ›Hauptrassen‹ mit seiner abstrakten Farbsystematik – der Einteilung in weiße, schwarze, rote und gelbe Menschen. So hat u. a. der Biologe Ulrich Kattmann darauf aufmerksam gemacht, dass diese bis heute dominante Rassensystematik in ihrer historischen Genese an die naturphilosophische Säftelehre der Antike und die damit verbundene Lehre der vier Temperamente und Elemente anknüpft und entsprechend auf abstrakten, symbolischen Ordnungsmustern beruht.50 Dass in rassentheoretische Konstruktionen zugleich symbolisch-dualistische Traditionen des Abendlandes strukturell einfließen, die auf die eine oder andere Weise verwissenschaftlicht und verweltlicht werden, wurde von dem Historiker Sander Gilman mit Blick auf den rassistischen Antisemitismus besonders anschaulich herausgearbeitet. Er verweist darauf, dass sich die farbsymbolisch relevante Konstruktion des Juden als ›Bastardrasse‹ mit ›schwarzem Blut‹, wie sie sich Ende des 19. Jahrhunderts u. a. im antisemitischen Werk von den sich Hinweise auf Carus’ Konzept der (vier) ›Menschheitsstämme‹. Dort ist eine kurze Erläuterung dieser anthropologischen Kategorisierung in ›Tag‹-, ›Nacht‹- und ›Dämmerungsvölker‹ angefügt, und es wird kritisch auf die Führungsrolle der (weißen) ›Tagvölker‹ und Carus’ Legitimierung der Sklaverei verwiesen. Vgl. Melzer, K. (2009a), S. 278, 284. Um so mehr stellt sich die Frage, warum nicht zumindest diese Kurzerläuterung in die Ausstellung integriert wurde. Neben dem Ausstellungskatalog wurde von den OrganisatorInnen der Ausstellung ein Essay-Band mit dem Titel »Carl Gustav Carus. Wahrnehmung und Konstruktion« herausgegeben. Vgl. Kuhlmann-Hodick, P./Spitzer, G./Maaz, B. (2009b). Auch der hierin erschienene Essay von Michael Hagner hätte Anlass geboten, den Rassismus in Carus’ Werk in der Ausstellung zu thematisieren. Vgl. Hagner, M. (2009). 49 Im Kontext naturwissenschaftlicher Forschungen vgl. u. a. Gould, S. J. (1999); Kattmann, U. (1999); vgl. ferner u. a. El-Tayeb, F. (2001); Hentges, G. (1999); Hödl, K. (1997); Hund, W. D. (1999); Martin, P. (2001); Mosse, G. L. (2006). 50 Vgl. Kattmann, U. (1999).

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Houston Stewart Chamberlain findet, der kulturellen ›Logik‹ nach an die historisch vorangegangenen, christlich antijudaistischen Bilder der »schwarzen Synagoge« anbinden lassen.51 Ähnlich argumentiert Christina von Braun, wenn sie herausstellt, dass im rassistischen Antisemitismus der ›Arier‹ als Gottmensch und der ›Jude‹ als Satansmensch konstruiert werden, womit sich die »Verwandlung Gottes in einen (arischen) Menschen« und eine »Verweltlichung Luzifers« im Bild des Juden manifestiert.52 Es vollzieht sich demnach quasi eine ›kulturelle Menschwerdung Gottes‹ und seines Gegenspielers im rassentheoretischen Denken und diese Konstruktion ist entsprechend schwarzweiß-symbolisch codiert. Wolfgang Fenske hat – in umgekehrter Lesart – in seiner Studie »Wie Jesus zum ›Arier‹ wurde« Prozesse einer ›Arisierung Christi‹ in völkischphilosophischen und rassentheoretischen Entwürfen verfolgt.53 Eine Reihe von Arbeiten haben sich in Auseinandersetzung mit den »okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus«54 und speziell der ›Ariosophie‹ gnostisch-dualistischen Elementen gewidmet. Dabei wurden – auf die eine oder andere Weise – auch Metaphoriken von Licht und Finsternis innerhalb völkischer und rassentheoretischer Diskurse des 19. Jahrhunderts thematisiert.55 Einige Ansätze kennzeichnen gnostische Wissensbestände innerhalb moderner Rassenkonstruktionen der Tendenz nach als ›pseudoreligiös‹ und/oder als »Missbrauch« religiöser Symbolik.56 Und teilweise ist den Analysen eine strikte schematische Trennung von (wissenschaftlich) rationalem und irrationalem Wissen, von säkularem und religiösem Wissen zugrunde gelegt.57 Demgegenüber fokussiert die vorliegende Arbeit, wie im Vorangegangenen dargestellt, die kulturelle Wirkungsmacht religiöser Denktraditionen gerade auch im säkularen Wissenschaftskontext; und die Schwarz-Weiß-Symbolik als solche soll in ihren abendländischen Traditionen über gnostische Wissensbestände hinaus weiter aufgefächert werden. Das Verhältnis von Christentum und historischen Rassenkonstruktionen bearbeitet Eske Wollrad im historischen Teil ihres Buches »Weißsein im Wi-

51 Vgl. Gilman, S. L. (1992), S. 26, unter Bezugnahme auf Chamberlain, Houston Stewart. 1904 (1899). Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts. 2 Bde., Bd. 1. F. Bruckmann, München. 52 Braun, C. v. (2000b), S. 172. 53 Fenske, W. (2005). 54 Goodrick-Clarke, N. (2004). 55 Vgl. u. a. Goodrick-Clarke, N. (2004); Hermand, J. (1988); Kratz, P. (1995); Schnurbein, S. v. (1993); Strohm, H. (1997); Sünner, R. (2003). 56 Dies suggeriert bspw. schon der Untertitel von Rüdiger Sünners Buch »Schwarze Sonne. Entfesselung und Missbrauch der Mythen in Nationalsozialismus und rechter Esoterik«, wobei er u. a. auch gnostische Licht-Finsternis-Symboliken verhandelt. Vgl. Sünner, R. (2003). 57 Vgl. u. a. Kratz, P. (1995); Strohm, H. (1997).

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derspruch«.58 Die insgesamt recht polemisch angelegte Arbeit verhandelt Relationen von Religion und ›Rasse‹ dabei weniger im Sinne einer Naturalisierung/Rassisierung symbolischer Traditionen, sondern als machtstrategische Verbindung von Weißsein und christlicher Zugehörigkeit. So werden teilweise zwar einzelne Elemente christlicher Schwarz-Weiß-Symbolik benannt, die farblichen Konstruktionslogiken und die kulturelle Prozesshaftigkeit rassentheoretischer (Farb-)Konstruktionen von Weißsein treten hier jedoch vielfach zugunsten eines reduktionistischen Machtverständnisses in den Hintergrund.59 Sandra Harding verweist in ihrer Einleitung zur Anthologie »The ›Racial‹ Economy of Science« in eher allgemeiner Weise auf (farb-)symbolische Elemente des Konzepts ›Rasse‹, indem sie analytisch zwischen individuellen, strukturellen und symbolischen (Konstruktions-)Formen unterscheidet: »First, it is important to keep in mind that the concept of race is constructed in at least three forms – individual, structural, and symbolic. It appears as a characteristic of individuals, of course. But it also appears as a characteristic of the structure of societies [...]. Moreover, race also appears as a symbolic system in which ›black,‹ ›brown,‹ ›yellow,‹ ›red,‹ and ›dark‹ signifiy evil, ignorance, danger, and pollution and ›white‹ and ›light‹ signify good, knowledge, safety, and purity.«60

Die grundlegenden religiösen schwarz-weiß-symbolischen Wissensbestände im Rahmen kolonial-rassistischer Stereotypisierungen hat Frantz Fanon bereits 1952 hervorgehoben, wenn er schreibt: »In Europa wird das Böse durch das Schwarze dargestellt. [...] Würde man sich die Mühe machen, sie zu sammeln, dann wäre man überrascht über die sehr große Zahl an Ausdrücken, die den Schwarzen zur Sünde machen. [...] Das Schwarze, das Dunkle, der Schatten, die Finsternis, die Nacht, die Labyrinthe der Erde, die abyssischen Tiefen, jemanden anschwärzen; und auf der anderen Seite: der klare Blick der Unschuld, die weiße Taube des Friedens, das feenhafte, paradiesische Licht.«61

Was Fanon rassismustheoretisch fasst, konkretisiert Peter Martin in seiner historischen Studie »Schwarze Teufel, edle Mohren« als Verweltlichung und Verwissenschaftlichung christlicher Farbsymbolik im rassentheoretischen Hautfarbendiskurs: Nach Martin lässt sich danach im säkularen Kontext u. a. eine ›Übersetzung‹ bzw. Umdeutung der schwarzen Farbe der Sünde in

58 Vgl. Wollrad, E. (2005). 59 Vgl. Wollrad, E. (2005), S. 52-99. Zur Kritik an Wollrads rassismustheoretischem Ansatz vgl. Dietze, G. (2006), S. 230. 60 Harding, S. (1993), S. 11f. 61 Fanon, F. (1985), S. 132.

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Krankheit nachvollziehen, die sich in Pathologisierungen der rassentheoretisch schwarz markierten Haut niederschlägt.62 Auf die elementare Bedeutung christlicher Traditionskontexte für westlich-säkulare Konstruktionen von Weißsein macht der Medientheoretiker Richard Dyer in seinem Buch »White« kulturtheoretisch aufmerksam, indem er der christlichen Vorstellung der Inkarnation des göttlichen Geistes eine entscheidende geistesgeschichtliche Bedeutung beimisst. »Christianity (and the particular inflection it gives to Western dualist thought) is founded on the idea – paradoxical, unfathomable, profoundly mysterious – of incarnation, of being that is in the body yet not of it. [...] All concepts of race, emerging out of eighteenth-century materialism, are concepts of bodies, but all along they have had to be reconciled with notions of embodiment and incarnation. [...]. Black people can be reduced (in white culture) to their bodies and thus to race, but white people are something else that is realised in and yet is not reducible to the corporeal, or racial.«63

Neben vielen anderen Arbeiten zur Geschichte der Rassentheorie und des Rassismus, auf die sich die vorliegende Untersuchung stützt, sind es maßgeblich diese Grundgedanken zu den Spuren religiösen Denkens im Rassediskurs, entlang derer verschiedene historische (Wissens-)Formen des Rassismus näher nachvollzogen werden sollen. In der Auseinandersetzung mit (rassisierenden) Naturalisierungsprozessen abendländischer Schwarz-Weiß-Symbolik wird dabei Konstruktionsprozessen von Weißsein auch im Sinne einer ›kulturellen Menschwerdung Gottes‹ nachgegangen. Dyers Ansatz liefert hierfür entscheidende Impulse, insofern er auf die christliche Symbolik der ›Weltwerdung des Lichts‹ verweist. Aufgeworfen werden damit zugleich Fragen nach dualistischen Geist-Materie-Konzeptionen, nach Vorstellungen einer reinen, ›vergeistigten Materie‹ und ihrer transformierten Bedeutung für Formen der ›(Im-)Materialität‹ von Weißsein. In der vorliegenden Untersuchung werden diese Aspekte einerseits mit Blick auf säkulare Farb- und Formgebungsprozesse und andererseits mit Blick auf Steiners Inszenierungen von Weißsein in ihrer okkultistischen Spezifik, d. h. in ihren neognostischen Grundstrukturen zu erfassen sein. Die voranzustellende Auseinandersetzung mit den historischen Vorläufern des rassentheoretischen Denkens wird den Grundgedanken einer ›kulturellen Menschwerdung Gottes‹ mit der zu plausibilisierenden These verbinden, dass sich bereits im historischen Kontext frühneuzeitlicher Säkularisierungs- und Subjektivierungsprozesse eine diskursive Aneignung der farbsymbolischen ›Weißheit‹ Gottes vollzieht. In dieser Auseinandersetzung, so das Anliegen, 62 Vgl. Martin, P. (2001), S. 285-292. 63 Dyer, R. (2006), S. 14f.

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lassen sich auch neue kulturtheoretische und historisierende Perspektiven auf farbliche Konstruktionslogiken von Weißsein erschließen: Denn über die Fokussierung der historischen Anfänge der europäischen Säkularisierung kann gleichsam die wissensgeschichtliche Prozesshaftigkeit aufgezeigt werden, welche dem Naturalisierungsprozess von Licht- und Männlichkeitssymbolik als machtvoll aufgeladenem Sinnzusammenhang im Kontext säkularer Naturund Subjektkonstruktionen zukommt.

1.2.2 Schwarz-Weiß-Struktur: Binäre Konstruktionsmechanismen Die Reduzierung des rassisierten nicht-weißen ›Anderen‹ auf den (materiellen) Körper, die Dyer im vorangegangenen Zitat thematisiert, wurde vielfach als Grundelement des kolonialistischen Rassismus ausgemacht. Sie kommt in der eurozentrischen Konstruktion des ›Anderen‹, im Bild vom ›Wilden‹, zum Ausdruck, das als polare »gewaltvolle Repräsentation«64 die Etablierung ›des Europäers‹ als ›Kulturmenschen‹ und ein (aufgeklärtes) Weißes Selbst konstituiert.65 Den hiermit einhergehenden binären Konstruktionsmechanismus des Kultur-Natur-Dualismus hat Stuart Hall hinsichtlich historisch-ethnographischer und -philosophischer Diskurse zum nicht-europäischen ›Anderen‹ bezeichnenderweise als »The West and the Rest«/»Der Westen und der Rest« benannt.66 Hall verweist dabei auf die ambivalenten Bilder des ›Anderen‹, die sich zwischen Abwertung/Abscheu und Begehren bewegen – binäre Stukturen kolonialistischer Repräsentationen, die einen maßgeblichen Fokus postkolonialer Kritik bilden und deren Hinterfragung Edward Saids Studie »Orientalismen« entscheidend angeregt hat.67 Die Stabilisierungsfunktion, die der Konstruktion des ›Anderen‹ im Kontext Weißer Subjektkonstituierung zukommt, theoretisiert die Literaturwissenschaftlerin Toni Morrison mit Blick auf die Einschreibung tradierter kolonialistischer Repräsentationspolitiken in literarische Inszenierungen mit dem Konzept des ›Afrikanismus‹: Danach repräsentieren die Zuschreibungen der ›Naturhaftigkeit‹, ›Wildheit‹ und ›Leidenschaftlichkeit‹, die den Schwarzen kennzeichnen, vor allem eine Form von ›Lebendigkeit‹, die Weißsein zur Konstituierung und ›Sichtbarkeit‹ verhilft. Denn, wie Morrison unter Rückbezug auf farbsymbolische Aspekte festhält: »Das Weiß allein ist stumm, bedeutungslos, unergründlich, zwecklos, gefro64 Castro Varela, M. d. M./Dhawan, N. (2005a), S. 16. 65 Vgl. u. a. Broeck, S. (2006); Hall, S. (1994); Hentges, G. (1999); McClintock, A. (1995); Morrison, T. (1995); Piesche, P. (2005); Schmidt-Linsenhoff, V./ Hölz, K./Uerlings, H. (2004); Uerlings, H./Hölz, K./Schmidt-Linsenhoff, V. (2001); Walgenbach, K. (2005). 66 Vgl. Hall, S. (1994), S. 137-179. 67 Vgl. Said, E. (1994); vgl. zu Said auch Castro Varela, M. d. M./Dhawan, N. (2005a), S. 29-54.

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ren, verhüllt, verschleiert, schrecklich, sinnlos, unversöhnlich.«68 Es bedarf des Schwarz(en), um ›in Erscheinung‹ zu treten. Dass die beschriebene binäre ›Schwarz-Weiß-Struktur‹ rassistischer Kategorienbildung grundlegend ein geschlechtlich strukturiertes Phänomen beschreibt, wurde in einer Reihe von Studien herausgearbeitet. McClintock fasst mit Blick auf historische kolonialistische Rassenkonstruktionen zusammen: »The white race was figured as the male of the species and the black race as the female.«69 Die Konstruktionen von ›Kultur‹- und ›Naturmenschen‹ durchziehen dabei auf kollektiver Ebene polare Charakterisierungen, die u. a. auch in den vergeschlechtlichten Zuschreibungen von Aktivität und Passivität zum Ausdruck kommen.70 Dem übergeordnet wurde der kolonial zu erobernde Raum historisch selbst als »weiblich-passiver Raum«71 vorgestellt, welcher durch die Aktivität Weißer männlicher Subjektivität ›erschlossen‹, ›durchdrungen‹ wird und dabei einem männlichen Blickregime unterliegt, in dem die koloniale Eroberung als sexuelle Bemächtigung imaginiert ist.72 Diese sexualisierten Metaphoriken kolonialer Eroberungen korrespondieren mit der Licht-Finsternis-Symbolik, indem sie parallel zur Metaphorik vom ›dunklen Kontinent‹ liegen, der durch die Kolonisierung/die Kolonisatoren ›durchleuchtet‹ bzw. ›erleuchtet‹ wird.73 Auf die geistesgeschichtlichen Hintergründe abendländischer Dualismenbildung für geschlechtsspezifisch konstruierte Rassismen hat Tzvetan Todorov aufmerksam gemacht, wenn er, wie Uerlings zusammenfasst, auf die »aristotelischen Dichotomien männlich/weiblich, aktiv/passiv, Seele/Körper, Form/Materie usw.« verweist.74 Kulturtheoretische Grundgedanken zur Säkularisierung dieser symbolisch-dualistischen Ordnungsmuster hat von Braun folgendermaßen beschrieben: »Im abendländischen Denken hat nicht nur die grundlegende Dichotomie von Geist und Körper, Kultur und Natur eine lange Tradition, sondern auch deren Überlagerung mit der Opposition von Männlichkeit und Weiblichkeit. Die Vorstellung, daß Geist und Materie als Gegensätze zu betrachten seien und der Geist den Körper zu beherrschen habe, fand ihren symbolischen Ausdruck in der Geschlechterdifferenz. Männlichkeit wurde zur Symbolgestalt für das Geistige, Vernunft und ›Festigkeit‹; 68 Morrison, T. (1995), S. 89. 69 McClintock, A. (1995), S. 55. 70 Vgl. u. a. Fuchs, B./Habinger, G. (1995); Hammer, C./Stieß, I. (1995), S. 28; Haraway, D. (1995b); Oguntoye, K./Opitz, M./Schultz, D. (1991), S. 24; Todorov, T. (1985), S. 185; Uerlings, H. (2001), S. 19. 71 Uerlings, H. (2001), S. 20. 72 Vgl. u. a. Hall, S. (1994), S. 161; McClintock, A. (1995), S. 1-33. 73 Vgl. u. a. Lennox, S. (1998), S. 14; McClintock, A. (1995), S. 23, 32; Haschemi Yekani, E. (2007), S. 104f. 74 Uerlings, H. (2001), S. 19; vgl. Todorov, T. (1985), S. 185.

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Weiblichkeit hingegen zur Symbolgestalt für den Körper, Gefühl, Unbeständigkeit, das sterbliche Fleisch, die ›Materie‹, in deren Wortstamm schon die ›Mutter‹, Matrix, mater, enthalten ist. Von dieser Differenz leiten sich wiederum viele andere Dichotomien ab: etwa rational/irrational, gesund/krank, rein/unrein usw. Diese Denkstruktur läßt sich von der griechischen Antike über das Christentum bis in die Neuzeit und Moderne verfolgen, und sie zeigt sich – in historisch unterschiedlichen Formen – sowohl in kirchlichen als auch in politischen, in künstlerischen wie in wissenschaftlichen Zusammenhängen. Wurde die Geschlechterordnung als symbolische Ordnung installiert, so sollte sie über die Jahrhunderte allmählich den Anschein einer ›Naturordnung‹ annehmen.«75

Die vorliegende Arbeit schließt an diesen Gedanken der Naturalisierung einer symbolischen Geschlechterordnung an, will dabei jedoch die bisher weitgehend unberücksichtigten geistesgeschichtlichen Überlagerungen von dualistischer Farb- und Geschlechtssymbolik in ihrer Bedeutung für geschlechtsspezifisch konstruierte Rassismen hervorheben und auf die prozessualen Bewegungen ihrer Naturalisierung und Respiritualisierung verweisen. Dabei kann hinsichtlich der Naturalisierungsprozesse wiederum an vorangegangene Grundgedanken angeknüpft werden, welche insbesondere über die Kategorien der Reinheit und Unreinheit bereits Überlagerungen von Farbgebung und Vergeschlechtlichung im Kontext des Rassismus nahegelegt haben. So konstatiert von Braun hinsichtlich geschlechtsspezifisch konstruierter Rassismen, dass die (abendländisch tradierte) »Funktion« des »individuellen[] weibliche[n] Körper[s]«, »das unreine ›Fremde‹ zu symbolisieren, [...] die Stereotypen von Weiblichkeit [erklärt], die im rassistischen Antisemitismus dem Körper des Juden zugewiesen werden, um ihn als das ›Andere‹ zu kennzeichnen.«76

Und Gilman fasst mit Blick auf rassistisch-antisemitische Konstruktionen des 19. Jahrhunderts zum Konstruktionszusammenhang von Sexualisierung und Farbgebung des ›Anderen‹ zusammen: »Juden sind schwarz, weil sie anders sind, weil ihre Sexualität anders ist, weil ihnen das Sexuell-Pathologische auf die Haut geschrieben ist.«77 Diese Zusammenhänge von Unreinheit, Weiblichkeit und (falscher) Sexualität, welche den rassisierten ›Anderen‹ der Konstruktionslogik nach ›schwärzen‹, sexualisieren und verweiblichen und eine normativ männlich attributierte, desexualisierte, farblich weiße Norm des ›Eigenen‹/des weißen ›Rassesubjekts‹ implizieren, erscheinen mit Blick auf die Ebene weiblicher Allegorisierungen des Weißen Kollektivkörpers gebro75 Braun, C. v. (2001), S. 58f. 76 Braun, C. v. (1997), S. 19. 77 Gilman, S. L. (1992), S. 26.

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chen: Denn hier repräsentiert der (weiß markierte) weibliche Körper als Allegorie von Gemeinschaft geradezu die (›rassische‹) Reinheit des ›Volkskörpers‹.78 Die kollektive Repräsentationsfunktion des weiblichen Körpers bindet von Braun an christliche Traditionskontexte an, in denen die Figur der Maria als Ekklesia die christliche Gemeinschaft symbolisiert.79 Die hiermit angesprochenen Ambivalenzen vergeschlechtlichter und farbsymbolisch konnotierter rassisierter Repräsentationen, die sich an (vormals religiöse) Kategorien der Reinheit und Unreinheit knüpfen, erscheinen hinsichtlich der historischen Ausarbeitung rassisierter Geschlechterkonstruktionen weiter aus- bzw. unterdifferenziert. So hat Gilman in seinen medizinhistorischen Arbeiten die medizinischen Pathologisierungen der Schwarzen Frau analysiert80 – und damit implizit auf die Normierungsfunktion für die Konstruktion des rassisierten (farb- und formreinen) weißen weiblichen Körpers hingewiesen. Jüngere Arbeiten aus dem Bereich der Kritischen Weißseinsforschung zur deutschen Kolonialgeschichte haben in kritischer Hinterfragung der Rolle Weißer Frauen im Kolonialismus explizit die Repräsentationsfunktion des weiblichen Körpers im kolonialistischen Diskurs herausgestellt. Dabei wurde betont, dass sich auf der Ebene individueller Weiblichkeitskonstruktionen »Vorstellungen weißer Weiblichkeit über die Abgrenzung der Repräsentationen Schwarzer als keusch, rein und zivilisiert« herstellen.81 Anette Dietrich verweist hierbei unter Rückbezug auf Dyer ebenso auf die eingelagerten christlichen Traditionskontexte dieser säkularen Querverbindungen von Reinheit und Keuschheit.82 Konstruktionszusammenhängen von (säkularen) Keuschheits- und Reinheitsvorstellungen und Repräsentationen von Weißsein widmet sich auch Angela Rosenthal in ihrer kunstgeschichtlichen Analyse visueller Inszenierungen weißer Haut des 18. Jahrhunderts. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Bilder Weißer Weiblichkeit über die »Kunst des Errötens«83 den abstrakten Charakter weißer Haut ›verlebendigen‹ und visuelle Konstruktionen von Weißsein über den weiß markierten weiblichen Körper entsprechend mit dem bürgerlichen Tugenddiskurs in Verbindung stehen. Zumeist wurde sich in der historischen Kritischen Weißseinsforschung in Verhandlung geschlechtsspezifischer Rassismen und rassisierter repräsentativer Körperbilder, die einen Zusammenhang von Reinheit und Weißsein konstruieren, auf Konstruktionen Weißer Weiblichkeit konzentriert. Die Bedeutung 78 Vgl. u. a. Braun, C. v. (1997), S. 19; Braun, C. v. (2000b), S. 192-193, Bildbeschreibung Abb. 40. 79 Vgl. u. a. Braun, C. v. (1997), S. 19. 80 Vgl. Gilman, S. L. (1992), S. 119-154. 81 Dietrich, A. (2005), S. 365; vgl. auch Walgenbach, K. (2005). 82 Vgl. Dietrich, A. (2005), S. 367f. 83 So der gleichnamige Titel des Aufsatzes von Rosenthal, A. (2001).

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und Verbindung von Licht- und Männlichkeitssymbolik im historischen Rassediskurs scheint in historischen Forschungen zum völkischen Denken Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts in der Thematisierung »deutsch-nationaler Retterutopien« und damit verbundener männlicher Erlösergestalten auf.84 George Mosse hat in seinen Arbeiten zur historisch vorangegangenen Herausbildung eines modernen ›maskulinen Stereotyps‹ und dem ihm gegenübergestellten konstitutiven ›Anti-Typus‹ auf die rassentheoretischen Reinszenierungen antiker Männlichkeitssymbolik und männlicher Körperbilder hingewiesen, entlang derer Formreinheit und die weiße Farbe des Lichts eine ästhetische Allianz eingehen.85 Es sind hiermit beispielhaft, und in zwangsläufiger Beschränkungen des Forschungsstands, unterschiedliche Ebenen historischer geschlechtsspezifisch konstruierter Rassismen angesprochen. Je nach kollektiver oder individueller Ebene, je nach Ausdifferenzierung rassisierter Geschlechterkonstruktionen und vergeschlechtlichter Rassenkonstruktionen, je nach Attributierung des weißen ›Rassesubjekts‹ oder seiner allegorischen Verkörperung und je nach historisch fokussierten Phasen und Kontexten figurieren sich verschiedene Konstruktionszusammenhänge von Weißsein und Reinheit in unterschiedlichen vergeschlechtlichten Formen. Diese fußen auf die eine oder andere Weise auf schwarz markierten sexualisierten Gegenbildern und implizieren Ambivalenzen der Überlagerungen von Farb- und Geschlechtssymbolik. Eine nähere Ausbuchstabierung der symbolgeschichtlichen Zusammenhänge und Ambivalenzen von Farb- und Geschlechtssymbolik selbst, d. h. eine Fokussierung der Schwarz-Weiß-Symbolik als geschlechtlich codiertem Denk- und Repräsentationssystem des abendländischen Dualismus, findet sich in den bisherigen Forschungsansätzen zu geschlechtsspezifisch konstruierten Rassismen nicht. Es wird somit den komplexen und ambivalenten Aufladungen der Farben Schwarz und Weiß entlang unterschiedlicher Ausprägungen des abendländischen Dualismus in ihrer Bedeutung für säkulare Kategorienbildung nachzugehen sein. Inwiefern die im säkularen Kontext auszumachenden farb- und geschlechtssymbolischen Grundzusammenhänge (Schwarz/ Weiblichkeit/Materie versus Weiß/Männlichkeit/Geist) ebenso wie ihre Brüche (etwa die o. g. Funktionen von Weiblichkeit, das Reine wie das Unreine zu verkörpern) mit dem abendländischen Geist-Materie-Dualismus im Einzelnen verbunden sind und welche weiteren Ausdifferenzierungen sie beherbergen, wird zu ergründen sein. Die abendländische (Wissens-)Geschichte der Schwarz-Weiß-Symbolik liefert in ihren medialen Voraussetzungen zahlreiche Antworten auf Ambivalenzen: schwarz auf weiß. 84 Vgl. Hermand, J. (1988), S. 117. Hermand nimmt dabei u. a. Bezug auf Klee, Ernest. 1922. Das arische Manifest. Leipzig; Reinecke, Adolf. 1923. Der Erlöser-Kaiser. Leipzig. 85 Vgl. u. a. Mosse, G. L. (1997), S. 55f.

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1.2.3 Forschungsstand zu Rassentheorie und Rassismus bei Rudolf Steiner Die Kritik an Rassismus und Antisemitismus im Werk Rudolf Steiners (18611925), des Begründers der Anthroposophie und Waldorfpädagogik, ist nicht neu. Sie wurde in Deutschland verstärkt Anfang der 1990er Jahre in Auseinandersetzungen um den sogenannten ›Ökofaschismus‹ formuliert und war in eine Debatte um Esoterik und Faschismus eingebunden.86 Seit der von Jutta Ditfurth angestoßenen und deutlich polemisch formulierten Kritik sind verschiedene Arbeiten zu verzeichnen, in welchen rassistische, antijudaistische und antisemitische Aussagen im Werk Rudolf Steiners prinzipiell nachgewiesen wurden.87 Insbesondere das Buch von Peter Bierl »Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister«, das 1999 erschien, hat die Frage nach Rassismus bei Rudolf Steiner erneut in die Öffentlichkeit getragen.88 Eine nähere kritisch systematische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ebenen und Ausprägungen anthroposophischer Rassenmodelle, die Bierl vermissen lässt, wurde zunächst aus dem Feld der Religionswissenschaft von Georg Otto Schmid geliefert.89 Der Historiker Helmut Zander hat darauf folgend zusehends präzisiert: Es finden sich Rassismus, Antisemitismus, völkische Elemente und verschiedene rassentheoretische Modelle bei Rudolf Steiner.90 Schwarz-Weiß-Symbolik in Steiners Werk wurde insofern bereits grundsätzlich thematisiert, als dass Dualismenbildung und damit die Prinzipien Licht und Finsternis in Steiners neognostischem Denksystem eine Schlüsselrolle einnehmen und in seinem ›anthroposophischen Christentum‹ angelegt sind.91 Hinsichtlich der Relevanz der Schwarz-Weiß-Symbolik im rassentheoretischen Kontext wurde darauf verwiesen, dass diverse übersinnliche Lichtund Finsternisgestalten, die Steiner als (reale) geistige Wesen versteht, laut anthroposophischer Weltanschauung mit Völkern und/oder ›Rassen‹ assozi86 Angestoßen wurde diese Kritik in Deutschland maßgeblich durch Jutta Ditfurth. Vgl. Ditfurth, J. (1992); vgl. auch Geden, O. (1999). 87 Vgl. u. a. Barth, C. (2003); Bierl, P. (1999); Grandt, G./Grandt, M. (1997); Husmann-Kastein, J. (2006b); Husmann-Kastein, J. (2007); Körner-Wellershaus, I. (1993); Let, P. v. d. (1999); Schmid, G. O. (1995); Sonnenberg, R. (2004); Sonnenberg, R. (2009b); Speit, A. (o. J.); Zander, H. (2001); Zander, H. (2007), Bd. 1, S. 620-637. Zu Rassismus- und Antisemitismuskritik an Rudolf Steiner vgl. auch das Online-Archiv der Schweizer Vereinigung »Aktion Kinder des Holocaust«: http://www.akdh.ch/archiv.html#anthroposophie (Recherchestand: 05.11.07). 88 Vgl. Bierl, P. (1999). 89 Vgl. Schmid, G. O. (1995). 90 Vgl. Zander, H. (2001). 91 Vgl. u. a. Bierl, P. (1999), S. 41-43, 67-75; Körner-Wellershaus, I. (1993), S. 259-329; Strohm, H. (1997), S. 59-61; vgl. kritisch zum anthroposophischen Christentum v. a. Badewien, J. (1990).

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iert und als ›Volksgeister‹92 wirksam werden. So wurde aufgezeigt, dass nach Steiner bspw. die ›Germanen‹ vom Erzengel Michael ›geleitet‹ und einen besonderen Missionsauftrag der Menschheitsentwicklung innehaben würden,93 und angesprochen, dass der ›Christusgeist‹ mit weißer Haut in Beziehung gesetzt wird.94 Insbesondere Schmid zeigt auf, dass Steiner das ›kosmische Licht‹ und das ›Sonnenlicht‹ mit der Ausgestaltung von ›Rassen‹ in Verbindung bringt.95 Zander erwähnt zudem, dass in Steiners übergeordneter kosmologischer Evolutionsgeschichte – d. h. in der esoterischen Evolutionslehre der sogenannten ›Wurzelrassen‹, die der Grundstruktur nach der Okkultistin Helena Petrowna Blavatsky entlehnt ist96 – Elemente der »nordischen Mythologie« integriert sind: So wird der Lichtgott Baldur von Steiner als Prinzip des Fortschritts und Loki als »Exponent« des zurückbleibenden Prinzips vorgestellt.97 Eine nähere Systematisierung schwarz-weiß-symbolischer Elemente und die Frage nach ihrer strukturellen Bedeutung im Kontext rassentheoretischer Modelle Rudolf Steiners blieben jedoch bisher weitestgehend unberücksichtigt. Die vorliegende Arbeit wird sich auf eben diese Frage konzentrieren und dabei nach der grundlegenden Bedeutung neognostischer Grundstrukturen des Geist-Materie-Dualismus, des anthroposophischen Christus und der anthroposophischen Farbenlehre für die anthroposophischen Rassenmodelle und insbesondere für die Konstruktion von Weißsein fragen. Hierbei wird es auch darum gehen, das kosmologische Evolutionsmodell der ›Wurzelrassen‹ in nähere Korrespondenz mit Steiners Rassenmodellen der gegenwärtigen Menschheit zu bringen.98 Dabei ist aufzuzeigen, inwiefern der übergeordnete Evolutionsmodus analog mit anthroposophischen Entwürfen einer ›rassenspezifischen‹ Physiologie korrespondiert und kosmologische Krisen- und Erlösungsvorstellungen und die ihnen inhärente Schwarz-Weiß-Symbolik den rassentheoretischen Systematiken eingeschrieben werden. Nicht zuletzt werden mit der Fokussierung geschlechtlicher Codierungen der Schwarz-WeißSymbolik im rassentheoretischen Kontext neue analytische Schwerpunkte gesetzt. Hierzu zählt auch die bisher unbearbeitete Frage, inwiefern anthroposophische Konzeptionen eines ›falschen‹ und eines ›erlösenden‹ Wissens an sich mit den Kategorien ›Rasse‹ und Geschlecht verbunden sind und welche 92 Vgl. u. a. Körner-Wellershaus, I. (1993), S. 379-395; Zander, H. (2001), S. 310. 93 Vgl. u. a. Bierl, P. (1999), S. 59. Zum anthroposophischen Missionsgedanken der Deutschen vgl. u. a. auch Zander, H. (2001), S. 313. 94 Vgl. u. a. Körner-Wellershaus, I. (1993), S. 387; Zander, H. (2001), S. 312. 95 Schmid, G. O. (1995), S. 181-190. 96 Vgl. Blavatsky, H. P. (1973). Zu Blavatskys Schriften vgl. u. a. auch Blavatsky, H. P. (1995); Blavatsky, H. P. (1999). 97 Vgl. Zander, H. (2001), S. 306. 98 Zander hat dies dem Ansatz nach bereits getan. Vgl. v. a. Zander, H. (2001), S. 293, 309.

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schwarz-weiß-symbolischen Deutungsmuster sich in diesem Kontext reartikulieren. Entgegen Annahmen, die Rassismus und Rassentheorie in Steiners Werk entweder, wie eingangs hinsichtlich offizieller Positionen der Anthroposophie in Deutschland bemerkt, weitestgehend bestreiten, den »Rassismusvorwurf«, wie der Historiker Jörn Rüsen, als »im Kern unberechtigt« betrachten und auf »einige problematische, ja ärgerliche Äußerungen« eines Vortrags reduzieren99 oder trotz Problematisierung nicht als »Zentralthema der Anthroposophie«100 werten, wird insgesamt auch ein Beitrag dazu geleistet, die qualitativ strukturelle Bedeutung rassentheoretischer Grundgedanken in Steiners Denksystem herauszustellen.101 Nicht zuletzt die Perspektivierung der Analysekategorie Geschlecht zeigt hierbei neue Dimensionen auf. Die Geschlechterkonstruktionen Rudolf Steiners sind als solche in kritisch dekonstruktivistischer Perspektive bisher kaum bearbeitet. Im breiten Spektrum ›feministischer‹ Positionen finden sich einerseits anthroposophische Beiträge aus dem Feld eines spiritualistisch-essentialistisch geprägten Feminismus. Dazu zählt die Publikation von Dagmar Müller »Das Eigene der Frauen. Feminismus und Anthroposophie im Gespräch«, die in eine Romantisierung ›weiblicher Spiritualität‹ mündet.102 Deutlich distanzierter als Müller argumentiert Juliane Weibring in ihrem Buch »Die Waldorfschule und ihr religiöser Meister. Waldorfpädagogik aus feministischer und religionskritischer Per-

99 Rüsen, J. (1998). 100 Schmid, G. O. (1995), S. 139. 101 Damit wird auch der Einschätzung des Historikers George L. Mosse, auf den sich die vorliegende Arbeit ansonsten in vielfältiger Weise bezieht, widersprochen, wenn dieser in seiner »Geschichte des Rassismus« konstatiert: »Die Theosophie selbst war nicht rassistisch [...]. Aber der Rassismus verbündete sich schließlich mit der Theosophie. [...] Theosophie konnte in der Tat auch einen neuen Humanismus tragen. Rudolf Steiners 1913 in Berlin gegründete ›Anthroposophische Gesellschaft‹ verband Spiritualismus mit Freiheit und Universalismus.« Mosse, G. L. (2006), S. 119f. Eine nähere Auseinandersetzung mit Steiner lässt Mosse an dieser Stelle vermissen. 102 Müller, D. (1994). Der Tendenz nach wird Steiner hier als ›Freund der Frauenemanzipation‹ skizziert, der den Frauen ihre »besondere Eigenart« ließe, die sie »in die Kultur einzubringen hätten«. Müller, D. (1994), S. 39. Müller geht es insgesamt weniger um eine explizite Auseinandersetzung mit konkreten Geschlechterbildern Steiners, als vielmehr um eine Parallelisierung von Feminismus und Anthroposophie, die sie jeweils als spirituelle, mit Fragen der Übersinnlichkeit befasste Bewegungen versteht. Vgl. u. a. Müller, D. (1994), S. 67. Müller liest dabei die anthroposophische ›Materialismuskritik‹ und weltanschauliche ›Ganzheitlichkeit‹ u. a. mit der in den 1970ern und 1980ern formulierten Patriarchatskritik der Feministin Mary Daly zusammen. Sie nimmt dabei Bezug auf: Daly, Mary. 1980 (1971). Jenseits von Gottvater, Sohn & Co. München; Daly, Mary. 1981. Gyn/Ökologie. München; Daly, Mary. 1986. Reine Lust. München.

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spektive.«103 Weibring verfolgt einerseits das reformorientierte Ziel einer Hinterfragung von geschlechtlichen »Rollenklischees«104 in Steiners Denksystem und der heutigen Waldorfpädagogik, andererseits eine Kritik an »Steiners Androzentrik in Sprache und Gottesbildern«.105 In Weibrings theologischfeministischer Auseinandersetzung scheint das Anliegen u. a. darin zu liegen, die männlichen Gottheiten durch »die weibliche Dimension des Göttlichen«106 und ein ›androgynes‹ Gottesbild zu ergänzen. In ihrer Kritik an Steiner spricht sie von »männlichem ›(Erlöser)-Anthroposophen-Chauvinismus‹«.107 Der Anthroposoph Michael Eggert übt Kritik an Sexismus, Homophobie und Sexualfeindlichkeit diverser Anthroposophen.108 Steiner selbst wird von der Kritik ausgenommen. Eggert resümiert: »Es gibt einen spezifisch anthroposophischen Sexismus sowenig wie einen Rassismus. Es ist aber gar nicht zu leugnen, dass es z.B. in Bezug auf die Rolle der Frau eine verzerrende, reaktionäre Interpretation von Steiners Äußerungen gegeben hat.«109

In der anthroposophiekritischen Literatur werden Steiners Geschlechterkonstruktionen meist als reaktionär frauenfeindlich skizziert, kritisiert werden stereotype Aussagen sowie das anthroposophische Keuschheitsideal. Die Thematisierung taucht der Struktur nach (bspw. bei Bierl) teils als Parallelisierung von Sexismus und Rassismus auf.110 Zander hingegen hat auf die bedeutende Rolle und Anzahl von Frauen innerhalb der Anhängerschaft Steiners verwiesen111 und anthroposophische Geschlechterkonstruktionen dem Ansatz

103 104 105 106 107

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110 111

Weibring, J. (1998). Weibring, J. (1998), S. 54. So der gleichnamige Titel eines Kapitels in: Weibring, J. (1998), S. 106-118. Weibring, J. (1998), S. 108. Weibring, J. (1998), S. 21. Weibring bezieht sich in diesem Kontext konkret auf Steiners Ablehnung der Gymnasialbildung für Mädchen und nennt als Quelle: Steiner, Rudolf. 1979 (GA 296). Die Erziehungsfrage als soziale Frage. Dornach, S. 108f. Eggert nennt als (maßgeblich historische) Beispiele Wolfgang Gädeke, Bernard C. J. Lievegoed, Otto Julius Hartmann, Norbert Glas, Friedrich Husemann, Otto Wolff und den Steiner-Schüler Ernst Uehli. Vgl. Eggert, M. (2001). Eggert, M. (2001). Eggert kommt zu dem Schluss: »Eigentlich ist kein größerer Gegensatz denkbar zwischen Rudolf Steiners Aussagen und der hier aufgeführten Zitatsammlung [der oben genannten Autoren]. Während sich in diesen Zitaten ein reaktionäres, ja in mancher Hinsicht durchaus fundamentalistisches Weltbild mit deutlichen sexistischen Untertönen kundtut, ist dies bei Steiner selbst durchaus nicht der Fall.« Eggert, M. (2001). Vgl. u. a. Bierl, P. (1999), S. 63f. Vgl. Zander, H. (2007), Bd. 1, S. 392-395.

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nach unter Einbeziehung zeitgenössisch wissenschaftshistorischer Diskurse kontextualisiert. 112 In den bisherigen Arbeiten fehlen Reflexionen zu Interdependenzen der Kategorien ›Rasse‹ und Geschlecht. Geschlechtsspezifisch konstruierte Rassismen wurden bisher nicht dezidiert verhandelt. Diese Forschungslücke soll, u. a. auch in kritischer Reflexion zu Steiners (vermeintlicher) ›Kulturkritik‹ an der (Weißen) ›männlichen Kultur‹, bearbeitet werden. Die Kategorie Geschlecht wird dabei analytisch auf symbolischer und sozialer Ebene sowie mit Blick auf vergeschlechtlichte Strukturen des Wissens relevant.

1.3 Methodik Das kulturwissenschaftliche Forschungsprojekt ist inter- und transdisziplinär ausgerichtet und bedient sich methodisch der Diskursanalyse, der feministischen Repräsentationskritik und des Forschungsansatzes der Dekonstruktion.

1.3.1 Inter- und Transdisziplinarität Die inter- und transdisziplinäre Forschungsausrichtung ergibt sich grundlegend aus der transdisziplinären Struktur der Fragestellung, d. h. präziser a) aus der Auseinandersetzung mit den dualistischen Denktraditionen des Abendlandes, wonach religions- und kulturgeschichtliche, theologische und philosophische Primär- und Sekundärliteratur ebenso einbezogen werden wie verschiedene (populär-)wissenschaftliche Lexika und Texte zur abendländischen Schwarz-Weiß-Symbolik. b) aus der Verhandlung der Geschichte des rassentheoretischen Denkens bzw. der historischen Konstruktionen von ›Rasse‹ und Geschlecht. Danach durchzieht die Geschichte des rassentheoretischen Denkens seit dem 18. Jahrhundert verschiedene Disziplinen, die im 19. Jahrhundert ausdifferenziert werden. Anthropologie und Ethnologie selbst konstituieren sich historisch erst allmählich als institutionalisierte Wissensbereiche und weisen entsprechend prä-, inter- und transdisziplinäre Strukturen auf. Dabei kann die historische gesamtgesellschaftliche Verankerung des rassentheoretischen Denkens bzw. seine Wechselwirkung mit sozio-ökonomischen und sozio-politischen Entwicklungen in erweitertem Sinne als ›transdisziplinäre‹, d. h. nicht nur als eine über die Disziplinen, sondern über den akademischen Kontext hinausreichende Struktur des Rassismus begriffen werden. Aufgebaut wird entsprechend auf Arbeiten zur Geschichte der europäischen Rassentheorie aus unterschiedlichen Disziplinen113 ebenso wie auf in112 Vgl. Zander, H. (2007), Bd. 1, S. 401f.

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terdisziplinären Zugängen zur historischen Konstruktion von Geschlecht114 bzw. historischen Arbeiten, die Interdependenzen von ›Rasse‹ und Geschlecht als säkulare Strukturkategorien verhandeln.115 Zugleich wird sich auf Studien zur ›Krise der Männlichkeit‹ in der Moderne mit Impulsen aus der Kultur-, Geschichts- und Literaturwissenschaft gestützt.116 c) Transdisziplinäre Aspekte liegen ebenso in der Anthroposophie Rudolf Steiners als einem ekklektizistischen Denksystem begründet, in welches verschiedene religiöse, okkultistische/theosophische, (natur-)philosophische und naturwissenschaftliche Elemente einfließen. Dabei gestaltet sich Rudolf Steiners anthroposophisch-okkultistische ›Geisteswissenschaft‹ in mehrfachem Sinne als ›transdisziplinär‹: Hiernach nehme ich in diesem Fall den Begriff »trans-«, der etymologisch als »Präfix der Bedeutung ›hinüber, jenseits, extrem‹« definiert ist,117 unter dem Aspekt des ›Jenseitigen‹ in dreifacher Hinsicht beim Wort. Danach ist die Anthroposophie als okkultistisches Denksystem also erstens jenseits der Disziplinen und zweitens jenseits der institutionalisierten Wissenschaft verortet. Schließlich liefert die Anthroposophie drittens dem Anspruch nach ein zeit- und kulturunabhängiges Wissen, das sich – selbsterklärtermaßen – der Hellsehung Rudolf Steiners und damit übersinnlichen, jenseitigen Welten verdankt. Zugänge zu Rudolf Steiners anthroposophischem Denkssystem erschließen sich neben der historischen Primärliteratur Steiners (vgl. Kap. 5) über religionsgeschichtlichte Lexika,118 (kritische) theologische, geschichtswissen113 Bspw. aus den Afrika-, Geschichts-, Kultur-, Natur- und Sozialwissenschaften. Hier wird sich u. a. auf folgende Arbeiten gestützt: Arndt, S. (2001a); Braun, C. v./Heid, L. (2000); Bergmann, A. (1992); Brumlik, M. (2000); Geschichtliche Grundbegriffe (1994); El-Tajeb, F. (2001); Gilman, S. L. (1992); Grosse, P. (2000); Gould, S. J. (1999); Hall, S. (1994); Hentges, G. (1999); Hermand, J. (1988); Hödl, K. (1997); Hund, W. D. (1999); Kaupen-Haas, H./Saller, C. (1999); Martin, P. (1985); Martin, P. (2001); McClintock, A. (1995); Mosse, G. L. (1997); Mosse, G. L. (2006); Schiebinger, L. (1995); Schnurbein, S. v. (1993); Schnurbein, S. v./Ulbricht, J. H. (2001); Todorov, T. (1982); Volkov, S. (2001); Walgenbach, K. (2005). 114 Aus der geschichts-, kultur-, literatur-, natur-, sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung vgl. u. a. Braun, C. v. (1999); Brunotte, U. (2004); Brunotte, U. (2008); Bublitz, H. (1993); Dornhof, D. (2005); Honegger, C. (1996); Hausen, K. (1976); Laqueur, T. (1996); Orland, B./Scheich, E. (1995); Scheich, E. (2000); Schiebinger, L. (1995); Schnurbein, S. v. (1997); Stephan, I. (1997). 115 Vgl. u. a. Braun, C. v. (2000b); Dornhof, D. (2005); Fuchs, B./Habinger, G. (1995); Gilman, S. L. (1992); Hall, S. (1994); McClintock, A. (1995); Mosse, G. L. (1997); Schiebinger, L. (1995); Uerlings, H./Hölz, K./SchmidtLinsenhoff, V. (2001); Walgenbach, K. (2005). 116 Vgl. v. a. Brunotte, U./Herrn, R. (2008a); Mosse, G. L. (1997); Schnurbein, S. v. (2001). 117 Etymologisches Wörterbuch/Kluge (1999), S. 832, Stichwort trans-. 118 Vgl. v. a. RGG (1986).

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schaftliche, (religions-)pädagogische Arbeiten und interdisziplinäre Sammelbände zur Anthroposophie,119 anthroposophisch geprägte Literatur zur Geschichte und Weltanschauung der Anthroposophie und Rudolf Steiner120 sowie über bildungspolitische, praxispädagogische und journalistische Anthroposophiekritik121. Die inter- und transdisziplinäre Ausrichtung ergibt sich nicht zuletzt d) aus dem methodologischen Überbau der Arbeit, in dem inter- und transdisziplinäre Forschungsperspektiven aus den Bereichen der Interdependenz-/Intersektionalitätstheorie,122 der Postkolonialen Theorie,123 der Critical Whiteness Studies bzw. der Kritischen Weißseinsforschung124 sowie kulturtheoretische Ansätze der (historischen) Geschlechterforschung125 und der feministischen Repräsentationskritik126 zusammenfließen. 119 Vgl. u. a. Badewien, J. (1990); Barz, H. (1994); Körner-Wellershaus, I. (1993); Kreis, G. (1991); Müller, J. (1995); Prange, K. (2000); Ringleben, J. (2006); Schmid, G. O. (1995); Weibring, J. (1998); Zander, H. (1995); Zander, H. (2001); Zander, H. (2007). In historisch-kritischer Lesart zu Rassenmodellen Rudolf Steiners wird sich insbesondere auf Zander, H. (2001) gestützt. 120 Vgl. u. a. Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland (1995); Bader, H.J./Ravagli, L. (2002); Baumann, A. (1991); Göpfert, C. (1999a); Kugler, W. (1979); Lindenberg, C. (1997); Müller, D. (1994); Untersuchungskommission »Anthroposophie und die Frage der Rassen« (1998); unter den anthroposophischen Zeitschriften vgl. u. a. »Das Goetheanum« [http://www.dasgoetheanum.ch/]; »Info3« [http://www.info3.de/ycms/]. Ferner werden Informationen und Selbstdarstellungen auf verschiedenen Websites, u. a. der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland [http://www.anthroposophischegesellschaft.org/] und des Bundes der Freien Waldorfschulen [http://www.waldorfschule.info/], berücksichtigt. 121 Vgl. u. a. Barth, C. (2003); Bierl, P. (1999); Brügge, P. (1984); Ditfurth, J. (1992); Grandt, G./Grandt, M. (1997); Lichte, A. (2006b); Lichte, A. (2006c); Speit, A. (o. J.). Zum Pressediskurs siehe die einzelnen Angaben in Kap. 6. 122 Unter der neueren deutschsprachigen Literatur vgl. v. a. Walgenbach, K./ Dietze, D./Hornscheidt, A./Palm, K. (2007). Siehe dazu ausführlicher die vorangegangenen Literaturverweise und Erläuterungen in Kap. 1.1.2; 1.2.2. 123 Vgl. u. a. Castro Varela, M. d. M./Dhawan, N. (2005a); Conrad, S./Randeria, S. (2002); Hall, S. (1994); McClintock, A. (1995); Spivak, G. C. (1990); Spivak, G. C. (1996); Steyerl, H./Gutiérrez Rodríguez, E. (2003). Siehe dazu ausführlicher die vorangegangenen Literaturverweise und Erläuterungen in Kap. 1.1.1; 1.1.2; 1.2.2. 124 Vgl. u. a. Eggers, M. M./Kilomba, G./Piesche, P./Arndt, S. (2005); Dyer, R. (2006); Frankenberg, R. (1993); hooks, b. (1994); Morrison, T. (1995); Tißberger, M./Dietze, G./Hrzán, D./Husmann-Kastein, J. (2006a); Wachendorfer, U. (2001); Walgenbach, K. (2005). Siehe dazu ausführlicher die vorangegangenen Literaturverweise und Erläuterungen in Kap. 1.1.1; 1.1.2; 1.2.2. 125 Hierbei wird sich maßgeblich auf kulturtheoretische Ansätze von Braun, C. v. (2001); Braun, C. v./Stephan, I. (2005) gestützt. 126 Vgl. u. a. Bronfen, E. (1996); Lauretis, T. d. (1987). Zu vergeschlechtlichten Repräsentationspolitiken aus religionswissenschaftlicher Perspektive vgl. Lanwerd, S. (2008).

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Als interdisziplinär sind die Forschungsfelder zu Intersektionalität/Interdependenzen, der Postkolonialen Theorie und der Kritischen Weißseinsforschung zu bezeichnen, da jeweils unterschiedliche Disziplinen in ihnen vertreten sind bzw. sich ihres methodologischen Überbaus bedienen. Transdisziplinäre Momente liegen sowohl in disziplinübergreifenden (gesellschafts- und wissenschaftskritischen) Forschungsfragen und Themenstellungen als auch in außerakademischen Impulsen ihrer Theoretisierung begründet.127 Die feministische Repräsentationskritik ist als Forschungsansatz in sich inter- und transdisziplinär strukturiert und mit diskurstheoretischen Konzeptionen verbunden.

1.3.2 Diskursanalyse, Repräsentation, Dekonstruktion Die Wahl der Diskursanalyse als Methode begründet sich durch theoretische Überlegungen zur Überschneidung verschiedener Wissenschafts- und Alltagsdiskurse, zur Wechselwirkung von Diskurs und sozialer Praxis, zur »›Geschichtlichkeit von Texten‹«,128 der »›Textualität von Geschichte‹«129 und durch das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse, »in welcher Weise Subjekte durch Macht/Wissen konstituiert werden.«130 Repräsentationskritik und Dekonstruktion können hierbei als Bestandteil der Diskurstheorie und Diskursanalyse begriffen werden: »Repräsentationen sind Vergegenwärtigungen und Darstellungen von Diskursen, aber auch von sozialen und kulturellen Praktiken, die in allen gesellschaftlichen Bereichen zirkulieren. [...] In und durch die Repräsentation materialisieren sich Denkstrukturen und Ordnungsprinzipien [...].«131

Diskursanalyse im Sinne der Dekonstruktion meint für den methodischen Umgang mit Texten notwendigerweise Rekonstruktion, die zugleich als Konstruktion zu begreifen ist. Kultur selbst wird als ›Text‹ verstanden und Textanalyse als eine interpretierende Arbeit an Intertextualität, an diversen kulturellen Diskursen und sozialen Praktiken, die in die jeweils zu analysierenden Texte einfließen.132 Hiermit wird sich an Konzeptionen der Kulturpoetik und des New Historicism133 angelehnt, denen ein bewusster Ekklektizis127 Zu Definitionsansätzen und Verhältnissetzungen von Trans- und Interdisziplinarität im Kontext deutschsprachiger Geschlechterforschung vgl. Hark, S. (2005), S. 380-389. 128 Mathes, B. (2001), S. 15. 129 Mathes, B. (2001), S. 15. 130 Mathes, B. (2001), S. 14; Bezug genommen wird hiermit auf Michel Foucault. Vgl. Foucault, M. (1998). 131 Mathes, B. (2001), S. 14f. 132 Vgl. Baßler, M. (2003), S. 134f., 148f.; Ort, K.-M. (2003), S. 33f. 133 Vgl. Baßler, M. (2001); Baßler, M. (2003), S. 132-150; Greenblatt, S. (1993).

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mus als Bestandteil der Methodik eigen ist.134 Zudem ist ›Dekonstruktion‹ als ›De-Naturalisierung‹ bzw. ›Ent-Naturalisierung‹ und auch in diesem Sinne nicht als geschlossene Methode bestimmt worden.135 Es ist neben der poststrukturalistisch-sprachphilosophischen Ausrichtung136 vor allem der ›historisierende Blick‹, der Dekonstruktion als Deplausibilisierung normativer Zwangszusammenhänge und essentialistischer Vereigenschaftlichungen wirksam werden lässt. Als eine derartige Perspektive der Deplausibilisierung verbindet sich Dekonstruktion so auch mit jenen geschlechtertheoretischen Forschungsperspektiven der Interdependenz-/Intersektionalitätstheorien und der Critical Whiteness Studies bzw. Kritischen Weißseinsforschung, denen der Ansatz eigen ist, die Kategorien ›Rasse‹ und Geschlecht biologistischen, essentialistischen Definitionsbestimmungen zu entheben, sie demgegenüber als (historisch gewordene) soziale Strukturkategorien zu fassen und als Analysekategorien zu konzeptionalisieren. Das Zusammenwirken der Kategorien ›Rasse‹, Geschlecht und Religion und die hierin eingelagerten symbolischen und sozialen Ebenen in dekonstruktivistischer Perspektive analytisch zu präzisieren,137 stellt eine der methodischen Herausforderungen des Forschungsprojekts dar. Mit der dekonstruktivistisch motivierten Analyse rassentheoretischer Wissensproduktionen wird sich in übergeordnetem Sinne entsprechend auf die epistemische Analyseebene138 konzentriert und damit auf (feministischpostkolonialistisch inspirierte) Fragen der »gewaltvolle[n] Macht der Repräsentation«.139 Dabei schließt die epistemische Analyseebene hier die Frage ein, inwiefern (säkularisierte) Elemente abendländischer Schwarz-Weiß134 Dies betrifft sowohl den ›Methodenpluralismus‹ als auch die inhaltliche Verfolgung von Inter- und Transdisziplinarität. Vgl. Baßler, M. (2003), S. 146; Mathes, B. (2001), S. 9, 11. 135 Demnach kommt der Ansatz im Kontext der Geschlechterforschung in unterschiedlichen Disziplinen und methodischen Zugängen zum Ausdruck. Vgl. u. a. Knapp, G.-A. (1999). 136 Vgl. Butler, J. (1991). 137 Sandra Harding hat mit Blick auf die Kategorie ›Rasse‹ dem Grundansatz nach bereits analytisch zwischen individuellen, strukturellen und symbolischen Dimensionen unterschieden. Vgl. Harding, S. (1993), S. 11f.; vgl. auch Kap. 1.2.1. 138 Ina Kerner hat die analytische Differenzierung in eine ›epistemische‹, ›institutionelle‹ und ›personale‹ Dimension von Rassismen und Sexismen herausgestellt. Dabei werden die drei Dimensionen nicht als strikt voneinander getrennt betrachtet, sondern die Unterscheidung dient »heuristischen Zwecken – nicht zuletzt, um einen möglichst komplexitätsbewussten Blick auf den Untersuchungsgegenstand zu gewährleisten.« Kerner, I. (2009), S. 37. Der Begriff der ›epistemischen Analyseebene‹ schließt an die epistemische Dimension und damit im weitesten Sinne an die »Wissensdimension« (Kerner, I. (2009), S. 37) an. 139 Castro Varela, M. d. M./Dhawan, N. (2005a), S. 24.

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Symbolik zum konstitutiven (Grund-)Bestandteil der ›gewaltvollen Macht der Repräsentation‹ des rassentheoretischen Denkens zu zählen sind. Mit Blick auf symbolgeschichtliche Traditionskontexte birgt der Begriff der ›abendländischen Schwarz-Weiß-Symbolik‹ in gewisser Weise seinerseits die Gefahr eurozentrischer Vereinheitlichungen in sich. Insofern ist herauszustellen, dass schwarz-weiß-symbolische Traditionen des Abendlandes nicht als in sich hermetisch-abgeschlossene Denk- und Repräsentationssysteme zu begreifen sind und/oder ihren Entstehungskontexten nach ausschließlich innerhalb Europas entwickelt worden wären. Vielmehr zielt der Begriff ›abendländisch‹ im symbolgeschichtlichen Kontext auf spezifische Aus- und Weiterverarbeitungen unterschiedlicher symbolgeschichtlicher Denktraditionen, auf abendländisch dominante Traditions- und Entwicklungsstränge und ihre (repräsentative) Wirkmächtigkeit innerhalb (west-)europäischer geistesgeschichtlicher und rassentheoretischer Wissensproduktionen.140 Das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse dieser Arbeit liegt im Aufzeigen der ›kulturellen Logiken‹ der Rassenkonstruktion und damit auch in der Dekonstruktion (proklamierter) wissenschaftlicher Objektivität. Die dekonstruktivistische Analyse ist dabei dem praktischen Vorgehen nach mit dem grundlegenden methodischen Problem konfrontiert, die zu dekonstruierenden eurozentrischen Wissensbestände zwangsläufig rekonstruieren und entsprechend reartikulieren zu müssen. So bilden die nicht unproblematischen Prozesse der zitatförmigen Wiederholung gewaltförmiger Repräsentationen letztlich ein unumgehbares Paradox dekonstruktivistischer Lektürepraxis, auf das hier lediglich aufmerksam gemacht werden kann. Die dekonstruktivistische Infragestellung eines reinen, objektiven, standpunktlosen wissenschaftlichen (Fakten-)Wissens gilt konsequenterweise auch für die vorliegende Arbeit selbst. Die spezifischen Kontextabhängigkeiten und narrativen Darstellungsweisen dieser kulturwissenschaftlichen Untersuchung erschließen sich schon aus den formulierten methodologischen Herangehensweisen, (kultur-)theoretischen Grundansätzen, analytischen Schwerpunktsetzungen, fokussierten Fragestellungen und dem einbezogenen Quellenmaterial. Die inhaltliche Darstellung besitzt hiernach – wie jede wissenschaftliche Arbeit – eine gewisse analytisch-narrative Kohärenz, die ihrerseits durch Konstruktionshaftigkeit gekennzeichnet ist. Dekonstruktion, verstanden als ein zwangsläufiger Prozess der (Re-)Konstruktion, setzt neben dieser wissenschaftlichen Selbstpositionierung (d. h. der notwendigen Reflexion zum wissenschaftlichen Bezugsrahmen wissenschaftlicher Wissensproduktion) zu140 Zur Problematisierung des Begriffs ›Abendland‹ bzw. zu »›Abendländischkeit‹« als homogenisierendem (Identitäts-)Konstrukt im Kontext (okzidentalistischer) Neorassismen vgl. Dietze, G. (2006), S. 233; Brunner, C./Dietze, G./ Wenzel, E. (2009), S. 12. Zum Konzept des Kritischen Okzidentalismus vgl. auch Dietze, G. (2009).

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gleich das Bewusstsein um die eigene sozio-kulturelle, historische und soziopolitische Verortung voraus. Es sind zugleich ›private‹ Erfahrungen, die in die wissenschaftliche Perspektive mit einfließen, und die sich immer auch als politische Zusammenhänge gestalten. Maßgebliche theoretische und außerakademische Impulse dieser Verortungspolitiken und hegemonie(selbst-)kritischen141 Reflexionsprozesse zu Weißen Subjektpositionen und -positionierungen basieren auf Schwarzer feministischer Kritik.142 Anschließend an Spivaks Gedanken einer »›De-Hegemonisierung‹ hegemonialer Positionen«143 ist dieser Studie die Annahme unterlegt, dass es dem sozio-kulturellen Rahmen nach kein ›Außerhalb‹ des Rassismus bzw. postkolonialer Machtverhältnisse gibt, jedoch diverse, so auch wissenschaftlich-diskursive Interventionsmöglichkeiten in wissensbasierte hegemoniale Ordnungssysteme. Danach leitet sich das (Eigen-)Interesse, im deutschen Kontext wissenschaftskritisch zu Rassismus zu arbeiten, historisch wie gegenwartsbezogen her und folgt nicht zuletzt dem Ziel, kulturell verinnerlichte Rassismen zu dekonstruieren.

1.4 Struktur Kapitel 2: »Schwarz-Weiß-Symbolik: Geistesgeschichtliche Traditionskontexte des Abendlandes«, eröffnet Zugänge zu abendländisch-dualistischen Denktraditionen bzw. schwarz-weiß-symbolischen Bild- und Denkräumen in der griechischen Antike, im frühen Christentum und der Gnosis. Kapitel 3: »Weißwerden: Historische Vorläufer und Anfänge rassentheoretischer Farbgebung«, nimmt frühneuzeitliche Säkularisierungsprozesse in ihrer (farbsymbolischen) Bedeutung für historisch folgende Rassenkonstruktionen/Konstruktionen von Weißsein in den Blick. Im Anschluss werden Prozesse der Naturalisierung schwarz-weiß-symbolischer Ordnungsmuster und religiöser Wissensbestände im Kontext rassentheoretischer Kategorienbildung des 18. Jahrhunderts skizziert. Kapitel 4 stellt unter dem Titel »Carl Gustav Carus: ›Symbolik der menschlichen Gestalt‹« die idealistisch-naturphilosophische Rassentheorie und Konstruktionen hegemonialer Weißer Männlichkeit des Mediziners Carl Gustav Carus vor und fragt nach idealistischen Reinszenierungen und (Re-)Naturalisierungen schwarz-weiß-symbolischer Elemente rassentheoretischer Konstruktionen. Kapitel 5: »Rudolf Steiner: Weißsein 141 Der Begriff ›hegemonie(selbst)kritisch‹/›Hegemonie(Selbst)Kritik‹ ist Gabriele Dietze entlehnt. Vgl. u. a. Dietze, G. (2006), S. 220; Dietze, G. (2009), S. 27. 142 Vgl. u. a. Afrekete (1988-1990); Ayim, M. (2001); hooks, b. (1994); Hügel, I./ Lange, C./Ayim, M./Bubeck, I./Aktas, G./Schultz, D. (1993a); Joseph, G. I. (1993); Oguntoye, K. (1989); Oguntoye, K./Opitz, M./Schultz, D. (1991). 143 Castro Varela, M. d. M./Dhawan, N. (2005a), S. 63, unter Bezugnahme auf Spivak, G. C. (1990), S. 121.

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zwischen Krise und Erlösung«, widmet sich anthroposophischen Konstruktionen von Weißsein bzw. hegemonialer Weißer Männlichkeit, analysiert entsprechend anthroposophische Rassen- und Geschlechterkonstruktionen und fokussiert schwarz-weiß-symbolische Komponenten unter dem Aspekt neognostischer Respiritualisierung und anthroposophisch spezifischer (Re-)Naturalisierung. Kapitel 6: »Keine Rassenlehre bei Rudolf Steiner? Aktuelle anthroposophische Positionen«, setzt sich kritisch mit Argumentationsmustern einer ›Abwehr‹ des ›Rassismusvorwurfs‹ an Rudolf Steiner auseinander und zeigt exemplarisch Fort- und Umschreibungen anthroposophischer Rassenkonstruktionen auf.

2 Schw arz-Weiß-S ymbolik: Geistesgesc hichtliche Traditionskontexte des Abe ndla ndes

2.1 Einleitung: › An g s t vo r d e r s c hw a r z e n R e p u b l i k ‹ ? »Das Konzept der symbolischen Repräsentation handelt von Abwesenheit, von Dingen, die für anderes stehen, von Identifizierung und Gleichsetzung, von Lust und Angst.«1

»Wer hat Angst vor den Schwarzen?«, betitelte das Magazin der »Stern« einen Artikel zum bundesdeutschen Wahlkampf 2005.2 Bezug genommen wurde damit auf die Wahlkampf-Rhetorik der damaligen Koalition von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, welche die »Angst vor der ›schwarzen Republik‹« postulierte.3 Diese Werbestrategie verhalf indes nicht zum Wahlsieg. Das rhetorische Mantra der ›schwarz-konservativen‹ Konkurrentin Angela Merkel war die Heil versprechende Aussicht auf das ›Licht am Ende des Tunnels‹.4 Sie wurde mit der Gunst der WählerInnen belohnt. In beiden Fällen wurde ein kulturelles Repertoire der Angst und der Hoffnung aufgerufen, das schwarz-weiß-symbolische Sinnbilder beinhaltet. Die rot-grüne Wahlkampfkampagne transportierte dabei jedoch eine durchaus fragwürdige Mehrdimen1 2 3

4

Lanwerd, S. (2008), S. 221. Wer hat Angst vor den Schwarzen? Von Dorit Kowitz. In: Stern 31/2005, S. 38f. Vgl. Koalition hofft auf Angst vor der ›schwarzen Republik‹. Von Robert Roßmann und Hans-Jörg Heims. In: Süddeutsche Zeitung, 19.05.2005, Titelseite; vgl. auch »Wir werden die schwarze Republik zum Thema machen«. SZInterview mit dem Bundesvorsitzenden der Grünen, Reinhard Bütikofer. Interview: Robert Roßmann. In: Süddeutsche Zeitung, 19.05.2005, S. 6. Vgl. u. a. Merkel, A. (2005).

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sionalität: Aufgerufen wurden einerseits farbsymbolische Visionen einer ›chaotischen‹ Republik, deren beängstigende Schwärze nicht zuletzt in Erinnerung an den CDU-Skandal um ›schwarze Kassen‹ Korruption und Illegalität transportierte. Übermittelt wurden in begrifflicher Entsprechung jedoch zugleich Assoziationen zu den Schwarzen Republiken Afrikas, ›SchwarzAfrikas‹. Der rhetorisch genutzte Vorteil, die kulturell angstbesetzten Aspekte der Farbe Schwarz mit der Parteifarbe des konservativen Gegners zu verbinden, verlagerte die ›spielerische‹ Rhetorik ›Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?‹ auf die Nation, eine Assoziationskette, die in der o. g. Überschrift des »Stern«-Artikels greifbar wird. Es ist weniger die Frage, ob es sich dabei um Ironie, eine bewusste oder unbewusste Strategie handelte oder nicht – eingelagert in diese wahlkampfstrategische Rhetorik war eine ›Weiße Angst‹ vor Schwarzen Menschen und einem Unglück und Elend, das der ›schwarze Kontinent‹ in Traditionen hegemonialer Weißer Lesarten so doppelsinnig zu verkörpern scheint. Wäre Frau Merkel nicht nur parteipolitisch, sondern soziopolitisch Schwarz, so wäre die rot-grüne Wahlkampf-Kampagne – vermutlich – anders ausgefallen. Merkels – unausgesprochenes – Weißsein (und das ihrer politischen Mitstreiter) jedoch schien eine Rhetorik der Angst vor der ›schwarzen Republik‹ politisch unverfänglich zu ermöglichen, sich allein auf ein Wortspiel mit der Parteifarbe zu beziehen und dabei im besten Fall zugleich an christlich tradierte Bilder einer Angst vor dem ›teuflischen‹, übersinnlichen ›Schwarzen‹ anzuknüpfen. Das historische Erbe des Kolonialismus jedoch hat eben diese religiöse ›Angst vor dem Schwarzen‹ wirkmächtig über Prozesse der Anthropologisierung und Rassisierung mit Schwarzen Menschen verknüpft und zu einer weltlichen Angst vor der ›Natur‹ des ›Anderen‹ werden lassen. Ein Blick in die deutsche Kolonialgeschichte zeigt, dass sich die Angst vor einer ›schwarzen Republik‹ in der Weimarer Republik mit der ›Schwarzen Schmach‹ verbindet, wonach »weite Kreise der [Weißen] deutschen Bevölkerung und alle politischen Parteien, mit Ausnahme der USPD, gegen die Anwesenheit Schwarzer Soldaten in Deutschland [protestierten], als diese nach Abschluss des Versailler Vertrages zusammen mit den französischen und belgischen Besatzungstruppen im Rheinland stationiert wurden.«5

Die als ›rassisch weiß‹ imaginierte Weimarer Republik fürchtete sich aus ›rassenpolitischen‹ Gründen davor, zur ›schwarzen Republik‹ zu werden. Ist es auch sicherlich nicht das Ansinnen der linken Parteien gewesen, im Jahr 2005 an diese historisch kolonialistischen Traditionen anzuknüpfen, so sind sie dennoch dem kulturellen Gedächtnis6 eingeschrieben. Und das Wortspiel 5 6

Ayim, M. (2001), S. 76. Zum Begriff des ›kulturellen Gedächtnisses‹ vgl. Assmann, J. (1997).

GEISTESGESCHICHTLICHE TRADITIONSKONTEXTE | 53

als solches hätte nicht funktioniert, wenn die Bundesrepublik Deutschland gegenüber Schwarzen Republiken der Ex-Kolonialmächte nicht implizit als Weiße Republik identifiziert wäre. Kontextabhängig werden die Farben Schwarz und Weiß mit Bedeutung gefüllt, zirkulieren als narrative Zeichen, transportieren als kulturelle Symbole Religiöses und Profanes. Hat somit die Parteifarbe Schwarz auch prinzipiell nichts mit dem ›teuflischen Schwarz‹ und nichts mit Schwarzen Menschen zu tun, stehen die jeweiligen Begriffszusammensetzungen für sich und für verschiedene Bedeutungsfelder, so werden sie über die Rhetorik einer ›Angst vor der schwarzen Republik‹ und ein breites angegliedertes Assoziationsfeld historischer und gegenwärtiger Repräsentationen der Kategorien Schwarz und Weiß zusammengeführt. Es ist dies lediglich eines von vielen Beispielen, welches darüber Aufschluss gibt, wie wirkmächtig – unterschwellig, ungewollt – sich Bedeutungsverschiebungen und diskursive Knotenpunkte im Alltagswissen verselbstständigen und historische Deutungsmuster und Bedeutungsgeschichten konkrete Intentionen gerade dort überlagern, wo Geschichte vermeintlich abwesend ist. Es ist zugleich ein Beispiel dafür, dass die Farben Schwarz und Weiß nicht für sich sprechen, Schwarz nicht ›an sich‹ Angst auslöst, sondern die Mehrdimensionalität historisch-kultureller Aufladung und die Kontextgebundenheit der Verwendung. So weit hergeholt die interpretierten Bezüge zwischen dem wahlkämpferischen Postulat der »Angst vor der schwarzen Republik« und (neo-)kolonialistischen Traditionskontexten auf den ersten Blick erscheinen mögen – die Verquickung der Parteifarbe Schwarz mit Schwarzen Menschen zeigt sich in aktuellen Wahlkämpfen in der Bundesrepublik Deutschland teils auch in drastischeren, wenn gleich vermeintlich ›positivierten‹ Formen: So starteten die Grünen in NRW/Kaarst im Kommunalwahlkampf 2009 eine Plakatwerbung, die als »Kaarster PopoPoster«7 ins Visier der kritischen Öffentlichkeit geriet: Photographisch abgebildet war darauf die Rückansicht einer nackten Schwarzen Frau. Die dazugehörige Bild-Überschrift lautete: »DER EINZIGE GRUND, SCHWARZ ZU WÄHLEN. ZEIT FÜR GRÜN«.8 Die Jugendorganisation der CDU, die Junge Union, hingegen instrumentalisierte im Bundestagswahlkampf 2009 den US-amerikanischen bürgerrechtspolitischen Slogan ›Black is beautiful‹, den sie in einem Werbe-Video-Clip als Plakatschriftzug

7

8

Vgl. die Website »Zeit für Grün«, unterhalten von Bündnis 90/Die Grünen, Landesverband NRW: http://zeit-fuer-gruen.de/2009/08/13/kaarster-popoposterbildsprache-daneben/ (Recherchestand: 24.04.10). Das Plakat wurde nach öffentlichen Protesten am 13.08.2009 schließlich zurückgezogen. Vgl. die Website der Grünen in NRW/Kaarst: http://gruene-kaarst. de/kommunalwahl09/plakat-reaktion-09.html (Recherchestand: 17.08.09).

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einblendete.9 Ist dem Wahlkampfplakat der Grünen in NRW/Kaarst buchstäblich eine plakative sexuelle Verobjektivierung Schwarzer Menschen inhärent, die in ihren kolonial-rassistischen Dimensionen öffentlich hinterfragt wurde,10 so gibt die ›farbspielerische‹ Wahlwerbung der Jungen Union Aufschluss über eine Vereinnahmung und Entkontextualisierung Schwarzen Widerstands. Nicht nur verweisen diese zwei weiteren Beispiele also auf eine bewusste und direkte Übertragung sozio-politischer Identitätsbegriffe auf parteipolitische Farbzuordnungen, sie ignorieren dabei zugleich die politisch widerständige Sinnhaftigkeit sozialer (bürgerrechts-)politischer Umkodierungen anthropologisierter Farbzuweisungen selbst. Ignoriert wird damit nicht zuletzt, dass diese Um- und Neucodierungen des sozio-politischen Identitätsbegriffs Schwarz gerade mit diskursiven Bedeutungsverschiebungen einhergehen, die sich säkulare Weiße Ängste vor und Lüste nach ›dem Schwarzen‹ vom Leib schreiben. Zugleich implizieren die diskursiv widerständigen Neubesetzungen des sozio-politischen Begriffs Schwarz auch eine Entzerrung, Zurückweisung und Sichtbarmachung rassentheoretischer Identifizierungslogik, nach welcher sich (religiöse) Farbsymbolik und anthropologische Farbkategorisierung historisch diskursiv überlagert haben.11 Bis heute jedoch sind diese historischen Konstruktionszusammenhänge im Kontext hegemonialer Weißer (Wissens-)Kultur auf vielfältige Weise wirksam und begründen ein Paradigma Weißer Hegemonie. Das vorliegende Kapitel wird sich mit geistesgeschichtlichen Traditionskontexten der Schwarz-Weiß-Symbolik in der griechischen Antike, in frühem Christentum und in der Gnosis beschäftigen und damit mit dualistischen Bildund Denkräumen des Abendlandes, die den eurozentrisch-anthropologischen Identifizierungsprozessen historisch weit vorausgehen. In den darauf folgenden Kapiteln wird zu zeigen sein, inwiefern die Schwarz-Weiß-Symbolik als kulturelle Voraussetzung rassentheoretischer Schwarz-Weiß-Kategorisierungen zu verstehen ist und sich als solche in historisch anthropologische Konstruktionsprozesse einlagert. Zunächst jedoch sollen das Spektrum unter-

9

Vgl. »Die Junge Union wird immer sein«/ »JU Lied (von Dietrich Rudorff)«. Gesichtet bei Youtube: http://www.youtube.com/watch?v=_3j09mYUXnA (Recherchestand: 24.04.10). 10 Zur (Rassismus- und Sexismus-)Kritik an dieser Wahlwerbung vgl. u. a. die Website: »Der Schwarze Blog. Der braune mob e.V. – media watch«: http://blog. derbraunemob.info/2009/08/11/ein-grund-nicht-gruen-zu-waehlen/ (Recherchestand: 17.08.09). Die Grünen in NRW/Kaarst und der Landesverband der Grünen in NRW wiesen die Rassismus- und Sexismus-Kritik auch nach dem Rückzug des Wahlplakats zurück. Vgl. die Website »Zeit für Grün«, unterhalten von Bündnis 90/ Die Grünen, Landesverband NRW: http://zeit-fuer-gruen.de/2009/08/13/kaarsterpopoposter-bildsprache-daneben/ (Recherchestand: 24.04.10). 11 Vgl. u. a. Alagiyawanna, A. (1989); Ayim, M. (2001); Fanon, F. (1985); hooks, b. (1994); Morrison, T. (1995).

GEISTESGESCHICHTLICHE TRADITIONSKONTEXTE | 55

schiedlicher Begriffsdimensionen und Bedeutungskontexte der Farben Schwarz und Weiß erweiternd skizziert und erste lexikalische Definitionsansätzen geliefert werden.

2.2

S c hw a r z - W e i ß : Ak t u e l l e B e g r i f f s d i m e n s i o n e n und Definitionszugänge

2.2.1 ›Alltagsfarben‹: Begriffsdimensionen von Politik, Psychologie bis Physik Die Farben Schwarz und Weiß sind im westlichen Alltagsdiskurs in einer Vielzahl von Kontexten als farbsymbolische Charakterisierungsmerkmale präsent. Allein der Bereich partei-politischer Farben lässt sich um diverse, teils konträre politische Strömungen erweitern: Denn nicht nur kennt die parlamentarische Politik Schwarz als Farbe konservativer politischer Parteien, sondern Schwarz gilt zugleich als politische Farbe von Anarchisten, Autonomen und Faschisten.12 Weiß ist ebenso als Farbe der Faschisten sowie der Antifaschisten und als Friedens- und Kapitulationsfarbe identifiziert. In unterschiedlichen sozialen Bereichen kennzeichnen die ›unbunten‹ Farben Schwarz und Weiß historisch und gegenwärtig zudem internationale, nationale und lokale Verbände und Organisationen, religiöse (Ordens)Trachten, militärische Uniformen, nationale Flaggenfarben. Schwarz und Weiß gelten darüber hinaus als geschlechtertypisch konventionalisierte Kleidungsfarben (weißes Brautkleid, schwarzer Frack) und beschreiben ebenso wandelbar kombinierte Mode-, Architektur- und Einrichtungsfarben. Google verzeichnet zum Suchbegriff ›schwarz-weiß‹ ca. 11.000.000 Ergebnisse: Neben zahlreichen Sportvereinen, die diesen Namen tragen, sind in erster Linie Hinweise auf technische Reproduktionen von Schrift und Bild zu finden, also auf Begriffe der Schwarz-Weiß-Kopie und Schwarz-WeißPhotographie. Der Begriff ›Photographie‹ leitet sich etymologisch her von phõs, (phõtó) = ›Licht‹, verwandt mit griechisch phaínein = ›sichtbar machen, sehen lassen‹13 sowie von graphie = ›Beschreiben‹, ›Schreiben‹; gráphos/ gráphein = ›ritzen, schreiben‹.14 12 Darüber hinaus stellt im tagespolitischen Kontext der Begriff ›schwarze (Stand)Orte‹ einen Neologismus dar. Der Begriff, im Englischen ›Black Sights‹, der zunächst von der Central Intelligence Agency (CIA) verwendet wurde und sich von den ›Schwärzungen‹ in Dokumenten ableitet, bezeichnet geheime, illegale, dem westlichen Rechtsstaat entzogene Orte, an welchen ›Terrorverdächtige‹ von der CIA verbracht und verhört werden. Vgl. Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 52, Lexikonheft, 30.12.2005, S. 6, Stichwort Black Sites. 13 Vgl. Etymologisches Wörterbuch/Kluge (1999), S. 280, Stichwort foto-, photo-. 14 Vgl. Etymologisches Wörterbuch/Kluge (1999), S. 334, Stichworte graph/-ie.

56 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK »Bei den frühesten Versuchen, Bilder mit Hilfe lichtempfindlicher Stoffe zu reproduzieren, wurde Tageslicht (also Sonnenlicht) verwendet, weshalb man die Technik Heliographie nannte [...] also ›Sonnenschrift‹ [...].«15

Schon etymologische Zugänge zu Schwarz und Weiß verweisen auf Bedeutungsinhalte von Licht und Dunkelheit, aber ebenso auf Reinheit und Unreinheit. Danach leitet sich das deutsche Wort ›schwarz‹ – altnordisch »sorta«, »sortna« = »schwarz, dunkel werden« – aus dem Lateinischen her: »sodere« = »schmutzig sein, gering erscheinen«.16 »Weiß« – griechisch »leukos« – entspricht Licht, lateinisch »lux«,17 und adjektivisch der Bedeutung »hell«/ »glänzend«.18 Die gegenwärtige Physik bestimmt Schwarz und Weiß auf wissenschaftlicher Ebene in Relation zu Licht und Dunkelheit.19 ›Weiß‹ wird danach als ein »durch Mischlicht hervorgerufener Farbeindruck«20 definiert und der »weiße Körper« physikalisch durch einen hohen Reflexionsgrad des Lichts charakterisiert.21 Folglich ist zum Stichwort »schwarzer Körper« der lexikalische Eintrag zu finden: »idealer Körper, der Lichtstrahlung aller Wellenlängen restlos absorbiert«.22 Die gegenwärtige Astrophysik forscht an diese Bedeutung anknüpfend nach ›schwarzen Löchern‹ und ›schwarzer Materie‹.23 Die Philosophie- und Literaturgeschichte wiederum verbindet Schwarz mit Nihilismus und Romantik. Die ›schwarze Romantik‹ ist danach durch melancholische Züge charakterisiert, wobei der Begriff der Melancholie an den griechischen Begriff »melas« = schwarz anschließt.24 Eine vergleichbar als ›weiß‹ definierte literarische Strömung findet sich nicht. Die westliche Farbpsychologie greift die Stimmungsbeschreibung der Melancholie auf, definiert Schwarz und Weiß jedoch in erweitertem Sinne als 15 16 17 18 19

20 21

22 23 24

Etymologisches Wörterbuch/Kluge (1999), S. 280, Stichwort Fotografie. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), S. 1257, Stichwort schwarz. Wörterbuch der Symbolik (1991), S. 824, Stichwort Weiß. Etymologisches Wörterbuch/Kluge (1999), S. 883, Stichwort weiß. »Weiß, Bez. für diejenigen neutralen (unbunten) Körperfarben, die die hellsten von allen Farben sind und (im Ggs. zu Schwarz) das andere Ende der Grauskala bilden; auch Bez. für jede vom Gesichtssinn vermittelte Farbempfindung, die durch weißes Licht hervorgerufen wird.« Duden (1996), Stichwort weiß. Neues Universal-Lexikon (1976), Stichwort weiß. Hierzu wird ausgeführt: »Weiß entsteht bei Vorhandensein von Licht aller Wellenlängen oder zweier Komplementärfarben. Werden alle Wellenlängen des sichtbaren Spektrums von einem Körper gleich stark reflektiert, erscheint der Körper je nach Größe seines Reflexionsvermögens weiß, grau, oder (wenn nichts reflektiert wird) schwarz.« Neues Universal-Lexikon (1976), Stichwort weiß. Neues Universal-Lexikon (1976), Stichwort schwarzer Körper. Vgl. u. a. White, M. (o. J.). »Melancholie (von griech. melas = schwarz, und chole = Galle).« Neues Universal-Lexikon (1976).

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Symbole polarer emotionaler Stimmungen: »Die extrem gegensätzlichen, unbunten Farben Schwarz und Weiß spiegeln die Extremwerte der Verneinung (Schwarz) und Bejahung (Weiß) wider, daher das ›Schwarz-Weiß-Urteil‹.«25 Der Farbpsychologe Max Lüscher führt aus: »Schwarz

ist Gegensatz zu allem Positiven. Schwarz entspricht der absoluten Negation, dem unbedingten Nein. Mit Schwarz kann sich daher auch der Wille zur Vernichtung des Bestehenden äußern. Die schwarze Negation tritt als Opposition auf und ebenso als autoritärer Zwang gegen jede andere Meinung und Lebensweise. Schwarz war immer wieder die Farbe der anarchistischen Opposition oder der forcierten, zwingenden Machtansprüche. Das Unbedingte, Endgültige als zwingender Machtanspruch ist der gemeinsame Nenner für Schwarz. Er äußert sich in so verschieden scheinenden Lebensbereichen wie Schwarz als Farbe des Todes, als Farbe des feierlichen Ernstes, als Priesterkleidung und als Reizwäsche.«26

Weiß bedeutet Lüscher zufolge demgegenüber »›Flucht in die Weite« und damit verbunden »[...] Freiheit, sowohl die Freiheit von allem Behindernden als auch die Freiheit für alle Möglichkeiten. Weiß ist somit ›Tabula rasa‹, der reine Tisch, die Bereinigung für einen neuen Anfang. Darum ist Weiß dann die Farbe des leiblichen Todes, wenn er als Anfang einer neuen Verkörperung oder als Eintritt ins Nirwana verstanden wird.«27

An diese Definition anschließend wird von anderer Seite mit Blick auf ›Alltagstrends‹ die Frage aufgeworfen: »Wird Weiß zur Farbe des kommenden Jahrtausends? Der Psychologe Klausbernd Vollmar (Norfolk) glaubt einen Trendwechsel in Richtung Weiß zu entdecken. Zwar steht Weiß zur Zeit nur an 6. Stelle der Lieblingsfarben der Deutschen. Doch aus den USA kommend gibt es eine Sehnsucht, zur ›Farbe der Reinheit‹ zurückzukehren. Man will sich offenbar von den ›Verunreinigungen des letzten Jahrtausends reinigen‹ und den ›Ballast der Vergangenheit abwerfen‹, meinte Vollmar. Das neue Parfum namens ›White‹, der neue ›Ärztelook ganz in weiß‹, aber auch die Wiederentdeckung der Erotik ›weißer Haut‹ seien Anzeichen für den neuen Trend.«28

25 26 27 28

Lüscher, M. (1993), S. 246. Lüscher, M. (1993), S. 244f. Lüscher, M. (1993), S. 246. Stieber, R. (1999).

58 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK

2.2.2 Lexika der Symbolik und Rassismus In der Beschäftigung mit lexikalischen Definitionen der Schwarz-WeißSymbolik wird man verschiedentlich mit Überlagerungen von Farbsymbolik und ›Hautfarben‹ konfrontiert, wie im oben genannten Zitat bereits anklingt. Folgende Beispiele sollen davon einen näheren Eindruck verschaffen. Im »Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens« ist zum Stichwort ›weiß‹ zu lesen: »Wenn die Neger bei ihrer Unreinlichkeit auch gerade keine Vorliebe für Weiß haben, so gilt es doch auch bei ihnen als Zeichen von Unschuld und Reinheit.«29 Der symbolische Bedeutungsaspekt der Reinheit, den die Farbe Weiß transportiert, wird hier über ein Vergleichs- und Kontrastbeispiel erläutert, dass über die Figur des ›Negers‹ die kolonial-rassistische Konstruktion des Schwarzen aufruft. Die etymologische Bedeutung der Farbe Schwarz – ›schmutzig sein‹, ›gering erscheinen‹ – wird hier in weltlichen Formen manifest: Der symbolische Bedeutungsaspekt der ›Unreinheit‹ wird als charakterliches ›Rassemerkmal‹ vorgestellt und ›harmoniert‹ der Ableitungslogik nach mit der vorausgesetzten farblich morphologischen Stereotypisierung. Zugleich wird darüber die ›Vorliebe‹ für die Farbe Weiß ›rassisch‹ codiert. Die durch diese Farbe symbolisierte ›Reinheit‹ selbst wird zum ›Rassemerkmal‹: Denn implizit wird transportiert, die Weißen seien gegenüber den Schwarzen ›rein‹ und ›reinlich‹, eine Annahme, welche scheinbar keiner Erklärung bedarf und hinter welcher sich unausgesprochen die Konstruktion einer farblich visuellen Entsprechung von Reinheit und weißer Haut verbirgt. Während die angeführte lexikalische Aussage angesichts des Erscheinungsdatums dieses umfangreichen Nachschlagewerks (1938/41) nicht allzu erstaunlich sein mag, so überrascht doch die Durchgängigkeit der Struktur, die sie bis heute beschreibt: Denn auch in aktuelleren Symbollexika wird die Schwarz-Weiß-Symbolik mit Hautfarben zusammengedacht – die farblich rassisierten Körper erscheinen als weltlich visuelle Symbole der SchwarzWeiß-Symbolik. Diese ›Veranschaulichungsstrategie‹ verdeutlicht sich u. a. im »Wörterbuch der Symbolik« von 1991, in dem es heißt: Schwarz »bezeichnet das, was das Licht des Tages scheut (z. B. die schwarze Magie), ist Symbol des Bösen (schwarze Seele) – in dieser Abwertung jedoch nicht bei den (dunkelfarbigen) Negern.«30

Hiernach schließen sich helle und ›dunkelfarbige‹ Haut und kulturelle Deutungen der Schwarz-Weiß-Symbolik sogar prinzipiell jeweils ein bzw. aus. Der Konstruktion nach kennt ›der Neger‹ die Codierung von Schwarz als Böses nicht, weil er selber schwarz/dunkelfarbig ist. Der Konstruktionsmecha29 HDA (1938/1941), S. 355, Stichwort weiß. 30 Wörterbuch der Symbolik (1991), S. 658, Stichwort Schwarz.

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nismus ist insofern als Anthropologisierung und Rassisierung zu verstehen, als dass eine (angenommene jeweilige) kulturelle Symbolik aus den farblich rassisierten Körpern abgeleitet wird, deren Farbkonstruktion selbst symbolisch aufgeladen ist. Die schwarze und weiße Haut determiniert in dieser Logik also eine jeweils spezifische ›kulturelle‹ Schwarz-Weiß-Symbolik, wobei die vermeintliche ›(schwarz-)afrikanische‹ Symbolik jedoch nicht kulturell, sondern über die Figur des ›Negers‹ explizit biologistisch begründet wird. Der Konstruktion liegt zugleich eine ideologische Teilung Afrikas in einen weißen, kulturell zu Europa gehörigen nördlichen Teil und einen südlichen Teil ›Schwarz-Afrikas‹ zugrunde.31 Diese ideologische Teilung Afrikas wird unter Einbeziehung der dem Zitat vorangestellten Definitionen zur Farbe Schwarz manifest, welche ägyptische Deutungen einbezieht: »Schwarz, der Finsternis zugehörig und an ihrer Symbolik partizipierend. Farbe der Unterweltsherrscher, der ägyptischen Totengötter (Anubis, Chontamenti) wie des Teufels im christlichen Volksglauben«.32

Wird mit Ägypten somit ein historisch kultureller Raum Afrikas benannt (dessen Deutung der Farbe Schwarz den europäischen Traditionen verwandt erscheint), so steht dieser kulturellen Spezifizierung das kulturell unspezifische Konstrukt des ›Negers‹ gegenüber. Wiederum stellt sich hierüber Weißsein her: Einerseits wird über den biologistischen Konstruktionszusammenhang des ›Anderen‹ die europäische kulturelle Symbolik implizit mit weißer Haut verknüpft, andererseits wird eine ›Weißung‹ des nördlichen Afrikas (re-) manifestiert. Dämonen der Finsternis finden sich in unterschiedlichen Kulturkreisen. Opferkulte von schwarzen und weißen Tieren, Kleidung und Körperbemalung im Kontext kultureller und religiöser Praktiken, die auf die Zuordnungen von Licht und Finsternis deuten können, sind in verschiedensten Kulturen von Bedeutung, wie auch im »Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens« festgehalten wird.33 Die symbolischen Zuordnungen zu den Farben Schwarz und Weiß sind dabei in den jeweiligen Kulturen komplex, teilweise doppeldeutig und keineswegs immer dualistisch im abendländischen Sinne organisiert.34 Entscheidend festzuhalten ist, dass die kulturelle Interpretation und Aufladung der Farbsymbolik sicherlich keine anthropologische Essenz ent31 Zur ideologischen Teilung Afrikas vgl. u. a. Oguntoye, K./Opitz, M./Schultz, D. (1991), S. 20. 32 Wörterbuch der Symbolik (1991), S. 658, Stichwort Schwarz. 33 Vgl. HDA (1938/1941), S. 338-340, Stichwort weiß. 34 So ist bspw. die Farbe Weiß laut »Knaurs Lexikon der Symbole« in »der traditionellen Symbolik Chinas [...] die Farbe des Alters, des Herbstes, des Westens und des Unglücks, jedoch auch der Jungfräulichkeit und der Reinheit [...].« Knaurs Lexikon der Symbole (1989), S. 480, Stichwort weiß.

60 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK

lang morphologischer Erscheinungen beschreibt. Dennoch scheinen eben diese Konstruktionszusammenhänge von farbsymbolischen Codierungen und rassisierten Typenkonstruktionen innerhalb unterschiedlichster Definitionen zur Schwarz-Weiß-Symbolik auf. So reartikulieren sie sich bspw. auch in der aktuellen akademischen Lehre: Für seine Lehrveranstaltung »Schrift und Farbe in der Werbung« listet Dr. Karlpeter Elis (Universität Graz) insgesamt 27 Stichworte zu Schwarz und Weiß auf.35 Darunter finden sich zwei Einträge, welche die beschriebenen Mechanismen der Anthropologisierung und Rassisierung spezifizieren, indem zu den Stichworten ›Mensch‹ und (menschliches) ›Haar‹ folgende Aufschlüsselungen angeführt werden:

Mensch

Haar

schwarz Pessimist (schwarz sehen, schwarzmalen), Bösewicht, Mohr, Schneewittchen, Zigeunerin, Schwarzfahrer, Schwarzes Schaf

weiß Yin, Weibliche, Bleichgesicht, Bourbonen, Schneewittchen, Schneeweißchen, Weißglut, kreidebleich, Götter in Weiß, Bianca

temperamentvoll, rassig, Biest, schwarz (Wintertyp)

schlohweiß, weißblond, weißhaarig36

Die ›Zigeunerin‹, der ›Mohr‹, das ›Bleichgesicht‹ – tradierte Bilder einer kolonialistischen Bildpraxis – fungieren hier neben Märchengestalten und ›Charaktertypen‹ (Pessimist, Bösewicht) als scheinbar neutrale typologische Beispiele, in denen die Farben Schwarz und Weiß visuell über Haut und Haar zum Ausdruck kommen. Ist die Hautfarbenkonstruktion an sich abstrakt, so scheinen Schwarz und Weiß als Haarfarben demgegenüber einen ›realeren‹ Charakter zu besitzen. Was aber wird ›symbolisch‹ darüber transportiert? Während das weiße Haar lediglich als eine Farbbeschreibung angeführt wird, so ist das schwarze Haar über die Attribute »temperamentvoll, rassig« sexuell aufgeladen. Dass hierbei Formen von Sexualisierung und Rassisierung im Zusammenspiel wirksam sind, verdeutlicht sich im folgenden Zitat aus einem populärwissenschaftlichen Handbuch der Farbpsychologie, in welchem der Autor, Harald Braem, diese sexualisierten Attribute in ähnlicher Weise mit

35 Vgl. Elis, K. (o. J.). Gelistet werden folgende Stichworte/Kategorien: Bezeichnung; Wirkung; Symbol; Religion; Mensch; Haar; Kosmetik; Geruch; Kleidung; Medizin; Fauna; Flora; Nahrung; Geschmack; Planet; Element; Metall; Stein; Geographie; Zeit; Politik; Arbeit; Verkehr; Raum; Sport; Musik; Sprache. 36 Elis, K. (o. J.), Herv. J. H.

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der Farbe Schwarz verbindet und in vermeintlich positiver Lesart an Körpermerkmale knüpft: »Eine einzige biophile Ausnahme bietet Schwarz auf dem Gebiet der Erotik. [...] Schwarze Haare gelten als rassig, schwarze Augen als glutvoll und feurig, dunkle Haut, besonders schwarze, wirkt auf Weiße stimulierend (black is beautiful).«37

Der politische Slogan ›Black is beautiful‹ wird in dieser ›farbpsychologischen‹ Deutung der Farbe Schwarz also diametral umfunktionalisiert. Denn während dieser Slogan seinem historisch-politischen Kontext nach gerade »für eine Umorientierung der Afrikanisch-AmerikanerInnen in ihren sozialen und ästhetischen Werten«38 steht und auf die Abwehr rassistischer Denkweisen und Bildpraxen zielt,39 so remanifestiert das Zitat Braems demgegenüber einen hegemonialen ›Weißen Blick‹, d. h. einen gewaltförmigen Blick, der die kolonial-rassistischen Zuschreibungen von sexueller ›Triebhaftigkeit‹, ›Leidenschaftlichkeit‹, ›Wildheit‹ und ›Naturhaftigkeit‹ an den rassentheoretisch schwarz markierten ›Anderen‹ re-etabliert. Ob in vermeintlich positivierten oder negativen Formen – es ist dieses Stigma der ›Wildheit‹ und ›Naturhaftigkeit‹, über deren Opposition sich westlich hegemoniale Konstruktionen von Weißsein bis heute maßgeblich konstituieren. Braem ähnlich, jedoch in zugespitzter Form, werden auch im »Lexikon der Traumsymbole«,40 das 1976 erstmals erschien und vielfach neu aufgelegt wurde, rassisierte Körpermerkmale zum visuellen Zeichen kultureller Farbsymbolik stilisiert. Folgende, von Angela Alagiyawanna bereits 1989 kritisierten Stichworte und Deutungen41 sind in der neuesten Ausgabe von 2005 unverändert zu finden: »Neger - Widerstreit des Hellen gegen das Dunkle, meist negatives Innenleben.«42 »Haar [...] - schwarzes, kurzes und gekräuseltes haben: Man geht schlechten Zeiten entgegen. [...] - langes weißes: bedeutet Glück [...] - blondes oder gelbliches: Freude und Lebensglück.«43 37 Braem, H. (1991), S. 156. 38 hooks, b. (1994), S. 241. 39 In diesem Sinne betitelt bell hooks auch einen ihrer Aufsätze mit der Überschrift: »Schwarzsein lieben als Form des politischen Widerstands«. Vgl. hooks, b. (1994), S. 18-32. 40 Lexikon der Traumsymbole (2005). 41 Vgl. Alagiyawanna, A. (1989), S. 17f. 42 Lexikon der Traumsymbole (2005), S. 228.

62 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK »Haut - braune oder schwarze sehen oder haben: bringt die Enthüllung schlechter Absichten; bei Frauen Hinweis auf Ehebruch. - gelbe: man ist in einer Sache zu ängstlich. [...] - weiße: bedeutet Freude.«44

Zum Stichwort »Farbe« definiert der Autor dieses Lexikons, Hanns Kurth, allgemein: »Farbsymbolik ist fast immer mit sexuellen Leidenschaften verbunden, wobei Schwarz und Weiß (als männlich und weiblich) als Extreme gelten [...]. Schwarz = Nacht, beunruhigend; Weiß = kalt, unfertig, Jungfrau.«45

Resümierend zu diesem Unterkapitel kann festgehalten werden, dass innerhalb verschiedener (lexikalischer) Definitionszugänge zur Schwarz-WeißSymbolik teilweise Vergleichsbeispiele konstitutiv sind, welche die rassentheoretische Identifizierungslogik bereits voraussetzen. Hiernach erscheinen rassisierte schwarze und weiße Körper als symbolisch aufgeladene visuelle Zeichen, die als solche eine Repräsentationsfunktion des Symbolischen selbst erfüllen. Den historisch lange zurückreichenden Traditionen der Schwarz-WeißSymbolik des Abendlandes, die diesen Anthropologisierungsmechanismen kulturgeschichtlich vorausgehen, wird in den folgenden Kapiteln nachgegangen.

2 . 3 An t i k e U m b r ü c h e : G e i s t - M a t e ri e - D u a l i s m u s u n d g r i e c h i s c h e Z e u g u n g s m yt h e n 2.3.1 Vorbemerkung Schwarz-Weiß: Das Abendland denkt in Dualismen und hält sie nicht selten für zeitlos und universal. Jedoch lässt sich der abendländische Dualismus durchaus kulturhistorisch verorten. Seine Entstehung kann, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, in Zusammenhang mit einem ›kulturellen Bruch‹ gelesen werden, der sich in der Antike vollzieht, mit medialen Umbrüchen in Verbindung steht und ein neues geistiges Schöpfungsprinzip begründet. Hiermit verknüpft sind Neukonzeptionen des Geist-Materie-Verhältnisses, dessen farbund geschlechtssymbolischen Codierungen im Mittelpunkt des Interesses ste43 Lexikon der Traumsymbole (2005), S. 167. 44 Lexikon der Traumsymbole (2005), S. 170. 45 Lexikon der Traumsymbole (2005), S. 139.

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hen. Es wird demnach unter Einbeziehung kulturtheoretischer und kulturgeschichtlicher Ansätze darum gehen, Aspekte antiker Schwarz-Weiß-Symbolik in Relation zur Entstehung des abendländischen Geist-Materie-Dualismus zu lesen.

2.3.2 Schrift und Dualismus – ›Neukonstruktion der Genealogie‹ Die griechisch-phonetische Schrift ›erzeugt‹ den abendländischen Dualismus und erzählt von ihm: schwarz auf weiß. Dies jedenfalls legen kulturtheoretische Ansätze Christina von Brauns nahe, die unter mediengeschichtlichen und geschlechtertheoretischen Gesichtspunkten die Entstehung des Dualismus des Abendlandes verfolgt. Hiernach steht der Beginn des antiken dualistischen Denkens in Zusammenhang mit einem Abstraktionsprozess, der durch die griechisch-phonetische Alphabetschrift bedingt ist.46 Mit dieser spezifischen Form von Schrift, die sich um 800 v. Chr. zu etablieren beginnt, vollzieht sich – im Gegensatz zu anderen Schriftsystemen – eine komplette »Überlagerung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit«.47 Diese Überlagerung von Oralität und Schrift basiert auf dem besonderen Schriftsystem des griechischen Alphabets, welches, wie Jan Assmann zusammenfasst, »gesprochene Sprache in Atome (Konsonanten und Vokale) zergliedert« – eine Schrifttechnik, welche es ermöglicht, »mündliche Rede unverkürzt, vollständig und fließend wiederzugeben«.48 Es entsteht somit auf der Grundlage der griechisch-phonetischen Alphabetschrift ein körperunabhängiges, abstraktes Reich des Wortes, welches auf der Trennung von gesprochener Sprache und (sprechendem) Körper basiert. Diese ›Spaltung‹ von Sprache und Körper, welche die griechisch phonetische Alphabetschrift erwirkt, hat nach von Braun eine neue Wissens- und (symbolische) Geschlechterordnung zur Folge.49 Und sie spiegelt sich, so der hier verkürzte Grundgedanke, in symbolischen Dualismen von Geist – Materie, Unsterblichkeit – Sterblichkeit, Männlichkeit – Weiblichkeit wider, polaren Prinzipien, denen ein asymmetrisches Verhältnis inhärent ist.50 Der Abstraktionsprozess durch die griechisch-phonetische Alphabetschrift, der mit dem semitischen Konsonantenalphabet bereits ansatzweise begonnen hatte, ist zugleich mit einem neuen Gottesbild, einem neuen Schöpfungsprinzip und 46 Zur Ausführung dieser These und zur weitläufigeren Auseinandersetzung mit verschiedenen Schriftsystemen vgl. Braun, C. v. (2001), S. 63-92. 47 Braun, C. v. (2001), S. 75. 48 Assmann, J. (1997), S. 260. Zur griechisch-phonetischen Alphabetschrift vgl. auch Assmann, J. (1997), S. 259-272; Coulmas, F. (2003), S. 178-184; Haarmann, H. (1991), S. 282-289. 49 Vgl. u. a. Braun, C. v. (2000a), S. 19f.; Braun, C. v. (2001), S. 59f. 50 Vgl. Braun, C. v. (2001), S. 58f.

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einem neuen Unsterblichkeitsglauben verbunden:51 Eingeläutet sei mit dem medialen Umbruchsprozess der Übergang vom Fruchtbarkeitskult der ›Magna Mater‹ zum »Bild einer geistigen Fruchtbarkeit [...], die mit Männlichkeit gleichgesetzt wird.«52 Gerburg Treusch-Dieter verfolgt diesen kulturellen Umbruch hin zu einer ›Neukonstruktion der Genealogie‹ unter mythologischen Gesichtpunkten. Dabei nimmt sie Bezug auf Hesiods »Theogonie«. In diesem Werk, das im 7. Jahrhundert vor Christus verortet wird, treffen sich danach zwei Diskurse: der ›theogonische Diskurs‹, der das Prinzip der zyklischen Wiedergeburt beschreibt, und der ›theologische Diskurs‹, der die Abschaffung dieses Prinzips manifestiert. Die beiden Diskurse entsprechen »zwei historischen Schichten; die frühere kann von 5000/3000 - 1000/800 vor Christus datiert werden, die spätere von 800/600 vor Christus - 300/400 nach Christus.«53 Treusch-Dieter führt aus: »Der frühere der beiden Diskurse ist unter Bezug auf Hesiods ›Theogonie‹ als theogonischer Diskurs zu bezeichnen, der sich in seinem Zentrum um nichts anderes dreht als darum, daß Götter nicht im Himmel, sondern auf Erden durch Wiedergeburt und Vergöttlichung gemacht werden. ›Theogonie‹ heißt ›Geburt von Göttern‹: diese Götter sind Menschen, die im Tod aus einem weiblichen Opfer wiedergeboren und vergöttlicht werden.«54

Dieser frühe Diskurs ist, wie an anderer Stelle zu zeigen sein wird, mit der mythischen Vorstellung vom ›Heiligen Paar‹ verbunden. »Der spätere Diskurs ist als theologischer Diskurs ausgewiesen. Er ist nicht nur auf das Alte Testament zu beziehen, sondern ebenso auf Hesiod, den Aristoteles ›Theologe‹ nennt. In seiner ›Theogonie‹ präsentiert er den theogonischen Diskurs mit dem Ziel, den theologischen Diskurs zu verkünden. Manifest wird dieser Diskurs zwischen 1000-600 vor Christus, indem er dem Kult der Wiedergeburt und Vergöttlichung den Kampf ansagt. Ein kult- und kulturgeschichtlicher Bruch tritt ein, der für Hesiods ›Theogonie‹ und das Alte Testament ausschlaggebend ist.«55

Wie nun stehen diese beschriebenen kulturellen – medientechnisch bedingten und mythologisch ausgearbeiteten – Umbrüche vom Fruchtbarkeitskult der ›Magna Mater‹ hin zu einem geistigen, symbolisch männlichen Schöpfungsprinzip, vom zyklischen Kult der Wiedergeburt hin zu seiner Verabschiedung

51 52 53 54 55

Vgl. Braun, C. v. (2001), S. 59, 68, 74. Braun, C. v. (2001), S. 114. Treusch-Dieter, G. (1997), S. 4. Treusch-Dieter, G. (1997), S. 4f. Treusch-Dieter, G. (1997), S. 5.

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in Zusammenhang mit der Ausprägung antiker Schwarz-Weiß-Symbolik und ihrer geschlechtlichen Codierung? Es sollen im Folgenden unter Bezugnahme auf Treusch-Dieters Ausführungen Teilaspekte dieses mythologischen Übergangs vom zyklisch ›mütterlichen‹ hin zu einem ›männlichen‹ Schöpfungsprinzip unter dieser Fragestellung knapp zusammengefasst werden. In einem weiteren Abschnitt werden farb- und geschlechtssymbolische Codierungen antiker (natur-)philosophischer Geist-Materie-Konzeptionen angesprochen und mit dem Gedanken von Brauns zum Abstraktionsprozess der Schrift zusammengeführt.

2.3.3 Schwarze Göttin – weißer Zeus Zunächst ist zu konstatieren, dass lexikalische Definitionen zur abendländischen Farbsymbolik entsprechend der aufgezeigten kulturhistorischen Einschnitte dualistische Vorstellungen von Schwarz und Weiß auf das antike Denken zurückführen. So ist zum Stichwort ›schwarz‹ der Eintrag zu finden: »Die schlechte Bedeutung des Schwarz stammt aus der Zeit der Antike [...], die es mit allem assoziierte, was für den Menschen gefährlich und gegnerisch sein konnte.«56 Peter Martin führt diesbezüglich aus, dass »in der griechischrömischen Antike [...] ›schwarz‹ mit der Nacht, mit der Unterwelt, dem Tod und den chthonischen Gottheiten und mit bösen Vorzeichen«57 in Verbindung gebracht wurde. Und er schließt an: »Der sprachliche Ausdruck für die Farbe der Finsternis (melas, bzw. niger, ater) wurde überall in der antiken Welt auch im übertragenen (moralischen) Sinn der Gleichsetzung schwarz = böse gebraucht. [...] Man sprach vom Tod als eines Menschen ›schwarzer Stunde‹ [...], und schwarz war das Tor zum Reich der Schatten [...], über das Pluto gebot, der Zeus der Unterwelt, den man im Unterschied zum olympischen Donnerer den ›schwarzen Jupiter‹ nannte [...] und der als übelwollender, teuflischer Dämon gesehen wurde.«58

Die Farbe Schwarz, die in der Antike den Tod verkörpert, ist zugleich Symbol für die Materie, die Natur, das physische Prinzip: Demeter, Persephone, Diana und andere Göttinnengestalten, welche die Natur symbolisieren oder mit ihr in Verbindung stehen, wurden häufig schwarz dargestellt.59 Und diese Farbgebung kann in Relation zum historisch vorangehenden Mythos der ›Magna Mater‹ gelesen werden. Denn die ›Magna Mater‹ der Fruchtbarkeitskulte, die sich beispielhaft in der frühen sumerischen und der ägyptischen Kultur, der

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Chapeaurouge, D. d. (1991), S. 106. Martin, P. (2001), S. 20. Martin, P. (2001), S. 20. Vgl. HDA (1935/1936), S. 1432, Stichwort schwarz.

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Yoruba-Kultur Nigerias aber auch im mykenisch-kretischen Griechenland findet, wird, etwa in Gestalt der Ianna und Ia-hu, Isis oder Kybele, verschiedentlich als schwarze Göttin beschrieben. Diese Farbsymbolik der ›Fruchtbarkeitsgöttinnen‹ wird mit der Mondsymbolik assoziiert.60 Schwarz steht hier (noch) symbolisch mit einem ›mütterlichen‹, zyklischen Schöpfungsprinzip, mit zyklischen Vorstellungen vom Werden und Vergehen und dem Mythos der Wiedergeburt in Verbindung.61 Diese ›mütterliche‹ Schöpfungspotenz, deren mythische Begründung im Kult der ›Heiligen Hochzeit‹ zum Tragen kommt, wird in der Antike schließlich mythologisch durch ein neues männliches Schöpfungsprinzip ersetzt. Und hiermit etabliert sich die Vereindeutigung der Farbe Schwarz als Farbe der Nacht, der Unterwelt und des Todes ebenso wie ein männliches Lichtprinzip, mit dem, wie hier herauszustellen ist, die Farbe Weiß eine neue mythologische Relevanz erhält. Die Entwicklungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Der Mythos der ›Heiligen Hochzeit‹ ist, wie Treusch-Dieter ausführt, durch eine »Relation von ›Muttergottheiten‹ und ›Götter-Söhnen‹« geprägt.62 In dieser »Relation« erscheinen etwa »Ischtar und Tammuz, Isis und Osiris, Kybele und Attis, Aphrodite und Adonis«, die gleichzeitig »stets ein Paar« repräsentieren, »das vor allem Liebespaar ist«.63 Der Sohn/Geliebte – der ›Göttersohn‹ – verkörpert in dieser Konstellation den ›vergöttlichten‹, geborenen, sterbenden und wiederauferstehenden Menschen. Er ist als ›Heiliger König‹ symbolischer Repräsentant des Todes, Träger der Sterblichkeit und der Wiedergeburt. Als ›Braut‹ der ›Heiligen Hochzeit‹ bringt die Muttergöttin das weibliche Opfer, das dem Prinzip der Wiedergeburt dient. »Ihr mit der Wiedergeburt verbundenes, durch den Mutter-Aspekt bezeichnetes Opfer ist folglich das Gegenteil eines sterblichen Opfers: von ihm geht die Unsterblichkeit im Vollzug der ›Heiligen Hochzeit‹ aus. Der männliche Teil wird aus dem Blut dieser ›Braut‹ wiedergeboren und beide werden als ›Heiliges Paar‹ durch Feuer vergöttlicht. Als diejenige, von der die Unsterblichkeit ausgeht, nimmt die ›Braut‹ als ›Mutter‹ und Gattin des ›Heiligen Königs‹ die Position der Gottesgebärerin ein.«64

In der griechischen Mythologie der Antike bleibt das ›regenerative‹ Prinzip der Natur, das Werden und Vergehen des zyklischen Denkens, in gewisser Weise in symbolischer Form der (schwarzen) Göttin Demeter und ihrer Tochter Persephone erhalten, nun jedoch in eingeschränkter Bedeutung. Es steht hier dem geistigen Schöpfungsprinzip des ›unvergänglichen Zeus‹ gegenüber, 60 61 62 63 64

Vgl. u. a. Lexikon der Religionen (1992), S. 431, Stichwort Mond. Vgl. u. a. Bruns, M. (1997), S. 206. Treusch-Dieter, G. (1997), S. 12. Treusch-Dieter, G. (1997), S. 12. Treusch-Dieter, G. (1997), S. 14.

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von dem Hesiod in seiner »Theogonie« berichtet. Der ›unvergängliche Zeus‹ ist ein neuer Gott, der neben dem ›geborenen und gestorbenen‹, dem kretischmykenischen Zeus benannt wird.65 Zu Gunsten der Entstehung des ›unsterblichen‹ Zeus erhält der ›alte‹ Zeus die einseitige Position »eines Sterblichen, eines Toten«.66 Der neue Zeus wird bekanntlich zum Herrscher des himmlischen Olymps. Er ist ein Lichtgott, ein Gott des Taghimmels67 und wird ›Leukaios‹, der ›Weiße‹, genannt.68 Zeus wirft leuchtende Blitze69 und gibt sich als weißer Stier oder als weißer Schwan zu erkennen.70 Ihm entspricht der römische Jupiter, der »Herr des lichten Himmels und des Wetters«.71 Aus seinem Kopf gebiert Zeus Athena, nachdem er die Gottesgebärerin Metis verschlang.72 Er ist Erzeuger der Polis, die durch Athena allegorisiert wird, und gilt hiernach als mythologische Figur des Kreators der – schriftlichen – Ordnung der Polis.73 Dabei ist die Vorstellung vom »körperunabhängige[n] ›Zeugen‹ [...] mit einem Gottesbegriff verbunden, der sich zwischen 800-600 vor Christus unter dem Aspekt etabliert, daß er eine Unsterblichkeit jenseits von Geburt und Tod garantiert.«74

Mit der Unsterblichkeitswerdung des Zeus verschwindet zugleich, wie Gerburg Treusch-Dieter darstellt, das Motiv des ›Heiligen Paares‹, welches das zyklische Unsterblichkeitsprinzip der Wiedergeburt versinnbildlicht. Und mit diesem Umbruch ist mythologisch ein Opfer an den zum Toten degradierten ›geborenen und gestorbenen‹ Zeus verbunden. Dieses Opfer wird in Gestalt der Kore, der Tochter Demeters, erbracht. Kore, die spätere Persephone, wird von Hades, dem Bruder des Zeus und der Demeter, in die Unterwelt, den dunklen Tartaros, entführt – mit der Einwilligung des Zeus. Mit diesem bewilligten Raub und der Verabreichung des ›Todeskerns‹ des Granatapfels an Kore durch Hades, der als »Großer Toter«75 dem römischen Pluto bzw. dem ›schwarzen Jupiter‹ entspricht, ist der lebenswerdende und -spendende Aspekt 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75

Vgl. Treusch-Dieter, G. (1997), S. 12. Treusch-Dieter, G. (1997), S. 12. Vgl. Strohm, H. (1997), S. 134. Vgl. Bruns, M. (1997), S. 187. Vgl. Duden (1996), Stichwort Zeus. Vgl. Bruns, M. (1997), S. 187. Duden (1996), Stichwort Jupiter. Vgl. Treusch-Dieter, G. (1997), S. 55. Vgl. Braun, C. v. (2001), S. 61f. Treusch-Dieter, G. (1997), S. 6. Treusch-Dieter sieht in Hades als ›Großem Toten‹ einen »jener Könige [...], die aus dem Blut der ›Braut‹ wiedergeboren und mit ihr vergöttlicht wurden.« Treusch-Dieter, G. (1997), S. 27. Aber »als Tod schlechthin« repräsentiere er »nur noch die Summe von Toten [...], die von Unsterblichen zu Sterblichen geworden sind [...].« Treusch-Dieter, G. (1997), S. 27f.

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des zyklischen Prinzips – Kore, das junge Mädchen – den Toten geweiht. Und mit diesem Opfer wird, so Treusch-Dieters Schlussfolgerung, die Muttergottheit Demeter, die ›Heilige Braut‹, die ihrer Mutterschaft beraubt wurde, zur ›Totenbraut‹.76 Kores/Persephones jahreszeitliches Auferstehen aus dem Tartaros und ihr erneutes Untergehen wird zum Sinnbild einer zum Tod verdammten Natur. Das Unsterblichkeitsprinzip des Zyklus ist mythologisch aufgehoben, das Schöpfungsprinzip in den Taghimmel verlagert. Die durch den bewilligten Raub der Kore ausgelöste, und später in der griechischen Tragödie aufgeworfene »unlösbare[] Schuldfrage«77 wird nach Treusch-Dieter in der griechischen Metaphysik entlang des neu strukturierten Geist-MaterieVerhältnisses ausagiert. Beantwortet werde die Frage hier, indem »die Schuld, ein für allemal, der Materie und damit dem Weiblichen« zugewiesen wird.78

2.3.4 Schwarze Materie – Licht und Logos Der auf mythologischer Ebene nachzuvollziehende kulturelle Umbruch hin zu einer Neukonstruktion der Genealogie beschreibt den in der Antike einsetzenden Geist-Materie-Dualismus: Der »immaterielle[] Geist« setzt sich »der Materialität des Körpers« gegenüber und »600-400 vor Christus wird dieses mit dem Verhältnis von Männlichem und Weiblichem identische Geist-KörperVerhältnis durch die griechische Metaphysik systematisiert«.79 Die Figur des Zeus lässt sich hierbei als mythologisches Sinnbild der Inthronisierung des männlich codierten Logos, des reinen Geistes fassen. Diese geistige Schöpfungspotenz legt dabei Bezüge zur (medialen) Macht der Alphabetschrift nahe, welche eine körperunabhängige Unsterblichkeit des gesprochenen Wortes verheißt, eine Unsterblichkeit, die auf einem Textkörper basiert und geistige Zeugungen ermöglicht.80 (Hiermit zeigen sich schließlich auch Parallelen zum unsterblichen, geistig zeugenden monotheistischen Vatergott der jüdischen Bibel). Wie von Braun aufzeigt, ist der Begriff ›Logos‹ »im homerischen Kontext noch auf das gesprochene Wort, gar den Mythos« bezogen, nimmt jedoch »im Laufe der Klassik zunehmend eine Bedeutung an [...], die auf die ›Lehre‹ (Herodot) und den reinen Geist verweist.«81 – Eine begriffliche Umcodierung, welche auf den kulturellen Übergang von mündlichen Traditionen hin zu einer qua Schrift strukturierten Gesellschaft deutet, in der sich die Schrift der

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Vgl. Treusch-Dieter, G. (1997), S. 14. Treusch-Dieter, G. (1997), S. 8. Treusch-Dieter, G. (1997), S. 8. Treusch-Dieter, G. (1997), S. 7. Vgl. Braun, C. v. (2001), S. 129f.; Burckhardt, M. (1997). Braun, C. v. (2001), S. 88.

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Mündlichkeit bemächtigt.82 Die Schöpfungspotenz des Logos ist dabei nicht nur männlich codiert, sondern steht, wie im Vorangegangenen angesprochen wurde, in enger Beziehung zur Lichtsymbolik: Diese erschließt sich mythologisch über das Reich des lichten Himmels, in welchem die neuen Vatergottheiten, Zeus und Jupiter, beheimatet sind, und über eine Farbzuordnung, welche die männlichen Himmelsgötter als ›weiße Götter‹ kennzeichnet bzw. auszeichnet. Diese in der Antike virulent werdende Aufwertung der Farbe Weiß als Farbe des Lichts83 lässt sich mit dem Begriff Logos selbst in Verbindung bringen, aus dessen »Urwurzel ›leg‹« sich etymologisch u. a. die Begriffe »das Licht, der Laut, die Rede«84 herleiten. Vor dem Hintergrund der ›geistigen Zeugungsfähigkeit‹ und einem neuen Unsterblichkeitsparadigma beginnt in der Antike parallel der Aspekt der Vergänglichkeit der Materie, des physischen Leibs, an Bedeutung zu gewinnen. So macht Martin Burckhardt darauf aufmerksam, dass die ›Leibfeindschaft‹ nicht erst ein Phänomen des Christentums, sondern bereits dem Griechentum inhärent ist: »Dies enthüllt sich schon über die Etymologie. Denn das griechische Wort sarx, das für das ›Fleisch‹ steht, bezeichnet zugleich auch den Sarg, den Sarkophag. Das aber heißt, im eigenen Körper ist man so gut wie lebendig begraben.«85

Diese Abwertung der irdischen Materie/des fleischlichen Körpers spiegelt sich auf mythologischer Ebene in der zum Tode verdammten Natur, der von Kore zur Persephone transformierten weiblichen Gestalt, die im dunklen Todesreich des Hades ihre neue ›Heimat‹ findet und Demeter somit zur ›Totenbraut‹ werden lässt. Die Farbe Schwarz, so lässt sich anschließen, hat – als ehemaliges Symbol zyklischer, ›weiblicher‹ Schöpfungspotenz – eine Transformation zum Symbol der schwarzen sterblichen Materie/Natur erfahren. Kommt die Aufwertung des Geistes als zeugendem Prinzip auf philosophischer Ebene der Welterklärung anschaulich in Platons Konzept der Ideen als geistigen Urprinzipien bzw. »Urbildern«86 zum Tragen, so wird in der griechischen Naturphilosophie, wie in der Geschlechterforschung verschiedentlich aufgezeigt wurde, der asymmetrische Geist-Materie-Dualismus ent-

82 Vgl. u. a. Braun, C. v. (2001), S. 59-62, 74f. 83 »Weiß ist die Farbe der großen Lichtgottheiten. [...] Aus der Wurzel div = ›leuchten‹ hat sich bei den Indogermanen der Begriff des Göttlichen entwickelt [...] (vgl. die Reihe Dyaus pita, Zeus [...], Juppiter, Ziu). In besonders enger Beziehung steht die weiße Lichtfarbe zu dem leuchtenden Blitz.« HDA (1938/1941), S. 338, Stichwort weiß. 84 Braun, C. v. (1999), S. 102. 85 Burckhardt, M. (1997), S. 36. 86 Lexikon der Erkenntnistheorie und Metaphysik (1984), S. 86, Stichwort Idee.

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lang der Normierung männlicher und weiblicher Körper ausagiert.87 Der hierbei als symptomatisch und besonders wirkmächtig zu bezeichnende aristotelische Geist-Materie-Dualismus erschließt sich deutlich über das Konzept der Zeugung, in welchem die Vorstellung geistiger Zeugung auf die Ebene physischer Zeugung verlagert wird: Dabei erscheint die Materie als ein passives, lebloses Prinzip, das erst durch den göttlich beseelten, männlichen Samen belebt werde. Der männliche Same sei demzufolge »zwar nicht die Seele, aber er sei ›beseelt‹ durch ›eine von außen eingedrungene Vernunft‹, die einen immateriellen ›Urstoff der Himmelskörper‹ darstelle«.88 Dieser ›Stoff‹ wurde mit dem Leuchten der funkelnden Gestirne in Verbindung gebracht.89 Innerhalb der Stoa wird der ›Logos spermatikos‹90 selbst als die »samenhaltige Weltvernunft«91 definiert. Ist der Begriff ›Stoff‹ in der aristotelischen Lehre als materielles Prinzip gerade dem Weiblichen zugewiesen,92 so wird dem geistigen Prinzip des Logos also parallel in Form eines (leuchtenden) ›Urstoffes der Himmelskörper‹ ein immaterieller ›Lichtkörper‹ gegeben. Es sind dies nicht zuletzt Hinweise auf die doppeldeutige Vorstellung von Natur, welche das antike Denken (bereits im historischen Vorfeld der aristotelischen Naturphilosophie) durchzieht. D. h., nicht die Natur als solche erfährt eine Abwertung, sondern die sterbliche Natur, die sich der Macht und Berechenbarkeit des Logos entzieht. So steht der sterblichen, unberechenbaren Natur eine immaterielle geistige (Natur-)Ordnung, das geistige Naturgesetz, gegenüber. Diese geistige Naturordnung ist dem Reich der Vernunft zugewiesen und verbirgt sich als eine Art geistiger Licht-Instanz hinter der äußeren ›schönen‹ Natur, die den Gesetzen der Logik und Mathematik unterworfen ist. Die rational geordnete Natur manifestiert sich u. a. im 5. Jahrhundert vor Christus in den antiken geometrischen Körpernormen und ihrer plastischen Visualisierung: Und hierbei wird der männliche Körper zum »Symbolträger[]« für die »Berechenbarkeit der Schriftlichkeit und des Kanons«, der weibliche Körper hingegen repräsentiert symbolisch das »Unreine« und »A-Normale«.93 D. h. aber 87 Vgl. u. a. Deuber-Mankowsky, A. (2005), S. 204-207; Treusch-Dieter, G. (1997), S. 228f. 88 Braun, C. v. (2001), S. 114f. Zit. im Zit.: Aristoteles: Über die Zeugung der Geschöpfe. In: Ders. 1959. Die Lehrschriften. Hrsg. v. Gohlke, Paul. Bd. 14, Buch 1, Paderborn, S. 71f. 89 Vgl. Bruns, M. (1997), S. 208. 90 Vgl. u. a. Leisegang, H. (1936), S. 194. 91 Leisegang, H. (1936), S. 392 [Verzeichnis der gnostischen Fachausdrücke, Stichwort Spermatikos Logos]. 92 Vgl. u. a. Deuber-Mankowsky, A. (2005), S. 205. 93 Braun, C. v. (2001), S. 94; von Braun exemplifiziert dies am Beispiel der Proportionslehre des Bildhauers Polyklet im 5. Jahrhundert; vgl. auch DeuberMankowsky, A. (2005), S. 206f. Diese geschlechtssymbolische Zuordnungsstruktur von Norm und Abnorm kommt auf andere Weise in der Naturphilosophie des Aristoteles in den (anatomisch medizinischen) Konstruktionen der Frau

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auch, der abstrakte ›immaterielle Geist‹ steht zwar einerseits der Materialität des Körpers gegenüber, steht als ›Urbild‹ und als immaterieller (Licht-)›Stoff‹ hinter der äußeren Natur, andererseits ›materialisiert‹ und visualisiert sich der abstrakte Geist zugleich in normierten äußeren Formen des menschlichmännlichen Körpers. In diesem letzteren Sinne lässt sich von einer symbolischen ›Beleibung‹ des Logos sprechen. Hiermit ist auf die Schöpfungspotenz der (Alphabet-)Schrift selbst verwiesen, d. h. auf ihre Macht, die äußere Natur den Gesetzen der Abstraktion und Logik zu unterwerfen94 und eine ›reine‹, ›lichte‹ Natur zu erzeugen. Die griechischen Skulpturen der bildenden Kunst können hiernach auch in ihrer farblichen Erscheinung mit den symbolisch lichten, geistig-abstrakten Naturgesetzen in Verbindung gebracht werden: Denn die skulpturalen Bronzefiguren und (in der Mehrzahl) weißen »Marmorleiber«95 der griechischen Kunst verleihen dieser lichten rationalen Ordnung nicht nur der Form, sondern der Farbe nach ein förmlich ›strahlendes Antlitz‹. Die Repräsentationsfunktionen des männlichen und weiblichen Körpers sind dabei verschieden und finden je nach Epoche unterschiedliche Formen der Ausgestaltung. Erscheint der männliche Körper als menschlich-männliche Norm, so unterliegt der weibliche Körper in der klassischen griechischen Kunst eigenen Formen geometrischer Normierung. Und ihm kommt, wie in der Geschlechterforschung verschiedentlich gezeigt wurde, nicht nur die Funktion zu, das Anormale zu repräsentieren, sondern er erhält zugleich die Funktion, als weibliche Allegorie geradezu geistige Prinzipien, Tugenden sowie Gemeinschaft (etwa in Gestalt der Athena) darzustellen.96 Hiermit ist einerseits angesprochen, dass der Logos, das Prinzip des Geistes – auf der Ebene der Allegorie – auch in ›weiblicher‹ Form in Erscheinung treten kann. Mit Blick auf die visuelle Normierung männlicher und weiblicher Körperbilder innerhalb der Kunst ist andererseits hervorzuheben, dass die (abstrakt) ›geordnete‹ Natur in polaren Formen in Erscheinung tritt: Dabei wird über Ausdruck und Haltung der jeweiligen Skulpturen auch den symbolischen Prinzipien ›männlicher‹ Aktivität und ›weiblicher‹ Passivität ein visueller Ausdruck verliehen. In Aristoteles naturphilosophischer Zeugungstheorie lässt sich, wie bereits angesprochen, auf anderer Ebene von einer symbolischen ›Beleibung‹ des Logos sprechen: Denn nicht nur wird dem Geist/dem Logos/der äußeren Vernunft als immaterieller ›Urstoff‹ eine Art ›Lichtkörper‹ zugeschrieben, sondern die Schöpfungspotenz des ›immateriellen Geistes‹ wird, wie hier präzisiert sei, in das Innere des männlich-menschlichen Körpers verlagert: Danach als ›defizitärem Mann‹ zum Tragen. Vgl. Deuber-Mankowsky, A. (2005), S. 205. 94 Vgl. Braun, C. v. (2001), S. 93-95. 95 Brunotte, U./Herrn, R. (2008b), S. 12. 96 Zur weiblichen Allegorie vgl. Wenk, S. (1996); Lanwerd, S. (2008).

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ist das geistige Schöpfungsprinzip im männlichen Samen figuriert, während der weibliche Körper »die passive, [durch den Geist] formbare Materie repräsentiert. Die metaphorische Doppelbenennung der verschiedenen Naturen der Natur – der (männlichen) Form und des (weiblichen) Stoffes – verleiht mit anderen Worten der aristotelischen Naturphilosophie die erforderliche stabilisierende Differenzierung.«97

Der Geist-Materie-Dualismus zeigt sich entsprechend als Dualismus von Aktivität und Passivität und wird als solcher sowohl naturphilosophischer Bestandteil männlicher und weiblicher Körperbilder als auch zum übergreifenden Naturprinzip erklärt. Und hierbei sind, wie zu ergänzen ist, wiederum jeweils Metaphoriken vom ›Licht-Logos‹ und der ›dunklen‹ leblosen Materie wirksam. Die Belebung der Materie durch Zeugung kann danach immer auch zugleich als ›Erleuchtung‹ begriffen werden. Und die individuellen männlichen und weiblichen Körper selbst werden über die ihnen zugewiesenen dualen Prinzipien implizit farbsymbolisch codiert. Hiermit schließt sich auf der Ebene individueller Körper wiederum der Kreis zu Polyklets vergeschlechtlichten Körperbildern in ihren Dimensionen von (männlicher) Reinheit und (weiblicher) Unreinheit. Symbolisiert die Farbe Schwarz, wie dargestellt, im antiken Denken die passive, leblose Materie und ist als solche mit Weiblichkeit und der (sterblichen) Natur assoziiert, so soll abschließend auf eine weitere Dimension der Farbe Schwarz verwiesen werden: Denn als ›Schreibschwärze‹98 ist parallel zu diesem Schema auch die Farbe Schwarz im Abendland mit Geistigkeit und Abstraktion verbunden. Die schwarze Tinte wurde bereits im Altertum in China und in Ägypten verwendet. Hier soll lediglich angedeutet werden, dass die doppelte Codierung der Farbe Schwarz im abendländischen Kontext als doppelte Konstruktion von Natur (geistig/unsterblich versus materiell/sterblich) gedeutet werden kann: Das ›geordnete‹, geistig geformte Schwarz der Schrift, das dem immateriellen Logos einen sichtbaren, ›materiellen‹ (Text)Körper verleiht, kann demnach auch als ein farbsymbolisches Bild gelesen werden, dass der kulturellen Wirkungsmächtigkeit des Abstraktionsprozesses durch die griechisch-phonetische Alphabetschrift Ausdruck verleiht: Es deutet auf die Potenz des männlich und weiß codierten Logos, die schwarz und weiblich codierte Materie, die irdische Natur, zu formen, zu zähmen, zu ›reinigen‹, sich zu ›materialisieren‹ und zu ›verweltlichen‹. 97 Vgl. Deuber-Mankowsky, S. (2005), S. 205f. 98 Im Griechischen wie im Lateinischen des Altertums wurde die Tinte als ›Schreibschwärze‹ bezeichnet. (Im Lateinischen: ›atramentum librarium‹ oder ›scriptorium‹, von ›atramentum‹ = die Schwärze; ater = schwarz). Vgl. RGA, S. 290, Stichwort Schreibmaterialien, c. Tinte.

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2.3.5 Schlussfolgerung Die Etablierung des abendländischen Dualismus in der griechischen Antike steht in Verbindung mit einer kulturellen, medial bedingten sowie mythologisch und philosophisch verarbeiteten ›Neukonstruktion der Genealogie‹. Mit Blick auf farb- und geschlechtssymbolische Codierungen des Geist-MaterieVerhältnisses sind dualistisch-kategoriale Zusammenhänge auszumachen, die ihrer Grundstruktur nach eine Polarisierung der Kategorien Weiß/Licht/ Männlichkeit/Geist/Aktivität versus Schwarz/Finsternis/Weiblichkeit/Materie/ Passivität beschreiben. Diese dualistische Grundstruktur wird, wie gezeigt wurde, zugleich verschiedentlich ausdifferenziert. Die Differenzierungen ergeben sich vor dem Hintergrund der Überschneidungen und wechselwirksamen ›Mischungsverhältnisse‹ der Kategorien ›Geist‹ und ›Materie‹ selbst: Die Farbe Weiß steht hiernach als Farbe des Lichts für den Geist und damit für die männliche Schöpfungspotenz des Logos. Diese geistige Schöpfungspotenz impliziert jedoch nicht nur die Abspaltung von der irdischen, sterblichen Materie, sondern gerade eine Neukonstruktion der Natur. Und hiermit treffen sich Geist und Materie in Form des abstrakten Naturgesetzes, des immateriellen ›Lichtkörpers‹ bzw. ›Lichtstoffes‹ des Logos (als Vernunftprinzip ›hinter‹ der Natur) wie auch auf der Ebene einer ›gereinigten‹ irdischen Materie. Die abstrakten, mit dem Prinzip der (lichten) Vernunft assoziierten ›Reinigungsprozesse‹ der Materie, die u. a. in Form geometrisch normierter Körperkonstruktionen zum Vorschein kommen, lassen es zu, von einer lichten ›Natur‹ und in diesem Sinne von einer symbolisch ›weißen Materie‹ zu sprechen. Die Farbe Schwarz wiederum ist als Symbol der irdischen, sterblichen Materie weiblich codiert. Sie symbolisiert zugleich das passive ›Material‹, den ›Stoff‹, welchen der Geist belebt. Als ›Schriftschwärze‹ erhält die Farbe Schwarz gegenüber ihrer Funktion, die sterbliche Materie zu symbolisieren, einen abstrakten Charakter, eine geistige Aufladung und die Funktion, als Medium des unsichtbaren Geistes zu fungieren; den ›reinen‹, geistig geformten schwarzen Lettern ist hiernach sinnbildlich die Neukonstruktion einer qua Logos geformten und gereinigten Materie implizit. Als Naturphilosophie bleiben die dualistisch strukturierten Neukonstruktionen der Natur als geistiges Konstrukt erkennbar. Und dieser Konstruktionscharakter manifestiert sich ebenso in den mythologischen Aufladungen des Geistes, des Logos, der in der Antike noch eine konkrete Gestalt annehmen kann – wie im ›weißen Zeus‹. Lassen sich entlang einzelner mythologischer Gestalten wie des ›schwarzen Jupiters‹ oder des ›Zeus der Unterwelt‹ symbolisch männliche Figurationen der Farbe Schwarz als Farbe des Todes/der sterblichen Materie ausmachen, so sind diese dem übergeordneten dualistischen Grundprinzip nach als ›weiblich codierte‹ Gestalten zu begreifen. Sie können mythologisch gespro-

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chen zugleich als eben jene gefallenen Göttersöhne identifiziert werden, denen nach dem ›kult- und kulturgeschichtlichen Bruch‹, der Aufhebung des zyklischen Prinzips der Wiedergeburt der ›Heiligen Hochzeit‹, die einseitige Position eines Sterblichen, eines Toten zugewiesen wurde. Die weiblichen Allegorien des Geistes hingegen weisen nicht auf eine weibliche Codierung des Logos, sondern seine partiell weibliche Figuration: Das Schöpfungsprinzip der ›geistigen Fruchtbarkeit‹ bemächtigt sich hier tradierter symbolischer Bilder ›weiblicher Fruchtbarkeit‹. Die Neukonstruktion der Genealogie als männlicher Genealogie fußt auf neuen vergeschlechtlichten Strukturen des ›Wissens‹, die Rationalität, Vernunft, Licht und Männlichkeit zusammenbinden. Für die Neukonstruktion ist dabei, wie Treusch-Dieter nahelegt, ein Vergessen-Machen des ›kult- und kulturgeschichtlichen Bruchs‹ konstitutiv, und danach basiert das neue ›LichtWissen‹ zugleich auf einem Nicht-Wissen. Mit dem (durch Zeus bewilligten) Raub der Kore wird dieser Bruch dennoch mythologisch manifest. Und wenn dieser Raub eine ›unlösbare Schuldfrage‹ auslöst, die in der griechischen Metaphysik darauf hinausläuft, die ›Schuld‹ der ›weiblichen‹ Materie zuzuweisen,99 so stellt sich zumindest die Frage, ob diese Zuweisungsstruktur (von Schuld und Unschuld) ihren farbsymbolischen Codierung nach nicht auch im Bereich der Rechtsordnung der Polis ihren Niederschlag findet. Denn: »Mit weißen Stimmsteinen erklärten die Richter auf dem Areopag zu Athen den Angeklagten für unschuldig, mit schwarzen für schuldig.«100

2.4 Christlich-biblische Traditionen: Leib und Zeichen »Tali primum parente generati nigri sumus« – »Geboren vom Teufel, sind wir alle schwarz.«101 »Sein Haupt aber und sein Haar war weiß wie weiße Wolle, wie der Schnee«.102

2.4.1 Vorbemerkung »Es werde Licht! Und es ward Licht.« (Gen 1,3). Vorausgesetzt ist ein anfänglicher Dualismus: Denn »Finsternis« ist, wie Heinz Herbert Mann zu99 Vgl. Treusch-Dieter, G. (1997), S. 8. 100 Wörterbuch der Symbolik (1991), S. 824, Stichwort Weiß. 101 Ausspruch des Kirchenvaters Hieronymus (347-419). Zit. in: Martin, P. (2001), S. 21. 102 Offenbarung des Johannes 1,14; diesem und den folgenden biblischen Zitaten ist folgende Bibel-Ausgabe zugrunde gelegt: Die Bibel (1970).

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sammenfasst, der biblische »Gegenbegriff zu Licht« und steht für den »Zustand des Universums vor der Schöpfung.«103 Der Kirchenvater Augustinus von Hippo (354-430) betont in seinem Werk »De civitate dei«, dass Gott lediglich das Resultat des Lichts, nicht die darauf folgende, durch Scheidung benannte Finsternis als gut bewertet habe.104 Der Apokalypse des Johannes zufolge wird »der Kampf des Lichtes gegen die Finsternis am Ende aller Tage ein letztes Mal mit [...] gewaltiger Vehemenz als endgültige Entscheidungsschlacht zwischen den feindlichen Heerscharen ausbrechen.«105

Es werden im Folgenden Teilaspekte christlicher Schwarz-Weiß-Symbolik zusammengetragen, die einen symbolischen Bild- und Denkraum christlichdualistischer Traditionen eröffnen. Hierbei geht es einerseits um die exemplarische Veranschaulichung schwarz-weiß-symbolischer Attributierungen zentraler christlicher Gestalten, d. h. um Christus als Erlösergestalt, um Maria als Gottesmutter und um den Teufel als finsteren Gegenspieler. Die religiösen Symbole Schwarz und Weiß, die figurativ zur Wirkung kommen, sind mit spezifisch christlichen Geist-Materie-Konstruktionen verbunden, und hierbei sind wiederum Überlagerungen von farb- und geschlechtssymbolischen Codierungen von Interesse. Dabei legen Auseinandersetzungen mit christlichen Traditionen der Schwarz-Weiß-Symbolik die Frage nach Zusammenhängen von Wissen, Glaube, Schrift und Körper nahe, ist doch ein erlösendes Wissen des Christentums mit dem Glauben an Christus als Fleisch gewordenem Wort, Logos,106 d. h. mit der Vorstellung von Christus als Leib gewordenem (Schrift-)Zeichen107 verbunden. Das »Fleisch« des gewöhnlichen Menschen hingegen ist, wie Holger Tiedemann in Bezugnahme auf Paulus und in Gegenüberstellung zum antiken Griechentum konstatiert, »kein Kapital für ein zu stilisierendes Kunstwerk (Hellenismus), sondern ›Verhängnis‹.«108

2.4.2 Teuflisches Schwarz Schwarz ist Sünde, das sündige Fleisch schwarz. Diese Symbolik legt der eingangs zitierte Ausspruch des Hieronymus (347-419) – ›Geboren vom Teufel, sind wir alle schwarz‹ – nahe. Die symbolische Schwärzung steht entsprechend mit der Schwärze des Teufels in Zusammenhang: 103 104 105 106

Mann, H. H. (1999), S. 43. Vgl. Mann, H. H. (1999), S. 43f. Mann, H. H. (1999), S. 47. Vgl. u. a. Lexikon der Religionen (1992), S. 379, Stichwort Logos; vgl. zur Fleischwerdung des Wortes in der christlichen Bibel u. a. Johannes 1, 14. 107 Vgl. Braun, C. v. (2001), S. 241f. 108 Tiedemann, H. (1998), S. 304.

76 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK »Zu den älteren Bezeichnungen des Teufel[s] gehören nicht nur seine geläufigen Namen wie Luzifer (Morgenstern), Satan (hebräisch: der Feind), Diabolos (griechisch: der Verleumder) oder Beelzebub (hebräisch: Fliegengott) [...], sondern auch ersetzende Umschreibungen, die ihn gerade nicht bei den zahlreichen Namen nennen wollen: der Fürst der Finsternis, der schwarze Geselle oder nur der Schwarze.«109

Luzifer trägt dabei noch das Licht in seinem Namen, wörtlich übersetzt heißt er der ›Lichtbringer‹ (lat. ›lux‹ = Licht und ›ferre‹ = bringen). Augustinus beschreibt den Sturz des vormaligen Engels als Fall »in die ›Finsternis des Hochmutes‹«.110 Ab dem Ende des 11. Jahrhunderts wurde der Teufel auch der ›schwarze Tausendkünstler‹ genannt.111 Hinter dem Teufel steht und herrscht die (Groß-)Mutter des Teufels.112 Seine Gespielin ist die schwarze Hexe, die, wie er, Bösartigkeit, Fleischlichkeit und Sexualität und damit die sündige Materie verkörpert. Die Sünde beginnt in christlichen Deutungstraditionen mit der Inkorporierung eines verbotenen Wissens (um Gut und Böse) und die hieraus entstehende Erbsünde – eine post-biblische Vorstellung, die erst im 4. Jahrhundert nach Christus maßgeblich durch Augustinus ausgearbeitet wird. Diese Erbsünde ist, wie bei Ambrosius (ca. 339-397), ›Schwärze‹.113 Demzufolge übermittelt Eva, von der Schlange animiert, die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis und löst damit die Vertreibung aus dem Paradies, die Tradierung der Erbsünde und die Sterblichkeit des Fleisches aus. Wenn die verbotene Frucht Nahrung in Form eines Apfels ist, so liegen die Assoziationen zum Granatapfel, den Hades im griechischen Mythos Kore reicht, nahe (vgl. Kap. 2.3.3). Hier jedoch ist es Eva, die den Apfel Adam zu essen gibt, und in diesem Verhältnis scheint, wie Treusch-Dieter unter Bezugnahme auf den kult- und kulturgeschichtlichen (Um-)Bruch des Mythos der ›Heiligen Hochzeit‹ anmerkt, eine weibliche Position der ›Nährenden‹ auf, an der die einstige »›Gabe‹ des Lebens der Gottesgebärerin gestrichen ist«.114 Die nunmehr nur noch ›Nährende‹ übermittelt entsprechend nicht mehr Unsterblichkeit, sondern umgekehrt, es ist die »›Frucht‹ Evas [...], die Adam nährt, indem sie ihn verdirbt.«115 Gegenüber jüdischen Traditionen, die eine Bejahung des Körpers und der irdischen Welt als Schöpfung Gottes betonen,116 etabliert sich in christlichen 109 Mann, H. H. (1999), S. 45; vgl. auch HDA (1935/1936), S. 1432, Stichwort schwarz. 110 Mann, H. H. (1999), S. 43. 111 Vollmar, K. (1988), S. 36. 112 Vgl. u. a. Oguntoye, K./Opitz, M./Schultz, D. (1991), S. 19f. 113 Vgl. Martin, P. (2001), S. 21. 114 Treusch-Dieter, G. (1997), S. 22. 115 Treusch-Dieter, G. (1997), S. 22. 116 Vgl. Braun, C. v. (2001), S. 158.

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Denktraditionen eine Hervorhebung des Zusammenhangs von Sünde, Tod und Fleischlichkeit, und hierüber wird, so lässt sich ableiten, das menschliche Fleisch symbolisch schwarz markiert. Im Folgenden wird dies zunächst entlang von Grundzügen des paulinischen Leibverständnisses veranschaulicht. Paulus’ Sündenvorstellungen prägen die später ausgearbeitete Erbsündenlehre und markieren einen substantiellen Entwicklungszusammenhang von der Sünde des Fleisches hin zu einem geistigen Leib, dem erlösenden Licht.

2.4.3 Totes Fleisch und ›Auferstehungsleib‹ – Paulus’ doppelte Leibkonstruktion Der Mensch ist, wie Tiedemann konstatiert, nach Paulus »auf sein ›im Fleisch sein‹ (Röm 7,5) festgeschrieben, ja dessen dämonischer Macht preisgegeben.«117 Danach sitzen die »sündlichen Lüste« qua ›Gesetz‹ »in unsren Gliedern [...], um dem Tod Frucht zu bringen.« (Röm 7,5) – Eine Formulierung, in welcher die verderbliche Frucht des Sündenfalls aufscheint. Der fleischliche Leib ist laut Paulus prinzipiell »tot aufgrund der Sünde«, selbst wenn »Christus Jesus in euch ist« (Röm 8,10).118 Dennoch gibt es über den Geist ein Versprechen auf Erlösung: »Tötet ihr aber durch die Kraft des Geistes die Werke des Leibes, werdet ihr leben« (Röm 8,13).119 Sündiges, totes Fleisch und das christliche Erlösungsversprechen stehen hiernach in einem konstitutiven Abhängigkeitsverhältnis, das einen GeistMaterie-Dualismus zur Voraussetzung hat. Hierbei ist ein doppeltes Leibverständnis des Menschen konstitutiv, das sich aus einer Polarität von irdischem/›natürlichem‹ Leib und einem künftigen ›Auferstehungsleib‹ der (perspektivisch) Erlösten zusammensetzt. Letzterer wird von Paulus mit Leben assoziiert. So ist im 1. Brief an die Korinther zu lesen: »Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib. Gibt es einen natürlichen Leib, so gibt es auch einen geistlichen Leib.« (1. Kor 15,44). Dabei wird, gegenüber historisch nachfolgenden gnostischen Traditionen (vgl. Kap. 2.5), von Paulus eine zeitlich hintereinander gesetzte Reihenfolge festgelegt: »Aber der geistliche Leib ist nicht der erste, sondern der natürliche; danach der geistliche.« (1. Kor 15,46). »Und wie wir getragen haben das Bild des irdischen [Menschen], so werden wir auch tragen das Bild des himmlischen [Menschen].« (1. Kor 15,49). Ist der Mensch, wie Tiedemann herausarbeitet, laut Paulus also mit »dem Fleisch [...] in einen Unheilszusammenhang einge117 Tiedemann, H. (1998), S. 297. 118 Vgl. auch Tiedemann, H. (1998), S. 299. 119 Zit. in: Tiedemann, H. (1998), S. 299. In der von mir ansonsten verwendeten Luther-Bibel (s.o.) heißt es: »wenn ihr aber durch den Geist des Fleisches Geschäfte tötet, werdet ihr leben.« (Röm 8,13); vgl. an gleicher Stelle bei Tiedemann die weitere Ausdifferenzierung des Begriffs des ›Gesetzes‹ bei Paulus.

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bunden, der vom Fall Adams bis in die Gegenwart reicht«,120 so wird es dennoch im »›Geist‹ [...] partiell möglich, dem ›unverweslichen Körper‹ (1. Kor 15,42-44) zu entsprechen.«121 Diese Aussicht auf Hoffnung steht in Abhängigkeit zur Kraft des Glaubens an Christus und die dadurch gegebene Möglichkeit der Hemmung fleischlicher Begierden. Hierbei werden Glaube, Erkenntnis und Erlösung in einen für das Christentum paradigmatischen Sinnzusammenhang gestellt, der über den Glauben an Gott und den (weltlich gewordenen, gestorbenen und auferstandenen) Leib Christi eine Verheißung auf Teilhabe an der göttlichen Weisheit, d. h. ein erlösendes Wissen und ein Wissen um Erlösung bereitstellt. »Denn Gott, der da hieß das Licht aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, daß durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi.« (2. Kor 4,6).

So ist zwar das sündige Fleisch über diese ›Erleuchtung zur Erkenntnis‹ partiell zu zähmen, zu bändigen, es bleibt jedoch, wie eingangs benannt, ein für das irdische Leben verhängnisvoller Grundkonflikt bestehen, der sich letztlich erst über den irdischen Tod und damit als Sieg über die ›tote Materie‹ lösen lässt: »Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von dem Leibe des Todes? Ich danke Gott durch Jesus Christus, unsren Herrn. So diene ich nun mit dem Gemüte dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünde.« (Röm 7,24-25).

Das Erlösungsversprechen, dass Jesus »frei [macht] vom Gesetz der Sünde und des Todes« (Röm 8,2) bleibt bei Paulus ein Versprechen auf Zukünftiges, Transzendentes und dennoch muss der Mensch im Diesseits auf die Erlösung, d. h. auf den erlösenden ›Auferstehungsleib‹ hinarbeiten. Der Leibkonstruktion des Menschen bei Paulus liegt die christliche Grundannahme einer »›doppelten Natur‹ Christi«,122 dessen Menschsein und zugleich Gottsein, zugrunde, und der erlösende ›Auferstehungsleib‹ schließt an die Vorstellung der Auferstehung Christi an. Dabei geht Paulus, der die Jungfrauengeburt nicht erwähnt,123 davon aus, dass Gott seinen Sohn »in Ge120 121 122 123

Tiedemann, H. (1998), S. 303. Tiedemann, H. (1998), S. 301. Braun, C. v. (2001), S. 294. Im Brief des Paulus an die Galater 4,4 heißt es lediglich: »Als aber die Zeit erfüllet ward, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz getan.« Im Brief des Paulus an die Römer 1,3-4 spricht Paulus von »Jesus Christus, unsrem Herrn, der geboren ist aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch, (4) und nach dem Geist, der da heiligt, eingesetzt ist als Sohn Gottes in Kraft durch die Auferstehung von den Toten.«

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stalt des sündlichen Fleisches« (Röm 8,3) sandte, um die Sünde zu beseitigen, d. h. zunächst, um ein Bewusstsein für die Sündhaftigkeit des Fleisches zu evozieren. Schließlich wird die perspektivische Erlösung nicht nur über ein Wissen um Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi möglich, sondern über einen mystischen Körper Christi, an dem die Gläubigen teilhaben, dessen Bestandteil sie sind: »Mit der Taufe sind Christ und Christin in einen Bereich übergewechselt, der eine Aura hat, die dem Jerusalemer Tempel gleichkommt, ja an seine Stelle tritt: der Christus-Körper.«124 Die Taufe wird hiermit zur Voraussetzung von Erlösung. Und nicht qua ›weltlichen‹ Gesetzen und Reinigungsritualen des traditionellen Judentums125 wird diese Gemeinschaft mit Christus gebildet, sondern über einen Glaubens- und Verhaltenskodex, welcher das Gebot einschließt, den eigenen menschlichen Leib ›rein‹, d. h. von der »Unzucht« fernzuhalten, denn: »Wisset ihr nicht das eure Leiber Christi Glieder sind? Sollte ich nun die Glieder Christi nehmen und Hurenglieder daraus machen? Das sei ferne!« (1. Kor 6,15). Neben der ›Unzucht‹ werden verschiedene andere Sünden des Fleisches benannt, zu denen u. a. Trunksucht, Geiz, Raub und in weiterem Sinne der Götzendienst zählen (vgl. 1. Kor 5,9-10). Paulus’ Aufruf zur Abkehr von den Sünden gestaltet sich als ein Aufruf zur Abkehr von der Finsternis hin zu einem ›Wandeln im Licht‹: »(9) Wandelt wie die Kinder des Lichtes – die Frucht des Lichtes ist lauter Gütigkeit und Gerechtigkeit und Wahrheit – (10) und prüfet, was da sei wohlgefällig dem Herrn. (11) Und habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis, strafet sie vielmehr.« (Eph 5,9-11).

Diese Ermahnung mündet in einen Aufruf zum buchstäblichen Kampf gegen den Teufel: »(11) Ziehet an die Waffenrüstung Gottes, daß ihr bestehen könnt gegen die listigen Anläufe des Teufels. (12) Denn wir haben nicht mit Geist und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in der Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.« (Eph 6,11-12).

Der Geist-Materie-Dualismus, den Paulus impliziert, erscheint hiernach in mehreren Varianten: Der Mensch wird in sich nach seinem Geist und seinem Fleisch getrennt; dem toten Fleisch steht zudem der künftige geistliche ›Auferstehungsleib‹ gegenüber; dem Menschen als Gefangenem im eigenen Fleisch sind Gott und Christus als geistig-göttliche Prinzipien entgegengesetzt; der Leib Christi gliedert sich in den menschlichen Leib Jesu (der Fleisch 124 Tiedemann, H. (1998), S. 311. 125 Vgl. Tiedemann, H. (1998), S. 311; Braun, C. v. (2001), S. 90f.

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und göttlichen Geist in sich vereint), den Auferstehungsleib Christi und den ›Christus-Körper‹ als Körper der Glaubensgemeinschaft, dem Christus als Haupt vorsteht (vgl. Eph 4,15-16).126 Vor diesem Hintergrund zeigen sich folgende Überschneidungen: Der menschliche Geist kann qua Glauben an Christus auf sein sündiges Fleisch einwirken, es für den Auferstehungsleib vorbereiten; als Glied des ›Christus-Körpers‹ ist der fleischliche Leib des Menschen unter Voraussetzung der Taufe und über den »einen Geist« (1. Kor 12,12) in einen immateriellen, übergeordneten ›Körper‹ eingebunden und hat hiermit am göttlichen Glanze Christi Anteil; ein sündiges Vergehen gegen den eigenen Leib wird damit zugleich zu einem Vergehen gegen den Christusleib, d. h. aber auch gegen seine anderen ›Glieder‹ (1. Kor 12,26). Der Teufel ist das finstere Gegenprinzip Gottes und Christi. Er wirkt über »listige Angriffe« (Eph 6,11) auf den Menschen ein, ist Sinnbild fleischlicher, sündiger Mächte. Durch die Formulierung der mit ihm assoziierten »Herren der Welt, die in der Finsternis herrschen« und den »bösen Geistern unter dem Himmel« (Eph 6,12) wird sein Herrschaftsbereich mit der irdischen Welt assoziiert, und hierbei klingt bereits eine nahezu gnostische Welt- und Leibfeindlichkeit an. Der Teufel lässt sich als das sündige fleischliche Prinzip verstehen, besitzt in seiner Erscheinung jedoch selbst eine immaterielle Qualität. Paulus markiert in den zitierten Passagen das menschliche, sündhafte Fleisch nicht dezidiert als ›schwarz‹, über Sünde und Sterblichkeit sind diese farbsymbolischen Codierungen jedoch grundlegend angelegt und werden über die Formulierung der »Werke der Finsternis« (Eph 5,11) präzisiert. Das Versprechen auf den ›Auferstehungsleib‹ stellt ein Versprechen auf einen lebendigen, sündenfreien ›geistlichen‹/geistigen Leib in Aussicht, der sich über das (noch näher herzuleitende) Licht Christi und in seiner immateriellen Qualität als symbolischer ›Licht-Leib‹ verstehen lässt.127 Die Lichtsymbolik ergibt sich zudem über den konstitutiven Zusammenhang von Glaube, Erkenntnis und Erleuchtung, der, neben den o. g. Zitatbeispielen, im Ritual der Taufe (vgl. Röm 6,3-6) auch begrifflich angelegt ist (im Griechischen heißt Taufe ›photismós‹ = Erleuchtung128). Der Sinnzusammenhang von Glaube, Erkenntnis und Erleuchtung bildet somit die Voraussetzung für den perspektivischen ›Auferstehungsleib‹. ›Der Wandel im Licht‹ (Eph 5,9) ist als Imperativ formuliert.

126 In der christlichen Lehre gliedert sich der Leib Christi schließlich in den corpus Christi historicum, den corpus Christi eucharisticum und den corpus Christi mysticum. 127 Paulus betont, dass der geistliche Leib (als Auferstehungsleib), nicht fleischlich ist. Vgl. 1. Kor 15,50; vgl. Tiedemann, H. (1998), S. 302. 128 Dabei symbolisiert die weiße Taube den Heiligen Geist, der die ChristInnen bei der Taufe erleuchtet.

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Geschlechtssymbolische Dimensionen zeigen sich in den Artikulationen ›geistiger Fruchtbarkeit‹, d. h. der Fruchtbarkeit des Geistes, die mit dem (göttlichen) Licht gleichgesetzt ist, und in der Gegenüberstellung der ›unfruchtbaren Werke der Finsternis‹, d. h. des sündhaften, toten, unfruchtbaren Fleisches. Hiermit stehen sich geistig-männliche Schöpfungspotenz und das damit verbundene Versprechen auf einen neuen künftigen Geistleib und eine dem Tod geweihte, irdische Geburt des Fleisches gegenüber. Mit der späteren christlichen Erbsündenlehre wird die Geburt des Fleisches, des ›natürlichen Leibs‹, zusehends mit der Figur der Eva und dem durch sie ausgelösten Sündenfall verknüpft. Geschlechtssymbolische Zuordnungen sind zudem auf der Ebene des immateriellen ›Christus-Körpers‹ auszumachen, der sich aus den Gliedern der Gläubigen zusammensetzt, und dem Christus als männliches Haupt vorsteht. Geschlechtssymbolische Aspekte der Relation von Christus und Glaubensgemeinschaft werden im übernächsten Kapitelabschnitt erweiternd skizziert. Zunächst sollen Vorstellung vom ›finsteren‹ und ›lichten‹ Leib anhand von Passagen bei Lukas und Matthäus ergänzt und Beispiele ikonographischer und sozialer Figurationen benannt werden.

2.4.4 Lichte und finstere Leiber: ›Vom Licht und vom Auge‹ Die bei Paulus angelegte schwarz-weiß-symbolische Codierung des menschlichen Leibs, die als Gegenüberstellung vom sündigen Fleisch und einem perspektivischen ›Auferstehungsleib‹ zur Geltung kommt, konkretisiert sich beispielhaft bei Lukas und Matthäus als Rede vom ›finsteren‹ und ›lichten‹ Leib. Hier jedoch werden nicht ein Ist-Zustand und ein perspektivisches Erlösungsstadium in zeitlicher Abfolge gegenübergestellt, sondern der diesseitige Leib wird schwarz-weiß-symbolisch ausdifferenziert. So heißt es bei Lukas unter der Überschrift »Vom Licht und vom Auge«: »(33) Niemand zündet ein Licht an und setzt es in einen Winkel, auch nicht unter einen Scheffel, sondern auf den Leuchter, auf daß, wer hineingeht, den Schein sehe. (34) Dein Auge ist des Leibes Leuchte. Wenn nun dein Auge lauter ist, so ist dein ganzer Leib licht; wenn aber dein Auge böse ist, so ist auch dein Leib finster. (35) So schaue darauf, dass nicht das Licht in dir Finsternis sei. (36) Wenn nun dein Leib ganz licht ist, dass er kein Stück von der Finsternis hat, dann wird er so licht sein, wie wenn ein Licht mit hellem Blitz dich erleuchtet.« (Luk 11,33-36)

Matthäus variiert diese Rede von Jesus: »(14) Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. (15) Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen

82 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind. (16) So soll euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.« (Matth 5,14-16).

Und Matthäus schließt an: »(22) Das Auge ist des Leibes Leuchte. Wenn dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein. (23) Wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!« (Matth 6,22-23).

Ein lichter und ein finsterer Leib stehen hiernach plakativ gesprochen über die Metaphorik des Auges, des Sehens, in Abhängigkeit zum jeweiligen ›Blick auf die Welt‹. Die Licht-Finsternis-Symbolik wird mit guten und schlechten Taten verknüpft und damit zum Resultat eigener Handlungen. Das Auge als ›des Leibes Leuchte‹ vermittelt jedoch sowohl etwas an den Leib wie auch etwas vom Leib, was vom Leib begehrt wird (bzw. ob Falsches begehrt wird). Es ist eine Entscheidung zwischen ›zwei Herren‹, zwischen Gott und dem Teufel, wie Matthäus’ Nachsatz zu entnehmen ist: »Niemand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.« (Matth 6,24).

Das ›böse Auge‹ (ver-)führt zum Dienst am Mammon, am Teufel (den Paulus mit den ›Herren der Welt‹ identifiziert), das ›lautere Auge‹ zum Dienst an Gott. Über das Auge wird damit ein metaphorischer Sinnzusammenhang von Sehen, Glaube/Wissen (um Gut und Böse; Göttliches und Profanes) und eigenem Handeln aufgemacht, welcher die symbolische Färbung des Leibes erwirkt. Außen und Innen treten über das ›Auge als des Leibes Leuchte‹ in Wechselwirkung. Es gibt ein inneres Licht, »das Licht, das in dir ist« (Matth 6,23), das nicht Finsternis sein darf; es gibt den ›Leib‹, der die Finsternis, die teuflischen Werke, auszuschließen hat, um licht, »erleuchtet« zu sein (Luk 11,36). Unter dieser Voraussetzung strahlt das Licht (Christi) aus. Es erleuchtet die Welt, denn »Ihr seid das Licht der Welt« (Matth 5,14), und setzt ›Gott ist Licht‹ bzw. »Ich bin das Licht der Welt« (Joh 8,12) als strukturellen Zusammenhang voraus. Die christliche Ikonographie wird das teuflische Schwarz im Laufe der Geschichte des Christentums auf vielfältige Weise ausarbeiten und dabei Sünde, Laster und Glaubenszweifel aneinander binden. Dabei avanciert Judas – als christlicher Prototyp des Verräters, als Satans ausführende Hand – zur symbolisch schwarzen Gestalt:

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»Schon in dem 820-30 entstandenen Stuttgarter Psalter wird auf zwei Blättern [...] ein schwarzer Vogel gezeigt, der in den Judas beim Selbstmord oder beim Abendmahl eindringen möchte. Die Identifizierung mit Satan ergibt sich aus der dem zweiten Bild beigegebenen Inschrift, die ein Zitat von Johannes 13, 27 darstellt (›Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn‹). [...] Ebenso wird auf Bildern des 14. und 15. Jh. dem Judas ein schwarzer Nimbus [...] gegeben, wodurch man im Grunde das Leuchten des Nimbus zerstört.«129

Über eine Zusammenbindung von Unglauben, Laster und Krankheit seitens der mittelalterlichen Kirche wird die Pest als Strafe Gottes interpretiert, als ›schwarzer Tod‹ bezeichnet und als »schwarzer Mann« oder »schwarzes Weib« symbolisiert.130 Eine aus dem 11. Jahrhundert stammende Illustration der »Himmelsleiter« – der Anleitung zum »asketisch-mystischen Leben« des Johannes Klimakos (579 - ca. 649) – stellt die »Sünde der Faulheit« als »weiblichen Dämon mit dunkler Haut« dar.131 Diese farbsymbolischen Markierungen von Sünde und Laster sind verschiedentlich auch in der christlichen Ikonographie der frühen Neuzeit zu finden, und sie markieren den steten Gegenpol zur farbsymbolischen Kennzeichnung Christi und des Christentums als ›weiß‹. So behandelt »[...] Rodger van der Weyden das Schwarz, indem er auf seinem Altar mit dem Jüngsten Gericht (im Hospital von Beaune, 1451 vollendet) die Worte Christi für die Gerechten in Weiß, für die Verdammten aber in Schwarz [...] gemalt hat. Das teuflische Schwarz ist auch noch bei Ripa [...] in Geltung, der 1593 in dem ikonologischen Handbuch zum Gebrauch für Maler vorschreibt, die Laster schwarz gekleidet erscheinen zu lassen.«132

Als soziale antijudaistisch-strukturierte Gruppenzuweisungen werden farbsymbolische Kennzeichnungen des ›wahren Glaubens‹ und des ›Glaubenszweifels‹ in christlich mittelalterlichen Bildern der blinden, ›schwarzen Synagoge‹ und der sehenden, ›weißen Ekklesia‹ manifest.133 Es wird hiermit ein 129 Chapeaurouge, D. d. (1991), S. 106f. Die Kennzeichnung des ›Verräters‹ durch die Farbe Schwarz wird in der volkstümlichen Vorstellung des Mittelalters tradiert, ein schwarzes Muttermal auf linker Hand verrate den Verräter. Vgl. Groebner, V. (2003), S. 4. 130 HDA (1935/1936), S. 1143, Stichwort schwarz. Zur Verknüpfung von Krankheit, Sünde und Unglauben im christlichen Kontext vgl. auch Hödl, K. (1997), S. 23-36. 131 Martin, P. (2001), S. 75. 132 Chapeaurouge, D. d. (1991), S. 107. 133 So etwa dargestellt in der »›Ecclesia und Synagoga‹ am Straßburger Münster (um 1230). Die antijüdische Skulptur schmäht das Judentum mit zerbrochener Lanze und verbundenen Augen.« Gerlach, W. (2000), S. 32f., Bildbeschreibung.

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symbolischer Sinnzusammenhang von Sehen, Glauben und Erleuchtung aufgerufen, nach dem ›Sehen‹ (nur) durch das Licht Christi möglich erscheint bzw. der ›wahre Glaube‹ die Voraussetzung für das Erfassen/Sehen des göttlichen Lichts darstellt. Schon Augustinus definiert Finsternis als »Nicht-mehrsehen-können, nicht ohne Anspielung auf den Tod.«134 Dieser symbolische Traditionskontext, ebenso wie die vorangehende, bei Lukas und Matthäus zu findende Symbolik vom ›bösen‹ und ›lauteren‹ Auge, das den Leib jeweils symbolisch schwarz bzw. weiß färbt, wird hier entsprechend antijudaistisch gewendet. 135 Wie Peter Martin konstatiert, hatte die »schwarze Farbe der Finsternis [...] ursprünglich kaum eine anthropologische Bedeutung gehabt, die auf eine Identifikation des ›schwarzen Widersachers‹ mit Angehörigen der Völker Afrikas verwies.«136

Im Kirchenvokabular des Mittelalters wird dennoch »der Begriff Ägypter teilweise als Synonym für Teufel gebraucht«.137 Dieses Synonym leitet sich einerseits biblisch her, ist jedoch auch in Verbindung mit den mittelalterlichen Kreuzzügen zu denken, in deren Kontext »die Ägypter in ihrer besonderen [biblischen] Rolle als Feinde der Israeliten« eine stellvertretende Position »für die muslimischen Gegner« einnahmen.138 Als Feinde des mittelalterlichen Christentums wurden die muslimischen Mauren danach mit den teuflischen ›Söhnen der Finsternis‹ assoziiert, denen die christliche Selbstidentifizierung mit dem Licht Christi gegenübergestellt war.139 Wenn die Schwärze des Teufels im Mittelalter teilweise (aber eben nicht grundsätzlich) mit dem Bild vom ›schwarzen Mohren‹ identifiziert wurde, so ist diese ›Farbentsprechung‹ nicht als anthropologisch begründete Identifizierungslogik zu verstehen, waren doch nicht nur die ›Mohren‹, sondern auch »alle anderen Heiden« schwarz.140 ›Schwarz‹ ist demnach hier (noch) keine anthropologisch stereotypisierte, sondern eine religiös determinierte Größe.141

134 Mann, H. H. (1999), S. 44. 135 Die Identifizierung des Juden mit dem Finsteren, Teuflischen ist in antijudaistischen Darstellungen ab dem 13. Jahrhundert auch über die Kennzeichnung des Juden durch die Hakennase als visuellem Erkennungsmerkmal des Teufels ausgearbeitet. Vgl. Dittmar, P. (1995), S. 42; vgl. auch Erb, R. (1985), S. 112f. 136 Martin, P. (2001), S. 21. 137 Oguntoye, K./Opitz, M./Schultz, D. (1991), S. 19. 138 Martin, P. (2001), S. 23. 139 Vgl. El-Tayeb, F. (2001), S. 11. 140 Martin, P. (2001), S. 24. 141 Den anthropologischen farblichen Vereindeutigungen wird in Kap. 3 nachgegangen.

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2.4.5 Licht und ›Weißheit‹ Christi Biblische Beispiele des Lichts/der ›Weißheit‹ Christi Die Identifizierung Jesu Christi mit dem Licht leitet sich aus dem Licht Gottes und dessen farbsymbolischer ›Weißheit‹ her. Der biblische Vatergott wird nicht nur in Genesis 1,3 als Schöpfer des Lichts, sondern in Psalm 84,12 selbst als Sonne bezeichnet. Bei Daniel 7,9 ist zu lesen, dass »einer, der uralt war«, und der nach christlicher Auslegung mit Gott identifiziert wird, ein Kleid »weiß wie Schnee« trägt, »und das Haar auf seinem Haupt [war] rein wie Wolle«. Zählt man die Feuersymbolik der Form halber zur Lichtsymbolik (wie Lexika der Symbolik es nahelegen142), so erschließt sich das Licht Gottes beispielsweise auch über sein Erscheinen im brennenden Dornbusch (2. Mose 3,2). Und im 5. Buch Mose 4,24 heißt es: »[D]er Herr, dein Gott, ist verzehrendes Feuer«. Lukas 1,78 identifiziert Christus als die aufgehende Sonne. Im JohannesEvangelium 8,12 verkündet Christus: »Ich bin das Licht der Welt«. Das Bild von Gott als Sonne und Christus als Sonnenstrahl findet sich sowohl in der arianischen Tradition des Origines (185-254), welche die Ähnlichkeit Gottes und Christi betont, wie auch beim griechischen Kirchenlehrer Athanasius (295-373), der im Bekenntnis von Nizäa die Gleichheit von Gott und Christus postuliert.143 Laut Kirchenvater Augustinus ist Licht »nichts anderes [...] als die unwandelbare Weisheit Gottes, durch die alles erschaffen worden ist und die wir den eingeborenen Sohn Gottes nennen«.144 Unter der Überschrift »Wandel im Licht« sind im 1. Brief des Johannes 1,5-7 die Abgrenzung von der Finsternis und das Erlösungsversprechen ausgeführt: »Und das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und Euch verkündigen, daß Gott Licht ist und in ihm ist keine Finsternis. Wenn wir sagen, daß wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit. Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde.« 142 Vgl. Wörterbuch der Symbolik (1991), S. 434f., Stichwort Licht; RGG (1986), Stichwort Licht und Finsternis; HDA (1938/1941), S. 338, Stichwort weiß. 143 Zum arianischen Bild von Gott = Sonne, Sohn = Abglanz vgl. KörnerWellershaus (1993), S. 480. Zur Gleichsetzung von Vater = Sonne, Sohn= Sonnenstrahl bei Athanasius vgl. Metzler Lexikon Christlicher Denker (2000), Stichwort Athanasius. Athanasius wird der mystischen Theologie der Ostkirche zugeordnet. Vgl. Lexikon Religiöser Grundbegriffe (1987), S. 200, Stichwort Erlösung. 144 Augustinus, Aurelius. 1911. Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat. Übersetzt von Alfred Schröder. Bd. 1-3. Kempten/München, Bd. 2, S. 157. Zit. in: Mann, H. H. (1999), S. 43.

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Die symbolisch figurative Ausarbeitung des Lichts Jesu Christi tritt in verschiedenen Formen auf. Neben der dezidierten Rede von Licht sowie der Sonnen- und Feuerssymbolik wird die Farbsymbolik – in Anlehnung an symbolische Kennzeichnungen des Vatergottes – in Form ›weißer Gewänder‹ sowie in Bildern ›weißer Wolle‹, ›weißen Schnees‹ und ›weißen Haars‹ (Daniel 7,9) manifest.145 Von einem Weiß(-werden) der Gewänder Jesu wird u. a. näher bei Lukas, Markus und Matthäus berichtet, und zwar in Beschreibungen, die sich auf die »Verklärung Jesu« auf dem Berg Sinai beziehen: Bei Lukas 9,28-29 heißt es hierzu: »(28) Und es begab sich nach diesen Reden bei acht Tagen, daß er zu sich nahm Petrus, Johannes und Jakobus und ging auf einen Berg, zu beten. (29) Und da er betete, ward das Aussehen seines Angesichts anders, und sein Kleid ward weiß und glänzte.«

Bei Matthäus 17,2 wird das Angesicht nicht nur ›anders‹, sondern leuchtend: »Und er ward verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht.« Im Markus-Evangelium 9,2-3 wird variiert: »(2) Und nach sechs Tagen nahm Jesus zu sich Petrus, Jakobus und Johannes und führte sie auf einen hohen Berg, nur sie allein, und ward vor ihnen verklärt. (3) Und seine Kleider wurden ganz leuchtend weiß, wie sie kein Bleicher auf Erden so weiß machen kann.« 145 Vor dem Hintergrund der weißen Gewänder Gottes und Christi etabliert sich die weiße Tracht ranghoher christlicher Geistlicher einschließlich des Papstes. Vgl. HDA (1938/1941), S. 355, Stichwort weiß. Im weißen Taufkleid sind Reinheit und Unschuld farblich visualisiert und ebenso deuten die »weißen Festkleider der Erstkommunikantinnen und der Bräute« auf »Unschuld und Jungfräulichkeit«. Wörterbuch der Symbolik (1991), S. 824, Stichwort Weiß. Die schwarze Priestertracht hingegen wird mit Demut assoziiert: »Das Schwarz der Trauer und der Buße ist zugleich ein Versprechen der künftigen Aufhellung, in deren Verlauf es sich über das Grau zum Weiß aufhellt.« Knaurs Lexikon der Symbole (1989), S. 394, Stichwort schwarz. ›Weiße Väter‹ (Pères Blancs) nannten sich die Mitglieder der katholischen »Genossenschaft für die afrikanische Mission« (Société des Missionaires d’Afrique), die 1868 von Kardinal Lavigerie in Maison Carrée/Algier gegründet wurde. Lexikalischen Angaben nach bezog sich die Bezeichnung auf die weißen Gewänder, die sie trugen. Vgl. Neues Universal-Lexikon (1976), Stichwort Weiße Väter. Den ›Weißen Vätern‹ wurden 1869 die ›Weißen Schwestern‹, die »Missionsschwestern Unserer Lieben Frau von Afrika«, angeschlossen. Vgl. Duden (1996), Stichwort Weiße Väter. Vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Kolonialismus ließe sich allerdings hinterfragen, ob die Selbstbezeichnung der ›Weißen Brüder und Schwestern‹ lediglich symbolisch oder nicht auch im sozio-politischen Sinne gewählt wurde – der mehrfache Bedeutungskontext schwingt hier jedenfalls sicherlich mit.

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Neben der Farbe Weiß ist ebenso die goldene Farbe als Symbol des Lichts kennzeichnend. In der »Offenbarung des Johannes« 1,12-16 wird die Lichtsymbolik entsprechend sowohl über die Farben Weiß und Gold als auch über die Feuersymbolik transportiert, wobei das Feuer hier als Reinigung und Läuterung begriffen werden kann: »Und als ich mich wandte, sah ich sieben goldene Leuchter (13) und mitten unter den Leuchtern einen, der war eines Menschen Sohn gleich, der war angetan mit einem langen Gewand und begürtet um die Brust mit einem goldenen Gürtel. (14) Sein Haupt aber und sein Haar war weiß wie weiße Wolle, wie der Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme, (15) und seine Füße gleichwie goldenes Erz, das im Ofen glüht, und seine Stimme wie großes Wasserrauschen; (16) und er hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand, und aus seinem Munde ging ein scharfes, zweischneidiges Schwert, und sein Angesicht leuchtete, wie die Sonne scheint in ihrer Macht.«

Zudem erscheint Christus verschiedentlich als (weißes) Lamm (u. a. Joh 1,29). In der Offenbarung wird das Lamm dezidiert mit der Lichtsymbolik kombiniert: »Und die Stadt bedarf keiner Sonne noch des Mondes, daß sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm.« (Offb 21,23). Als »Sieger« ist Christus in der Offenbarung der apokalyptische Reiter auf weißem Pferd (Offb 19,11). »Und ihm folgte nach das Heer im Himmel auf weißen Pferden, angetan mit weißer, reiner Leinwand.« (Offb 19,14). Die reine Leinwand wird ebenso im Zusammenhang mit der Grablegung Jesu nach dem Tod am Kreuz erwähnt. Hierzu heißt es bei Matthäus: »Und Joseph [ein reicher Mann von Arimathia, der ein Jünger Jesu war] nahm den Leib [Jesu] und wickelte ihn in eine reine Leinwand.« (Matth 27,59).146 Weiß, die Farbe des Lichts und der Reinheit, lässt sich hier als Farbe des Todes interpretieren, die zugleich das Versprechen auf Auferstehung beinhaltet und damit die Überwindung des Todes ankündigt.

Christus als Bräutigam Die Lichtsymbolik, die Jesus Christus kennzeichnet, erklärt zugleich seine symbolische Vermännlichung. Als »Urbild« eines bis heute »immer wieder erneuerbaren Typus messianischer Männlichkeit«147 wird der Zusammenhang von Licht- und Männlichkeitssymbolik in Christus als männlicher Erlöserfigur in zahlreichen Motiven variiert. Das Bild von Christus als Sonne und Bräutigam und der Kirche als Mond und Braut ist dabei als ein grundlegendes 146 Vgl. auch Mark 15,46; Luk 23,53; Joh 9,40. 147 Koschorke, A. (2003), S. 320; vgl. auch Glawion, S./Haschemi Yekani, E./ Husmann-Kastein, J. (2007b), S. 13f.

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Motiv christlicher Überlieferung anzusehen,148 das in neutestamentlichen Relationsbestimmungen von Jesus und den Gemeinden angelegt ist.149 Das Hochzeitsmotiv schließt an die jüdische Bibel an, in der Israel symbolisch als Braut des jüdischen Schöpfergottes vorgestellt wird (Hos 2,19-20).150 In der Offenbarung, in der Christus in Gestalt des Lamms als Bräutigam erscheint,151 wird das Hochzeitsmotiv mit der Stadt Jerusalem verbunden, die als ›himmlische Braut‹ beschrieben wird, und der die ›Hure Babylon‹ gegenübersteht.152 »In der Patristik (Tertullian, Augustinus) wird das Verhältnis von Geist (spiritus) und Seele (anima) unter dem Bild der Hochzeit gefasst.«153 Christus befruchtet hier entsprechend die weiblich codierte Seele der Gläubigen. Das Bild des Bräutigams ist so ein Sinnbild der ›geistigen Befruchtung‹, die zugleich Erleuchtung ist. Als Fleisch gewordener Logos ist Christus fruchtbringender Same. Das Samenkorn ist »Sinnbild des göttlichen Wortes (Luk 8,11); die Gläubigen werden ›wiedergeboren nicht aus vergänglichem, sondern aus unvergänglichem Samen durch das lebendige Wort Gottes‹. (I Petr 1,23).«154 Ist bereits in der Vorstellung von Jesus Christus als ›geborenem‹, ›gestorbenem‹ und ›wiederauferstandem‹ Sohn Gottes ein Bezug zu den ›GötterSöhnen‹ der mythischen ›Heiligen Hochzeit‹ zu sehen,155 so auch in den genannten einzelnen Hochzeitsbildern und der Transformation des Gedankens der ›Wiedergeburt‹ durch das lebendige Wort Gottes. Im Grundmotiv von Christus als Bräutigam und der Kirche/Ekklesia/Maria als Braut156 haben dabei jedoch – analog zur griechischen Mythologie – die »›Muttergottheiten‹« (Demeter und Maria) »mit dem Mutter-Aspekt der Wiedergeburt nichts mehr zu tun. Die ›Braut‹ und Gattin als ›Mutter‹ oder Gottesgebärerin des ›Heiligen Königs‹ wird im Zuge jener

148 Zur bildmotivischen Umsetzung vgl. beispielhaft Spineto, N. (2003), S. 118. Zur weiteren bildmotivischen Tradierung in der Frühen Neuzeit vgl. Wunder, H. (2000). Zu weiterführenden Geschlechtermetaphoriken in der christlichen Bibel vgl. Zimmermann, R. (2001). 149 Zimmermann arbeitet die Geschlechtermetaphorik detailliert entlang des Markus-Evangeliums (Mark 2,18-22) und bei Paulus (2. Kor 11,1-4) heraus. Vgl. Zimmermann, R. (2001), S. 227-324. 150 Vgl. u. a. Schüssler Fiorenza, E. (1993), S. 292. 151 Vgl. Zimmermann, R. (2001), S. 423. 152 Vgl. u. a. Zimmermann, R. (2001), S. 388. Zur Geschlechtermetaphorik in der Apokalypse vgl. auch Zimmermann, R. (2001), S. 387-488. 153 Wörterbuch der Symbolik (1991), S. 458, Stichwort Männlich-Weiblich. 154 Wörterbuch der Symbolik (1991), S. 636, Stichwort Saat. 155 Vgl. Treusch-Dieter, G. (1997), S. 12. 156 Zu verschiedenen Ausprägungen der Mythen der Heiligen Hochzeit im religionsgeschichtlichen Umfeld vgl. ausführlich Zimmermann, R. (2001), S. 5690.

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Umwertung und Entwertung zur ›Totenbraut‹ ohne Paar-Konstellation. Die Recodierung ihrer Opfer-Position ist folglich das einzige Unterscheidungskriterium zwischen Altertum und Antike hier, und Christentum dort. Denn durch Christus, der, laut christlicher Botschaft, von allen Opfern erlöst, wird die Opfer-Position der ›Totenbraut‹ so vollständig aufgehoben, als ob es sie nie gegen hätte [...].«157

Die Aneignung – und Bedeutungsverschiebung – des Mythos des ›Heiligen Paares‹ manifestiert das christliche Unsterblichkeitsparadigma, das nun, auf dem Prinzip der ›geistigen Fruchtbarkeit‹ gründend, dem ehemaligen ›GötterSohn‹ das Prinzip der Unsterblichkeit überträgt: Er ist das männliche Lichtprinzip, aus ›geistiger Fruchtbarkeit‹ erschaffen, durch Tod und Auferstehung geistige Fruchtbarkeit vermittelnd und verspricht durch Selbstopfer Erlösung. Und hiermit findet entsprechend eine geschlechtssymbolische Umcodierung der Opfer- und Unsterblichkeitkonzeption des Mythos der ›Heiligen Hochzeit‹ statt. Der Welt gewordene Logos konstituiert sich hiernach über Aneignung, Umdeutung und Negierung vormaliger mythischer Konzeptionen der Gottesgebärerin, d. h. mythisch zyklischer Weiblichkeitssymbolik. Zugleich ist die Weiblichkeitssymbolik unter dem Aspekt der Fleischwerdung Christi konstitutiv. D. h. die Fleischwerdung erklärt, so von Braun, über Traditionen einer weiblichen Codierung von Materie die Attribute von Weiblichkeit, die Christus in der Geschichte der christlichen Ikonographie symbolisch beigelegt werden.158 Die ›doppelte Natur Christi‹ (sein Menschsein und Gottsein; die Zusammenführung von Fleisch und göttlichem Geist) spiegelt sich so auch ikonographisch in einer Doppelgeschlechtlichkeit Christi.159 Ohne Maria indes ist die Fleischwerdung Christi nicht zu denken. Dieser Relation von Gottesmutter und Christus als Welt gewordenem Wort widmet sich der folgende Abschnitt mit Blick auf die christlich religiöse Neukonstruktion der Materie und ihrem Medium – der Schrift.

2.4.6 Schwarz auf weiß: Schwarze Zeichen – reine Leiber Die christliche Vorstellung von Christus als lebendigem Wort Gottes evoziert unterschiedlichste Ausarbeitungen der christlichen Schriftmetaphorik und impliziert neue Verhältnisbestimmungen von Göttlichkeit und Schrift als Medium der Offenbarung. Paulus etwa, der Christus als den »Geist« (2. Kor 3,17) bezeichnet, wendet in seiner Relationierung von Christus und Gemeinde das Bild des Briefes auf die Glaubensgemeinde an:

157 Treusch-Dieter, G. (1997), S. 14. 158 Vgl. Braun, C. v. (2001), S. 358-360. 159 Zu ambivalenten geschlechtlichen Codierungen des Christusbildes vgl. Braun, C. v. (2001), S. 356-372.

90 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK »Ist doch offenbar geworden, daß ihr [die Gemeinde] ein Brief Christi seid, durch unseren Dienst zubereitet, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht in steinerne Tafeln, sondern in fleischerne Tafeln des Herzens.« (2. Kor 3,3).

Die Verlebendigung von Gottes Wort in Christus geht bei Paulus mit einer Abwertung des abstrakten Schriftzeichens einher. Der neue Glaube an Jesus Christus konstituiert sich bei ihm als Überwindung des ›Alten‹ Testaments: Paulus degradiert demnach das Schriftzeichen, um das fleischgewordene Wort aufzuwerten. So ist im 2. Brief an die Korinther 3,6 ausgeführt, dass Gott »uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.« Dass der Buchstabe ›tötet‹, ist einerseits als abwertende Bezugnahme auf die jüdischen Gesetzes- und Schrifttraditionen zu deuten. Der Ausspruch beinhaltet zugleich die Gegenüberstellung eines rein abstrakten (›leblosen‹) Offenbarungscharakters Gottes über das schriftliche Wort und einer ›lebendigen‹ Offenbarung, die als verlebendigtes Zeichen in Jesus Christus erscheint: Der ›alte‹ Bund des (›toten‹) Buchstabens ist somit nach Paulus überwunden; Gott hat mit Jesus Christus als Mensch gewordenem Gott, als Leib gewordenem Zeichen, einen ›neuen‹ Bund initiiert. Paulus’ Ausspruch lässt sich demnach auch als ein Abgesang auf die ›Sichtbarkeit‹ des Abstraktionscharakters der Schrift interpretieren, der zugunsten eines neuen Unsterblichkeitsparadigmas des verlebendigten Zeichens160 erfolgt. Mit der bei Matthäus 1,18-25 und Lukas 1,26-38 angelegten Vorstellung von der Jungfrauengeburt, die in historischer Folge durch die Kirchenväter näher ausgearbeitet wird, findet gleichzeitig eine zusehende Abstraktion der biblisch-historischen Jesusgestalt statt. Denn die Jungfrauengeburt betont nicht nur die Erscheinung des Sohnes Gottes im menschlichen Fleisch, sondern die Reinheit des Fleisches Jesu selbst (und damit wird u. a. von Paulus’ Ausspruch des Erscheinens Jesu Christi im ›sündlichen Fleisch‹ (siehe Kap. 2.4.3) Abstand genommen). Diese mit der Jungfrauengeburt einhergehende Abstraktion impliziert eine Materialisierung des Abstrakten, die als religiöse Neukonstruktion der Materie zu verstehen ist. Und damit rückt Maria, die Mutter Gottes, ins Zentrum der Konstruktion des reinen, sündlosen Fleisches. Die Zeugung Jesu und die Empfängnis durch Maria werden hierbei verschiedentlich als buchstäbliche Einschreibung des göttlichen Wortes in den reinen Leib Marias metaphorisiert. Danach erscheint Jesus Christus als (schwarzes) Schriftzeichen, das Maria als reines, ›unbeschriebenes‹ Blatt empfängt: Der Brief wird hier zum Sinnbild der Zeugung und jungfräulicher Empfängnis.

160 Vgl. Braun, C. v. (2001), S. 91.

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Dies verdeutlicht u. a. die folgende Beschreibung von Bischof Jakob von Sarug [Serugh] (451-521): »Maria ist uns erschienen wie ein versiegelter Brief, in welchem die Geheimnisse und Tiefen des Sohnes verborgen sind. Ihren heiligen Leib bot sie dar wie ein reines Blatt, und das Wort schrieb sich selbst leiblich darauf. Der Sohn ist das Wort, und sie, wie wir gesagt haben, der Brief, durch welchen der ganzen Welt die Vergebung mitgeteilt wurde. Sie ist nicht ein solcher Brief, der erst nach seiner Aufzeichnung versiegelt worden ist, sondern ein solcher, den die Dreieinigkeit zuerst versiegelt und dann beschrieben hat. Er wurde versiegelt und beschrieben und alsdann auch gelesen, ohne aufgebrochen zu werden: denn ungewöhnlich erhabene Geheimnisse hatte der Vater in ihm geoffenbaret. Ohne Verletzung des Siegels trat das Wort ein und wohnte ihr bei; dieser Wunderbaren findet sich die Jungfräulichkeit des Leibes mit Fruchtbarkeit vereinigt.«161

Der »Logostheologie«162 zufolge ist Maria ein makelloser, unbefleckter, jungfräulicher Körper. Als Gottesmutter residiert sie im Himmel »leiblich in jungfräulicher Gestalt, an der Seite des Vaters und des Sohnes«.163 Sie symbolisiert den ›Corpus mysticum‹.164 Als Ekklesia allegorisiert sie die christliche Gemeinschaft und ihre Reinheit.165 Martin Burckhardt bezeichnet Maria als »Urbild des Körpers«, jedoch »als eine Art Textkörper, als LogosGespinst«.166 Maria wird nicht von Sünde, sondern vom göttlichen Wort ›befleckt‹. Ihr makelloser Körper ist ein sauberer Körper, der die göttliche Natur durch das Wort Gottes vermittelt. Sie trägt ein dunkles Geheimnis, das schwarze Schriftzeichen, und ist die reine, weiße, ›materielle‹ Grundlage der Materialisierung des göttlichen Wortes. Die symbolisch weiße Jungfrau Maria, der die Farbe Weiß als Zeichen der Reinheit ihres Leibes zugewiesen wird, liegt also eine Entkörperung zugrunde, schon in dem Sinne, als dass der Mutteraspekt bei der jungfräulichen ›Gottesmutter‹ »gestrichen«167 ist. Als ›Logos-Gespinst‹ wird ihr Körper als Textkörper zu einem reinen Körper, einem ›Geistkörper‹, der jedoch nicht reiner Geist, sondern gerade reine, saubere Materie ist, ein reiner materieller Körper also, welcher die Weltwerdung des Wortes, d. h. die Verlebendigung des reinen Zeichens ermöglicht. Marias Körper lässt sich hiernach als Paradox eines entkörperten körperlichen Mediums dieser Weltwerdung des Wortes fassen. 161 162 163 164 165 166 167

Jakob von Serugh. Zit. in: Burckhardt, M. (1999), S. 370, Anm. 150. Burckhardt, M. (1997), S. 38. Burckhardt, M. (1997), S. 39. Vgl. Burckhardt, M. (1997), S. 40. Vgl. Braun, C. v. (1997), S. 19. Burckhardt, M. (1997), S. 39. Treusch-Dieter, G. (1997), S. 15.

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Als farbliches Paradox zur symbolisch weißen Jungfrau168 erscheint auf den ersten Blick die schwarze Madonna. Das Aufkommen des Kultes um schwarze Madonnen wird in der merowingischen Zeit (ca. 500-750) verortet. Dabei sind als Entstehungshintergrund dieses Kultes Wechselwirkungen zwischen ›heidnischen‹ und christlichen Traditionen zu vermuten, wobei eine farbsymbolische Referenz an die ehemaligen (schwarzen) Fruchtbarkeitsgöttinnen vorzuliegen scheint. Die Templer und Kartharer verbanden die schwarzen Madonnen schließlich mit dem Gralskult, der zwischen 1100-1300 n. Chr. seine weiteste Verbreitung in Europa fand.169 Die zwischenzeitliche kirchliche Sanktionierung der Anbetung schwarzer Madonnen Ende des 13. Jahrhunderts170 kann als Sanktionierung heidnischer, im Einzelnen auch ›häretischer‹ Einflüsse der Templer gelesen werden, die 1307 von Phillip IV. von Frankreich der Häresie und Unzucht angeklagten wurden. Die kirchliche Abgrenzung von schwarzen Symbolen erfüllte damit nicht nur, aber wohl auch, eine kirchlich innenpolitische Funktion. Maria wurde buchstäblich geweißt, schwarze Madonnen weiß übertüncht.171 Die schwarzen Madonnen verschwanden allerdings nicht. Bereits um 1330 und auch heute noch wird etwa in Altötting eine aus dunklem Lindenholz geschnitzte Madonna angebetet. Im 14. Jahrhundert entstanden zahlreiche Skulpturen schwarzer Madonnen, welche in Kirchen und Kapellen im west- und osteuropäischen Raum verehrt wurden und bis heute verehrt werden. Entgegen der vielfachen Deutung, dass die schwarze Madonna schlicht eine Übernahme, eine Referenz, ein (ungebrochenes, unbewusstes) Fortwirken der heidnischen Mutterkulte ist,172 ist jedoch ihre Kontextualisierung im christlichen Kontext mit einer geradezu diametralen Bedeutungsverschiebung verbunden. Und dies erklärt, warum die Figur der schwarzen Madonna bis heute nicht paradoxer, sondern konventioneller Bestandteil christlicher Verehrungstraditionen ist. Ihre Schwärze ist aus der christlichen Kategorie der ›schwarzen Laster‹ ausgeschlossen, wofür sich u. a. folgende Erklärung findet:

168 Die Farbe Weiß, als Zeichen der jungfräulichen Unschuld und Reinheit, tradiert sich bekanntermaßen bis heute im Kleidungsritus der ›ganz in Weiß› gekleideten Braut (vgl. u. a. Wörterbuch der Symbolik (1991), S. 824, Stichwort Weiß), deren Reinheit und Unschuld gerade darin liegt, dass sie vor der Hochzeitsnacht noch nicht als ›wirkliche‹ Frau, sondern eben als ›Jung-Frau‹ gilt. 169 Vgl. Vollmar, K. (1988), S. 47. 170 1277 verbot die katholische Kirche die Anbetung schwarzer Madonnen. Vgl. Vollmar, K. (1988), S. 13. 171 Vgl. Vollmar, K. (1988), S. 44. 172 Hiermit verbinden sich auch nicht selten Vorstellungen eines ›weiblichen (Ur-) Prinzips‹, einer Art universeller und/oder spiritueller ›Urweiblichkeit‹ (vgl. bspw. Vollmar, K. (1988), S. 43, 46) – Vorstellungen, von denen ich mich abgrenze.

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»Das schwarze Gesicht basiert auf der Gleichsetzung von Maria mit der Braut (Sponsa) des Hohenliedes, die als schwarz bezeichnet wird, weil die Sonne sie verbrannt habe (Hoheslied 1, 5-6; in der Vulgata 1, 4-5). Da nun wiederum die Sonne als Verkörperung Christi galt, ist die Schwärze solcher Madonnen als Auszeichnung zu verstehen.«173

Der Rückbezug auf das Hohelied (der durchaus weitere Fragen aufwirft) und die dort vorzufindende Beschreibung des ›Verbrennens durch die Sonne‹ soll hier nicht näher diskutiert werden. Vielmehr ist die für die christliche Deutung relevante Relation der Gottesmutter zu Christus als solche von Interesse. Denn diese Relation bietet einen weiteren Interpretationsraum, die Schwärze Marias als geistig-göttliches Schwarz zu fassen. Vor dem Hintergrund der Logostheologie und der Konstruktion der Jungfräulichkeit, in der Marias Körper zum Textkörper wird, kann Marias Schwärze demnach auch als Schriftschwärze verstanden werden: Ihr reiner jungfräulicher Körper ist geschwärzt vom Schwarz der Schrift, von der Empfängnis Christi als Wort Gottes, dem metaphysischen (Schrift-)Zeichen: Marias Schwärze ist Empfängnis, das ›dunkle Geheimnis‹, das sie in sich trägt und das den göttlichen Zeugungsvorgang umgibt. Sie ist damit nicht nur sinnbildlich das weiße, unbeschriebene Blatt, sondern als Empfangende das göttlich beschriebene Blatt – Schwärze. Die schwarze Madonna taucht dabei nicht als allein stehende Figur, sondern in Kombination mit dem ebenfalls schwarzen Jesuskind auf. Das schwarze Zeichen, das Wort Gottes, ist präsent, hat seinen Weg über den beschriebenen Leib Marias in die Welt genommen. Dahinter steht der unsichtbare, symbolisch weiße Vater, der Schöpfergott (als männliches Lichtprinzip), der das Zeichen wie auch seine Weltwerdung erschafft. Da mit dem zyklischen Schwarz der Fruchtbarkeitsgöttinnen das materielle, irdische Prinzip verbunden ist, wird im Kontext christlicher Umcodierungen, so lässt sich anschließen, gerade über die Farbe Schwarz auch eine Authentizität materieller Wirklichkeit der geistig geformten Materie vermittelt. Die schwarze Madonna und das schwarze Jesuskind können vor diesem Hintergrund also sowohl als Erinnerung an Gottes Wort als schwarzes Zeichen, den geheimnisvollen Vorgang der Zeugung (d. h. des In-die-Welt-Kommens dieses Zeichens) wie auch als Erinnerung an den Abstraktionsprozess interpretiert werden, der diesem geistigen Zeugungsvorgang auf der Grundlage der Schrift zugrunde liegt. In der frühen Neuzeit häufen sich mit Einsetzen des Buchdrucks in der christlichen Ikonografie Empfängnisdarstellungen, in denen Maria als Lesende abgebildet ist. Nicht mehr wie zuvor über das Ohr, sondern über das Auge empfängt sie nun das göttliche Wort.174 Die Technik des Buchdrucks schreibt 173 Chapeaurouge, D. d. (1991), S. 106, Anm. 180. 174 Vgl. Braun, C. v./Mathes, B. (2007), S. 119-121; Burckhardt, M. (1997), S. 27f.

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sich also in die christliche Ikonographie ein und zollt dem medialen Wandel Rechnung, mit dem technisch normierte schwarze Zeichen und weiße Blätter vervielfältigt werden. Andersherum ist die Druckkunst (auch ›schwarze Kunst‹ genannt175), wie Burckhardt zeigt, selbst zutiefst christlich religiös aufgeladen: »Die Frage, die sich Gutenberg stellte, lautete: Wie ist es möglich, ein reines, mit sich selbst identisches und quasi ewiges Zeichen zu konstruieren, ein Zeichen, das sich auf wundersame Art und Weise der Abnutzung, dem Lauf alles Irdischen entzieht? Um ein solches, man kann sagen: meta-physisches Zeichen zu konstruieren, ersann man eine Logik, welche es ermöglichte [...] den Schein von Identität zu gewähren. Man erstellte eine Patrix aus gehärtetem Stahl und erzeugte, aus einem weniger harten Metall, einen genauen Abdruck: die Matrix. [...] Mit dieser Matrix versehen, dem vollkommenen und reinen Negativ, vermochte man nun (aus dem abermals weicheren Blei) die entsprechenden Typen zu erzeugen, genau nach dem Bilde des Vaters. – Wenn bei dieser Produktionsfolge Vater und Mutter ins Spiel kommen, ist leicht ersichtlich, daß hier im Grunde Totalabstraktionen vorliegen; denn das, was gemeint ist, hat sehr viel mehr mit dem Dogma der unbefleckten Empfängnis zu tun als mit einer natürlichen Geburt. [...] Aus der Frage nach dem makellosen Gott ist also die Frage nach dem reinen Zeichen geworden.«176

2.4.7 Schlussfolgerung Christliche Dimensionen des Geist-Materie-Dualismus implizieren ein farbund geschlechtssymbolisches Grundschema, in dem die Farbe Weiß als Farbe des Lichts Gott und Christus als geistig-männliche Lichtprinzipen kennzeichnet. Schwarz symbolisiert die teuflische Finsternis, das sündige sterbliche Fleisch, die weiblich codierte Materie. Dieses Grundschema findet auf unterschiedlichen Ebenen Anwendung und differenziert sich wiederum auf verschiedenen Ebenen aus. Die Ausdifferenzierungen kommen hier vor allem mit Blick auf folgende Aspekte zu Geltung: erstens hinsichtlich gedoppelter schwarz-weiß-symbolischer Bilder des menschlichen Leibs; zweitens mit Blick auf die Weltwerdung des Wortes/des Logos; drittens hinsichtlich logostheologischer Differenzierungen zwischen irdischer, sündiger und göttlicher, reiner Materie; viertens bezüglich des immateriellen Christus-Körpers und fünftens hinsichtlich der Metaphorik geistiger Befruchtung, die farb- und geschlechtssymbolische Vereinigungsmetaphern beinhaltet. Beschreibt die Farbe Weiß einen Zusammenhang von Licht, Weisheit, Wahrheit, Glauben, Erkenntnis zur Erleuchtung, so ist die Farbe Schwarz doppeldeutig belegt. Gegenüber der Funktion, die teuflische Finsternis und 175 Neues Universal-Lexikon (1976), Stichwort schwarze Kunst. 176 Burckhardt, M. (1997), S. 43.

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die dunkle, irdische, sündige Materie zu symbolisieren, wird Schwarz als Farbe der Schrift aufgewertet. Nicht der Buchstabe als solcher, sondern die Vorstellung seiner Verlebendigung, also die Leibwerdung des göttlichen Wortes, erfährt hier Verehrung – dies jedenfalls legen Paulus’ Unterscheidungen nahe. Als Wort Gottes erscheint Christus als metaphysisches schwarzes Zeichen, das im göttlichen Zeugungsvorgang Marias reinen Leib buchstäblich ›beschreibt‹. Das Schwarz der Schrift ist hier Sinnbild einer göttlich geformten geistigen Materie und ihrer Weltwerdung, hinter welcher der unsichtbare Vater, das geistig-männliche Lichtprinzip, steht. Die farbsymbolische Doppelcodierung Christi – durch die Farbe Weiß als Farbe des Lichts und die Farbe Schwarz als Farbe der Schrift – spiegelt dabei in gewisser Weise die ›doppelte Natur Christi‹: das geistig-männliche Lichtprinzip und den Aspekt seiner Materialisierung.

2.5 Gnostische Dualismen: S c h ö p f u n g s m yt h e n u n d G o t t e s b i l d e r 2.5.1 Vorbemerkung »Licht und Finsternis« lautet der Titel der umfangreichen Materialsammlung zur Gnosis von Karl Frick.177 Mit dieser Titelgebung wird die Schwarz-WeißSymbolik als zentrales Element gnostischer Traditionen benannt. Gnosis, griechisch ›Erkenntnis‹/›Wissen‹, im engen religionsgeschichtlichen Sinne eine religiöse Bewegung der Spätantike,178 gilt dabei vielfach als Ausdruck des Dualismus schlechthin: »Dem geschlossenen und fernen göttlichen Reich des Lichts steht die Welt als Reich der Finsternis gegenüber.«179 Das gnostische Denken umfasst insgesamt eine kultur- und zeitspezifische Vielfalt religiöser, philosophischer und weltanschaulicher Strömungen, die nahe legt, dass es die Gnosis nicht gibt. Schon eine präzise historischgeographische Einordnung der frühen Gnosis erscheint aufgrund der synchretistischen Momente »unmöglich«.180 Die systematische Differenzierung zwi177 Frick, K. R. H. (2005). 178 Vgl. RGG (1986), S. 1649, Stichwort Gnosis. 179 Braun, C. v. (2001), S. 146. Zur Gnosis vgl. u. a. Brumlik, M. (1992); Frensch, M. (1991); Frick, K. R. H. (2005); Rudolph, K. (1994); Sloterdijk, P./Macho, T. H. (1993). 180 RGG (1986), S. 1649, Stichwort Gnosis. Zu den variationsreichen Entstehungselementen der frühen Gnosis zählen u. a. »Weltbild und Esoterik der Apokalyptik [...]; der Kult-Mythos der Mysterien; der Wissensbegriff der Sekte von Quumran [...]; orphisch-pythagoreische Seelenwanderungslehre [...]; die platonische, sich zum Neuplatonismus entwickelnde Metaphysik; die aristotelische, aber schon durch Symbolismus beeinträchtigte Logik und Entele-

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schen christlicher und nicht christlicher Gnosis liefert eine grobe Orientierung, beinhaltet aber zugleich die Verwobenheit der gesetzten Differenzen.181 Ausschlaggebend für die Definition christlicher Gnosis jedoch ist, dass Christus als Offenbarer im Mittelpunkt der Lehre steht.182 Der gnostische Anspruch, die »Urreligion« dar- bzw. wiederherzustellen,183 führt dazu, die christliche Gnosis als »Urchristentum«184 und als »eine der ersten Formen christlicher Theologie überhaupt« zu deuten.185 In historischer Folge verbinden sich mit Gnosis sowohl die mittelalterliche christliche Mystik wie auch Grundgedanken der jüdischen Kabbala.186 Mit seiner Übersetzung des antiken Werks »Corpus Hermeticum«187 ins Lateinische befördert der Neuplatoniker Marsiglio Ficino (1433-1499) im neuzeitlichen Kontext eine Neudeutung christlich-gnostischer Traditionen.188 Dabei ist die frühneuzeitliche Gnosis als »[d]emiurgischer Humanismus«189 zu verstehen. Gegenüber der radikal welt- und leibfeindlichen Tendenz der frü-

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chienlehre [...]; aus dem Iran mindestens die Spekulation über sowohl in der göttlichen wie in der menschlichen Sphäre wirkende geistige Kräfte [...]; die christliche Lehre vom jenseitigen Erlösungsruf und einem im Jenseits bleibenden, aber sich im sündigen Diesseits ans Kreuz gebenden Gott.« RGG (1986), S. 1649, Stichwort Gnosis. Vgl. RGG (1986), S. 1660, Stichwort Gnosis. Wenigstens, so wird in Metzlers Lexikon festgehalten, »stimmen die vielen miteinander konkurrierenden Gnosiskonstrukte [...] darin überein, daß sie fast immer die Dimension der religiösen Erfahrung als grundlegend betrachten: sei es eine Erfahrung der ›Weltentfremdung‹ oder eine innere Gotteserfahrung.« Metzler Lexikon Religion (1999), S. 509f., Stichwort Gnosis. Vgl. RGG (1986), S. 1656, Stichwort Gnosis. Vgl. RGG (1986), S. 1649, Stichwort Gnosis. RGG (1986), S. 1658, Stichwort Gnosis. RGG (1986), S. 1657, Stichwort Gnosis. Quellen zur frühen christlichen Gnosis eröffnen sich über die polemische Referate der Kirchenväter Irenaeus (135202), Tertullian (ca. 150-230), Hippolyt (ca. 170-135), Clemens (ca. 150-215) und Epiphanus. Vgl. Lexikon der Religionen (1992), S. 210, Stichwort Gnosis. Quellen der christlichen Gnosis stellen u. a. die Johannes- und Thomasakten und das Evangelium des Philippus dar. Zu einflussreichen Vertretern zählen u. a. Basilides (85-145) und Valentinus (gest. ca. 160). Plotin vermittelt zwischen radikal-dualistischem Manichäismus und Christentum (vgl. Braun, C. v. (2001), S. 161) und beeinflusste die christliche Mystik des Mittelalters entscheidend. Vgl. u. a. Bloom, H. (1993), S. 790-796; Braun, C. v. (2001), S. 145; Brumlik, M. (1992), S. 224-237. Corpus Hermeticum (1997). Zu weiteren prominenten Vertretern des frühneuzeitlichen Neuplatonismus zählen u. a. die einflussreichen zeitgenössischen Gelehrten Nikolaus Cusanus (1401-1464) und Agrippa von Nettesheim (1486-1536). Nettesheim verbindet den Begriff der ›Magie‹ mit neuplatonisch (natur-)philosophischen und kabbalistischen Elementen. Vgl. u. a. Nettesheim, H. C. A. v. (1997). Sloterdijk, P. (1993), S. 51.

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hen Gnosis ist hier eine Erhöhung des Menschen zum »Gott der zweiten Schöpfungswoche«190 zentral. »Das erstaunliche Phänomen einer solchen ›Hermetik der Neuzeit‹ wurde zur historischen Grundlage einer ganzen Reihe späterer Traditionen, die im technischen Sinne des Wortes als ›westliche Esoterik‹ zu bezeichnen sind. Die komplizierte [...] Geschichte der westlich-esoterischen Religiosität läßt sich als eine Geschichte der ›Gnosis der Moderne‹ verstehen, die sich über Rosenkreuzerische, alchemistisch/ theosophische, illuminatische, romantische, okkultistische und verwandte Strömungen bis auf den heutigen Tag ausdehnt.«191

Das vorliegende Kapitel verfolgt vor diesen Hintergrund das Ziel, entlang frühchristlicher gnostischer Traditionen eine weitere religionsgeschichtliche Differenzierung dualistischer Denktraditionen des Abendlandes zu skizzieren und fragt nach farb- und geschlechtssymbolischen Implikationen gnostischer Geist-Materie-Dualismen. Damit rücken gnostische und in einem letzten Abschnitt auch kabbalistisch modifizierte Gottesvorstellungen und kosmologische Schöpfungsmodelle in den Fokus, die sich auf die eine oder andere Weise auch für Rudolf Steiners okkultistisches Denksystem, das Bestandteil einer ›Gnosis der Moderne‹ ist, als bedeutsam erweisen.

2.5.2 Finsterer Schöpfergott und (Licht-)Gott des Nichts »Der Antike bestreitet sie [die Gnosis] den Kosmos als den Inbegriff der aus sich verbindlichen Wirklichkeit, dem Christentum den Zusammenhang von Schöpfung und Erlösung als Werk des einen Gottes.«192

Die frühchristliche Gnosis beinhaltet, wie das Zitat Blumenbergs treffsicher bündelt, sowohl eine Verwerfung der griechischen Vorstellung vom geordneten Kosmos und einer (lichten) Naturordnung – diese wird den Gnostikern zum Ausdruck der Mächte der Finsternis193 – als auch eine Verwerfung des jüdisch-christlichen Schöpfergottes – dieser büßt seine Position als lichter Vatergott ein und mutiert zum finsteren Demiurgen. Simone Pétrement stellt heraus, dass der »Antikosmismus« bereits Teilen der christlichen Bibel inhärent ist: »[M]an braucht nur das Neue Testament zu lesen, um ihm zu begegnen. Andererseits gilt es zu bedenken, daß von Paulus zu Johannes nicht nur der Antikosmismus, sondern auch der Antijudaismus zunimmt. Dieses doppelte Anwachsen, das sich 190 191 192 193

Sloterdijk, P. (1993), S. 53. Metzler Lexikon Religion (1999), S. 507, Stichwort Gnosis. Blumenberg, H. (1999), S. 141. Vgl. Braun, C. v. (2001), S. 154.

98 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK nach Johannes fortsetzt, erklärt leicht, daß einige Christen zu Beginn des 2. Jh. den Glauben an den einen Gott kritisieren wollten, der zugleich als direkte Ursache der Welt und als Stifter des Alten Gesetzes betrachtet wurde. Der blinde Demiurg der Gnostiker ist zugleich der Gott des alten Gesetzes und kraft dieses Arguments wird er auch als blind dargestellt (wie im Mittelalter die Synagoge).«194

Die Rückbezüge auf Paulus wurden von Adolf von Harnack entlang der Lehren des Theologen Marcion (ca. 85-160), einem der einflussreichsten gnostischen Denker, der 144 in Rom exkommuniziert wurde,195 hervorgehoben, wenn er zu Marcions Wandel zum gnostischen Glauben mit einem gewissen Enthusiasmus schreibt: »Es muß ein Tag voll Lichts für ihn gewesen sein, aber auch voll Schauderns über die Dunkelheit, die dieses Licht in der Christenheit wieder geschwärzt hat, als er erkannte, daß Christus einen ganz neuen Gott darstellt und verkündet, ferner daß die Religion schlechthin nichts anderes ist als der hingebende Glaube an diesen ErlöserGott, der den Menschen umschafft, endlich daß das gesamte Weltgeschehen vorher das schlechte und widerliche Drama einer Gottheit ist, die keinen höheren Wert besitzt als die stumpfe und ekelhafte Welt selbst, deren Schöpfer und Regierer sie ist. Alle religiösen Antithesen des Paulus wurden durch diese Erkenntnis auf den schärfsten Ausdruck gebracht, der sich aber durch diese Steigerung weit von den Absichten des Apostels entfernte.«196

Folgt man Pétrements Argument, so ist die frühe Gnosis als solche über einen substantiellen Zusammenhang von Antikosmismus und eine Erhöhung des Erlöser-Gottes durch paulinische und johannäische Denktraditionen bestimmt: »Wie fremd auch immer einige gnostische Schriften erscheinen mögen, man begegnet in ihnen im Grunde immer dem Geiste des Paulus und dem des Johannes.«197 Die Verwerfung der Schöpfung und des Schöpfergottes einerseits und die Aufwertung des Heilbringers andererseits bedingen die christlich-gnostische Vorstellung eines dem Schöpfergott vorgeordneten göttlichen Lichtreiches. Hiermit verbunden ist ein neues Gottesbild, das bei Marcion im ›unbekannten‹, ›fremden‹ und ›guten‹ Gott,198 beim frühchristlichen Gnostiker Basilides im ›Gott des Nichts‹199 seinen Ausdruck findet. Das »transzendente Residieren« dieses unbekannten, von der Schöpfung der Welt entkoppelten Gottes 194 195 196 197 198

Pétrement, S. (1993), S. 261f. Vgl. Blumenberg, H. (1999), S. 141. Harnack, A. v. (1993), S. 256. Pétrement, S. (1993), S. 267. Vgl. u.a Blumenberg, H. (1999), S. 141-142; Harnack, A. v. (1993); Schüssler Fiorenza, E. (1993), S. 331. 199 Vgl. u. a. Lacarrière, J. (1993), S. 569.

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»bedeutet zugleich sein antikosmisches Dasein.«200 Der jüdische Schöpfergott wird demgegenüber als ein späterer, falscher Gott inszeniert. Die Schöpfung des jüdischen Vatergottes sei ein »Lügengewebe«,201 wie der Kirchenvater Irenaeus (ca. 135-203) die gnostischen Ansichten wiedergibt, die er als häretisch bezeichnet. So berichtet Irenaeus auch über folgende gnostische Aussage zum Schöpfergott: »Daher habe Jaldabaoth[202] sich über alles, was unter ihm ist, erhoben, sich gerühmt und gesagt: ›Ich bin Vater und Gott und über mir ist keiner‹ (Jes. 45,5). Als das die Mutter hörte, habe sie gegen ihn ausgerufen: ›Lüge nicht, Jaldabaoth, denn über dir ist der Vater des Alls, der Erste Mensch und der Mensch, der Sohn des Menschen‹.«203

Die Umdeutung und Neukonzeption des Gottesbildes geht, wie hier bereits anklingt, mit einer Verschiebung und Neudeutung geschlechtssymbolischer Attributierungen des Gottesbildes einher. Über dem jüdischen Schöpfergott steht demnach ein anderer Vater als ›wahres‹ männliches Lichtprinzip, ebenso wie der Sohn, der Erlöser-Gott. Degradiert zu einem demiurgischen ›Erzeuger aus dem Fleisch‹ erfährt der jüdische Gott demgegenüber letztlich eine symbolische Verweiblichung, die über seine Assoziierung mit der finsteren Materie erfolgt. Im Markionismus (aber auch in anderen gnostischen Denksystemen) ist diese geschlechtssymbolische Zuordnung insofern angelegt, da in »diesem System [...] Weiblichkeit zum Bereich der Schöpfung [gehört], während Männlichkeit für himmlische transzendente Wirklichkeit steht.«204 Eine konkrete Verweiblichung des Schöpfergottes wird besonders drastisch in der antijudaistischen Ausarbeitung der Kainiten deutlich, einer gnostischen Gruppe des 2. und 3. Jahrhunderts,205 die sich den jüdischen »Schöpfer des Himmels und der Erde« als »eine riesige Gebärmutter« vorstellte, »dessen Werke es zu vernichten galt.«206 Der ›unbekannte Gott‹ hingegen ist als ursprüngliches Gottesprinzip männlich identifiziert. Als solcher wird er teils ›Vorvater‹ (Bythos) genannt, dieser ist jedoch vielfach gerade durch eine geschlechtliche Ambivalenz ge200 Lexikon der Religionen (1992), S. 210, Stichwort Gnosis. 201 Irenaeus (1993), S. 187. 202 »Der Name des höchsten Archonten, Jaldabaoth, und viele Namen der düsteren Erdenmächte waren Verballhornungen der Namen des jüdischen Gottes.« Braun, C. v. (2001), S. 158. 203 Irenaeus (1993), S. 188. 204 Schüssler Fiorenza, E. (1993), S. 331. Diese Zuordnungsstruktur findet sich ebenso in den sogenannten ›Pseudo-Clementinen‹. Vgl. Schüssler Fiorenza, E. (1993), S. 331. 205 Die Kainiten zählt Frick zur Gruppe der Ophiten. Vgl. Frick, K. R. H. (2005), S. 102. 206 Frick, K. R. H. (2005), S. 102.

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kennzeichnet. In den Schriften des Dionysios Areopagita, einem anonymen Autoren des beginnenden 6. Jahrhunderts, heißt es vom ›unbekannten Gott‹: »[E]r ist nicht Finsternis, nicht Licht, nicht Irrtum, nicht Wahrheit; überhaupt weder Bejahung noch Verneinung«.207 Diese Vorstellung von einem über die Gegensätze erhabenen Gott zeigt sich schon im historischen Vorfeld verschiedentlich als Androgynie und Syzygie208. Irenaeus berichtet: »Die einen sagen: Er [das erste Prinzip (Vorvater, Bythos)] hat keine Syzygos, ist weder männlich noch weiblich noch überhaupt etwas Seiendes. Andere sagen, dass er mannweiblich sei und verschaffen ihm ein hermaphrodites (= androgynes) Wesen. Noch andere geben ihm die Sige zur Gattin, damit die erste Syzygie entsteht.«209

Im gnostischen Gottesnamen ›Vater der Stille‹ wird ›Sige‹ (Stille), auch ›Mutter-Gnade‹ genannt, zum Teilaspekt des Vorvaters als göttlichem Prinzip – eine Vorstellung göttlicher Doppelgeschlechtlichkeit, die u. a. im Valentinianismus auftaucht.210 Neben Sige werden Ennoia (Gedanke) und Charis (Gnade) genannt.211 Sie sind, wie Sophia (Weisheit), weibliche Repräsentationen des göttlichen Geistes und stellen als solche Wissen, Erkenntnis und Rationalität dar.212 Das gnostisch androgyne Gottesbild des ›unbekannten Gottes‹ hat entsprechend unterschiedliche Ausgestaltungen und dabei wird teilweise »schon die mann-weibliche Existenz des Urvaters (Bythos) angenommen, wie auch weitere himmlische Emanationen (z.B. Barbelo) androgyn beschrieben«.213 Irenaeus stellt dar, dass in gewissen gnostischen Vorstellungen das pleroma214, bestehend aus »Paaren männlicher und weiblicher Eo-

207 Dionysios Areopagita: Myst. Theol., cap.5. Zit. in: Leisegang, H. (1936), S. 214. 208 Syzygie = griech.-lat. Zusammenfügung; im gnostischen Kontext verstanden als ›himmlische Paargenossenschaft‹. Vgl. Zimmermann, R. (2001), S. 572. 209 Iren. haer. I 11,5fin. Zit. in: Zimmermann, R. (2001), S. 570. 210 Vgl. Schüssler Fiorenza, E. (1993), S. 333. 211 Vgl. Zimmermann, R. (2001), S. 573. 212 Strohm erwähnt, dass dem ›Vater der Größe‹ im Manichäismus fünf Attribute beigefügt sind, die Verstandeskräfte bezeichnen. Sie lauten: 1. Nous: Besinnung, Denkkraft, Verstand, Überlegung; 2. Ennoia: Überlegung, Erwägung, 3. Phronesis: Einsicht, Klugheit, Gedanke, Plan; 4. Enthymesis: Gedanke, Einfall, Rat; 5. Logismos: Rechnung, Berechnung, Überlegung, Gedanke. Vgl. Strohm, H. (1997), S. 134. 213 Zimmermann, R. (2001), S. 572. 214 » Pleroma: Griechisch ›Fülle‹, Bezeichnung der jenseitigen Welt als derjenigen, die wahres ›Sein‹ hat; die Gesamtheit der Äonen.« Sloterdijk, P./Macho, T. H. (1993), Gnostisches Glossar, S. 1031, Stichwort Pleroma.

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nen[215]«, ursprünglich aus dem »›unnennbaren Vater‹ und einem weiblichen, nicht alternden spiritus virginalis, der barbelos«, bestanden habe.216 Mit der Barbelo, die auch als »›Weltmutter‹« identifiziert ist,217 wird der Aspekt der Jungfräulichkeit auf der Ebene des Geistes angesiedelt: Der Urvater/Vorvater erschafft diesen ewigen jungfräulichen Geist (als Emanation seiner selbst) und damit wird, so lässt sich schlussfolgern, nicht der göttliche Geist als solcher weiblich codiert, sondern Weiblichkeit wird zu einem gegenübergestellten Teilaspekt des Vorvaters, und damit zum Sinnbild einer geistigen Fruchtbarkeit, die auf der Ebene des Geistes verbleibt. Der gnostische Grunddualismus, d. h. der Geist-Materie-Dualismus, der als Gegenüberstellung des geistig-männlichen Lichtreichs und der finsteren weiblichen Materie (dem Kosmos, der Welt) erscheint, wird mit dem androgynen Gottesbild entsprechend auf der Ebene des Geistes ausdifferenziert. Nicht nur stehen sich demnach der gnostische Vorvater und der ihm nachgeordnete Schöpfergott gegenüber, sondern auch zwei Formen von Weiblichkeit: eine geistige lichte ›Weltmutter‹ als Teilaspekt des Vorvaters und der finstere verweiblichte Demiurg.

2.5.3 Finstere Welt(-werdung) – Erlösung des Lichts Urdualismus: Beispiel Manichäismus Die frühen gnostischen Denkmodelle beinhalten der Tendenz nach zwei unterschiedliche Formen von (Grund-)Dualismen, die Kurt Rudolph der Struktur nach wie folgt differenziert: »Während in einem Bereich der Gnosis – vor allem im Mandäismus und im Manichäismus – zwei vom Uranfang bestehende Grundkräfte, mythologisch als Reich des Lichts und Reich der Finsternis ausgedrückt, bestehen [...], ist in anderen Systemen ein stufenweiser Abfall von der höchsten Gottheit (dem ›unbekannten Gott‹) die Ursache für die Entstehung der bösen und finsteren Mächte.«218

215 »Äon/Aion: Welt, Ewigkeit; in der Gnosis ausschließlich für jenseitige Welten; engelhafte Mächte.« Sloterdijk, P./Macho, T. H. (1993), Gnostisches Glossar, S. 1027, Stichwort Äon/Aion. 216 Enzyklopädie Philosophie (1999), Bd. 1, S. 435, Stichwort Geist. 217 »Barbelo: Name eines weiblichen Äons, meist an hoher oder höchster Stelle; ›Weltmutter‹ (Etymologie ungewiss, möglicherweise von hebräisch ›Barbhe Eloha‹, d. h.: ›in der Vier ist Gott‹.« Sloterdijk, P./Macho, T. H. (1993), Gnostisches Glossar, S. 1028, Stichwort Barbelo. 218 Rudolph, K. (1994), S. 74.

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In der Tradition der Mandäer symbolisiert »UR«, der ›König der Finsterniswelten‹, das Reich der Finsternis, das den »reinen Lichtwelten« gegenübersteht: »Die Wurzel dieses dunklen Reiches ist das urzeitliche Chaos des ›finsteren Wassers‹, verkörpert in der weiblichen Gestalt einer Urdämonin namens Ruha,[219] auch Hewath oder Hivath (Schlange) oder kurz ›Weib‹ (Nuqubta) genannt – ein Bild, das an die altbabylonische Idee der Tiamat erinnert. Das Urchaos wird auch Qin genannt und als ›Großmutter des Finsterniskönigs Ur‹ bezeichnet. Ur oder Ruha bringen dämonische Wesen (Dew, Daiwa) hervor – die sieben Planetendämonen und die zwölf Dämonen der Tierkreiszeichen [...]. Die Finsternis wurde mächtig und dehnte sich aus durch die Dämonen, Genien, Geister [...] und Satane, all die häßlichen Gestalten der Finsternis jeder Art und Gattung, männliche und weibliche Wesen der Finsternis: finstere, schwarze, dumme, rebellische, zornige, wütende, giftige, widerspenstige, törichte, faulige, greuliche, schmutzige und stinkende... Kinder des Blutes, des sprühenden Feuers und fressenden Brandes. Einige unter ihnen sind Zauberer, Betrüger, Lügner, Fälscher, Räuber, Arglistige, Beschwörer, Chaldäer[220] (Sterndeuter), Wahrsager. Sie sind Baumeister aller Bosheiten, Anstifter von Bedrängnis [...].«221

Im ebenso radikal-dualistischen Manichäismus, der durch Mani (216276/277) begründet wurde und buddhistische wie christliche Tradition beeinflusste,222 fanden sowohl die Lehren des Marcion als auch u. a. zoroastrische Traditionen Eingang.223 Aus der zoroastrischen Lehre wurden die dualistischen Prinzipien ›Ahriman‹ versus ›Ahura Mazda‹/›Ohrmazd‹/›Ohrmuzd‹ übernommen. Der Tradition nach ist Ahriman

219 Mit ›Ruha‹ liegt vermutlich ein Bezug zu ›Ruah‹ (Geist) vor, was in der jüdischen Bibel ›Wind‹, ›Luftzug‹ sowie ›Atem‹ (blas) bedeutet, und in letzterem Sinne »Quelle des Lebens« meint. »Der einzige Besitzer dieser Kraft ist Gott, der Belebende.« Enzyklopädie Philosophie (1999), Bd. 1, S. 434, Stichwort Geist. 220 Als Chaldäer wird lexikalisch 1) ein semitisches Volk des Altertums bezeichnet: »König Nabopolassar begründet 626 v. C. das Neubabylonische Reich. Die Berühmtheit der babylonischen Himmelskunde gab in hellenistischer Zeit dem Namen Chaldäer die Bedeutung von Astrologe und Wahrsager. [...] 2) Christen mit ostsyrischer Kultsprache, hauptsächlich im nördlichen Irak und Kurdistan.« Neues Universal-Lexikon (1976), Stichwort Chaldäer. 221 Dämonen, Geister, dunkle Götter [Lexikon] (1993), S. 208, Stichwort Ur. 222 Der Manichäismus verbreitete sich zunächst in Persien, später östlich bis nach China und nordwestlich über Europa. Vgl. RGG (1986), S. 1658, Stichwort Gnosis. 223 Hiernach »absorbierte« der Manichaismus die Lehren des Marcion. Vgl. Neues Universal-Lexikon (1976), Stichwort Marcion. Zum Manichäismus vgl. auch Frick, K. R. H. (2005), S. 134f., 147-157; Rudolph, K. (1994), S. 352394; Strohm, H. (1997), S. 77-113.

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»in der altpersischen Religion des Zarathustra (griechisch Zoroaster) der Name des bösen, lichtfeindlichen Urprinzips, das mit dem hellen Gottesgeist Ahura Mazda im Kampf steht. Der Name ist von ›Angra Mainyu‹ (arger Geist) abgeleitet [...]. Ahriman ist der verkörperte ›drug‹ (Trug, Lüge, Täuschung), der Inbegriff des Bösen und Haupt einer feindseligen, von Dämonen bevölkerten Antiwelt. Sein Reich ist eine Unterwelt voll von anfangloser Dunkelheit, beherrscht von Rauch, Finsternis, bösem Wind, bösem Feuer und bösem Wasser, aus dem Krankheit und Tod kommen.«224

Mani arbeitet diese Gegensätze zu einem radikalen Licht/Geist-Finsternis/ Materie-Dualismus aus.225 Das Drama besteht in dem Einfall der finsteren Dämonen in das Lichtreich.226 Drama und Erlösung verbinden sich mit einem Erlöser-Gott, welcher ›Urmensch‹ oder auch ›Erster Mensch‹ (in iranischer Überlieferung Ohrmazd) genannt wird. Dieser wird vom Gott-Vater des Lichts in den Kampf geschickt: »Der Urmensch kleidet sich in eine Rüstung und zieht aus, um die Heerscharen der Materie, der Finsternis und der Bosheit zu bekämpfen. Diese Rüstung besteht aus seinen fünf Lichtelementen, die [...] sein eigentliches ›Ich‹, seine ›Seele‹ bilden. Man kann sie darum auch symbolisch seine fünf ›Söhne‹ nennen. Diese Lichtelemente sind Äther, Wind, Licht, Wasser und Feuer.«227

Der ›Urmensch‹ wird zunächst besiegt, seine Lichtelemente von den Dämonen verschlungen. Durch weitere durch den Vater gezeugte Licht-/Geistwesen wird er schließlich errettet, erlöst. »Zusammen mit der Mutter des Lebens und dem Lebendigen Geist steigt er wie das siegreiche Licht aus der Finsternis bis zum Lichtparadiese, zu seinem himmlischen Vaterland hinauf [...].«228

– Indes ist sein Licht noch mit der Materie vermischt. Im manichäischen Schöpfungsmythos erschaffen ejakulierende Dämonen das Pflanzenreich, die ihre Schöpfungspotenz aus dem im Samen eingeschlossenen, einst von Dämonen verschlungenen göttlichen Licht beziehen.229 Die Erschaffung des Menschen (Adams und Evas) wird als ein Resultat dämoni224 Dämonen, Geister, dunkle Götter [Lexikon] (1993), S. 30f., Stichwort Ahriman. 225 Vgl. Frick, K. R. H. (2005), S. 147-153. 226 Vgl. Frick, K. R. H. (2005), S. 148f. 227 Frick, K. R. H. (2005), S. 149. 228 Frick, K. R. H. (2005), S. 149. 229 Vgl. Strohm, H. (1997), S. 81. Laut »Wörterbuch der Symbolik« hielten die Manichäer rituelle Mahle ab, bei denen die ›Vollkommenen‹ Früchte und Gemüse verzehrten, um den ›Lichtsamen‹ zu befreien. Vgl. Wörterbuch der Symbolik (1991), S. 636, Stichwort Sakrament.

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scher Mächte vorgestellt, das göttliche Licht ist im Menschen eingeschlossen. Der Erlösungsversuch wird zunächst an Adam vollzogen. »Adam ist von der Materie blind und taub geschaffen, des in ihm befindlichen Lichtfunkens völlig unbewußt.«230 Der Erlöser, der nun gesandt wird, um die Gnosis, Erkenntnis, zu bringen, wird wiederum »der Sohn Gottes, oder Ohrmazd (d. h. der Urmensch) oder ›Jesus der Lichtglanz‹, ›Glanz-Jesus‹ genannt. [...] Er will in Adam seinen eigenen Nous erlösen, oder allgemein ausgedrückt, seine eigene Seele. Mit seinem Ruf erweckt er Adam vom Schlaf des Todes, schüttelt ihn, öffnet seine Augen [...], zeigt ihm die in der ganzen Materie gefangene und leidende Lichtseele, enthüllt ihm seinen doppelten Ursprung, wie sein Körper von den dämonischen Mächten stammt, sein Geist oder seine Seele, d. h. sein geistiges Prinzip aber aus der himmlischen Lichtwelt.«231

Der Erlöser erscheint in einem Scheinleib, der nach dieser Belehrung der Menschen stirbt. Die ›Ausgewählten‹ oder ›Erleuchteten‹ gehen ins Lichtreich ein, die Ungläubigen »verfallen der Finsternis«.232 Die manichäische Lehre beinhaltet demnach alle für die frühe Gnosis als symptomatisch geltenden Elemente, die in den jeweiligen gnostischen Systemen unterschiedlich ausgearbeitet werden: erstens die Gefangenschaft des Lichts in der Materie und die damit verbundene Vorstellung, dass in »der ›Entmischung‹ des Lichtes von der Finsternis [...] die Befreiung des Geistes vom ›Schmutz‹ und der als ›unrein‹ definierten Welt [besteht]«;233 zweitens die Vorstellung, dass der Mensch sich aus zwei Welten zusammensetzt, aus dem irdischen Menschen und dem ›Gott-Menschen‹.234 Hiermit verbundenen ist drittens der Gedanke einer »doppelte[n] Zeugung, eine[r] materielle[n] aus dem Fleisch und eine[r] geistige[n] aus dem pneuma. Die Gnostiker glaubten an eine neue, geistige Zeugung als ein Emporsteigen zum pleroma.«235

Der Begriff Gnosis verweist in diesem Zusammenhang auf ein »mystisches Erkennen des eigenen Selbst als im tiefsten Sinne wesensgleich mit dem göttlichen Wesen.«236 Die Heimat des Selbst ist der Himmel.237 Der mütterliche Schoß symbolisiert gegenüber der geistigen Zeugung wiederum irdische Un230 231 232 233 234 235 236 237

Frick, K. R. H. (2005), S. 151. Frick, K. R. H. (2005), S. 151f. Frick, K. R. H. (2005), S. 153. Braun, C. v. (2001), S. 152. Vgl. Braun, C. v. (2001), S. 160. Enzyklopädie Philosophie (1999), Bd. 1, S. 436, Stichwort Geist. Metzler Lexikon Religion (1999), S. 506, Stichwort Gnosis. RGG (1986), S. 1650, Stichwort Gnosis.

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reinheit, Sterblichkeit, das Böse. Sexualität und Fortpflanzung sind eine »Erfindung der Mächte der Finsternis«: »So heißt es, daß die Archonten Eva nicht nur erschaffen haben, um Adam zu verführen und ihn an die Freuden der Leiblichkeit zu binden, sondern auch um der Fortpflanzung willen, ›der schrecklichsten Erfindung in Satans Strategie. Denn sie sollte nicht nur die Gefangenschaft des Lichtes auf unabsehbare Zeit verlängern, sondern zugleich das Licht durch die Vermehrung so verstreuen, daß das Werk der Erlösung [...] unendlich erschwert würde‹.«238

Für die Gnosis symptomatisch erscheint zudem schließlich viertens die Vorstellung vom Scheinleib des Erlöser-Gottes (vgl. Kap. 2.5.5).

Das Eine Göttliche: Abglanz und Fall des Lichts Die Entstehung der finsteren irdischen Materie wird gegenüber dem Urdualismus von Geist/Licht versus Finsternis/Materie des Manichäismus, wie eingangs bemerkt, in anderen gnostischen Systemen als ein allmähliches Abfallen vom Göttlichen beschrieben. In den hiermit einhergehenden monistischen Konzeptionen der Gnosis ist der Geist-Materie-Dualismus das Resultat eines Entfremdungsprozesses vom ›fremden Gott‹. So ist die Materie im gnostischen Denksystem des Neuplatonikers Plotin (ca. 205-270) Abglanz, Schatten und Mangel an Licht: »Das Eine (Ev) ist der schöpferische Grund aller Dinge. Aber diese Dinge gehen aus dem Einen hervor wie das Licht aus der Lichtquelle: es fließt so hervor, daß es mit seinem Quell verbunden bleibt, allerdings umso mehr an Strahlkraft verliert, je weiter es sich von seinem Urgrund entfernt. Der Kosmos ist nur noch ein schwacher Abglanz des göttlichen Urglanzes. Die Materie ist der letzte Schatten, die Entfremdung und Nichtigung dieses Glanzes. Sie ist als Lichtloses ein Nichtsein und nicht nur die Wurzel des Bösen, sondern auch der Zerteilung.«239

Ähnliche Vorstellungen sind bereits in der christlichen Gnosis des Basilides (85-145) anzutreffen, die davon ausgeht, dass sich das »höchste Wesen« in der ›hyperkosmischen Welt‹ aufhält, es ist »der Gott des Nichts, der Verwahrer aller Zukunft, Bewahrer allen Ursprungs, aller Mächte und Möglichkeiten, reines intelligibles Feuer, in dem sich der Keim für alles befand und noch befindet, für alles, das dann in die niederen (supra- und sublunaren) 238 Braun, C. v. (2001), S. 157. Zit. im Zit.: Jonas, Hans. 1999. Die Botschaft des fremden Gottes. Hrsg. u. mit einem Nachwort versehen v. Christian Wiese. Frankfurt a. M., S. 271. 239 Bucher, Z. (1982), S. 267.

106 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK Kreise fiel und belebte und unbelebte Materie, Form, Inkarnation, Stein, Baum und Fleisch wurde.«240

Bei Basilides ist der ›Weltsame‹ das erste Geschöpf des ›nicht seienden Gottes‹.241 Während der unaussprechliche Gott erhaben über jegliche Existenz ist und über den Gegensätzen steht, so ist der Weltsame »das erste und unbegreiflichste Mysterium. Wesentlich ist vor allem, daß der ganze Charakter der Welt als Sperma Gottes, als Gottes Zeugungsstoff, als das von Gott ausgehende schöpferische Leben aufgefaßt wird.«242

Der Fall des Geistes/Lichts verbindet sich mit einer ›Materialisierung‹ in Stufenfolge: »Für die Gnostiker scheint es also mehrere Stadien der Materie zu geben: ein feuriger höherer Zustand, ein der Hyper-Welt eigener, und aufeinanderfolgende Zustände, die mit den verschiedenen Kreisen korrespondieren, in dem Maße wie sich die Samen materialisieren und mit Dunkelheit, mit Undurchdringlichkeit und mit Schwere aufladen.«243

Der Materialisierungsprozess ist hiernach als Verdunklungs- und Verdichtungsprozess beschrieben. »Unsere eigene Materie, die der Welt, der Vegetation und der lebenden Wesen ist in gewisser Weise der unendlich beschwerte Samen der ätherischen Partikel der HyperWelt. Sie sind nach und nach bis zu uns herabgefallen, infolge eines ursprünglichen Dramas, das die gesamte Geschichte unseres Universums darstellt [...]. Alle lebenden Wesen unserer Welt sind, in den Augen der Gnostiker, Sedimente eines verlorenen Himmels.«244

Vor dem Hintergrund der weiblichen Codierung der irdischen Materie und der gnostischen Assoziation der Schöpfung mit Weiblichkeit ist der Fall des göttlichen Lichts nicht nur mit Verdunklung, sondern zugleich geschlechtssymbolisch codiert. Diesbezüglich stellt Elisabeth Schüssler Fiorenza so auch für den Valentinianismus fest, dass »[d]iese Gruppe [...] den Ursprung der Finsternis, des Bösen und des Dualismus in der Gottheit selbst an[siedelt] ›mittels einer Genealogie personifizierter göttlicher 240 241 242 243 244

Lacarrière, J. (1993), S. 569. Vgl. Leisegang, H. (1936), S. 215. Leisegang, H. (1936), S. 216. Lacarrière, J. (1993), S. 569. Lacarrière, J. (1993), S. 569.

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Stadien, die voneinander hervorgehen und die zunehmende Verdunkelung des ursprünglichen Lichts in Kategorien von Schuld, Irrtum und Fehlern beschreiben‹. [...] Infolgedessen ›identifizierten die ValentinianerInnen das Weibliche nicht mit einem absoluten Prinzip des Bösen, sondern mit dem fehlbaren Teil Gottes, der in die materielle Welt hineinverwickelt wurde‹.«245

Hier ist es Sophia, als ein vom Vorvater (Bythos) und der Sige (Mutter der Stille) gezeugter weiblicher Äon, welcher als »kosmische Eva«246 das Drama der Schöpfung ins Rollen bringt. Nach ihrem Vergehen (den Vorvater erkennen zu wollen) bedarf Sophia selbst der Erlösung durch Jesus Christus und wird von ihm »zur Erkenntnis« (um-)gestaltet.247 Danach sät sie (nun unter dem Namen ›Achamoth‹) während des Schöpfungsprozesses durch den Demiurgen heimlich »geistlichen ›Samen‹ in manche Menschen. Daher besteht die Menschheit aus drei Klassen menschlicher Wesen: Die HylikerInnen [...], die PsychikerInnen [...] und die PneumatikerInnen (GnostikerInnen; diejenigen, die von der ›Mutter‹ Achamoth den geistlichen Samen erhalten haben).«248

2.5.4 Hyliker, Psychiker, Pneumatiker: Aufstieg zum Licht Die gnostische Kategorisierung der Menschheit in Hyliker, Psychiker und Pneumatiker beinhaltet ihren Grundzügen nach eine schwarz-weißsymbolische Differenzierung der Menschheit: Denn die Hyliker und Psychiker werden über ihre Assoziation mit der finsteren Materie sowie die finsteren Leidenschaften symbolisch schwarz codiert. So gilt der Hyliker (Hyle: griechisch = ›Materie‹)249 als ein Mensch, »der besonders am Materiellen hängt«250 und im Valentianismus auch als ›Weltmensch‹ oder ›fleischlicher Mensch‹ gedacht wird.251 Und der Psychiker, der als »ein ›Seelenmensch‹« erscheint, hat »nur eine Seele [...], aber kein Pneuma«,252 wobei ›Psyche‹ 245 Schüssler Fiorenza, E. (1993), S. 333. Zit. im Zit.: 1) Jonas, Hans. 1963. The Gnostic Religion. The Message of the Alien God and the Beginnings of Christianity. Boston, S. 237; 2) Baer, R. A. 1970. Philo’s Use of the Categories Male and Female. Leiden, S. 71. 246 Schüssler Fiorenza, E. (1993), S. 334. 247 Schüssler Fiorenza, E. (1993), S. 334. 248 Schüssler Fiorenza, E. (1993), S. 334. 249 Vgl. Sloterdijk, P./Macho, T. H. (1993), Gnostisches Glossar, S. 1029, Stichwort Hyle. 250 Sloterdijk, P./Macho, T. H. (1993), Gnostisches Glossar, S. 1029, Stichwort Hyle. 251 Vgl. Schüssler Fiorenza, E. (1993), S. 334. 252 Sloterdijk, P./Macho, T. H. (1993), Gnostisches Glossar, S. 1031, Stichwort Psyche, psychisch.

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(griechisch = ›Seele‹)253 »in der Gnosis meist abwertend gemeint« ist und als »›Sitz der Leidenschaften‹« gilt.254 Jene Gnostiker, die sich bewusst als ›nur psychisch‹ begriffen und daraus eine ›leidensbestimmte‹ Philosophie entwickeln, nennt Peter Sloterdijk auch die »schwarzgnostische[n] Psychiker«.255 Dabei assoziiert Sloterdijk die Farbe Schwarz mit Krankheit und Melancholie: »Sie sind die Weltkranken im vollen Sinne des Wortes, die misfits des Kosmos, die die Nachteile des Geborenseins bis zur bitteren Neige kosten. Gerade unter ihnen tritt häufig ein Effekt auf, der umschrieben werden könnte als eine Schrumpfung von Gnosis zu dunklem Existentialismus. Zu der weltkranken Melancholie dieser Psychiker gehört ein mutwilliger Funke – man möchte sagen: ein Stolz der Unheilbarkeit, der sich in der refraktären Verhöhnung aller Aufhellungstendenzen manifestiert.«256

Der Pneumatiker hingegen ist als ein auserwählter »›Geistesmensch‹« ausgezeichnet, »der vom Geist abstammt und zum Geist berufen ist«.257 Dabei bezeichnet ›Pneuma‹ (griechisch = »›Lufthauch‹, ›Geist‹«) auch den »unsterbliche[n] ›Punkt‹ im Menschen«.258 Über den (unsterblichen, göttlichen) Geist ist der Pneumatiker mit Licht assoziiert und verkörpert die gnostische Vorstellung vom ›Gott-Menschen‹ im engeren Sinne des Wortes. Sein lichtes Wesen ergibt sich nicht zuletzt über die Gestalt der Sophia und die durch sie vermittelte (göttliche) Erkenntnis, die den Pneumatiker in eine Position des Lehrers versetzt: »Unter dem Schutz der [in die Lichtwelten] zurückgekehrten Sophia wirken in dieser Welt die pneumatischen Menschen, um die anderen, die nur psychisch sind und gemäß ihrer Natur hier verbleiben müssen, zu bilden und zu vervollständigen. [...] Da Gott wegen seiner reinen und unsichtbaren Natur pneuma ist, sind ihm die ihn nach dem Geist und nicht nach dem Fleisch anbetenden pneumatikoi der Natur nach gleich.«259

Diese schwarz-weiß-symbolischen Differenzierungen zwischen Hylikern und Psychikern einerseits und Pneumatikern andererseits beinhalten wiederum ge253 Vgl. Sloterdijk, P./Macho, T. H. (1993), Gnostisches Glossar, S. 1031, Stichwort Psyche, psychisch. 254 Sloterdijk, P./Macho, T. H. (1993), Gnostisches Glossar, S. 1031, Stichwort Psyche, psychisch. 255 Sloterdijk, P. (1993), S. 47. 256 Sloterdijk, P. (1993), S. 47. 257 Sloterdijk, P./Macho, T. H. (1993), Gnostisches Glossar, S. 1031, Stichwort Pneuma, pneumatisch. 258 Sloterdijk, P./Macho, T. H. (1993), Gnostisches Glossar, S. 1031, Stichwort Pneuma, pneumatisch. 259 Enzyklopädie Philosophie (1999), Bd. 1, S. 436, Stichwort Geist.

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schlechtssymbolische Codierungen, die sich über die weiblich codierte Materie und Seele und demgegenüber über den männlich codierten Geist ergeben. Die menschliche Seele als solche ist jedoch in der Gnosis farb- und geschlechtssymbolisch differenziert. Und nur aus dieser Differenzierung erklären sich die geschlechtlichen Vereinigungsmetaphern, welche den Vorstellungen der geistigen Befruchtung des Pneumatikers, d. h. seiner Seele, durch den göttlichen Geist inhärent sind und seinen Aufstieg zum göttlichen Licht als eine Form symbolischer Vermännlichung beschreiben. So wird im Text »Exegese der Seele«260 dargestellt, dass die Seele ursprünglich beim Vater war, »sie war jungfräulich und mannweiblich (127,24).«261 Hiermit wird die Seele also im ursprünglichen Stadium des Geistes analog zum androgynen Gottesbild doppelgeschlechtlich codiert. Erst der Fall in die Materie lässt die Seele ›unrein‹ weiblich werden, sie wird zur ›Hure‹.262 Die Umkehr der Seele ist an die Taufe geknüpft und hiermit vollzieht sich ihr Wandel zur reinen Braut. »Die Braut erkennt den Retter (133,11) als ihren himmlischen Mann und durch die Vereinigung der Seele im himmlischen Brautgemach wird die todbringende Spaltung zurückgenommen (133,35). Die Erzählung berichtet weiter, wie die Seele in der geschlechtlichen Vereinigung mit dem Geliebten den Samen, ›das ist der Geist, der lebendig macht‹ (2Kor 3,6), empfängt und nun gute Kinder gebärt. ›Und so vollzieht sich diese Hochzeit nach dem Willen des Vaters‹ (133,6ff.).«263

Bei Basilides ist die menschliche Seele in ihrem irdischen Stadium prinzipiell durch eine Dualität von Logos und Fleisch gekennzeichnet: »Denn die Seele in uns besteht aus zwei Teilen, die sich bekämpfen, dem Logos, der dem Geiste, und der Begierde, die dem Fleische entspringt. Der Logos ist himmlisch und gut, die Begierde irdisch und böse.«264

Wenn der Psychiker in gnostisch abwertendem Sinne als ›Seelenmensch‹ erscheint, so also vor dem Hintergrund seiner den irdischen Leidenschaften verfallenen Seele (als ›Hure‹). Der Pneumatiker hingegen besitzt als ›Geistesmensch‹ eben jene Anlage zur Erhebung ins Lichtreich, aus dem die Seele ursprünglich entstammt. Zur geschlechtlichen Transformation seiner (geläuterten) reinen Seele als Braut hin zu einem Zustand männlicher Geistigkeit erläutert Zimmermann mit Bezug auf Darstellungen des Irenaeus: 260 Der gnostische Text »Exegese über die Seele« oder »Exegese der Seele« gehört zu den Nag-Hammadi-Schriften und bezeichnet dort die sechste Schrift des 2. Kodex (NHC II,6), Blatt 127, Zeile 18 bis Blatt 137, Zeile 28. 261 Zimmermann, R. (2001), S. 600. 262 Vgl. Zimmermann, R. (2001), S. 600. 263 Zimmermann, R. (2001), S. 601. 264 Leisegang, H. (1936), S. 212.

110 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK »Wenn die Pneumatiker alle hylische und psychische Existenz abgelegt haben, werden sie als Bräute den Engeln des Soter [griechisch = der Retter, Heiland] zugeführt [...], um ihrerseits in die pneumatische Einheit des Pleroma einzugehen (Iren. haer. I 7,1). [...] Die durch die Syzygie ausgedrückte Einheit duldet allerdings keine Polarisierung oder Dualität mehr. Männliches und Weibliches sind ungeschieden, es gibt keine (sexuelle) Begierde [...] mehr. Diese Negation geschlechtlicher Existenz zeigt sich auch in der Geschlechterkonfusion der Valentinianer: Während die Pneumatiker als Bräute der Engel zunächst weiblich sind, werden sie schließlich männlich und engelgleich: ›Sie sind Bräute und Bräutigam in eins‹ [...] der vollkommene Mensch ist androgyn.«265

Die geistige Befruchtung durch den himmlischen Bräutigam versinnbildlicht demnach analog zu den christlichen Befruchtungsmetaphern die im Erlösungsschema wirksame geistig-männliche Zeugungspotenz (wobei der himmlische Bräutigam in der christlichen Gnosis Christus entspricht). Hier führt die geistige Befruchtung jedoch zu einem androgynen Geistzustand zurück – eine geistige Androgynie indes, die über den Vorvater übergeordnet männlich codiert ist. Der erlösende Aufstieg ins Lichtreich wird mit der Verwandlung der (reinen) Seele als Braut hin zum erlösten ›männlichen‹ und ›engelgleichen‹ Geistwesen in seinen geschlechtssymbolischen Dimensionen der Vermännlichung bildlich greifbar.

2.5.5 Christus als Weiß-Färber Wie die vorangegangenen Darstellungen bereits gezeigt haben, eröffnet Christus als christlich-gnostischer Erlöser den Weg aus der »Gefangenschaft [...] der materiellen Welt und des eigenen Körpers«.266 Seine Heil stiftende Aufgabe besteht in einem Läuterungs- und Reinigungsprozess, und er wird vom ›fernen‹ »guten Gott«267 geschickt, »um das verlorene Pneuma durch Erkenntnis zu erlösen«.268 Dabei materialisiert sich Christus der frühen Gnosis nach nicht fleischlich, sondern erscheint als ›Scheinleib‹,269 in einem immateriellen Leib also, der lediglich eine Leibhaftigkeit suggeriert und »der die Wächter des Demiurgen täuschen soll«.270 Wie Martin Burckhardt erläutert, gingen die Gnostiker also davon aus, dass Jesus Christus eine reine »Lichtge265 Zimmermann, R. (2001), S. 576. Zit. im Zit.: Gaffron, H. G. 1969. Studien zum koptischen Philippusevangelium unter besonderer Berücksichtigung der Sakramente. Diss. Bonn, S. 193 bzw. 374, Anm. 4. 266 RGG (1986), S. 1656, Stichwort Gnosis; vgl. u. a. auch Enzyklopädie Philosophie (1999), Bd. 1, S. 436, Stichwort Geist. 267 Blumenberg, H. (1999), S. 140. 268 Blumenberg, H. (1999), S. 141. 269 Vgl. Burckhardt, M. (1997), S. 36f; RGG (1986), S. 1658, Stichwort Gnosis. 270 Blumenberg, H. (1999), S. 141.

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stalt«, eine »Chimäre« und damit nicht durch die Materie ›kontaminiert‹ gewesen sei.271 Entsprechend wird die Gottesmutter Maria in apokryphen Schriften des 2. Jahrhunderts als ein engelhaftes Wesen vorgestellt, sie sei »[r]ein wie Schnee«.272 Wenn Christus, der ›aus dem Geist Geborene‹, in den apokryphen Evangelien von Nag Hammadi als »Färber« auftritt, »um die bunten Farben der Welt in ein so reines Weiß, wie es kein irdischer Färber jemals erreichen könnte, zurück zu ›färben‹«,273 so geht diesem Färbungsprozess die Erschaffung der bunten Welt durch den Vatergott der jüdischen Bibel voraus. Im Philippus-Evangelium heißt es: »Der Herr ging in die Färberei Levis. Er nahm 72 [Tücher in unterschiedlichen] Farben, er warf sie in den Kessel, und er brachte sie alle weiß heraus und sprach: ›So ist (auch) der Sohn des Menschen als Färber gekommen‹.«274

Gnostisch gedacht, kann dieses Gleichnis als Ausdruck einer Korrektur gelesen werden, als Weltfeindlichkeit gegenüber der – nicht nur schwarzen, sondern verführerisch bunten – irdischen Welt. Das Werk des (falschen) Vatergottes als Demiurgen, im gnostischen Verständnis eine Zerstreuung des göttlichen Lichts in einzelne (bunte) irdische Partikel, wird demnach von und durch Christus korrigiert, der, ›physikalisch‹ gesprochen, die in der Materie gefangenen Lichtpartikel (erneut) zu weißem Licht bündelt. Die christliche Weltwerdung Gottes umdeutend, korrigiert Gott, der im Phillipus-Evangelium (noch) als ›der Herr‹ erscheint, sich selbst, indem er das Erscheinen Christi erklärt. Christus ›weißt‹ hiernach die Welt als in die Welt gekommener Geist. Die Korrektur bezieht sich auf eine Rückkehr zu den ursprünglichen reinen Lichtwelten. Wenn GnostikerInnen davon ausgingen, dass ein Teil dieses Lichts in der Materie verstreut und gefangen sei, so kommt vor allem dies im Bild der bunten Farben zum Ausdruck. Deuten die weißen Gewänder des jüdischen Vatergottes auf eine der Materie entzogene Geistigkeit, welche die irdische Welt als eine schöne, bunte schuf, so befreit der gnostische ›WeißFärber‹ Christus das im Zuge des demiurgischen Machwerks gefangene und vereinzelte göttliche Licht. Im Bild des Weißens liegt zugleich ein Vergessenmachen, ein Auslöschen, das den Anfang einer neuen göttlichen Genealogie der Gnosis begründet und zur Verdunklung und Verweiblichung des jüdi-

271 Vgl. Burckhardt, M. (1997), S. 37. 272 Burckhardt, M. (1997), S. 38. 273 Bruns, M. (1997), S. 190f. Zit. im Zit.: Dietzfelbinger, Konrad (Hrsg.). 1988. Apokryphe Evangelien aus Nag Hamadi. Vollständige Texte, neu formuliert und kommentiert von Konrad Dietzfelbinger. Andechs, S. 9. 274 Philippus-Evangelium (1993), S. 125.

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schen Vatergottes führt. Die männliche Codierung Christi erscheint in doppelter Form: »In gewissen esoterischen Kreisen gilt Christus, der ja auch nach offizieller Lehre mit dem Vater eins ist, nicht nur als Sohn, sondern auch als Vater und Bräutigam der Maria bzw. der symbolisch mit ihr austauschbaren Ekklesia.«275

Die gnostische Vorstellung vom verstreuten, in der Materie eingeschlossenen Licht, das es durch Christus als gnostischem Erlöser zu befreien und in die Lichtwelten zurückzuführen gilt, liegt auch den promiskuitiven Praktiken der sogenannten ›Sperma-Gnosis‹276 zugrunde. Laut den Häresie-Berichten des Irenaeus wurde das männlich-menschliche Sperma in diesen rituellen Kontexten teilweise als Leib Christi bezeichnet und in gnostischen Zeremonien der Eucharistie gegessen.277 Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Gleichsetzung fleischlicher und geistiger Befruchtung. Vielmehr wird auch hier die fleischliche Zeugung als finsteres Werk verstanden. Die Assoziierung des menschlichen Spermas mit Christus ist danach sowohl mit dem gnostischen Gedanken zusammen zu denken, dass der Zeugungsstoff Gottes, der göttliche Lichtsame in die Materie verstrickt ist als auch mit der Vorstellung, dass die fleischliche Zeugung das ›Leiden‹ des in der Materie gefangenen Lichts immerfort verlängert. Dem Ritual, das Sperma zu essen, kommt so auch u. a. die Funktion zu, das darin eingeschlossene »Pneuma vor weiterer Zerstreuung durch die neue Bildung von Menschen zu retten und zu erlösen.«278 Die rituellen Praktiken der ›Sperma-Gnosis‹ stehen entsprechend nicht für eine religiöse Aufwertung des menschlichen Spermas, sondern sie erschließen sich religionsgeschichtlich geradezu umgekehrt als libertinistische Praktiken, die ihren Hintergrund in der gnostischen Leib- und Weltfeindlichkeit finden.279 So ist die Erlösung der »leidende[n] Lichtseele«280 durch die gnostischchristliche Lichtgestalt Christi auch als Befreiung aus dem endlosen Zirkel der fleischlichen Zeugung zu verstehen.

275 Wörterbuch der Symbolik (1991), S. 459, Stichwort Männlich-Weiblich. 276 Vgl. u. a. Frick, K. R. H. (2005), S. 95-129. 277 Vgl. Strohm, H. (1997), S. 162. Zu den ›Sperma-Gnostikern‹ zählte die Kirche nach Frick u. a. die Ophiten, Naassener und Ophianer, teilweise zusammengefasst unter dem Begriff ›Barbelo-Gnostiker‹. Vgl. Frick, K. R. H. (2005), S. 95, 111f. 278 Frick, K. R. H. (2005), S. 116. Frick bezieht sich mit dieser Aussage auf Vorstellungen der Phibioniten. 279 Vgl. u. a. Frick, K. R. H. (2005), S. 116-119; Strohm, H. (1997), S. 162f. 280 Frick, K. R. H. (2005), S. 152.

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2.5.6 Göttliches Schwarz: Das erste schwarze Wort Gottes Gegenüber der Assoziation der Farbe Schwarz mit der finsteren irdischen Materie ist in gnostischen Denktraditionen ebenfalls die Vorstellung einer göttlichen Schwärze präsent. Diese erschließt sich insbesondere über kabbalistische und alchemistische Traditionen, die auch zur ›schwarzen Kunst‹ gerechnet werden.281 Die Kabbala (hebräisch = ›Überlieferung‹)282 entsteht als jüdische Geheimlehre im 12. Jahrhundert.283 Sie ist von frühen gnostischen Denktraditionen beeinflusst284 und nimmt ihrerseits auf neuzeitliche Entwicklungen der christlichen Gnosis und auf den modernen Okkultismus Einfluss. Als Kabbalisten beherrschen die Schwarzkünstler die Weissage-Kunst der schwarzen Zeichen, der Zahlen und der ihnen zugeordneten Buchstaben. Die schriftlichen Zeichen symbolisieren metaphysische, abstrakte Prinzipien. Hiermit ist bereits darauf verwiesen, dass die göttliche Schwärze wiederum mit der (schwarzen) Schrift in Verbindung steht. Sie erschließt sich über das kabbalistische Gottesbild ebenso wie über alchemistische Symbole des ›Anfangs‹ der Schöpfung. Diese Aspekte einer gnostischen Schwärze seien im Folgenden skizziert. Das Gottesbild der jüdischen Kabbala ist insofern von frühen gnostischen Traditionen geprägt, als dass der biblische Gott auch hier einen Vorgänger erhält. Gegenüber der antijudaistischen Ausprägung der Gnosis, in welcher der jüdische Schöpfergott zum finsteren Demiurgen mutiert und über ihm ein anderer ›fremder‹ Gott herrscht, bleibt der jüdische Gott jedoch als alleiniger Gott bestehen; er erschafft sich durch Selbstdistanzierung als Schöpfer selbst. Ausgangspunkt des kabbalistischen Gottesbildes ist demnach »En-Sof: hebräisch ›das Unendliche‹, die in Gestaltlosigkeit verborgene Gottheit, unerkennbar in sich ruhend.«285 Dieser »Deus absconditus«, der ›geheime Gott‹, ist von »dem Schöpfer und seiner Schöpfung zu unterscheiden«.286 Die Schöpfung beginnt mit einem Selbstbeschränkungsprozess, beschrieben als »Lehre vom ›Zimzum‹«:287 281 Die ›schwarze Kunst‹ bezeichnet sowohl das mit der Gutenbergpresse entwickelte Druckverfahren als auch ›schwarze Magie‹. Im letzteren Sinne ist schwarze Kunst eine »alte Bezeichnung für Hexen- und Geisterbeschwörung, Zauberei, oft auch für Alchemie« (Neues Universal-Lexikon (1976), Stichwort schwarze Kunst) sowie für die Kabbalistik. Vgl. u. a. Vollmar, K. (1988), S. 35-37. 282 Vgl. Neues Universal-Lexikon (1976), Stichwort Kabbala. 283 Vgl. Neues Lexikon des Judentums (1998), S. 438, Stichwort Kabbala. Historische Vorläufer der Kabbala werden dort im zweiten Jahrhundert n. Chr. angesiedelt. 284 Vgl. u. a. Brumlik, M. (1992), S. 224, 231. 285 Sloterdijk, P./Macho, T. H. (1993), Anmerkung zu Bloom, H. (1993), S. 796. 286 Brumlik, M. (1992), S. 225. 287 Brumlik, M. (1992), S. 228.

114 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK »Zimzum: hebräisch, von memamzem, ›den Atem einholen‹, [ein] Terminus der lurianischen Kabbala, bedeutet die Kontraktion, Selbstbeschränkung Gottes, seinen ›Rückzug‹ von der Welt, durch den die Schöpfung erst möglich wird [...].«288

Im Anschluss an dieses ›Atemholen‹, diesen Selbstbeschränkungsprozess Gottes, entsteht ein »verlassener Raum«,289 ein »Urraum«,290 der zum Ausgangspunkt der Schöpfung wird. Und nachdem »Gott so sich selbst Raum gegeben hat, ist er in einem zweiten Schritt frei, wieder aus sich herauszugehen und sich als der Schöpfergott zu konstituieren«.291 Harold Bloom findet hierfür das Bild, dass Gott »Atembeschwerden« hatte und so die Welt erschuf.292 Es ist ein abstrakter, immaterieller Raum, der somit der irdischen Schöpfung vorausgeht und der auf die Grundlage seiner Abstraktion, d. h. auf die Schrift selbst verweist: »Der ursprüngliche Akt ist, daß Gott lehrte; das erste Lehren ist Schreiben. Zimzum ist deshalb an erster Stelle Unterweisung. En-Sof unterweist Sich selbst durch Konzentration, und was er lehrt, ist dann in der tehiru (dem verlassenen Raum) als der Buchstabe Jod sichtbar. Gott lehrt Sich selbst Seinen eigenen Namen, und so beginnt die Schöpfung. Ohne dies jemals zu sagen, sind die Kabbalisten wie die Gnostiker von einem verspäteten Gott ausgegangen.«293

Die unausgesprochene Verspätung kann darin gesehen werden, dass Gott sich einen Namen gibt, ›Ich-Sagen‹ lernt und damit sich selbst als »Vorläufer«294 besitzt, dem er eigens als verspäteter Gott folgt. Der Prozess der Selbstbenennung ist danach dieser Prozess des Rückzugs, der Distanzierung: das Atemholen Gottes, das den verlassenen Raum schafft, in dem Gottes erstes geschriebenes (schwarzes) Wort – Jod = ›Ich‹295 – (der Anfangsbuchstabe des Gottesnamen JHVH) präsent ist. In der Welt des En-Sof, dem göttlichen Ursprungsprinzip, »thront« jedoch bereits Aleph, die Eins, der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets.296 Der Selbstbenennung Gottes im Buchstaben Jod, dem zehnten Buchstaben des hebräischen Alphabets, geht hiernach bereits der schriftliche Anfangspunkt allen 288 289 290 291 292 293 294 295

Sloterdijk, P./Macho, T. H. (1993), Anmerkung zu Bloom, H. (1993), S. 796. Bloom, H. (1993), S. 791. Brumlik, M. (1992), S. 229. Brumlik, M. (1992), S. 229. Bloom , H. (1993), S. 793. Bloom, H. (1993), S. 791. Bloom, H. (1993), S. 791. Zur Deutung von ›Jod‹ als ›Ich‹ vgl. u. a. Papus (1996), S. 78. Die Anfang des 20. Jahrhunderts von Gérard Analect Vincent Encausse (1865-1916) unter dem Pseudonym ›Papus‹ vorgelegte Einführung in die jüdische Kabbala beinhaltet christliche Deutungsmuster. 296 Vgl. Papus (1996), S. 68.

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Seins, Aleph, die Eins, voraus – in der Welt des En-Sof ›unerkennbar‹, ›in sich ruhend‹. Der Raum, den En-Sof sich durch eine Art Selbstspaltung schafft, und damit Aleph (1) zum Jod (10) erweitert, ist als ein symbolischer Mutterraum zu verstehen, in dem Gott sein ›Ich‹ gebiert. Die weibliche Codierung dieses abstrakten Urraums legen jedenfalls alchemistische Symbole nahe, in denen die kabbalistischen Traditionen verarbeitet werden. So setzt der englische Alchemist Robert Fludd (1574-1637) in seinem Bilderzyklus »Geburt des Bewußtseins aus dem Schwarzen« das schwarze Viereck als Symbol des Anfangs der Schöpfung: »Zu Beginn, im Zustand des nigredo, herrscht das schwarze Viereck. An seinen vier Seiten steht: Et sic in infinitum – ›und so bis in alle Ewigkeit‹ – geschrieben.«297 ›Nigredo‹ ist also wiederum ein abstrakter Raum, ein mathematisch strukturierter ›Urgrund‹ und erinnert an den von Gott geschaffenen verlassenen Raum. Diese Assoziation wird nicht zuletzt dadurch plausibilisiert, als dass der Buchstabe Jod, der den Urraum als abstrakten Raum strukturiert, numerologisch die Zahl Vier (1+2+3+4 = 10) in sich birgt. In neognostischer Deutung wird das (Ur-)Symbol des schwarzen Vierecks an den Namen der ägyptischen Gottesmutter HATHOR und den Heiligen Gral angebunden.298 Es wird hiernach als geistig-mütterlicher Schoß inszeniert. Es kann aber – gnostisch (unaus-)gesprochen – eben auch als die dem ›hellen‹ Bewusstsein vorausgehende Lehre Gottes von sich selbst verstanden werden. Die kabbalistische Vorstellung eines sich selbst nachgeordneten Schöpfergottes scheint in der weiteren Bildfolge von Fludds Bilderzyklus verarbeitet, indem dem schwarzen Viereck als Symbol des Anfangs das Motiv des schwarzen Kreises und in der dritten Abbildung schließlich die Geburt des Bewusstseins durch das befruchtende Licht folgt: »Die sogenannte empyräische Sphäre: Das Schwarz beginnt zu brennen, der Übergang von nigredo zu albedo. Das erste von Gott, als dem männlichen Geist, geschaffene Licht trifft auf das Schwarze: Die Schöpfung beginnt.«299

Indes ist das göttliche Licht, d. h. der Geist bereits in der Welt des En-Sof wie auch im entäußerten Raum, im schwarzen Viereck, unsichtbar enthalten. Wenn alchemistische Traditionen die Farbe Schwarz mit der ›Materia Prima‹, der »schwarzen Ursubstanz der Welt«,300 in Verbindung bringen, so wird mit der schwarzen Farbe dieser ›geistigen Materie‹ an eben jene Zeichenhaftigkeit erinnert, die im schwarzen Viereck des Alchemisten Fludd 297 298 299 300

Vollmar, K. (1988), S. 26. Vgl. u. a. Papus (1981), S. X. Vollmar, K. (1988), S. 29. Bruns, M. (1997), S. 217.

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zum Ausdruck kommt – eine Schwärze, die sich als Schriftschwärze und als erstes schwarzes Wort Gottes deuten lässt. Gerade weil die Farbe Schwarz in zyklischen Denktraditionen die Konnotationen des Göttlichen, der Materie, der ›mütterlichen‹ Schöpfungspotenz und den Gedanken an Unendlichkeit zusammenbindet, erhält auch die ›geistige Schwärze‹, so ist zu schlussfolgern, ihr symbolisches Unsterblichkeits- und Ewigkeitsparadigma und einen Anschein von ›Wirklichkeit‹. Das (geistige) Schwarz erfüllt hier jedoch eben die Funktion, eine abstrakte, auf der Schrift basierende Ordnung als eine ursprüngliche Ordnung zu installieren.301 Erscheint in christlicher Denktradition Christus als schwarzes Zeichen, so ist es in der kabbalistischen Ursprungserzählung Gott selbst, der sich seinen Namen lehrt, ihn in einen geistigen Raum einschreibt bzw. als geistigen Raum erschreibt – ein Raum, der zum Ausgangspunkt der (schriftlichen) Selbstvergewisserung Gottes wie auch zum Urraum der irdischen Schöpfung wird. Die geschlechtssymbolischen Aspekte des kabbalistischen Gottesbildes konkretisieren sich schließlich entlang der weiteren Buchstabenfolge des Gottesnamens, wenn man den Ausführungen des französischen Okkultisten Papus (Gérard Analect Vincent Encausse (1865-1916)) folgt: »Aber das Ich kann sich nur begreifen durch Gegenüberstellung des Nicht-Ich. Kaum ist die Bejahung des Ich vollzogen, so tritt sofort eine Gegenwirkung des absoluten Ich auf sich selbst ein, wodurch vermittelst einer Art Teilung der Einheit eine Erkenntnis seiner eigenen Existenz erfolgt. Das ist der Ursprung der Dualität, der Gegenüberstellung, der Zweiheit, das Sinnbild des weiblichen Wesens, wie die Einheit das Sinnbild des männlichen Wesens ist. Teilt sich die Zehn [...] so erhalten wir 5, den Zahlenwert für den Buchstabe He, den zweiten Buchstaben des grossen heiligen Namens. Das He wird also das Passive darstellen, wenn Jod das Symbol des Aktiven ist, ebenso das Nicht-Ich in Beziehung zum Ich, das Weib in Beziehung zum Mann, die Substanz in Beziehung zum inneren Wesen, das Leben in Beziehung zur Seele, u. s. w.«302

Das ›Ich‹ Gottes, als männliches ›absolutes Ich‹ vorgestellt, bedarf hiernach seines Gegenübers, des weiblichen ›Nicht-Ichs‹, die geschlechtliche Dualität 301 Diese Sehnsucht nach Aufgehobenheit, Ganzheit, Ursprünglichkeit und einem ›begriffslosen‹ Identischsein lässt sich auch in Malewitschs ›Schwarzem Quadrat‹ vermuten (Kasimir Malewitsch (1878-1935) stellte dieses Gemälde 1915 in Moskau erstmals aus). Die von Malewitsch geforderte ›gegenstandslose Kunst‹, die sich in seinem Bild des ›Schwarzen Quadrats‹ als Abstraktion äußert, diente ihm dazu, der Abstraktion zu ›entkommen‹. Es ist die paradox erscheinende Sehnsucht nach einer »›absoluten Ordnung‹«, in der nicht Rationalität, sondern »reine[] Empfindung« herrscht. Vgl. Malewitsch, Kasimir S. 1927. Der Suprematismus. In: Wingler, Hans M. (Hrsg.). 1980. Neue Bauhausbücher. Mainz/Berlin, S. 96, 65. Zit. in: Braun, C. v. (2001), S. 236. 302 Papus (1996), S. 82.

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wird zum integralen, ›namentlichen‹ Bestandteil der Bewusstwerdung des männlichen Geistes seiner selbst. Wenn Papus, der Anfang des 20. Jahrhunderts diese kabbalistische Interpretation vorlegte, hier den Begriff des ›absoluten Ichs‹ verwendet, so ist auf die Verarbeitung des philosophischen Idealismus verwiesen. Schreibt Papus demnach den kabbalistischen Traditionen ›nachträglich‹ idealistische Momente ein, so ist umgekehrt anzufügen, dass die Kabbala ihrerseits den Idealismus beeinflusste.303 Und wenn Papus die geschlechtssymbolischen Konnotationen von ›Ich‹ und ›Nicht-Ich‹ im Gottesnamen durch die Kategorien ›Mann‹ und ›Frau‹ versinnbildlicht, so zeigt sich, dass dieser Charakterisierungszusammenhang bereits von einer Naturalisierung der Geschlechtssymbolik geleitet ist, die erst 400 Jahre nach der Entstehung der Kabbala, d. h. mit der Aufklärung virulent wird.

2.5.7 Schlussfolgerung Die frühen gnostischen Denktraditionen radikalisieren den Geist-MaterieDualismus, der auf der Grundlage des Abstraktionsprozesses durch die griechisch-phonetische Alphabetschrift entstand.304 Diese Radikalisierung zeigt sich als radikaler Antikosmismus, der gegenüber der paulinischen und johannäischen Tradition die Verteufelung des jüdischen Schöpfergottes und dessen Transformation zum ›weiblichen‹ Demiurgen einschließt. Hiermit erhält zugleich der Begriff ›Logos‹ in seiner Bedeutung von ›Lüge‹ einen Namen. Denn aus der Wurzel des Begriffs ›leg‹ leiten sich nicht nur die Begriffe ›Licht‹, ›Laut‹ und ›Rede‹ her, sondern auch die ›Lüge‹, das ›Verborgene‹, das ›Falsche‹, der ›Trug‹:305 Der Schöpfergott, der Logos, das (monotheistisch) männliche Lichtprinzip, wird hier zum ›Lügner‹, seine Schöpfung zum ›Lügengewebe‹; die irdische Welt erscheint als ›falsche‹ Welt, als Finsternis des (weiblichen) Fleisches. Der fremde Gott, der Gott des Nichts und das gnostische Lichtreich insgesamt hingegen werden als ›wahre‹ geistige Ordnung vorgeschaltet: Über die Bilder der Androgynie und Syzygie wird diese gnostisch geistige Ordnung als eine ›ganzheitliche‹, ursprüngliche Ordnung inszeniert; hier treffen die Dualismen von Männlichkeit-Weiblichkeit, Aktivität-Passivität und selbst Licht-Finsternis im ›Gott des Nichts‹ zusammen, erscheinen vereint. Es zeigt sich damit eine Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit, die in gewisser Weise als eine Sehnsucht nach Aufhebung der (durch den Abstraktionsprozess entstandenen) Spaltung von Geist und Materie interpretiert werden kann, eine Ganzheitlichkeit, die zu zyklischen Traditionen zurückzukehren wollen scheint. Die gnostische Ganzheitlichkeit bedient sich 303 Vgl. Brumlik, M. (1992), S. 234f. 304 Zum Grundgedanken des Zusammenhangs von Gnosis und Alphabetschrift vgl. Braun, C. v. (2001), S. 145-147. 305 Vgl. Braun, C. v. (1999), S. 102.

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dabei der Bilder des zyklischen Mythos des ›Heiligen Paares‹, überträgt sie auf die Ebene des Geistes und schließt zugleich die Radikalisierung der Spaltung von Geist und Materie ein. Die gnostische Degradierung des jüdischen Schöpfergottes, welcher als Logos/abstraktes Lichtprinzip der Abstraktion ›Sichtbarkeit‹ verleiht, kann zudem als ein Bestreben gedeutet werden, den Abstraktionsprozess als solchen zu ›verdunkeln‹ – d. h. aber auch, den abstrakten Charakter, welcher der ›ganzheitlichen‹ geistigen Ordnung der Gnosis selbst zugrunde liegt, zu ›vertuschen‹. Das abendländisch dualistische Grundschema Schwarz/Finsternis/Weiblichkeit/Materie versus Weiß/Licht/Männlichkeit/Geist durchzieht die gnostische antikosmische Weltanschauung und ihre Schöpfungsmythen entweder auf der Grundlage eines gesetzten radikalen Urdualismus oder kommt als Resultat eines Entfremdungsprozesses vom geistig-göttlichen Ursprungsprinzip zur Geltung. Differenziert werden diese farb- und geschlechtssymbolischen Zusammenhänge auf der Ebene des Geistes in den Androgynie- und SyzygieKonzepten, in dem über die Gegensätze erhabenen Gott/Vorvater sowie entlang der geschlechtlichen Vereinigungsmetaphern, welche die geistige Befruchtung kennzeichnen. Für den Menschen ist der Grunddualismus konstitutiv, denn der Mensch ist in eine dämonisch weibliche Materie und seine lichte, gottgleiche, geistig-männliche ›Natur‹ gespalten. Durch die Einteilung in Hyliker, Psychiker und Pneumatiker ergeben sich weitere Unterstrukturierungen sowie verschiedene Überschneidungen farb- und geschlechtssymbolischer Codierungen. So sind die Pneumatiker als ›Geistesmenschen‹ mit der Lichtund Männlichkeitssymbolik assoziiert; ihre (reine) Seele ist zugleich durch symbolische Bilder von Weiblichkeit charakterisiert; und ihre Erlösung erscheint als Resultat einer geistigen Befruchtung, die mit dem Aufstieg ins Geist-/Lichtreich in einen Zustand erlösender Vermännlichung mündet. Unter Bezugnahme auf die gnostische Vorstellung, dass »es den Menschen in der jenseitigen Welt, als Geist oder als Licht« gibt und der »irdische Mensch [...] nur als Simulakrum des jenseitigen Menschen« erscheint,306 schlägt von Braun vor, den Geist/das Licht als »abstrakte[s] Zeichen«307 zu deuten. In Form des Pneumatikers als ›Geistesmensch‹ erhält das abstrakte Zeichen/das Licht allerdings bereits eine diesseitige menschliche Gestalt – indes nicht im Sinne einer fleischlichen Verkörperung, sondern in Form der gottgleichen/geistigen ›Natur‹, die den Pneumatiker zur Transzendenz, d. h. zur erlösenden Entkörperung seiner selbst bestimmt sein lässt. Den kabbalistischen und von ihnen beeinflussten alchemistischen Traditionen ist – gegenüber der Negativierung der Farbe Schwarz als Symbol der irdischen Materie – eine Aufwertung göttlicher, vorweltlicher, geistiger 306 Braun, C. v. (2001), S. 160. 307 Braun, C. v. (2001), S. 160.

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Schwärze inhärent, die sich mit der Schriftschwärze in Verbindung bringen lässt. Über die Selbstbelehrung Gottes, das Schreiben seines eigenen Namens, erschließt sich ein vorgeordnetes Stadium von Gottes dunkler Unbewusstheit seiner selbst, ein ›geheimer Gott‹, dessen Geheimnis – analog zum fremden, unbekannten Gott der Gnostiker – Bilder göttlicher Dunkelheit impliziert. Der Beginn der eigentlichen göttlichen Namenslehre verursacht die Entstehung eines geistigen Vorstadiums irdischer Schöpfung, das als Schreibprozess Gottes seiner selbst erkenntlich wird. Damit gehen weiblich codierte Bilder einer geordneten Schwärze einher, die dem Licht Gottes und seiner Schöpfung einen geistigen ›Geburtsraum‹ bereitstellen. Ein geschlechtlicher Dualismus ist kabbalistischen Deutungen des Gottesnamen schließlich selbst eingeschrieben. Die modernen okkultistisch-theosophischen Traditionen werden die symbolischen Bilder der göttlichen Schwärze buchstäblich als göttlichen dunklen »›Mutter-Raum‹« und als geistig-mütterliche Substanz vorstellen und zum Bestandteil einer ›ganzheitlichen‹ Weltanschauung ausarbeiten308 – die ihrerseits mit einer Entthronisierung des jüdischen Schöpfergottes einhergeht.

308 Vgl. Blavatsky, H. P. (1973), S. 38.

3 Weißw erde n: Historisc he Vorlä ufe r und An fä nge rassenthe oretisc her Farbge bung 1

3.1 Einleitung Rassentheoretische Ordnungsmuster sind historisch entwickelte soziale Konstruktionen. Erst im Zuge des europäischen Säkularisierungsprozesses werden Schwarz und Weiß zu anthropologischen Kategorien konstruiert. Das vorliegende Kapitel verhandelt diese Ausgangsthesen und fokussiert die Frage nach der konstitutiven Bedeutung abendländischer Schwarz-Weiß-Symbolik im säkularen Rassediskurs: Inwiefern wandeln sich die Farben Schwarz und Weiß mit dem Einsetzen der europäischen Säkularisierung diskursiv von mythologischen und religiösen Symbolen zu anthropologischen Kategorien? Inwiefern scheinen religiöse Denk- und Deutungsmuster im rassentheoretischen 1

Grundüberlegungen und Vorarbeiten zu diesem Kapitel (wie auch zu den farbsymbolischen Traditionskontexten des Abendlandes) basieren auf meiner Magisterarbeit. Vgl. Husmann, J. (2003). Vor dem Hintergrund, dass sich in Eske Wollrads Buch »Weißsein im Widerspruch« (vgl. Wollrad, E. (2005)) – v. a. im historischen Teil – teils ähnlich anmutende Überschriften (Schlüsselbegriffe) finden, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass ich die Kapitelüberschriften der vorliegenden Arbeit aus meiner Magisterarbeit generiert habe, die Wollrads Studie zeitlich vorausgeht. Der Klarheit halber seien hier einige der jeweiligen Kapitelüberschriften gegenübergestellt (Herv. J. H.): Husmann: »Historische Anfänge der Konstruktion von Weißsein«; Wollrad: »Die Erfindung von Weißsein: Historische, theologische und philosophische Aspekte der Genese eines Mythos«; Husmann: »›Weiß-Werden‹ und der Beginn des (vor-)wissenschaftlichen Rassismus im 17. Jahrhundert«; Wollrad: »Weiß-Werden: Zur Politik der Rassifizierung«; Husmann: »Säkularisierungsaspekte der Renaissance – ›weißes‹ Subjekt – schwarz-weiße Natur«; Wollrad: »Die Feminisierung der Anderen: Die Schwarze Natur«; Husmann: »Die Norm entwickelt sich – das Licht kommt in die Welt«; Wollrad: »›Ich bin das Licht der Welt‹. Christliche Symbolik und weibliche Mission«. Vgl. Husmann, J. (2003), S. 1; vgl. Wollrad, E. (2005), S. 5-7.

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Konstruktionsprozess von Weißsein als säkularer Dominanzkategorie auf? Es wird den einsetzenden Naturalisierungsprozessen schwarz-weiß-symbolischer Ordnungsmuster im Sinne einer »Verweltlichung religiöser Denkstrukturen«2 nachgegangen: Hiermit rücken die im vorangegangenen Kapitel skizzierten schwarz-weiß-symbolischen Traditionskontexte des Abendlandes (d. h. farbund geschlechtssymbolische Codierungen des Geist-Materie-Dualismus, antike naturphilosophische, mythologische und religiöse Natur- und Leibkonzepte und Gottesbilder) in ihrer Bedeutung für säkulare Naturentwürfe, anthropologische Kategorienbildungen und geschlechtsspezifisch konstruierte Rassismen in den Blickpunkt des Interesses. Es geht damit um die Hinterfragung der imaginären Gehalte nicht nur der rassentheoretischen Typenkonstruktionen, sondern der ihnen unterlegten Naturkonzepte. Daran schließen sich Fragen nach säkularen Konstruktionen einer reinen, geistig strukturierten Materie und ihrer ›unreinen‹ Gegenbilder an. Säkularisierungsprozesse des Gottesbildes sollen dabei im Sinne einer ›kulturellen Menschwerdung Gottes‹ und einer farblich-visuellen ›Weltwerdung des Lichts‹ fokussiert werden. Ferner wird die Frage verfolgt, inwiefern die Kategorie des ›Wissens‹ über die ihr eingeschriebene Lichtsymbolik farbliche Konstruktionsprozesse von Weißsein konstituiert und die Entstehung hegemonialer Weißer Männlichkeit attributiv bestimmt. Ein erstes Unterkapitel widmet sich dem historischen Beginn des Säkularisierungsprozesses in der Frühen Neuzeit: Hierbei geht es um die Auseinandersetzung mit frühneuzeitlichen philosophischen Subjektbestimmungen, um Neukonstruktionen der Natur, die auf der Grundlage technischer Visualisierungsprozesse erfolgen und um ethnographische und naturkundliche Kategorisierungen in ihrer Bedeutung für historisch folgende Rassendiskurse. Das zweite Unterkapitel beschäftigt sich daran anschließend mit den historischen Anfängen philosophischer und naturwissenschaftlicher Rassenkonstruktionen des 17. und 18. Jahrhunderts.

3 . 2 L i c h t e s S u b j e k t – s c hw a r z - w e i ß e N a t u r 3.2.1 Vorbemerkung Mehrere Aspekte sprechen dafür, die historischen Vorläufer der rassentheoretischen Konstruktion von Weißsein zu Beginn der Frühen Neuzeit zu verorten, in jenem Zeitrahmen also, der mit dem Beginn des Säkularisierungsprozesses in Europa assoziiert wird. Es ist die historische Phase der ersten Übergänge vom christlichen zum säkularen Weltbild, vom »Glauben zum Wis-

2

Braun, C. v. (2001), S. 438.

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sen«,3 vom Stand zur Klasse. Verbunden mit dem Säkularisierungsprozess ist der Wandel der medialen Bedingungen der Wissensproduktion. Hierzu zählen Buchdruck, Bildproduktion, die Entwicklung der Zentralperspektive, d. h. die kulturhistorisch spezifischen Medien, welche die Grundlage der schriftlichen und bildlichen Repräsentation und Konstruktion von ›Wirklichkeit‹ bilden, und zwar in technischer, subjekttheoretischer wie in sozio-politischer Hinsicht. Die Diskursproduzenten selbst verändern und erweitern sich gegenüber klerikalen Kräften. Es sind – neben den europäischen Theologen und Missionaren – Philosophen, weltliche Kolonisatoren, Künstler, Geschäfts- und ›Forschungsreisende‹, die im 15. und 16. Jahrhundert den europäischen Diskurs der Verhältnisbestimmung von Gott und dem Menschen, die Verhandlungen des Menschseins, bestimmen und verändern. ›Menschheit‹ beginnt sich als europäisch-säkulare Größe überhaupt erst zu entwickeln. Setzen mit Beginn der Frühen Neuzeit auch noch keine säkularen Rassenkonstruktionen ein, so lässt sich dennoch aus zwei Gründen von den historischen Anfängen der Konstruktion von Weißsein sprechen: Erstens liegen hier die historischen Ursprünge eurozentrischer Kategorienbildung, die mit dem Einsetzen des Kolonialismus und den frühen ethnographischen Zeugnissen verbunden sind. Und zweitens – wie im Folgenden zunächst zu zeigen sein wird – bilden philosophische Diskurse säkularer Subjektbestimmung im Kontext des ›demiurgischen Humanismus‹4 die Hintergründe für eine kulturelle Identifizierungslogik, die das farbliche Weißwerden des Europäers in historischer Folge bestimmen wird. Dieses ›philosophische‹ und zunächst ›immaterielle‹ Weißwerden, das über die Aneignung göttlicher Lichtsymbolik erfolgt, ist zugleich mit der diskursiven Aneignung einer göttlichen Blickposition im Rahmen neuzeitlicher Visualisierungsprozesse und einem ›reinigenden Blick‹ auf die Natur verbunden.

3 4

El-Tayeb beschreibt diesen Wandel für das 17. Jahrhundert. Vgl. El-Tayeb, F. (2001), S. 11. Vgl. Sloterdijk, P. (1993), S. 52-54.

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3.2.2 Demiurgischer Humanismus – Weltwerdung des Lichts Ebenbildlichkeit Gottes »Entdecken, erfinden, hervorbringen, ausarbeiten, vollenden, überbieten: die menschliche vita activa organisiert sich als ein epochales demiurgisches Projekt.« 5 »Der Mensch ist der Gott der zweiten Schöpfungswoche.«6

Licht: Sehen – Erkennen – Ordnen – Schaffen – Erzeugen – im neuzeitlichen Humanismus und der damit verbundenen Naturphilosophie vollzieht sich eine ›kulturelle Menschwerdung Gottes‹, die in einer neuen Betonung der ›Ebenbildlichkeit‹ des Menschen zu Gott ihren Ausdruck findet: »von Ficino bis Emerson übersetzt sich der christliche Funke in eine Lehre des begeisterten Selbstvertrauens. Die Nachahmung Christi tritt in den Hintergrund zugunsten einer Nachahmung des Vaters und des Geistes. Die imitatio Patris setzt die schöpferische Neuverbindung von Wissen, Wollen und Können frei: hier wird die theologische Gußform menschlicher Werk-Kompetenzen sozusagen serienreif gemacht. Die imitatio Spiritus hingegen ermöglicht nachchristliche Formen von Enthusiasmus, die unter dem römischen Begriff ›Genius‹ Epoche machen werden.«7

Der neuzeitliche Gedanke der ›Ebenbildlichkeit‹ führt demnach zum weltlichen Anspruch, der Mensch habe auf Erden den schöpferischen Aspekt Gottes nachzuvollziehen.8 »Der Mensch als Magier zwischen Himmel und Erde, der durch seine Ideen, Entwürfe und Taten etwas bewirken, dem Plan des Schöpfers zur Seite treten kann, ja selbst schöpferisch ist, wird zur beflügelnden Idee des Renaissancedenkens.«9

Mit dem ›demiurgischen Humanismus‹ geht entsprechend die Überschreibung symbolisch-göttlicher Attribute an das sich allmählich formierende europäische Vernunftsubjekt einher: Geist, Rationalität, Aktivität, Schöpfungskraft – das geistig-männliche Schöpfungsprinzip, der Logos, das ›Licht der göttlichen Vernunft‹ erfasst säkulare Bestimmungen des Menschseins. Es ist dabei in 5 6 7 8 9

Sloterdijk, P. (1993), S. 52. Sloterdijk, P. (1993), S. 53. Sloterdijk, P. (1993), S. 52. Vgl. Propyläen Kunstgeschichte (1990), S. 69-71. Enzyklopädie Philosophie (1999), Bd. 1, S. 899, Stichwort Natur.

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erster Linie der neuzeitliche Künstler, der erste ›moderne‹ Naturwissenschaftler,10 dem diese göttlichen Attribute zufallen: Denn der Künstler ist, wie der italienische Arzt, Humanist und Neuplatoniker Marsiglio Ficino (1433-1499) konstatiert, dem ›göttlichen Künstler‹ ähnlich – eine Selbstermächtigung, die den neuplatonisch inspirierten Humanismus und kunsttheoretische Ansätze bestimmt.11 Es wird hiermit bereits deutlich, dass die »schöpferische Neuverbindung von Wissen, Wollen und Können«12 zwar in Abhängigkeit zum göttlichen Schöpfer steht, jedoch zugleich eine Loslösung aus den vorangegangenen Glaubensstrukturen und kirchlichen Dogmen impliziert: »Der Mensch findet nicht eine objektiv feste Weltstruktur vor, die sich ihm verbindlich darbietet und in die er sich einzufügen hat, sondern er wird selbst zum Prinzip einer von ihm ausstrahlenden Strukturbildung, und indem er sich selbst als sapiens verwirklicht, gewinnt er jene weltmächtige Ausstrahlungskraft: Selbstverwirklichung wird zur Bedingung von Weltverwirklichung.«13

Wenn Blumenberg den Begriff der ›Ausstrahlung‹ verwendet, so unter bewusster Bezugnahme auf einen Zusammenhang von Lichtmetaphorik und Erkenntnis, der an eine virulent werdende »Lichthaftigkeit des menschlichen Geistes«14 anschließt. Es ist ein Verweis auf den »Anbruch einer neuen Epoche«, mit welcher die Vorstellung einhergeht, »daß vom Menschen – zunächst in seiner höchsten Verwirklichung, dem studiosus homo – gesagt werden kann, er sei naturalis lux.«15

10 » Die italienischen Künstler begannen im 15. Jahrhundert mit dem Studium der Natur, der Mathematik, Optik und Perspektive. Auch die Künstler des Mittelalters hatten Naturbeobachtungen angestellt [...]. Jetzt aber, im Quattrocento, wurden Beobachtungen und Experimente konsequent und zielgerecht durchgeführt [...].« Propyläen Kunstgeschichte (1990), S. 75. Zur neuzeitlichen Verwobenheit von Kunst, Anatomie und Medizin vgl. Geschichte der Medizin (1992), S. 868. Der Begriff ›Naturwissenschaft‹ wird zwar erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts geprägt. Bereits in der Neuzeit erfolgt jedoch eine Trennung von empirischen Wissenschaften und der Philosophie. Giordano Bruno fordert im 16. Jahrhundert die Autonomie der Wissenschaft gegenüber der Theologie. Vgl. Enzyklopädie Philosophie (1999), Bd. 1, S. 930-932, Stichwort Naturwissenschaften. 11 Vgl. Propyläen Kunstgeschichte (1990), S. 67f., 130f. Den Entwurf vom Künstler als ›göttlichem Schöpfer‹ arbeitet Georgio Vasari schließlich im 16. Jahrhundert zu einer der ersten Genie-Konzeptionen aus. Vgl. u. a. Christadler, M. (1997). 12 Sloterdijk, P. (1993), S. 52. 13 Blumenberg, H. (2001), S. 167. 14 Blumenberg, H. (2001), S. 167. 15 Blumenberg, H. (2001), S. 167. Blumenberg nimmt hier Bezug auf Bovillus, Carolus. 1509. Liber de sapiente.

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Die mit der neuzeitlichen Etablierung der göttlichen Schöpferposition des Menschen einhergehende diskursive Aneignung göttlicher Attribute kann hiernach als eine Überschreibung der Lichtsymbolik bzw. der symbolischen ›Weißheit‹ Gottes gefasst werden: Dabei verschiebt sich gegenüber den christlichen Traditionskontexten der »Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi« (2. Kor 4,6) ein Zusammenhang von Glaube und Erkenntnis zugunsten einer Autonomisierung der menschlichen Erkenntnis und der damit verbundenen ›Lichthaftigkeit des Geistes‹. Ist die Identifizierung des (menschlichen) Geistes mit dem Licht bereits in der griechischen Antike präsent16 und findet sich im christlichen Mittelalter die Formulierung vom »›lumen naturale‹« etwa schon bei Thomas von Aquin (1225-1274),17 so erfolgt nun jedoch eine »Umkehrung« der »Richtung« des Lichts: statt eines Prozesses des Empfangens des Lichts – »von außen nach innen« – hin zu einer ›Ausstrahlung‹ von innen nach außen.18 Das ›naturalis lux‹ beginnt in der Frühen Neuzeit damit einen menschlichen IstZustand zu beschreiben. Dabei wird die Verortung des Lichts im Menschen, welches mit der göttlichen Vernunft in Verbindung steht, (noch) nicht wissenschaftlich anthropologisiert und in rassentheoretisch systematischem Sinne farblich visualisiert, sondern ist im Neuplatonismus metaphysisch begründet. Vollzieht sich die Tendenz einer Verweltlichung des Lichts im Menschen über eine Identifizierung mit Gott, so steht der Verweltlichungsgedanke als solcher mit Christus als Welt gewordenem Licht in Verbindung. Zugleich lassen sich Modifizierungen gnostischer Traditionskontexte ausmachen. Gegenüber der frühgnostischen Vorstellung der Gefangenschaft des Lichts im (fleischlichen) Menschen verheißt das ›naturalis lux‹ dabei nicht ein Versprechen auf eine perspektivische Befreiung aus der finsteren Materie (den erlösenden Aufstieg ins geistige Reich des Lichts), sondern eine Form der Freiheit zur schöpferischen Tätigkeit, welche gerade die Neukonstruktion der Materie hervorbringt, wie der nächste Abschnitt verdeutlichen wird. Und gegenüber der exklusiven Position des auserwählten ›pneumatikois‹, des ›Geistesmenschen‹ der frühen Gnosis, der seine gottgleiche Natur einer geistigen Befruchtung verdankt, ist der neognostisch modifizierte ›Gott-Mensch‹ der Frühen Neuzeit in Gestalt des Künstlers bzw. als ›studiosus homo‹, als schöpferisch tätiger ›Geistesmensch‹, selbst der geistigen Befruchtung fähig. Die medialen Bedingungen dieser geistigen Schöpfungspotenz umschließen Prozesse einer Aneignung der Blickposition Gottes, über welche sich der christlich tradierte

16 Vgl. Wörterbuch der philosophischen Begriffe (1904), Stichwort lumen. 17 Vgl. Wörterbuch der philosophischen Begriffe (1904), Stichwort lumen. 18 Blumenberg, H. (2001), S. 167, Anm. 87. Blumenberg erläutert diese Beschreibung des ›Richtungswechsels‹ des Lichts in Gegenüberstellung von Aristoteles’ Ausführungen in dessen Schrift »De anima III« und neuzeitlichen Neuerungen.

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Sinnzusammenhang von Glauben, Wissen, Erkenntnis und Sehen zugunsten eines säkularen »sehende[n] Erkennen[s]«19 verschiebt.

Lichtblick: ›Reinigung‹ der Natur »Von nun an gilt das sehende Erkennen – in der Kunst wie in der Wissenschaft – als ›reinigend‹, weil es auf einem Vorgang des Abstrahierens beruht. Die Zentralperspektive wie die Entwicklung der technischen Sehgeräte, die einen Blick auf Distanz und ein ›penetrierendes‹ Sehen ermöglichen, tragen das ihre zu dieser Veränderung bei.«20

Die zentralperspektivische Architektur und Malerei der Renaissance verdeutlicht einen visuell strukturierenden Ordnungsprozess, mit dem die zentrale Stellung des Menschen als sehendes – und damit definierendes – Subjekt manifestiert wird. Die Definitionsmacht des Blicks, die im Mittelalter noch Gott vorbehalten war, geht auf den Menschen über,21 eine Positionsverschiebung, welche die Subjektwerdung konstituiert. Der Künstler beginnt – als sehendes Subjekt – die irdische Wirklichkeit nach abstrakten, rationalen Gesetzen zu strukturieren, Welt und Natur dem (zentralperspektivisch) ordnenden Blick zu unterwerfen. Es etabliert sich ein systematisierender Blick, der ›Ordnung‹ in die Natur bringt; es ist ein klassifizierender Blick, der Ordnung und Unordnung, (Form-)Reinheit und Unreinheit, Schönheit und Hässlichkeit der Naturerscheinungen trennt. Und es ist ein reinigender Blick auf die Natur, der durch die Doppelposition des neuzeitlichen Künstlers als erstem ›modernen‹ Naturwissenschaftler Abstraktionsprozesse einer ›Reinigung‹ der Materie mit ›objektivem‹ Wissen um die Natur verbindet. (So werden u. a. Anatomie, Proportionslehre, Physiognomik und Bewegungslehre als ›kunst-wissenschaftliche‹ Konzeptionen vom Menschen etabliert, die zugleich als Körperstudien Naturstudien darstellen und heute als erste wissenschaftliche Zeugnisse im Sinne der modernen Naturwissenschaften gelten22). Die neuplatonisch inspirierte Kunsttheorie des 15. Jahrhunderts formuliert in Anlehnung an antike Auffassungen sowohl die Aufgabe einer unmittelbaren, exakten Wiedergabe der Natur, welche »die Forderung einer formalen und objektiven Richtigkeit enthielt«,23 als auch die Erhöhung, Perfektionierung bzw. ›Überwindung‹ der Natur, die unter dem Imperativ der Darstellung des ›Schönen‹ gefasst wird.

19 20 21 22 23

Braun, C. v. (1997), S. 23. Braun, C. v. (1997), S. 23. Vgl. Braun, C. v. (2001), S. 211-213, 224. Vgl. u. a. Geschichte der Medizin (1992), S. 868f. Panofsky, E. (1960), S. 24.

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Die vollkommene, schöne Natur impliziert einen Zusammenhang von mathematischer Formreinheit, Schönheit, Wahrheit und Vernunft, den es zu visualisieren, aus der vorzufindenden Vielfalt der Erscheinungen zu abstrahieren gilt. Davon ausgehend, dass die göttliche Vernunft in der Natur angelegt sei, müsse ihr der Künstler aus sich selbst heraus zur Sichtbarkeit verhelfen. Für den Neuplatoniker Ficino bedeutet dies: »Schön ist dasjenige irdische Ding, das die meiste Übereinstimmung mit der Idee der Schönheit (und zugleich mit seiner eigenen Idee) besitzt, und wir erkennen diese Übereinstimmung, indem wir die sinnliche Erscheinung auf ihre in unserem Innern bewahrte ›formula‹ zurückbeziehen.«24

Die neuplatonischen Vorstellungen gehen demnach davon aus, dass unveränderliche, geistige und zeitlose Ideen, verstanden als göttlich-metaphysische Realitäten, als ›Eindrücke‹ (lat.: formulae), im menschlichen Geist existieren. Die Materie sei von diesen Ideen nur ein schwacher Abglanz.25 Die schöne, göttliche Natur, die es zu erfassen gilt, erweist sich als abstrakter Naturgesetzeskanon mathematischer Berechenbarkeit, als geistige ›Licht-Natur‹ hinter der äußeren sichtbaren Natur, womit antike Traditionen reartikuliert werden. In den Worten des italienischen Architekten und Kunsttheoretikers Leone Battista Alberti (1404-1472) heißt das: »Die Schönheit ist eine gewisse Übereinstimmung und ein Zusammenklang der Teile zu einem Ganzen gemäß einer Zahl, Proportionalität und Ordnung, so wie es die Concinnitas, d. h. das absolute und oberste Naturgesetz fordert.«26

Unter Berufung auf rationale, mathematische Gesetzmäßigkeiten, die in der Natur angelegt, nicht aber immer von der Natur verwirklicht würden, äußert Alberti die Aussicht, das Studium der Natur führe von selbst, durch die Vernunft quasi natürlich, zu jenen Auffassungen von Schönheit und damit auch Wahrheit, wie sie bereits die antiken Künstler zum Ausdruck gebracht hatten.27 Die Entsprechung von Schönheit, Wahrheit und Rationalität verbindet sich buchstäblich mit dem Licht der göttlichen Vernunft: So bezeichnet Ficino die ›Schönheit‹ in neuplatonisch-metaphysischem Sinne als »Strahl von Gottes Angesicht«28 oder auch als »Sieg der göttlichen Vernunft über die Materie«.29 Die irdische Materie tritt hier als ›Widersacherin‹ in Erscheinung, die 24 25 26 27 28 29

Panofsky, E. (1960), S. 30. Vgl. Panofsky, E. (1960), S. 30. Alberti, Leone Batista: de re aedif. IX, 5. Zit. in: Panofsky, E. (1960), S. 28. Vgl. Propyläen Kunstgeschichte (1990), S. 69f. Ficino, Marsiglio: Opera II, S. 1336ff. Zit. in: Panofsky, E. (1960), S. 28. Ficino, Marsiglio: Opera II, S. 1576. Zit. in: Panofsky, E. (1960), S. 28.

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es durch die Vernunft zu zähmen, zu besiegen gilt. Und es ist der durchleuchtende Blick des Künstlers als Wissenschaftler, des Trägers des Lichts der göttlichen Vernunft, in dessen Geist die (ewigen) lichten Ideen gespiegelt werden, ein Blick, welcher die Natur im demiurgischen Schöpfungsprozess zweiter Ordnung mittels des zentralperspektivischen Bildes ›zähmt‹, ordnet, die geistigen Naturgesetze visualisiert. Die weiblich symbolisierte Natur erscheint diesem männlich codierten Blick30 als objektiv ›lesbar‹, ›durchleuchtbar‹, ›durchdringbar‹, ihre Überbietung in ihren abstrakten Gesetzen selbst enthalten. Bezieht der medial konstruierte aktive, schöpferische Blick seine männliche Codierung aus einer kulturellen Symbolik, die an den Logos als männlichem Schöpfungsprinzip anschließt,31 so lässt sich über die Verbindung von Licht und Logos von einem ›lichten‹, symbolisch weißen Blick sprechen – dem »sehende[n] Erkennen« als einem »›penetrierende[n]‹ Sehen«32 ist der reinigende ›Lichtblick‹ inhärent. Die Visualisierungstechnik der Zentralperspektive als solche führte zu neuen Formen der Wirklichkeitskonstruktion und -suggestion und »das perspektivisch konstruierte Bild« bot in seiner Bedeutung als »Zeugnis ›wissenschaftlicher‹ Kunst [...] auch Gewähr für Schönheit, da in ihm nach einem besonderen Harmonieprinzip alle Elemente der geometrischen Ordnung unterworfen waren.«33

Zugleich transportiert das technisch konstruierte Bild als Medium naturalistischer Abbildung den Gedanken an Wahrheit, der sich aus der Annahme einer ›exakten‹ Wiedergabe bzw. Spiegelung von Wirklichkeit ergibt. »Allerdings handelt es sich um eine sichtbare ›Wirklichkeit‹, die durch die Bilder selbst konstruiert wird.«34 Und die Illusion der Wirklichkeitsentsprechung ist dem zentralperspektivischen Bild, wie Erwin Panofsky gezeigt hat, schon als optisch technische ›Verzerrung‹ eingeschrieben.35 Das technisch konstruierte Bild ist danach als Visualisierungstechnik des Abstrakten zu fassen: »Führte die Alphabetschrift zu einem Prozeß der Entkörperung, so sind die technischen Bilder als Bild gewordene Schrift zu begreifen.«36 Wenn Alberti die Farbe Weiß aus der Reihe der ›veri colori‹, der ›wahren Farben‹, heraushebt und kunsttheoretisch definiert, dass Weiß das Licht repräsentiere,37 so lässt sich mutmaßen, dass diese Definition auch auf das wei30 31 32 33 34 35 36 37

Vgl. Braun, C. v. (2001), S. 207-236. Vgl. u. a. Braun, C. v. (2001), S. 211-213. Braun, C. v. (1997), S. 23. Propyläen Kunstgeschichte (1990), S. 76. Braun, C. v. (2001), S. 215. Vgl. Panofsky, E. (1989); Braun, C. v. (2001), S. 213. Braun, C. v. (2001), S. 215. Vgl. Bruns, M. (1997), S. 192.

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ße Blatt bzw. die weiße Leinwand rückbezogen wurde. Die materielle Basis, dem Geistigen bildlich Ausdruck zu verschaffen, würde hiernach schon das Geistige, das Licht, und eine unbeschriebene, jungfräuliche ›geistige Materie‹ symbolisieren. Die zahlreichen Weiblichkeitsdarstellungen der Renaissance hingegen können in ihrer Schönheit als visuelle Verkörperung der geistigabstrakten, göttlichen Natur verstanden werden: Die Venus-Bilder transportieren dabei Vorstellungen einer göttlichen Natur, die sich dem ›männlichen Blick‹ förmlich entschleiert.38 Und ihre strahlende Weiße spiegelt, so lässt sich anschließen, das Natur gewordene Licht der göttlichen Vernunft. Das mit Tizians Gemälde »Laura dei Dianti« (ca. 1523) beginnende Bildmotiv der Weißen Aristokratin mit dem (meist kindlichen) ›Mohrenpagen‹, das bis ins 18. Jahrhundert in zahlreichen Variationen erscheint, gibt einerseits inhaltlich Aufschluss über die kolonialistischen Herrschaftsverhältnisse.39 Andererseits kann das Bildmotiv aber auch, wie hier lediglich angedeutet sei, in seiner Überzeichnung eines Schwarz-Weiß-Kontrastes als Visualisierung der Zeichenhaftigkeit des Mediums selbst verstanden werden: Als Sinnbild des weißen Blattes und schwarzen Zeichens, als Bild gewordene Schrift. Es soll an dieser Stelle zunächst festgehalten werden, dass sich mit dem Einsetzen des Säkularisierungsprozesses in der Frühen Neuzeit Tendenzen einer Verweltlichung des göttlichen Lichts in zwei verschiedenen Formen vollziehen: Über die diskursive Aneignung der Position Gottes und göttlicher Schöpfungspotenz etabliert sich im Kontext des demiurgischen Humanismus ein männliches Subjekt, dessen Lichthaftigkeit sich aus dem Licht Gottes und Christi ableitet und zugleich über die Kategorie des Wissens als (sehendes) Licht-Ich konstituiert wird. Die Visualisierungstechnik der Zentralperspektive ermöglicht und befördert die visuelle Neukonstruktion einer göttlichen (Licht)Natur, die im strahlend weißen weiblichen Körper ihren weltlichen Ausdruck findet. Die ›Reinigungsprozesse‹ der Materie, d. h. die abstrakte visuelle Neukonstruktion der Natur, zeigt sich zugleich in den Körperstudien als geometrische Reinheit der Körperformen. Es etablieren sich, anschließend an antike Vorbilder, mit diesen Studien duale geschlechtliche Körperbilder, und der männliche Körper wird zur menschlichen Norm erhoben.40 Der Abstraktionscharakter dieser neuzeitlichen Körpernormierungen ist über die neuzeitliche Kunsttheorie, die neuplatonisch metaphysischen Begründungen von Schönheit, noch deutlich erkennbar. Dies ist insofern als bemerkenswert festzuhalten, da der offensichtlich imaginäre Charakter visueller Körpernormie-

38 Vgl. u. a. Braun, C. v. (1999), S. 387-390. 39 Vgl. Wolf, K. (2004), S. 19-36. 40 Zu den anatomischen Studien vgl. Propyläen Kunstgeschichte (1990), S. 69f.; Panofsky, E. (1960), S. 28-30.

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rung im Zuge der Geschichte säkularer Geschlechter- und Rassenkonstruktionen zusehends schwinden wird. Auf sozialer Ebene steht die frühneuzeitliche Entwicklung eines männlichen »omnipotenten ICHs«41 mit dem innereuropäischen Bedeutungszuwachs weltlicher Kräfte in Verbindung: Von der säkularen männlichen Subjektwerdung zeugen u. a. die an die Antike angelehnten Bilder einer heroischen Männlichkeit, die Geist, Dynamik, Aktivität und Schöpfungskraft zusammenbinden. Wenn zeitgleich mit dem beginnenden sozialen Aufstieg des Bürgertums innerhalb Europas ein »Kulturverbot« für Frauen einsetzt, so spricht dies dafür, dass ›Geschlecht‹ als säkularer sozialer Strukturfaktor bereits an Bedeutung gewinnt.42 Zugleich kann, so von Braun, das Kulturverbot auch mit der Entstehung einer »imaginierte[n] Weiblichkeit«,43 der geistigen ›Geburt‹ von »Venus als [...] ›bessere Frau‹«44 in Verbindung gebracht werden, der die »schöpferische Frau [...] im Wege stand.«45

3.2.3 Rassebegriff und farbliche ›complexion‹ Das oben genannte Bildmotiv ›Adelsfrau mit Mohrenpagen‹ legt die Vermutung nahe, dass bereits im 16. Jahrhundert ›rassisch‹ codierte farbliche Körperbilder die europäischen Gesellschaften und damit die Konstituierung eines ›europäischen Selbst‹ bestimmen. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die weiße Farbe des Adels im christlich legitimierten Ständesystem in spezifischer Weise mit dem Stand des Adels und seiner Abgrenzung von den ›niederen Ständen‹ in Verbindung stand.46 Weiß ist demnach hier ein standesgemäß spezifisches Herrschaftszeichen und (noch) kein rassisch begründetes europäisches Kollektivmerkmal. Der Adel wird diese standesgemäße Weiße mit dem Einflusszuwachs des Bürgertums kosmetisch geradezu auf die Spitze treiben (vgl. Kap. 3.3.2). Gleichzeitig ist die farbliche Inszenierung des Schwarz-Weiß-Kontrastes nur vor dem Hintergrund der neuzeitlichen (gesamtgesellschaftlichen) Visualisierungsprozesse verständlich. Wird in den entpersonalisierten Weiblichkeitsbildern der Renaissancemalerei die ›vernünftige‹ göttliche (Licht-)Natur visualisiert, so ist in den individuellen Portraits der bewusst weiß inszenierten Adelsfrau also auch eine gottgegebene Herrschaftsposition ihres Standes versinnbildlicht.

41 42 43 44 45 46

Braun, C. v. (1999), S. 387. Vgl. Braun, C. v. (1999), S. 389. Braun, C. v. (1999), S. 390. Braun, C. v. (1999), S. 390. Braun, C. v. (1999), S. 389. Vgl. u. a. Wolf, K. (2004), S. 27.

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Die standesgemäße und qua Geburt legitimierte Herrschaft spiegelt auch der Rassebegriff.47 Im Spätmittelalter noch auf »Abstammung und vererbte Eigenschaften bei Hunden und Pferden beschränkt, wurde er von der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert an auf Menschen übertragen«.48 Im 16. Jahrhundert wird der Begriff ›Rasse‹ bzw. ›race‹/›Race‹49 sinngemäß als Abstammung von einem ›edlen Geschlecht‹ und als Synonym für ›Herrscherhaus‹ verstanden. ›Rasse‹ bezog sich damit auf Genealogien ›herrschaftlicher‹ Ahnenreihen, in deren Kontext die Vorstellung vom ›edlen Blut‹ bedeutsam war.50 Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts versuchte sich in Frankreich der Geburtsadel unter Rückgriff auf den Rassebegriff seine Vorrechte gegenüber dem aufstrebenden Amtsadel zu sichern.51 Eingebunden in das christliche Denk- und Gesellschaftssystem wird ›Rasse‹ Ende des 15. Jahrhunderts zugleich und erstmals mit Religionszugehörigkeit in Verbindung gebracht: »Mit dem spanischen Zwangsbekehrungsedikt von 1492 traten die Juden als ›race‹ ins europäische Bewußtsein«.52 Die mit dem Edikt verbundene »Forderung nach der ›Reinheit des Blutes‹, ›limpieza de sangre‹«,53 leistete der christlichen Vorstellung vom differenten, ›unreinen‹ Blut der Juden, die nun auch als »race juifve«54 bezeichnet werden konnten, Vorschub. Diese Vorstellung vom ›reinen‹ und ›unreinen‹ Blut war noch nicht biologisch deterministisch, sondern unter religiösen Vorzeichen gedacht. Die Erlangung von ›blutsmäßiger Reinheit‹ war demnach durch eine Bekehrung zum christlichen Glauben vorstellbar. Das Zwangsbekehrungsedikt, das im Zeichen der Vertreibung der Mauren und Juden von der Iberischen Halbinsel stand, bezog sich indes nicht nur auf Juden, sondern insbe-

47 Der etymologische Ursprung des Begriffs ›Rasse‹ ist unklar. Die Interpretationen umfassen sowohl Herleitungen aus dem Lateinischen ›radix‹ (genealogisch ›Wurzel‹) sowie ›ratio‹ (›Wesen‹, ›Natur‹ – einer Sache – und ›Art‹). Herleitungsversuche aus dem Germanischen verweisen auf ›reiza‹ (genealogisch ›Linie‹), Bezüge zum Slawischen werden aus ›raz‹ (›Schlag‹, ›Gepräge‹) abgeleitet, ebenso gibt es Verweise auf das arabische ›raz‹ (›Kopf‹, ›Haupt‹, ›Führer‹ – in Bezug auf Stamm, Herde). Seit dem 13. Jahrhundert ist im romanischen Sprachraum die Verwendung der Begriffe ›razza‹ (ital.), ›raza‹ (span.), ›raca‹ (port.) sowie ›race‹ (frz.) belegt. Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 137, Stichwort Rasse. 48 Groebner, V. (2003), S. 12. 49 Bis ins 18. Jahrhundert, teils auch noch im 19. Jahrhundert, wird der Begriff ›Rasse‹ auch im Deutschen vielfach ›Race‹ geschrieben. 50 Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 137f., Stichwort Rasse. 51 Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 140, Stichwort Rasse. 52 Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 140, Stichwort Rasse. 53 Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 140, Stichwort Rasse. 54 Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 140, Anm. 28, Stichwort Rasse.

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sondere auch auf Muslime.55 In historischer Folge nahm die Forderung nach der ›Reinheit des Blutes‹ insofern genealogische ›blutsmäßige‹ Reinheitsvorstellungen auf, als dass unter Kaiser Karl V. bezahlte Arbeit in Spanien an einen ›Generationennachweis‹ geknüpft wurde: Mindestens vier Generationen der Vorfahren durften keine AnhängerInnen der jüdischen oder muslimischen Religion sein, um in Spanien für Arbeit entlohnt zu werden.56 Hiermit nimmt ›Rasse‹ in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bereits Tendenzen einer ›Biologisierung‹ der Religion an. Ende des 16. Jahrhunderts findet sich der Begriff »race of christ«,57 der im Sinne von ›Christenheit‹ »alle Menschen umfassen« konnte58 – allein vor dem Hintergrund der historisch vorangegangenen Absonderung der ›race juifve‹ aber wohl nicht zwangsläufig alle Menschen einschließen musste. Ethnologisch anthropologische Dimensionen und das Kriterium der ›Hautfarbe‹ umfasst der Rassebegriff im 16. Jahrhundert noch nicht. Vielmehr lässt sich historisch eine Indifferenz von ›Körperfarben‹ konstatieren, die an die verbreitete antike Säftelehre anschließt. Diese tritt in naturphilosophisch-medizinischen Diskursen zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert als Lehre der ›complexion‹ in Erscheinung.59 Die spätantike Säftelehre Galens, die im »Hochmittelalter aus arabischen Quellen übernommen« wurde,60 kannte vier (Körper-)Säfte: Blut, gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim. Die vier Säfte korrespondierten mit vier Temperamenten (Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker, Phlegmatiker), vier Elementen (Luft, Feuer, Erde, Wasser), vier Farben (rot, gelb, schwarz, weiß), vier Altersstadien (Kindheit, Jugend, Lebensblüte, ›betagtes‹ Alter)61 und seit Ende des 13. Jahrhunderts astrologisch mit den vier ›Planeten‹62 Jupiter, Mars, Saturn und Mond. Die Lehre der ›complexion‹ wurde im 13. Jahrhundert in »physiognomischen Traktaten«63 verarbeitet und »Zeichenkataloge, in denen medizinische, astrologische und physiognomische Kriterien miteinander zu

55 Vgl. u. a. Spain’s alien Nation. Von Rodrigo de Zayas. In: Le Monde Diplomatique. 12.10.04; Die Verfolgung der spanischen Morisken. Von Rodrigo de Zayas. In: Le Monde Diplomatique. In: die tageszeitung, 14.03.1997, S. 22. 56 Nach de Zayas wurde diese in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erlassene Vorschrift (lediglich mit zwischenzeitlicher Unterbrechung unter der Herrschaft Joseph Bonapartes) erst am 13.05.1865 gänzlich aufgehoben. Vgl. Spain’s alien Nation. Von Rodrigo de Zayas. In: Le Monde Diplomatique. 12.10.04. 57 Hooker, Richard. 1594. Of the Lawes of Ecclesiasticall Politie. Zit. in: Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 141, Stichwort Rasse. 58 Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 141, Stichwort Rasse. 59 Vgl. Groebner, V. (2003). 60 Groebner, V. (2003), S. 2. 61 Zur Alterszuordnung vgl. u. a. Baltrusch, E. (2004). 62 Vgl. Groebner, V. (2003), S. 3. 63 Groebner, V. (2003), S. 4.

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complexiones als Typenlehre vermengt wurden«,64 gingen im 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts in »volkssprachliche medizinische Kompilationen«65 über. »Farben spielten in all diesen Texten eine herausragende Rolle: allerdings nicht als Haut-, sondern als Körperfarben, in denen die Farbe bestimmte individuelle körperliche Eigenschaften als Resultat von Säftemischungen anzeigte. Rotgesichtige hatten dementsprechend Blut und die damit verbundene Hitze im Übermass; die complexiones von Personen mit dunkler Hautfarbe dagegen waren besonders warm und trocken. Das System, das sich im Lauf des 14. Jahrhunderts durchsetzte, war anhand der drei Körperfarben rot, schwarz und weiss organisiert.«66

Damit standen Hautfarben, wie Groebner zusammenfasst, »bis ans Ende des Mittelalters also eben nicht für klar voneinander abgrenzbare essentielle Kategorien, sondern waren relational. Mehr noch, die Hautfarben, denen die Europäer im 15. Jahrhundert bei anderen begegneten, waren dieselben, die sie für die Beschreibung ihrer eigenen Epidermis gebrauchten.«67

Groebner verweist hiermit auf die multiplen Farbzuordnungen, die, über physiologische Mischungsverhältnisse des Körpers, in Abhängigkeit zu planetarischen Einflüssen, emotionalen Zuständen sowie je nach Lebensalter und Geschlecht in der Lehre der ›complexion‹ individuell variierten. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass AußereuropäerInnen nicht mit eindeutigen Farbzuordnungen belegt wurden und sich die »Einwohner Europas am Ende des Mittelalters auch nicht als ›weiss‹ begriffen«.68 Vielmehr sind bis ins 16. Jahrhundert unterschiedlichste Farbbezeichnungen in Personenbeschreibungen von EuropäerInnen selbst vorzufinden.69 ›Geschlecht‹ differenziert die ›complexion‹ in antiker Tradition insofern, als dass Männer als wärmer und trockener als Frauen imaginiert und durch »dunklere Haut« charakterisiert wurden.70 Hieraus erklärt sich, dass die Farbe Weiß dem System nach nicht nur mit einem »Überschuss an Feuchtigkeit und Unmännlichkeit«, sondern auch mit weiteren »wenig schmeichelhaften Attributen« verbunden werden konnte, etwa mit »Unkultur und Barbarei in extremen nördlichen Klimata«.71 Diese antiken Zuordnungen wurden, wie Groeb64 65 66 67 68 69 70 71

Groebner, V. (2003), S. 5. Groebner, V. (2003), S. 5. Groebner, V. (2003), S. 6. Groebner, V. (2003), S. 8. Groebner, V. (2003), S. 11. Vgl. Groebner, V. (2003), S. 5-9. Vgl. Groebner, V. (2003), S. 3. Groebner, V. (2003), S. 6.

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ner weiter darstellt, im Spätmittelalter u. a. von Albertus Magnus (um 12001280) und in den »großen enzyklopädischen Sammlungen von Bartholomäus Anglicus« aufgegriffen. Demzufolge hätten »[a]ll jene Weisshäutigen, die in kalten nördlichen Regionen lebten, [...] zwar einen Überschuss an Phlegma, ihre Säfte seien insgesamt zähflüssiger: deswegen seien sie zwar tapfer, aber träge, effeminiert und schwer von Begriff.«72

In der ersten Hälfte des 16. Jahrhundert beginnen sich diese Zuordnungen sowohl inhaltlich als auch kategorial zu verschieben: Schon mit der Verbindung zur Physiognomik war eine Umdeutung der antiken Lehre insofern gegeben, als dass sich »complexion« zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert »von einer veränderlichen und höchst flexiblen Disposition in eine angeborene Kategorie verwandelt, die man sehen, identifizieren und klassifizieren konnte.«73 Diese Vorstellungen wurden Anfang des 16. Jahrhunderts u. a. in Albrecht Dürers (1471-1528) Anforderungen an die Kunst für die Erfassung spezifischer (Temperament-)›Typen‹ manifest.74 Wie Groebner zeigt, setzen mit der Ausweitung des europäischen Sklavenhandels allmählich auch kollektive Farbbeschreibungen für Bevölkerungen ein, die sich zwar noch nicht in konsequenter Vereindeutigung, aber bereits in dem uns »vertrauten Schema«75 bewegen und in Reiseberichten der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts greifbar werden. Wenn Bartolomé de Las Casas (1484-1566) im ersten Buch seiner »Historia de las Indias« (15271544), der Geschichte der ›Entdeckung Amerikas‹, die Haut der »Christen« als »weiß« beschreibt,76 so ist damit, wie Groebner zeigt, zunächst das System der ›complexion‹ mitzudenken. Denn die Gesichtsfarbe des Columbus wurde von Las Casas als »›weiss-rot‹«, also als eine der möglichen Mischungsverhältnisse der ›complexion‹ gekennzeichnet.77 Zugleich weist Groebner auf die Abweichung der Beschreibung der Hautfarbe der ›Indianer‹ in Las Casas Bericht gegenüber den vorangegangenen Aufzeichnungen von Columbus hin: »Für die intendierten Leser von Kolumbus’ Bericht 1492 haben die Eingeborenen noch eine ideale mittelalterliche complexion: Man könnte sagen, sie sehen aus wie Petrarcha. [...] Als Las Casas dieselbe Szene vierzig Jahre später beschreibt, sind die Einwohner bereits rechtlose Sklaven – und dementsprechend nachgedunkelt.«78 72 73 74 75 76 77 78

Groebner, V. (2003), S. 6. Groebner, V. (2003), S. 10. Vgl. Groebner, V. (2003), S. 10. Groebner, V. (2003), S. 9. Vgl. Groebner, V. (2003), S. 1. Vgl. Groebner, V. (2003), S. 10. Groebner, V. (2003), S. 11. Petrarcha schreibt sich in seinem »Brief an die Nachwelt« (1374) »eine ausgewogene ideale Hautfarbe inter candidum et sub-

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Groebner stellt dar, dass der Begriff ›complexio‹, der noch im 14. Jahrhundert mit verschiedenen emotionalen Zuständen eine wandelbare »physische Disposition« beschreibt, im späten 16. Jahrhundert schließlich »schlicht für die äußere Beschaffenheit der Haut« steht.79 Was sich hiermit jedoch auch verändert, sind die Codierungen der Farben selbst. Konnten noch Mitte des 15. Jahrhunderts »Rote und Schwarze das Zentrum der Christenheit« bewachen,80 so steht das ›Nachdunkeln‹ der ›Eingeborenen‹ in Las Casas’ Erzählung bereits mit sozialen Verschiebungen in Verbindung, die einen Status der Rechtlosigkeit (der Sklaven) markieren. Weiß hingegen vermittelt demgegenüber eine Position der Neutralität, die, folgt man Groebner, Las Casas’ Erzählung inhärent ist: »Wer als Spezialist für die Kategorisierung von Menschen anhand äußerer Kennzeichen auftritt, muss sich selbst als außerhalb dieser Kategorien präsentieren, als ungefärbt, unmarkiert. Kurz, Hautfarben, die über sie Auskunft geben, haben immer nur die anderen.«81

Wie jedoch erklärt sich, dass Las Casas, dessen Denken noch dem (Farb-) System der ›complexion‹ verpflichtet ist, die weiße Farbe in der Beschreibung der Haut der Christen (etwa gegenüber den ›weißhäutigen Barbaren‹ eines Magnus) aufwertet und Weiß nicht nur im ›idealen‹ Mischungsverhältnis ›weißrot‹ auftaucht, sondern auch bereits mit einer Position farblicher ›Neutralität‹ assoziiert zu sein scheint? Und wie erklärt sich in diesem Kontext eine Negativierung des ›Nachdunkelns‹ der außereuropäischen Sklaven gegenüber der dem System der ›complexion‹ eingeschriebenen Bedeutung von Schwarz als Melancholie? Es deutet sich hiermit, wie in Anschluss an Groebner ergänzt werden kann, eine Einschreibung der christlichen Schwarz-Weiß-Symbolik in die Lehre der ›complexion‹ an, die mit dem einsetzenden Verweltlichungsprozess der christlichen Symbolik selbst in Verbindung steht. Dabei ist zunächst zu konstatieren, dass die ›Körperfarben‹ der Säftelehre im System der ›complexion‹ ursprünglich unabhängig von christlich-religiöser Symbolik gedacht und als individuelle Körperfarben wahrgenommen wurden. Hiernach zeigen sich im Vergleich von Farblehren der ›complexion‹ und religiöser Schwarz-WeißSymbolik nicht nur Unterschiede, sondern teils gar konträre Farbcodierungen, wie allein die jeweiligen Deutungen der Farbe Weiß nahelegen: Denn während Weiß in christlicher Tradition den (göttlichen) Geist markiert und mit der Licht- und Männlichkeitssymbolik assoziiert ist, so steht Weiß in der Lehre der ›complexion‹ des 13. Jahrhunderts u. a. für ›Effeminität‹ und ›Begriffsstutzignigrum, zwischen weiss und dunkelbraun/schwärzlich« zu. Groebner, V. (2003), S. 6. 79 Groebner, V. (2003), S. 12. 80 Groebner, V. (2003), S. 8. 81 Groebner, V. (2003), S. 12.

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keit‹. Entgegen dieser ursprünglichen Differenz von Farbenlehre der ›complexion‹ und religiöser Farbsymbolik setzt mit der Verschiebung von ›complexion‹ hin zu ersten farblich ›ethnographischen‹ Gruppenbeschreibungen (christliche ›Entdecker‹ versus ›heidnische Eingeborene‹) offensichtlich ein Hell-Dunkel-Kontrast ein, welcher mit dem christlichen (Wertungs-)Schema korrespondiert. Entscheidend für die Interpretation von Las Casas’ Aussage ist dabei, dass Las Casas die Haut der Christen als »weiß« beschreibt. Denn hiermit liegt eine Identifizierung der Christen mit der ›Weißheit‹ Gottes und Christi nahe. Die mittelalterliche, im Kontext der Kreuzzüge zu findende Identifizierung der Christen mit dem Licht Christi hat diese farbsymbolische Entsprechung bereits impliziert. Dass diese farbsymbolische Identifizierungslogik nun über die weiße Haut versinnbildlicht wird, ist das Novum der Beschreibung. Diese körperliche Visualisierung entspricht einerseits Groebners Beobachtung, dass der »Begriff complexion als physiologischer Unterschied zwischen Menschen [...] zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert buchstäblich ›auf die Haut‹ [wandert]«.82 In der Lesart einer Visualisierung christlicher Lichtsymbolik kann Las Casas’ Rede von der weißen Haut der Christen andererseits auch mit den zeitgenössischen Visualisierungsprozessen des demiurgischen Humanismus in Verbindung gesetzt werden. Denn die Farbe Weiß wird bei Las Casas offensichtlich nicht mehr wie in den vorangegangenen Deutungstraditionen der ›complexion‹ mit Effeminität und Barbarentum assoziiert, sondern Weiß steht nun, wie sich interpretieren lässt, gleichermaßen für eine relationale Identifizierung der Christen mit der ›Farbe Gottes‹ sowie für den Geist und die Aktivität des ›Entdeckers‹, verbunden mit der Position des ›Herren‹ in einem kolonialistischen Herr-Sklave-Verhältnis. Es können hiernach die Anfänge einer Überschreibung symbolisch-christlicher Leibkonzepte in säkulare Gruppenbeschreibungen konstatiert werden. Wenn Groebner Las Casas’ Beschreibung der weiß identifizierten Christen mit einer Position assoziiert, die ›ungefärbt‹ und ›unmarkiert‹ erscheint, so entspricht diese ›neutrale‹ Position sowohl der ›objektiven‹ Blickposition Gottes, die der demiurgische Humanismus etabliert, als auch den Vorstellungen einer reinen göttlichen Natur. Allerdings ist dabei hervorzuheben, dass ›Weiß‹ hier ja gerade als Farbe in Erscheinung tritt, d. h. eine Position beschreibt, die eben nicht ungefärbt, sondern als weiße Farbe in Form weißer Haut visualisiert und als Farbe Gottes und Christi markiert ist. Die Einschreibung christlicher Lichtsymbolik in das (Farb-)System der complexion ist demnach als ein Baustein im Rahmen der neuzeitlichen Visualisierungs- und Verweltlichungsprozesse zu begreifen, in dem das unsichtbare Licht Gottes als weiße Farbe visuelle menschliche Gestalt anzunehmen beginnt. Dabei ist Las Casas’ Beschreibung aber eben noch eingebunden in das Denken in religiösen Kategorien, das Selbstbild maßgeblich als ein christliches markiert, und die 82 Groebner, V. (2003), S. 12.

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einsetzenden ethnographischen farblichen Gruppenbeschreibungen sind (nicht zuletzt auch innerhalb der ständisch gegliederten europäischen Gesellschaften) insgesamt noch von einer Flexibilität geprägt, die sie in historischer Folge einbüßen werden. Die Tendenz einer ›Verdunkelung‹ des entrechteten außereuropäischen ›Anderen‹, die sich gegenüber der ursprünglichen Lehre der ›complexion‹ und ihrer Vorstellung idealer Mischungsverhältnisse bei Las Casas als Gegenpol zu einer weiß markierten Position ansatzweise abzuzeichnen beginnt, wird im folgenden Abschnitt näher thematisiert. Groebner schließt seinen Artikel mit der Überlegung ab, dass parallel zur Bedeutung des Begriffs ›complexio‹ im 16. Jahrhundert der Rassebegriff erstmals auf »Gruppen von Menschen angewandt« und hierbei über »Abstammung und Blutsverwandtschaft übertragene Qualitäten« als »unwiderrufliche« ›Natur‹ festgeschrieben wurden.83 Mit Blick auf den Adel ist dabei allerdings hervorzuheben, dass dieser sich zwar des Rassebegriffs bediente, sich jedoch nicht über die ›Natur‹ im säkularen Sinne legitimierte, sondern über das von Gott eingesetzte und damit religiös legitimierte Ständesystem. Und obwohl der Begriff ›Rasse‹ bereit die Juden als ›race juifve‹ kennzeichnen konnte, weist diese Kennzeichnung noch eine gewisse religiös bedingte Flexibilität auf: Denn mit einem Religionswechsel konnte die ›race juifve‹ potentiell ›abgelegt‹ werden. Groebners These schließlich, dass ›Rasse‹ »der complexio des 16. (aber eben nicht des 13. und 14. Jahrhunderts)« dahingehend ähnlich sei, als dass es sich in beiden Fällen um eine »abstrakte visuelle Kategorie« handelt,84 trifft mit Blick auf die konsequente farbliche Visualität der Kategorie ›Rasse‹ erst auf spätere Entwicklungen des Rassebegriffs zu, in denen sich das System der ›complexion‹ auf neue Weise mit der Kategorie ›Rasse‹ überlagern wird. Es sei denn, man berücksichtigt hinsichtlich der Verwendung des Rassebegriffs im 16. Jahrhundert durch den Adel die parallelen Bildnisse, die eine farbliche Weißung dieses Standes intendieren.

3.2.4 Die Schattenseite der göttlichen Vernunft Die ›unreinen‹ Naturen, die gegenüber der rationalisierten, durch das Licht der göttlichen Vernunft inspirierten schönen Natur in der Frühen Neuzeit in Erscheinung treten, sind zahlreich. Sichtbar werden die ›widerspenstigen‹, ›ungeordneten‹, ›asymmetrischen‹, ›deformierten‹, ›androgynen‹ individuellen Körper etwa in Dürers ›realistischen‹ Zeichnungen der ›unteren Stände‹, ›hässliche‹ Abbildungen, die es nach Alberti zugunsten der Darstellung der schönen Natur zu vermeiden galt.85 Die ›unreine‹ Natur kommt ebenso im christlichen Bild der 83 Groebner, V. (2003), S. 12. 84 Groebner, V. (2003), S. 12. 85 Dabei sind jeweils unterschiedliche Konzeptionen einer Naturbeherrschung intendiert: »Das Ideal der ›ars nova‹ bedeutete, wenn auch in Worten nie formu-

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schwarzen Hexe zum Tragen: Das neuzeitliche Phänomen der Hexenverfolgung lässt sich dabei als gewaltvoller Einschreibungsprozess einer imaginären, symbolisch schwarzen, weiblichen Natur in den individuellen weiblichen Körper mit dem Beginn des Naturalisierungsprozesses in Zusammenhang bringen.86 Die frühneuzeitliche ›Verdunkelung‹ des außereuropäischen ›Anderen‹ folgt auf kollektiver Ebene eben jenen symbolischen Traditionskontexten des Abendlandes, die Schwarz, Weiblichkeit und die irdische, sündhafte, sterbliche Materie zusammenbinden. Danach nimmt der symbolisch schwarze Leib, wie im Folgenden skizziert sei, erste Züge einer säkularen ethnographischen Gestalt an – Konstruktionen, welche die Subjektwerdung ›des Europäers‹, die Etablierung eines männlichen ›Lichtsubjekts‹, als konstitutives Gegenbild ihren Anfängen nach stabilisieren. Dabei ist es entscheidend, den historisch langen kulturellen Austausch zwischen EuropäerInnen und AfrikanerInnen vor dem Beginn des europäischen Kolonialismus ebenso im Blick zu haben wie die vorangestellten Repräsentationen des Afrikaners innerhalb der europäischen Gesellschaften: Die Gestalt des »orientalisch kultivierten ›Äthiopier[s]‹«87 und der ›hochherrschaftliche Mohr‹ unterscheiden sich so auch diametral vom aufkommenden Bild des ›Negriten‹: »Der Schwarze war der kultivierte Süden [...]. Der Schwarze war Wissen [...]. Der Schwarze stand für Handel und Verkehr [...]. Der Schwarze repräsentierte die feine Lebensart der Herren [...]. Der Schwarze verhieß Freude im Diesseits [...].«88

Wie Peter Martin für die »deutsche Gesellschaft« in der Renaissance zusammenfasst, »bildeten Handel, Verkehr und höfischer Luxus [...] den Kontext, in dem der Afrikaner seine sinngebende Bedeutung erhielt: Als vermeintlicher Repräsentant der als beneidenswert empfundenen ›orientalischen‹ Kultur wurde er nun zu einem Symbol für privilegierten Genuß. Damit einhergehend wandelte er sich vom überlegenen militärischen Gegner zum begehrten höfischen Diener.«89

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liert, für die Künstler des Nordens die völlige Beherrschung der Natur durch die Wiedergabe jeder Einzelheit. Für die Humanisten und Künstler Italiens verband sich dagegen das neue Kunstideal von vorneherein mit der Überzeugung, daß Kunst vollkommener werden kann als die Natur, die – nach Albertis Worten – nie die neuen und zugleich vollkommenen Dinge schafft.« Propyläen Kunstgeschichte (1990), S. 69; vgl. auch Panofsky, E. (1960). Vgl. Braun, C. v. (1999), S. 390. Martin, P. (2001), S. 12. Martin, P. (2001), S. 69. Martin, P. (2001), S. 12.

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Diese Figur des ›schwarzen Dieners‹ ist bereits Ausdruck kolonialistischer Herrschaft, aber nicht mit der Charakterisierung des ›negritischen‹ Sklaven zu vergleichen. Und Dürers Zeichnung eines äthiopischen Handelsangestellten in Augsburg/Nürnberg (1508)90 gibt beispielsweise darüber Aufschluss, dass gesellschaftliche Stellung und mediale Repräsentation von AfrikanerInnen Anfang des 16. Jahrhunderts innerhalb Europas nicht grundsätzlich durch Degradierung und Dienerschaft gekennzeichnet waren.91 »Mit dem beginnenden Zeitalter der merkantilistischen Eroberung und Kolonisation der außereuropäischen Welt am Atlantik«92 jedoch vollzieht sich zugleich ein Repräsentationswandel hin zum Bild des ›Primitiven‹. Etabliert und diskursiviert wird dieses Bild in der seit Beginn des 16. Jahrhunderts steigenden Anzahl von Reiseberichten über außereuropäische Länder, die in Werken wie der »Cosmographia« (erstmals 1544 von Sebastian Münster (14891552) herausgegeben) gebündelt wurden. In diesen phantastischen, teilweise bebilderten Reiseberichten liegen die historischen Ursprünge ›wissenschaftlich‹ ethnographischer Zeugnisse. Die Ethnologie ist damit »von ihren Anfängen her in die missionarischen und kolonialen Abenteuer einer eurozentristischen Fremdheitsbewältigung verwickelt«.93 Der mythologische und religiöse Charakter dieser ersten ›ethnographischen‹ Werke tritt dabei noch deutlich in Erscheinung. Die Charakterisierungen von AußereuropäerInnen in diesen Berichten korrespondieren mit Beschreibungen gnostischer und christlicher Dämonen der Finsternis, Fabel- und Mensch-Tierwesen. Danach »rangieren [die Schwarzen] auf der Stufe von exotischen Pflanzen und Tieren. Entscheidend ist hierbei, daß ihnen der Hauch des Wilden, Unheimlichen anhaftet.«94 Diese dunklen, unheimlichen Bilder des ›Anderen‹ lassen sich entsprechend als schwarz und weiblich codierte Bilder der wilden, teuflischen und zu zähmenden wie aber auch einer ›entdeckten‹, bestaunenswerten und phantasiebesetzten Natur beschreiben.95 Sie verbinden sich auf die eine oder andere Weise mit Sexualisierungen und Sündhaftigkeit – eine Sündhaftigkeit, die sich als solche über die ›dunkle‹ Materie ergibt, aber auch über eine Grenz90 Dürer, Albrecht: »Kopf eines Negers«, Kohle (Kreide?), 320x218mm, 1508, Wien, Graphische Sammlung Albertina. Angabe nach Martin, P. (2001), S. 61. Dieser Titel des Bildes scheint nachträglich eingesetzt worden sein, da der Begriff ›Neger‹ zum Entstehungszeitpunkt noch nicht im Deutschen existierte. Oguntoye/Opitz/Schultz untertiteln die Darstellung mit »Portrait eines Äthiopiers, der als Angestellter in einem der großen Handelshäuser Augsburgs tätig war.« Oguntoye, K./Opitz, M./Schultz, D. (1991), S. 16. 91 Vgl. Oguntoye, K./Opitz, M./Schultz, D. (1991), S. 16-18; Martin, P. (2001), S. 33-79. 92 Martin, P. (2001), S. 12. 93 Enzyklopädie Philosophie (1999), Bd. 1, S. 409f., Stichwort Fremd/Fremdheit. 94 Pleticha, Heinrich. 1969. Das Bild der Farbigen in der Jugendliteratur. In: Schaller, Horst (Hrsg.). Bücher spiegeln die Welt. Das Bild der Rassen und Völker in der Jugendliteratur. Insel Verlag, Meinau, S. 45. Zit. in: Oguntoye, K./Opitz, M./ Schultz, D. (1991), S. 19. 95 Vgl. u. a. Hall, S. (1994), S. 137, 156-170.

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überschreitung von Mensch- und Tierreich manifest wird. Die Schwarze Frau verkörpert hier die Schnittstelle in den Thesen zur Mensch-Tier-Vermischung und wird damit erstmals zum säkularen Sinnbild der schwarzen, weiblichen Natur. Hierbei werden tradierte Erzählungen von Mischwesen zwischen Menschen und Tieren aus der europäischen Sagenwelt in die naturkundlichen Reiseberichte eingewoben, welche über sexuelle Kontakte zwischen Affenmännchen und Schwarzen Frauen berichten. Vor dem Hintergrund der historisch vorangegangenen sagenhaften Vorstellungen war es so auch »durchaus nicht überraschend, als der französische Gelehrte Jean Bodin (1529-1596) im Jahr 1566 die Ansicht vertrat, daß es sich bei bestimmten Affen um monströse Mißgeburten von Mensch und Tier handele. [...] Neu war höchstens, daß er sie nun eindeutig als Produkte Afrikas identifizierte.«96

Über die Verortung von AußereuropäerInnen im oder in der Nähe des Tierreiches nimmt der moderne Kultur-Natur-Dualismus seinen Anfang. In Gestalt des ›Negriten‹ wird die ›dunkle Natur‹ zusehends mit dem modernen Bild des ›kulturlosen Barbaren‹ verknüpft. Der Begriff ›Nigriten‹ (von lat. niger = schwarz) wird im 16. Jahrhundert zunächst als Synonym für Schwarze Bevölkerungen der west-afrikanischen Guinea-Küste97 und damit für die dortigen afrikanischen Sklaven des transatlantischen Sklavenhandels in Abgrenzung zu den nordafrikanischen BewohnerInnen verwendet. Später wird die Bezeichnung schließlich auf die gesamten Bevölkerungen südlich der Sahara ausgedehnt. Der Begriff ›Negrit‹ kennzeichnet dabei die ersten Übergänge vom Begriff ›Mohr‹ zum Begriff ›Neger‹, mit dem sich eben jener grundlegende Repräsentationswandel zum ›Primitiven‹, zum ›Barbaren‹, vollzieht.98 Die »Cosmographia« Sebastian Münsters gibt hiervon Kunde. Das Werk, das zwischen den Jahren 1544 und 1628 in vielfacher Auflage erschien und in mehrere Sprachen übersetzt wurde, erfuhr im Verlauf der Jahre zahlreiche Ergänzungen und Umschreibungen. Diese Modifizierungen innerhalb der verschiedenen Ausgaben verweisen ihrerseits auf eine zunehmende Vereindeutigung der ›Negriten‹ in Richtung ihrer Charakterisierung als ›barbarisch‹, ›kulturlos‹. Schließlich wird, wie Martin unter Zitierung der Ausgabe von 1628 zusammenfasst, der »Autor« Sebastian Münster

96 Martin, P. (2001), S. 207. 97 Vgl. Martin, P. (1985), S. 25. 98 Vgl. Martin, P. (2001), S. 85; Oguntoye, K./Opitz, M./Schultz, D. (1991), S. 20f. Dabei bleibt der Begriff ›Mohr‹/›Mor‹, wie in Sebastian Münsters »Cosmographia«, jedoch zunächst eine übergreifende Kollektivbezeichnung, unter welcher die ›Negriten‹ als eines von vielen afrikanischen Völkern subsumiert werden. Vgl. u. a. Münster, S. (1553), 6. Buch, Kapitel »Von dem Morland und innerem Libya«, S. 1209-1222.

142 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK »nicht müde, auf den ›barbarischen‹ Zustand der »Negriten‹ hinzuweisen: Die Leute hätten keine Religion, seien weder ›Christen/Juden noch Mahometaner‹ und beteten statt dessen das Feuer an oder die Sonne. Überhaupt handelte es sich fast ausnahmslos um ›gantz grob(e) vnd unverständig(e)‹ Menschen, ›barbarische Menschenfresser‹ ›ohn einige Regierung‹, die ›kaum das Feld zu bawen‹ wüßten.«99

Der ›Negrit‹ als ›Barbar‹ erscheint hiermit als religionslos, denn als Religionen gelten nur die drei großen monotheistischen Religionen des Buches. Ferner wird Bezug auf die Kultivierung des Bodens genommen, die bei den ›Nigriten‹ nicht oder kaum gegeben sei, ein insofern bemerkenswerter ›Hinweis‹, als dass hierüber die Vorstellung von ›Unkultur‹ schon begrifflich angelegt ist. Denn der Begriff ›cultura‹, aus dem Lateinischen ›colere‹, ›cultum‹, bezieht sich auf den Landbau und wird als ›bebauen‹, ›(be-)wohnen‹ übersetzt. Bis sich im Zuge des 17. Jahrhunderts der deutsche Begriff ›Kultur‹ in der Wissenschaftssprache etabliert, ist neben der benannten Auslegung aus dem Lateinischen zudem bereits Pflege des »Körpers und des Geistes« gemeint und eine Abgrenzung gegen ›Natur‹ in ihrem ›unkultivierten‹, ›ungemachten‹ Zustand ausschlaggebend.100 Knüpft die »Cosmographia« im o. g. Zitat mit dem Begriff des ›barbarischen Menschenfressers‹ an die mittelalterlichen Erzählungen von unheimlichen, seltsamen Fabelwesen des Orients an, so werden Vorstellungen des ›Wilden‹ und ›Barbarischen‹ auch über den Vorwurf der ›Regierungslosigkeit‹, der ›Grobheit‹ und des ›Unverstandes‹ transportiert. Die Vorstellung einer mangelhaften gesellschaftlichen Ordnung und des ›Unverstandes‹ (im Sinne eines Mangels an Vernunft und Bildung) ist übergreifend als Vorwurf der Schriftlosigkeit zu verstehen. Es scheint hiermit eine bereits bei Aristoteles zu findende Identifizierung des ›Barbaren‹ mit ›Schriftlosigkeit‹ auf,101 ein Gedanke, der mit Blick auf das europäische Selbstbild in der Frühen Neuzeit vor dem mediengeschichtlichen Hintergrund der Gutenbergpresse an Relevanz gewinnt. D. h. aber auch, dass das Afrika südlich der Sahara, welches von europäischer Seite mit der mündlichen Tradition in Verbindung gebracht wurde, schon durch die vermeintliche ›Schriftlosigkeit‹ gegenüber dem nördlichen Teil als ›barba-

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Martin, P. (2001), S. 84. Zit. im Zit.: Münster, Sebastian. 1628. Cosmographia. 8. Buch, Kap. 31-36, S. 1662ff. Die Aussagen finden sich in der 1550 erschienenen Ausgabe, die noch zu Münsters Lebzeiten gedruckt wurde, allerdings nicht. Vgl. Münster, S. (1550). So bleibt es an dieser Stelle auch irritierend, dass Martin dezidiert vom »Autor« Sebastian Münster spricht. Denn die »Cosmographia«, die man nach Münsters Tod (1552) weiterhin unter seinem Namen veröffentlichte, wurde von zahlreichen anonymen Schreibern modifiziert und erweitert. 100 Vgl. Brockhaus Enzyklopädie (1990), S. 580-582, Stichwort Kultur. 101 Vgl. Braun, C. v. (1999), S. 105.

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risch‹ markiert und weiblich codiert wird.102 Die Macht des Mediums Schrift bildet als solche die Voraussetzung, die modernen eurozentrischen Selbst- und Fremdbilder, die in Wechselwirkung mit den sozio-politischen, wissenschaftlichen und sozio-ökonomischen Umbrüchen in Entstehung begriffen sind, als diskursive Praxis zu etablieren. Und dabei verbindet sich historisch mit den selbsternannten Trägern einer doppelten Geistigkeit (des christlichen Glaubens und des Vernunftprinzips) grundsätzlich nicht nur die ökonomische Ausbeutung, sondern auch die Kolonisierung durch die – in diesem Fall lateinische – Alphabetschrift:103 Die indigenen oralen Überlieferungsformen und Schriftsysteme werden im Zuge des Kolonialismus durch die »Lateinschrift« verdrängt, gesprochene Sprachen nach dem lateinischen System verschriftlicht.104 Der Buchdruck und die damit einsetzende erweiterte Alphabetisierung innerhalb Europas bilden zugleich die Grundlage für die Entstehung und Homogenisierung der modernen europäischen Nationen, die sich als abstraktes Gefüge zur ›Abstammungsgemeinschaft‹ entwickeln.105 Die Wirkmächtigkeit der griechisch-lateinischen Alphabetschrift,106 ›soziale Wirklichkeit‹ diskursiv zu erzeugen und zu strukturieren, erhält durch die technische Reproduktion der Schrift eine neue Qualität. Die neuen weltlichen Kriterien sozialer Gruppenformationen zeigt der Hautfarbendiskurs. Diesen dominieren zwar bis ins 17. Jahrhundert Theologen; deren weltliches Erkenntnisinteresse an ›Hautfarben‹ und die Einspeisung ›rationaler‹ Erklärungsmuster entlang von Aristoteles’ Klimatheorie107 sind jedoch nur als Reaktion auf die kolonialistischen und wissenschaftlichen Entwicklungen insgesamt und als Abwehr der Thesen vom ›anderen Adam‹ (also Theorien von mehreren Abstammungsvätern) im Besonderen zu verstehen.108 Diese frühneuzeitlichen Reformulierungen des ›Abstammungsgedankens‹, welche der christlichen Vorstellung der Einheit des Menschenge102 Zu abendländischen geschlechtlichen Codierungen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit vgl. Braun, C. v. (2001), S. 75-80, 95-120. 103 Vgl. Braun, C. v. (1999), S. 105-106. 104 Vgl. Haarmann, H. (1991), S. 476-477. 105 Vgl. Anderson, B. (1998); Braun, C. v. (1997), S. 20. 106 Haarmann verweist zu Recht auf die »chauvinistische« Verkürzung des Begriffs der griechisch-lateinischen Alphabetschrift, der den etruskischen Einfluss übergeht. Vgl. Haarmann, H. (1991), S. 290. Der Begriff dient hier in der Zusammensetzung daher nur zur Kennzeichnung des Schrifttyps der ›vollen‹, d. h. vollständig phonographisch zergliederten Alphabetschrift in seinen zwei dominanten europäischen Ausprägungen. Der Blick auf die Entwicklungsgeschichte der Alphabetsschrift macht insgesamt deutlich, dass sich die europäischen Schrifttraditionen nicht konsequent von außereuropäischen Einflüssen abtrennen lassen. 107 Vgl. Martin, P. (2001), S. 282. 108 Die Thesen zu mehreren Abstammungsvätern wurden u. a. von Paracelsus mit Blick auf die indigene Bevölkerung Nordamerikas und die afrikanischen ›Pygmäen‹ vertreten und sind in modifizierten Formen ebenso bei Giordano Bruno zu finden. Vgl. Martin, P. (2001), S. 280f.

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schlechts widersprachen, können als Vorläufer der wissenschaftlichen Konzeptionen der Polygenese begriffen werden.109 Wie allein das Beispiel Las Casas zeigt, war es aber auch nach christlich-monogenetischem Verständnis möglich, eine qualitative Differenzierung des Menschseins vorzunehmen. So spricht Las Casas der indigenen Bevölkerung Nordamerikas zwar den Status ›verus homo‹ zu,110 gleichzeitig visualisiert er jedoch mit der ›Verdunkelung‹ dieses ›Anderen‹ bereits ein Herr-Sklave-Verhältnis im Hell-Dunkel-Kontrast (vgl. Kap. 3.2.3). Und schließlich empfiehlt Las Casas – um das Elend der ›Indianer‹ zu ›lindern‹ – die Einfuhr afrikanischer SklavInnen,111 »denen er die Menschenwürde nicht zuerkennen wollte.«112 Ist der Kolonialismus bis ins 17. Jahrhundert auch religiös gerechtfertigt,113 so schreibt sich das Sündenkonzept entlang des Bildes vom ›Negriten‹ auf neue weltliche Weise in den Hautfarbendiskurs ein. Greifbar wird dieser Konstruktionszusammenhang von schwarzer Haut und Sünde nicht nur in den Reiseberichten, sondern ebenso in biblischen Erklärungsmustern, wonach die Kirche des protestantischen Nordwestens im 16. Jahrhundert erstmals auf die Noah-Legende und Noahs Verfluchung Hams verwies.114 »Tatsächlich« jedoch, so stellt Martin heraus, »ist im biblischen Text nicht ein einziger Hinweis auf die Hautfarbe Hams und seiner Söhne enthalten«.115 Und das bedeutet, wie Martin anschließt: »Wenn sich die Anhänger der Monogenese also auf theologische Texte stützten, um die schwarze Hautfarbe der Afrikaner zu erklären, dann konnte sie allenfalls eine in anderem Zusammenhang gemachte Äußerung Luthers dazu verführt haben. Der Re-

109 Vgl. Hödl, K. (1997), S. 107. Noch im 17. Jahrhundert landeten derartige Schriften auf dem Scheiterhaufen und die Verfasser wurden von der Inquisition verfolgt. Hödl verweist auf den Fall von Isaac de la Peyrère, der 1656 seine Theorie zu den ›Präadamiten‹ veröffentlicht hatte, welche der biblichen Schöpfungsgeschichte widersprach. Vgl. Hödl, K. (1997), S. 108. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde die Polygenese in rassentheoretischen Konzepten schließlich verstärkt verbreitet, u. a. durch John Atkyns’ Thesen in Bezug auf ›the black and white race›. Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 144, Stichwort Rasse, unter Bezugnahme auf Atkyns, John. 1721. A Voyage to Guinea. London. 110 Vgl. Hödl, K. (1997), S. 107. 111 Vgl. Martin, P. (1985), S. 26-28. 112 Hödl, K. (1997), S. 108. 113 Vgl. u. a. Broek, L. v. d. (1988), S. 23f. 114 Vgl. u. a. Martin, P, (2001), S. 286. Nach Lida van den Broek wird sich in Europa um 1600 erstmals in einer Art und Weise auf die Bibelstelle der Verfluchung Hams (Genesis 9, 21-28) berufen – die schon zuvor zur Legitimation der Sklaverei diente – die jetzt »die Überlegenheit der Nachfahren Sems und Japhets, der weißen Völker, legitimiert, wie die Unterwerfung der schwarzen Völker als Nachfahren Hams.« Broek, L. (1988), S. 24. 115 Martin, P. (2001), S. 287.

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formator sprach da von Ham, der Gott und seine Eltern verachtet habe und deshalb ›in den schwärzesten Farben gemalt‹ worden sei. [...] Aber man hat bereits mehrfach darauf hingewiesen, daß es sich bei dieser Äußerung Luthers um einen rein metaphorischen Ausdruck handelte, der keineswegs auf die physische Beschaffenheit der schwarzen Haut mancher Menschen anzuwenden sei.«116

Die schwarze Haut als solche war natürlich ein Konstrukt. Und die Schwärze des ›Negriten‹ erzählt davon, dass in seiner Entstehung das christliche Sündenkonzept auf verschiedene Weise (in kirchlichen und weltlichen Zusammenhängen) wirksam ist, der symbolisch schwarze Leib den weltlich schwarzen Leib hervorbringt. Es ist ein schwarzer Leib, dem es gleichermaßen am Licht der Religion und am Licht der göttlichen Vernunft mangelt, ein finsterer Leib, dem der Glaube an den ›wahren Geist‹ und ein sich davon emanzipierender ›lichthafter Geist‹, ein Licht-Wissen (das eine Ausstrahlung von Innen konstituiert) fehlt. Und es ist ein sexualisierter Leib, dessen sündhafte Sexualisierung das Schwarzwerden des Negriten und seine ›Weiblichkeit‹ hervorbringt. Kurz: Diese weltliche Schwärze ist nicht mehr (nur) teuflische Schwärze, sondern die Schattenseite der göttlichen Vernunft, welche die weltliche Weltwerdung des Lichts konstituiert, sichtbar werden lässt. Unterstützer des monogenetischen Ansatzes der Kirche beförderten letzlich eine ›kulturelle Menschwerdung Gottes‹, indem sie, unter Einbeziehung von Aristoteles’ Klimaansatz, davon ausgingen, dass alle Menschen bei ihrer Geburt weiß seien und sich erst nachträglich durch ›Luft‹ und ›Licht‹ eine Schwärzung einstelle.117 Hiermit wird nicht nur deutlich, dass die Kirche selbst am vorwissenschaftlichen Hautfarbendiskurs entscheidend beteiligt war, sondern damit auch ihren eigenen Autoritätsverlust und den Niedergang des mit ihr verbundenen Ständesystems beförderte.

116 Martin, P. (2001), S. 288. Zit. im Zit.: Luther, Martin. 1911. Dr. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 42. Weimar, S. 384. »[...] Autoritäten wie die Kirchenväter Hieronymus und Augustinus hatten [im Vorfeld] den Fluch Noahs im Kontext der von ihnen unter juristischen Aspekten betrachteten Sklavenfrage behandelt und dabei schon deshalb nicht an Afrikaner gedacht. Es ist unwahrscheinlich, daß sie die sprachliche Wurzel des Wortes ›Ham‹ gekannt haben, die soviel wie ›schwarz‹, ›heiß‹ oder auch ›Sonnenbrand‹ bedeuten kann. [...] Aber selbst wenn dies der Fall war, hatten sie keinerlei Interesse, ihr Wissen zu benutzen, um die schwarze Hautfarbe mancher Menschen zu erklären.« Martin, P. (2001), S. 287f., unter Bezugnahme auf Bordt, Arno. 1957. Der Turmbau von Babel. Bd. 1. Stuttgart, S. 122; Jordan, Winthrop D. 1969. White over Black. Baltimore, S. 18. 117 Vgl. Martin, P. (2001), S. 282.

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3 . 3 W e i ßw e r d e n : L i c h t d e r Au f k l ä r u n g u n d Beginn des ›Wissenschaftlichen Rassismus‹ 3.3.1 Vorbemerkung Im philosophischen Projekt der Aufklärung ist die Licht-Finsternis-Symbolik buchstäblich angelegt. Die Bewegung – im Englischen ›Enlightenment‹, im Französischen ›Lumières‹ – verschrieb sich dem Anspruch, durch das ›Licht der Vernunft‹ den ›dunklen Aberglauben‹ zu bekämpfen oder, wie Blumenberg formuliert: Die Aufklärung beinhaltet den »Vorwurf gegen das Mittelalter, daß es in seiner Lichtgläubigkeit seine eigene Finsternis nicht bemerkt habe.«118 Auf die »Schattenseiten der Aufklärung«,119 d. h. auf die dem aufklärerischen Gleichheitsanspruch inhärenten Ungleichheitskonzepte, die sich entlang der säkularen Strukturkategorien ›Rasse‹ und Geschlecht sowie entlang von sozialer Schicht und Religion organisieren, wurde in der Rassismus- und Genderforschung bereits verschiedentlich hingewiesen.120 Allerdings ist die Licht-Finsternis-Symbolik bisher kaum dezidiert mit der Entstehung der rassentheoretisch anthropologischen Farbsystematik und ihrer geschlechtsspezifischen Codierung in Zusammenhang gestellt worden. Wie sich bereits im historischen Vorfeld andeutete, werden schwarz-weiß-symbolische Wissensbestände jedoch nicht lediglich auf unterschiedliche Hautfarben übertragen, sondern kulturelle Farbsymbolsysteme bringen eine anthropologische Farbsystematik der farblichen Konstruktionslogik nach überhaupt erst hervor. Im Zeitalter der Aufklärung werden die hiermit verbundenen Naturalisierungsprozesse entlang der Kategorie ›Rasse‹ präzisiert und in erweitertem Sinne säkularisiert. Wissenschaftshistorisch verschränken sich hierbei philosophische Subjektinszenierungen, naturphilosophische Traditionen und empiristische Differenzierungsprozesse, wie im Folgenden exemplarisch gezeigt werden soll. Die Naturalisierungsprozesse basieren philosophisch auf einer weiteren Säkularisierung sowohl des Naturbegriffs als auch der göttlichen Vernunft. Die »›Natur des Menschen‹«, verbunden mit dem »›Naturrecht‹«, wird jetzt als säkulare Größe gefasst.121 Immanuel Kant (1724-1804) ersetzt in seiner »Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels« (1755) »den göttlichen Gesetzgeber nun durch einen anderen [...], nämlich durch den mensch118 Blumenberg, H. (2001), S. 169. 119 So der gleichnamige Titel des Buches von Hentges, G. (1999). 120 Vgl. u. a. Bovenschen, S. (1980); Brumlik, M. (2000); Bublitz, H. (1993); Gerhard, U./Jansen, M./Maihofer, A./Schmid, P./Schulz, I. (1990); Hall, S. (1994); Hentges, G. (1999); Hödl, K. (1997); Honegger, C. (1996); Mosse, G. L. (1997); Mosse, G. L. (2006); Volkov, S. (2001); Zantop, S. (2001). Interdependente Analyseperspektiven finden sich in der hier genannten Auswahl insbesondere bei Hall, S. (1994); Mosse, G. L. (1997); Zantop, S. (2001). 121 Vgl. Enzyklopädie Philosophie (1999), Bd. 1, S. 924, Stichwort Naturrecht.

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lichen, subjektiven, erkennenden Verstand.«122 Die göttliche Vernunft ›emanzipiert‹ sich hiermit zusehends vom Schöpfer, wird zu einer ›rein menschlichen‹ Größe. Kant liefert auch die wissenschaftstheoretisch ambitionierte »Unterscheidung der Naturphilosophie, d.h. der theoretischen Naturwissenschaft, von der Naturbeschreibung.«123 Der Begriff der Naturwissenschaften selbst wird im 18. Jahrhundert geprägt.124 Die Anthropologie entwickelt sich als Wissenschaft, Ethnographie und Ethnologie werden »im 18. Jahrhundert zu klar umrissenen Wissenschaftszweigen«,125 Natur zur säkularen Quelle der Erkenntnis. Ent-Spiritualisierungen bzw. Ent-Sakralisierungen der göttlichen Vernunft sowie des Naturbegriffs bilden danach die Voraussetzung dafür, dass sich der bereits im historischen Vorfeld einsetzende Naturalisierungsprozess in zusehends säkularer Ausgestaltung vollzieht. Inwiefern das rassentheoretische Konstrukt weißer Haut als Naturalisierung des ›Lichts der göttlichen Vernunft‹ begriffen werden kann, wird zu skizzieren sein. Damit interessieren im weiteren Sinne Verwissenschaftlichungs- und Visualisierungsprozesse des Gottesbildes sowie die Frage, auf welche Weise (Farb-)Symboliken der reinen (geistigen) Natur und das symbolische Licht des Geistes als solches im Rassekonstrukt vom weißen Menschen ›leibhaft‹ werden. Übergreifend wird somit der Frage nachgegangen, inwiefern die rassentheoretischen Aneignungsprozesse weißer Farbe als diskursive Ermächtigungsstrategie zu verstehen ist. In einem ersten Teil werden zunächst Vorläufer dieser Prozesse im 17. Jahrhundert zusammengefasst.

3.3.2 ›Naturalis lux‹: Anfänge der Rassisierung Im 17. Jahrhundert beginnt die »Wende zu den exakten Naturwissenschaften«,126 die wissenschaftshistorisch maßgeblich mit dem Namen Francis Bacon (1561-1626) verbunden wird. Anthropologische Daten werden nun erstmals im säkularen Sinne ›wissenschaftlich‹ systematisiert. Im Rahmen des sozio-politisch und philosophisch stärker werdenden Aufbegehrens gegen die göttlich legitimierte Ständehierarchie127 setzen diskursive Konstruktionsprozesse von Weißsein als anthropologischer Kategorie ein, und es lässt sich von den Anfängen des ›Wissenschaftlichen Rassismus‹ sprechen. Farbgebung und 122 Enzyklopädie Philosophie (1999), Bd. 1, S. 900, Stichwort Natur. 123 Enzyklopädie Philosophie (1999), Bd. 1, S. 916, Stichwort Naturgeschichte. 124 Vgl. Enzyklopädie Philosophie (1999), Bd. 1, S. 930, Stichwort Naturwissenschaften. 125 Neues Universal-Lexikon (1976), Stichwort Ethnographie. 126 Enzyklopädie Philosophie (1999), Bd. 1, S. 931, Stichwort Naturwissenschaften. 127 Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, S. 1133, Stichwort Säkularisierung.

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die Kategorie ›Rasse‹ gehen hierbei noch nicht dezidiert ineinander über. Philosophisch und gesellschaftlich jedoch beginnt ›Weiß‹ sich zu einer verallgemeinernden Größe zu entwickeln und erste ›naturwissenschaftliche‹ Rassensystematiken verweisen auf Prozesse gesellschaftlicher Neuordnung qua ›Natur‹, wie im Folgenden skizziert sei. Peter Martin weist unter Angabe lexikalischer Quellen nach, dass – zumindest im Deutschen – gegen Ende des 17. Jahrhunderts die Wörter ›weisz‹ und ›schwarz‹ erstmals zur (Kollektiv-)Beschreibung von Hautfarben für EuropäerInnen und AfrikanerInnen angeführt wurden.128 Unter sozio-politischen Gesichtspunkten bedeutet dies, dass sich im 17. Jahrhundert ›Schwarz‹ »weg von reiner Assoziation mit Farbe [verlagert]. Als Begriff und soziale Kategorie wurde ›Schwarz‹ Teil eines Systems einander gegenüberstehender und hierarchischer kultureller Konstrukte, die die Machtkonstellationen von KolonialherrInnen und Kolonisierten, SklavenbesitzerInnen und SklavInnen ausprägten und legitimierten.«129

Diese farbsymbolische Identifikation sozialer, kolonialistisch marginalisierter säkularer Gruppen, die im 16. Jahrhundert ihre Vorläufer findet, spiegelt sich Ende des 17. Jahrhunderts auch in den französischen Gesetzgebungen zur Sklavenhaltung, dem sogenannten ›Code noir‹,130 wider. Weißsein wird zu einer sprachlich fixierten säkularen Dominanzkategorie. Das buchstäbliche Weißwerden des Europäers, das mit diesen soziopolitischen Prozessen verbunden ist und Weißsein in eine asymmetrisch organisierte soziale Struktur übersetzt, sie als solche sprachlich sichtbar macht und sie zugleich diskursiv etabliert, visualisiert zunächst, seit etwa 1670, der europäische Adel mit der Modeerscheinung des Weißpuderns.131 Das optische Phänomen kann als Trotz, Mahnung oder auch karikierende Verzweiflungstat angesichts der ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Umbrüche gewertet werden. Dabei erscheint das Weißpudern als eine Binnenklassifizierung von Weißsein als säkularer Strukturkategorie, die sich als solche gerade erst zu etablieren begann und die religiöse Legitimierung des Adels bedrohte. Das ›Weißen‹ des Adels kann daher auch als eine sichtbare Antwort auf den Visualisierungsprozess als Naturalisierungsprozess gelesen werden. Es verweist auf den Bedeutungszuwachs des Visuellen hinsichtlich sozialer Gruppenformationen – einer Visualität, die sich auf Körperkonstruktionen bezog. Die Modeerscheinung gibt hiernach bildlich Aufschluss über die allmähliche Einschreibung der Symbolik in die menschliche ›Natur‹ und ist zugleich 128 129 130 131

Vgl. Martin, P. (2001), S. 101. McLaughlin, A. N. (1993), S. 240. Vgl. Gilman, S. L. (1992), S. 140. Vgl. Martin, P. (2001), S. 102f.

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Spiegel der Konstruktionshaftigkeit dieser einsetzenden Anthropologisierung religiöser Codierungen, ein bewusst symbolischer Bezug auf die Farbe Weiß, interpretierbar als ein Ausdruck der standesgemäßen Nähe zu Gott.132 Für das Bürgertum hingegen stand mit dem säkularen Konzept von Weißsein eine neue Form der Ab- und Herleitung göttlicher Legitimation in Verbindung, eine Weiße, die sich philosophisch aus dem ›Licht der göttlichen Vernunft‹ herleitet. Mit René Descartes (1596-1650), einem der Vordenker der Aufklärung, wird die diskursive Übertragung des göttlichen Lichts auf den ›Vernunftmenschen‹ als Naturalisierung förmlich greifbar. Dies zeigt sich in Descartes’ Verhandlung der ›intuitiven‹ Erkenntnismöglichkeiten: »Von aller Sinneserfahrung unabhängig, konnte sie [die Intuition] nur auf das reine ›Licht der Vernunft‹ gestützt werden, das nun als lumen naturale, eine Mitgift des göttlichen Schöpfers an alle Menschen als Vernunftwesen, angesehen wurde.«133

Dabei versteht Descartes »unter dem ›lumen naturale‹ die angeborene Fähigkeit des Geistes, aus eigener Kraft und Einsicht die Prinzipien des Erkennens in ihrer notwendigen Gültigkeit zu erfassen, die logische Erkenntnisfähigkeit, auch unabhängig von Erfahrungen.«134

Die frühneuzeitliche Vorstellung vom ›studiosus homo‹ als ›naturalis lux‹ wird hier verallgemeinert, das Licht der Vernunft wird als ›lumen naturale‹ zu einer, wenn auch noch gottgegebenen, natürlichen Eigenschaft potentiell aller Menschen. Mit dieser Naturalisierung des Lichts verlagert sich die daran gebundene symbolische Weiß-heit diskursiv in die ›menschliche Natur‹, sie wird symbolischer Grundbestandteil des cartesianischen Subjekts.135 Die Naturalisierungsprozesse dieser, bei Descartes philosophisch-symbolisch gefassten ›Weißheit‹ des ›Vernunftsubjekts‹, eine Weißheit, die durch Licht- und Männlichkeitssymbolik bestimmt ist, nehmen entlang der aufklärerischen Neukonzeption des ›Naturrechts‹136 konkretere Formen an. In den Subjektkonzeptionen weiterer früher Vertreter der Aufklärung, »Sozialphilo132 Das widerspricht nicht der Überlegung, dass das im Kontext des Kolonialismus bedeutsamer werdende Verständnis zum Weiß als ›optischer‹ Größe auch vom europäischen Adel selbst übernommen und ihm sozio-politische Relevanz zugewiesen wurde. Dazu und zu weiteren Interpretationen des Weißpuderns vgl. Martin, P. (2001), S. 102-104. 133 Enzyklopädie Philosophie (1999), Bd. 1, S. 663, Stichwort Intuition. 134 Wörterbuch der philosophischen Begriffe (1904), Stichwort lumen. 135 Zum cartesianischen Subjekt und der dualistischen Grundstruktur vgl. u. a. Hall, S. (1994), S. 189. 136 Vgl. u. a. Hall, S. (1994), S. 190.

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sophen«137 wie Thomas Hobbes (1588-1679) und John Locke (1632-1704), manifestiert sich hiernach ein durch Männlichkeit, Geist und die Farbe Weiß gekennzeichnetes eurozentrisches Selbstbild: Das ›Licht der Vernunft‹, das ›dem Europäer‹ einen ›weißen Leib‹ verschafft, konstituiert sich dabei in Abgrenzung über seinen Mangel, wobei aufklärerisch-philosophische und ›naturwissenschaftlich‹-anthropologische Wissensproduktion verschränkt sind. So meinte »John Locke beispielsweise, daß der ›Neger‹ kein Mensch sein könne, und Leibniz war der Ansicht, daß die Wilden Amerikas grausamer als die Tiere seien. [...] Voltaire [...] bezeichnete ›Neger‹ als Tiere und leitete ihre Herkunft aus einer Intimität von Frauen mit Affen her [...].«138

Die Exklusivität des ›Lichts der Vernunft‹ (Locke spricht auch vom »true light in the mind«139) wird hier über Vereindeutigungen des außereuropäischen ›Anderen‹ als Sinnbild der wilden, dunklen, sexualisierten und sündhaften Natur in zusehends säkularen Formen und kategorialen Verallgemeinerungen gefasst. Darauf deutet schon der Übergang vom Begriff ›Negriten‹ zum Begriff ›Neger‹, der seit dem Ende des 17. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnt und im 18. Jahrhundert schließlich auch im Deutschen Verbreitung findet.140 Das ›Licht der Vernunft‹ verbindet sich der aufklärerischen Konzeption nach zugleich mit der Ausstrahlung des ›Lichts der Kultur‹, wobei Kultur in Abgrenzung zu Natur den Bildungs-, Entwicklungs- und Zivilisierungsgedanken impliziert.141 Und dabei ist, wie bereits im historischen Vorfeld angelegt, ein Zusammenhang von Kultur, Geist und Schriftkenntnis, d. h. griechisch-lateinischer Schriftlichkeit bedeutsam. Dass des ›Lichtes der Vernunft‹ auch die europäische Frau ermangele, war den Diskursen als ›naturgegebene Tatsache‹ eingeschrieben.142 Die hier implizit wirksamen Bilder der symbolisch schwarzen Natur werden so auch Bestandteil der Konzeption säkularer Weißer Weiblichkeit – als Zuschreibungen von Naturhaftigkeit, Vernunftlosigkeit und Irrationalität, die verschiedentlich mit Dunkelheit assoziiert sind, im sich etablierenden Ideal der Mütterlichkeit143 jedoch gerade ›reine‹ Weiblichkeit beschreiben. Die Konstruk137 138 139 140

Hall, S. (1994), S. 171-174, 189-190. Hödl, K. (1997), S. 230. Wörterbuch der philosophischen Begriffe (1904), Stichwort lumen. Vgl. Martin, P. (2001), S. 85; Oguntoye, K./Opitz, M./Schultz, D. (1991), S. 20f. 141 Zur Idealisierung und Zivilisierung im 16.-18. Jahrhundert vgl. Hall, S. (1994), S. 159-174. 142 Vgl. u. a. Oguntoye, K./Opitz, M./Schultz, D. (1991), S. 26; Bublitz, H. 1993; Honegger, C. (1996). 143 Vgl. u. a. Bublitz, H. (1993); Honegger, C. (1996).

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tionen unterscheiden sich entsprechend von den eurozentrischen Entwürfen Schwarzer Weiblichkeit und den diskursiven Verweiblichungen des außereuropäischen ›Anderen‹ als homogenisierter Gemeinschaft. Dabei kann nicht zuletzt auch die eurozentrisch konstatierte gewaltvolle Triebhaftigkeit des Schwarzen Mannes als weltliches Bild der symbolisch schwarz und weiblich codierten, unkontrollierten und zu beherrschenden Natur gelesen werden.144

3.3.3 Erste Rassenkonstruktionen Der Begriff ›Rasse‹/›race‹ ist im 17. Jahrhundert einerseits noch ein Synonym für ›Menschengeschlecht‹. So verzeichnet das Wörterbuch der französischen Akademie 1694 den Eintrag »La race mortelle, pour dire, le genre humain«.145 Und analog zur Bezeichnung ›race of christ‹ spricht etwa John Milton (16081674) in seinem epischen Gedicht »Paradise lost« (1667) von der »race of satan«, eine Formulierung, die sich ebenso auf alle Menschen bezog.146 Andererseits jedoch wird der Begriff ›Rasse‹ Ende des 17. Jahrhunderts erstmals von dem französischen Arzt und Forscher François Bernier (1620-1688) in anthropologisch klassifizierendem Sinne verwendet,147 und hiermit »beginnen moderne Rassentheorien im weiteren Sinne.«148 Bernier nimmt in seiner Schrift »Journal des Sçavans« (1684) unter Bezug auf somatische Kriterien die Einteilung der Menschheit in vier bis fünf geographische Großgruppen vor, die er durch die Begriffe ›espèce‹ und an zwei Stellen auch mit dem Begriff ›race‹ kennzeichnet.149 »Dabei rückte Bernier Form und Beschaffenheit von Körper, Gesicht, Nase, Lippen, Zähnen und Haaren in den Vordergrund, während die meisten seiner Zeitgenossen die Hautfarbe als ausschlaggebend beurteilten.«150

144 Die Zuschreibung von gewaltvoller tierischer Triebhaftigkeit findet sich bereits Anfang des 17. Jahrhunderts z. B. bei Edward Topsell. Vgl. Martin, P. (2001), S. 208, unter Bezugnahme auf Edward Topsell. 1607. The Historie of Fovre-Footed Beastes. London, S. 10. 145 Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 141, Stichwort Rasse. 146 Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 141, Stichwort Rasse. 147 Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 142, Stichwort Rasse. 148 Geiss, I. (1995), S. 91-107, S. 98. 149 Die geographischen Bestimmungen, die Bernier vornahm, umfassten für die erste Gruppe »[...] Europa, Nordafrika und Asien einschließlich Indien, die zweite Afrika südlich der Sahara und die dritte Zentral-, Ost- und Nordasien bis an die Grenzen Moskaus«; die Bewohner Amerikas zählte Bernier »eher zu Europa«, anstatt sie als eigene Gruppe zu bezeichnen, stattdessen bestimmte er die »Lappen« als »vierte espèce«. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 142, Stichwort Rasse. 150 Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 142, Stichwort Rasse.

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Dass Bernier die Hautfarbe nicht zu einem Hauptkriterium erhebt, deutet auch darauf hin, dass die vermeintliche ›Offensichtlichkeit‹ eines Klassifikationssystems der Pigmentierung erst in Entwicklung begriffen war, wenngleich im Vorfeld der Begriff ›Negriten‹ schon als eine solche anthropologisch ›beschreibende‹ Funktion gelesen werden kann. Berniers System vermittelt den Anschein objektiver Naturbeschreibung, einer visuellen ›Wahrheit‹, wobei sowohl die Klassifikationssystematik als auch die einzelnen Charakterisierungen von Wertigkeiten durchzogen sind. Hierbei spielen ästhetische Kriterien und Vorstellungen der ›wilden Natur‹ eine entscheidende Rolle. Dies zeigt sich in Berniers Vorstellung der »Lappen«, die ihm als »vierte espèce« gelten, als »vilains animaux mit ›Bärengesichtern‹«151 beschrieben werden und als solche die dunkle, wilde Natur verkörpern. In Gottfried Wilhelm Leibnitz’ (1646-1716) Entwurf der ›Großen Seinskette‹ wird die Differenzierung und Hierarchisierung des Menschseins bereits mit Bezug auf Bernier als eines der ersten Rassenkonstrukte erkenntlich.152 Die Theorie der ›Großen Seinskette‹/›Great Chain of Being‹, die »bei Leibnitz unter der Bezeichnung Lex continui (›Kontinuitätsgesetz‹) ihren höchsten Ausdruck fand«,153 konnte zwar noch mit dem kirchlichen Weltbild und der göttlich legitimierten Ständegesellschaft in Einklang gebracht werden, sie leistete jedoch gleichzeitig einer »Säkularisierung des Denkens«154 Vorschub. Dies kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass diese Systematisierung der ›Natur‹ »den universalen Machtanspruch des Bürgertums [artikulierte], indem es die Welt auf eine neue Weise nach inhaltlichen Kriterien der Leistungsbereitschaft und sozialen Nützlichkeit aller Geschöpfe ordnete [...].«155

Über diesen Nützlichkeitsgedanken wurde der Machtanspruch des Adels infrage gestellt,156 und, so lässt sich anschließen, der Gedanke menschlicher Schöpfungspotenz und ›Vernunft‹ in das System integriert. Bei Leibnitz wie bei Bernier werden die Farben Schwarz und Weiß noch nicht an den Rassebegriff gebunden. Dennoch werden andere weltliche – kör151 Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 142, Stichwort Rasse. 152 Leibnitz benutzt den Rassebegriff in zweifachem Sinne; erstens zur Kennzeichnung der gesamten Spezies, zweitens zur Unterklassifizierung in (fünf) verschiedene »tribus, races ou classes«. Leibnitz, Gottfried Wilhelm an Johann Gabriel Sparwenfeld. 08.02.1697. In: Ders. 1728. Otium Hanoveranum. Leipzig, S. 37. Zit. in: Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 143, Stichwort Rasse. 153 Martin, P. (2001), S. 198. 154 Martin, P. (2001), S. 203. 155 Martin, P. (2001), S. 200. 156 Vgl. Martin, P. (2001), S. 201.

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perliche und geografische – Kriterien eingeführt, die schwarz-weiß-symbolische Traditionen transportieren und im ›Natursystem‹ neu formiert werden. Die dem Konzept der Seinskette inhärente Schwarz-Weiß-Logik zeigt sich deutlich in Leibnitz’ Schrift »Otium Hanoveranum« (1728). Darin wird nach klassischem Vorbild eine Klassifizierung vorgenommen, die zwischen »extremos et medios«157 unterscheidet. Zu den »extremos« zählt Leibnitz AfrikanerInnen (»Nigritae«) und Lappen (»Lappones«)158 – eine Einteilung, die, wie bei Bernier, darauf verweist, dass sich ›europäische Identität‹ erst zu entwickeln begann. Die ›extremos‹ sind dabei mit der ›wilden Natur‹ assoziiert, als solche erscheinen sie als ›schwarze‹ Abweichung der Natur und stehen den ›medios‹ gegenüber, die einen ›ausgeglichenen‹ natürlichen Zustand menschlicher Norm verkörpern. Neben den hierarchisch-monogenetisch konzipierten Ansätzen, in denen wie bei Leibnitz der Entwicklungsgedanke, das Konzept der Stufenfolge und das Kontinuitätsgesetz angelegt ist,159 bleiben die Thesen zu unterschiedlichen Abstammungsvätern präsent und entwickeln sich weiter.160 Die Bezugnahme auf die Noah-Legende der Verfluchung Hams spielt im Hautfarbendiskurs nach wie vor eine Rolle und wird von Theologen, die zugleich als ›Historiker‹ (u. a. Peter Heylyn (1600-1662)) und als Mediziner (u. a. J. L. Hannemann (1639-1724)) in Erscheinung treten, ebenso weiterverarbeitet wie von weltlichen Kräften (u. a. vom englischen Arzt Thomas Browne (1605-1682)).161 Die vermeintlichen Erklärungen schwarzer Haut beinhalteten darüber hinaus die Vorstellungen, dass über die »Phantasie« oder auch ›Schockzustände‹ der Mutter während der Schwangerschaft schwarze Kinder geboren werden könnten.162 Über die Vorstellung des ›Schocks‹ als Ursache setzen demnach auch erste Pathologisierungen schwarzer Haut ein, die sich in historischer Folge mehren und medizinisch präzisiert werden. Mit Blick auf die ›Phantasie‹ der Mutter zirkulierte u. a. ebenso die Vorstellung, dass bereits der Anblick eines »gemalten Bildes« die Farbe des Kindes erzeugen könne: Diese Erklärung galt auch unter farblich umgekehrten Vorzeichen, wie der Arzt Browne unter Rückbezug auf antike Quellen am Beispiel einer ›Mohrenkönigin‹ suggeriert, die durch den Anblick des Bildes der Andromeda ein weißes Kind geboren habe.163 Daraus lässt sich einerseits auf die phantasievollen Erklärungsmuster schließen, die das 17. Jahrhundert durchzogen. Die Vorstellung von der 157 Leibnitz, Gottfried Wilhelm. 1728. Otium Hanoveranum, S. 159f. Zit. in: Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 143, Stichwort Rasse. 158 Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 143, Stichwort Rasse. 159 Vgl. Martin, P. (2001), S. 200-203. 160 Dafür steht beispielhaft Isaak de la Peyrères (1594-1676) ›PräadamitenTheorie‹. Vgl. Martin, P. (2001), S. 281; Hödl, K. (1997), S. 108. 161 Vgl. Martin, P. (2001), S. 283, 287. 162 Vgl. Martin, P. (2001), S. 289. 163 Vgl. Martin, P. (2001), S. 289.

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Macht des Bildes verweist aber auch auf die Realitätsmächtigkeit und die buchstäbliche Zeugungspotenz, die dem Bild selbst zugesprochen wurde: Sie gibt damit nicht zuletzt Aufschluss über die Wirkmächtigkeit des Visualisierungsprozesses, welcher die mediale Voraussetzung für die Farbgebung als solche und die visuelle ›Belebung‹ des Abstrakten darstellt.

3.3.4 Linné: Entwicklung des Hautfarbenschemas Das nicht nur sprachlich, sondern zusehends wissenschaftlich fixierte Weißwerden des Europäers wird erstmals vom schwedischen Botaniker Carl von Linné (1707-1778) im Hautfarbenschema seiner »Systema naturae« (1735/ 1740/1748/1758) systematisch etabliert.164 Diese für den weiteren historischen Verlauf und bis heute wirkmächtige anthropologische Farbsystematik verdeutlicht besonders anschaulich die Überführung symbolischer Differenzsysteme in säkulare ›Naturwahrheiten‹. Denn hier werden, wie u. a. Ulrich Kattmann gezeigt hat, die naturphilosophischen Kategorien der antiken Säftelehre in wissenschaftlich-anthropologische Kategorien umgedeutet: Die numerologische Viergliederung der ›complexion‹ bildet demnach die Grundlage der Differenzierung der ›species homo‹ in schwarze, weiße, rote und gelbe Menschen. Linnés Farbgebung erweist sich dabei als prozesshaft: »Wie die Erdteile und Körpersäfte sollten die Hautfarben ein objektives Kriterium abgeben. Die Angaben dazu wurden bei Linné in diesem Sinne von Auflage zu Auflage eindeutiger. Nur der Afrikaner bleibt von der ersten Auflage an unverändert ›niger‹ (schwarz). Der Europäer wird von ›albescens‹ (weißwerdend) zu ›albus‹ (weiß), der Amerikaner von ›rubescens‹ (rotwerdend) zu ›rufus‹ (rot). Die stärksten Änderungen macht der Asiate durch: Seine Farbe wechselt von ›fuscus‹ (dunkel, bräunlich bis schwarz) bis zu ›luridus‹ (blaßgelb).«165

In Tradierung der vier Temperamente der Säftelehre ordnet Linné 1758 dem ›Europaeus albus‹ das Temperament der ›Sanguiniker‹, dem ›Americanus rufus‹ das Temperament der ›Choleriker‹, dem ›Asiatus luridus‹ jenes der ›Melancholiker‹ und dem ›Afer niger‹ das der ›Phlegmatiker‹ zu.166 Hiermit verschiebt sich die im Mittelalter vorzufindende symbolische Zuordnungssystematik der complexion, die u. a. die Farbe Weiß noch mit dem Temperament des ›Phlegmatikers‹ assoziiert hatte: ›Phlegmatisch‹ wird jetzt ›der Schwarze‹; als Sanguiniker ist der ›Europaeus albus‹ nun mit dem Element Luft, d. h. mit dem Reich des Geistes assoziiert. Was sich im 16. Jahrhundert bereits an164 Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 145, Stichwort Rasse. 165 Kattmann, U. (1999), S. 73f. 166 Vgl. Kattmann, U. (1999), S. 73, unter Bezugnahme auf Linné, Carl von. 1758. Systema naturae per regna tria naturae. 10. Aufl., Holmiae.

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deutet, nämlich die Einschreibung der abendländischen Schwarz-WeißSymbolik in das Farbsystem der ›complexion‹, wird hier als eine farbsymbolische Zuordnungsstruktur des Geist-Materie-Dualismus manifest. Die nun vereindeutigten Hautfarben werden zu Indizien für spezifische weltliche Gruppen-Charaktere, zu Markern von Linnés »geographischen Varietäten«.167 Linnés naturphilosophisch inspirierte Systematik durchzieht dabei der asymmetrische Konstruktionsmodus eurozentrischer Gruppen-Charakterisierung. Die Farbe Weiß erlebt nicht nur (wie bereits bei Las Casas) einen ›Geschlechtswechsel‹ – von ihrer in der mittelalterlichen Lehre der ›complexion‹ angelegten Bedeutung der Effeminität hin zum ›männlichen‹ Licht/Geist (vgl. Kap. 3.2.3) – sondern sie wird als farblicher Marker männlich codierter Rationalität vereindeutigt. Die inhaltliche Verschiebung der Farbe Weiß knüpft einerseits an farbsymbolische Traditionen der griechischen Antike an, ist aber andererseits auch als Ausdruck einer Säkularisierung farbsymbolischer Bedeutungsinhalte zu verstehen. Dies jedenfalls legen Linnés Charakterisierungen im Einzelnen nahe: Demnach sei der weiße Europäer »zu Erfindungen geschickt« und »durch Gesetz regiert«,168 der schwarze Afrikaner hingegen sei von »boshafter, fauler und lässiger Gemütsart«, er werde »durch Willkür regiert«.169 In der Verbindung von weißer Haut und intellektueller Potenz wird demnach die farbsymbolische Entsprechung der weißen Farbe des Lichts mit Geistigkeit und Aktivität manifest. Die Assoziation des ›schwarzen Afrikaners‹ mit ›Boshaftigkeit‹ hingegen impliziert eine Überführung der schwarzen Farbe des Teufels in weltliche Muster. Und in der Beschreibung der ›faulen‹ und ›lässigen‹ Gemütsart des Afrikaners scheinen sowohl christliche Traditionen des schwarz symbolisierten Lasters der Faulheit auf als auch symbolische Bilder der passiven, dunklen Materie im weiteren Sinne. Als Marker weltlicher Gruppenformationen geben die Farben hiermit kolonialistischen Herrschaftsverhältnissen einen ›natürlichen‹, sichtbaren Sinn. Rot und gelb kennzeichnen in diesem Schwarz-Weiß-System der Extreme Zwischenstufen. Wenn Linné den ›gelben‹ Asiaten in abwertendem Tonus durch einen Hang zu »Pracht, Hoffart und Geld«170 beschreibt, so kann diese Charakterisierung auch in Relation zur zeitgenössischen (bürgerlichen) Kritik am europäischen Adel gesetzt werden. Die Integration dieser Charakterisierung in die 167 Kattmann, U. (1999), S. 73. 168 Linné, Carl von. 1773. Natursystem. Nach der 12. lat. Ausg., hrsg. v. Philipp Ludwig Statius Müller. Bd. 1. Nürnberg, S. 89. Zit. in: Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 145, Stichwort Rasse. 169 Linné, Carl von. 1773. Natursystem. Nach der 12. lat. Ausg., hrsg. v. Philipp Ludwig Statius Müller. Bd. 1. Nürnberg, S. 89. Zit. in: Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 145, Stichwort Rasse. 170 Linné, Carl von. 1773. Natursystem. Nach der 12. lat. Ausg., hrsg. v. Philipp Ludwig Statius Müller. Bd. 1. Nürnberg, S. 89. Zit. in: Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 145, Stichwort Rasse.

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›Systema Naturae‹ gibt danach auch einen Hinweis darauf, dass die Kategorie ›Weißsein‹ ihrem Entstehungshintergrund nach als eine ›Naturkategorie‹ des Bürgertums zu verstehen ist, welche den Herrschaftsanspruchs des Adels infrage stellte (siehe Kap. 3.3.7). Diesen farblichen Kategorien übergeordnet findet sich bei Linné zudem die Differenzierung zwischen dem vernünftigen ›Tagmenschen‹ (dem sogenannten ›homo sapiens diurnus‹) und dem ›Nachtmenschen‹ (dem sogenannten ›Troglodyt‹ als ›homo nocturnus‹). Bezeichnet der Tagmensch die Menschheit als solche, so stellt letzterer eine »Mischung aus klassischem Fabelwesen und Fehlinformation über Schimpansen und Orang Utang (Waldmensch) als einer Übergangsform zum Tierreich«171 dar. Linné, der den Menschen erstmals in das Tierreich einordnet,172 artikuliert demnach den Entwicklungsgedanken vom Tier zum Menschen als symbolische Aufhellung hin zum ›Licht der Vernunft‹. Die Licht-Finsternis-Symbolik wird hier buchstäblich der Natur eingeschrieben. Im Tagmenschen nehmen die ›Götter des Taghimmels‹ eine irdische menschliche Gestalt an. Die Untergliederung des Tagmenschen qua Hautfarbe schafft dabei mit der weißen Farbe des Europäers eine farbsymbolische Entsprechung, welche denselben als eigentlichen vernünftigen Tagmenschen identifiziert, das Licht der Vernunft visualisiert. Die ›Tag- und Nachtmenschen‹ werden schließlich im 19. Jahrhundert durch den Dresdner Mediziner Carl Gustav Carus rassentheoretisch spezifiziert (vgl. Kap. 4).173

3.3.5 Schönheit, Krankheit, Sündenfall: Ästhetisierung und Pathologisierung Der französische Naturforscher George Luis Leclerc Comte de Buffon (17071788), der durch seine »Histoire naturelle«174 als »Vertreter der Entwicklungslehre«175 gilt, schließt an Linnés Farbsystematik an. Buffon benutzt sowohl, wie Linné, den Begriff der menschlichen ›Varietät‹ (variété) als auch den Begriff ›Rasse‹ (race), um die menschliche Spezies (espèce) zu differenzieren.176 ›Rasse‹ wird Buffon zum naturgeschichtlichen Ordnungsbegriff. Für Buffon steht dabei, anschließend an vorangegangene Erklärungsmuster, das Klima als prägender Faktor morphologischer und seelisch-geistiger Differenzierung im Vordergrund, und seine Charakterisierungen sind von ästhetischen Kriterien bestimmt. So hebt Buffon »die ›weiße‹, europäische Rasse als die 171 172 173 174

Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 146, Stichwort Rasse. Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 145, Stichwort Rasse. Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 153, Stichwort Rasse. Buffon, Luis Leclerc Comte de. 1749-1804. Histoire naturelle générale et particulière. 44 vols., Paris. 175 Neues Universal-Lexikon (1976), Bd. 1, S. 270, Stichwort Buffon. 176 Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 146, Stichwort Rasse.

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schönste und beste vor den Rassen der schwarzen, roten und gelben Menschen in Afrika, Amerika und Asien« hervor.177 Dieser Zusammenhang von Schönheit, Norm und Weißsein wird die weiteren rassentheoretischen Entwicklungen immer wieder durchziehen (vgl. auch Kap. 3.3.7). Hervorzuheben sind die farbsymbolischen Konstruktionslogiken, denn der Zusammenhang von ›schöner‹ Natur und weißer Farbe kann an die künstlerisch-ästhetischen Neukonstruktionen/Rationalisierungen der Natur in der Renaissance angebunden werden. Die göttliche Licht-Natur wird hier einem Prozess der Rassisierung unterworfen, die in der Farbe der weißen ›Rasse‹ ihre visuelle Entsprechung findet. Die geistig strukturierte, symbolisch lichte Materie verkörpert sich im weißen ›Rassekörper‹ und wird zur schönen Natur der weißen ›Rasse‹. Weiß wird zugleich in zusehends wissenschaftlicher Weise als ›ursprüngliche‹ Farbe manifestiert: Buffon, »in his treatise Dissertation physique à l’occasion du Nègre blanc (1744), posits ›white‹ as the basic anthropological color and downgrades ›black‹ to a degeneration«.178 Wie Buffon benutzt auch der französische Gelehrte Pierre-Louis de Maupertuis (1698-1759) den Degenerationsbegriff, um schwarze Haut zu ›erklären‹ und ihren »rezessiven Charakter«179 zu kennzeichnen.180 Der Gedanke der Abweichung von einer farblich weißen Ausgangsnorm schließt ebenso an Vorstellungen des 17. Jahrhunderts an. Der Begriff der ›Degeneration‹ hingegen verweist auf neue Formen der Verwissenschaftlichung und impliziert gleichermaßen einen ›Fehler‹ der Natur wie auch Krankhaftigkeit – Erklärungsmuster, über die sich ein Zusammenhang von Weißsein, Schönheit und Gesundheit konstituiert. 100 Jahre später, Mitte des 19. Jahrhunderts, wird der Psychiater BenedictAugustin Morel (1809-1873) den Degenerationsbegriff in seiner Bedeutung von Krankheit präzisieren. Er reartikuliert dabei einen Grundgedanken, der bereits Buffons und Maupertuis’ Degenerationsbegriff (wenn auch auf andere, fundamental farbsymbolische Weise) eingeschrieben ist: nämlich die Vorstellung von Degeneration als »Sündenfall der menschlichen Natur«,181 dem ein »religiös-anthropologische[r] Ausgangspunkt«182 vorausgeht: Hiernach setzt Morel »an den Anfang einen ›type primitif‹ – Adam, den ersten Menschen vor dem Sündenfall –, der die Züge göttlicher Ebenbildlichkeit am reinsten verkörpert«.183 Bildlich markiert die schwarze Farbe der Sünde in säkularer Gestalt des schwarzen ›Rassetypus‹ bei Buffon und Maupertuis den farblichen Degenera177 Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 147, Stichwort Rasse. 178 Benthien, C. (2002), S. 145. 179 Poliakov, Léon. 1993. Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus. Hamburg, S. 189. Zit. in: Hödl, K. (1997), S. 122. 180 Vgl. Hödl, K. (1997), S. 122. 181 Dornhof, D. (2005), S. 93. 182 Dornhof, D. (2005), S. 93. 183 Dornhof, D. (2005), S. 93.

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tionsprozess als Sündenfall. Der ›religiös-anthropologische Ausgangspunkt‹, der ›type primitif‹, lässt sich als ›weißer Adam‹ und rassisierter weißer Körper fassen. Degeneration als Zeichen des Schwarzwerdens kann in anderen Worten als säkularisierte Erzählung des Sündenfalls verstanden werden, als eine wissenschaftliche Reinszenierung religiöser Traditionen, in denen ebenso gnostische Denkmuster aufscheinen, die vom Fall des Lichts in die sündige schwarze Materie berichten – nur dass Sünde sich in Krankheit übersetzt, Göttliches in reine weiße, gesunde Materie. So allegorisch dieses Zusammendenken religiöser Wissensbestände und säkularer Rassentheorien erscheint, um so plausibler wird es unter Einbeziehung weiterer zeitgenössischer Erklärungsmuster von ›Hautfarben‹. Christliche Vertreter der Monogenese interpretierten, wie Martin zeigt, die schwarze Haut buchstäblich als ›Kainszeichen‹, das auf eine diabolische Herkunft verweise; der Jesuitenpater August Malfert greift auf mittelalterliche Vorstellungen des ›Schwärzens‹/›Anschwärzens‹ zurück und konstatiert, dunkle Haut sei ein Ausdruck von Sünde.184 Diderots Enzyklopädie von 1780 schreibt die These fort, die Einbildungskraft der Mutter beeinflusse die Hautfarbe, die schwarze Haut sei Resultat eines – psychischen – Schocks.185 Und Mediziner wie der amerikanische Arzt Benjamin Rush (1745-1813) gingen davon aus, dass »die Farbe der Schwarzen die Folge einer erblich gewordenen Krankheit, nämlich Lepra, wäre. [...] In Afrika, meinte Rush, machten das extreme Klima, allzu scharfe Speisen und eine exzessive Lebensweise die ›Neger‹ sehr anfällig für diese Krankheit. Darüber hinaus gäbe es eine auffallende Entsprechung zwischen den ›typischen‹ Körpermerkmalen der ›Neger‹ und den charakteristischen Auswirkungen der Lepra auf den Menschen: schwarze Haut, Insensibilität der Nerven, starke geschlechtliche Begierden, dicke Lippen, platte Nasen und wolliges Haar. Und da Lepra erblich sei, würden ihre Auswirkungen von Generation zu Generation weitergetragen.«186

Hatte, so lässt sich schlussfolgern, die traditionell symbolische Identifizierung der Farbe Schwarz mit der irdischen, sündigen Materie und ein christlicher (und gnostischer) Moralzusammenhang von Sünde und Sexualität das Schwarzwerden des in eurozentrischer Tradition sexualisierten ›Anderen‹ (den ›Negriten‹) bereits hervorgebracht, so wird im rassentheoretischen Kontext des 18. Jahrhunderts verstärkt ein farbsymbolischer Sinnzusammenhang von schwarzer Sünde, Sexualität und Krankheit wirksam, der sich als Pathologisierung schwarzer Haut in säkulare Formen übersetzt. Über den Hautfarbendiskurs als Krankheitsdiskurs wird den abstrakten Farben Schwarz und 184 Vgl. Martin, P. (2001), S. 285f. 185 Vgl. Martin, P. (2001), S. 289. 186 Martin, P. (2001), S. 292.

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Weiß dabei eine Form von körperlicher ›Wirklichkeit‹ verliehen: Nicht nur der symbolisch schwarze Leib wird als ›kranker‹, sondern der lichte ›Geistleib‹ wird hiermit als ›gesunder‹ weißer (›Rasse‹-)Körper ›real‹. Der Medikalisierung des Hautfarbendiskurses sind zugleich Vorstellungen der Heilung inhärent: So wurde, wie bei Rush, die »Schwärze [...] als Abweichung von einem gesunden Zustand begriffen, den es wiederherzustellen galt.«187 Die Gesundung ist entsprechend mit einer Aufhellung des Körpers assoziiert, und diese lichtsymbolisch besetzten Heilungsphantasien legen, ebenso wie die zeitgenössischen chemischen Experimente zur Aufhellung des Pigmentierungsgrades der Haut,188 die Gleichzeitigkeit einer ›Profanisierung‹, Naturalisierung und rassisierten Anthropologisierung des Erlösungsgedankens nahe: D. h. dass hier – auf recht plakative Weise – christliche und gnostische Erlösungsvorstellungen einer Aufhellung zum lichten ›Geistleib‹ wirksam sind, die sich in die Natur, in die Haut, verlagern, über die Haut als Natur sichtbar gemacht und rassenspezifisch umgedeutet werden. Die diesen Vorstellungen vom Weißwerden und Schwarzwerden eingeschriebenen religiösen Gehalte hebt Martin mit Blick auf die christliche Denktradition bereits hervor und stellt dabei die Flexibilität der Farbgebung heraus, wenn er schreibt: »Die Annahme, daß ›Weiße‹ unter dem Einfluß bestimmter ›nachteiliger‹ Faktoren zu ›Schwarzen‹ werden könnten, war nichts anderes als eine säkularisierte Version der alten Geschichte von Noahs Fluch, nur daß hier das Klima, die chemische Umwelt oder eine Krankheit an die Stelle der strafenden Gerechtigkeit Gottes getreten waren. [...] Wenn man deshalb sehr bald auch Fälle fand, in denen umgekehrt aus Afrikanern ›Weiße‹ wurden, dann ließ sich die Weißwerdung dementsprechend als eine Art profaner Erlösung von den Sünden und der ihnen folgenden Strafe eines barbarischen Lebens verstehen.«189

Über die von Martin angesprochene Wirksamkeit spezifisch christlicher Sünden- und Erlösungsvorstellungen hinaus können diese rassentheoretischen Farbgebungsprozesse jedoch eben auch – der Bewegungsstruktur von Sünde 187 Martin, P. (2001), S. 292. 188 Vgl. Martin, P. (2001), S. 292. 189 Martin, P. (2001), S. 292. Hinsichtlich der Transformation religiöser in säkulare Erklärungsmuster nimmt Martin hier Bezug auf Davis, David Brion. 1970 (1966). The Problem of Slavery in Western Culture. Cornell Paperbacks, 2nd pr., S. 457. Die Vorstellung vom ›Weißwerden‹ des Afrikaners war vielfach wiederum mit Pathologisierungen verbunden. Martin führt hierzu die Arbeiten von Samuel Thomas Sömmering (1754-1804), einem Schüler Blumenbachs, und den Prager Anatomie-Professor Joseph Thaddäus Klinkosch (1734-1778) an, bei denen eine konstatierte ›Bleichung‹ von Schwarzen durch die Gelbsucht, aber auch das Phänomen der sogenannten afrikanischen ›Albinos‹ verhandelt wird. Vgl. Martin, P. (2001), S. 292f.; vgl. zu diesbezüglichen Pathologisierungen, u. a. bei Buffon, auch Benthien, C. (2002), S. 146f.

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und Erlösung nach – an die gnostischen Denktraditionen von Fall und ›Auferstehung‹ des Lichts angebunden werden. Und es ist zudem hervorzuheben, dass der farbsymbolische Sinnzusammenhang von schwarzer Sünde und Krankheit schon im christlichen Mittelalter auftaucht (vgl. Kap. 2.4.4). Es ist demnach einerseits eine Übersetzung von Sünde in Krankheit zu konstatieren, d. h. es sind Prozesse einer Säkularisierung christlicher Sündenvorstellungen hin zur Pathologisierung zu verzeichnen, die sich auch in anderen Bereichen der Medizin des 18. Jahrhunderts ereignen.190 Gleichzeitig findet andererseits aber auch eine Naturalisierung des christlichen Sinnzusammenhangs von schwarzer Sünde und Krankheit im ›Krankheitsbild‹ der schwarzen Haut selbst statt. Wenn Sexualität in diesem Kontext als Zeichen der Krankhaftigkeit in Erscheinung tritt, so lässt sich eine doppelte Bewegung der Naturalisierung nachvollziehen: Denn bedingt der Symbolzusammenhang von schwarzer Sünde und Sexualität schon im historischen Vorfeld das Schwarzwerden (des ›Negriten‹), so wird über das nachträgliche Erklärungsmuster ›Krankheit‹ (und ihres Symptoms ›Sexualität‹) ein symbolischer Sinnzusammenhang von Sünde, Sexualität und Krankheit erneut als ›Natur‹ des rassisierten schwarzen Körpers (des ›Negers‹) festgeschrieben. D. h. aber auch, dass über den Hautfarbendiskurs als Krankheitsdiskurs der rassisierte weiße Körper nicht nur schön und gesund, sondern desexualisiert wird, und eine ›Heilung‹ vom Schwarzsein, verstanden als Weißwerdung, Prozesse der Desexualisierung impliziert. Es werden hiermit religiöse Charakterisierungen eines sündenfreien, symbolisch weißen (Licht-)Leibs reartikuliert, die sich in der Charakterisierung der weißen ›Rasse‹ als Charakterisierungszusammenhang von Schönheit, Tugend und Vernunft übersetzen (vgl. auch Kap. 3.3.7). Mit Blick auf die theologischen Erklärungsmuster, die schwarze Haut als ›Kainszeichen‹ deuten, können bereits Tendenzen einer religiösen Resymbolisierung ausgemacht und herausgestellt werden: D. h., die über die Naturalisierungsprozesse der Farbsymbolik zur ›Natur‹ gewordene schwarze Haut, die im 18. Jahrhundert zusehends in eine rassentheoretische, naturgeschichtlich und medizinisch erklärbare ›Wahrheit‹ übersetzt wird, wird über theologische Erklärungsansätze an den christlich farbsymbolischen Kontext rückgebunden. Das ›Kainszeichen‹ impliziert dabei in konträrer Lesart eine Identifizierung weißer Haut mit Göttlichkeit, eines Gott gegebenen und göttlich reinen, weißen Körpers, dessen Weiße sich als Prozess einer ›kulturellen Menschwerdung Gottes‹ verstehen lässt, ein Prozess, der, wenn auch nicht ausgesprochen, so doch über eine implizite göttliche Aufladung weißer Haut fassbar und theologisch als solcher sichtbar gemacht wird. 190 Dass die christliche Sexualmoral als solche Eingang in medizinische Konzeptionen des 18. Jahrhunderts findet, erläutert von Braun am Beispiel der medizinischen Debatten um die Onanie, in denen aus der »Todsünde« eine »tödliche ›Krankheit‹« wurde. Vgl. Braun, C. v. (2001), S. 422.

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Die somit auch im theologischen Kontext wirksame rassentheoretische Inszenierung der weißen Farbe als Farbe menschlicher Norm setzt Claudia Benthien, u. a. mit Blick auf die Thesen Buffons, mit der Farbsymbolik der Schrift in Verbindung: »As in printing technology or in painting, the ›white‹ skin ist understood as a kind of color-neutral canvas or blank sheet, a tabula rasa, and the dark skin as its colored or written-on counterpart. ›Colored‹ as opposed to light skin is thus interpreted as a marked epidermis; it becomes a skin that departs from the neutral norm.«191

Die Formulierung einer ›farb-neutralen‹ Norm und ihre Assoziation mit dem ›weißen Blatt‹ erscheint vor dem Hintergrund der Konstruktion farblicher (schwarzer) Abweichung und die über sie erfolgende ›Sichtbarmachung‹ weißer Haut sinnvoll (wobei angemerkt werden kann, dass der englische Begriff ›light‹ = ›hell‹ als Äquivalent für weiße Haut das ›Licht‹ bereits buchstäblich in sich birgt). Wie für den historisch vorangegangenen Kontext angedeutet, ist jedoch auch hier herauszustellen, dass die Farbe Weiß als Farbe des Lichts nicht nur als ›neutral‹, sondern eben durch Geist und Göttlichkeit markiert ist und ›Weißsein‹ mit der rassentheoretischen Inszenierung weißer Haut eine eigene, dezidiert farbliche Gestalt gewinnt. Als farblich visuelles Zeichen einer ›reinen‹ Natur lässt sich diese Weiße durchaus an die christlichen Deutungsmuster der Farbsymbolik der Schrift anbinden, in denen Maria als ›LogosGespinst‹ das weiße Blatt, d. h. eine reine, geistig strukturierte weiße Materie symbolisiert. Die schwarze Schrift jedoch, die der christlichen Tradition nach Christus, das göttliche (Schrift-)Zeichen darstellt, das Marias reiner Leib empfängt, wird als Sinnbild einer rassentheoretischen Schwärze lediglich als buchstäbliches ›Kainszeichen‹ erklärlich. Was dieses teuflische ›schwarze Zeichen‹ mit der (göttlichen) schwarzen Schrift teilt, ist das Sinnbild einer durch den (unsichtbaren) Logos hervorgebrachten, geistig strukturierten Schwärze – auch wenn die abstrakte rassentheoretische Konstruktion schwarzer (Haut-)Farbe gerade die Schwärze der wilden, ›unreinen‹ Materie markiert, die es (erst noch) durch den Logos zu zähmen, zu zivilisieren gilt. Auf die eine oder andere Weise ist die Einbeziehung der Schriftsymbolik in die symbolischen Traditionskontexte rassentheoretischer Farbgebung in übergeordnetem Sinne schon insofern plausibel, als dass die schwarze Farbe zum (gegenübergestellten) Bedeutungsträger eines (lichten) Logos wird, der im Rassekonstrukt vom weißen Menschen Gestalt annimmt. Diese Prozesse einer rassentheoretischen Materialisierung des Logos, des Lichts der Vernunft, und die damit verbundenen Konstruktionen einer ›reinen‹ Materie und ihrer

191 Benthien, C. (2002), S. 148.

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Gegenbilder seien im Folgenden entlang der Kantschen Rassentheorie weiter erläutert.

3.3.6 Kant: Weiße Vernunft Immanuel Kant (1724-1804) überträgt 1775 in seiner Schrift »Von den verschiedenen Racen der Menschen«192 den Rassebegriff ins Deutsche und überliefert das farblich viergliedrige anthropologische Modell. Ab 1785 verstärkt er in seiner »Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace«193 in Anlehnung an Linné die Hautfarbe als Differenzkriterium.194 Der Gedanke der Reinheit der ›Rassen‹ basiert bei Kant auf der Vorstellung ›reiner‹ erblicher Typen.195 Dabei ist »[d]ie Überlegenheit der Menschen des ›gemäßigten Erdstrichs‹ [...] von Kant noch konkreter als von Buffon betont worden. So hätten ›diese Völker zu allen Zeiten die andern belehrt und durch die Waffen bezwungen‹«.196

Kant schließt sich damit den Thesen Linnés zur besonderen Erfindungsgabe und Geschicklichkeit des Europäers an. Die angeblich geschichtlich konstante Belehrung anderer Völker durch den Europäer legitimiert letztlich den europäischen Kolonialismus, stellt zeitgleich eine Bezugnahme auf den aufklärerischen Gedanken der ›Entwicklungsfähigkeit‹ dar197 und impliziert eine Hierarchisierung qua ›Zivilisation‹.198 Wenn Kant, wie einleitend angesprochen, »den göttlichen Gesetzgeber [...] durch den menschlichen, subjektiven, erkennenden Verstand«199 ersetzt, so ist es wiederum die geistige Aktivität und Schöpfungspotenz, die hiermit von Gott auf ›den Menschen‹ übergeht. Und diese Potenz des Geistes wird, wie schon die vorangegangenen Ausführungen 192 Kant, I. (1977a). 193 Kant, I. (1977b). 194 Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 147, Stichwort Rasse; vgl. zu Kants Rassentheorie u. a. auch Hentges, G. (1999), S. 209-224; Piesche, P. (2005). 195 Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 148, Stichwort Rasse, unter Bezugnahme auf Kant, I. (1977b). 196 Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 148, Stichwort Rasse. Zit. im Zit: Kant, Immanuel. 1968 (1802). Physische Geographie. AA Bd. 9, 1923, Ndr. 1968, S. 317. Zu ähnlichen eurozentrischen Überlegenheitskonstruktionen bei Kant vgl. auch Piesche, P. (2005), S. 32, unter Bezugnahme auf Kant, Immanuel. 1764. Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. 197 Die meisten Aufklärer waren Anhänger der Monogenese. Sie versuchten, gegenüber dem statischen Konzept der ›Seinskette‹ den Fortschrittsgedanken zu betonen und setzten auf die ›Entwicklungsfähigkeit‹ der Nicht-Weißen. Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 144, Stichwort Rasse. 198 Zum Zivilisationsgedanken vgl. Piesche, P. (2005), S. 33. 199 Enzyklopädie Philosophie (1999), Bd. 1, S. 900, Stichwort Natur.

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nahelegen, von Kant nicht nur in der »Rasse der Weißen«200 maßgeblich verortet, sondern in rassentheoretischer Wendung (im Bild der »zarte[n] weiße[n] Haut«201) farbsymbolisch figuriert, visualisiert. Die folgenden Ausführungen werden diese Identifizierungslogik der Kantschen Rassentheorie näher veranschaulichen. Grundgedanken einer rassenspezifischen Physiologie und einer farblich weißen Ausgangsnorm sind in Kants Schrift »Von den verschiedenen Racen der Menschen« (1775) formuliert. Kant beginnt mit einer Einteilung in »1) die Rasse der Weißen, 2) die Negerrasse, 3) die hunnische (mungalische oder kalmückische) Rasse, 4) die hinduische oder hindistanische Rasse«202 und konstatiert: »Die Ursache, Neger und Weiße für Grundrassen anzunehmen, ist für sich selbst klar.«203 Dieser Systematik folgt eine Konkretisierung und Differenzierung, nach welcher eine »Stammgattung«, beschrieben als »Weiße von brünetter Farbe«, angenommen wird, aus der heraus sich alle vier ›Rassen‹ erst entwickelt hätten.204 Diese ›Stammgattung‹ erscheint der Hautfarbe nach ›weiß‹, der Haarfarbe nach ›brünett‹.205 Der Reihe nach werden die vier, sich aus dieser ›weißen Stammgattung‹ differenzierenden ›Rassen‹ nunmehr auch folgendermaßen charakterisiert: zunächst die »Erste Rasse: Hochblonde (nördl. Eur.) von feuchter Kälte; Zweite Rasse: Kupferrote (Amerik.) von trockener Kälte; Dritte Rasse: Schwarze (Senegambia) von feuchter Hitze; Vierte Rasse: Olivengelbe (Indianer) von trockener Hitze.«206

Die Erklärung dieser angenommenen farblich-physiologischen Unterschiede begründet Kant nicht nur erblich, sondern, wie den Beschreibungen zu entnehmen ist, macht er sie am Klima, d. h. an »Luft und Sonne«207 fest. Kant schließt damit sowohl an zeitgenössisch gängige als auch an bereits erwähnte klimatische Erklärungsmuster des 16. Jahrhunderts an. Lesen sich die klimatischen Charakterisierungen selbst schon wie Auszüge aus den individuellen physiologischen Zustandsbeschreibungen des Systems der ›complexion‹ (und der damit verbundenen antiken Säftelehre), so spielt der Gedanke einer spezifischen Säftemischung als Erklärung für Hautfarben auch konkret eine Rolle. Schon vor dem Hintergrund von Linnés System liegt es nahe, Kants ›Säftemischung‹ an die Lehre der ›complexion‹ und ihre frühneuzeitliche Modifizierung anzubinden. So erscheinen Kants Ausführungen im Detail sicherlich 200 201 202 203 204 205 206 207

Kant, I. (1977a), S. 14. Kant, I. (1977a), S. 27. Kant, I. (1977a), S. 14. Kant, I. (1977a), S. 16. Kant, I. (1977a), S. 28. Zu dieser Farbzuweisung vgl. auch Hentges, G. (1999), S. 211. Kant, I. (1977a), S. 28. Kant, I. (1977a), S. 19.

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»merkwürdig«,208 als »abstruse Behauptungen und Mutmaßungen«,209 der Systematik nach aber eben nicht allzu verwunderlich. Denn sie erweisen sich ›lediglich‹ als eurozentrische Spezifizierung einer rassentheoretischen Biologisierung, als eine weitere Modifizierung der Verwissenschaftlichung des naturphilosophisch symbolischen Systems der ›complexion‹. Mit seiner Überlegung zur »vollkommenen Mischung der Säfte« bei den »Weißen« ist dabei noch der alte Gedanke der Ausgewogenheit der Säfte als Idealzustand wirksam.210 Kant verbindet die Idee der Säftemischung mit der These, ein jeweiliger ›rassisch‹ spezifischer Eisengehalt des Blutes sei für die Färbung der Haut verantwortlich: »Auf diese Art würde etwa das Salzsaure, oder das phosphorisch Saure, oder das flüchtig Laugenhafte der ausführenden Gefäße der Haut die Eisenteilchen im Reticulum rot, oder schwarz, oder gelb niederschlagen. In dem Geschlechte der Weißen würde aber dieses in den Säften aufgelösete Eisen gar nicht niedergeschlagen, und dadurch zugleich die vollkommene Mischung der Säfte und Stärke dieses Menschenschlags vor den übrigen bewiesen.«211

Wenngleich Kant einschränkt, »dieses ist nur eine flüchtige Anreizung zur Untersuchung in einem Felde, worin ich zu fremd bin«,212 so ist das Erklärungsmuster – Eisengehalt im Blut, Säftemischung, Färbung der Haut – und die Kombination dieser Faktoren mit dem Klima dennoch ebenso grundlegend für seine Bestimmung einer rassenspezifischen Physiologie wie der Gedanke damit verbundener charakterlicher Eigenschaften. Die physiologischen Beschreibungen selbst implizieren die charakterliche Hierarchisierung, und in diesen Beschreibungen erweist sich das Muster des asymmetrischen GeistMaterie-Dualismus und dessen geschlechtliche Grundcodierung als strukturbildend. So lesen sich Kants Ausführungen zur schwarzen Haut auch so, als hätte er sich buchstäblich von einem Lexikoneintrag zu gnostischen Finsternisgestalten inspirieren lassen, die schwarzen Gestalten des finsteren Königs Ur, die ›stinkenden‹ »Kinder des Blutes«,213 vor Augen gehabt und ihre schwarze Erscheinung ›wissenschaftlich‹ zu fassen versucht: »Der Überfluß der Eisenteilchen, die sonst in jedem Menschenblute angetroffen werden, und hier durch die Ausdünstung des phosphorischen Sauren (wornach [sic!]

208 209 210 211 212 213

Hentges, G. (1999), S. 214. Hentges, G. (1999), S. 214. Kant, I. (1977a), S. 27. Kant, I. (1977a), S. 26f. Kant, I. (1977a), S. 27. Dämonen, Geister, dunkle Götter [Lexikon] (1993), S. 208, Stichwort Ur.

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alle Neger stinken) in der netzförmigen Substanz gefället worden, verursacht die durch das Oberhäutchen durchscheinende Schwärze [...].«214

In dieser rassentheoretischen ›Erklärung‹ der schwarzen Haut durch ›stinkende Ausdünstungen‹ wird der Gedanke der ›Reinheit des Blutes‹, der den Rassebegriff Ende des 15./Anfang des 16. Jahrhunderts kennzeichnete, dahingehend modifiziert, als dass hier ein Überfluss an Eisen das Blut ›trübt‹, verunreinigt, verdunkelt und über die Ausdünstungen die Haut schwärzt. Die schwarze Haut impliziert damit nicht nur Bilder ›blutsmäßiger‹ physiologischer ›Unreinheit‹, sondern auch der materiellen ›Verdichtung‹ der Haut. Der Schwarze erscheint somit als Sinnbild der ›unreinen‹ Materie, als Sinnbild des schwarzen, materiellen/fleischlichen, (weiblichen) Prinzips selbst. Die in dieser Zuordnung wirksame Überlagerung weltlich gewordener farb- und geschlechtssymbolischer Charakterisierungen wird von Kant konkretisiert, wenn er schreibt, der »Neger« sei »stark, fleischig, gelenk, aber unter der reichlichen Versorgung seines Mutterlandes faul, weichlich und tändelnd«.215 Die ›Stärke‹ ist hier als rein körperliche Stärke gefasst, und Kant vermisst es nicht, diesen Aspekt mit der Tauglichkeit des Schwarzen für die Sklaverei zu verbinden und sie gegenüber der »halb erloschenen Lebenskraft« der ›kupferroten‹ ›Amerikaner‹ hervorzuheben.216 Die physiologisch hergeleitete Assoziierung des ›roten Amerikaners‹ mit einer ›Lebensschwäche‹, einer Anfälligkeit zur Sterblichkeit, einer Identifizierung mit dem Prinzip der sterblichen Materie, wenn man so will, stellt letztlich ein biologistisches Erklärungsmuster für die aufgrund des Kolonialismus zu verzeichnende hohe Sterblichkeitsrate der indigenen Bevölkerung Nordamerikas dar. Diese physiologische ›Plausibilisierung‹ wird im weiteren Verlauf der Rassentheorien, so auch bei Carl Gustav Carus und Rudolf Steiner, immer wieder auftauchen (vgl. Kap. 4; 5). Die Farbe der Haut wird Kant, wie sich andeutet, zu einem Gradmesser von Charakter und Eigenschaften, der insgesamt an der Nähe oder Ferne zur weißen Stammgattung gemessen wird. Als eine Art menschlichen Urprinzips birgt diese Stammgattung die Omnipotenz in sich, alle Farben/farblichen ›Rassen‹ hervorzubringen, zu erschaffen (eine Vorstellung, die Kant über den Zusatz der ›brünetten‹ Haarfarbe der Stammgattung ›logisch‹ absichern zu wollen scheint). Dem weißen Ur(sprungs)prinzip als solchem ist nicht nur die Lichthaftigkeit des Geistes farblich eingeschrieben, sondern auch die Schöpfungspotenz, d. h. die hier aufscheinende religiöse Macht des symbolisch weißen Geistes, des Lichts, alles, was irdische Materie wurde, aus sich heraus zu gebären und/oder durch Selbstentfernung/-entfremdung entstehen zu lassen. Über die Vorstellung eines Qualitätsverlustes durch farbliche Abwei214 Kant, I. (1977a), S. 22. 215 Kant, I. (1977a), S. 23 216 Kant, I. (1977a), S. 22.

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chung vom weißen Ausgangsprinzip werden so auch jene Schöpfungsmythen in wissenschaftlicher Weise reartikuliert, die vom Fall des Lichts in die Materie berichten, ein Fallen, Abweichen, Erlöschen des Lichts, welches in der Materie als Abglanz, Schatten, und in der schwarzen Farbe als visuellem Indiz des ›rein‹ materiellen Prinzips endet. Die hiermit einhergehenden räumlichen Bilder der Abstufung, der ›Höhe‹ und ›Tiefe‹, tauchen in Kants qualitativen Charakterisierungen auf, wenn es 1802 heißt: »Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringes Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften.«217

Wenn die roten Amerikaner hier die tiefste Position einnehmen, so verweist diese Variation auf ihre äquivalente Verkörperung des schwarzen, materiellen wie auch des sterblichen Prinzips: Auf die eine oder andere Weise ist eine Schwarz-Weiß-Struktur wirksam, die sich als weiß versus bunt/schwarz organisiert. Der Farbe Gelb wird dabei über einen gewissen Helligkeitsgrad noch eine größere Nähe zum ›weißen Prinzip‹ zugewiesen. Kants »Bewohner der heißesten Zone« sind, wie Hentges zusammenfasst, hingegen insgesamt durch »Trägheit, Faulheit, Dummheit, Furchtsamkeit, Aberglaube und Eifersucht«218 gekennzeichnet, Attribute, die, so lässt sich entnehmen, nicht nur auf die Eigenschaften (der Finsternisgestalten) der dunklen passiven Materie deuten, sondern auch über die Kategorie des Wissens und der Erkenntnis einen Mangel an Licht, d. h. farblich übersetzt, einen Mangel an ›Weiße‹ aufweisen. Die über die farbliche Entsprechung zur Stammgattung abgesicherte Nähe der weißen ›Rasse‹ zum weißen Ur(sprungs)prinzip sichert so die höchste menschliche Qualität dieser ›Rasse‹ und ihre ›Stärke‹, eine Stärke, die von lichthafter, geistiger Potenz und einer damit verbundenen natürlichen kulturellen Hegemonie zu zeugen scheint. Zu Recht hebt Peggy Piesche mit Blick auf Kant nicht nur den historischen Prozess einer Selbstzentrierung, sondern auch die ›Selbstmarkierung‹ des Weißen europäischen Subjekts gegenüber der (heutigen) »transparente[n] Gestalt«219 von Weißsein hervor.220 Diese Selbstmarkierung (als das allgemein Menschliche) lässt sich, wie Piesche ansatzweise nahelegt, jedoch farbsymbolisch nicht näher vertieft, als weiße Farbmarkierung fassen, die mit 217 Kant, Immanuel. 1968 (1802). Immanuel Kant’s physische Geographie. Auf Verlangen des Verfassers aus seiner Handschrift herausgegeben und zum Theil verarbeitet von D. Friedrich Theodor Rink. In: Kants Werke. AkademieTextausgabe. Bd. IX, Logik, Physische Geographie, Pädagogik. Berlin, S. 316. Zit. in: Hentges, G. (1999), S. 217. 218 Hentges , G. (1999), S. 217. 219 Piesche, P. (2005), S. 30. 220 Vgl. Piesche, P. (2005), S. 32.

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Omnipotenz assoziiert ist. Es ist eine farbsymbolische Ermächtigung, nach der alles Menschliche im ›Weißen‹ seinen Ausgang nimmt, d. h. in der Farbe des Geistes und der Farbe Gottes, dessen Omnipotenz eben diese Natur gewordene Weiße (die Stammgattung) kennzeichnet und die weiße ›Rasse‹ selbst mit Licht und Geistigkeit identifiziert. Der hiermit rassentheoretisch vollzogene Materialisierungsprozess des symbolisch weißen Geistes, dessen Verlagerung in die Natur und sein Erscheinen als reine weiße (Licht-)Natur, impliziert in Kants Physiologie der ›Rassen‹ demnach die Vorstellung einer farblichen Neutralität (das weiße Blatt), die den ›Rassen‹ (auch der weißen ›Rasse‹) in Form der weißen Haut der Stammgattung vorgeschaltet ist (wobei man versucht ist, die Omnipotenz der weißen Stammgattung, aus der sich alle Hautfarben entwickeln, mit dem physikalisch im weißen Licht enthaltenen Farbspektrum zu vergleichen). Zugleich – und hierüber ist Piesches These zur ›transparenten Gestalt‹ von Weißsein als historisch nachträgliches Phänomen zu modifizieren – wird die mit der weißen Farbe assoziierte Transparenz in Form der weißen ›Rasse‹ von Kant auch physiologisch inszeniert. Denn nicht nur die Farbe Weiß als solche, sondern das Bild der Zartheit der weißen Haut221 verweist auf eine Art ›transparenter‹ Materie: Verkörpert sich innerhalb der Rassentheorien das transzendente Prinzip des Geistes/des Lichts als ›weiße Materie‹, so ist die Physiologie der weißen ›Rasse‹ selbst (gegenüber der farblichen Verdichtung/Verunreinigung der bunt und schwarz markierten Haut) durch Transparenz gekennzeichnet, d. h. durch eine physiologische Transparenz, welche wiederum die Nähe dieser ›Rasse‹ zum Geist (und das in ihr in reiner Form verkörperte Licht der Vernunft) physiologisch nahezulegen scheint. Hiermit ist auch Descartes’ ›naturalis lux‹ rassenspezifisch verkörpert und der weiße ›Rassekörper‹ umgekehrt zum (farblichen) Indiz des ›naturalis lux‹ geworden. Und kennzeichnete, so lässt sich anschließen, den christlichen und gnostischen immateriellen ›Geist-/Lichtleib‹ ein Zusammenhang von Glaube/Wissen/›Erkenntnis‹ zur ›Erleuchtung‹, so ist nun (wie im demiurgischen Humanismus symbolisch vorbereitet) – im Prozess der Naturalisierung als Rassisierung – der ›Glaube‹ gestrichen, Geist und Schöpfungsprinzip in die Natur der weißen ›Rasse‹ und ihres Vorprinzips (die Stammgattung) verlagert. Das Licht der Aufklärung, verkörpert im weißen ›Rassesubjekt‹ und seiner Kultur/Zivilisation, besitzt, wie für das historische Vorfeld bereits skizziert, zugleich eine diskursive Potenz der ›Ausstrahlung‹: Hierin liegt – analog zu den medizinischen Heilungsphantasien der Weißwerdung – ein Erlösungsversprechen, das sich, in den bereits zitierten Worten Martins, auch hier als eine »profane[] Erlösung« aus einem »barbarischen Leben«222 verstehen 221 Vgl. Kant, I. (1977a), S. 27. 222 Martin, P. (2001), S. 292.

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lässt. Dass diese Symbolik der Ausstrahlung des ›Lichts der Vernunft‹ und der Weißen Kultur/Zivilisation auch bei Kant durchaus körperliche/physiologische Formen der Aufhellung des ›Anderen‹ impliziert, legt Kants Vorstellung nahe, dass die Farbe jener Schwarzen, die sich »lange [in Frankreich] aufgehalten haben, noch besser aber derer, die da geboren sind«,223 heller sei. Es bleibt dem Schwarzen danach in Europa zwar die von Geburt an mitgegebene Schwärze, nicht mehr aber das, was seiner Haut »in Afrika [...] die Sonne eindrückte«.224 Argumentiert Kant hier scheinbar nur ›klimatisch‹, so ist es seiner Systematik nach jedoch gerade der konstruierte Zusammenhang von Klima, Hautfarbe und geistiger Entwicklungsfähigkeit, die den Schwarzen im ›zivilisierten‹ Kontinent nicht ganz so schwarz erscheinen lässt.225 Es scheint, so ist zu schlussfolgern, in Europa also ein Schimmer des geistigen Lichts auf ihn zu fallen, oder auch eine Reduzierung seiner Distanz zur weißen Stammgattung von statten zu gehen. Ein gewisser flexibler Charakter der eurozentrischen, rassenspezifischen Farbgebung Kants wird schließlich nicht zuletzt auch darin deutlich, dass Kant der ideologischen Teilung Afrikas in einen weißen nördlichen und einen schwarzen südlichen Teil folgt: So rechnet Kant die »Mohren (Mauren von Afrika), die Araber (nach dem Niebuhr)« wie aber auch »den türkisch-tatarischen Völkerstamm, und die Perser« zu der »Rasse der Weißen«, die »ihren vornehmsten Sitz in Europa hat«.226 Hiermit wird der weißen ›Rasse‹ zwar eine gewisse innere ›kulturelle Vielfalt‹ beigemessen, diese lässt sich jedoch auch als eine Form der ›Einverleibung‹ lesen, die zugleich mit einer Binnenhierarchisierung verbunden ist: Das ›reine Weiß‹, den ›weißen Prototyp‹ verkörpern die ›Hochblonden‹ von ›zarter‹, weißer Haut des nördlichen Europas, oder, wie Kant an anderer Stelle nahelegt, die ›Deutschen‹.227 Die Kants Rassentheorie eingeschriebenen und über sie diskursiv beförderten Säkularisierungsprozesse, so ist festzuhalten, lassen sich als Prozesse der Naturalisierung und Visualisierung der Lichtsymbolik nachvollziehen, die als rassenspezifische Verkörperung des Lichts/des Geistes/des Lichts der Vernunft offensichtlich werden: Die Farbe Weiß wird hier sowohl zum visuellen Zeichen und weltlichen Marker des allgemein Menschlichen als auch zum Zeichen einer rassenspezifischen Exklusivität. Über diese verweltlichte Symbolik und die 223 Kant, I. (1977b), S. 66. 224 Kant, I. (1977b), S. 66. 225 Auf den Aspekt der Zivilisation in diesem Kontext verweist auch Piesche, P. (2005), S. 35. 226 Kant, I. (1977a), S. 14. 227 Vgl. Hentges, G. (1999), S. 217, unter Bezugnahme auf Kant, Immanuel. 1968 (1802). Immanuel Kant’s physische Geographie. Auf Verlangen des Verfassers aus seiner Handschrift herausgegeben und zum Theil verarbeitet von D. Friedrich Theodor Rink. In: Kant’s Werke. Akademie-Textausgabe. Bd. IX, Logik, Physische Geographie, Pädagogik. Berlin, S. 311.

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damit verbundenen farblich strukturierten Ermächtigungsstrategien vollziehen sich zugleich Prozesse der attributiven Vermännlichung der weißen ›Rasse‹. Diese findet im verweiblichten ›abergläubischen‹ ›Anderen‹ und seiner farblich bunt bzw. schwarz markierten ›Materialität‹ ihr Gegenüber, ein Gegenüber, welches das dunkle weibliche Prinzip als solches und einen Mangel an geistigem Licht verkörpert. Wenn, wie das einleitende Zitat Blumenbergs nahelegt, die Aufklärung dem Mittelalter den Vorwurf macht, »daß es in seiner Lichtgläubigkeit seine eigene Finsternis nicht bemerkt habe«,228 so ist mit Blick auf Kant zu schlussfolgern, dass diese ›Lichtgläubigkeit‹ den aufklärerischen Rassentheorien selbst inhärent ist – auch wenn der ›Glaube‹ formal und zugunsten des Naturalisierungsprozesses gestrichen ist. Das weiße, männliche ›Rasse‹- und ›Vernunftsubjekt‹ erkennt sein Licht über die aus sich selbst heraus projizierte Finsternis des verweiblichten ›Anderen‹.

3.3.7 ›Reine Formsache‹: Licht und Tugend Obwohl den philosophischen Rassentheorien die empirische ›Realitätsreferenz‹ fehlt, wie Georg Forster (1754-1794) in seiner Schrift »Noch etwas über die Menschenrassen« 1786 an Kant kritisiert,229 so stehen sie dennoch, wie bei Kant deutlich wird, mit den empiristischen Systematiken in Wechselwirkung.230 Die philosophischen Entwürfe sind demnach Bestandteil der naturwissenschaftlichen Wissensproduktion. Parallel und in gegenseitigem Austausch wird in der Physiognomik mit Vertretern wie dem Anatomen Peter Camper (1722-1789), dem Physiognomen Johann Casper Lavater (17411801) und dem Mediziner Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840) ›Rasse‹ als naturwissenschaftliches Ordnungskonzept festgeschrieben.231 Hier spielt, wie verschiedentlich herausgestellt wurde und zunächst entlang von Blumenbach zusammengefasst sei, der Gedanke der rassenspezifischen Reinheit als Formreinheit die entscheidende Rolle. Herauszustellen sind wiederum schwarz-weiß-symbolische Implikationen, die diesen und weiteren ästhetischen Konstruktionsprozessen eigen sind, sowie die näher zu fas-

228 Blumenberg, H. (2001), S. 169. 229 Vgl. Martin, P. (2001), S. 205. 230 Auch ohne dezidierten Rückgriff auf den Rassebegriff durchziehen Schriften weiterer Aufklärer und Gegenaufklärer des 18. Jahrhunderts, bspw. von Voltaire oder Rousseau, Konstruktionen eines Weißen Vernunftsubjekts in Abgrenzung zum ›Naturmenschen‹. Vgl. u. a. Hall, S. (1994), S. 170-173; Hödl, K. (1997), S. 230; Martin, P. (2001), S. 294, 299. 231 Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 149, Stichwort Rasse; Hödl, K. (1997), S. 114, 172, 194, 255-257; Mosse, G. L. (1997), S. 38; Martin, P. (2001), S. 240-242, 268.

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sende Frage, welche Bedeutung den aufklärerischen Tugenddiskursen in diesem Kontext rassisierter Körperkonzepte zukommt. Blumenbach, der als »der eigentliche Begründer der wissenschaftlichen Anthropologie gilt«,232 entwickelt das Messverfahren der Kraniologie zum festen Bestandteil der »Rassen-Anthropologie«.233 In der »nicht durchweg eindeutigen Begriffsbildung« bezieht er sich »ausdrücklich auf Kant.«234 Unterteilt wird die Menschheit von ihm in fünf »Varietäten« oder »Racen«: Er unterscheidet zwischen »A) der kaukasischen, B) der mongolischen, C) der äthiopischen, D) der amerikanischen, E) der malayischen« ›Rasse‹.235 Die Bezeichnung ›Kaukasier‹, die Blumenbach als einer der ersten benutzt, wird von ihm unter geographischen und ästhetischen Gesichtspunkten erläutert: »Diese Race erhielt ihren Namen von dem Berge Kaukasus, weil die ihm benachbarten Länder [...] von dem schönsten Menschenstamme, dem georgischen, bewohnt sind.«236

Ein Zusammenhang von Schönheit und Norm wird von Blumenbach gegenüber Buffon der geometrischen Form nach präzisiert und an einem geometrischen Prinzip der Ausgewogenheit festgemacht. Analog zu Kant (der seinerseits von Blumenbach inspiriert wurde237) installiert Blumenbach ein rassentheoretisch normatives Ausgangsprinzip, das hier die ›kaukasische Rasse‹ selbst ist. Danach hätte der Kaukasier die »schönste Schädelform«, diese sei die »ursprüngliche Mittelform«, aus der »die übrigen, bis zu den zwei äußersten Extremen hin (der mongolischen auf einer Seite und der äthiopischen auf der andern) durch ganz einfache stufenweise Abweichungen entsprungen sind.«238

232 233 234 235

Martin, P. (2001), S. 226f. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 149, Stichwort Rasse. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 149, Stichwort Rasse. Blumenbach, Johann Friedrich. 1795 (1776). De generis humani varietate nativa liber. 3. Aufl., Göttingen, dt. u. d. T. Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte. Leipzig, S. 204. Zit. in: Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 149, Stichwort Rasse. 236 Blumenbach, Johann Friedrich. 1795 (1776). De generis humani varietate nativa liber. 3. Aufl., Göttingen, dt. u. d. T. Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte. Leipzig, S. 213. Zit. in: Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 149, Stichwort Rasse. 237 Vgl. Hentges, G. (1999), S. 209. 238 Blumenbach, Johann Friedrich. 1795 (1776). De generis humani varietate nativa liber. 3. Aufl., Göttingen, dt. u. d. T. Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte. Leipzig, S. 213f. Zit. in: Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 149f., Stichwort Rasse.

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Blumenbach etabliert entsprechend schematisch seine ›reinen‹ anthropologischen Typen. Er setzt ein imaginäres, kunsttheoretisches, prototypisches Ideal des Europäers als Ausgangsnorm fest und produziert sogleich die ›Abweichung‹ als ›reines‹, ›ideales‹ Negativ. Es zeigt sich hier ein empiristisches Streben nach Reinheit der Kategorien, eine empiristische Suche nach visuellen Grund- oder Urtypen, die sich vermeintlich aus der Natur abstrahieren lassen, jedoch selbst auf der Abstraktion beruhen, entlang derer sich der Blick des Forschers auf den empirischen Gegenstand differenzierend gestaltet. Die Farbe Weiß verbindet sich dabei als Farbe der Reinheit mit »ästhetischen Formen des ›Reinen‹«,239 die im empiristischen Verwissenschaftlichungsprozess die Körperform normieren. Die körperlichen Differenzkriterien werden durch neue vermeintlich objektive Vermessungstechniken240 selbst erst präziser typologisiert, kategorisiert und als solche diskursiv hervorgebracht. Die farblich als weiß beschriebene Ausgangsnorm ist hierbei nicht nur mit intellektueller, sondern mit einer (geometrischen) ›körperlichen‹ Vernunft verbunden. So können auch die anatomischen Zeichnungen der ›physiognomischen Unordnung‹ des ›Anderen‹ als verweltlichte Bilder der wilden, symbolisch schwarzen Natur verstanden werden, als Naturalisierung und Visualisierung der Symbolik.241 Sie sind, wie in Campers Gesichtswinkelmessungen, eingeordnet in ein weiter rationalisiertes Stufenkonzept – von der chaotischen Natur hin zur geometrischen Ordnung, von der Wildheit zur Vernunft, vom Tier zum Menschen. Sie beinhalten die Gegenüberstellung von falscher/kranker und wahrer/gesunder Natur, eine auch hier zu konstatierende verweltlichte Struktur des Sündenkonzepts, die sich ebenso im Entwurf des Juden als körperlichem ›Anti-Typus‹ manifestieren.242 Als Ausdruck der unvollkommenen, ›falschen‹ Natur lassen die Bilder des ›Anderen‹ das ›wahre‹, ›gesunde‹, ›weiße Menschsein‹ als wissenschaftliche ›Naturwahrheit‹ hervortreten. Und dabei findet sich, wie Mosse dargelegt, in der Physiognomik »ein gewisser Pragmatismus, eine Betonung des Materiellen, mit der Sorge um die richtige Moral zusammen. Wie Lavater es ausdrückte: Je tugendhafter ein Wesen, desto größer seine Schönheit; je weniger tugendhaft, desto häßlicher seine Erscheinung.«243

239 Braun, C. v. (1997), S. 22. 240 Zur Kritik an der Methodik naturwissenschaftlicher Rassenkonstruktionen vgl. u. a. Gould, S. J. (1999). 241 Zu den physiognomischen Konstruktionen vgl. u. a. auch Martin, P. (2001), S. 240-242, 268. 242 Zur Konstruktion des Juden als ›Antitypus‹ vgl. Mosse, G. L. (1997). Zum philosophischen Antijudaismus bei Hegel, Kant, Rousseau, Voltaire uvm. vgl. u. a. Hentges, G. (1999); Brumlik, M. (2000). 243 Mosse, G. L. (1997), S. 38.

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Der Kulturhistoriker Christoph Meiners (1747-1810) geht entsprechend in seinem »Grundriß der Geschichte der Menschheit« (1785/1793) davon aus, dass sich ein »hellfarbige[r]«, »schöne[r]« und ein »dunkelfarbige[r]«, »häßliche[r]« ›Völkerstamm‹ gegenüber stünden244 – eine gnostisch anmutende Grundstruktur, die polygenetisch gewendet wird.245 Daran schließen charakterliche Zuweisungsstrukturen an, die sich als Stärke, Tugend und Vernunft einerseits und als ›Tugendleere‹ und Schwäche von »Körper und Geist«246 andererseits niederschlagen. Demnach erscheint Meiners auch die »Empfänglichkeit gegen die Aufklärung«247 als biologisch begründetes Potential des Europäers – eine Umkehrung von (farbsymbolischer) Ursache und Wirkung, wie sie schon bei Kant angelegt und erläutert wurde: Denn lässt sich der rassentheoretisch weiße, helle, lichte Körper gerade als Resultat einer Naturalisierung des (göttlichen) Lichts/des Geistes/des Lichts der Vernunft verstehen, so wird dieser rassisierte (Licht-)Körper hier wiederum zum Indiz für die Empfänglichkeit des Lichts der Aufklärung. Und ebenso lässt sich am Beispiel von Meiners ablesen und präzisieren, dass der mit den rassentheoretischen Körperkonzepten verknüpfte bürgerliche Tugenddiskurs (die Einheit von schönem Körper und schönem Geist, in der Tugend und Vernunft eine Allianz eingehen) sich nicht nur an den rassisierten weißen Körper bindet. Vielmehr scheinen ›Tugend‹ und ›Tugendleere‹ den rassisierten Körpern geradezu ihre Form und Farbe zu geben, ihre schöne oder hässliche, weiße oder

244 Diese Grundcharakterisierung konkretisiert Meiners begrifflich erst in der zweiten Auflage, wozu er in der Vorrede bemerkt: »Ich habe [...] die Nationen, welche in der ersten Ausgabe Mongolische hießen, in der gegenwärtigen dunkelfarbige, und häßliche; so wie die Kaukasischen weiße, oder hellfarbige, und schöne Völker genannt. Diese Merkmahle sind zwar nicht die einzigen, wodurch die weißen und schönen, und die dunkelfarbigen und häßlichen Nationen sich von einander auszeichnen. Allein eben diese vereinigten Charaktere sind schon untrüglich, und hinreichend, die beiden Völkerstämme stets zu unterscheiden.« Meiners, C. (1793), S. 5f. Meiners verwendet dabei den Begriff ›(Völker-)Stamm‹ als Oberbegriff, unter welchen er ›Racen‹ und ›Nationen‹ subsumiert: »Alle Völker der Erde machen zwar nur ein einziges Geschlecht, oder eine einzige Art (Species) von Geschöpfen aus; allein in diesem einzigen Menschengeschlecht muß man zwey ganz verschiedene Stämme: in jedem Stamm mehrere Racen [...]: in jeder Race unzählige Varietäten [...]: und endlich eine große Mannichfaltigkeit von Spielarten annehmen, die aus der Vermischung von Menschen aus verschiedenen Stämmen und Racen entstanden sind.« Meiners, C. (1793), S. 59f. Zu Meiners rassentheoretischen Konzeptionen vgl. auch Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 150-153, Stichwort Rasse. 245 Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 151, Stichwort Rasse. 246 Meiners, Christoph. 1785. Grundriß der Geschichte der Menschheit. Lemgo, S. 20f. Zit. in: Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 151, Stichwort Rasse. 247 Meiners, Christoph. 1785. Grundriß der Geschichte der Menschheit. Lemgo, S. 21. Zit. in: Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 152, Stichwort Rasse.

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schwarze Erscheinung als solche zu konstituieren. Vor diesem Hintergrund exemplifiziert Meiners’ Licht-Finsternis-Symbolik rassisierter Körper auch eine Säkularisierung christlicher Leibkonzepte in ihrer theologisch-moralischen Verfasstheit. Gehen mit der Aufklärung christliche Moralvorstellungen in säkulare bürgerliche Tugendkonzepte ein, so werden demnach im aufklärerischen Rassediskurs als Tugenddiskurs zugleich theologisch-moralisch begründete Farbsymboliken christlicher Leibkonzepte (die symbolisch schwarzen und weißen Leiber) säkularisiert und zu visuellen, sichtbaren ›Naturphänomenen‹ umgedeutet, naturalisiert und rassentheoretisch gewendet. Die Lichthaftigkeit des rassisierten weißen Körpers, figuriert in einer ästhetischen Natur, verdankt sich hier entsprechend einer doppelten Tradition der Lichtsymbolik des Leibes: der in der Frühen Neuzeit unter Rückgriff auf die Antike rationalisierten, formschönen und durch das Licht der göttlichen Vernunft als lichthaft markierten Natur und den christlichen Traditionen eines lichten Geistleibs. Bei Meiners scheinen zugleich, wie Susanne Zantop darstellt, die ambivalenten Bilder des ›Anderen‹ auf, die im ›Indianer‹ (als farblicher Zwischenstufe zwischen den Polen Schwarz und Weiß) manifest werden. Diese Ambivalenz wird u. a. im Konstrukt vom »dekadenten Indianer«248 sichtbar, der Meiners zum Sinnbild für eine »›weibische‹ Aristokratie«249 wird. Danach »gewinnt der Indianer« also als »Figur des Exzesses und der Unnatur [..] Züge, die ihn paradoxerweise wieder mit den Europäern assoziieren. Er wird zum Inbegriff einer ›Krankheit‹, an der auch die europäische Welt in zunehmendem Maße litte: der ›Ausartung‹, Verweichlichung, Dekadenz, verkörpert durch eine zum Exzeß neigende, verweichlichte Aristokratie [...].«250

Diese, bereits bei Linné angelegte Vergleichsstruktur (dort ist es der ›gelbe Asiate‹, der durch ›Hoffart‹, ›Pracht‹ und ›Geld‹ charakterisiert wurde), erhält vor dem Hintergrund der innereuropäischen sozio-politischen Umbrüche und den Konstituierungsprozessen von Weißsein bzw. hegemonialer Weißer Männlichkeit (als ›natürlicher‹ Strukturkategorie der bürgerlichen Gesellschaft) ihren Sinn. Der ›Andere‹ fungiert in diesem Kontext als Negativ-Folie des Eigenen, ein Negativbild, das, auf die eigene Gesellschaft rückübertragen, die Gesellschaftskritik über drastische, ›rassisch‹ und geschlechtsspezifisch verfasste Vergleichsbeispiele zu befördern sucht.251 Dabei ist Meiners’ Identi248 249 250 251

Zantop, S. (2001), S. 133. Zantop, S. (2001), S. 133. Zantop, S. (2001), S. 128. Diese Interpretation formuliert Zantop in zugespitzter Weise mit Blick auf Cornelis de Pauws (1739-1799) Arbeiten, wenn sie schreibt: »Im Dekadenz-

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fikation des ›Anderen‹ mit Krankheit und ›Ausartung‹ (ein begrifflicher Vorläufer der späteren ›Entartung‹) nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Buffons Konstruktion der degenerativen (Farb-)Abweichung von einem ›weißen Urtypus‹ zu lesen. Der Zusammenhang von Rassenkonstruktionen, Ästhetik und Tugenddiskursen schlägt sich über dezidierte Rassentheorien hinaus in einer (aufklärerischen) Ästhetik nieder. Wie Mosse darstellt, spielten im diskursiven Verbund von bürgerlicher Tugend, Körperästhetik und der Herausbildung eines modernen Männlichkeitsideals die Schriften von Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) eine herausragende Rolle. »Winckelmanns Ideale wurden Teil des Bildungsprozesses, des bürgerlichen Drangs zu Selbsterziehung und Charakterbildung, der in Mitteleuropa gute ›citoyens‹ hervorbringen sollte. [...] Den Aufklärern diente die maskuline Schönheit der griechischen Jünglinge nicht nur als Beispiel für geglückte Bildung, sondern sie war auch Teil der Natur und der Naturgesetze, ein fester Felsen in einer sich schnell ändernden Welt.«252

Winckelmanns kunsttheoretische Abhandlungen zu den antiken Skulpturen (u. a. Apollo von Belvedere und Laokoon-Gruppe) sind demnach Bestandteil eines aufklärerischen Diskurses, in welchem über die antike Männlichkeitssymbolik und deren ästhetische Visualisierung ein Sinnzusammenhang von Vernunft, Aktivität und Kontrolle transportiert wird. Hierüber wird der ›Männlichkeit‹ der europäischen Gesellschaften wie auch der ›wahren Natur‹ des europäischen Mannes repräsentativ Ausdruck verliehen. Zugleich sind die antiken weißen »Marmorleiber«253 im zeitgenössisch kolonial-rassistischen und Krankheitsdiskurs des 18. Jahrhunderts überschneidet sich de Pauws Abwertung der Indianer mit der bürgerlichen Kritik am Adel. Die von de Pauw vorgegebene Aufgabe des bärtigen und daher natürlich überlegenen Eroberers, durch Kolonisation mit der Unordnung aufzuräumen, kann somit auch als Aufforderung an die heimische Bourgeoisie gelesen werden, die korrupten sozialen Beziehungen durch die natürliche Ordnung der ›Geschlechter‹ zu ersetzen.« Zantop, S. (2001), S. 128. Insgesamt betont Zantop die Ambivalenzen der Charakterisierung und Repräsentationsfunktion der Figur des ›Indianers‹, indem sie festhält: »So schwankt dessen physiognomisches Charakterbild im Aufklärungsdiskurs zwischen den binären Geschlechts-, Klasse- und Rassekoordinaten männlich-weiblich, oben-unten und schwarz-weiß [...]. Der haarloshaarige, klein-große, bräunlich-rötliche Indianer bleibt vieldeutiges Zeichen – für Schwäche und Stärke, Passivität und Freiheitsdrang, natürliche Rohheit und natürlichen Adel – und Schnittstelle verschiedener Diskurse. Vielleicht macht ihn das für deutsche Beobachter, die sich im ausgehenden 18. und angehenden 19. Jahrhundert selbst auf der Suche nach einer nationalen ›Identität‹ befanden, als Projektionsfläche umso geeigneter.« Zantop, S. (2001), S. 133. 252 Mosse, G. L. (1997), S. 51f. 253 Brunotte, U./Herrn, R. (2008b), S. 12.

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Kontext nunmehr ›rassisch‹ codiert. Winckelmanns kunsttheoretische Konzepte verbinden sich so auch in seiner Abhandlung »Zur Geschichte der Kunst des Altertums« (1764) mit einer »ästhetischen Anthropologie« und »Typenlehre«,254 in der nicht nur die abstrakten Körperformen zur wahren Natur des Europäers werden, sondern auch das abstrakte Weiß als ›Naturwahrheit‹ des weißen ›Rassesubjekts‹ gilt und Winckelmann zum visuellen Garanten von Schönheit wird. Dabei setzt Winckelmann die als weiß beschriebene Farbe des Europäers in Zusammenhang mit dem Reflexionsgrad des physikalischen Lichts: »Die Farbe trägt zur Schönheit bei, aber sie ist nicht die Schönheit selbst [...]. Da nun die weiße Farbe diejenige ist, welche die meisten Lichtstrahlen zurückschickt, folglich sich empfindlicher macht, so wird auch ein schöner Körper desto schöner sein, je weißer er ist [...].«255

Im Verbund von Verwissenschaftlichung und Ästhetisierung wird der rassisierte weiße Körper hier zu einem ›physikalischen‹ weißen Körper und die rassisierte ›weiße Materie‹ erhält über ihre Physikalisierung den Anschein der ›Realität‹. Diese physikalischen, ›lichttechnischen‹ Erklärungsmuster des weißen Körpers erklären sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Entwicklung der Lichttechnik.256 Können die strahlend ›weißen Marmorleiber‹ der Antike als symbolische Visualisierung der geordneten (Licht-)Natur, der geistig-abstrakten Naturgesetze, verstanden werden, so erscheinen sie nunmehr als ›Beweis‹ eines schönen Körpers der weißen ›Rasse‹/des weißen Europäers, dessen Weiße und geometrisch geordnete Formen sich einer Naturalisierung und Rassisierung eben dieser abstrakt verfassten Naturkonzepte und der ihnen eingeschrieben Lichtsymbolik verdanken. Im Konstruktionsprozess der Physikalisierung dieses rassisierten weißen Körpers (dem die Farbe des Lichts als Farbe des Geistes/Gottes/der göttlichen Vernunft zur Natur geworden ist) wird dessen Lichthaftigkeit durch das äußere Licht ›sichtbar‹ gemacht, Naturalisierung hierüber als Physikalisierung vollzogen. In Kombination mit einer Ästhetisierung (die Schönheit, Tugend und Vernunft zusammenbindet) ist damit zugleich auf das innere ›Licht der Tugend‹ verwiesen, das der schöne, weiße Körper zu spiegeln scheint, das ihn von Innen nach Außen weiß färbt. Winckelmanns Ästhetik verdeutlicht somit, dass sich mit der Aufklärung ein symbolischer Sinnzusammenhang von Licht, Geist und Männlichkeit in 254 Oguntoye, K./Opitz, M./Schultz, D. (1991), S. 21. 255 Winckelmann, Johann Joachim. 1986 (1764). Zur Geschichte der Kunst des Altertums. In: Ders. Werke in einem Band. Berlin/Weimar, S. 193f. Zit. in: Martin, P. (2001), S. 250. 256 Vgl. Dyer, R. (2006), S. 106-110.

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die ›Natur‹ des europäischen Mannes einschreibt und gleichzeitig das männliche Selbstbild der europäischen Nationen und die männliche Attributierung des weißen ›Rassesubjekts‹ prägt. Andererseits inszeniert Winckelmann einen weißen Körper, der seiner Farbe nach eine geschlechtsübergreifende ästhetische Dimension weißer Körperbilder besitzt. Die Konstruktion des rassisierten weißen Körpers vollzieht sich so auch nicht ausschließlich unter dem Vorzeichen eines Tugenddiskurses, der um männliche Tugenden kreist, sondern mit Blick auf die visuelle Konstruktion der Materialität des weißen ›Rassesubjekts‹ gerade auch Diskurse um weibliche Tugenden einschließt. D. h., der weibliche Körper erhält (in seiner klassischen Repräsentationsfunktion von Natur) die spezielle Funktion, der vermeintlichen Natürlichkeit weißer Hautfarbe visuell Ausdruck zu verschaffen. Diese Repräsentationen sind, wie Angela Rosenthal zeigt, über weibliche Tugenddiskurse mit einer »Kunst des Errötens«257 verbunden, die in der Malerei des 18. Jahrhunderts sichtbar wird. Stand der betont weiße weibliche Körper in der Renaissance-Malerei für die schöne, göttlich-gesetzliche Natur und demonstrierte zugleich die kolonial-höfische Macht des Adels, so wird die (farbliche) Repräsentation Weißer Weiblichkeit im 18. Jahrhundert zu einer (über den Adel hinaus verallgemeinerten) rassisierten Größe. Das kalte, abstrakte Weiß ›erwacht‹ dabei in der Malerei über das (schamvolle) Erröten förmlich zum Leben.258 Die weiblichen Tugenden der Sittsamkeit und Mütterlichkeit, die mit einer Desexualisierung einhergehen,259 implizieren als solche eine Form von innerer weiblicher ›Reinheit‹, welche im weißen weiblichen Körper visualisiert wird. D. h., wie Rosenthal lichtmetaphorisch erläutert: »Um diesem Tugendideal zu entsprechen, mußte eine Frau ihren ›dunklen Schatten‹ abgeworfen haben, welcher Unreinheit und Sexualität darstellte. Nicht die äußerliche Präsentation von Luxus und Sexualität [wie noch im 17. Jahrhundert], sondern innere Werte, die sich in einem schönen, transparent-blassen Gesicht alleine auszudrücken vermochten, avancierten nun zum Hauptmerkmal der idealen Frau.«260

Dabei hebt Rosenthal hervor, dass die visuelle Naturalisierung von Weißsein in Form tugendhafter Weiblichkeit zu eben jenem Zeitpunkt an Bedeutung 257 So der gleichnamige Titel des Aufsatzes von Rosenthal, A. (2001). 258 Vgl. Rosenthal, A. (2001), S. 102-110. Zum Zusammenhang von Kosmetik und Naturalisierung im 18. Jahhundert vgl. auch Benthien, C. (2002), S. 102f. 259 So propagierte u. a. Rousseau in seinem Erziehungsmodell die Zivilisierung der Weißen Frau, die Bändigung ihres Sexualtriebs und das Ideal der Mütterlichkeit. Vgl. Braun, C. v. (1999), S. 26, 53-56. Zu Rousseaus Geschlechterbildern vgl. auch Bovenschen, S. (1980), S. 164-181. Zu den Konstruktionen einer ›weiblichen Sonderanthropologie‹ und damit verbundenen spezifisch weiblichen Eigenschaftszuschreibungen vgl. Honegger, C. (1996). 260 Rosenthal, A. (2001), S. 101f.

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gewinnt, der mit dem Aufkommen des Abolutionismus – und vor diesem Hintergrund mit einer ›Verunsicherung‹ rassisierter Reinheit und dem Imperativ der Reinhaltung der ›Rasse‹ – verbunden ist.261 Schon dieser Aspekt verdeutlicht, dass die Repräsentationen tugendhafter Weiblichkeit eben nicht nur als innereuropäisch normative Weiblichkeitskonstruktionen zu lesen, sondern in die gesellschaftlich allgegenwärtigen Rassendiskurse eingebunden sind. Als solche transportieren sie wiederum nicht nur ein (internes) Ideal Weißer Weiblichkeit, sondern verschaffen dem Weißen Kollektivkörper eine ›weiße Materialität‹, eine visuelle ›Realität‹, und implizieren zugleich eine Ermahnung seiner Reinhaltung. Hiernach erhält auch der ›Schatten‹, den die tugendhafte geweißte Frau abgeworfen hat, seine ›rassische‹ Bedeutung, figuriert sich im finsteren ›Anderen‹, ist Sinnbild einer kollektiven Verweiblichung wie auch der ›wilden Frau‹.262 In den vermeintlich positiven Mythologisierungen des ›Edlen Wilden‹ Rousseauscher Prägung hingegen, d. h. im Kontext philosophisch-ethnologischer Zivilisationskritik, repräsentiert der außereuropäische ›Andere‹ die ›gute Natur‹ und einen irdisch ›paradiesischen‹ Zustand geistig naiver Ursprünglichkeit.263 Das Weiße Subjekt der Aufklärung konstituiert sich hier über den Mangel des geschichtlich Verlorenen und die ›Last‹ der Reife als Träger der Vernunft. Der ›Andere‹ wird zur Projektionsfläche einer Sehnsucht nach ›Natürlichkeit‹. Jean Jacques Rousseau (1712-1778) richtet sich gegen die Sklaverei und dennoch erweist sich auch sein Humanismus über eben diese Mythologisierung und Infantilisierung des ›Anderen‹ als eurozentrisches Konstrukt.264 Weißsein/Europäischsein und Vernunft werden hier rhetorisch über Kritik und Krise der Zivilisation in essentialistischer Weise zusammengebunden. Ergibt sich die männliche Attributierung der weißen ›Rasse‹ über die Identifizierung mit Rationalität und hatte die Symbolik vom ›Licht der göttlichen Vernunft‹ das farbliche Weißwerden des Europäers der kulturellen Konstruktionslogik nach geradezu hervorgebracht, so sind im Kontext der Rousseauschen Zivilisationskritik die konstitutiven schwarz und weiblich codierten Bilder des ›Anderen‹ zu positivierten Vorstellungen der guten ›Mutter Natur‹ gewendet. Dem an der Vernunft ›leidenden‹ Weißen Subjekt wird 261 Vgl. Rosenthal, A. (2001), S. 98, 105f. 262 So wird bspw. in Gotthold Ephraim Lessings (1729-1781) Schrift »Laokoon oder die Grenzen der Malerei und Poesie« (1766) dieser ›schattenhafte‹, finstere ›Andere‹ als Figuration des ›Ekelhaften‹ ›ästhetisch‹ greifbar. Vgl. Lessing, G. E. (1974), S. 159; vgl. zu den hier verwendeten Quellen Lessings die Erzählung »Tquassouw und Knonmquaiha«. In: The Connoisseur, vol. I, no. 21 [o. J.]. 263 Zu »Rousseaus ›homme sauvage‹ – zwischen Mythologisierung und Gesellschaftskritik« vgl. das gleichnamige Kapitel in: Hentges, G. (1999), S. 179191. 264 Vgl. Hentges, G. (1999), S. 190f.

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hiermit ein dunkler, ›natürlicher‹ Ursprung verliehen, der überwunden und gleichzeitig sehnsuchtsvoll besetzt erscheint.

3.4 Schlussfolgerung Zusammenfassend lässt sich festhalten: Der Logos, das Gottesbild bzw. die göttliche Vernunft, die symbolgeschichtlich im Abendland mit dem Licht, dem Farbsymbol Weiß und symbolischer Männlichkeit verbunden ist, erhält im säkularen Wissenschaftsdiskurs einen menschlichen Leib – und nimmt in Form des Entwurfs zum weißen männlichen ›Rasse‹- und ›Vernunftsubjekt‹ der Aufklärung eine säkulare Gestalt an. Der rassentheoretischen Konstruktion weißer Haut geht ein diskursiver Aneignungsprozess göttlicher Attribute und göttlicher Lichtsymbolik voraus, der im Kontext des ›demiurgischen Humanismus‹ als solcher sichtbar wird. Hier setzen Prozesse einer ›kulturellen Menschwerdung Gottes‹ ein, die mit einer Aneignung der farbsymbolischen Weißheit Gottes und Christi einhergehen und das Licht der göttlichen Vernunft auf neue Weise im Menschen verorten. Der Identifizierung des ›studiosus homo‹ mit dem ›naturalis lux‹ folgt eine Charakterisierung des Cartesianischen Subjekts, die durch das ›lumen naturale‹ zunächst eine symbolische Lichthaftigkeit des Vernunftsubjekts impliziert – das Licht der Erkenntnis wird zu einer ›natürlichen‹ Größe, wird nicht mehr (wie im religiösen Kontext) von ›außen‹ empfangen, sondern ›strahlt‹ von innen nach ›außen‹ (Blumenberg) und strukturiert das rassentheoretische Weißwerden als farbsymbolisches, ›immaterielles‹ Weißwerden vor. Die Kategorie des ›Wissens‹ wird in ihren Dimensionen der Lichtmetaphorik der Erkenntnis somit selbst zum entscheidenden Faktor einer körperlichen Weißung. Dabei verlagert sich das Licht der göttlichen Vernunft in die Natur ›des Menschen‹, während Vernunft und Natur im Zuge der Aufklärung gleichzeitig entgöttlicht werden. Die Konstruktion eines rassentheoretisch reinen, visuell weißen Körpers ist nur vor dem Hintergrund vorangegangener Visualisierungsprozesse in der Renaissance zu begreifen. Dabei ist die Rationalisierung der Natur und des menschlichen Körpers im demiurgischen Humanismus noch göttlich aufgeladen und als kunsttheoretische Konstruktion erkenntlich. Die schöpferischen (abstrakten) Neukonstruktionen der Natur implizieren einen (neognostischen) ›Sieg der göttlichen Vernunft‹ über die Materie und bringen eine symbolisch lichthafte, weiße Natur hervor. Die machtvoll besetzte (und über das zentralperspektivische Bild manifestierte) Blickposition, die ›der Mensch‹ als ›Gott der zweiten Schöpfungswoche‹ einnimmt, initiiert zugleich einen säkularen männlichen Subjektstatus, der lichtsymbolisch markiert ist – und entsprechend ein sehendes männliches ›Licht-Ich‹ konstituiert.

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Erscheint der rassisierte weiße Körper als Ausdruck einer reinen, geistig strukturierten Materie, welcher abstrakte, rationalisierte, antike Körperbilder zugrunde liegen, und wird die Farbe Weiß als Farbe des Lichts und der Reinheit hier zum Ausdruck der Formreinheit, einer ›vernünftigen‹, lichthaften Natur, so sind es gleichsam christliche und gnostische Leibkonzepte, die Eingang in die rassentheoretischen Körperkonstruktionen finden. Dabei stellen der gnostische und der christliche ›Geist-/Lichtleib‹ wiederum eine farbsymbolische Identifizierungslogik bereit, nach welcher sich Geistigkeit und weiße Farbe verbinden. Der rassisierte weiße Körper steht hiernach mit einer Überführung theologischer Moraldiskurse in säkulare Tugenddiskurse in Zusammenhang. Religiöse Vorstellungen eines sündenfreien, symbolisch weißen (Licht-)Leibs säkularisieren sich im Körper des weißen ›Rasse‹- und ›Vernunftsubjekts‹, in dem Schönheit, Tugend und Vernunft eine Allianz eingehen. Die Materialisierung des Transzendenten und Abstrakten, welche die weiße ›Rasse‹ farb- und formrein strukturiert, schlägt sich umgekehrt in Konstruktionen einer transzendent anmutenden ›weißen Materie‹ (der ›Feinheit‹ und ›Zartheit‹ der weißen Haut) nieder, die ihrerseits zum visuellen Zeichen des Geistes/des Lichts der Vernunft und der Tugendhaftigkeit wird. Ein Sinnzusammenhang von Licht- und Männlichkeitssymbolik bildet danach den geistesgeschichtlichen Hintergrund für farb- und geschlechtsspezifische Konstruktionszusammenhänge, die das Vernunftsubjekt als ›Rassesubjekt‹ weiß und männlich markieren, und bringt den Zusammenhang von Vermännlichung und Weißwerdung des ›Rassesubjekts‹ der farbsymbolischen Konstruktionslogik nach hervor. Diese farb- und geschlechtssymbolischen Zusammenhänge werden auf der Ebene rassisierter Geschlechterkonstruktionen ausdifferenziert: Danach wird das ›Licht der Vernunft‹ im männlichen Körper figuriert und konstituiert als symbolischer Charakterisierungszusammenhang hegemoniale Weiße Männlichkeit. Der individuelle, weiß markierte weibliche Körper hingegen fungiert als visuelles Zeichen spezifisch weiblicher Tugenden und als Garant ›rassischer‹ Reinheit der Gemeinschaft. Auf der Ebene vergeschlechtlichter ›Rassen‹ ist die männliche Attributierung der weißen ›Rasse‹ und ihre Assoziation mit geistiger Potenz leitgebend. Die Aneignung der weißen Farbe als Farbe des Lichts/Geistes ist dabei grundlegend als Ermächtigungsstrategie zu fassen. Sie markiert eine rassenspezifische Naturalisierung des geistig-männlichen Schöpfungsprinzips, ist zudem mit Heil und Heilung und säkularisierten Erlösungsvorstellungen verbunden. Verspricht der christliche und gnostische Geistleib die Aussicht auf eine erlösende göttliche Transzendenz, so ist das Versprechen auf eine heilbringende Geistigkeit in der weißen ›Rasse‹ selbst figuriert und profanisiert: Das säkulare rassenspezifische Heilsversprechen liegt in der aus der finsteren Natur erlösenden, Licht bringenden Weißen Kultur/Zivilisation. Säkulare Dominanzverhältnisse sind den rassisierten Körpern als Ausdruck einer vermeintlich objektiven Na-

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turordnung farblich eingeschrieben, die weiße Farbe als solche scheint die geistig-kulturelle Vorherrschaft zu plausibilisieren. Christliche und gnostische Bilder des symbolisch schwarzen, unreinen, sündhaften Leibs und der teuflischen Natur strukturieren Farbgebung und Vergeschlechtlichung des konstitutiven ›Anderen‹, einen Charakterisierungszusammenhang von Schwarzsein/Nicht-Weißsein, Sexualisierung und Verweiblichung. Die säkulare Übersetzung der schwarzen Farbe der Sünde in Krankheit manifestiert sich im Konstrukt schwarzer Haut: Der christliche Moralzusammenhang von Sünde, Sexualität und Krankheit hat das Schwarzwerden des in eurozentrischer Tradition sexualisierten ›Anderen‹ vorstrukturiert und überhaupt erst hervorgebracht. Die Konstruktionen degenerativer (Farb)Abweichung von einem weißen Ausgangsprinzip lassen sich zugleich als säkularisierte Version des gnostischen Falls des Geistes in die Materie lesen: Die dunkle, schattenhafte Materie – gnostisch ein Resultat des Erlöschen des Lichts – figuriert sich als rassisierte schwarze Natur des ›Anderen‹, die ›krankhafte Schwärze‹ erscheint als Sinnbild eines Mangels am Licht des Geistes, die schwarze Haut als Zeichen einer ›verdichteten‹ Materie, die den vermeintlichen Mangel an Geist transportiert. Zusammenhänge zwischen einer rassenspezifischen Figuration des Lichts der Vernunft und der Rassisierung einer geistig strukturierten Materie, die diesen Vorstellungen der farblichen Abweichung/Degeneration zugrunde liegen, werden beispielhaft in Kants Konstruktion einer weißen Stammgattung manifest: Das geistigmännliche Schöpfungsprinzip wird hier buchstäblich in ein weißes Ordnungsund Ur(sprungs)prinzip der (menschlichen) Natur übersetzt, dem die Omnipotenz, alles (Menschliche) aus sich heraus entstehen zu lassen, ebenso eingeschrieben ist, wie die gnostische Vorstellung einer (Selbst-)Entfremdung. Die Farbe der weißen ›Rasse‹ wird demnach zum natürlichen Zeichen einer ursprünglichen, vernünftigen (Licht-)Natur des Menschen und zum Indiz einer weiß gewordenen Vernunft. Dem konstitutiven rassisierten ›Anderen‹ ist als ›Schattenseite der Vernunft‹ ein Mangel am Licht des Geistes als Mangel an Weiße eingeschrieben: Hier vereinen sich Bilder der weiblich codierten passiven Materie, der ›unreinen‹ Natur und ein Mangel an Wissen, der gleichzeitig als Aberglaube und Irrationalität Verdunklung und Verweiblichung impliziert. Die farb- und geschlechtsspezifisch strukturierten Rassenkonstruktionen basieren auf abstrakten Konstruktionen der Natur und ihren dualistischen Grundzügen nach auf einer Spaltung von Geist und Materie. Sind die kulturhistorischen medialen Entstehungshintergründe des schwarz-weiß-symbolischen Dualismus im Abstraktionsprozess durch die griechisch-phonetische Alphabetschrift zu finden, so lässt sich die rassenspezifische Verweltlichung des Symbolischen ihrerseits mit der abendländischen Farbsymbolik der Schrift in Zusammenhang bringen, d. h.: Der Schwarze – als imaginäres, geis-

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tig-wissenschaftlich geformtes Bild des ›Anderen‹ – ist zum materiellen Zeichen und zum Zeichen des Materiellen, zur ›Farbe‹ und zum konstitutiven Bedeutungsträger eines säkularisierten Weißen Selbst geworden.

4 Carl Gustav Ca rus: ›S ymbolik der me nschlichen Ge stalt‹

»Jetzt finden wir denn sehr leicht und natürlich, daß die Nachtseite der Menschheit durch die äthiopischen Stämme, die Tagseite derselben durch die kaukasischeuropäischen Völker, die Dämmerung des Morgens der Menschheit durch die mongolisch-malayischhindostanischen Stämme, und das Gleichniß der Abenddämmerung der Menschheit durch die amerikanischen Urvölker dargestellt wird.«1

4.1 Einleitung In der romantischen Naturphilosophie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind anthropologische Typologisierungen selbst erklärtermaßen als spekulativ organizistisches Gesamtsystem entworfen.2 Dafür stehen im deutschsprachigen Kontext beispielhaft die Arbeiten des Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775-1854) sowie der Naturphilosophen und Mediziner Lorenz Oken (1779-1851)3, Henrich Steffens (1773-1845)4 und Carl Gustav Carus (1789-1869). Es wird im Folgenden in Auseinandersetzung mit den Rassensystematiken des Mediziners Carl Gustav Carus darum gehen, die Bedeutung schwarz-weiß-symbolischer Elemente im Rahmen eines gleichermaßen idealistisch wie empiristisch verfassten medizinischen Wissens um ›Ras1 2 3

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Carus, C. G. (1838), S. 122f. Vgl. u. a. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 153f., Stichwort Rasse. Zu Okens Schriften zählen: Oken, Lorenz. 1805. Die Zeugung. Bamberg/Würzburg; Oken, Lorenz. 1806. Abriß des Systems der Biologie oder Moralphilosophie. Göttingen; Oken, Lorenz. 1808. Erste Ideen zur Theorie des Lichts, der Finsternis, der Farben und der Wärme. Jena; Oken, Lorenz. 1809-1811. Lehrbuch der Naturphilosophie. 3 Bde. Jena; Oken, Lorenz. 1813-1827. Lehrbuch der Naturgeschichte. 3 Bde. Leipzig; Oken, Lorenz. 1833-1845. Allgemeine Naturgeschichte für alle Stände. 7 Bde. Stuttgart. Vgl. u. a. Steffens, Henrich. 1821. Über menschliche Racen. Breslau.

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se‹ und ›Geschlecht‹ und den hierin eingeschriebenen Gedanken naturromantischer ›Ganzheitlichkeit‹ präziser zu ergründen. Warum sich näher mit Carl Gustav Carus auseinandersetzen? Im Duden wird der »Mediziner, Naturwissenschaftler, Maler und Philosoph« Carl Gustav Carus, d. h. seine Schriften zur »Theorie des Unbewußten« und zur »Ausdruckskunde« als »wegweisend« beschrieben.5 Entgegen diesem Lexikoneintrag sind Carus’ Arbeiten in der rassismustheoretischen Literatur in ihrer ›wegweisenden‹ Bedeutung kritisch erwähnt worden. So verweist u. a. Mosse in seiner »Geschichte des Rassismus« auf Carus’ Einfluss im Rassediskurs. Mosse spricht dabei die bei Carus vorzufindende Analogisierung des goldenen Sonnenlichts mit der Hautfarbe der Europäer an.6 Carus’ Grundkonzept zu ›Rasse‹ orientiert sich an der von Linné entworfenen Viergliederung der Menschheit,7 jedoch erfolgt die Differenzierung bei Carus entlang der »vier planetarischen Zustände von Tag und Nacht, Morgen- und Abenddämmerung«.8 Wenn zu Carus rassismustheoretisch vermerkt wird, seine Konzeption von »Tagvölkern«, »Nachtvölkern« und »Dämmerungsvölkern«9 sei eine »bildhaft-symbolische Wiederholung der [in der Rassentheorie] immer wieder festgestellten Ungleichartigkeit und Ungleichwertigkeit der Rassen-Entwicklung«,10 so ist dem zuzustimmen. Allerdings ist hinzuzufügen, dass diese farbsymbolischen (Licht-Finsternis-)Konstruktionen nicht als einfache Addition zu den historisch vorangegangenen, (auf die eine oder andere Weise) naturwissenschaftlich inspirierten Rassensystematiken zu verstehen sind, sondern sich vielmehr als Reinszenierung ihrer schwarz-weiß-symbolischen Grundlagen deuten lassen. Hieraus ergibt sich im Rahmen dieser Arbeit auch das besondere Interesse an Carus’ Rassentheorie, in welcher die Begriffe ›Symbol‹ und ›Symbolik‹ selbst einen zentralen Stellenwert einnehmen: Denn der menschliche Körper erscheint Carus als materielles, leibliches Symbol der göttlichen Idee, normiert und differenziert entlang der säkularen Kategorien »Alter, Geschlecht und Volksstamm«.11 Die »Symbolik« versteht Carus dabei ihrerseits als eine empirisch fundierte Wissenschaft und (Deutungs-)Kunst,12 die zugleich Zugang zur göttlichen Idee und zur psychischen Konstitution kollektiver und individueller Identitäten liefere. Zu der hier wirksamen Verschränkung von empiristischer und idealistischer Wissensproduktion im Rahmen von Carus’ Rassentheorie vermerkt Jutta Müller-Tamm, die sich aus-

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Duden (1996), Stichwort Carus, Carl Gustav. Vgl. Mosse, G. L. (2006), S. 52f., 57f.; Mosse, G. L. (1997), S. 56. Ein Verweis auf Linné findet sich u. a. in: Carus, C. G. (1849), S. 8. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 153, Stichwort Rasse. Carus, C. G. (1849), S. 14f. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 153, Stichwort Rasse. Carus, C. G. (1997), S. VIII, 361, 387. Vgl. u. a. Carus, C. G. (1997), S. 6f.

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führlich Carus’ »Physiognomik als ästhetische[r] Anthropologie«13 gewidmet hat: »Ausgehend von vergleichender Anatomie – etwa Schädelmessungen – und vermittelt durch romantischen Analogieschluß gelangt Carus zu einer Psychophysiologie der Völker, die letztlich kulturelle Normen und Vorurteile wissenschaftlich bestätigt. Seine Rassentheorie steht durchaus in Einklang mit seiner bei allem Idealismus doch massiv deterministischen Perspektive auf den Menschen [...].«14

Auch Ingrid Wurst verweist in Auseinandersetzung mit »Carus’ Psychophysiologie des Staates«15 auf rassentheoretische Dimensionen diesbezüglicher Entwürfe.16 Und Michael Hagner, der sich im Kontext der Geschichte der Hirnforschung mit Carus’ Schriften beschäftigt, hält zu den rassentheoretischen Implikationen in Carus’ Werk fest: »Immerhin wollte Carus rassische Zugehörigkeit und Eigenschaften wie ›Anhänglichkeit am Boden‹ und ›Vaterlandsliebe‹ im Gehirn lokalisieren und reihte sich damit in die Gruppe derjenigen ein, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts begannen, Rassismus und Nationalismus miteinander zu vereinigen. [...] Mit solchen Theorien hat Carus sich nachhaltig aus der Wissenschaft herauskatapultiert.«17

In seinem Essay »Präzision und Ästhetik. Zur Physiognomik des Geistes bei Carl Gustav Carus« resümiert Hagner: »Zusammenfassend also schuf Carus mit seiner Symbolik des Schädelbaus ein System von Analogien, in dem alles mit allem verknüpft war. Dieses System ermöglichte einen ganzheitlichen Blick, der bei Carus zunehmend in einen totalisierenden Blick mutierte. Zugleich enthielt die Cranioskopie in ihrer Zusammensetzung aus Entwicklungsgeschichte und Osteologie, Physiognomik und Hirnanatomie, Goethes Idee des Organismus als göttlichem Urbild und Rassismus, metrischer Präzision und Anschaulichkeit das Versprechen, die Genieverehrung der Goethezeit in eine neue Epoche hinüberzuretten.«18 13 So das gleichnamige Kapitel in: Müller-Tamm, J. (1995), S. 115-137. 14 Müller-Tamm, J. (1995), S. 56. 15 So der gleichnamige Untertitel von Ingrid Wursts Essay »Die Revolution – Ein beängstigender Traum? Carus’ Psychophysiologie des Staates«. Vgl. Wurst, I. (2009). Gegenüber diesen rassismus- und nationalismuskritischen Untersuchungen psycho-physiologischer Volks- und Staatskonzepte spart Odo Marquard in seiner Auseinandersetzung mit Carus’ »Psychologie« die rassentheoretischen Dimensionen aus. Carus’ »Schädellehre« und »Organphysiognomik« bzw. »Gestaltkunde« werden hier lediglich in einem Satz erwähnt. Vgl. Marquard, O. (1987), S. 171. 16 Vgl. Wurst, I. (2009), S. 285f., 289. 17 Hagner, M. (2000), S. 214. 18 Hagner, M. (2009), S. 268.

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Eine nähere, dezidierte Auseinandersetzung mit Carus’ Rassentheorie der verschiedenen ›Menschheitsstämme‹ ist in diesen Studien allerdings nicht zu finden. Auf die asymmetrischen, essentialistisch-biologistischen Geschlechterkonstruktionen in Carus’ Arbeiten hat Claudia Honegger aufmerksam gemacht. Honegger verweist auf die Bedeutung, die Carus – der ab 1814 als Direktor der Entbindungsanstalt in Dresden ärztlich tätig war und den Begriff ›Gynäkologie‹ prägte19 – in der (Medizin-)Geschichte der »Wissenschaft vom Weibe«20 zukommt.21 Über Analogiebildungen stellen Carus’ Geschlechterkonstruktionen darüber hinaus einen Schlüssel zu seinem Natur- und Gottesverständnis (und ihrer Zusammenhänge) sowie zu einem idealistischen Modell fortschreitender Erkenntnis und Bewusstwerdung dar. Und in diesem Sinne wird die Kategorie Geschlecht in ihrer Relevanz für geschlechtsspezifisch konstruierte Rassismen im Folgenden zu verhandeln sein. Gemäß den übergeordneten Gesichtspunkten dieser Arbeit stehen folgende Fragen im Zentrum des Interesses: Inwiefern verschränken sich in Carus’ idealistisch-empiristischer Rassentheorie Prozesse der Naturalisierung und Reinszenierung schwarz-weiß-symbolischer Ordnungsmuster? Inwiefern werden die bereits im historischen Vorfeld zur ›Natur‹ gewordenen farb- und geschlechtssymbolischen Elemente rassentheoretischer Klassifikationen wiederum an eine geistige, symbolische Ordnung, den Bereich des Transzendenten, angebunden? Und auf welche Weise proklamieren die idealistischen Begründungsstrategien ein objektives Wissen, das seinerseits mit Konstruktionen von Weißsein bzw. hegemonialer Weißer Männlichkeit verknüpft ist? Im Gesamtkontext dieser Arbeit ist es nicht zuletzt die positive Bezugnahme Rudolf Steiners auf Carus’ Grundgedanken zum menschlichen Leib,22 die eine Auseinandersetzung mit Carus’ Schriften nahe legt.23 Eine aktuelle Verbindung von Carus’ Lehre zur Anthroposophie zeigt sich (wie in Kap. 1.1.3 erwähnt) u. a. am Beispiel der Carl Gustav Carus Akademie e.V., Akademie für eine Erweiterung der Heilkunst Hamburg.24 Der Name des Mediziners und Naturphilosophen ist so offensichtlich bis heute Bestandteil des anthroposophischen Selbstverständnisses.

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Vgl. Honegger, C. (1996), S. 208. Honegger, C. (1996), S. 207. Vgl. Honegger, C. (1996), S. 202f., 207-209. Vgl. Steiner, R. (GA 9), S. 29. Folgende Primärliteratur wird berücksichtigt: Carus, C. G. (1831); Carus, C. G. (1838); Carus, C. G. (1846); Carus, C. G. (1849); Carus, C. G. (1861); Carus, C. G. (1954); Carus, C. G. (1997). 24 Selbst erklärtermaßen baut die Carus Akademie auf Rudolf Steiners Anthroposophie auf. Vgl. www.carus-akademie.de (Recherchestand: 10.10.08).

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Im Folgenden wird zunächst den von Carus formulierten erkenntnistheoretischen Voraussetzungen seines Denksystems nachzugehen sein, über die sich bereits erste rassentheoretische Implikationen erschließen.

4 . 2 L i c h t d e r E r k e n n t n i s : I d e e , S ym b o l u n d Weißer Blick Das ›prädisziplinäre‹ Gefüge von Carus’ naturphilosophischem Werk, das in romantischer und idealistischer Hinsicht von Goethe, Schelling und Hegel inspiriert ist,25 erweist sich als ein ›transdisziplinäres‹ Geflecht von Philosophie, Physiologie, Anatomie und Psychologie, deren Verwobenheit in der Geschichte der Naturphilosophie liegt und im zeitgenössischen Kontext, sowie von Carus selbst, neu bestimmt und differenziert wird. Carus’ wissenschaftliche Bestimmung der Menschheit beruht dabei auf einer »philosophische[n] Auffassung der Anthropologie«,26 eine »ächte Naturphilosophie« arbeite hiernach einer »reinen Geistesphilosophie« vor.27 In Erläuterung der »wahre[n] Philosophie« spricht Carus »vom lebendigen Schauen der Welt in ihrer stetigen Beziehung auf Gott«.28 Und an anderer Stelle heißt es: »Alle Philosophie setzt Gott voraus und ist nur möglich unter dieser Voraussetzung.«29 Das hiermit verbundene zentrale philosophische Begriffsinstrumentarium fasst Carus folgendermaßen zusammen: »Wir brauchen nämlich für das Höchste all’ unserer Erkenntniß das Wort: ›Idee‹, ›Urbild‹, und bezeichnen unwillkührlich schon damit, daß hier von einem Lichtartigen, einem Lichtprocesse, der Name für Etwas hergenommen sei, welches an und für sich überhaupt nur mittels einer bildlichen Hindeutung sich ausdrücken läßt.«30

Der Mensch erscheint entsprechend als Abbild des geistig-göttlichen Lichtprinzips, wird zum visuellen »Symbol der göttlichen Idee« und ihrer Entfaltung,31 Idee, Göttlichkeit und Vernunft entsprechen sich.32 Durch das ›Sich25 Vgl. Honegger, C. (1996), S. 203. 26 Carus, C. G. (1861), S. 467, Anm. 27 Carus, C. G. (1861), S. 492. »Die Aufgabe der Geistesphilosophie und aller eigentlichen Psychologie muß es nun freilich genannt werden, theils jene Hauptstrahlungen [u. a. die Trias allen Seelenlebens] selbst, theils alle die ihr untergeordneten, sowie das Stufenweise ihrer Entwicklung, im Einzelnen ausführlicher zu verfolgen [...].« Carus, C. G. (1861), S. 460. 28 Carus, C. G. (1838), S. 369. 29 Carus, C. G. (1861), S. 1. 30 Carus, C. G. (1861), S. 454. 31 »Im höchsten Sinne streben wir jetzt eigentlich dahin, die Welt überhaupt als das Symbol des höchsten ewigen Mysteriums der Gottheit, und den Menschen als das Symbol der göttlichen Idee der Seele anschauen und verstehen zu lernen

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Darleben‹ – in der Materie – erlange die Idee zum Selbstbewusstsein.33 Die neognostischen Bezüge sind hier unverkennbar und diese verbinden sich mit organizistischen Grundannahmen und dem idealistischen Entwicklungsgedanken. Danach definiert Carus die »Menschheit« auch als einen »ideelle[n] Organismus [...], welcher in seiner Entwicklung der Entfaltung und Bethätigung höchster Ideen nachstrebt«.34 Der Gedanke, dass sich die göttliche Idee in der Materie verwirkliche, prägt die Definition von Natur insgesamt monistisch: die »Natur selbst« könne »nur als ätherische Manifestation unendlicher göttlicher Ideen begriffen werden«,35 sie sei das »große unbewußte Göttliche«36 und jenes, »das wir bei dem Worte ›Natur‹ denken, [bleibt] im tiefsten Innern doch stets geregelt [...] durch die Idee – das Urbild alles Seienden in Gott.«37 Der materialistische Grundaspekt dieser Lehre verdeutlicht sich bei-

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[...].« Carus, C. G. (1997), S. 3. »Der Mensch in seinem Wunderbau ist die erste That der Seele, oder vielmehr der Idee, und zwar eine solche, durch welche die Idee zur Seele und zum Geiste sich entfaltet; wir betrachten daher diesen Bau mit Recht als das höchste Zeichen, als das eigenste Symbol dieser Idee [...].« Carus, C. G. (1997), S. 4. » Was für die Welt höchste göttliche Vernunft ist, ist für den Organismus die Monas seines innern Daseins, d. i. die in ihm, gleichsam als einzelner Gedanke jener göttlichen Vernunft, sich darlebende Einheit der Idee [...].« Carus, C. G. (1838), S. 51. Vgl. Carus, C. G. (1838), S. 353, 363. Carus, C. G. (1838), S. 145. Zum Organismusbegriff präzisiert Carus, »daß, wo immer vom Organismus die Rede ist, wir allemal zwischen einem realen Organismus, dem Gliede der organischen Natur (Weltkörper, Pflanze, Thier, Mensch) und einem spirituellen Organismus, einer Gedankenwelt, dem Geschöpf eines innern geistigen Lebens nothwendig zu unterscheiden haben.« Carus, C. G. (1838), S. 30. Zur Definition der Menschheit »als einem ideellen Organismus« vgl. auch Carus, C. G. (1838), S. 106. Carus, C. G. (1838), S. 347. Carus, C. G. (1997), S. 408 [Anhang]. Carus, C. G. (1861), S. 491. Das Gottesbild in seinen pantheistischen Dimensionen erläuternd, heißt es: »[S]o ist auch Gott nur = dem einen höchsten Mysterium, in welchem die ewigen Sphären der Ideen- oder Vernunftwelt und der Natur- oder Erscheinungswelt sich stetig offenbaren und durchdringen, und es kann nichts sein außer in Gott, und alles, was ist, muß an sich göttlich sein, aber widersinnig wäre es deshalb, zu sagen, daß alles Gott sei (eigentlicher Pantheismus), da es absurd ist, zu denken, die höchste Einheit könne anders als nur eben als Einheit existiren. Eben so fassen wir dann die unendliche Gliederung der Ideenwelt unter der Einheit höchster göttlicher Vernunft zusammen, sowie wir die unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt des Aethers unter dem einigen Begriffe Natur vereinen.« Carus, C. G. (1838), S. 51f., Anm. Zum Verhältnis von Materie/Äther und Idee vgl. u. a. auch Carus, C. G. (1838), S. 358; Carus, C. G. (1861), S. 462.

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spielhaft, wenn Carus das »sich darleben« der »Gottesidee« in der Bildung des menschlichen Gehirns ausmacht. 38 Der Abstraktionsprozess, der dem ›symbolhaften‹ Körperverständnis insgesamt zugrunde liegt bzw. der abstrakte Charakter, die buchstäbliche Zeichenhaftigkeit des Körpers als Symbol, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass der Körper Carus zum (göttlichen) Schriftzeichen wird: »Freilich bezeichnend ist Alles und Jedes an dieser Bildung [des menschlichen Körpers], und der vollkommene Geist würde diese Lettern überall auch vollkommen zu lesen im Stande sein [...].«39

– Eine Vorstellung der Lesbarkeit des Körpers, die an Lavaters »›Alphabet‹ [...] der Gesichter«40 anschließt. Der Anspruch, diese Lesbarkeit als eine Charakterkunde wissenschaftlich zu begründen, zeigt sich, wenn es heißt: »[U]nd wie Goethe als Gleichniß des Lichts sagt: ›Vergebens bemühen wir uns den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine Thaten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten‹, so studiren wir das Ergebniß der bildenden Thaten der Idee, die Organisation, und zwar hier insbesondere die gesamte äußere Erscheinung des Menschen, und das Bild seines innern seelischen Seins, sein Charakter, muß uns deutlicher und verständlich daraus entgegentreten.«41

Carus’ Konzept der »Symbolik der menschlichen Gestalt« wird erstmals 1853 unter gleichnamigem Titel veröffentlicht.42 1858 erscheint das Buch in zweiter, erweiterter Auflage.43 Gewisse Grundgedanken dieses Werks durchziehen bereits Carus’ vorangegangene anthropologische Schriften,44 die wiederum die diesbezüglichen Grundlagen bereitstellen. Die ›Symbolik der menschlichen Gestalt‹ lässt sich so auch als Carus’ Grundkonzept vom Menschen und seiner Differenzierung verstehen, wobei die skizzierte idealistische Ideenlehre später teils präzisiert wurde.45 38 »Das sich darleben dieser Idee [der Gottesidee] durch die Bildung des Gehirns nennen wir seelisches Leben, die Beziehung desselben auf das äußere durch die Sinne nennen wir sinnliches Leben.« Carus, C. G. (1997), S. 34. 39 Carus, C. G. (1997), S. 18. 40 Müller-Tamm, J. (1995), S. 118. Zit. im Zit.: Lavater, Johann Caspar. 1775-78. Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. 4 Bde., Bd. 4. Leipzig/Winterthur, S. 147. 41 Carus, C. G. (1997), S. 4. 42 Carus, Carl Gustav. 1853. Symbolik der menschlichen Gestalt. Ein Handbuch zur Menschenkenntniß. Leipzig. 43 Carus, C. G. (1997). 44 Vgl. insbesondere Carus, C. G. (1838); Carus, C. G. (1849). 45 Vgl. Carus, C. G. (1861).

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Die Deutung der ›Symbolik der menschlichen Gestalt‹ impliziert, wie Carus 1858 konstatiert, zwei Erkenntniszugänge: Der erste basiere auf einem »dunkle[n] Gefühl«46 und »Seherblick«,47 der zweite stelle eine ›wirklich‹ wissenschaftliche Perspektive dar: Als einen Vertreter der ersten Richtung bezeichnet Carus den Physiognomen Johann Casper Lavater, den er als »Seher«48 von der reinen »Wissenschaft« abgrenzt.49 Er begründet dies mit den »mystisch-pietistischen Werke[n] Lavater’s«,50 die nicht wahrhaft wissenschaftlich seien.51 Eine angeborene Erkenntnis liege zudem in der »natürlichen Physiognomik« begründet, wonach die ›Entzifferung‹ des Körpers als Symbol schon ›unbewusst‹ im Menschen angelegt und selbst für das Tier erfassbar sei: »Man darf übrigens wol schon ohnehin die Ueberzeugung, daß in Wahrheit in der äußern Bildung des Menschen ein sehr bedeutsames Symbol gegeben sei, als eine sehr verbreitete betrachten, urtheilt doch schon halb unbewußt das Kind und der Wilde, ja fühlt sogar das nur irgend dem Menschen näher getretene Thier verschieden nach diesem Symbol über dessen inneres Sein, und so mag wol auch im Allgemeinen behauptet werden, daß gerade in dem dem Naturzustande näher stehenden Menschen sich das Talent einer natürlichen Physiognomik leichter und schärfer entwickele.«52

In den angeführten Vergleichsbeispielen zeigt sich bereits, dass die Bestimmung der Erkenntnis entlang rassentheoretischer Klassifikationsmuster verläuft, indem die vermeintliche Aufwertung des ›Talents‹ des ›Wilden‹ mit der Charakterisierung eines Zustands der ›Unbewusstheit‹ und der Kindlichkeit einhergeht. Zugleich wird der ›Symbolik der menschlichen Gestalt‹ über die Vorstellung einer ›natürlichen Physiognomik‹ ein allgemeingültiger, zeitloser und kulturübergreifender Charakter beigemessen; die Deutbarkeit des Körpers als visuellem Symbol der göttlichen Idee wird als ›transkulturell‹ und ›transhistorisch‹ vorgestellt. Der zweite, auf der Wissenschaft basierende Zugang53 bzw. die eigentliche »wissenschaftliche Symbolik« beruht nach Carus auf den Methoden der

46 Carus, C. G. (1997), S. 4. 47 Carus, C. G. (1997), S. 5f. 48 Carus zitiert mit diesem Begriff eine Aussage Goethes zu Lavater. Vgl. Goethe, J. W. v. (1988), Bd. 10, S. 155. Zit. in: Carus, C. G. (1997), S. 6. 49 Vgl. Carus, C. G. (1997), S. 5f. 50 Carus, C. G. (1997), Vorrede zur ersten Auflage, S. XVIII. 51 Vgl. auch Carus, C. G. (1997), S. 426f. [Anhang]. Zu Carus’ Abgrenzung von Lavater vgl. auch Müller-Tamm, J. (1995), S. 119f. 52 Carus, C. G. (1997), S. 4; vgl. auch Carus, C. G. (1997), S. 358. 53 Vgl. u. a. Carus, C. G. (1997), S. 5f.

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»Pathognomik«, »Physiognomik« und »Organoskopie«.54 Die Organoskopie (von griechisch ›Organon‹ = das Werkzeug, die Gliedmaße, und ›Skopia‹ = das Spähen, Ausspähen55) expliziert den Zusammenhang von Sehen und Wissen des anatomisch medizinischen Diskurses und die visuelle Konstruktionsmacht des wissenschaftlich empiristischen Blicks. Dass Carus diesen ›wissenschaftlichen‹ Blick förmlich als einen ›Weißen Blick‹ versteht, hatte er schon im Vorfeld des Werks der »Symbolik der menschlichen Gestalt« verdeutlicht: So spricht er 1849 von einer »auf Erfindungsgabe und Wissenschaft gegründete[n] Macht«56 der Tagvölker, eine Macht, die u. a. damit verbunden erscheint, dass der Stamm der Tagvölker »den Sinnen, und namentlich dem Auge, Werkzeuge erfunden hat, welche die Energie des letztern ganz ins Ungemessene steigern«.57 Hiermit wird die auf der Abstraktion beruhende Potenz des wissenschaftlich blickenden Auges, die Materie technisch zu ›erzeugen‹, zu konstruieren, erfassbar. Der im demiurgischen Humanismus durch die Aneignung der Blickposition Gottes und die visuelle Neukonstruktion der Materie symbolisch weiße Blick, der schöpferische ›Lichtblick‹ des Menschen als ›Gott‹ der ›zweiten Schöpfungswoche‹, wird Carus so zum Ausdruck des Weißen Wissenschaftlers, seiner Weißheit und Lichthaftigkeit als Angehöriger der Tagvölker selbst, zum Kennzeichen seiner Rationalität und visuellen Definitionsmacht. Das weiße ›Rassesubjekt‹ wird als ein sehendes, die (menschliche) Natur ›ausspähendes‹ Subjekt inthronisiert. In der Identifizierung der Tagvölker mit der Macht des Blicks scheint die auch bei Lorenz Oken zu findende Charakterisierung des Europäers als »Augenmensch« auf; Oken übersetzt dabei eine bei Aristoteles angelegte Hierarchisierung der Sinne58 in anthropologische Klassifizierungsmuster, rassisiert sie.59 54 Carus, C. G. (1997), S. 17. Danach bestimmt Carus die methodische Zielsetzung der »Symbolik« als Wissenschaft im Einzelnen wie folgt: »So würden wir also hinfort von der Symbolik verlangen dürfen: 1) daß sie als Organoskopie die von Natur gegebenen Verhältnisse äußerer Bildung, insofern sie irgend wäg- oder meßbar sind, so genau als thunlich bestimme; 2) daß sie als Physiognomik die äußere Gestaltung und Modellirung der gesamten Körperoberfläche ihrem Charakter nach möglichst getreu schildere; und endlich 3) daß sie als Pathognomik die durch eigenthümliche Lebensführung dem Aeußerlichen unserer Bildung überhaupt, besonders aber den für seelische Vorgänge vorzüglich wichtigen Regionen desselben eingegrabenen Zeichen sorgfältig berücksichtige und nach ihrer Bedeutung darstelle.« Carus, C. G. (1997), S. 17f. 55 Vgl. Carus, C. G. (1997), S. 17. 56 Carus, C. G. (1849), S. 88. 57 Carus, C. G. (1849), S. 88. 58 Vgl. u. a. Braun, C. v. (2001), S. 26, 215. 59 So findet sich bei Carus der Verweis auf Okens Einteilung in »[...] FühlMenschen (Neger), Schmeck-Menschen (Australier), Nasen-Menschen (Amerikaner), Ohren-Menschen (Asier), und Augen-Menschen (Europäer) [...].« Carus,

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Die speziellen visuellen Vermessungstechniken des Körpers werden von Carus gesondert benannt,60 darunter fällt die »Kranioskopie«,61 die Technik der Vermessung des Schädels. Die Konzentration auf das Gesicht und die Schädelform erscheint Carus nicht zuletzt deshalb in der Ermittlung geistiger Befähigung als besonders bedeutsam, weil es unmöglich sei, »als ein erleuchteter Geist zu denken mit dem Kopfbau eines Idioten.«62 Seine Physiognomik und Schädellehre schließt so auch an die rassentheoretisch gewandten anatomischen und physiognomischen Studien von Johann Friedrich Blumenbach,63 Peter Camper,64 Johann Casper Lavater,65 die Schädellehre Franz Joseph Galls66 und die kraniologischen Arbeiten und Messungen des »räumlichen Inhalt[s] der Schädelhöhle«67 von Samuel George Morton68 an. Insgesamt unterliegt der Körper, seine einzelnen Teile, darüber hinaus einer kompletten Ausmessung,69 wobei die »Anwendung der Symbolik auf die verschiedene Indi-

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C. G. (1838), S. 121, unter Bezugnahme auf Oken, Lorenz: Zoologie [Oken, Lorenz. 1815. Lehrbuch der Naturgeschichte. 3. Theil. Zoologie. 2. Abt.]. Vgl. u. a. Carus, C. G. (1997), S. 9, Anm. Vgl. u. a. Carus, C. G. (1997), Vorrede zur zweiten Auflage, S. XXI. Carus, C. G. (1849), S. 18. Vgl. Blumenbach, Johann Friedrich. 1779. De generis humani varietate nativa. Göttingen; vgl. u. a. Carus, C. G. (1849), S. 8f. Zu Campers physiognomischen Schriften zählt u. a. Camper, Peter. 1792. De Hominis Varietate, Deutsche Fassung von S. Th. Sömmering: Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden etc. Vossische Buchhandlung, Berlin; vgl. u. a. Carus, C. G. (1849), S. 21. Carus macht keine dezidierten Quellenangaben zu Lavater, bezieht sich aber, wie dem Kontext zu entnehmen ist, vermutlich auf Lavater, Johann Casper. 1775-78. Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschliebe. Leipzig; vgl. u. a. Carus, C. G. (1997), S. XVIII, 5f., 426f. [Anhang]. Zu Carus’ Kritik an Galls »in Quadrate und Kreise auf dem menschlichen Haupte abgetheilte[n] Sünden- und Tugendregister« vgl. Carus, C. G. (1997), S. 24. Carus, C. G. (1849), S. 18. Vgl. u. a. Carus, C. G. (1849), S. 19. Zu Mortons Werken zählen u. a. Morton, Samuel George. 1839. Crania Americana. Philadelphia; Morton, Samuel George. 1844. Crania Aegyptiaca. Philadelphia. Vgl. kritisch zu Morton u. a. Gould, S. J. (1999), S. 48-72, 379. Zu Carus’ Bezugsrahmen vgl. auch den Abschnitt: »Geschichte der Symbolik«, in dem Carus u. a. auf antike Vorläufer der modernen Physiognomik verweist. Carus, C. G. (1997), S. 43-54. Die Klassifikation der einzelnen Körperteile gestaltet sich in Carus’ Werk »Symbolik der menschlichen Gestalt« wie folgt: »I. Symbolik des menschlichen Hauptes«; »1. Von der besondern Symbolik des menschlichen Schädels«; »2. Von der besondern Symbolik des menschlichen Anlitzes, auch wol (freilich dann mit Inbegriff der Stirn) die eigentliche Physiognomik genannt« [untergliedert in:] »Die Nase«; »Das Auge«; »Die Augenbraue«; »Das innere Auge«; »Der Mund«; »Die Zähne«; »Lippen«; »Mundwinkel«; »Kinn«; »Bart«; »Das Ohr«; »Von Beurtheilung der Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Theilen des Hauptes«; »Von der Symbolik der Lebensbewegungen des Haup-

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vidualität nach Alter, Geschlecht und Volksstamm«70 die vorausgesetzten Achsen der Differenz markiert. Mit Carus’ wissenschaftlicher Zielsetzung, aus der Beschaffenheit des Körpers auf die seelisch-geistige Verfassung zu schließen, verbindet sich im Einzelnen die Differenzierung in drei verschiedene seelisch-geistige Aspekte – namentlich die »Constitutionen, Temperamente und geistigen Anlagen«71 – die er der Reihenfolge nach entlang der körperlichen »Zeichen am Stamme und an dessen Gliedmaßen«,72 entlang der »Züge[] des Antlitzes«73 und entlang des »Bau[s] des Schädels«74 zu deuten verspricht. Insgesamt setze die »wissenschaftliche Symbolik« nicht nur Rationalität voraus, sondern sie könne, wie Carus hervorhebt, »in ihrer Anwendung nie eines gewissen richtig vermittelnden Gefühls, eines feinern Takts, welcher selbst angeboren sein muß, ermangeln«.75 Neben der Kennzeichnung als Wissenschaft erhält die »Symbolik« hiermit den Status als »Kunst«.76 Carus holt danach, ganz im romantischen Gestus, das »Gefühl« in die Wissenschaft bzw. erhöht dieselbe zur Kunst77 (wobei das Gefühl hier vom zitierten ›Fühlen‹ des Tieres schon unter dem Zusatz des ›feineren Takts‹ zu unterscheiden ist). Demnach »beruft sich« Carus auch, wie Müller-Tamm formuliert, im »physiognomische[n] Urteil«, das als »ästhetisch strukturierte[r] Erkenntnisakt«

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tes«; »Von der Symbolik der Sprache«; »II. Symbolik des menschlichen Stammes«; »1. Der Stamm an und für sich« [untergliedert in:] »a) Hals und Nacken«; »b) Brust und Obertheil des Rückens«; »c) Leib und Untertheil des Rückens«; »2. Die Gliedmaßen des Stammes« [untergliedert in:] »a) Die Brustgliedmaßen« [untergliedert in:] »Oberarm; Unterarm«; »Die Hand«; »b) Die unteren Gließmaßen« [untergliedert in:] »a) Oberschenkel«; »b) Unterschenkel«; »c) Der Fuß«. Vgl. Carus, C. G. (1997), S. VI-VII [Inhaltsverzeichnis]. Carus, C. G. (1997), S. VIII; vgl. u. a. auch Carus, C. G. (1997), S. 251, 361, 387. Carus, C. G. (1997), S. 28; vgl. auch Carus, C. G. (1997), S. 11, 28-43. Carus, C. G. (1997), S. 31f. Carus, C. G. (1997), S. 32. Carus, C. G. (1997), S. 32. Carus, C. G. (1997), S. 6. Carus erläutert: »Der organische Bau des Menschen ist etwas so Incommensurables, [...] er enthält neben der großen Macht des Rationalen so viel ganz unerläßlich Irrationales, daß nie das Wägen, Messen und Zählen allein ausreichen kann zum Verständniß desselben zu gelangen.« Carus, C. G. (1997), S. 6. Carus, C. G. (1997), S. 7. Carus fasst zusammen: »Wir dürfen also wohl kurz sagen: die Symbolik der menschlichen Gestalt ist eine Wissenschaft, insofern sie die Grundsätze kennen lehrt, nach welchen die unzähligen Individualitäten der Bildung, denen wir im Leben begegnen, je nach ihrer seelischen Bedeutung beurtheilt werden sollen, und sie ist eine Kunst, inwiefern sie diese Grundsätze im einzelnen conkreten Falle wirklich anwendet, und aus dem vorliegenden Leiblichen auf das darin verborgene Geistige schließt.« Carus, C. G. (1997), S. 6f. Vgl. Carus, C. G. (1997), S. 6f.

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verstanden werden kann, auf eine »blitzartige Intuition«.78 Müller-Tamm schlussfolgert: »Der Sprung von anatomischer Beschreibung zu Sinnkonstitution, von physiologischem Vergleich zu qualitativer Differenzierung, von Zahl zu Norm läßt sich nur im Rahmen einer ›Symbolik als Kunst‹ rechtfertigen.«79

Über ›Gefühl‹ und ›Intuition‹ als Erkenntnisgrößen der Wissensproduktion klingt die Vorstellung einer »›fruchtbaren Einbildung‹« an, wie sie Schellings Naturphilosophie inhärent ist.80 Gegenüber einseitig ›rationalitätsfixierten‹ Traditionen der Aufklärung wird demnach auch ein weiblich codiertes Wissen einbezogen, über dessen Aneignung der (romantische) Wissenschaftler (analog zum romantischen Genie81) zu einer Art ›ganzheitlichen‹ Erkenntnis gelange.82 Strukturell ist die Kunst den anatomischen Klassifikationen schon als unterlegtes kunsttheoretisches Ideal, als rationalistisch mathematisches Moment der Proportionslehre eingeschrieben.83 Und es bestimmen damit – wie im historischen Vorfeld – die »ästhetischen Formen des ›Reinen‹«84 die 78 Müller-Tamm, J. (1995), S. 129. 79 Müller-Tamm, J. (1995), S. 130. 80 Braun, C. v. (2001), S. 179, unter Bezugnahme auf Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von. 1907 (1797). Ideen zu einer Philosophie der Natur. In: Ders.: Werke. Auswahl in drei Bänden. Bd. 1. Hrsg. u. eingeleitet von Otto Weiß. Leipzig; Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von. 1907 (1809). Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. In: Ders.: Werke. Auswahl in drei Bänden. Bd. 3. Hrsg. u. eingeleitet von Otto Weiß. Leipzig. Kontextuell bezieht sich von Braun mit dem Begriff der ›fruchtbaren Einbildung‹ maßgeblich auf Schellings Naturkonzeption. Zu Schellings erkenntnistheoretischem Ansatz vgl. Kirchhoff, J. (1982), S. 76-88. 81 Vgl. u. a. Wenk, S. (1997). Zu romantischen Geschlechterbildern vgl. u. a. Honegger, C. (1996), S. 187-194, 203. 82 An anderer Stelle arbeitet Carus diesen Komplementaritätsgedanken mit Blick auf das ›Bewusste‹ und ›Unbewusste‹ als geschlechtlich codierten Erkenntnisformen und -regionen aus, die der Grundstruktur nach den sozialen Geschlechtern zugewiesen werden. Vgl. Carus, C. G. (1846), S. 256-260. Nicht zuletzt spiegelt sich in den Konzeptionen eines ›ganzheitlichen‹ Wissens Goethes Einfluss auf die idealistische Naturphilosophie, wozu Bernd Kleeberg bemerkt: »Goethes Verbindung zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen, seine Betrachtungsweise der Gegenstände ›im höheren Sinne‹, von der er die ›Übereinkunft des Philosophen mit dem Empiriker erwartet‹, stehen im Geiste des objektiven Idealismus der deutschen naturphilosophischen Schule um Schelling, Lorenz Oken und den Begründer der modernen Biologie Gottfried Reinhold Treviranus an der Wende zum neunzehnten Jahrhundert.« Kleeberg, B. (2005), S. 116. Zit. im Zit.: Schmidt, Alfred. 1984. Goethes herrlich leuchtende Natur. Philosophische Studien zur deutschen Spätaufklärung. München, S. 34. 83 Müller-Tamm, J. (1995), S. 128. 84 Braun, C. v. (1997), S. 22.

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Norm. Indem Carus Wissenschaft als Kunst kennzeichnet, macht er letztlich den imaginären, abstrakten Charakter der wissenschaftlichen Erfassung und (rassen- und geschlechtsspezifischen) Systematisierung des menschlichen Körpers85 sichtbar. Nichtsdestotrotz bleibt die Bestimmung der ›Symbolik‹ als Wissenschaft leitend. Ihre praxisorientierten Anwendungsgebiete sieht Carus in der »Pädagogik«, in »ärztlicher Beziehung«, in »gerichtlicher Beziehung«, »in sozialer Beziehung« und in »artistischer Beziehung«.86 In ›gerichtlicher Beziehung‹ kommt Carus’ Kriminalanthropologie zum tragen.87 Der Anspruch verdeutlicht weitere transdisziplinäre, den wissenschaftlichen Rahmen überschreitende Zusammenhänge und verweist zugleich auf die Wirkungsmacht der Diskurse als diskursiver Praxis, auf die Verwobenheit von Wissenschaftsdiskurs und diskursiven Formationen sozialer Realität. Die lichtmetaphorische Aufladung von Wissen und Erkenntnis wird in Carus’ Formulierung vom »Licht der Erkenntniß«88 greifbar und manifestiert sich ebenso in Redewendungen wie »ans Licht stellen«,89 »erheben und erleuchten«,90 »im Lichte dieser Gedanken beleuchte[n]«,91 »klar am Tage« lie85 Siehe die rassisierten Körpermerkmale im Werk der »Symbolik der menschlichen Gestalt«: Zur Schädelgröße vgl. Carus, C. G. (1997), S. 148,152; zur Schädelform vgl. Carus, C. G. (1997), S. 156, 158f.; zur Kopfmasse vgl. Carus, C. G. (1997), S. 104, 106; zum Gesichtswinkel vgl. Carus, C. G. (1997), S. 207f.; zur Stirn vgl. Carus, C. G. (1997), S. 168; zum Auge vgl. Carus, C. G. (1997), S. 220; zu den Augenhöhlen vgl. Carus, C. G. (1997), S. 175f.; zum Haupthaar vgl. Carus, C. G. (1997), S. 196-203; zur Nase vgl. Carus, C. G. (1997), S. 212-215; zu den Lippen vgl. Carus, C. G. (1997), S. 235f.; zum Kinn vgl. Carus, C. G. (1997), S. 239f.; zum Bart vgl. Carus, C. G. (1997), S. 242f.; zur Beckengegend vgl. Carus, C. G. (1997), S. 283f.; zum Fuß vgl. Carus, C. G. (1997), S. 344; zur Hand vgl. Carus, C. G. (1997), S. 309. Die geschlechtliche Normierung der einzelnen Körperteile findet sich ebenso v. a. in Carus’ »Symbolik der menschlichen Gestalt«: Zum Körpergewicht vgl. Carus, C. G. (1997), S. 80, 88; zur Kopfgröße vgl. Carus, C. G. (1997), S. 102-105, 153; zu den Hüften vgl. Carus, C. G. (1997), S. 110f.; zum Hirn vgl. Carus, C. G. (1997), S. 132; zur Schädelgröße vgl. Carus, C. G. (1997), S. 149f.; zur Stirn vgl. Carus, C. G. (1997), S. 171; zu den Augenhöhlen vgl. Carus, C. G. (1997), S. 175; zum Haupthaar vgl. Carus, C. G. (1997), S. 196-203; zum Anlitz vgl. Carus, C. G. (1997), S. 204206; zur Nase vgl. Carus, C. G. (1997), S. 212f.; zum Mund vgl. Carus, C. G. (1997), S. 232; zum Kinn vgl. Carus, C. G. (1997), S. 239f.; zum Bart vgl. Carus, C. G. (1997), S. 243; zur Brust vgl. Carus, C. G. (1997), S. 276; zur Beckengegend vgl. Carus, C. G. (1997), S. 283f.; zu den Gliedmaßen vgl. Carus, C. G. (1997), S. 285; zum Fuß vgl. Carus, C. G. (1997), S. 344; zur Hand vgl. Carus, C. G. (1997), S. 307f., 310f., 316. 86 Vgl. die entsprechenden Kapitelabschnitte in: Carus, C. G. (1997), S. VIII, 361387. 87 Vgl. dazu auch Müller-Tamm, J. (1995), S. 133. 88 Carus, C. G. (1997), S. 185. 89 Carus, C. G. (1849), S. 66. 90 Carus, C. G. (1997), S. 38. 91 Carus, C. G. (1849), S. 91.

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gen,92 »lichtvollere[] Resultate«,93 etwas »bald dunkel, bald klar behaupte[n]«.94 Die »gesunde Anschauung«95 lässt sich als Wortspiel medizinischer Selbstsituierung deuten; »erleuchtet vom Licht der Physiologie«,96 »von der Fackel der physiologischen Entwicklungsgeschichte erleuchtet«97 und die »durch das Licht einer ächten Physiologie und Psychologie erleuchtete[] Philosophie der Geschichte der Menschheit«98 sind dafür weitere Beispiele. Den »Strahlen [der] Idee«,99 dem »Licht der Idee«,100 der »Sonne des Geistes«,101 dem »erleuchteten Geiste«,102 dem »befruchtenden Strahl[] der Idee«103 und dem »Samenkorn des Genius«104 stehen Formulierungen wie die »dunkeln Gefühle der Seele«105 und »Nacht geistiger und weltlicher Unbedeutendheit«106 gegenüber. Kommt in diesen Formulierungen die aufklärerische Lichtmetaphorik des Wissens/der Erkenntnis zum Vorschein, so ist vor dem Hintergrund der naturphilosophischen Prämissen der ›Ideen‹ und ›Urbilder‹ das Wissen (um die ›Symbolik der menschlichen Gestalt‹) der Lichtmetaphorik zufolge ebenso metaphysisch aufgeladen. Dass sich die Lichtmetaphorik des Wissens mit den Tagvölkern als rassifizierter Gruppe verbindet, ist im Begriff der ›Tagvölker‹ schon buchstäblich angelegt. Linnés vernünftiger ›Tagmensch‹, der noch als Oberbegriff der menschlichen Gattung verstanden und vom ›Troglodyt‹, dem ›Nachtmenschen‹ als Übergangswesen vom Tier- zum Menschen, abgegrenzt wurde,107 ist hier rassenspezifisch konkretisiert. Carus’ Tradierung der Verbindung von Vernunft/Rationalität und weißer ›Rasse‹, lässt sich, wie allein die bisherigen Ausführungen nahelegen, durch den Begriff der ›Tagvölker‹, die ihnen metaphorisch eingeschriebene Lichthaftigkeit, so auch als Sichtbarmachung des Lichts der Vernunft verstehen, welches die Weißheit der weißen ›Rasse‹ der kulturellen Logik nach farblich konstituierte. Diesen, von Carus naturphilosophisch konzipierten Konstruktionszusammenhängen von Licht/Wissen/Macht und weißer Haut wird das folgende Unterkapitel näher nachgehen. Hiermit 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107

Carus, C. G. (1838), S. 364. Carus, C. G. (1954), S. 40. Carus, C. G. (1838), S. 357. Carus, C. G. (1838), S. VIII. Carus, C. G. (1849), S. 13. Carus, C. G. (1997), S. 56. Carus, C. G. (1838), S. 145. Carus, C. G. (1838), S. 369. Carus, C. G. (1849), S. 61; Carus, C. G. (1861), S. 450. Carus, C. G. (1997), S. 241. Carus, C. G. (1861), S. 485. Carus, C. G. (1849), S. 96. Carus, C. G. (1849), S. 69. Carus, C. G. (1997), S. 130. Carus, C. G. (1849), S. 1. Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 146, Stichwort Rasse.

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wird schließlich auch ein Zugang zu dem eröffnet, was Carus im Einzelnen unter dem Körper als ›Symbol‹ und seiner (Be-)Deutung im rassentheoretischen Kontext versteht. Über das ›Urbild‹, die ›Idee‹, holt Carus, wie ausgeführt, zugleich das metaphysisch immaterielle Lichtprinzip und wörtlich die »göttliche Vernunft [Herv. J. H.]«108 in die Naturkonzeption und die naturphilosophische Vorstellung vom Menschen (als Symbol der göttlichen Idee) hinein bzw. ›zurück‹. Hiermit wird (gegenüber der entsakralisierten Vernunft, der ›reinen‹ Rationalität) eine weitere Ebene des symbolischen Zusammenhangs von Licht, Geist und Männlichkeit eröffnet und eine (neuplatonisch inspirierte) geistigmetaphysische Grundlage visueller Erscheinung geschaffen, ein geistiger ›Lichtgrund‹ der Natur, der in seiner Verhältnismäßigkeit zu Carus’ rassentheoretischen Differenzierungen zu berücksichtigen sein wird. Die geschlechtssymbolische Codierung dieses geistig-männlichen Lichtprinzips wird von Carus konkret als solches benannt, wenn es heißt, im »Verhältniß von Sonne und Planet« sei »ein unmittelbares Symbol der wunderbaren Wechselwirkung eben jener höchsten männlich befruchtenden und begeistigenden, sowie der weiblich empfangenden und gestaltenden Naturkräfte« zu sehen.109 Carus’ idealistisch monistischer Konzeption von Natur, dem ›großen, unbewussten Göttlichen‹, ist so auch (analog zu Schelling) ein geschlechtssymbolischer »Urdualismus« eingeschrieben, der in erweitertem Sinne mit dem romantisch organizistischen Welt- und Menschenbild verbunden ist.110 Der idealistische Entwicklungsgedanke schließlich, dass die Idee durch das ›Sich-Darleben‹ in der Materie zum ›Selbstbewusstsein‹ gelange, impliziert sowohl die göttliche Aufladung der Natur als auch eine Prozesshaftigkeit, die eine Bewegung vom dunklen Unbewussten zum hellen Bewusstsein einschließt. Mit Blick auf die Frage nach geschlechtsspezifischen Rassenkonstruktionen und rassisierten Geschlechterkonstruktionen wird vor diesem Hintergrund nach unterschiedlichen Ebenen von Natur und Naturhaftigkeit und ihnen unterlegten farb- und geschlechtsymbolischen Strukturen zu fragen sein. Wenn der (Weiße) wissenschaftliche Blick als (naturphilosophisch) erkenntnisstrukturierende Größe zusätzlich des ›Gefühls‹ bedarf, um den Körper als Symbol zu erfassen,111 so wird diesem Blick auch die Potenz einge-

108 Carus, C. G. (1838), S. 51. 109 Carus, C. G. (1997), S. 3. 110 So lassen sich Honeggers Ausführungen zu Schelling auch auf Carus’ Vorstellungen anwenden, wenn sie schreibt: »Mit der Naturphilosophie [Schellings] wird die Metapher der Organisation relativ bruchlos in den romantischen Zentralbegriff des Organismus überführt, und die Geschlechterdifferenz verbreitert sich endgültig zum Urdualismus im Weltall.« Honegger, C. (1996), S. 187. 111 Vgl. Carus, C. G. (1997), S. 6.

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schrieben, das ›irrationale‹ metaphysische Moment zu durchdringen, d. h.: die Natur in ihren Dimensionen einer göttlichen Dunkelheit zu durchleuchten, der Idee als Lichtprinzip zur Sichtbarkeit zu verhelfen und (im Umkehrschluss) dem Symbol eine ›geistige Heimat‹ zu geben und es ›intuitiv‹ mit weltlicher Bedeutung aufzuladen. Hierüber jedoch erschließt sich das ›irrationale‹ Moment zugleich in seinen ›rationalistischen‹ Dimensionen, ist doch nicht nur die ›Idee‹ Ausdruck des abstrakten Reiches des Geistes, des logos, sondern auch die durch den Geist strukturierte Natur als ›unbewusstes Göttliches‹. Und die ›intuitive‹ Erfassung der Sinnhaftigkeit des Körpers als Symbol ist einer kulturellen Prägung unterworfen, die ihren Voraussetzungen nach auf abstrakten Konstruktionen der Natur/des Körpers basiert. Dabei ist dem ›Körper als Symbol‹ historisch bereits eine imaginäre, objektivistisch gewendete Sinnhaftigkeit eingeprägt, die auf Rassisierungsprozessen symbolischer Traditionen fußt. Carus’ idealistisch empiristischen Entwürfen einer rassentheoretisch gewendeten ›Symbolik der menschlichen Gestalt‹ wird nun im Einzelnen nachzugehen sein.

4 . 3 D a s n a t u r a l i s i e r t e S ym b o l 4.3.1 Grundannahmen naturgeschichtlicher Entwicklung und ›rassischer‹ Differenz Die naturgeschichtlichen Überlegungen von Carus zur Menschheitsentwicklung gehen von der Einheit des Menschengeschlechts aus.112 Die Entstehung der Menschheit könne nicht ergründet werden,113 möglich sei es jedoch, den Entwicklungsgang in Gegenüberstellung von Tier- und Menschenreich zu verfolgen. So zeige sich mit Auftreten des Menschen »jetzt das Verschwinden aller Panzer und Schuppen, aller entschiedenen grellen Hautfärbungen (von denen nur der unterste Menschheitstamm das dunkle Blau- oder Braun-Schwarz beibehält) und die feine eigenthümliche Durchbildung des Haares, gegen die Stacheln, Borsten, Federn und die Buntheit des Thierreichs.«114

Die ›Buntheit‹ indes, die hier zum Zeichen der Tiere wird, wird auch in der Beschreibung weiterer ›Menschheitsstämme‹ bedeutsam bleiben und umge-

112 Vgl. Carus, C. G. (1838), S. 119. 113 »Versucht es deßhalb die Wissenschaft Hypothesen über dergleichen primitive Entstehung aufzustellen, [...] so thut sie nichts, als eine neue Mythe den vorhandenen beifügen und degradirt sich als Wissenschaft.« Carus, C. G. (1861), S. 461. 114 Carus, C. G. (1861), S. 452.

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kehrt zeigt sich, dass die Vorstellung einer ›neutralen‹ Farbe in der Bestimmung ›des Menschen‹ grundlegende Bedeutung erlangt. Carus, der »zu den prominenten Kritikern des Darwinismus zählt«,115 grenzt die Menschheit (gegenüber Linné) zwar vom Tierreich ab;116 doch erweist sich offensichtlich eine Nähe oder Ferne zum Tierreich in der Differenzierung der Menschheit als relevant. In seinen idealistischen Annahmen eines Entwicklungsgesetzes ist Carus gegenüber Darwin von der Vorstellung geleitet, der Entwicklungsgang der Menschheit entspreche dem »Typus der Spirallinie«,117 d. h., die Entwicklung verlaufe nicht gradlinig, sondern weise eine Beziehung zum »großen Gesetz[] der Spiralbewegung der Weltkörper«118 auf. Mit dieser Grundannahme kommt die (von Goethe inspirierte) idealistische ›genetische Methode‹ zum Tragen.119 Als »Gesetz aller organischen Aufeinanderfolge« wird hiernach bestimmt, »daß die höhere Formation die vorausgegangenen niedern in sich irgendwie wiederhole«,120 und »dass möglichst grosse Mannigfaltigkeit, d. h. UNGLEICHHEIT der Theile, bei möglichst vollkommner Einheit des Ganzen, überall als Beleg und als Maassstab höherer Vollkommenheit eines jeglichen Organismus erscheine.«121

Diese Grundgedanken des ›genetischen‹ Entwicklungsmodells schlagen sich in der Hierarchisierung der ›Rassen‹ insofern nieder, als dass (im Gegensatz zu den anderen) »in den kaukasischen Stämmen eine bewundernswerthe

115 Müller-Tamm, J. (1995), S. 55. 116 Vgl. Carus, C. G. (1838), S. 119. Danach sei die herausragende Stellung des Menschen bereits durch seine Skelettform ersichtlicht, die »reinmenschliche Gestalt«, die »reine Mitte echt menschlicher Bildung und Gestalt« (Carus, C. G. (1997), S. 70) gelten als Zeichen eines »Gipfelpunkt[s] aller Organisation« und verweisen auf die menschliche Trägerschaft des »Licht[s] des Geistes«: »wenn die Naturphilosophie a priori den Satz aufstellen darf: [...] daß der Mensch, in dessen Innervation das Licht des Geistes hervorgeht, sich überhaupt als Gipfelpunkt aller Organisation bewähren müsse, so weist nun hier auch in Bezug auf Statur die Beobachtung dies vollkommen nach. Nur der Mensch zeigt also eine normale Körperhöhe von 9 1/2 Modul, während das Aufrichten des Thieres vom Boden überhaupt immer etwas Unvollkommenes bleibt [...].« Carus, C. G. (1861), S. 449; vgl. auch Carus, C. G. (1861), S. 450452. 117 Carus, C. G. (1838), S. 145. 118 Carus, C. G. (1838), S. 58. 119 Zu Carus’ genetischer Methode vgl. u. a. Arnold, F. (1954), S. 7-15. 120 Carus, C. G. (1861), S. 467. 121 Carus, C. G. (1849), S. 4.

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Mannichfaltigkeit von Individualitäten hervor« trete.122 Das heißt dann beispielsweise, »daß in den Tagvölkern, als dem höchsten Stamme, welcher daher all die tiefern, mindestens in Andeutungen, wiederholen muß, unter so viel Anderem nothwendig auch das Wollhaar der Nachtvölker irgend einmal, und wenn auch nur pathologisch, zu einer Darbildung kommen muß [...].«123

Das Auftreten ›rassischer‹ Differenz als solcher wird an »Urrassen« festgemacht.124 Klimatische Bedingungen und jeweilige geographische Verortungen werden hierbei, den historisch vorangegangenen Theorien folgend, als Faktoren einer grundlegend asymmetrischen Differenz vorgestellt.125 Das »Urphänomen« rassentheoretischer Differenzierung jedoch sieht Carus in der Beziehung der Erde zur Sonne.126 Im Einzelnen gliedert er die Menschheit danach in »[...] Volksstämme, welche dem Lichtmangel – der Nacht des Planeten entsprechen; es können keine andern hierher gezogen werden als die körperlich und geistig unvollkommner ausgestatteten Neger – der äthiopische Stamm; – sie sind die NACHTVÖLKER – durch dunkle oft vollkommen schwarze Färbung bezeichnet. Ein andermal müssen sich finden: Volksstämme, welche der Erleuchtung – dem Tage des Planeten entsprechen; es gehören augenfällig hierhin die kaukasischen, europäischen und in Asien bis zu den Hindus verbreiteten höhern Stämme, alle von mehr oder minder weisser Färbung, – es sind die TAGVÖLKER. Zum dritten muss es geben Volksstämme, welche die Dämmerung des Aufganges in der Menschheit darstellen, – es sind die weitverbreiteten Völker des mongolischen Stammes, von welchem zugleich die malayischen Stämme abgeleitet werden können. Ihre Organisation 122 Carus, C. G. (1838), S. 127. Zur Hierarchisierung wird allgemein vermerkt: »Wie nun in Folge der Beziehung aller Theile und Glieder eines Organismus auf seine ideelle Einheit einige mehr central und höher, andere mehr peripherisch und niedriger erscheinen müssen, so auch in der Menschheit.« Carus, C. G. (1838), S. 138. »Immer an den genetischen Gang der Betrachtung uns haltend, beginnen wir mit dem geringsten Stamme [...].« Carus, C. G. (1849), S. 22. 123 Carus, C. G. (1997), S. 201. 124 Danach trat »analog dem eigensten Wesen der Natur [...] auch die Menschheit, sobald für sie einmal der Moment des Entstehens gekommen war, jedenfalls gleichermaaßen in der Vielheit [...] in verschiedenen Gegenden der Erde und unter verschiedenen Einflüssen des Klimas überall wieder in etwas verschiedenen Formen (Urrassen) hervor.« Carus, C. G. (1861), S. 466. 125 »Daher also gedeiht eine kräftige, höherer intelligenter Entwicklung fähige Menschheit nur da, wo Boden, Luft und Wasser, Klima und Nahrung, solche Vorgänge durch eine mittelbare Leben-fördernde Einwirkung begünstigen [...].« Carus, C. G. (1861), S. 479. 126 Vgl. Carus, C. G. (1849), S. 10.

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wird in vieler Beziehung zwischen der der Tag- und Nachtvölker in der Mitte stehen und eine dunklere oder hellere gelbliche Färbung zeichnet sie aus – es sind ÖSTLICHE DÄMMERUNGSVÖLKER. Viertens und endlich müssen Volksstämme sein, welche der Dämmerung des Unterganges entsprechen, in denen abermals eine mittlere Organisation und eine bald dunkler bald heller röthliche Färbung vorherrscht, wohin denn die Völker gehören, deren Mitte der Toltekanische und Aztekische Stamm ausmachte, welcher einerseits bis zu appallachianischen Stämmen, andererseits bis zu den Patagoniern und Feuerländern sich ausdehnt – es sind die WESTLICHEN DÄMMERUNGSVÖLKER der Erde.«127

Diese rassentheoretische Viergliederung der Menschheit in Tag-, Nacht- und Dämmerungsvölker128 setzt Carus analog mit den »vier Reiche[n] alles Epitellurischen«129 (Protorganismen, Pflanzenreich, Tierreich, Menschheit130), den »vier Zustände[n] des Unbewußtseins, Weltbewußtseins, Selbstbewußtseins und Gottbewußtseins«,131 den »vier Stufen geistiger Energie«132 (»die des Idioten, die der elementaren Menschheit, die des Talents und [...] die des Genies«133) sowie mit vier Altersstadien der Individualentwicklung (»EmbryoPeriode«, »Periode der Kindheit«, »Periode des vollkommen gereiften Menschen«, »Decrepidität des Alters«134) in Relation. An dieser Stelle seien zunächst die zwei entscheidenden Grundgedanken von Carus’ Rassenkonstruktionen festgehalten und expliziert: 1. Die vier ›Rassen‹/›Menschheitsstämme‹ erscheinen als Ausdruck kosmischer (Natur-) Gesetzmäßigkeiten und eines organizistischen Gesamtzusammenhangs, d. h., sie spiegeln ein viergliedriges Ordnungssystem von Welt/Natur, Mensch und Kosmos, Zusammenhänge, die über Analogiebildungen zur Geltung gebracht werden. 2. Die ›Rassen‹/›Menschheitsstämme‹ werden als Resultat und Ausdruck der Naturgeschichte als Entwicklungsgeschichte verstanden und als solches unterliegen sie einer ›natürlichen‹ Hierarchie, die vom Niederen zum Höheren verläuft. Neben der grundlegenden Bedeutung, die Linnés Ordnungsschema der vier Hautfarben in Carus’ Rassenkonstruktionen der Struktur nach zukommt, sind es so auch die empiristisch evolutionistischen Rassenmodelle des frühen 19. Jahrhunderts, die hier ihre Relevanz erhalten. Dazu zählen die medizini-

127 Carus, C. G. (1849), S. 14f. 128 Die Begriffe ›Rassen‹, ›Menschheits‹- und ›Volksstämme‹ werden von Carus äquivalent verwendet, wobei die Begriffe ›Stamm‹ und ›Volk‹ in seinem Werk am geläufigsten sind. 129 Carus, C. G. (1861), S. 468. 130 Vgl. Carus, C. G. (1861), S. 468. 131 Carus, C. G. (1838), S. 353, Anm. 132 Carus, C. G. (1861), S. 469. 133 Carus, C. G. (1861), S. 469. 134 Carus, C. G. (1861), S. 468.

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schen Arbeiten des Naturforschers Georges Cuviers (1769-1832),135 der die Paläontologie und die Vergleichende Anatomie als Forschungsdisziplin begründete, die Entwicklungstheorie Jean-Baptiste de Lamarcks (1744-1828)136 und die »Histoire naturelle du genre humaine« (1824) von Julien Joseph Virey (1775-1846).137 Neben Cuvier138 verweist Carus konkret auf die zoologischen Schriften von Jean Baptiste Bory de St. Vincent (1780-1846)139 und die »Naturgeschichte« Rudolph Wagners (1805-1864).140 Carus benennt in seinen rassentheoretischen Ausführungen zudem die Arbeiten des Geschichtsphilosophen Joseph Arthur de Gobineau (1816-1882)141 sowie des Kulturhistorikers Gustav Klemm (1802-1867).142 Und nicht zuletzt entwickelt Carus seine Rassensystematik vor dem Hintergrund idealistischer Geschichtsphilosophien einer ›Volks- und Rassengeschichte‹, wie sie u. a. Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770-1831)143 verfasste (und die ihrerseits durch die naturgeschichtlichen Entwicklungsmodelle der menschlichen ›Stammesgeschichte‹ geprägt sind144).

4.3.2 ›Symbolische‹ Körpernorm(-ierung) In den Hautfarbenkonstruktionen überlagern sich Naturalisierung und Visualisierung der Schwarz-Weiß-Symbolik in ihrer deutlichsten Form. Carus verfolgt nicht die Frage nach dem Ursprung der Farbsystematik, sondern setzt die farbliche Viergliederung (und die ihr inhärente asymmetrische SchwarzWeiß-Struktur) gewissermaßen als naturphilosophische Wahrheit voraus. 135 Zu Cuvier und dessen einflussreichen medizinischen Abhandlungen zur ›Hottentotten-Venus‹ vgl. Gilman, S. L. (1992), S. 125f., unter Bezugnahme auf Cuvier, George. 1817. Extraits d’observation faites sur le cadavre d’une femme à Paris et à Londres sous le nom de Vénus Hottentotte. In: Memoires du Museum d’histoire naturelle 3, S. 295-374. 136 Vgl. Lamarck, J. B. d. 1809. Philosophie Zoologique. Paris; vgl. u. a. Mosse, G. L. (2006), S. 41-45, 48, 61. 137 Vgl. u. a. Geiss, I. (1995), S. 102; Gilman, S. L. (1992), S. 125. 138 Vgl. u. a. Carus, C. G. (1997), S. 15. 139 Vgl. Bory de St. Vincent, Jean Baptiste. 1827. L’Homme. Essai zoologique sur le genre humain. Paris. Carus nimmt u. a. Bezug auf Bory de St. Vincents Einteilung in »schlichthaarige« und »kraushaarige« Menschen. Vgl. Carus, C. G. (1849), S. 9. 140 Vgl. Wagner, Rudolph. 1840. Naturgeschichte des Menschengeschlechts. Leipzig; vgl. u. a. Carus, C. G. (1997), S. 401, Anm. 141 Vgl. Gobineau, Joseph Arthur de. 1853. Essai sur l’inegalité des races humaines. Paris; vgl. u. a. Carus, C. G. (1997), S. 401f., Anm. 142 Vgl. Klemm, Gustav. 1849 (1843). Allgemeine Culturgeschichte der Menschheit. Bd. 1-7. Leipzig; vgl. u. a. Carus, C. G. (1849), S. 9. 143 Vgl. u. a. Hegel, Georg W. F. (2005). Zu Hegels Rassentheorie vgl. auch Hentges, G. (1999), S. 244-271. 144 Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 154, Stichwort Rasse.

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Damit erhält Linnés Systematik, die sich der Überführung des naturphilosophisch symbolischen Systems der ›complexion‹ in eine rassentheoretisch visualisierte ›Naturwahrheit‹ verdankt, rückwirkend erneut eine naturphilosophische Begründung. Sind die Hautfarben nach Carus das schlüssige Sinnbild einer viergliedrigen Ordnung von Mensch, Natur und Kosmos, so sucht er dennoch, die Farben ›wissenschaftlich‹ zu erfassen. Die mit dem System der ›complexion‹ verbundene Säftelehre, die schon in Kants ›Erklärung‹ der Hautfarben rassentheoretisch aktiviert und modifiziert wurde (vgl. Kap. 3.3.6), wird von Carus im Kantschen Sinne fortgeschrieben. Licht und Finsternis bestimmen hier jedoch konkret die Farbe: »Die nächtlich dunkle Färbung ist Allen [äthiopischen Stämmen] charakteristisch [...]. – Überall starke gekohlte Absonderungen in der Haut und starke Hautausdünstung. – (Man könnte durch diese starke Hautaussonderung in den Nachtvölkern an das stärkere Aushauchen der Pflanzen von kohlensaurem Gas während der Nacht erinnert werden.)«145

Wie bei Kant ist die schwarze Haut demnach als Resultat eines ›chemischen‹ Prozesses der Absonderung (der mit dem Geruch verknüpft ist) zu verstehen, ein physiologischer Verdunklungsprozess, der als Verdichtungsprozess erscheint. Es sind die Bilder der Verschmutzung und Verunreinigung, die hier als ›gekohlte Absonderung‹ zugleich eine symbolische, sprichwörtliche Schwärze (›Schwarz wie Kohle‹) transportieren. Die schwarze Haut wird somit zum konkreten Sinnbild der dunklen Natur. In Carus’ Erklärung der ›nächtlichen dunklen Färbung‹ wird dabei eine Relation zur nächtlichen bzw. ›nachtaktiven‹ Natur aufgemacht, wobei das säkulare (›chemische‹) Erklärungsmuster wiederum in eine metaphorische Sinnbildlichkeit übersetzt wird (wenn es heißt, dass man an »das stärkere Aushauchen der Pflanzen von kohlensaurem Gas während der Nacht«146 erinnert werden könnte). In ähnlicher Weise, d. h. über die ›chemische‹ Erklärung des Kohlenstoffs, leitet Carus auch die ›bunten‹ Hautfarben (sowie das schwarze Haar) der Dämmerungsvölker her.147

145 Carus, C. G. (1838), S. 125. 146 Carus, C. G. (1838), S. 125. 147 Zu den östlichen Dämmerungsvölkern etwa heißt es: »Allen diesen Stämmen ist indes eine gewisse, zwischen Tag- und Nachtseite der Menschheit in der Mitte liegende Organisation eigen; sie haben das dunkle, kohlenstoffreiche Haar der Völker der Nachtseite, ohne daß es jedoch die starke Spiralwicklung wie dort zeigt, und alle haben eine, mehr gekohlte Ablagerungen enthaltende Haut, ohne daß jedoch sie die Schwärze der Aethiopier erreichte. [...] Es nimmt hier die Haut durchaus nur eine gelbliche oder bräunliche Färbung an [...].« Carus, C. G. (1838), S. 129.

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Der »Lichtmangel«148 der Nachtvölker wie auch das geschwächte Licht der Dämmerungsvölker stehen bei Carus als weltliche ›Symbole‹ buchstäblich für einen Mangel am Licht des Geistes. Diese kennzeichnen den »rohe[n] Naturzustand[]«149 ihrer Angehörigen, ihre »Leidenschaften«,150 implizieren eine »geringe Anlage zu höherer geistiger Entwicklung«,151 rufen alle Mängel und Attribute wach, die schon die historisch vorgängigen ethnographischen Reiseberichte kannten. So hätten die Nachtvölker keine »Literatur«, keinen »Begriff höherer Kunstanschauungen und Kunstleistungen«,152 sie ermangelten der Schrift,153 hätten keine »höhere Staatsverfassung«,154 schlachteten »zahllose[] Menschenopfer«155 und nicht zuletzt deshalb könne man sagen: »[I]n einer solchen ungeheuren Missachtung des Lebens liegt ein gewisses dunkles Bewußtsein von der Unseligkeit eines nicht zum eigentlich höhern Lichte des Geistes erwachenden Daseins überhaupt [...].«156 148 Carus, C. G. (1849), S. 14. 149 Carus, C. G. (1849), S. 27. Zur Gleichsetzung der »wilden oder halbwilden Bevölkerung« mit »fast tierische[r] Rohheit« vgl. auch Carus, C. G. (1849), S. 49. Äquivalent zu den Nachtvölkern heißt es zur »westliche[n] Dämmerungseite der Menschheit«: »geringe Anlage zu höherer geistiger Entwicklung, daher noch höchst roher Zustand der meisten Stämme bis auf gegenwärtige Zeit, daher der niedrige Stand und die große Mannichfaltigkeit amerikanischer Sprachbildung, und daher die verhältnißmäßig doch nur geringen Zeichen einer höhern Cultur in früherer Zeit bei mexikanischen und peruanischen Stämmen. – Mit dieser geringen Anlage zu höherer geistiger Ausbildung hängt vielleicht der eigene melancholische Ausdruck, den die meisten Beobachter an den amerikanischen Wilden gewahr wurden, auf eigenthümliche Weise zusammen.« Carus, C. G. (1838), S. 130. 150 Carus, C. G. (1990), S. 471. 151 Carus, C. G. (1838), S. 130. 152 Carus, C. G. (1849), S. 24. 153 »[...] die höher gebildete Sprache fordert die Schrift, und die Schrift wäre nichts ohne die Sprache. Wirft man nun in dieser Hinsicht einen Blick auf die Sprachen der Nachtvölker, so stellen sie sich schon in sofern als durchaus unvollkommen dar, dass keine derselben selbstständig, d. h. ohne Beihülfe eines andern Stammes, sich auch zu einem schriftlichen Zeichen – und wäre es auch nur eine Bilderschrift, entwickelt hat.« Carus, C. G. (1849), S. 34. Zur Verhandlung der chinesischen Schrift vgl. Carus, C. G. (1849), S. 65-69. Carus konstruiert die Abwertung der Chinesen in diesem Kontext u. a. durch die »Schwerfälligkeit und Künstlichkeit ihrer Schriftsprache«. Carus, C. G. (1849), S. 66. Den ›Hindus‹ als Zweig der »östlichen Dämmerungsseite der Menschheit« spricht er hingegen eine »hohe Sprachentwicklung« zu. Vgl. Carus, C. G. (1838), S. 130. Zur allgemeinen Festschreibung der Höherwertigkeit der »Buchstabenschrift« gegenüber der Mündlichkeit und Bildschrift vgl. Carus, C. G. (1849), S. 76f. Zur Bedeutung der Sprache vgl. Carus, C. G. (1849), S. 41-50. 154 Carus, C. G. (1849), S. 24. 155 Carus, C. G. (1849), S. 28. 156 Carus, C. G. (1849), S. 28.

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Die ›Schattenseite der Vernunft‹, so ist zu schlussfolgern, ›verdichtet‹ sich in Carus’ Symbolik der Nacht- und Dämmerungsvölker somit förmlich in der schwarzen/nicht-weißen Haut (und dem schwarzen Haar). Die Finsternissymbolik ruft dabei die Erinnerung an den symbolisch schwarzen Leib wach. Zugleich findet der finstere Körper als ›Symbol‹ seine Entsprechung in einer Naturgesetzmäßigkeit der wechselnden Lichtverhältnisse des Planeten – und seiner finsteren Zustände. Die Ausführungen von Kant wiederum in ihrer symbolisch unterlegten Dimension präzisierend formuliert Carus demgegenüber (d. h. vor der Folie dieser leibhaftigen Finsternis) die substantielle Kausalkette von »feiner«, durchlässiger, weißer Haut und »höherer Geistesthätigkeit«; demnach konstruiert er »[d]ie bald gröbere bald feinere Organisation der Haut, welche, inwiefern sie erstes und allgemeinstes Sinnesorgan ist, für die Entwicklung höherer Geistesthätigkeit um so wichtiger wird, je gewisser Gefühl und Getast die ersten alles Vorstellungsleben orientirenden Sinne genannt werden müssen. In Wahrheit ist aber die Feinheit und Sinnesentwicklung in der Haut abermals in den Tagvölkern sehr bedeutend, während sie in den Nachtvölkern durch stärkere Ablagerung von Kohlenstoff und gröbere Bildung zurücksteht.«157

Die weiße Haut wird ebenso durch »Klarheit« bestimmt, denn: »nicht ohne Grund endlich ist es, dass in keinem andern [Stamme] diese Klarheit der Haut erscheint, wodurch allein sie ein feiner Spiegel innersten Seelenlebens wird«.158

Die »durchscheinende[] Organisation der Haut« sowie helles Haar gelten Carus unter der Überschrift »Tagseite der Menschheit oder die kaukasischen Stämme« als Merkmal für den idealen Menschen, den »Mensch[en] schlechthin«.159 Durchsichtigkeit, Klarheit, Geist und Licht – farbsymbolische Eigenschaften des gnostischen Scheinleibs Christi wie auch der christlichen Christuskonzeption – werden hier als Attribute der Tagvölker rassentheoretisch (re)inszeniert, d. h. sie ›materialisieren‹ sich in Form der weißen Haut, und das ›Licht der Welt‹ wird naturphilosophisch in ›Tagvölker‹ übersetzt: Die Tagvölker erscheinen als »Leuchte« der Menschheit,160 welche »nach und nach

157 158 159 160

Carus, C. G. (1849), S. 21f. Carus, C. G. (1849), S. 84. Carus, C. G. (1838), S. 126f. »Alles dies giebt dem Stamme der Tagvölker das Recht, sich als eigentliche Blüthe der Menschheit zu betrachten, ihm zugleich eben dadurch die Verpflichtung auflegend, den schwächern, in so mancher Hinsicht minder begüns-

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über alle Theile der bewohnten Erde ihr Licht und ihre Macht ausbreiten werden«.161 Im Bild vom ›Licht verbreiten‹ wird die aufklärerische Lichtmetaphorik des Wissens ›rassisch‹ verkörpert. Das Licht der Erkenntnis strahlt durch die Tagvölker, ihren lichten Körper, den auch hier das ›naturalis lux‹ weiß zu färben scheint, förmlich aus. Die Lichtsymbolik, die so scheinbar der weißen, ›durchscheinenden‹ Haut als leiblichem Symbol der göttlichen Idee auf natürliche Weise entspricht, ist umgekehrt und der kulturellen Logik des Säkularisierungsprozesses gemäß, die Ursache für die Konstruktion der vermeintlich natürlich gegebenen weißen Farbe. Auf ausgesprochen beispielhafte Weise lassen sich Carus’ Konstruktionen der Tagvölker, die schon begrifflich an die Götter des Taghimmels erinnern, so auch als Erinnerung an den Säkularisierungsprozess als diskursiven Prozess einer kulturellen Menschwerdung Gottes lesen. D. h. Carus’ Konstruktionen vollziehen diesen Prozess lichtmetaphorisch nach und verweisen bildhaft auf die rassentheoretische Verkörperung des Lichts der Vernunft. Der Körper als Symbol wird zum Träger einer (Licht-)Symbolik, die den (Licht-)Körper als solchen ›erschafft‹. In der Bestimmung der Farbe der Tagvölker selbst differenziert Carus zwischen »mehr oder weniger rein weißer, oder vielmehr rein durchscheinender Organisation der Haut«, wobei er ›reines‹ Weiß mit einer angenommenen ursprünglichen »Formreinheit«, den mathematisch abstrakten Körperkonstruktionen der antiken griechischen Kunst verbindet.162 Hiermit liefert Carus letztlich einen Hinweis auf die farbsymbolische Codierung der geistig strukturierten, mathematisch normierten Natur, d. h. auf die abstrakt gereinigte, symbolisch weiße Materie. Die von Carus nahegelegte Entsprechung von Formreinheit und reiner weißer Haut (der Griechen)163 kann somit auch als Verdeutlichung der Naturalisierung dieses symbolischen Zusammenhangs

tigten Stämmen theils als Leuchte voranzugehen, theils als Helfender überall nahe zu sein und sich zu bewähren.« Carus, C. G. (1849), S. 84f. 161 Carus, C. G. (1849), S. 95. 162 » Die Blüthe einer rein menschlichen Organisation scheint in diesen Stämmen der pelasgische, in der Vorzeit griechischen Volkslebens erreicht zu haben; davon zeugt die Abspiegelung griechischer Menschheit in ihren Kunstwerken, in welchen sie bereits den bedeutungsvollen Gesichtswinkel von 90° zur Normalform erhoben [...] – und haben auch die übrigen kaukasischen Stämme eine solche Formreinheit sich nicht erhalten, so ist doch bei mehr oder weniger rein weißer, oder vielmehr rein durchscheinender Organisation der Haut, und weniger krausem und minder kohlenstoffreichem, daher hellerem Haar, hier die ächtmenschliche Organisation so sehr in ihrer eigentlichen Mitte dargestellt, daß wir eben keine weitern besondern Kennzeichen derselben anzugeben brauchen, sondern daß sie schon durch Abwesenheit aller [...] Abweichungen als die eigentlich menschliche genugsam charakterisiert wird. – Man könnte sagen, in ihr erscheint der Mensch schlechthin.« Carus, C. G. (1838), S. 126f. 163 Vgl. Carus, C. G. (1838), S. 126f.

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und seiner farblichen Visualisierung verstanden werden. Das Ideal der Griechen vermittelt dabei eine Art ideales Urbild der Tagvölker. Die dahinter stehende immaterielle Größe der Idee (und das damit verbundene lichte, geistigmännliche Schöpfungsprinzip) erhält hier eine ideale Verkörperung, die als rassenspezifisches Ideal vorgestellt wird. Wird reine weiße Haut so auch als besonderer Vorzug innerhalb der Tagvölker bestimmt,164 so ist ›weiß‹ dennoch als ein übergreifend rassisiertes Kollektivmerkmal definiert. Mit welcher Sprichwörtlichkeit Carus in seinen Konstruktionen der ›Symbolik der menschlichen Gestalt‹ verfährt, und auf welche teils obskur wörtlich genommene Weise die Einschreibung der Farbsymbolik in die Körperkonstruktionen vollzogen wird, verdeutlicht sich im folgenden Textbeispiel. Auf der Grundlage einer Analogisierung von Individual- und Kollektivkörper setzt Carus darin die Redewendung, dass sich das ›Haupt im Alter lichtet‹, mit der kolonialistischen »Ausbreitung der Tagvölker« in Beziehung: »Das den Völkern von je her verehrte Haupt des edlen Greises, an welchem nächst der Stirn auch das ganze Mittelhaupt sich ›lichtet‹ (wie die Sprache recht gut es bezeichnet), und nur das Hinterhaupt noch mit Silberhaar sich bedeckt zeigt, es kann nun erst in seiner tiefsinnigen Symbolik verstanden werden, ja wollte man jedes auch entferntere Gleichniß beachten, so dürfte man bei dieser Lichtung eigentlich zugleich an das allmälige Verdrängen der Nacht- und Dämmerungsvölker durch die immer weitere Ausbreitung der Tagvölker, während des weiterrückenden Reifens der Menschheit auf unserm Planeten, gar wohl erinnern.«165

Die Konstruktion basiert auf einer Gleichsetzung von nackter (weißer) Haut mit dem Licht sowie ›dichtem‹ Haar mit Dunkelheit (wie Carus auch entlang einer »Tag- und Nachtseite« des Schädels expliziert166). Neben der ›Lichtung‹ des Haars ist es hier das altersbedingt weiße Haar, das Carus in farbliche Kor-

164 Neben der o. g. rassentheoretischen Ausdifferenzierung des Reinheitsgrades weißer Haut innerhalb verschiedener ›kaukasischer Stämme‹ wird dieser Gedanke von Carus in erweitertem Sinne ›individualisiert‹, wenn er schreibt: »In Wahrheit ist die Feinheit, die Weiße, die Glätte der Hautflächen von Hals, Nacken, Schulter und Brust von jeher als ein besonderer und bedeutungsvoller Vorzug einer Persönlichkeit gehalten worden, [...] während runzelvolle verfärbte und raue Oberflächen dieser Gegenden entweder als unerläßliche Begleiter hohen Alters und überkommener Krankheit, oder als Zeichen einer niedrigern und innerlich gesunkenen Lebensidee mit Recht aufgeführt werden können.« Carus, C. G. (1997), S. 277f. 165 Carus, C. G. (1997), S. 192f. 166 »Wie bedeutsam ist es dann, [...] daß die Lichtseite dieses Planeten (wenn wir für jetzt das Haupt so bezeichnen wollen) gerade auf die Region der Intelligenz, d. h. des Vorhirns, also auf die Stirn fällt, während die Nachtseite, die vom Haar verhüllte, die beiden andern Wirbel, und am dichtesten die Region des Nachthirns bedeckt!« Carus, C. G. (1997), S. 192.

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respondenz zu den Tagvölkern stellt. Die körperlichen Zeichen des Alters werden attributiv als ›Symbole‹ geistiger Reife und des Wissens mit dem Weißen europäischen Kollektivkörper assoziiert. Im Bild vom kahl werdenden Haupt sieht Carus somit ein (Körper-)Symbol für die vermeintlich legitime Verbreitung der Europäer, sprich für deren koloniale Eroberung der Welt. Und so erscheint in diesem farbsymbolischen Konstruktionsmodus auch die Versklavung der Nachtvölker ›plausibel‹.167 Die Aneignung der Lichtsymbolik als säkulare Ermächtigungsstrategie, die Wirkmächtigkeit symbolischer Zusammenhänge von Licht/Geist/Wissen/ Macht im säkularen Kontext, die Naturalisierung des Lichts in Form weißer Haut und die machtvolle Symbolik dieser ›Hautfarbe‹ selbst – all dies wird in Carus’ ›Symbolik der menschlichen Gestalt‹ ebenso greifbar wie die konkrete Rückübertragung sozialer Ungleichheitsverhältnisse auf die rassisierten Körper. Die rassisierten Körper scheinen in Carus’ Erzählung in ihrer farbsymbolischen Verfasstheit von der vermeintlich natürlichen Ungleichheit selbst zu erzählen. Es sind Körper, die – der Konstruktion nach – als bildgewordene Schriftzeichen einer dahinter verborgenen Naturordnung in Erscheinung treten, die sich als Symbol entziffern, lesen lassen, Körper, die in ihrer ›Symbolik‹ lediglich die Lichtverhältnisse des Planeten zu reflektieren scheinen. Carus’ Analogisierung der vier ›Rassen‹/›Völker‹ mit den vier Entwicklungsstadien der Individualentwicklung verdeutlicht in eben diesem Sinne die Gewaltförmigkeit einer ›ganzheitlichen‹ naturphilosophischen Rassensystematik, in der nicht nur der Sinnzusammenhang von Licht/Tagvolk/geistiger Reife reartikuliert, sondern der ›Lichtmangel‹ sich in seinen Dimensionen der ›Unreife‹, der dunklen Bewusstlosigkeit, konkretisiert. Hiernach erhält schließlich auch das durch den europäischen Kolonialismus verursachte Aussterben der ›Indianer‹ eine psycho-physiologisch-lichtmetaphorische ›Sinnhaftigkeit‹: »Mehr aber noch! – Indem die Menschheit in jedem Individuum eigentlich immer von neuem geboren wird, spiegelt jene Vierzahl sich selbst in den vier Entwickelungsstadien eines jeden Einzelnen wieder, ja theilt sich recht offenbar in die zwei entgegengesetzten Zustände von Nacht und Tag, indem die ganze in der Nacht des Uterinlebens verstreichende Embryo-Periode eben so bestimmt den erstern, wie die Periode des vollkommen gereiften Menschen den zweiten Zustand uns vergegenwärtigt, während die Periode der Kindheit eben so an die östlichen Dämmerungsvölker

167 So parallelisiert Carus den »Begriff des Negers« und »des Sklaven« und begründet, es sei »ein nie ganz abzuweisender Gedanke, dass ein Schicksal, welches einen ganzen Stamm der Menschheit in dunklern Schatten stellt, als seine nächtliche Färbung – ihn nicht getroffen haben könnte, wäre seine Geistesbefähigung nicht eine niedrigere, als die aller andern Stämme.« Carus, C. G. (1849), S. 23.

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erinnert, als die der Decrepidität des Alters an die westlichen, dem Aussterben immer mehr anheimfallenden Dämmerungsvölker Amerikas.«168

Hatte schon Kant in seinen Rassenkonstruktionen das Aussterben der indigenen Bevölkerung Nordamerikas über eine ihnen zu eigen gemachte physiologische ›Schwächlichkeit‹ zu plausibilisieren versucht169 (vgl. Kap. 3.3.6), so werden Carus’ Dämmerungsvölker Amerikas zum allgemeinen Sinnbild der Sterblichkeit des Menschen, d. h. sie werden – verdeutlicht durch das auf sie angewandte »Gleichniß der Abenddämmerung«170 – zum Gleichnis des Todes. Im Sinne der Hegelschen Geschichtsphilosophie als Rassengeschichte, in der Afrika als »Kinderland« beschrieben ist, »das jenseits des Tages der selbstbewußten Geschichte in die schwarze Farbe der Nacht gehüllt« sei,171 sind auch Carus’ Analogiebildungen von Individualentwicklung und Entwicklungsgraden der Tag-, Nacht- und Dämmerungsvölker angelegt. Die Zustandbeschreibungen von Bewusstlosigkeit und Bewusstsein werden u. a. durch die »Tag- und Nachtseite« der »Wechselzustände[] von Schlaf und Wachen« erklärt.172 Den Analogien zur Individualentwicklung ist dem System nach der idealistische Entwicklungsgedanke der sich allmählich zum Bewusstsein kommenden Idee eingeschrieben: eine Bewegung vom dunklen Stadium der Bewusstlosigkeit hin zum hellen Bewusstsein, ein Prozess, der geschichtsphilosophisch als Abfolge von den (bewusstlosen) ›wilden‹ Völkerschaften173 hin zur hegemonialen Kultur der mit dem Licht des Bewusstseins ausgestatteten 168 169 170 171

Carus, C. G. (1861), S. 468. Vgl. Kant, I. (1977a), S. 22. Carus, C. G. (1838), S. 123. Hegel, G. W. F. (1949), S. 135. Vgl. zu Hegels Rassentheorie u. a. Hentges, G. (1999), S. 244-271. 172 »Endlich aber zerfällt ja auch von selbst schon alles Leben des einzelnen Menschen in eine Nacht- und Tagseite, indem in den Wechselzuständen von Schlaf und Wachen die allgemeine unbewußte Periode des Embryolebens, sowie die bewußte des reifern Menschen, immerfort sich wiederholen und darstellen.« Carus, C. G. (1861), S. 468. 173 So heißt es u. a.: »[A]llein es spricht sich wohl z. B. deutlich aus, wie wir alle Ursache hätten zu sagen, die Seelen der ohne geistige weitere Entwickelung im Zustande der Wildheit lebenden Völker verharrten auf der Stufe der vorherrschenden Bewußtlosigkeit [...].« Carus, C. G. (1831), S. 416. Wenn Carus dem ›Anderen‹ in diesem Kontext (unter Ausdifferenzierung der rassentheoretischen Analogisierung der »vier Zustände[n] des Unbewußtseins, Weltbewußtseins, Selbstbewußtseins und Gottbewußtseins« (Carus, C. G. (1838), S. 353)) partiell Bewusstsein zugesteht, so ist dieses ›traumhaft‹ und wiederum mit einem Zustand der Bewusstlosigkeit verbunden: »[...] Welt- und Selbstbewußtsein, welches allerdings unläugbar vorhanden und hinreichend in ihrem Leben [dem Leben der im Zustande der Wildheit lebenden Völker] bethätigt ist, scheint doch fast wie im Traume in die Region des Gemeingefühls und der Bewußtlosigkeit herabgezogen worden zu sein.« Carus, C. G. (1831), S. 416.

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Tagvölker zu lesen ist. Wenn dieser Prozess seiner Bewegung nach auch nicht rein teleologisch angelegt ist, wenn die Tagvölker als ›Kulturvölker‹ selbst in historischer Abfolge immer wieder in die dunklen Zustände der ›Barbarei‹ verfallen können,174 so werden die ›wilden‹ (Nacht- und Dämmerungs-)Völker zum übergreifenden Sinnbild für diese niederen Phasen und dunklen Zustände der Geschichte. Der rassentheoretischen Differenzierung des idealistischen Konzepts vom Menschen als Symbol der ›göttlichen Idee‹ entsprechend, erscheint es so auch nur schlüssig, dass sich Multiplizierungen dieser Idee in qualitativ unterschiedliche Ideen finden.175 Sind die Tagvölker die exklusiven Repräsentanten der »Menschheit selbst«,176 und ist ihr ›Lichtkörper‹ als Verkörperung der Lichthaftigkeit der ›göttlichen Idee‹ konzipiert, so ist der ihnen als ›Leuchte‹ der Menschheit zugeschriebene Zivilisationsauftrag (die Erleuchtung der Welt, das aufklärerisch kolonialistische Erlösungsversprechen auf Aufhellung177) als idealistisches Versprechen eines Übergangs von dunkler Bewusstlosigkeit zum hellen Bewusstsein zu verstehen. Dass diese Aufhellung zugleich eine Bewegung von der dunklen Materie zum lichten Geist impliziert, formuliert Carus in aller Deutlichkeit, wenn es heißt: »In der Kindheit der Völker herrscht mehr das materielle, im entwickelten Zustande mehr das spirituelle Princip vor«.178 Die evolutionistische Bewegung vom Materiellen zum ›Spirituellen‹ lässt sich hiernach auch mit einer neognosti174 So bemerkt Carus im Kontext seiner Ausführungen zur »Missachtung des Lebens« in Form des »Schlachten[s] der zahllosen Menschenopfer« (unter bemerkenswerter Ausblendung des Kolonialismus), dass dieses nicht vorkomme »ausser da, wo entweder (wie in diesen [wilden] Stämmen) noch durch keinerlei Entwicklungsvorgang eine höhere Geistesbefähigung erreicht war, oder aber, wo (wie zu den verderbtesten Zeiten der spätern Kaiser Roms – oder im tiefsten Gräuel einer Französischen Revolution [...]) alles Höhere wieder verloren und verdorben worden war.« Carus, C. G. (1849), S. 28f. 175 »Wir werden manchem spurlosen Verschwinden grosser Völkermassen von der Erde auch unter den östlichen Dämmerungsvölkern begegnen, und dort, wie hier bei den westlichen, giebt es nothwendig dem Gedanken Raum, dass ihr inneres Lebensprincip – das, was man am besten mit dem Namen ihrer Idee bezeichnet, von keiner bedeutenden Energie gewesen sein könne [...].« Carus, C. G. (1849), S. 37. 176 Carus, C. G. (1861), S. 468. 177 So heißt es u. a. auch, der ›Stamm der Tagvölker‹ erleuchte »die neuere Welt«. Carus, C. G. (1849), S. 88. Zu den Tagvölkern als »Leuchte« der Menschheit und »Helfende[m]«/Erzieher der anderen ›Stämme‹ vgl. Carus, C. G. (1849), S. 85. Carus schränkt allerdings ein: »Das göttliche Licht der Seele kann wohl in dem sorgfältig gepflegten Kinde des Negers erweckt und verstärkt werden, nicht mehr aber in der verlornen Seele des alten in tiefster Rohheit untergegangenen Kannibalen. – In diesem Sinne ist also das drohende Wort zu deuten: ›Nulla est redemtio ex infernis‹ [...].« Carus, C. G. (1846), S. 238. 178 Carus, C. G. (1849), S. 82. So beschreibt Carus bspw. auch die »geistige Individualität des Mongolen« als »eine im Allgemeinen mehr materielle als ideelle«. Carus, C. G. (1849), S. 59f.

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schen Vergeistigungsstruktur in Zusammenhang bringen. Und damit schließt sich erneut der Kreis zum durchschimmernden (Licht-)Körper der Tagvölker, ihrer durchscheinenden Haut und der diesem Bild eingeschriebenen Struktur einer durchgeistigten Materie und eines materialisierten Geistes. Das ›materielle‹ und ›spirituelle‹ Prinzip, der Dualismus von (unreiner) schwarzer Materie und (reinem) lichten/weißen Geist, durchzieht zugleich den Individualkörper und dessen Analogiesetzung zu den Tag- und Nachtvölkern (als extremste Pole der Rassensystematik) auf verschiedenste Weise: Die Relationen treten, wie bereits erwähnt, u. a. als Kontrastierung der Tag- und Nachtseite des Schädels, der (weißen) Haut und des (dichten) Haars, ebenso wie als Kontrast des dunklen und hellen Blutes179 in Erscheinung.180 Die Tagund Nachtseiten des Körpers scheinen dabei jeweils die Existenz von Tagund Nachtvölkern zu plausibilisieren. Sie werden gleichzeitig als Ausdruck und Resultat eines geschlechtlichen (Ur-)Dualismus vorgestellt, wie im Folgenden expliziert sei.

179 »Wenn es seltsam und bedeutungsvoll genannt werden darf, daß, sowie unser Planet und jeder andere, fortwährend und in aller Bewegung, erscheint, halb vom Sonnenlicht erleuchtet und halb in nächtliche Verfinsterung getaucht, ebenso die innere Lebensflüssigkeit des Menschen, das Blut, fortwährend zerfällt in eine Tag- und eine Nachtseite, d. h. halb hellgerötheten, halb dunkel verkohlten Blutes, und daß ebenso die Menschheit selbst wesentlich in Tagund Nachtvölker mit den dazwischenliegenden Dämmerungsvölkern sich theilt, so darf man nun jedenfalls auch [...] es als ein nicht minder wichtiges und bedeutungsvoll symbolisches Moment betrachten, daß das höchste Gebilde des menschlichen Körpers, das Haupt, auf der vollen mittlern Lebenshöhe, ebenfalls halb in eine Tagseite und halb in eine Nachtseite sich abtheile [...].« Carus, C. G. (1997), S. 192. 180 Ein weiteres Beispiel für die grundsätzliche Akribie, mit der Carus den menschlichen Körper im dualistischen Grundmodus strukturiert, ist seine Bestimmung der (Farb-)Symbolik des menschlichen Auges. Hierzu heißt es, »daß ein Auge mit großem Augenstern, wo also verhältnismäßig weniger Weiß im Auge gesehen wird, einen zwar materiellen Ausdruck von Stärke geben kann, aber stets mehr gegen das Thierische neigen müsse, während ein Auge mit kleinem Augenstern und viel Weiß daneben den Ausdruck von Zartheit, höherer Sensibilität und Geistigkeit, bei übermäßiger Kleinheit aber von Verkümmerung und Schwäche nothwendig gewährt.« Carus, C. G. (1997), S. 219; vgl. auch Carus, C. G. (1997), S. 222, 226. Dunkle Augenfarbe charakterisiert Carus durch »ein mehr heftiges, feuriges Temperament«, blaue Augen durch »größere Sanftheit und Zartheit«. Carus, C. G. (1997), S. 429 [Anhang].

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4.3.3 Tag- und Nachtseiten: Explizierung von Geschlecht »Einen ursprünglichen Gegensatz bemerken wir zuerst, welcher durch all diese Unendlichkeit der innerhalb der Menschheit begriffenen einzelnen Ideen hindurchgeht, es ist ein Gegensatz, in welchem sich der höchste Dualismus der Welt: Idee und Äther [...] – Form und Stoff – wiederholt, nämlich: der Gegensatz des Männlichen und Weiblichen.«181

Dass Carus’ Rassenkonstruktionen historisch vorangegangene geschlechtsspezifisch konstruierte Rassismen im idealistischen Konstruktionsmodus reartikulieren, erschließt sich bereits aus den bisherigen Ausführungen. Die Vorstellung von Tag- und Nachtseiten des menschlichen Körpers, ihre Analogisierung mit Tag- und Nachtvölkern und die Strukturierung dieser Polarisierung über das ›materielle‹ und ›spirituelle‹ Prinzip folgt im Einzelnen der Annahme eines geschlechtlichen Urdualismus, in dem die aristotelischen Traditionen (von Form und Stoff) idealistisch (als Dualismus von Idee und Äther) verarbeitet werden. Wiederum ist hierbei das Konzept einer ›ganzheitlichen‹ (Natur-)Ordnung entscheidend, welche als asymmetrisch und komplementär organisierter Dualismus alle Bereiche der Natur und des Lebens durchzieht. Die Überlagerung von Farb- und Geschlechtssymbolik, die diesem Dualismus inhärent ist, zeigt sich beispielhaft, wenn Carus die Sonne als ›Symbol‹ des männlichen, geistigen, befruchtenden Prinzips und den Planeten Erde als ›Symbol‹ des Weiblichen identifiziert.182 Diese symbolische Struktur wird ebenso in Carus’ Grundthese deutlich, es spiegele sich »im Verhältniß der uns einflußreichsten Gestirne, der Sonne und des Mondes – der Gegensatz des Männlichen und des Weiblichen in der Menschheit vor«.183 Letztere Analogisierung reartikuliert christliche Traditionen, in welchen Christus durch die Sonne und Maria durch den Mond symbolisiert wird (vgl. Kap. 2.4.5). Carus’ Symbolik von Sonne und Mond ist jedoch eine doppelte Naturalisierung inhärent. Dies betrifft einerseits die Bestimmung der Gestirne als Naturphänomene, andererseits die bipolare Struktur des sozialen Geschlechtersystems.184 Die dualistische Geschlechterdifferenz beschreibt dabei eine kulturelle Vorannahme, die im zeitgenössischen Kontext als ›Naturwahrheit‹ gilt und hier zum Ausdruck und Beweis geschlechtlicher Grundpolaritäten wird, die Natur und Kosmos strukturieren. In Carus’ Rassenkonstruktionen kommen die sym-

181 182 183 184

Carus, C. G. (1846), S. 61f. Vgl. Carus, C. G. (1997), S. 3. Carus, C. G. (1838), S. 123. Zu Carus’ Geschlechterkonstruktionen vgl. auch Honegger, C. (1996), S. 202f., 208f.

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bolischen Bildtraditionen (Sonne-Mond, Sonne-Erde) insofern konkret zum Tragen, als dass die Tagvölker die Sonne (bzw. die Sonnenseite des Planeten) repräsentieren und ihnen das männliche Lichtprinzip schon namentlich zugewiesen ist. Die Nachtvölker korrespondieren mit der Mondsymbolik als Nacht- und Weiblichkeitssymbolik ebenso wie mit der Nachtseite des Planeten und der traditionell weiblich symbolisierten (dunklen) Natur. In Carus’ Erläuterung der »Tag- und Nachtseiten« des »thätigen Lebens« spiegelt sich diese Zuweisungsstruktur wider: »Unterscheiden wir ferner in den Formen des thätigen Lebens eine Tag- und eine Nachtseite, wobei wir der erstern die höhern Sinnesfunktionen, die feinern willkührlichen Bewegungen und das Reich freier intellektueller Bethätigung zuweisen, während die Nachtseite durch die ernährenden Funktionen, das eigentliche Bildungsleben und insbesondere durch die Fortbildung der Gattung im Geschlechtlichen, so wie durch das dunkle Reich der Affekte und Leidenschaften angedeutet wird; so scheint auch in dieser Beziehung sich die Stellung, welche wir den äthiopischen Stämmen anweisen, zu bewähren.«185

D. h. im Einzelnen, wie Carus zur Nachtseite anschließt: »Vorherrschen heftiger Leidenschaftlichkeit, starke Ernährung [...], große Geschlechtskraft der Männer [...] und starke Fruchtbarkeit der Weiber [...], verbunden mit geringer Anlage zu feiner wissenschaftlicher Entwicklung und zu freier organisirtem Staatsleben, welches sich über das roh Despotische noch nirgends erhoben hat, charakterisiren die äthiopischen Stämme und in ihnen die Nachtseite der Menschheit.«186

Wiederum ist dieser Ableitungsmodus von einem Umkehrschluss bestimmt: Ausgehend von Tag- und Nachtseiten des tätigen Lebens, welche geschlechtliche Polaritäten spiegeln (das männlich Geistige versus das weiblich Nährende, Rationalität versus Leidenschaft/Sexualität etc.), ist es dem System nach nur naheliegend, dass es Nachtvölker gibt, welche die weibliche Seite verkörpern und entsprechend Tagvölker, die das Reich des männlichen Geistes, d. h. geistige Tätigkeit repräsentieren. Die Tag- und Nachtvölker erscheinen umgekehrt als visuelle, natürliche ›Symbole‹ der Tag- und Nachtseiten des tätigen Lebens, und die ihnen diesbezüglich zugewiesenen geschlechtlichen Charakterisierungen scheinen sich aus ihren lichten und finsteren Körpern zu erschließen. Die Charakterisierungsstruktur als solche deutet darauf, dass Carus’ ›Symbolik‹ wiederum nur die den bereits vorangegangenen Rassenkonstruktionen unterlegten schwarz-weiß-symbolischen Zusammenhänge bildhaft 185 Carus, C. G. (1838), S. 125f. 186 Carus, C. G. (1838), S. 126.

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zum Ausdruck bringt und ihrer symbolischen Struktur nach konkretisiert, d. h. dem Symbolischen einen Namen, ein Bild, gibt – auch wenn diese symbolische Ordnung bei Carus eben gerade nicht als rein symbolisch, sondern als symbolischer Ausdruck einer idealistischen Naturordnung gilt. Der geschlechtlichen Charakterisierung rassisierter Kollektivkörper entspricht, dass Carus »in dem verdienstvollen Werke von Klemm [...] die Unterscheidung in active und passive Stämme«187 lobt. Dieser angenommene (geschlechtlich codierte) Aktiv-Passiv-Dualismus verdeutlicht, dass das viergliedrige System von Tag-, Nacht- und Dämmerungsvölkern in sich dualistisch strukturiert ist (den aktiv männlichen Tagvölkern also der ›Rest‹ der passiv und weiblich identifizierten ›Völker‹ gegenüber steht).188 Carus’ Systematisierung impliziert dabei eine Ableitungslogik, der zufolge Lichtmangel und Lichtschwäche, Nacht und Dämmerung gleichermaßen den Mangel an Aktivität des männlich identifizierten Lichts/Geistes repräsentieren. Die geschlechtliche Aktiv-Passiv-Struktur kann allerdings mit Blick auf die Dämmerungsvölker als Zwischenstufen auch Ambivalenzen umfassen. Dies zeigt sich in Carus’ Analogisierung der vier ›Völker‹ mit den vier Reichen des »Epitellurischen« (Protorganismen; Pflanzenreich; Tierreich; Menschheit), wenn es heißt, dass »die im Ganzen weichlichern mehr phlegmatischen östlichen Dämmerungsvölker analoger dem Pflanzenreiche bleiben, die härtern activen westlichen Dämmerungsvölker Amerikas dagegen mehr dem Thierreiche gegenüberstehen [...].«189

Die Charakterisierung der ›Zwischenstufen‹ ist hier durch Tendenzen gekennzeichnet, die – über die Analogie einer hierarchischen Naturordnung – ›nach unten‹ (in Richtung der Nachtvölker als Repräsentanten der »Protorganismen«) in Passivität/Weiblichkeit und ›nach oben‹ (in Richtung der Tagvölker als Repräsentanten der »Menschheit«) in Aktivität/Männlichkeit ausschlagen.190 Der Grunddualismus rassistischer Kategorienbildung, der dieser Ana-

187 188 189 190

Carus, C. G. (1849), S. 9. Vgl. auch Carus, C. G. (1861), S. 471. Carus, C. G. (1861), S. 468. Zur Analogisierung mit den »vier Reiche[n] alles Epitellurischen« heißt es in Gänze: »Zunächst was die großen Völkerstämme betrifft, so ist es unschwer nachzuweisen, daß selbst die oben dargelegte, aus den vier verschiedenen Erleuchtungszuständen des Planeten sich ergebende Vierzahl derselben merkwürdig zugleich auf die vier Reiche alles Epitellurischen zurückdeute, so daß die Nachtvölker durch ihr indifferentes unentwickeltes Naturell und ihren stumpfen Geist an die Protorganismen erinnern, während die im Ganzen weichlichern mehr phlegmatischen östlichen Dämmerungsvölker analoger dem Pflanzenreiche bleiben, die härtern activen westlichen Dämmerungsvölker Amerikas dagegen mehr dem Thierreiche gegenüberstehen, und nur die

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logie eingeschrieben ist, wird in aller Offenheit erneut deutlich: Den Tagvölkern als Repräsentanten ›der Menschheit‹ steht der ›Rest‹ als (dunkle) ›Natur‹ gegenüber. Mit welcher schematischen Konsequenz Carus verfährt und inwiefern sich über die Tag- und Nachtseiten des Körpers Wechselwirkungen der Kategorien ›Rasse‹ und Geschlecht erschließen, wird exemplarisch greifbar, wenn Carus die Redewendung, dass sich das ›Haupt im Alter lichtet‹, in geschlechtlicher Wendung expliziert: »[J]a wie bedeutungsvoll darf es endlich genannt werden, daß bei reiferm Leben, und zumeist an dem Geschlecht, welchem die Klarheit der Erkenntniß vorzugsweise eignet, am männlichen, in einer höhern, namentlich für Reife dieser Intelligenz bestimmten Lebensperiode, ganz naturgemäß eine solche Lichtung der Bekleidung zunimmt, die freie klare reine Haut über immer größere Flächen des Kopfes sich ausbreitet, und die Behaarung selbst, indem sich ihre Farbe erhellt, an verkohlter Substanz mehr und mehr verliert!«191

Über die Identifizierung der ›Lichtung‹ (und Aufhellung) des Haars mit dem Licht des Geistes (der ›Klarheit der Erkenntnis‹/geistiger Reife/Intelligenz) wird hiernach der Zusammenhang von Licht- und Männlichkeitssymbolik im männlichen Körper manifest, naturalisiert und visualisiert sich im kahl und weiß werdenden Haupt des Mannes, welches in Carus’ ›Symbolik‹ zum körperlichen ›Symbol‹ dieses symbolischen Zusammenhangs wird.192 Vor dem Hintergrund, dass Carus das Bild der ›Lichtung des Hauptes‹ analog mit den Tagvölkern assoziiert (vgl. Kap. 4.3.2), wird über diese geschlechtsspezifischen Ausführungen zugleich die männliche Attributierung der Tagvölker konkretisiert. Dem Zitat ist umgekehrt zu entnehmen, dass ›die Frau‹ durch ihre länger anhaltende Haarpracht mit dem ›Stofflichen‹, mit der ›stofflichen‹, ›materiellen‹ Verdichtung des (noch nicht weißen) Haars identifiziert wird (was durch das Bild vom Haar als ›verkohlter Substanz‹ unterstrichen wird) – eine Konstruktion, die analog zum rassentheoretisch gewandten Bild der ›Lichtung des Haars‹ eine Relation zu den Nacht- und Dämmerungsvölkern aufmacht. Die Vergleichskonstruktionen zwischen Frauen der Tagvölker mit den Nachvölkern werden von Carus ausbuchstabiert, wenn er beiden eine Tagvölker insbesondere die Menschheit selbst repräsentiren.« Carus, C. G. (1861), S. 468. 191 Carus, C. G. (1997), S. 192. 192 Das Bild des lichten, weißen Hauptes lässt sich dabei wiederum an Christus als Haupt des Christuskörpers/der Kirche und sein weißes Haar als Symbol göttlichen Geistes anbinden. Nicht zuletzt Carus’ Gleichsetzung der »Lichtseite«, d. h. der Sonnenseite des Planeten mit dem Haupt (vgl. Carus, C. G. (1997), S. 192) plausibilisiert diese Lesart unter Berücksichtigung der symbolischen Verkörperung Christi durch die Sonne.

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normabweichende, mindere Schädelgröße zuspricht und daraus ihre Minderwertigkeit ableitet.193 Diese, für den rassentheoretischen Kontext exemplarische Verbindung von Sexismus und Rassismus, reartikuliert sowohl die klassisch aufklärerische Identifizierung der Weißen Frau mit Naturhaftigkeit wie auch die kollektive Verweiblichung des rassisierten schwarzen ›Anderen‹. Carus’ eingangs erwähnte Aussage, nach der es unmöglich sei, »als ein erleuchteter Geist zu denken mit dem Kopfbau eines Idioten«194 findet hier seine rassen- und geschlechtsspezifische Anwendung. Dem Vergleich der Frauen der Tagvölker mit den Nachtvölkern ist zugleich eine Struktur inhärent, nach welcher dem rassisierten ›Anderen‹ auf individueller Ebene das Geschlecht ›genommen‹ wird. Und dort, wo Carus zwischen Frauen und Männern der Nachtvölker differenziert, impliziert diese Differenzierung wiederum eine Verweiblichung Schwarzer Männlichkeit: So lässt sich auch Carus’ Tradierung der eurozentrischen Vorstellung von der »große[n] Geschlechtskraft«195 des Schwarzen Mannes entsprechend als Bild einer finsteren, unkontrollierten Sexualität lesen (und damit als Bild des symbolisch schwarzen Leibes, der in Form der Nachtvölker seine Symbolik in säkularer Form zurück erhält) – ein Konstrukt, über das sich in Abgrenzung die geistige männliche Potenz (und Kontrolle) der Tagvölker und ihr lichthafter Charakter herstellt. Unterliegen die Frauen der Tagvölker und die Nacht- und Dämmerungsvölker insofern einer analogen Konstruktionslogik, als dass sich jeweils Weiblichkeits- und Finsternis-Symbolik in die psycho-physiologischen Konstruktionen einschreiben, sie konstituieren, so führen die sozialen Positionierungen, die sich entlang von Weißsein strukturieren, zu gänzlich differenten Positionierungen. Und die Finsternissymbolik selbst erhält in Carus’ normativem Geschlechtersystem eine durchaus ambivalente Bedeutung, wie im Folgenden ausgeführt sei. Carus’ Identifizierung der Frau der Tagvölker mit der Nachtseite/der Finsternissymbolik veranschaulicht sich, wenn er vom weiblichen »Gemüth [...] in seinen dunkeln nebulösen Zuständen«196 spricht. In seiner Beschreibung ›der Frau‹ geht Carus demnach davon aus, dass ihre Deutung »schwieriger« sei.197 So hätten »Dichter und Psychologen« die »Seele des Weibes« von je her als ein »schwer zu entzifferndes Geheimniß« beschrieben.198 Der Blick des ›Psychologen‹ liefert damit eine Charakterisierung, die später auf ähnliche Weise in Freuds Aussage zur weiblichen Sexualität als »dunklem Kontinent«199 wie193 194 195 196 197 198 199

Vgl. Carus, C. G. (1997), S. 153. Carus, C. G. (1849), S. 18. Carus, C. G. (1838), S. 126. Carus, C. G. (1997), S. 396. Vgl. Carus, C. G. (1997), S. 396. Carus, C. G. (1997), S. 396. Freud, S. (1948), S. 241.

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derkehrt. In seiner Gegenüberstellung von ›tugendhafter‹ und ›lasterhafter‹ Frau greift Carus den Topos der Hexe auf; das dunkle Dämonische wird hier zum pathognomischen Zeichen und erscheint damit als Metaphorik einer lasterhaften, schlechten Lebensführung.200 Zugleich wird das Bild der Hexe als Ausdruck einer spezifisch weiblichen Natur gewertet, d. h. die religiöse Symbolik wird aus der ›Natur des Weibes‹ selbst hergeleitet: Ausgehend von einer deutlicheren Ausprägung der pathognomischen Zeichen im weiblichen Geschlecht kommt Carus zu der Schlussfolgerung: »daß, bei einem ins Gemeine und Verworfene ausweichenden Lebensgange, der Gesamtausdruck der Persönlichkeit und namentlich des Gesichts selbst bei einer ursprünglich regelmäßigen Bildung zuletzt oft eine Widerlichkeit annimmt, wie sie im Manne schwerlich vorkommen wird, eine Widerlichkeit, welche dann oft etwas wahrhaft Dämonisches zeigt und dazu hauptsächlich beigetragen hat, dem Typus eines solchen alten Weibes im Volke etwas Furchtbares, Unglückbringendes beizulegen, ja mit einem Wort den Charakter der Hexe, als ein Wesen, nur im weiblichen Geschlecht existirend, zu erschaffen.«201

Carus liefert mit der Ableitung des religiösen Bildes der Hexe aus der weiblichen Natur also ein weiteres Beispiel für eine Umkehrung von Ursache und Wirkung bzw. verdeutlicht die Einschreibung symbolischer Bilder in säkulare Körperbilder, die rückwirkend auch die religiöse Symbolik selbst zu erklären scheinen. Gegenüber diesen misogynen Konstruktionen ›der Frau‹, in denen die symbolisch schwarze, unreine Natur ihre weltliche Verkörperung erfährt, ist in Carus’ Naturphilosophie jedoch auch eine Aufwertung von Weiblichkeit zu verzeichnen, die sich über eine Identifizierung ›der Frau‹ mit den dunklen Regionen des ›Unbewussten‹ erschließt. So ist in Carus’ Werk »Psyche« zu lesen: »Unter den Frauen bleibt daher in der Mehrzahl, eben weil zuhöchst überall ein für uns Unbewußtes in der Tiefe der Erscheinungen ruht, ein gewisses unbewußtes Abfühlen der innersten geheimnisvollen Wesenheit der Natur und des Geistes vorhanden, und sie behalten dadurch einen eigenthümlichen Fonds von Lebendigkeit und Bildsamkeit, welcher bei der Mehrzahl von Männern leicht in einer gewissen trocknen Einseitigkeit aufgeht, welche sich eben da gern und gewöhnlich entwickelt, wo der Region des Unbewußten ihr Recht dauernd entzogen wird.«202

200 Vgl. Carus, C. G. (1997), S. 398. 201 Carus, C. G. (1997), S. 398. 202 Carus, C. G. (1846), S. 258f.

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Der insgesamt komplexe Begriff des ›Unbewussten‹ bei Carus sei hier nicht in Gänze erläutert.203 Entscheidend an dieser Stelle ist, dass Weiblichkeit in diesem Kontext mit den göttlichen Dimensionen der Natur, d. h. mit Natur als dem ›großen unbewussten Göttlichen‹, mit dem dunklen Geheimnisvollen (wie es schon in der Beschreibung der ›Psyche‹ der Frau anklingt) in Zusammenhang gebracht wird und die Dunkelheit selbst in diesem Sinne ihre Aufwertung erfährt. ›Der Frau‹ wird damit gleichermaßen die besondere Fähigkeit eines ›unbewussten Abfühlens‹, des ›unbewussten‹ Erfassens dieses (unbewussten) Göttlichen wie auch eine besondere Nähe zu dem ursprünglichen (unbewussten) Walten der Idee204 zugeschrieben. Sie repräsentiert hiernach sowohl eine spezifische Form der Erkenntnis, die sich über das Gefühl vermittelt als auch die ›geheimnisvollen‹ Dimensionen der menschlichen Existenz überhaupt. Diese Vorstellungen implizieren zugleich, dass ›der Mann‹ sich von den Regionen des unbewussten Göttlichen bereits entfernt hat, dass ihm gegenüber der Frau ein ›Bewusstsein‹ zugesprochen wird, dass jedoch, um zur höheren Entwicklung zu gelangen, der Einbeziehung des Unbewussten bedarf. Und so transportiert sich dieser ›ganzheitliche‹ Gedanke auch über die komplementär strukturierte Geschlechterdifferenz, über das heterosexuelle Liebesideal, das seiner bipolaren Struktur nach diese ›Ganzheit‹ als ein »feine[s] Oscilliren zwischen Unbewußtem und Bewußtem«205 gewährleistet.206 203 Vgl. zu Carus’ Begriff des ›Unbewussten‹ ausführlich Müller-Tamm, J. (1995). Müller-Tamm führt zu den unterschiedlichen Bedeutungsebenen des ›Unbewussten‹ bei Carus u. a. aus: »So lassen sich beispielsweise Konzeptionen des Unbewußten unterscheiden, die in erkenntnistheoretischer Hinsicht je anders akzentuiert sind und erheblich voneinander abweichen: Der Begriff des Unbewußten kann das bezeichnen, was sich menschlicher Erkenntnis prinzipiell entzieht – das Göttliche also, das an und für sich mit dem höchsten Bewußtsein identisch ist, aber für uns unbewußt bleibt. [...] Er kann sich auch auf das beziehen, was (aktuell) nicht gewußt wird, grundsätzlich aber bewußtseinsfähig ist. [...] Schließlich gibt es eine dritte Variante des Unbewußten: das ›Bewußtlose‹ [...], dasjenige, dem selbst kein Bewußtsein zukommt.« MüllerTamm, J. (1995), S. 69. 204 »Überall ist das Unbewußtsein der primitive Zustand aller besondern Idee und alles Ideenhaften. Durch seine eingeborne innere Macht und unter Einwirkung der Ideen der Welt, entwickelt sich allmählig in ihm das Bewußtsein, und spiegeln sich dann in ihm die Vorstellungen.« Carus, C. G. (1846), S. 211. 205 Carus, C. G. (1846), S. 307. 206 Im Einzelnen führt Carus hierzu aus: »Diesem zu Folge ist es also die höchste Gesundheit der Liebe eines zum andern Geschlechts, die Sehnsucht zu empfinden und deren Befriedigung anzustreben, welche dem Manne im Weibe, und dem Weibe im Manne die Vervollständigung ihres Daseins gewährt, dergestalt, daß dadurch das Wachsthum dieser Seelen ermöglicht und wahrhaft gefördert werde, und zwar so, daß dasselbe feine Oscilliren zwischen Unbewußtem und Bewußtem, worauf jede ächt menschliche Existenz ruhen muß, auch in diesem Verhältnisse durch und durch gültig sich erhalte.« Carus, C. G. (1846), S. 307.

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Die Geschlechterdifferenz wird damit zum Sinnbild einer Vereinigungsmetapher, die der einzelne Mensch auf seinem Weg zur Höherentwicklung in sich nachzuvollziehen hat. D. h., das männliche Bewusstsein bedarf seiner weiblichen Ergänzung, denn, so Carus’ Argument, der Mann würde, »wenn er über das Bewußte das Unbewußte ganz aufgeben will und in einer einseitigen egoistischen oder bloß weltlichen Richtung sein geistiges Leben zu einer gewissen Starrheit kommen läßt, weit hinter der Lebendigkeit und Bildsamkeit des Weibes zurückbleiben.«207

Die differenten Entwicklungsbedingungen der Geschlechter erscheinen jedoch ›evident‹: »Von dem männlichen Geiste hinwiederum kann man sagen, daß wenn es dem Weibe nur selten gelingt zum höhern Bewußtsein, zur That des freien selbstbewußten Geistes hindurchzudringen, so bezeichne es in ihm den Höhepunkt des Geschlechts, wenn er im freien klaren Selbstbewußtsein das Mysterium des Unbewußten vollkommen mit umfaßt.«208

Muss sich demnach ›der Mann‹ dieses dunkle, weibliche Unbewusste aneignen, um eine Vollkommenheit, ein vollkommenes Bewusstsein zu erreichen – und hiermit korrespondiert letztlich auch Carus’ Grundüberlegung, dass »die höchste Form des Bewußtseins, das Gottbewußtsein, [...] ohne Gefühl nicht zur Entwicklung kommen [würde]«209 – so sind die differenten Positionierungen von Mann und Frau, die Nähe oder Ferne zum Unbewussten, der Strukturfaktor unterschiedlicher Entwicklungsbedingungen. Und hiernach ist das ›Unbewusste‹ parallel mit physiologischen Prozessen des Leibes verbunden,210 welche eine psycho-physiologische Differenz der Geschlechter bestimmt: »Denn wer sollte auf den ersten Blick glauben, daß stärkere oder schwächere Ablagerung von Fett und Zellgewebe mit niedrigerer oder höherer Erkenntniß in Beziehung stehen könnte, und doch ist es so! Ja, was sonst ist denn die Ursache, daß die weibliche Seele verhältnißmäßig weniger für höhere Erkenntniß sich eignet als die

207 Carus, C. G. (1846), S. 258. 208 Carus, C. G. (1846), S. 259. Demnach werde der Mann also, wie Carus präzisiert, »wenn er im Stande ist die Region des Unbewußten mit in seinen Calcul immerfort aufzunehmen, einer in jeder Beziehung höhern Entfaltung der Seele und des Geistes fähig werden, als die Frau [...].« Carus, C. G. (1846), S. 258. 209 Carus, C. G. (1846), S. 235. 210 Zu den physiologischen Dimensionen des ›Unbewussten‹ bei Carus vgl. u. a. Müller-Tamm, J. (1995), S. 69f.

220 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK männliche, als daß der weibliche Organismus mehr der unbewußten leiblichen Produktivität bestimmt ist als der männliche.«211

Der idealistische Gedanke der ›Ganzheitlichkeit‹ zeigt sich vor diesem Hintergrund als Herstellungsmodus hegemonialer Weißer Männlichkeit. Vermittelt wird eine Komplementarität und Zusammenführung von Männlichem und Weiblichem, Bewusstem und Unbewusstem, Geist und Materie, Tag und Nacht, Licht und Finsternis. Das sich einzuverleibende dunkle Unbewusste ist das göttliche Mysterium und das dunkle Gefühl, das dieses Mysterium erfasst, eine Dunkelheit, die weder dem dunklen Zustand des ›Bewusstlosen‹ noch dem finsteren Zustand der rohen Natur vergleichbar ist.212 Diese Dunkelheit ist vielmehr als »das Göttliche« zu verstehen, »das an und für sich mit dem höchsten Bewußtsein identisch ist, aber für uns unbewußt bleibt«,213 und die Natur als ein unbewusstes Göttliches strukturiert. Die idealistische Aufwärtsbewegung zum hellen Bewusstsein, zum ›Gottbewusstsein‹, bedarf hiernach der Aneignung und des Wissens um dieses unbewusste Göttliche, das sich im Prozess der Höherentwicklung transformiert und zum lichten Bewusstsein gelangt. Vermittelt Weiblichkeit den Zugang zum unbewussten Göttlichen, so ist ›die Frau‹ der transformativen Erhöhung als Mangelwesen der Vernunft letztlich nicht oder nur in Ausnahmefällen fähig, sie bleibt den dunklen Regionen des Körperlichen verhaftet. Vor dem Hintergrund der gnostischen Elemente des Idealismus214 reartikulieren sich im ›weiblichen‹ Unbewussten (in seinen Dimensionen eines unbewussten Göttlichen) gleichzeitig gnostische Vorstellungen einer geistiggöttlichen Finsternis, einer ›weiblichen‹ Finsternis, in welcher der Geist/das Licht unsichtbar (als Mysterium) enthalten ist, das geistig-männliche Schöpfungsprinzip seinen dunklen geistigen Geburtsraum erschafft (vgl. Kap. 2.5.6). Das Göttliche, der Geist, das Abstrakte, die Idee erhält dabei im Idealismus über die Erscheinungsform eines dunklen, weiblichen, unbewussten Göttlichen eine Form von Ursprünglichkeit und ›Lebendigkeit‹. In den naturphilosophischen Konstruktionen der Natur und des Menschen wird diese göttliche Dunkelheit selbst ›lebendig‹. Das Liebesideal, in dem sich Bewusstes und Unbewusstes in Gestalt von Mann und Frau treffen und der Mann sein Bewusstsein über das Unbewusste erhöht, ist vor diesem Hintergrund als Aneignung wie als Durchdringung der göttlichen Finsternis durch den männlichen Geist zu verstehen. Zugleich, folgt man diesem Gedanken weiter, erscheint ›der Mensch‹ über die ge211 Carus, C. G. (1846), S. 352. 212 Zur Differenzierung von unbewussten Göttlichen und Bewusstlosigkeit vgl. auch Müller-Tamm, J. (1995), S. 69. 213 Müller-Tamm, J. (1995), S. 69. 214 Vgl. Brumlik, M. (1992), S. 234f.

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schlechtliche Codierung von Bewusstem und Unbewussten als eine Art androgynes Doppelwesen. Es lässt sich hiernach in gnostischer Lesart sagen, im Mann, der den Geist verkörpert, und in dem diese Dopplung zur Höherführung gelangt, spiegelt sich eine Profanisierung des gnostisch androgynen Gottesbildes selbst. Und in den Vereinigungsmetaphern von Bewusstem und Unbewusstem kommt eine androzentrisch umgesetzte Selbstliebe des Geistes zum Ausdruck, in dem sich männlicher Geist und die durch den männlichen Geist strukturierte Finsternis/Weiblichkeit umschließen – Vereinigungsmetaphern, in denen der gnostisch gewendete Mythos der Heiligen Hochzeit eine idealistische Umsetzung erfährt. Carus’ zitierte Aussage, wonach es der »Höhepunkt des [männlichen] Geschlechts« sei, wenn »er [der männliche Geist] im freien klaren Selbstbewußtsein das Mysterium des Unbewußten vollkommen mit umfaßt«,215 kann danach in eben diesem Sinne auch als idealistische Wendung einer gnostischen Doppelgeschlechtlichkeit des Geistes gedeutet werden. Dem idealistischen Gedanken der Höherentwicklung der sich zum Bewusstsein gelangenden göttlichen Idee ist zugleich eine Lichtwerdung göttlicher Dunkelheit implizit. Vor dem Hintergrund, dass ›der Mann‹ als eigentliches Symbol der göttlichen Idee erscheint, spiegelt sich in Carus’ profaner, materialistischer Umsetzung der Licht- und Männlichkeitssymbolik im Bild des männlichen, strahlend weißen (kahlen) Hauptes demnach eine doppelte Form des Lichts des Geistes: das Licht der entsakralisierten wie auch der göttlichen Vernunft, der Idee. Die ›Symbolik‹ des kahlen Hauptes wird hiermit quasi zur weißen Projektionsfläche, die das Welt gewordene Licht in seinen profanen und göttlichen Dimensionen reflektiert. Zeigt sich die (weibliche) Nachtseite der Natur und des Menschen im Kontext von Carus’ (vergeschlechtlichten) Rassen- und (rassisierten) Geschlechterkonstruktionen somit einerseits als Ausdruck des Stofflichen, des materiellen Prinzips, der dunklen Natur, als Lichtmangel, als ein Mangel an Geist, als Symbol der Affekte, der Leidenschaften, der Sexualität, der niederen Regionen des menschlichen Leibes, kurz: als Ausdruck des symbolisch schwarzen Leibes, so erschließen sich über die Dimensionen des dunklen Unbewussten im Sinne eines unbewussten Göttlichen Vorstellungen einer göttlichen Finsternis. Diese wiederum weiblich codierte Finsternis scheint (nur) über weiblich codierte Formen der Erkenntnis, über das Gefühl, über ein unbewusstes ›Abfühlen‹ erfassbar. Nicht zuletzt über diese durch das Gefühl, die Empfindsamkeit strukturierten Erkenntniszugänge erhält der abstrakte Geist, der dieses unbewusste Göttliche strukturiert, eine Form von ›Natürlichkeit‹, wird seiner Abstraktheit enthoben. Die Nachtvölker, die gegenüber diesen göttlichen Dimensionen des Unbewussten gleichermaßen einen Zustand 215 Carus, C. G. (1846), S. 259.

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der ›Bewusstlosigkeit‹ und die ›rohe‹ Natur verkörpern, in denen die göttliche Idee nicht zur vollen Entwicklung gelangt, erfüllen dennoch – analog ›der Frau‹ – über die ihnen zugeschriebene ›natürliche Physiognomik‹ gleichsam die Funktion, den abstrakten Naturkonstruktionen eine ›Natürlichkeit‹ zu verleihen. Das Verhältnis der männlichen Tagvölker bzw. des Mannes der Tagvölker zur Nachtseite/Finsternis bewegt sich hiernach in einem paradoxen Modus von Abspaltung, Verwerfung und Unterwerfung einerseits, Aneignung, Durchdringung und Erhöhung andererseits. Im Ideal der Geschlechterdifferenz und der Liebe der Geschlechter umschließt Weiblichkeit dabei zwei Dimensionen der Finsternis: das Bild des materiellen, passiven Prinzips, das der männliche Geist befruchtet, belebt, ›durchgeistigt‹, wie auch das unbewusste Göttliche, das sich ›der Mann‹ anzueignen, das er zu erhöhen und letztlich als göttliches Licht sichtbarzumachen bzw. zum Licht zu transformieren hat. Parallel dazu ist die ›falsche Frau‹ Sinnbild der zu verwerfenden ›unreinen‹ Natur. Danach ist ihr (als ›Hexe‹) ein ›unreiner‹ Charakter zugeschrieben und der symbolisch schwarze Leib eingeschrieben. Das geschlechtlich strukturierte Schwarz-Weiß-Schema durchzieht demnach die Norm der Tagvölker in unterschiedlichen kategorialen Unterklassifizierungen selbst. Dies zeigt sich indes nicht nur in Form der heteronormativen Grundstruktur und der Gegenüberstellung von tugendhafter und lasterhafter Weiblichkeit, sondern ebenso im Konstrukt ›weiblicher Männer‹ und ›männlicher Frauen‹.216 Diese ›Inversionslogik‹, die im sexualwissenschaftlichen Diskurs Ende des 19. Jahrhunderts ausgebaut wird, erscheint in Carus’ System letztlich als die strukturell logische Konsequenz eines alles und jedes durchziehenden geschlechtlichen ›Urdualismus‹. Über die ›Inversion‹ wird zugleich die Vorstellung einer falschen, schwarzen Natur tradiert, die Weiße Identitäten sexuell differenziert. Einer schlichten Parallelisierung von ›Rasse‹ und Geschlecht widerspricht dabei nicht zuletzt, dass die geschlechtliche ›In-

216 »Endlich muß dann aber noch hervorgehoben werden, wie der große, durch alles Menschheitleben durchgreifende Gegensatz zwischen männlicher und weiblicher Individualität nun auch nicht verfehlt, theils in gewissen Gegensätzen einzelner Charaktere sich merkwürdig wiederzuspiegeln, so daß jetzt selbst in den Gliedern eines und desselben Geschlechts abermals sich unterscheiden lassen muß, ob mehr die eine oder die andere Natur vorherrsche (es finden sich daher eben so männliche Naturen unter Frauen, wie weibliche oder weibische unter Männern), theils jene Verschiedenheit selbst nun auch zum Nachweis gewisser allgemeiner Gegensätze in der Menschheit benutzt werden kann, weßhalb denn auch der entweder mehr active oder mehr passive Charakter ganzer Volksstämme in gewisser Beziehung unter den nöthigen Einschränkungen ebenfalls geeignet bleibt, danach eine Unterscheidung zweier solcher Abtheilungen in der Menschheit zu gestatten.« Carus, C. G. (1861), S. 471.

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version‹ im geschlechtsspezifisch konstruierten Rassismus die ›Norm‹ des konstitutiven ›dunklen Anderen‹ beschreibt.

4.3.4 Die Juden zwischen Licht und Finsternis Die interne Differenzierung der Tagvölker ist neben den normativen Konstruktionen des individuellen (männlichen und weiblichen) Körpers zudem über ›rassische‹ und nationale Kategorisierungen strukturiert.217 Hiermit verbunden sind wiederum kollektivistische Körperkonstruktionen, die den dualistischen Konstruktionsmodus spiegeln. Dabei erhalten die Juden, die Carus als einen »Zweig[] der Tagvölker«218 betrachtet, einen spezifischen ›Körper‹: Als Verkörperung des internen ›Anderen‹ repräsentiert hiernach ebenso der ›jüdische Körper‹ das materielle Prinzip, die dunkle, unreine Natur, wobei Vergleichsbilder aus dem Tierreich konstitutiv sind. Danach sonderten sich die Juden laut Carus »deutlich durch besondere Bildung des ganzen Kopfes und Antlitzes«219 von den christlichen Tagvölkern ab; Carus spricht von der »jüdischen Spürnase«220 und vom »jüdische[n] Gesicht«,221 in dem nahe beieinanderstehende Augen gerade der »Physiognomie alter Juden oft etwas so auffallend Pavianartiges«222 verliehen. Der Affenvergleich stellt vor dem Hintergrund zeitgenössischer rassentheoretischer Stufenmodelle und den Traditionen der kolonial-rassistischen Physiognomik eine konkrete Relation zu Carus’ (wilden) Nachtvölkern her. In Widerspruch zu dieser Konstruktion des Juden steht Carus’ Aussage, es seien die drei »Völkerzweige« der »Hindu[s]«, »Aegypter« und »Hebräer« gewesen, »in welchen dem Stamme der Tagvölker sein geistiges Licht aufging«.223 Als Vorläufer der Tagvölker hätten diese drei Gruppen »die drei grossen beseligenden Ideen der Schönheit, Liebe und Wahrheit in der Menschheit«224 vorbereitet. Der Widerspruch wird dadurch abgeschwächt, dass Carus ausführt, diese ›Völkerzweige‹ seien jedoch mittlerweile »abge-

217 Carus differenziert die Tagvölker in »1. Kaukasier, 2. Perser, 3. Armenier, 4. Semiten (Anm.: Der Stamm wesentlich durch die Juden bezeichnet, von denen aber Aegypter und Kopten zu trennen sind), 5. Pelasger, 6. Etrusker, 7. Thrakier, 8. Illyrier, 9. Iberier, 10. Romanen, 11. Kelten, 12. Germanen.« Carus, C. G. (1849), S. 81. Zu den nationalen Differenzierungen vgl. u. a. Carus, C. G. (1849), S. 99; Carus, C. G. (1997), S. 400. 218 Carus, C. G. (1849), S. 81. 219 Carus, C. G. (1838), S. 128. 220 Carus, C. G. (1997), S. 215. 221 Carus, C. G. (1997), S. 223. 222 Carus, C. G. (1997), S. 223. 223 Carus, C. G. (1849), S. 89. Zuvor spricht Carus auch von den »ersten Strahlungen der Tagvölker in Hindostan«. Carus, C. G. (1849), S. 70. 224 Carus, C. G. (1849), S. 91.

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blüht«, so habe die »Mission« der »Hebräer« nach dem Erscheinen von Christus »aufgehört«: »Was die Hebräer betrifft, so kann ich nicht unerwähnt lassen, wie die eiserne Festigkeit ihres Stammcharakters [...] trotz ihrer sonderbaren Zerstreuung durch fast alle andern Zweige der Tagvölker, sich unabänderlich bewährt hat. Auch von ihnen kann man sagen, dass, nachdem in Christus das Princip, welches sie hervortreten lassen sollten, offenbar geworden war, ihre Mission als Volk aufgehört hat. Von da an hatte dieser Zweig abgeblüht als Ganzes, keineswegs aber in seinen Theilen; und wenn bei den Hindus sich gegenwärtig Alles in Ermattung aufzulösen scheint, so blieb in den Hebräern immer noch, trotz ihrer Zerstreuung, ein fruchtbarer Boden übrig für merkwürdige und in ihrer Weise entweder das Reich der Wahrheit oder der Schönheit fördernde Persönlichkeiten, wenn auch im Ganzen das Abgeblühte des Volks durch geringere Gesinnung und allgemeinere Richtung auf materiellen Gewinn sich andeutete.«225

Die ›Hebräer‹ sind somit laut Carus in sich in eine Licht- und eine Schattenseite differenziert, das konstatierte allgemeine Abblühen, der Niedergang der Hebräer impliziert einen Verlust ihres ursprünglichen Lichts. Die unterstellte Orientierung auf materiellen Gewinn (welche das antijudaistische Stereotyp des ›Geldjuden‹ aufgreift) impliziert eine falsche Orientierung auf das Materielle. Der Carus’schen Physiognomik sowie der Pathognomik gemäß würde dieser ›falsche‹ Charakter sich auch in einer ›falschen‹, ›hässlichen‹ Physiognomie niederschlagen, Schönheit sich in Hässlichkeit verwandeln. Die konstatierte Mission des Judentums, das ›Christus-Prinzip‹ hervortreten zu lassen, erscheint als eine metaphysische, quasi kosmische Gesetzmäßigkeit. Es kann so auch schlussfolgert werden, dass das Licht der Hebräer sich aus dieser Mission überhaupt erst ergibt und mit dem Ende dieser Mission, die als Loslösung Christi vom Judentum zu verstehen ist, das Licht des Judentums, das sich dem Licht Christi verdankt, entsprechend erlischt. (In gnostischer Lesart lässt sich das ›Abblühen‹ analog als ein allmähliches Erlöschen des Lichts, als Abfall des Lichts in die finstere Materie deuten). Wird der Jude durch Carus’ Konstruktion eines normabweichenden, unreinen, tierischen ›jüdischen Körpers‹ der finsteren weiblichen Materie zugeordnet, so ruft dessen vermeintlicher Charakter, die konstatierte Ausrichtung auf materiellen Gewinn, religiöse Bilder eines ›falschen‹ Geistes auf: den ›falschen‹ Glauben an die äußere, materielle Welt, den Dienst am Mammon und den ›Herren der Finsternis‹ – eine Perspektive, welche in paulinischer Tradition (und bei Lukas und Matthäus) einen symbolisch schwarzen Leib hervorbringt. (vgl. Kap. 2.4.3; 2.4.4) Bei Carus wird dieser ›falsche‹ Blick auf die Welt (und der damit verbundene falsche Verhaltenskodex) unter Fort225 Carus, C. G. (1849), S. 92f.

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schreibung antijudaistischer Traditionen antisemitisch gewendet, über die ›Wissenschaft‹ der ›Symbolik der menschlichen Gestalt‹ der Zusammenhang eines ›falschen Geistes‹ in einem ›falschen Körper‹ manifestiert. Entlang des Juden exemplifiziert Carus gleichzeitig seine Vorstellung einer unvollkommenen, einseitigen Männlichkeit, entspricht doch die Charakterisierung des Juden, seine vermeintlich ›geringe Gesinnung‹ und sein Streben nach ›materiellem Gewinn‹, exakt der in anderem Kontext bei Carus zu findenden (und bereits zitierten) Beschreibung »einer einseitigen egoistischen oder bloß weltlichen Richtung«, die das »geistige[] Leben [des Mannes] zu einer gewissen Starrheit kommen läßt«, falls der Mann »über das Bewußte das Unbewußte ganz aufgeben will«.226 Auf paradox anmutende Weise ist es demnach gerade ein Mangel an Weiblichkeit (am ›weiblichen‹ Unbewussten), der dem (über seinen ›falschen‹ Körper weiblich codierten) Juden eingeschrieben ist und ihn als Sinnbild einer falschen, einseitigen Männlichkeit in Erscheinung treten lässt – ein Mangel an einer Weiblichkeit indes, die, wie im Vorangegangenen dargestellt, als Symbol des göttlichen Mysteriums, der unbewussten Göttlichkeit fungiert. Die in der Beschreibung des Juden aufscheinende falsche, einseitig weltliche Ausrichtung des männlichen Geistes ist demnach als ein Mangel an ›Bewusstsein‹ um das metaphysische männliche Lichtprinzip zu verstehen, das in seinen ›unbewussten‹ Formen weiblich repräsentiert wird. Das ›Abblühen‹ der Hebräer als Volk, ihr ›falscher Geist‹, lässt sich hiernach letztlich auch als ein Mangel an metaphysischem Licht lesen. Insgesamt stellt Carus den Juden über dessen ›abnorme‹ Körperkonstruktion (und die damit verbundenen psycho-physiologischen Zusammenhänge) als ›Anti-Typus‹227 her, der, hier noch unter den Tagvölkern weilend, die Ausdifferenzierung einer internen weißen Norm konstituiert. Dabei werden im Umkehrschluss körperliche Formreinheit und reines Weißsein über das Differenzkriterium der Religion mit dem Licht Christi verbunden. Stellen die nationalen Unterklassifizierungen der Tagvölker auch keinen Schwerpunkt in Carus’ Ausführungen dar,228 so werden die ›Deutschen‹, ver-

226 Carus, C. G. (1846), S. 258. 227 Vgl. Mosse, G. L. (1997). 228 Als die »höchstbegünstigten Völker europäischen Stammes« gelten Carus »die Germanen und Kelten (Deutsche, Engländer und Franzosen)«. Carus, C. G. (1849), S. 99. Den Deutschen ordnet Carus maßgeblich das »Denken«, den Engländern »das Thun«, den Franzosen das »Sprechen« und den Italienern »Schönheit« und »Kunst« zu und folgt damit seiner numerisch systematischen Viergliederung. Vgl. Carus, C. G. (1997), S. 400. Geschlechtsspezifische Körperkonstruktionen zeigen sich bspw. in der Kontrastierung von Engländerinnen und Französinnen: Die vermeintlich längeren Gliedmaßen der Engländerinnen stünden demnach für einen »mehr willensstarke[n] Charakter«, kurze Extremitäten für Fruchtbarkeit und Mütterlichkeit. Vgl. Carus, C. G. (1997), S. 413f.

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standen als ›Germanen‹, zweifelsohne als höchste Nation beschrieben. Die nationale Hierarchisierung erhält dabei eine ›rassische Qualität‹: Aufbauend auf einem angenommenen Kausalzusammenhang von Boden, Hirnbildung und Entwicklung des Geistes konstatiert Carus, in dieser ›Elite‹ der Tagvölker entwickele sich »das in einer starken Hirnbildung gegebene Material nun auch zu glänzender und reicher Geisteserscheinung«.229 Einen individuellen »Prototyp aus den Tagvölkern« stellt nach Carus Goethe dar.230 Hier zeigt sich Carus’ (Rassen-)Modell der ›geistigen Elite‹ in seiner differenziertesten Form, seien es doch letztlich nur Einzelne, denen »jene innere Hoheit, wie alle höhere Geistesgabe« in vollem Umfang zukäme, »obwol es dabei nicht ausbleiben kann, dass auch so, vereinzelt, sie immerdar und zugleich ihre Strahlen über das gesammte Volk auswerfen« würde.231

4.4 Schlussfolgerung Auf der Grundlage vorangegangener Naturalisierungsprozesse reinszeniert Carus’ Rassensystematik schwarz-weiß-symbolische Ordnungsmuster und Leibkonzepte, die den eurozentrischen Rassenkonstruktionen unterlegt sind, wobei sich der Ableitungsmodus umkehrt: Im idealistischen Entwurf männlicher Tagvölker und weiblicher Nacht- und Dämmerungsvölker werden die empiristisch rassisierten und vergeschlechtlichten Körper selbst zum materiellen, leiblichen Symbol der ›Idee‹, die ›Symbolik der menschlichen Gestalt‹ wird zur reinen Wissenschaft erklärt. Es zeigt sich hierbei ein konstitutiver Zusammenhang zwischen der Idee als geistig-männlichem Schöpfungsprinzip, als einer Art geistigem ›Lichtgrund‹ und lichtem ›Urbild‹ der Natur, und der Konstruktion des weißen, formreinen, lichthaften Körpers der Tagvölker: Diese repräsentieren als ›eigentliche Menschheit‹ den Menschen als Symbol der göttlichen Idee, d. h. das Licht der sich prozesshaft zum Bewusstsein kommenden Idee. Die naturphilosophisch metaphysischen Natur- und Körperkonzepte der Carus’schen ›Symbolik‹ verweisen auf den abstrakten Charakter anthropologischer Kategorisierungen und Farbgebungen, wobei eine vorausgesetzte vermeintlich visuelle ›Wahrheit‹ rückwirkend eine sinnstiftende metaphysische wie auch (über die Lichtverhältnisse von Tag, Nacht, Morgen- und Abenddämmerung) eine vermeintlich naturgesetzliche Grundlage erhält. Die Licht- und Männlichkeitssymbolik, welche die Konstruktion von Weißsein der kulturellen Logik nach konstituiert, wird hier in ihren unterschiedlichen symbolischen Dimensionen als grundlegendes Element einer 229 Carus, C. G. (1997), S. 400f. 230 Vgl. Carus, C. G. (1849), S. 101. 231 Carus, C. G. (1849), S. 69.

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weltlichen Ermächtigungsstrategie, als Sinnzusammenhang von Licht/Wissen/ Macht greifbar: Das Licht der Erkenntnis, der Rationalität, das Licht der Idee, der göttlichen Vernunft, das Licht Gottes und Christi sind Carus’ Tagvölkern buchstäblich auf den Leib geschrieben: Das Licht wird in der weißen Haut, ihrem Schimmern, ihrer Durchsichtigkeit und Klarheit naturalisiert und gleichermaßen durch die weiße Haut als Farbsymbol des männlichen Geistes ›reflektiert‹; das Ausbreiten des Lichts der Tagvölker scheint am individuellen männlichen weißen Körper symbolisch ablesbar, kolonialistische Dominanzverhältnisse werden dem Körper als ›Symbol‹ selbst eingeschrieben. Der diskursive Prozess einer kulturellen Menschwerdung Gottes wird im weißen Körper manifest und manifestiert eine hegemoniale Position des weißen männlichen ›Rassesubjekts‹. Dessen Weißheit verdankt sich einer symbolischen göttlichen Weißheit, die in den Tagvölkern als ›Leuchte‹ der Menschheit konkretisiert wird und entsprechend als säkulare Anthropologisierung des Welt gewordenen Lichts in Erscheinung tritt. Angelegt als idealistische ›ganzheitliche‹ Rassensystematik erweist sich die ›Ganzheitlichkeit‹ als diskursive Gewaltförmigkeit, die Kolonialherrschaft und ihre Opfer als Ausdruck einer Naturordnung wertet, welche die lichten und finsteren Körper ›symbolisch‹ zu spiegeln scheinen. Carus’ viergliedrige Rassensystematik schreibt das rassentheoretisch verweltlichte, ehemals symbolische (Farb-)System der ›complexion‹ als weltliche Größe erneut fest, zugleich erfolgt rückwirkend eine naturphilosophisch metaphysische Begründung. Die Rassensystematik durchzieht ein Grunddualismus von Licht und Lichtmangel, der über Analogiebildung in Relation zu angenommenen Tagund Nachtseiten des individuellen menschlichen Körpers steht. Die geschlechtssymbolischen Grundcodierungen dieses Dualismus erschließen sich aus dem idealistischen Konzept eines geschlechtlich strukturierten ›Urdualismus‹: Tradiert wird der abendländische Dualismus von Form und Stoff, Idee und Äther, Geist und Materie, Licht und Finsternis, Männlichkeit und Weiblichkeit, der die vergeschlechtlichten Rassenkonstruktionen und rassisierten Geschlechterkonstruktionen auf jeweils unterschiedliche Weise bestimmt. Die Nacht- und Dämmerungsvölker unterliegen dabei einer Identifizierungslogik, nach welcher ihr Lichtmangel als ein Mangel an Geist die Konstruktion einer ›Schattenseite der (göttlichen) Vernunft‹ bildhaft reinszeniert, ein Lichtmangel, der als körperliches ›Symbol‹ der rohen Natur, der finsteren, weiblichen, passiven Materie gewertet wird. Über Carus’ normative Weiblichkeitskonstruktionen erschließt sich hingegen auch eine Aufwertung von ›dunkler Weiblichkeit‹, die mit dem Göttlichen, das unbewusst ist, und mit der Natur als dem ›großen unbewussten Göttlichen‹ in Verbindung steht – Vorstellungen, in denen sich gnostische Konzepte einer geistig-göttlichen Finsternis reartikulieren. Carus’ idealistischen Systematiken ist so auch eine neognostische Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit inhärent, die sich als dualistisch strukturier-

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ter Monismus seinen Naturkonzeptionen einschreibt. Über das komplementär strukturierte Geschlechtermodell wird diese Sehnsucht nach Ganzheit ins Weltliche übersetzt. Eine Position hegemonialer Weißer Männlichkeit wird damit nicht (nur) über Abgrenzung und Unterwerfung, sondern über Aneignung und Erhöhung eines Zusammenhangs von Weiblichkeit und Finsternis etabliert – ein Zusammenhang indes, der als vergeschlechtlichte Versinnbildlichung eines dunklen Mysteriums zu verstehen ist, dem das metaphysische Lichtprinzip (der Idee, der göttlichen Vernunft) ›unbewusst‹ zugrunde liegt. Der männliche Geist komplettiert sich hiernach über die Aneignung einer dunklen, weiblichen Repräsentation des geistig-männlichen Schöpfungsprinzips um den Aspekt des göttlichen Lichts der Idee, der göttlichen Vernunft und verhilft schließlich dem Licht des dunklen Mysteriums zur Sichtbarkeit. Carus’ metaphysische Aufladung der Natur als einem ›unbewussten Göttlichen‹ ist zugleich eine Sensitivierung des Abstrakten inhärent, über das (weibliche) Gefühl, die Empfindung, wird das Mysterium der Natur, d. h. der ihr unterlegte Geist erfassbar. Dabei integriert Carus das Gefühl (als weibliches intuitives Wissen) nicht nur in seine normativen Männlichkeitskonstruktionen, sondern in die Wissenschaft selbst, d. h. in den Weißen, männlichen Blick des Wissenschaftlers. Indem Carus den Körper als Symbol sowohl über die Ratio als auch über das Gefühl bestimmt sein lässt, erhalten die abstrakten Körperkonstruktionen nicht nur ihren künstlerischen Charakter (zurück), sondern zeitgleich den Anschein einer ursprünglichen, dem Verstand vorgeordneten Wahrheit: Dem Körper als Symbol und seiner ›Lesbarkeit‹ wird eine Natürlichkeit verliehen, welche die eigens benannte Zeichenhaftigkeit des Körpers ihrer Abstraktion enthebt: Die ›gefühlte‹ Symbolik des Körpers überbrückt damit die Abstraktheit des Körpers als Symbol, als (Schrift-)Zeichen, als Bild gewordene Schrift. Nicht zuletzt über die Idee, das Urbild, bleibt dieser abstrakte Charakter des Körpers als Symbol in Carus’ Anthropologie jedoch sichtbar, wird die Konstruktion von Weißsein selbst in ihren abstrakten Grundvoraussetzungen und in ihren symbolischen Dimensionen lesbar. Das Licht der Idee und seine ideale Verkörperung im rassisierten Lichtkörper bedarf dabei einer göttlichen wie Welt gewordenen Finsternis, um in Erscheinung zu treten – eine symbolische und weltlich ›materielle‹ Schwärze, die ihrerseits an die schwarze Schrift als Medium des unsichtbaren Logos erinnert.

5 Rudolf Steine r: Weißsein zw ischen Krise und Erlösung

»Und wir Europäer, wir armen Europäer haben das Denkleben, das im Kopfe sitzt.«1 »Die weiße Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schaffende Rasse.«2

5.1 Einleitung In den völkisch okkultistisch geprägten Rassentheorien Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zeigt sich auf besonders plakative Weise, dass die Konstruktion von Weißsein mit der abendländischen Lichtsymbolik, mit religiösen Vorstellungen von Erlösung und der Figur Christi als Erlöser verschränkt ist. Im »Rassenmystizismus«3 werden der ›arische Christus‹ und die ›germanische Religion‹ erfunden, religiöse Praktiken und Figuren demnach Prozessen der Rassisierung unterzogen. In umgekehrter Lesart sind die rassistisch säkularen Konstrukte der weißen ›Rasse‹ und des ›Ariers‹ mit Christus, aber etwa auch mit Lichtgestalten wie Baldur und Apoll und einem völkisch gewendeten Sonnenkult verbunden.4 – »Eine Mischung aus Germanentum, Idealismus und Jesus als Lichtbringer passte in die Zeit.«5 Die zahlreichen »deutschnationalen Erlöser- und Retterutopien« und die Konstruktion eines ›völkischen Messias‹ durchziehen sowohl die völkische Theorieproduktion als auch die Literatur der »deutschnationalen Zukunftsromane« wie Jost Her1 2 3 4

5

Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 58. Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 67. Mosse, G. L. (2006), S. 122. Zum Ariermythos vgl. u. a. Braun, C. v./Heid, L. (2000); Geschichtliche Grundbegriffe (1994), S. 158-163, Stichwort Rasse; Geschichtliche Grundbegriffe (1992), S. 388, Stichwort Volk, Nation; Fenske, W. (2005); Goodrick-Clarke, N. (2004); Schnurbein, S. v. (1993). Fenske, W. (2005), S. 171.

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mand gezeigt hat.6 Immer geht es dabei um die Entwicklung der »blondblauäugigen Edelrasse strahlender Nord- und Sonnenmenschen«,7 um die Erlösung der Germanen als Licht-Volk aus dem dunklen ›Rassenchaos‹ und um Phantasmen männlicher, Licht bringender Erlöser.8 Das fiktive – literarische wie sozio-politische – Krisenszenario der ›Rassenmischung‹ birgt das Versprechen auf künftige Ordnung und Reinheit und Vorstellungen von Weißsein als Erlösung in sich. So spricht Jörg Lanz von Liebenfels9 (1874-1954), Begründer der ›Ariosophie‹,10 1905 in seiner »Theozoologie«11 vom »europäische[n], weiße[n] Mensch«12 (speziell dem ›Germanen‹) als »Himmelssohn«13 und ›Logossohn‹,14 dem er »farbige Menschenrassen«15 (auch »Sodomsäfflinge«16 genannt) gegenüberstellt. Die männliche Attributierung der weißen ›Rasse‹ wird hier schon begrifflich inszeniert. Zudem liegen dem Konstrukt der Rassereinheit als solchem symbolische Vorstellungen geistigmännlicher Fruchtbarkeit und der durch sie hervorgebrachten göttlichen Natur zugrunde. Dies verdeutlicht sich in Liebenfels’ Aussage »Gott ist gereinigte Rasse!«17 sowie in einer Sakralisierung des rassisiert weißen männlichen Samens. In Liebenfels’ rassistisch gewendetem ›Vater Unser‹ heißt es entsprechend: »Vater unser, [...] der du leibhaftig wohnst im Fleische, im Blute, im Gehirn, im Samen der besseren, edleren, schöneren Menschen, der Gottmenschen, deiner Söhne. Geheiligt werde dein ›Name‹, das ist dein Same. [...] Dein Reich komme. Laß endlich die Gottmenschen über die Affenmenschen siegen.«18

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9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Hermand, J. (1988), S. 117; vgl. zum ›völkischen Denken‹ u. a. Schnurbein, S. v./ Ulbricht, J. H. (2001); Weingart, P./Kroll, P./Bayertz, K. (1988); siehe auch die Literaturhinweise in Fußnote 4 zum ›Ariermythos‹ in diesem Kapitel. Hermand, J. (1988), S. 144. Zum rassistisch strukturierten ›Männerbund‹ in der Moderne vgl. Brunotte, U. (2004). Zu völkisch strukturierten Geschlechterkonstruktionen, der Rolle völkischer Frauenverbände und völkischer Matriarchatsmythen vgl. u. a. Bruns, K. (2001); Nanko, U. (2001); Schnurbein, S. v. (1993). Der gebürtige Name von Jörg Lanz von Liebenfels war Adolph Joseph Lanz. ›Ariosophie‹ meint wörtlich = ›Die Weisheit vom Arier‹. Liebenfels, J. L. v. (1905); vgl. zu Liebenfels u. a. auch Nanko, U. (2001); Schnurbein, S. v. (1993); Strohm, H. (1997), S. 48-53. Liebenfels, J. L. v. (1905), S. 145. Liebenfels, J. L. v. (1905), S. 145. Vgl. Liebenfels, J. L. v. (1905), S. 110f. Liebenfels, J. L. v. (1905), S. 110. Der Begriff ›Sodoms-Äfflinge‹ ist Bestandteil des Buchtitels. Vgl. Liebenfels, J. L. v. (1905). Liebenfels, J. L. v. (1905), S. 136. Liebenfels, J. L. v. (1905), S. 155f.

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In der Aussage: »Gott ist gereinigte Rasse!«19 spielt der christliche Verweltlichungsgedanke wie auch der gnostische Erlösungsgedanke der Entmischung von Licht und Finsternis, Geist und Materie eine Rolle, der jeweils in Gestalt einer weltlichen Reinigung erscheint. Die ›gereinigte Rasse‹, schon im symbolischen Sinne der Reinheit als weiße ›Rasse‹ vorgestellt, meint bei Liebenfels weiße, eugenisch gezüchtete ›Rasse‹. Dem gnostischen Imperativ ›zurück zum Licht‹ entspricht die Verwirklichung eines geistigen Konzepts von Reinheit und Weißheit, das als wahr, ursprünglich und naturgemäß göttlich gedacht wird. Der säkularisierte Heilsplan offenbart sich in der eugenisch sexuellen Zuchtwahl, die das jüngste Gericht ersetzt: »Das Himmelreich wird erreicht offenbar durch Eingriffe in das Geschlechtsleben. Die Minderwertigen müssen auf gelinde Weise ausgerottet werden und zwar durch Verschneidung und Entfruchtung.«20

Liebenfels’ religiöse Bilder der Rassereinheit, in welchen der rassisierte Lichtleib gleichermaßen verweltlicht wie vergeistigt wird, verarbeiten den zeitgenössisch medizinisch eugenischen Diskurs als Krisen- und Erlösungsdiskurs. Krisenszenarien wie die der ›Rassenmischung‹, ›Degeneration‹21 und ›Entartung‹ fungieren zur Wende des 20. Jahrhunderts als substantieller Ausgangspunkt, von dem aus ein Reinheits- und Erlösungsversprechen, nämlich die Aussicht auf ›Meisterung der Krise‹, gerade auch den positivistischen Wissenschaftsdiskurs bestimmt. Medizinische, sexualwissenschaftliche, literarische und gesellschaftspolitische Krisendiskurse um ›Geschlecht‹ und ›Rasse‹ durchkreuzen sich und verleihen einer rassisch-sexuell differenzierten hegemonialen Weißen Männlichkeit erlösende ›Substanz‹. Die neuen krisenhaften Männlichkeiten sind – wie etwa das Konstrukt des Homosexuellen in Verbindung mit dem ›nervösen Typ‹ – durch eine Pathologie der Verweiblichung gekennzeichnet und werden im antisemitischen Kontext dem rassisierten ›Anderen‹ zugeschlagen.22 Die diversen schwarz und weiblich codierten Gegenbilder, verkörpert im ›Anderen‹, die den Rassediskurs durchziehen,

19 Liebenfels, J. L. v. (1905), S. 136. 20 Liebenfels, J. L. v. (1905), S. 147. 21 Zur Degenerationstheorie vgl. u. a. Dornhof, D. (2005), S. 89-120; Hödl, K. (1997), S. 119-127; Mosse, G. L. (1997), S. 110-137. In der sich etablierenden Sexualwissenschaft ist die Degenerationstheorie u. a. vertreten durch Psychiater wie Richard von Krafft-Ebing (1840-1902), Auguste Morel (1809-1873), V. Magnan (1835-1916) und Havelock Ellis (1859-1939). Magnus Hirschfeld (1868-1935), Vorreiter der Entkriminalisierung von Homosexualität und Kritiker des ›Rassismus‹, klassifiziert seinerseits Zeichen der ›Entartung‹ und vertritt die ›positive Eugenik‹. Vgl. u. a. Braun, C. v. (2001), S. 444f.; Dornhof, D. (2005), S. 107f. 22 Vgl. u. a. Braun, C. v. (2001), S. 420-433; Mosse, G. L. (1997), S. 79-138.

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vermitteln eine Krisenhaftigkeit, welche sich in mannigfaltigen Pathologisierungen wie jenen des jüdischen Körpers und der schwarzen Haut remanifestiert. Die insgesamt vielfältigen, über die Vermessungstechniken des menschlichen Körpers, die normativen Klassifikationssysteme und (photographisch) medialen Inszenierungen konstruierten ›Entarteten‹ bringen eine abstrakte, fiktive Ausgangsnorm zur ›biologischen‹ Realisierung und geben zugleich dem fiktiven ›Volkskörper‹ eine vermeintlich biologische Substanz: Hatte Gobineau Mitte des 19. Jahrhunderts unter Rückgriff auf den Degenerationsbegriff das Gefahrenszenario der ›Rassenmischung‹ beschworen23 und damit implizit eine kontrollierte Sexualität in den Dienst der ›Rasse‹ gestellt, so verbindet sich, wie Foucault gezeigt hat, mit den Entartungstheorien seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nun die Eugenik,24 und damit das eugenische Heilsversprechen einer ›Reinigung› des ›Volkskörpers‹.25 Das Heilsversprechen basiert auf der Kontrolle und Reglementierung der Fortpflanzung und dem Gedanken der Höherzüchtung und es »verhieß«, wie Anna Bergmann konstatiert: »einen vollendeten Glückszustand durch die permanente ›Fortpflanzung‹ eines reinen, d. h. vom Logos geschaffenen, ewigen Lebens in Gestalt der ›Rasse‹.«26 Der (eugenische) »Biologismus als neue[] Weltanschauung ohne Gott«27 remanifestiert damit eine Verlagerung Gottes in die Natur, die sich rassenhygienisch als Verlagerung in die unsichtbaren Keimbahnen der ›Rasse‹ vollzieht. Und hiermit nimmt Weißsein neue Formen einer biologistisch begründeten Unsichtbarkeit, Immaterialität und Unsterblichkeit an: Weißsein, der rassentheoretisch evolutionistische Endpunkt, wird hier zum unendlichen Lichtpunkt. Gegenüber dem eugenisch inspirierten Rassenmystizismus eines Lanz von Liebenfels und den zeitgenössisch empiristischen Rassen- und Entartungstheorien ist die Anthroposophie des Okkultisten und selbst erklärten Hellsehers Rudolf Steiner (1861-1925)28 ihren formulierten Grundsätzen nach durch 23 Vgl. Gobineau, J. A. d. (1940). 24 Zu den führenden Vertretern der frühen Eugenik bzw. ›Rassenhygiene‹ (der Begriff ›Rassenhygiene‹ wurde Ende des 19. Jahrhunderts von Alfred Ploetz geprägt) zählen in Deutschland neben Alfred Ploetz: Wilhelm Schallmeyer, Fritz Lenz, Alfred Grotjahn, Eugen Fischer, Alfred Hegar und Ernst Haeckel. Vgl. zum eugenischen Diskurs u. a. Bergmann, A. (1992); El-Tayeb, F. (2001); Grosse, P. (2000); Kleeberg, B. (2005); Weingart, P./Kroll, J./Bayertz, K. (1988); vgl. Ploetz, A. (1895). 25 Vgl. Foucault, M. (1998), S. 142. 26 Bergmann, A. (1992), S. 91. 27 Bergmann, A. (1992), S. 92. 28 Rudolf Steiner studierte Naturwissenschaften in Wien. 1891 promovierte er im Fach Philosophie an der Universität Rostock zum Thema: »Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichtes Wissenschaftslehre«. Die Dissertation wurde 1892 unter dem Titel: »Wahrheit und Wissenschaft« veröffentlicht. Ab 1902 wird Steiner Generalsekretär der deutschen Sektion der

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eine Rhetorik der Egalität und Ganzheitlichkeit geprägt. So proklamiert Rudolf Steiner 1906: Das ›anthroposophische Christentum‹ verheiße einen »Bürger des Geistes« – »ohne Unterschied von Rasse und Geschlecht«.29 Und in einem Vortrag zur schwarzen und weißen Magie formuliert Steiner in seiner Selbstpositionierung als ›weißer Magier‹ die egalitär anmutende Aussage: »Wenn dasjenige, was der Menschheit dienen soll, verwendet wird in dem Dienst einer abgesonderten Rasse, etwa um dieser Rasse die Oberherrschaft über die Erde zu verschaffen, dann ist das im großen Maßstabe schwarze Magie, denn es geschieht nicht im Einklang mit der Erdenführung. Es ist das erste Erfordernis: hinaus zu sein über das, was uns nur mit einem Teil der Menschheit verbindet. Für einen heutigen weißen Magier gilt das als erster Grundsatz. Nicht Selbstlosigkeit kann der Mensch anstreben, aber Liebe für die ganze Menschheit.«30

Steiner versteht sein neognostisches Denksystem der Anthroposophie31 so-

Theosophischen Gesellschaft, 1913 gründet er die Anthroposophische Gesellschaft. Der Ort Dornach in der Schweiz wird ab 1914 zum Zentrum seines Wirkens, wobei Berlin bis 1918 »deutsches Zentrum« bleibt. Vgl. Lindenberg, C. (1997), S. 150. 1919 gründet Steiner die erste Freie Waldorfschule in Stuttgart. Vgl. zu Steiners biographischen Stationen u. a. Badewien, J. (1990); Kugler, W. (1979); Lindenberg, C. (1997); siehe auch Fußnote 31 zum Begriff ›Anthroposophie‹ in diesem Kapitel. 29 Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 22.02.1906, S. 329; vgl. auch Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 23.11.1905, S. 179. 30 Steiner, R. (GA 101), Vortrag vom 21.10.1907 (nachmittags), S. 128f. 31 Religionsgeschichtlich stellt die Anthroposophie (wörtlich = ›Weisheit vom Menschen‹) einen besonderen Typus der Theosophie (wörtlich = ›Gottesweisheit‹) dar und wird als »Erneuerung der Gnosis« betrachtet. Vgl. RGG (1986), Stichwort Anthroposophie, Stichwort Theosophie. Der Begriff ›Anthroposophie‹ wird bereits 1575 in einer naturphilosophischen Schrift namens »De Magia Veterum« erwähnt, die in Basel erschien. (Ziel der Anthroposophie des 16. Jahrhunderts sei es gewesen, so Walter Kugler, eine Spiritualisierung der Naturwissenschaft und des sozialen Bereichs insgesamt zu befördern. Vgl. Kugler, W. (1979), S. 10.) 1806 greift der Schweizer Mediziner, Naturphilosoph und Politiker Ignaz Paul Vitalis Troxler (1780-1866) den Terminus in seinem Buch »Elemente der Biosophie« erneut auf, 1856 Immanuel Hermann Fichte (17971879) in seiner »Anthropologie«. Vgl. Kugler, W. (1979), S. 10. Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt Rudolf Steiner seine Anthroposophie – maßgeblich inspiriert von der Okkultistin Helena Petrowna Blavatsky – aus der modernen Theosophie heraus. (1875 hatte Blavatsky in Zusammenarbeit mit dem Amerikaner Henry Steel Olcott (1832-1907) die Theosophische Gesellschaft gegründet, die nach ihr Annie Besant (1847-1933) leitete.) Steiner, der ab 1902 Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft war, spaltete sich 1913 institutionell von der Theosophie ab und gründete die Anthroposophische Gesellschaft. Zur historischen Entwicklung und Institutionalisierung von moderner Theosophie und Anthroposophie vgl. Zander, H. (2007). Wenn ich im

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wohl als wahres Christentum32 wie auch als »vollwertige Naturwissenschaft«33 (eine bewusste Verschmelzung von Religion und Wissenschaft, die im Begriff der anthroposophischen ›Geisteswissenschaft‹ angelegt ist).34 Als Folgenden von ›Anthroposophie‹ spreche, so beziehe ich mich auf die Zeit ab 1902, seit der Rudolf Steiner sein okkultistisches Denksystem innerhalb der Theosophischen Gesellschaft zu entwickeln beginnt, das er anfänglich noch als theosophisch bezeichnet. Vgl. dazu auch Badewien, J. (2006). 32 Steiners Ansatz einer Erneuerung des Christentums fußt auf dem Anspruch, das Erbe der christlichen Mystiker aufzunehmen. Dabei ist der »Glaube [...] nicht mehr Vertrauen auf das Unsichtbare, sondern wird durch das Schauen abgelöst.« RGG (1986), S. 428, Stichwort Anthroposophie. Zum Anspruch einer Erneuerung des Christentums vgl. u. a. Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 11.08.1908, S. 126; Körner-Wellershaus, I. (1993), S. 416. Spezifisch für die neognostische Struktur des anthroposophischen Christentums ist u. a. die Erhöhung Christi zum höchsten (Sonnen-)Gott, der über dem jüdischen Vatergott steht. Das in der Nachfolge von Blavatsky im Rahmen der Theosophischen Gesellschaft proklamierte Christusbild stellte schließlich auch den theoretischen Hintergrund für Steiners Bruch mit der Theosophischen Gesellschaft dar: Die theosophische These von der Wiedergeburt Jesu Christi in Gestalt eines hinduistischen Jungen namens Krishnamurti lehnte Steiner ab. Vgl. Steiner, R. (GA 131), Vortrag vom 14.10.1911, S. 214f.; vgl. u. a. auch Bierl, P. (1999), S. 38-40; RGG (1986), Stichwort Anthroposophie, S. 426; vgl. in kritischer Lesart zum ›anthroposophischen Christentum‹ aus theologischer Perspektive Badewien, J. (1990); Kreis, G. (1991), S. 9; Ringleben, J. (2006). Vor 1900, also vor Steiners Wende zur Theosophie, dominiert sein Ansatz, das Christentum bekämpfen zu wollen. Vgl. Kreis, G. (1991), S. 18, 20. 33 Steiner, R. (GA 194), Vortrag vom 12.12.1919, S. 161. 34 Den okkultistischen Wissenschaftsanspruch übernimmt Steiner aus der modernen Theosophie. Religionsgeschichtlich wird das anthroposophische Verhältnis von Religion und Wissenschaft als Anspruch beschrieben, »die Wissenschaft fromm und die Religion wissenschaftlich zu machen.« RGG (1986), Stichwort Anthroposophie, S. 426. Steiners okkulte »Geisteswissenschaft« fußt dabei in der »Grundanschauung, daß hinter allem Sinnlich-Sichtbaren ein SeelischGeistiges steht.« Steiner, R. (GA 56), Vortrag vom 18.03.1908, S. 90. 1922 resümiert Steiner zum wissenschaftlichen Selbstverständnis, »daß Anthroposophie durchaus nicht etwas Sektiererisches anstrebt. Das will sie nicht, ebensowenig wie eine andere Wissenschaft. Nicht Sekten bildend will Anthroposophie auftreten; eine Dienerin will sie sein der Religionen, die schon da sind, eine Wiederbeleberin des Christentums will sie sein in diesem Sinne.« Steiner, R. (GA 211), Vortrag vom 15.04.1922, S. 182. Steiners ›Geisteswissenschaft‹ ist als ›Geheimwissenschaft‹ zu verstehen, ›Geist‹ darin eine mystisch-okkult gefüllte Größe. So heißt es auch 1909: »Was ist die geisteswissenschaftliche Weltenströmung? Sie ist die Weisheit des Geistes, diejenige Weisheit, die das, was sonst unbewußt bleiben würde im Christentum, zum vollen Bewußtsein heraufhebt.« Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 22.03.1909, S. 255. Die »okkulte Erkenntnis« sei Mittel zur Enthüllung des Prinzips des Lebens. Vgl. Steiner, R. (GA 152), Vortrag vom 02.05.1913, S. 39. Zum Verhältnis von anthroposophischer ›Geisteswissenschaft‹, Geheimwissenschaft und Naturwissenschaft vgl. auch Steiner, R. (GA 13), S. 33-52; Steiner, R. (GA 61), Vortrag vom 25.01.1912, S. 285f.; Steiner, R. (GA 77a); Barz, H. (1994); vgl. in kritischer

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Anthroposoph modifiziert Steiner zeitgenössische Krisenszenarien, indem ihm die ›materialistische Kultur‹ und mit ihr die rationalistische Wissenschaft, das abstrakte, ›materialistische Denken‹, selbst zum Ausdruck einer Krise der (europäischen) »einseitige[n] Männerkultur«35 wird. Kennzeichen der ›Krise des Materialismus‹ seien u. a. eine Ausbreitung »krankhafte[r] Erotik«,36 »Erkrankungen des Nervensystems« und »nervöse Störungen«37 – Diagnosen, in denen die medizinisch-psychiatrischen (Degenerations-/Entartungs-)Debatten um ›falsche Männlichkeit‹, um Hyperzivilisation und Verstädterung aufscheinen.38 Die (nicht näher bestimmten) »Perversitäten der sinnlichen Triebe, alle abscheulichen Abnormitäten der sinnlichen Triebe«39 werden von Steiner mit einer (materialistischen) Leugnung der übersinnlichen Welten zusammengedacht.40 Verallgemeinernd spricht Steiner auch von einer »Versumpfung und Degeneration unseres gegenwärtigen Geisteslebens«.41 Die Anthroposophie verspricht den Weg aus dieser »›schwarze[n] Sphäre des Materialismus‹«,42 sie zeige den wahren Zugang zum Christus,43 dem »hohen Sonnengeist«,44 auf.45 Das »tote [...] abstrakte Denken«,46 das nur die »leblose Natur«47 erfasse, gelte es, durch Christus wiederzubeleben.48 Eingebunden in die Krisendiskurse der Moderne ist die Anthroposophie hiernach als eine Art ›Erlösungswissenschaft‹ zu verstehen: Die »Mission« der anthroposophischen Bewegung sei es, »den Menschen hinaufzuführen in die geistigen Welten [...] aus denen er heruntergestiegen ist!«49 Gemäß dem Erlösungsanspruch wird insgesamt ein spiritualistischer Fortschrittsoptimismus vermittelt. Dieser fußt auf den hellseherischen Voraussagen Steiners, wonach am Ende der Menschheitsentwicklung die Transzendierung des Menschen zum reinen Geistwesen steht. Das (›falsche‹) materialistische Denken markiert dabei eine notwendige

35 36 37 38 39 40 41 42 43

44 45 46 47 48 49

Darstellung u. a. Badewien, J. (2006); Zander, H. (1995); Zander, H. (2007); S. 103-111; Zinser, H. (2006). Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 128. Steiner, R. (GA 302a), S. 86. Steiner, R. (GA 94), Vortrag vom 02.06.1906, S. 66. Vgl. Dornhof (2005), S. 103-134. Steiner, R. (GA 147), Vortrag vom 25.08.1913, S. 43. Vgl. Steiner, R. (GA 147), Vortrag vom 25.08.1913, S. 43. Steiner, R. (GA 203), Vortrag vom 08.02.1921, S. 209. Steiner, R. (GA 152), Vortrag vom 02.05.1913, S. 46. Steiner nennt Christus (im Sinne einer »kosmische Zentralwesenheit« (KörnerWellershaus, I. (1993), S. 417)) vielfach ›den Christus‹. Vgl. Baumann, A. (1991), S. 44, Stichwort Christus. Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 11.08.1908, S. 120. Vgl. Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 22.03.1909, S. 256. Steiner, R. (GA 211), Vortrag vom 15.04.1922, S. 169. Steiner, R. (GA 211), Vortrag vom 15.04.1922, S. 168. Vgl. Steiner, R. (GA 211), Vortrag vom 15.04.1922, S. 163-182; Steiner, R. (GA 127), Vortrag vom 03.05.1911, S. 164-167. Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 05.08.1908, S. 35.

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Phase der Krise auf dem Weg zur geistigen Höherentwicklung,50 die Überwindung der Krise ist dem System nach bereits garantiert. Die Anthroposophie ist insgesamt als Bestandteil moderner religiöser Vergemeinschaftungen um 1900 zu begreifen, in der sich religiöse Sinnstiftung, Anti-Materialismus und zeitgenössischer Anti-Intellektualismus als Kultur- und Wissenschaftskritik vereinen.51 Steiners skizzierte Ablehnung der ›materialistischen‹ Wissenschaft ist jedoch schon hinsichtlich seiner kosmologisch bestimmten Notwendigkeit der ›Krise des Materialismus‹ zu relativieren. Und das Verhältnis zur ›materialistischen Wissenschaft‹ differenziert sich schließlich auch durch Steiners teils positive Bezugnahme auf zeitgenössische Rassen- und Geschlechtertheorien: Zum populären Rassentheoretiker Gobineau etwa heißt es 1912: »So konnte Graf Gobineau richtig das Äußere denken, richtig so denken, daß dieses einer Degenerierung entgegengeht. Aber ihm fehlte noch der Hinblick auf jenen geistig-seelischen Wesenskern des Menschen, der sich durch die übersinnliche Forschung ergibt.«52

Auch der Psychiater und Entartungstheoretiker Paul Möbius (1853-1907), Verfasser der »geistreiche[n] Broschüre« mit dem Titel »Vom physiologischen Schwachsinn des Weibes« (1900), habe »manches Gute gesagt«;53 ebenso wie (der Antisemit und Antifeminist) Otto Weiniger (1880-1903), Autor der Schrift »Geschlecht und Charakter« (1903).54 Das von Steiner hier wiederum aufgeworfene Problem: »Solange der Mensch im Materiellen befangen ist, so lange wird eine wirklich fruchtbare Erörterung der Frauenfrage nicht möglich sein.«55 Welche konkreten spiritualistischen Gegenentwürfe Steiner zu den Rassen- und Geschlechtertheorien seiner Zeit entwickelt, wird in den folgenden Kapiteln interessieren. Dass Steiners anthroposophisches Denksystem trotz egalitärer Grundsatzformulierungen rassistische und »völkische Theorieelemente«56 beinhaltet, wurde verschiedentlich herausgestellt57 (vgl. Kap. 1.2.3).

50 Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 118), Vortrag vom 30.01.1910, S. 60f.; Steiner, R. (GA 130), Vortrag vom 17.06.1912, S. 307; Steiner, R. (GA 333), Vortrag vom 30.12.1919, S. 153. 51 Zu religiösen Vergemeinschaftungen um 1900 vgl. Geyer, M./Hölscher, L. (2005). 52 Steiner, R. (GA 61), Vortrag vom 28.03.1912, S. 505. 53 Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 108. 54 Vgl. Steiner, R. (GA 56), Vortrag vom 18.03.1908, S. 92f. 55 Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 130; vgl. auch Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 113. 56 Helmut Zander nennt 44 Bände der Gesamtausgabe Steiners, in denen sich »völkische Theorieelemente« finden. Vgl. Zander, H. (2001), S. 292f., Anm. 2.

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Die Existenz von Rassentheorie und Rassismus wird von Seiten offizieller VertreterInnen der deutschen Anthroposophie und Waldorfpädagogik dennoch bis heute weitestgehend bestritten oder auf Marginalien, die dem Zeitgeist geschuldet seien, reduziert (vgl. Kap. 1.1.3; Kap. 6). Dass Steiner jedoch einen anthroposophisch spezifischen Rassismus entwickelt, hat Helmut Zander bereits hervorgehoben, wenn er schreibt: »Steiner formulierte mit seinem theosophischen Sozialdarwinismus eine Ethnologie, in der die Rede von ›degenerierten‹, ›zurückgebliebenen‹ oder ›zukünftigen‹ Rassen keine ›Unfälle‹, sondern das Ergebnis einer konsequent durchgedachten Evolutionslehre waren. Ich sehe im Gegensatz zu vielen Anthroposophen keine Möglichkeit, diese Konsequenz zu bestreiten [...].«58

Zander betont demnach, dass Steiner (erstmals 1904) eine eigene »Rassentheorie« ausarbeitet, die er »1910 in einem komplexen System und in zunehmender Abgrenzung zu theosophischen Positionen« formuliert.59 D. h. auch: »Mit seinem Ausstieg aus der Theosophie hat er [Steiner] diese Vorstellungen [u. a. von ›degenerierten Rassen‹] keinesfalls über Bord geworfen, sondern sie 1923 [...] in vergröberter, ›popularisierter‹ Form nochmals wiederholt, aber ohne Revision im inhaltlichen Bestand.«60

Aufbauend auf diesen kritischen Arbeiten zur anthroposophischen Rassentheorie wird es im Folgenden gemäß der übergeordneten Fragestellung dieser Arbeit darum gehen, genauer nach den schwarz-weiß-symbolischen Strukturelementen der Steinerschen Rassenmodelle und ihren kosmologischspiritualistischen Begründungsstrategien zu fragen. Hiermit rücken neognostische Geist-Materie-Konzeptionen, die anthroposophische Christusfigur und weitere Licht- und Finsternisgestalten sowie Aspekte der anthroposophischen Farbenlehre in den Blick. Es werden Konstruktionsmechanismen anthroposophischer Rassenkonstruktionen analysiert, die ich als Zusammenhang von Spiritualisierung, Physikalisierung und Biologisierung schwarz-weiß-symbolischer Deutungsmuster fokussieren werde. Es ist dabei insbesondere der neognostische Erlösungsgedanke der Vergeistigung, der in seinen farb- und geschlechtssymbolischen Dimensionen interessieren wird. Hieran schließen bisher nahezu unbearbeitete Fragen nach strukturellen Zusammenhängen zwischen anthroposophischen Entwürfen eines ›erlösenden‹ Wissens, einer ›geis57 Vgl. u. a. Ditfurth, J. (1992); Bierl, P. (1999); Let, P. (1999); Schmid, G. O. (1995); Speit, A. (o. J.); Zander, H. (2001); Zander, H. (2007), Bd. 1, S. 620637. 58 Zander, H. (2007), Bd. 1, S. 636. 59 Zander, H. (2007), Bd. 1, S. 631f. 60 Zander, H. (2007), Bd. 1, S. 632.

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tigen Natur‹ und rassentheoretischen Konzeptionen von Weißsein als ›Erlösung‹ an. Zwei Krisenerzählungen erweisen sich, wie hier vorauszuschicken ist und im Folgenden näher zu zeigen sein wird, für Steiners Erlösungsgedanken in der Konstruktion von Weißsein bzw. hegemonialer Weißer Männlichkeit als konstitutiv: Es ist einerseits die bereits skizzierte Rede von der ›Krise des Materialismus‹, andererseits eine übergeordnete Krisenerzählung, die sich als ›Krise der Materialisierung‹ beschreiben lässt: Diese ›Krise der Materialisierung‹ ist in Zusammenhang mit Steiners kosmologischem Evolutionsmodell der sogenannten ›Wurzelrassen‹ zu denken, das die Rahmenhandlung des anthroposophischen Welt- und Menschenbildes beschreibt. Die ›Krise der Materialisierung‹ ist danach als eine neognostisch modifizierte Krisenerzählung zu begreifen, die vom Fall des Geistes in die Materie berichtet, woran das Erlösungsversprechen auf zukünftige Vergeistigung anschließt. Inwiefern Steiners übergeordnetes Evolutionsmodell der ›Wurzelrassen‹ mit seinen Rassenmodellen der gegenwärtigen Menschheit in Beziehung steht, wird zu zeigen sein. Unter Fokussierung der bisher unbearbeiteten Frage nach geschlechtsspezifisch konstruierten Rassismen bei Rudolf Steiner werden dabei sowohl farbund geschlechtsspezifische Codierungen des Geist-Materie-Verhältnisses als auch Fragen nach geschlechtlichen Codierungen eines ›falschen‹ und ›erlösenden‹ Wissens verfolgt. In Anschluss an die in der Einleitung formulierten Thesen und die vorangegangenen Ausführungen fragt dieses Kapitel unter geschlechtertheoretischen Gesichtspunkten entsprechend u. a.: In welcher Hinsicht und unter Bezugnahme auf welche spezifischen Denktraditionen ist ein symbolischer Zusammenhang von Licht, Geist und Männlichkeit für Steiners Konstruktion von Weißsein bedeutsam bzw. konstitutiv? Inwiefern artikulieren sich über weibliche Konnotationen des spirituellen Wissens gleichzeitig Vorstellungen einer erlösenden Weiblichkeit? Inwiefern durchzieht der neognostische Gedanke der Ganzheitlichkeit – analog zu Carus’ Rassen- und Geschlechtermodellen – in spiritualistischer Wendung auch Steiners Rassen- und Geschlechterkonstruktionen? Auf welche Weise sind die anthroposophischen Krisen- und Erlösungsvorstellungen in sich vergeschlechtlicht? Und inwiefern wird hegemoniale Weiße Männlichkeit gerade über eine Krisenrhetorik um die europäische ›Männerkultur‹ stabilisiert? Liegt der imaginäre Charakter anthroposophischer Rassenkonstruktionen bereits in der methodologischen Prämisse übersinnlicher Wahrheit, d. h. in Steiners transzendentalen, metaphysischen Erklärungsmustern der menschheitsgeschichtlichen Evolution und des menschlichen Leibs begründet, so kann entlang von Steiners Modellen im Gegenzug zugleich der grundsätzlich imaginäre Charakter der Kategorie ›Rasse‹ hervorgehoben werden. D. h., das Interesse an Steiners Rassenmodellen ergibt sich nicht zuletzt aus der überge-

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ordneten Frage nach neognostischen Respiritualisierungen schwarz-weißsymbolischer Elemente, die den Rassentheorien ihrer Entstehung nach eingeschrieben sind. In einem okkultistischen Weltbild, in dem »Planetengeister[]«61 als »Rassengeister«62 im Innern des Menschen »kochen und brodeln«,63 in dem der »Angriff« des »Jupiter« auf das »Nervenssystem« der »Kaukasier« stattfindet64 und in dem die »Malaien« als »unbrauchbare Menschen« gelten, die am »Menschenkörper zerbröckeln«,65 werden diese schwarz-weiß-symbolischen Traditionen jedoch auf sehr eigenwillige Weise modifiziert.

5.2 Quellen Zum Umgang mit Rudolf Steiners okkultistischem Werk ist vorauszuschicken, dass man in der Analyse verschiedentlich mit abschweifenden Beschreibungen, Wiederholungen und widersprüchlichen Aussagen konfrontiert ist. Die Detailfülle von ›Wahrheiten‹ aus den ›übersinnlichen Welten‹ – überliefert im Großteil des voluminösen Nachlasses von »ca. 370 Titeln« der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe66 – macht eine Systematisierung und Zusammenfassung erforderlich. Damit ist nicht nur zwangsläufig eine quantitative Begrenzung der Quellen, sondern auch das unumgängliche Dilemma verbunden, gerade den spezifischen rhetorischen Charakter der anthroposophischen Erkenntnisproduktion zu glätten. Aus Steiners umfangreichem Werk werde ich ausgewählte Schriften und Vorträge zwischen den Jahren 1902-1923, die sich rassentheoretisch als relevant erweisen, einbeziehen – ohne dabei dem Anspruch der Vollständigkeit zu folgen.67 Daneben werden Texte/Vorträge berücksichtigt, in denen die Ka-

61 62 63 64 65 66

Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 110. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 111. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 112. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 115. Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 61. Vgl. die Website des Rudolf Steiner Verlags: http://www.rudolf-steiner.com/ Verlag.44.0.html (Recherchestand: 09.08.07). Dazu zählen laut Verlag 354 Bände der Gesamtausgabe. 67 Ich beziehe mich u. a. auf folgende Werke: Steiner, R. (GA 11); Steiner, R. (GA 13); Steiner, R. (GA 54); Steiner, R. (GA 61); Steiner R. (GA 99); Steiner, R. (GA 100); Steiner, R. (GA 103); Steiner R. (GA 104); Steiner, R. (GA 105); Steiner, R. (GA 107); Steiner, R. (GA 113); Steiner, R. (GA 121); Steiner, R. (GA 174b); Steiner, R. (GA 178); Steiner, R. (GA 202); Steiner, R. (GA 276); Steiner , R. (GA 291); Steiner, R. (GA 291a); Steiner, R. (GA 348); Steiner, R. (GA 349); Steiner, R. (GA 353).

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tegorie ›Geschlecht‹ explizit im Fokus der Auseinandersetzung steht68 sowie diverse, mit Blick auf das anthroposophische Religions- und Wissenschaftsverständnis relevante Veröffentlichungen.69 Vorauszuschicken ist bezüglich der Primärliteratur, dass die RudolfSteiner-Nachlassverwaltung als Herausgeber darauf aufmerksam macht, dass Rudolf Steiner »aus Zeitmangel nur in ganz wenigen Fällen die Nachschriften selbst korrigieren konnte.«70 Daher müsse »gegenüber allen Vortragsveröffentlichungen sein Vorbehalt berücksichtigt werden: ›Es wird eben nur hingenommen werden müssen, daß in den von mir nicht nachgesehenen Vorlagen sich Fehlerhaftes findet‹.«71

Das nicht von Steiner nachkorrigierte Vortragswerk macht allerdings den Großteil der Gesamtausgabe aus. Alle besagten Bände werden unter dem Namen Rudolf Steiner publiziert und verkauft. Als solches sind sie als Werk Rudolf Steiners gekennzeichnet.72 Eine weitere Prämisse im Umgang mit seinem verschriftlichten Nachlass formulierte Rudolf Steiner 1923 in den »Statuten der Anthroposophischen Gesellschaft«: »Es wird niemand für die Schriften ein kompetentes Urteil zugestanden, der nicht die von dieser Schule geltend gemachte Vor-Erkenntnis durch sie oder auf eine von ihr selbst als gleichbedeutend erkannte Weise erworben hat. Andere Beurteilungen

68 Mit Blick auf Steiners (normative) Geschlechterkonstruktionen wird sich v. a. bezogen auf: Steiner, R. (GA 11); Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906; Steiner, R. (GA 56), Vortrag vom 18.03.1908, Vortrag vom 09.01.1908; Steiner, R. (GA 120), Vortrag vom 26.05.1910. 69 Siehe die Angaben im Verlauf des Textes. 70 Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung: »Zu den Veröffentlichungen aus dem Vortragswerk von Rudolf Steiner« [Vorbemerkung des Herausgebers/Standard-Text zum nicht nachträglich von Steiner korrigierten Vortragswerk]. Vgl. bspw. Steiner, R. (GA 54), S. 5. 71 Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung: »Zu den Veröffentlichungen aus dem Vortragswerk von Rudolf Steiner« [Vorbemerkung des Herausgebers/Standard-Text zum nicht nachträglich von Steiner korrigierten Vortragswerk]. Steiner, R. (GA 54), S. 5. 72 Vgl. die Informationen auf der Website des Rudolf-Steiner-Verlags: http://www. rudolf-steiner.com/index.php?44 (Recherchestand: 17.08.07). Anzumerken ist, dass u. a. der Vortragszyklus: »Die Mission einzelner Volksseelen« (GA 121) von 1910, der sich hinsichtlich von Steiners Rasseverständnis als besonders ergiebig erweist, von Steiner selbst autorisiert wurde, worauf mich Detlef Hardorp, bildungspolitischer Sprecher der Freien Waldorfschulen Berlin-Brandenburg, freundlicherweise noch einmal hinwies. (Den Hinweis gab mir Detlef Hardorp in einer e-mail vom 06.02.2006).

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werden insofern abgelehnt, als die Verfasser der entsprechenden Schriften sich in keine Diskussion über dieselben einlassen.«73

Als Nicht-Anthroposophin verstehe ich indes die folgenden Ausführungen als Beitrag zur kritischen Diskussion.

5.3 Licht der Erkenntnis: Hellsehen und Christus – F i n s t e r e s W i s s e n u n d Ah r i m a n 5.3.1 Hellseherische ›Wissenschaft‹ Steiners Vorstellung eines ›wahren‹, erlösenden und eines ›falschen‹ zu überwindenden Wissens und die hierin eingelagerte Licht-Finsternis-Symbolik erschließt sich über die Anthroposophie als ›hellseherischem‹ Wissenssystem. Dabei ist die Entstehung der anthroposophischen ›Geheimwissenschaft‹ bzw. ›Geisteswissenschaft‹ als okkultistisches Denksystem kulturhistorisch sowohl vor dem Hintergrund einer Ausdifferenzierung der Wissenschaften74 als auch vor dem Hintergrund einer »Verwissenschaftlichung des Okkultismusdiskurses«75 zu lesen. Als Experimentalwissenschaften bewegen sich, wie Dorothea Dornhof darstellt, die modernen Naturwissenschaften Ende des 19. Jahrhunderts selbst auf ›okkultem‹ Gebiet. Der Begriff Okkultismus (lat. ›occultus‹ = verborgen/geheim) umfasst in weitem Sinne alle übersinnlichen Phänomene: »Unsichtbare Phänomene wie Röntgenstrahlen, Radioaktivität, der Äther oder die vierte Dimension gehen in die Versuche von Künstlern und von wissenschaftlichen Aufzeichnungsgeräten ein, um die verborgene geheimnisvolle Dimension des Unsichtbaren in belebten Formen zu visualisieren.«76

73 Steiner, R. (GA 260a), S. 803; auch zitiert unter dem Titel »Prinzipien der Anthroposophischen Gesellschaft« auf der Website der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft/Goetheanum [http://www.goetheanum.org/255.html (Recherchestand: 17.08.07)]; vgl. kritisch zu dieser formulierten Prämisse u. a. Badewien, J. (1990), S. 216f. 74 In Einbeziehung von geschichts- und naturphilosophischen, materialistischmonistischen wie positivistischen Traditionen entsteht gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Wissensfeld des modernen Okkultismus. Nach Hartmut Zinser ist die moderne Esoterik ein Produkt der Ausdifferenzierung der Wissenschaften. Vgl. Zinser, H. (2006). Die moderne Esoterik lässt sich hiernach nicht nur als Antwort auf, sondern als Produkt des ›materialistischen‹ Zeitgeistes verstehen. 75 Dornhof, D. (2005), S. 179. 76 Dornhof, D. (2005), S. 170.

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Im breiten Spektrum der zeitgenössischen ›Grenzwissenschaften‹ wird sich verschiedentlich vom ›falschen‹ Okkultismus distanziert. So formuliert der Psychologe und Kunsthistoriker Max Dessoir (1867-1947), zeitgenössischer Kritiker von Rudolf Steiners ›Geheimwissenschaft‹77 und Begründer des Begriffs ›Parapsychologie‹, 1917 das Anliegen, den Aberglauben und einen »verderblichen Mystizismus«78 zu bekämpfen.79 Ihm geht es (analog zu Rudolf Virchows (1821-1902) positivistischem Wissenschaftsverständnis80) um wissenschaftlichen »Reinlichkeitssinn«,81 eine Aufgabe, die Dessoir in Analogie zur Körperpflege als eine quasi ärztliche beschreibt: »Ich glaube nämlich, daß eine sozial-hygienische Arbeit für dieses geistige Gebiet ebenso nötig ist wie für die Gesundheitspflege des Körpers, und daß der Wissenschaft angesonnen werden darf, sich beruhigend und warnend zu betätigen [...].«82

Dessoir verfolgt demnach eine Rationalisierung des Irrationalen, einen Reinigungsprozess des (übersinnlichen) Wissens, dem die Hygienemetapher medizinisch wissenschaftliche Autorität verleiht. Der Okkultismus, in seinen Dimensionen ›methodischen‹ Hellsehens als spiritualistischer Irrationalismus gekennzeichnet, proklamiert seinerseits einen – Heil(ung) versprechenden – (Natur-)Wissenschaftsanspruch. Gegenüber den Bestrebungen einer Rationalisierung des Irrationalen gilt Steiner dabei das Fehlen von rationalen Definitionen ausdrücklich als sinnvoll.83 ›Gesinnung‹, ›Vertrauen‹ und ›Glaube‹ kennzeichnen den theosophischen Ursprüngen nach den Wahrheits- und Wissenschaftsanspruch.84 Und in die anthroposophische ›Wissenschaft‹ fließen diverse mystische, gnostische, christliche, naturphilosophische und idealistische Wissensbestände ein.85 Die Selbstsituierung der Anthroposophie als 77 Vgl. Dessoir, M. (1920), S. 254-263. 78 Dessoir, M. (1920), Vorwort zur ersten Auflage, S. V. 79 Zu Steiners Reaktion auf Dessoirs Kritik vgl. Steiner, R. (GA 21); Steiner, R. (GA 203), Vortrag vom 08.02.1921, S. 207-209. 80 Der Mediziner Rudolph Virchow stellte sich selbst erklärtermaßen »gegen metaphysische und dogmatische Erklärungsansätze und wollte die Medizin auch von der Naturphilosophie befreien: Nur die positiven, mit naturwissenschaftlicher, empirischer Methodik gewonnenen Erfahrungen sollten das Fundament der Medizin bilden [...].« Hoffmann-Axthelm, F. (2003), S. 64. Siehe zudem Dornhofs Erläuterung zum »ambivalente[n] Aufklärungs- und Säkularisierungskonzept Virchows, das [seinerseits] eine religiöse Sinnstiftung impliziert«. Dornhof, D. (2005), S. 83. 81 Dessoir, M. (1920), Vorwort zur ersten Auflage, S. III. 82 Dessoir, M. (1920), Vorwort zur ersten Auflage, S. III. 83 Vgl. Steiner, R. (GA 152), Vortrag vom 02.05.1913, S. 34f. 84 Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 9), S. 174-194. 85 Zu den ekklektizistischen Wissenstraditionen der Anthroposophie fasst der Religionsphilosoph Hans Leisegang 1924 zusammen: »Die Lehren, die Rudolf Steiner seinen Anhängern übermittelt, stellen in ihrer Gesamtheit das umfas-

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Wissenschaft kann angesichts des zeitgenössisch vorherrschenden empiristischen Wissenschaftsdiskurses und der »Verwissenschaftlichung des Okkultismusdiskurses«86 auch als eine Autorisierungsstrategie verstanden werden. Dabei macht Steiners Anthroposophie zugleich ein Angebot auf absolutes Wissen. Dieses Versprechen auf absolutes Wissen ist in Relation zu den empiristischen Verwissenschaftlichungsprozessen im Zuge des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu deuten. Denn mit der Zunahme des Angebots an wissenschaftlichen Beweis- und Messverfahren und einer anthropologischen Datenflut geht nicht nur der Glaube an eine objektiv erfassbare ›Wahrheit‹ der Natur und ihrer Gesetze einher, sondern zugleich ein Zerfall der Evidenzen. Demnach werden im modernen Wissenschaftsdiskurs Zweideutigkeiten und Zweifel konstitutiv, erzeugen immer neue Beweise und Beweislasten. Die modernen religiösen Glaubenssysteme erfüllen demgegenüber nicht nur die sinnstiftende Funktion, die »verloren gegangene Religion« zu ersetzen, wie Kurt Tucholsky 1924 mit Blick auf die Anthroposophie formuliert.87 Vielmehr versprechen sie zugleich eine jeglicher Beweislasten enthobene, gesicherte Erkenntnis, die das Versprechen auf ein wahres Wissen um die geistige, übersinnliche Natur hinter der äußeren sichtbaren Natur verheißt. Als Quelle der proklamierten hellseherischen Erkenntnis fungiert in Steiners Denksystem die sogenannte ›Akasha-Chronik‹, ein angenommen immateriel-

sendste und eigenartigste System okkulter Wissenschaft dar, das bisher geschaffen wurde. Griechische, insbesondere pythagoreische und neuplatonische Mystik, indische Theosophie, jüdische Kabbala, christliche Gnosis, Manichäismus, mittelalterliche Astrologie und Alchemie, die Geheimlehren der Rosenkreuzer, die Symbolik der Freimaurer, die theosophischen und okkulten Elemente in der Philosophie Schellings, alles Mystische bei Goethe und noch vieles andere wurde hier verwendet und zu einer seltsamen Einheit verbunden.« Leisegang, Hans. 1924. Die Geheimwissenschaften. Stuttgart, S. 27f. Zit. in: Kreis, G. (1991), S. 10f. Die idealistischen Bezüge Steiners sind neben Schelling v. a. mit den Namen Johann Gottlieb Fichte, Georg Friedrich Wilhelm Hegel und (unter naturphilosophischen Vorzeichen) mit Carl Gustav Carus verbunden. Zum Einfluss Fichtes, Schellings und Hegels auf Steiner vgl. u. a. Bierl, P. (1999), S. 12, 1618; Brügge, P. (1984), S. 10f.; Lindenberg, C. (1997), S. 19, 24-27; Zander, H. (2001), S. 313. Zu Steiners positiver Bezugnahme auf Carus vgl. u. a. Steiner, R. (GA 9), S. 29f. Zum Verhältnis von Anthroposophie und Idealismus konstatiert Steiner 1915 allgemein: »In Wahrheit aber muß eingesehen werden, daß der Idealismus Mitteleuropas, so wie das Kind zum Manne, sich entwickeln muß zum Spiritualismus; denn dieser Idealismus Mitteleuropas ist das Kind des Spiritualismus, das Kind, das zum Spiritualismus werden soll.« Steiner, R. (GA 174b), Vortrag vom 13.02.1915, S. 48. Siehe auch Fußnote 31 zum Begriff ›Anthroposophie‹, Fußnote 32 zum ›wahren Christentum‹ und Fußnote 34 zum anthroposophischen (Natur- und Geistes-)Wissenschaftsverständnis in diesem Kapitel. 86 Dornhof, D. (2005), S. 179. 87 Tucholsky, K. (1990), S. 363.

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les Weltengedächtnis, eine unsichtbare ›Chronik‹, in welcher sämtliche Wahrheiten hellseherisch zu erschauen, zu ›lesen‹, seien.88 Das ›Licht der Erkenntnis‹ ist in Steiners okkultistischer ›Geisteswissenschaft‹ demnach immer ein übersinnliches Licht. Es ist an den Glauben gekoppelt und offenbart sich – durch das »›Auge des Geistes‹«89 – als ›schaubarer‹ Ursprung der sinnlichen Welt: »Denn wenn auch nicht jeder physisch Blindgeborene operiert werden kann: jedes geistige Auge kann geöffnet werden; und es ist nur eine Frage der Zeit, wann es geöffnet wird.«90 Als geistiger Blick ist der ›geisteswissenschaftliche‹ Blick ein durchleuchtender Blick, der Mensch und Kosmos in seiner geistig-göttlichen Ordnung erkennt, andersherum gesprochen den Menschen im Prozess des gnostischen Erkennens als harmonisches Ganzes konstruiert. Das geistige Schauen ist Hellsehen, die »hellsichtige[] Beobachtung«91 ein ›Licht-Blick‹, Erkenntnis ist geistige ›Erleuchtung‹.92 In Redewendung wie »in ein höheres Licht rücken«93 oder »von dem Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft Licht [...] verbreiten«,94 wird die aufklärerische Lichtmetaphorik des Wissens anthroposophisch gewendet. Licht wird zum Ausdruck einer Erkenntnis, für welche die Gnosis, verbunden mit der Metapher der Erweckung,95 im Allgemeinen steht.96 In seinem Werk »Die Mystik«97 spricht Steiner mit Blick auf die christlichen Mystiker so auch vom »Lichte der Selbsterkenntnis«,98 vom »Lichte höherer Erkenntnis«99 und vom »Licht der Weisheit«.100

88

Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 11); vgl. kritisch dazu u. a. Badewien, J. (2006), S. 4-8; vgl. auch RGG (1986), S. 427, Stichwort Anthroposophie. 89 Steiner, R. (GA 9), S. 19. 90 Steiner, R. (GA 9), S. 19. An anderer Stelle unterscheidet Steiner das »physische Auge« vom »seelischen Auge«. Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 19.10.1905, S. 64. 91 Steiner, R. (GA 182), Vortrag vom 09.10.1918, S. 144. 92 »Wenn für den Hellseher dasjenige, was sonst Finsternis ist, Licht wird, wenn er die Erleuchtung erlangt, dann, dann dringt er vor, wie das physische Auge zur Sonne vordringt, zur geistigen Sonne, das heißt zu den geistigen Wesenheiten.« Steiner, R. (GA 113), Vortrag vom 24.08.1909, S. 46. 93 Steiner, R. (GA 56), Vortrag vom 18.03.1908, S. 90. 94 Steiner, R. (GA 56), Vortrag vom 18.03.1908, S. 89. 95 Vgl. Strohm, H. (1997), S. 157. 96 »Das Licht, das auf mich selbst fällt bei meiner Erweckung, fällt auch auf das, was ich von den Dingen der Welt mir angeeignet habe. Ein Licht blitzt in mir auf und beleuchtet mich, und mit mir alles, was ich von der Welt erkenne. Was immer ich erkenne, es bliebe blindes Wissen, wenn nicht dieses Licht darauf fiele.« Steiner, R. (GA 7), S. 21. 97 Steiner, R. (GA 7). 98 Steiner, R. (GA 7), S. 36. 99 Steiner, R. (GA 7), S. 38. 100 Steiner, R. (GA 7), S. 125.

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In Steiners hellseherischen Blick sind diese mystischen Traditionen der Konzeption nach eingelagert, das Hellsehen wird hier jedoch physiologisiert: Die ›geistigen Organe‹ des Hellsehens sind danach nicht nur allegorisch zu verstehen, sondern als physiologische Wirklichkeit, die sich im Zuge eines kosmologischen Evolutionsprozesses vom als »dumpf und traumartig«101 beschriebenen »unbewußte[n] Hellsehen«102 zum bewussten ›hellen‹ Hellsehen verändere.103 Der evolutionäre Erkenntnisprozess ist spiritualistischer Aufhellungsprozess: vom Nachtbewusstsein, »Traumbewußtsein«104 und der »Nachtoffenbarung« hin zum Tagbewusstsein, Wachbewusstsein und zur »Tagesoffenbarung«105 – ein Aufhellungsprozess, in dem die idealistischen Entwicklungsmodelle der sich zum hellen Bewusstsein gelangenden Idee anklingen (u. a. von Carus, vgl. Kap. 4) und esoterisch modifiziert werden.

5.3.2 Christus: Erlösendes Wissen und Vergeistigung der Materie Im Zentrum des Offenbarungscharakters, den die anthroposophische ›Geisteswissenschaft‹ vertritt, steht, wie einleitend angedeutet, Christus: »Die Menschen haben das an der Geisteswissenschaft, daß ihnen Christus nach und nach bewußt wird als der Geist, der die Welt durchleuchtet. Und als Folge wird eintreten, daß die Menschen hier auf diesem Erdenrund, in der physischen Welt in moralischer Beziehung, in Beziehung auf den Willen, in intellektueller Beziehung fortschreiten. Die Welt wird durch das physische Leben hindurch immer vergeistigter und vergeistigter werden. Die Menschen werden besser und stärker und weiser werden [...].«106

Den Beschreibungen ist das anthroposophisch neognostische Versprechen auf Vergeistigung zu entnehmen, das substantiell mit Christus, der zentralen Erlöserfigur des anthroposophischen Weltbildes, zusammengedacht wird. So heißt es auch, dass der Mensch, indem er sich den »unverweslichen Leib« Christi »einverleibt«, dazu kommen würde, sein »Ichbewußtsein heller und heller zu machen«.107 Dahinter steht die Vorstellung einer spezifisch durchgeistigten 101 Steiner, R. (GA 11), S. 101; vgl. auch Steiner, R. (GA 194), Vortrag vom 15.12.1919, S. 220. 102 Steiner, R. (GA 194), Vortrag vom 22.11.1919, S. 35. 103 Vgl. zum Hellsehen auch Steiner, R. (GA 56), Vortrag vom 10.10.1907, S. 2528; Steiner, R. (GA 113), Vortrag vom 27.08.1909, S. 95. 104 Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 8.03.1906, S. 372; vgl. auch Steiner, R. (GA 11). 105 Steiner, R. (GA 194), Vortrag vom 22.11.1919, S. 38. 106 Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 22.03.1909, S. 256. 107 Steiner, R. (GA 131), Vortrag vom 11.10.1911, S. 170.

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Materie des (Auferstehungs-)Leibes Christi wie auch seine erlösende Funktion, den Menschen aus der Materialität zu erlösen, ihn zu seiner ›höheren Natur‹ zu führen, den Leib des Menschen selbst zu ›durchgeistigen‹. Erlösendes Wissen um Christus, ›helles Ich-Bewusstsein‹ und die Vergeistigung der Materie hängen in Steiners Weltbild hiernach zusammen. Um diesen Gedanken in Gänze verstehen zu können, sei an dieser Stelle das anthroposophisch spezifische Christusbild und die Erlösungsfunktion, die Christus im neognostischen Evolutionsmodell zukommt, skizziert (zum Evolutionsmodell im Einzelnen vgl. Kap. 5.6). In Steiners Christuskonzeption und ihrer zentralen Erlösungsfunktion werden christliche und gnostische Elemente verarbeitet. Hierbei unterscheidet Steiner die ›Christus-Wesenheit‹ von Jesus. ›Der Christus‹ wird als das »hohe Sonnenwesen«,108 der »hohe Sonnengeist«109 oder auch als »Lichtführer«110 vorgestellt. Er sei schon früher unter anderen Namen wie »Osiris« und »Ahura Mazdao« ›geschaut‹ worden.111 Erst nach der Taufe durch Johannes den Täufer habe sich ›der Christus‹ im menschlichen Leib Jesu inkarniert.112 Im Verlauf der ersten 30 Lebensjahre Jesu bedurfte es zunächst einer reinigenden ›Präparierung der Materie‹.113 Dieser Reinigungsprozess spielt auch in Steiners Inkarnationslehre von ursprünglich zwei Jesusknaben eine Rolle. Nach dieser sei, wie Strohm zusammenfasst, der eine Jesus »eine Inkarnation Buddhas, der andere eine Zarathustras gewesen«; im zwölften Lebensjahr wäre »die Zarathustra-Ichheit zum Buddha-Jesus übergewechselt«, der »Zarathustra-Jesus« dann gestorben.114 Die »Buddha-Kräfte« und die »Individualität des Zarathustra« modifizieren nach Steiner den ›Astralleib‹, den ›Ätherleib‹ und den ›physische Leib‹ des verbliebenen Jesusknaben qualitativ.115 Die christliche Konzeption einer fleischlichen Materialität Christi als »erlöste[r] Natur«116 ist hier anthroposophisch spezifisch durchgeistigt. Steiners Vorstellung vom Auferstehungsleib als »Geistleib«117 ähnelt dabei dem gnostischen Scheinleib. Dieser erscheint als ein rein geistiger, lichter, symbolisch weißer Leib, dessen ›geisteswissenschaftliche‹ Verwissenschaftlichung sich im Bild der »geistige[n] Zelle«118 andeutet. Und es ist eben dieser »unverwes108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118

Steiner, R. (GA 13), S. 395. Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 11.08.1908, S. 120. Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 22.03.1909, S. 252. Steiner, R. (GA 143), Vortrag vom 17.04.1912, S. 136. Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 131), Vortrag vom 12.10.1911, S. 185. Vgl. Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 14.08.1908, S. 174-176. Strohm, H. (1997), S. 85; Steiner, R. (GA 131), Vortrag vom 12.10.1911, S. 173-184. Vgl. Steiner, R. (GA 131), Vortrag vom 12.10.1911, S. 176, 181-182. Braun, C. v. (2001), S. 157. Steiner, R. (GA 131), Vortrag vom 12.10.1911, S. 187. Steiner, R. (GA 131), Vortrag vom 11.10.1911, S. 169.

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liche Leib«, der das »Ichbewußtsein« des Menschen durch Einverleibung heller werden lässt.119 Die grundlegende Erlösungsfunktion, die Christus im anthroposophischen Weltbild zugesprochen wird, hängt mit Steiners übergeordneter Krisenerzählung, d. h. mit der ›Krise der Materialisierung‹ zusammen, die dem anthroposophisch kosmologischen Evolutionsmodell eingeschrieben ist. Das Evolutionsmodell beschreibt verschiedene ›Stadien‹ der Menschheit (vgl. Kap. 5.6). Ursprünglich habe der Mensch danach als ›Geistkörper‹ existiert und erst allmählich seinen heutigen »Knochenleib«120 ausgebildet. Letzterer werde in der fernen Zukunft erneut vergeistigt. Die Krisenvorstellung ist hier als neognostische Welt- und Leibfeindlichkeit gekennzeichnet, denn die irdische ›verdichtete‹ Materie ist mit Begierden, Krankheit und Tod121 und die ›Verstrickung‹ in die Materie mit dem Sündenfall assoziiert.122 Nach Steiner musste sich die Menschheit jedoch um der Höherentwicklung willen in der ›dunklen‹ Materie verkörpern – um eine stufenweise Bewusstwerdung, verschiedene ›Wesensglieder‹ (dazu zählen der ›physische Leib‹, der ›Ätherleib‹, der ›Astralleib‹, das ›Ich‹)123 sowie einen zukünftigen Geistleib auszubilden.124 Die Erlösung durch Vergeistigung ist an die Materialisierung Gottes gebunden: »Er [Christus] ist erschienen auf dem Höhepunkt einer furchtbaren Krise, als die herabsteigende Entwickelungslinie der Menschheit im Begriffe war, ihren tiefsten Punkt in der Materialisierung zu erreichen. [...] Das Karma und der Christus sind der Inbegriff der ganzen Evolution.«125

Der irdisch gewordene Christus bringt nach Steiner die Sonnenkräfte auf die Erde zurück.126 Durch das Mysterium von Golgatha sei die menschliche Höherentwicklung – der Aufstieg von der »niederen« zur »höheren« Natur, die Überwindung von »Trieben, Begierden und Leidenschaften«127 – ermöglicht

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Steiner, R. (GA 131), Vortrag vom 11.10.1911, S. 170. Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 10.08.1908, S. 106. Vgl. Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 05.08.1908, S. 40. Vgl. Steiner, R. (GA 131), Vortrag vom 07.10.1911, S. 89. Neben ›physischem Leib‹, ›Ätherleib‹, ›Astralleib‹ und ›Ich‹ entstehen nach Steiner in der Zukunft ›Geistselbst‹, ›Lebensgeist‹ und ›Geistesmensch‹. Es findet sich zudem ein neungliedriges Gesamtsystem. Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 9); Steiner, R. (GA 11); vgl. auch Kap. 5.6. Näher dazu vgl. Steiner, R. (GA 56), Vortrag vom 09.04.1908, S. 285f.; Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 22.03.1909, S. 258; Steiner, R. (GA 127), Vortrag vom 03.05.1911, S. 155-164; Steiner, R. (GA 131), Vortrag vom 14.10.1911, S. 228; Steiner, R. (GA 133), Vortrag vom 14.05.1912, S. 109. Steiner, R. (GA 94), Vortrag vom 13.06.1906, S. 116. Vgl. Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 11.08.1908, S. 120f. Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 08.03.1906, S. 377.

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worden.128 D. h., das Wissen um Christus und die Einverleibung seines ›Geistleibs‹ erhellt nicht lediglich das ›Ich-Bewusstsein‹, sondern erlöst (perspektivisch) aus einem finsteren, symbolisch schwarzen materiellen Leib. Die Anthroposophie besitzt hiernach den Status einer ›Erlösungswissenschaft‹ in zweierlei Hinsicht: Erstens vermittelt sie das erlösende Wissen um Christus und zweitens transportiert sie gleichzeitig das kosmologische Erlösungswerk der Vergeistigung, d. h. der (erneuten) zukünftigen Lichtwerdung des Menschen. Vor dem Hintergrund des neognostischen Entwicklungsmodus erschließt sich auch Steiners Aussage: »Und wenn einmal die Wissenschaft so weit sein wird, daß sie lernen wird, an das Übersinnliche zu glauben und an den Satz: Materie ist irgendwie kondensiertes Licht –, dann wird von diesem Grundsatz aus ein geistiges Licht geworfen werden auf das systematische Suchen nach der Art, wonach mit äußeren Mitteln dem Menschen geholfen werden kann.«129

Zugang zum ›wahren‹ Naturverständnis vermittelt entsprechend Christus: »Wenn wir in der Natur das Seelische mitempfangen lernen mit der Sinnesanschauung, dann werden wir das Christus-Verhältnis zur äußeren Natur haben. Da wird das Christus-Verhältnis zu der äußeren Natur etwas sein wie eine Art geistigen Atmungsprozesses.«130

Es ist an dieser Stelle festzuhalten, dass Christus als ›Erkenntnisgröße‹ den Dreh- und Angelpunkt der anthroposophischen ›Geisteswissenschaft‹ markiert, über ihn die geistige Natur erfassbar und eine Transformation zur Vergeistigung ermöglicht wird. Schließlich geht mit dem anthroposophischen Erkenntnissystem einher, dass Steiner selbst als Hellseher und ›Menschheitsführer‹ den Status eines Licht bringenden Erlösers erhält.131 Verspricht die Anthroposophie einen ›egalitären‹ Zugang zur übersinnlichen Wahrheit, zu den ›geistigen Welten‹ und über sie zur äußeren sichtbaren Natur, postuliert Steiner also, dass jede/r zur hellseherischen Erkenntnis gelangen könne, so offenbart sich der zutiefst dogmatische und autoritäre Charakter eines absoluten übersinnlichen Wissens

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Vgl. Steiner, R. (GA 131), Vortrag vom 11.10.1911, S. 169f. Steiner, R. (GA 120), Vortrag vom 27.05.1910, S. 200. Steiner, R. (GA 194), Vortrag vom 30.11.1919, S. 113. Vgl. Steffen, A. (1948), S. 419; Steiner, M. (1948), S. 3; vgl. kritisch dazu u. a. Badewien (2006); Bierl, P. (1999), S. 27; Grandt, G./Grandt, M. (1998), S. 38-40; Tucholsky, K. (1990), S. 360-363; Weibring, J. (1998), S. 21; Zinser, H. (2006).

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nicht zuletzt in der reklamierten hellseherischen Deutungshoheit des Begründers der Anthroposophie: Wissen ist Glaube an Steiners Wahrheit.132

5.3.3 Ahriman: Geist der materialistischen Wissenschaft Steiners Anspruch auf übersinnliche Wahrheit, dem das Versprechen inhärent ist, die »reine[] Sprache der Natur« zu vermitteln, basiert auf der Vorstellung zu erhellen, was durch ›falsche‹ Erkenntnis verdunkelt ist: »Und heute haben wir in den meisten Fällen aus dem Grunde nicht die Möglichkeit, der Sprache der heilenden Natur zu gehorchen, weil die Verkennung des Lichtes, weil die Finsternis, die sich auch in die Erkenntnis hineingemischt hat, in vieler Beziehung Zustände herbeigeführt hat, welche es nicht gestatten, der reinen Sprache der Natur zu folgen.«133

In Gegenüberstellung zum spiritualistischen Wissen, das durch den anthroposophischen Christus erlangt werde, wird die ›materialistische Wissenschaft‹ von Steiner mit der aus dem iranisch zoroastrischen Dualismus übernommenen Figur des finsteren ›Ahriman‹ identifiziert. Religiöse Licht- und Finsternisgestalten werden demnach zu Markern eines ›wahren‹ und ›falschen‹ Wissens, wobei Steiner auch hier nicht allegorisch verfährt, sondern Ahriman als tatsächlich existente Wesenheit begreift.134 Ahrimans zeitgenössischer Impuls sei die Verbreitung des Glaubens an eine mechanisch-mathematische Erfassung des Weltalls, wie sie durch »Galileismus« und »Kopernikanismus« gegeben wurde.135 Die »Bibliotheken«, diese »›Konservenbüchsen der Weisheit‹«, seien ein »Förderungsmittel« für Ahriman, heißt es 1919.136 Durch »al132 Vgl. Zander, H. (2007), Bd. 2, S. 1683f.; Zinser, H. (2006). 133 Steiner, R. (GA 120), Vortrag vom 27.05.1910, S. 201. 134 Ahriman ist mit Satan und Mephistopheles gleichgesetzt, er wirke seit der ›atlantischen Zeit‹ und werde sich im dritten nachchristlichen Jahrtausend inkarnieren. Vgl. Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 22.02.1909, S. 241f., 245; Steiner, R. (GA 191), Vortrag vom 01.11.1919, S. 198. Ahriman stellt eine Ausdifferenzierung des luziferischen Prinzips dar. Vgl. Körner-Wellershaus, I. (1993), S. 476, Anm. 8. Die Gott-Zweiheit Ormazd (bei Steiner ›Ormuzd‹) und Ahriman wird von Sonne und Finsternis abgeleitet und auch als »die gute und die verneinende Gottheit« bezeichnet; das dunkle ahrimanische Prinzip ist in Anlehnung an gnostische Traditionen an die Materie geknüpft und erscheint als Widersacher zum geistigen Lichtgott Ormuzd. Vgl. Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 05.08.1908, S. 46; Steiner, R. (GA 104), Vortrag vom 20.06.1908, S. 80. Ahriman steht dabei jedoch in erster Linie für das »Materialistische, [...] Nüchterne und Trockene«, Luzifer demgegenüber für »das Phantastisch-Schwärmerische«. Steiner, R. (GA 194), Vortrag vom 12.12.1919, S. 164. 135 Vgl. Steiner, R. (GA 191), Vortrag vom 01.11.1919, S. 199f. 136 Steiner, R. (GA 191), Vortrag vom 01.11.1919, S. 208.

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lerlei raffinierte wissenschaftliche Mittel«, so Steiner bereits 1907, strebten die »ahrimanischen Geister unserer Zeit« danach, in der »Bewußtseinsseele« des »Menschen« zu »ertöten, verdunkeln das Bewußtsein, daß er ein Abbild der Gottheit ist«.137 Der Kampf gegen Ahrimans Wirken, die Überwindung des materialistischen Prinzips, wird im Bild der Auferstehung metaphorisiert: »Im Grunde genommen hat man heute kein anderes Symbolum, das treffend ist für das Osterfest, als dieses: Des Menschen ganzes Seelenschicksal ist gekreuzigt in der materialistischen Weltanschauung. Aber der Mensch selber, die Menschheit muß etwas tun, damit aus dem Grabe des Materialismus auferstehe dasjenige, was aus der übersinnlichen Erkenntnis kommen kann.«138

Die Bedeutung des Glaubens in Steiners geisteswissenschaftlichem Erkenntnissystem verdeutlicht sich, wenn er die Ablehnung des Glaubens an Christus und an die Auferstehung als ein »Unglück«139 bezeichnet. Der Atheismus, das Leugnen Gottes, sei eine Krankheit,140 die »Gottesleugner-Krankheit«,141 die Leugnung des Heiligen Geistes eine »Stumpfheit des eigenen Geistes«,142 Ausdruck von Widernatürlichkeit.143 Der Unglaube erkläre sich aus der Verstrickung des Menschen in die Materie, er paart sich mit der Lüge, welche mit Ahriman assoziiert ist.144 Die Konsequenz: »Wenn du eine Lüge sagst, bedeutet das in der übersinnlichen Welt eine Verfinsterung eines gewissen Lichtes [...]; und mit den Irrtümern löschest du Licht aus dem Makrokosmos aus.«145

Der Irrtum ist wiederum Sünde, gedeutet als Verführung der ›Schar ahrimanischen Geister‹ zur materialistischen Weltsicht.146

137 Steiner, R. (GA 182), Vortrag vom 09.10.1907, S. 151. Zum »umdunkelten Bewußtseine« und Ahriman vgl. auch Steiner, R. (GA 194), Vortrag vom 29.11.1919, S. 96. 138 Steiner, R. (GA 198), Vortrag vom 02.04.1920, S. 68f. 139 Steiner, R. (GA 182), Vortrag vom 16.10.1918, S. 162. 140 Vgl. Steiner, R. (GA 182), Vortrag vom 16.10.1918, S. 162. 141 Steiner, R. (GA 182), Vortrag vom 16.10.1918, S. 177, 179. 142 Steiner, R. (GA 182), Vortrag vom 16.10.1918, S. 162. 143 »Der Mensch trägt in sich jene Krankheit, die ihn aufreizt dazu, das Göttliche abzuleugnen, während es eigentlich in der Tat aus seiner Natur folgen würde, es anzuerkennen.« Steiner, R. (GA 182), Vortrag vom 16.10.1918, S. 177. 144 Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 22.03.1909, S. 248. 145 Steiner, R. (GA 131), Vortrag vom 13.10.1911, S. 197f. 146 Vgl. Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 22.03.1909, S. 245.

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»In alledem zum Beispiel, daß der Mensch sich der Illusion hingibt, mit der Materie sei das Richtige gegeben, haben wir Einflüsterungen des Ahriman, des Mephistopheles zu sehen.«147

1918 präzisiert Steiner: »Ahriman ist in Wahrheit der große Lehrer des materialistischen Darwinismus.«148 Die über die Figur des finsteren Ahriman vermittelte Kultur- und Wissenschaftskritik Steiners, die Abgrenzung vom dominanten naturwissenschaftlichen Denken seiner Zeit, markiert den Ausgangspunkt für eine okkultistische Wendung des Krisendiskurses der Moderne, über den sich das anthroposophische Erkenntnissystem als eine Art ›subkulturelle‹ ›Erlösungswissenschaft‹ konstituiert. Versteht Zander die Anthroposophie gegenüber der »hegemonialen Wissenskultur« des institutionalisierten Christentums und der institutionalisierten Wissenschaft als »minoritäre Kultur«,149 so werde ich im Folgenden herausstellen, dass jedoch bereits die anthroposophische Erkenntniskonzeption vom wahren und falschen Wissen substantiell mit einem hegemonialen Weißen Wissen verknüpft und somit als Bestandteil der zeitgenössischen hegemonialen Weißen Wissenskultur zu begreifen ist.

5 . 4 L e i d e n a m L o g o s a l s W e i ß e s P r i vi l e g – Christus-Impuls und weiße Haut Steiners Rede vom zeitgenössischen ›Materialismus‹, aus dem die Anthroposophie Erlösung verheißt, beschreibt eine exklusive Krisenrhetorik um die weiße ›Rasse‹ und die (Weiße) ›männliche Kultur‹. Denn das ›logische Denken‹ erscheint Steiner prinzipiell als Eigenschaft der »kaukasischen Rasse« als eigentlicher »Kulturrasse«.150 Die zeitgenössische ›Krise des Materialismus‹ sei im Einzelnen Ausdruck der (europäischen) »einseitige[n] Männerkultur«.151 Diese ›Männerkultur‹ steht für das abstrakte Denken, die ›materialistische‹ Wissenschaft, die Orientierung auf das Materielle, die ›äußere‹ Natur, den Verlust des Hellsehens, die Verdunklung okkulter Erkenntnis. ›Der Mann‹ repräsentiert hiernach durch den ihm zugeschriebenen ›Intellektualismus‹ einen Mangel an Spiritualität und eine gewisse Oberflächlichkeit der

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Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 22.03.1909, S. 248. Steiner, R. (GA 182), Vortrag vom 09.10.1918, S. 151. Zander, H. (2007), Bd. 1, S. 8. Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 09.11.1905, S. 144. Diese Charakterisierung leitet Steiner aus Entwicklungen in der ›atlantischen Zeit‹ her. Vgl. Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 09.11.1905, S. 145. 151 Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 128.

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materialistischen »äußeren Wissenschaft«.152 Hiermit verbunden ist eine Diskursfigur, die Elahe Haschemi Yekani in ihren literaturwissenschaftlichen Analysen hegemonialer Weißer Männlichkeitskonzepte um 1900 als ›Privileg der Krise‹153 beschrieben hat, und deren Hegemonie stabilisierende Effekte in einer Struktur von Krise und Überwindung liegen. Im Kontext der Anthroposophie basiert ein solches ›Privileg der Krise‹ auf einer Krisenvorstellung von Männlichkeit bzw. dem weißen ›Rassesubjekt‹ und der europäischen ›männlichen Kultur‹, die sich auf Rationalität bezieht. Danach ›leidet‹ der Weiße Europäer an dem ihm – gegenüber dem Außereuropäer – rassentheoretisch exklusiv zugeschriebenen ›Denkleben‹, das ihn zugleich als denkendes männliches Subjekt auszeichnet bzw. konstituiert: »[W]ir Europäer, wir armen Europäer haben das Denkleben, das im Kopfe sitzt.«154 In die ›Krise‹ gerät dabei nicht die sozio-politische hegemoniale Weiße Männlichkeit, sondern der männlich codierte Logos, der abstrakte Geist. Die Verteufelung der Schrift, der Abstraktion, des Intellekts, die Steiners Schriften durchzieht, kann als Ausdruck und spezifisch anthroposophische Wendung eines kultur- und zeitspezifischen Paradigmenwechsels verstanden werden, wie ihn Christina von Braun für das Ende des 19. Jahrhundert beschrieben hat: Vor dem Hintergrund, dass der »mediale Kollektivkörper« begann, »sich einen sinnlichen Leib zuzulegen«, war »das, wofür die Schrift auch stand – nämlich Abstraktion, Intellektualität und logos, also das ›Nichtsinnliche‹ – überflüssig, ja sogar zur Bedrohung geworden.«155 Diese ›Bedrohung‹ ist in der schwarzen Figur des Ahriman anschaulich verkörpert und mystifiziert. Und über diese farbsymbolische Figuration eines zum Problem gewordenen ›Intellektualismus‹ wird der Weiße Europäer im anthroposophischen Denkmodell letztlich mit symbolischer Schwärze belegt – eine Negativierung des nun verdunkelten Logos, die aber eben gleichzeitig eine rassentheoretische Privilegierung, nämlich die exklusive Fähigkeit des Weißen Europäers zur Vernunft und Abstraktion festschreibt. Dabei stellt das abstrakte, materialistische Denken im anthroposophischen Evolutionsmodell zudem, wie bereits angesprochen, eine entwicklungsbedingte Notwendigkeit dar.156 Im spiritualistischen Evolutionssystem Steiners bleibt es indes nicht nur das Privileg des Weißen Europäers, die kosmologisch als notwendig beschriebene zeitgenössische ›Krise des Materialismus‹ durchleiden zu ›dürfen‹, son152 »Und was er [der Mann] aufnimmt, das geht dann auch nicht tief. Ein äußerer Beweis dafür ist der, wie wenig tief die äußere Wissenschaft geht und wie wenig sie das Innere erfasst [...].« Steiner, R. (GA 120), Vortrag vom 26.05.1910, S. 179f. 153 Vgl. Haschemi Yekani, E. (2011); vgl. auch Haschemi Yekani, E. (2007). 154 Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 58. 155 Braun, C. v. (2001), S. 476. 156 Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 131), Vortrag vom 13.10.1911, S. 201-203.

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dern auch, sie Dank Christus zu überwinden. Die eurozentrische Strukturierung eines erlösenden Wissens verdeutlicht sich, wenn es 1916 heißt: »Wir Europäer sagen mit Recht: Dadurch, daß wir imstande sind, in unserem Geistesleben das Christus-Mysterium zu sehen, dadurch haben wir etwas voraus vor allen, zum Beispiel auch asiatischen, orientalischen Kulturen. Die haben in dem, was sie über den Geist wissen, das Christus-Wesen nicht drinnen. Ein Japaner, ein Chinese, ein Hindu, ein Perser, hat nicht das Christus-Wesen in seinem Denken über die geistigen Weltenzusammenhänge, und deshalb nennen wir mit Recht diese asiatische Weltanschauung eine atavistische, von früher hergekommene.«157

Die Aussage korrespondiert mit der 1923 postulierten These, der Europäer bilde »die Anthroposophie« gegenüber dem Außereuropäer »aus dem Geiste heraus aus«.158 Die exklusive Identifizierung des Europäers mit Christus159 und mit einer Geistigkeit, welche die anthroposophische Erkenntnis selbst zu einer spezifisch europäischen Sache werden lässt, relativiert bereits den eingangs zitierten Egalitätsanspruch, den die Anthroposophie formuliert. Das Privileg des Europäers, den erlösenden Christus-Impuls zu ›verkörpern‹, wird bei Steiner schließlich auch buchstäblich rassentheoretisch inszeniert: Denn in der weißen Haut, so Steiner, in einem Vortrag von 1915, fände der Christus sein »Gehäuse«.160 An diesen biologistisch-spiritualistischen Konstruktionszusammenhang schließt sich die Mission der weißen ›Rasse‹ an, die spirituelle Entwicklung voranzutreiben.161 Die Vorstellung lässt sich als okkultistische Reinszenierung eines säkularen, rassentheoretischen ›embodiment of the spirit‹162 verstehen. In der Identifizierung mit Christus, dem Erlöser, liegt die rassenspezifische Mission: »Und dieses Hinuntertragen, dieses Durchimprägnieren des Fleisches mit dem Geiste, das ist das Charakteristische der Mission, die Mission überhaupt der weißen Menschheit.«163 Steiner vertieft den Gedanken einer rassenspezifischen Fleischwerdung des Geistes in den darauf folgenden Passagen in Abgrenzung zur nicht-weißen Haut. Über diese dualistische Konstruktion wird nicht nur die weiße Haut als spiritualistischphysiologischer Sinnzusammenhang, sondern über den Begriff des ›Atavismus‹ ebenso der rassentheoretische Entwicklungsgedanke gestärkt: 157 Steiner, R. (GA 169), Vortrag vom 18.07.1916, S. 158. 158 Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 65. 159 So heißt es etwa auch: »In Europa war alles vorbereitet für den Christus.« Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 03.05.1909, S. 290. 160 Steiner, R. (GA 174b), Vortrag vom 13.02.1915, S. 37; vgl. u. a. auch KörnerWellershaus, I. (1993), S. 387. 161 Zur leitenden Funktion der »weißen Menschheit« in der ›fünften nachatlantischen Kulturepoche‹ vgl. u. a. Steiner, R. (GA 174b), Vortrag vom 13.02.1915, S. 37f. 162 Vgl. Dyer, R. (2006), S. 24f. 163 Steiner, R. (GA 174b), Vortrag vom 13.02.1915, S. 37.

254 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK »Und unsere Aufgabe muß es sein, mit denjenigen Kulturimpulsen uns bekanntzumachen, welche die Tendenz zeigen, den Geist einzuführen ins Fleisch, den Geist einzuführen in die Alltäglichkeit. Wenn wir dies ganz erkennen, dann werden wir uns auch klar sein darüber, daß da, wo der Geist noch als Geist wirken soll, wo er in gewisser Weise zurückbleiben soll in seiner Entwickelung – weil er in unserer Zeit die Aufgabe hat, ins Fleisch hinunterzusteigen –, daß da, wo er zurückbleibt, wo er einen dämonischen Charakter annimmt, das Fleisch nicht vollständig durchdringt, daß da weiße Hautfärbung nicht auftritt, weil atavistische Kräfte da sind, die den Geist nicht vollständig mit dem Fleisch in Einklang kommen lassen.«164

Wird der Lichtleib des ›Christus Jesus‹ in Steiners Denksystem als ›materielle‹ Inkarnation naturalisiert, so wird, wie diese Zitate zeigen, die weiße Haut – als ›materielles‹ Zeichen der Lichtgestalt Christi – in anthroposophischer Inszenierung farbsymbolisch re-sakralisiert. Damit verdeutlicht sich bei Steiner wörtlich das, was ich im Vorhinein als Prozess einer ›kulturellen Menschwerdung Gottes‹ im rassentheoretischen Denken bezeichnet habe. Man könnte ebenso von der Gleichzeitigkeit einer Rassisierung des Christusbildes und einer Vergöttlichung der weißen ›Rasse‹ sprechen. Dies veranschaulicht sich ebenso in Steiners Erläuterungen zur ›Farbe des Inkarnats‹, die er als Farbe des inkarnierten Christus und als ›gesunde Menschenfarbe‹ versteht. Hierbei erscheint die Farbe ›Pfirsichblüt‹ als farbliche Norm, welche statt der abstrakten Farbe Weiß den Anschein einer natürlichen, normativen Wirklichkeit der Hautfarbe des Menschen vermittelt.165 Die Konstruktion ist als erweiterte Naturalisierung und parallele Farbvariante in Steiners Konzeption von Weißsein zu verstehen. Die neognostische Identifizierung weißer Haut mit Christus, in der die farbsymbolische Konstruktionslogik über einen Sinnzusammenhang von Licht, Geist und der weißen Farbe des Lichts als Farbe Gottes und Christi buchstäblich abzulesen ist, lässt sich hiernach als Respiritualisierung der symbolischen Elemente lesen, die den historisch vorangegangenen rassentheoretischen Konstruktionen weißer Haut unterliegen. Die Farbe ›Pfirsichblüt‹ ist als Farbe des Inkarnats gleichsam göttlich aufgeladen.166 (Die Farbe des Inkarnats ist zudem in ›farbtheoretische‹ Konzeptionen eines ›Kosmischen Farbenkreises‹ integriert.167) 164 Steiner, R. (GA 174b), Vortrag vom 13.02.1915, S. 37f. 165 Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 207), Vortrag vom 24.09.1921, S. 42; Steiner, R. (GA 276), Vortrag vom 18.05.1923, S. 124f. 166 Die Inkarnatfarbe wird als Zeichen des Gottessohnes gegenüber dem Regenbogen als Zeichen der Vatergottschöpfung eingeführt. Vgl. Wiesberger, Hella/Proskauer Heinrich O. Die Inkarnatfarbe. In: Steiner, R. (GA 291a), S. 167. Im Vortrag »Über den geistigen Zusammenhang von Regenbogen und Inkarnat« heißt es dazu: »Wo wir in die Natur hineinblicken, erblicken wir gewissermaßen den ausgebreiteten Regenbogen als das Zeichen des Vatergottes. Blicken wir aber auf den Menschen: Das Inkarnat, es spricht aus des Menschen Inneren heraus, indem sich alle Farben durchdringen, aber Leben an-

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Deutlich wird hiermit auch, dass in Steiners spiritualistischem Evolutionsmodell, in dem die zukünftige Vergeistigung des gegenwärtigen Menschen das ferne Entwicklungsziel markiert, eine rassenspezifische Physiologie eingelagert ist, in welcher der Körper des Europäers/der weißen ›Rasse‹ auf gewisse Weise schon ›durchgeistigt‹ ist, d. h. eine geistig strukturierte Materie darstellt, die über den göttlichen Geist erfolgt (vgl. auch Kap. 5.7; 5.8; 5.9; 5.10). Ist das europäische ›Geistesleben‹, wie zitiert, durch ein Wissen um das ›Christus-Mysterium‹ zur Vorreiterrolle des Erlösungswerks privilegiert, so wird dieses erlösende Wissen um Christus zugleich ›körperlich‹ fassbar, manifestiert sich als Vorstrukturierung einer ›erlösten Natur‹ im weiß markierten Menschen, seiner geistig-göttlich strukturierten Haut(-farbe), eine vergeistigte Körperkonstruktion, der eine perspektivische Erlösung aus der Materie folgt. Die Vorstellung einer ›Einverleibung‹ des ›unverweslichen Leibes‹ Christi wird hier zu einer rassentheoretischen ›Verleiblichung‹. Der Missionsgedanke, der sich mit der weißen ›Rasse‹ verbindet, wird von Steiner schließlich auch über die konstatierte Führung der ›germanischen Völker‹ in ›unserer‹ Zeit, d. h. laut Steinerscher Zeitrechnung in der sogenannten ›5. nachatlantischen Kulturepoche‹, die vom Jahr 1413 bis zum Jahr 3573 reiche, völkisch differenziert: »Indem die eigentliche Mission der fünften Kulturepoche von dem germanischen Element übernommen worden ist, war dieses germanische Element dasjenige, welches für diese fünfte Kulturepoche das eigentliche Verständnis des Christentums im inneren Erringen in die Erdenevolution einzufügen hatte und noch haben wird.«168

Steiner bringt somit auch, wie an dieser Stelle zusammengefasst sei, zwei Arten des Wissens und zwei Arten des Geistes in seiner Konstruktion von Weißsein zusammen, die sich aus dem materialistischen und dem spirituellen Wissen, aus dem abstrakten und dem lebendigen Geist zusammensetzen, und die nehmen, lebendig werden in ihrem Sich-Durchdringen.« Steiner, R. (GA 207), Vortrag vom 24.09.1921, S. 42. »Wenn wir nun in einer gewissen Weise diese Farben [die Farben des Regenbogens] durcheinander tingieren würden, dann würden sie Leben annehmen. Dann werden sie gerade zu dem, was als die menschliche sogenannte Fleischfarbe, das Inkarnat, aus dem Menschen herausdringt.« Steiner, R. (GA 207), Vortrag vom 24.09.1921, S. 42. 167 Darin werden die vier Farben Weiß, Schwarz, Grün und die »Inkarnatfarbe«/»Pfirsichblüt« ins Verhältnis zueinander gesetzt. Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 276), Vortrag vom 20.05.1923, S. 132-134. 168 Steiner, R. (GA 174b), Vortrag vom 13.02.1915, S. 43. Hiermit korrespondiert, dass Steiner, wie Fenske bemerkt, ›den Christus‹ »verdeutscht«, indem er die ›Mission der Deutschen‹ mit der Vorstellung einer ›geistigen Geburt‹ Christi in Zusammenhang bringt. Vgl. Fenske, W. (2005), S. 22. Zu Steiners Vorstellung der ›Mission‹ und Führungsrolle der ›germanisch-nordischen Völker‹ vgl. u. a. auch Kap. 5.6; 5.7.

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den evolutionistischen Zusammenhang von Krise und Erlösung rassentheoretisch markieren. Die Figur des ›schwarzen Ahriman‹, Sinnbild des zu überwindenden abstrakten, materialistischen Denkens, mystifiziert und personifiziert dabei die anti-rationalistische Ausrichtung der Lebensreformbewegung, zu der die Anthroposophie gezählt werden kann, und spiegelt den zeitgenössisch verbreiteten Anti-Intellektualismus. Die antijüdischen Implikationen der Krisenerzählung vom ›Materialismus‹ zeigen sich, wenn Steiner den Juden eine »große Begabung für den Materialismus«169 zuschreibt – eine Konstruktion, die sich aus Steiners Identifizierung des jüdischen Vatergottes mit der finsteren Materie und dem Materialismus ergibt. Ilas Körner-Wellershaus fasst zu Steiners Charakterisierung des jüdischen Schöpfergottes treffsicher zusammen: »Der biblische Gott (Vaterprinzip) wird als göttlicher Vertreter des Prinzips der Sexualität, Vererbung und Blutszusammenhänge beschrieben. Das alles kennzeichnet Jahve schließlich als einen Steigbügelhalter der dämonischen Mächte, die die Regenten des Materialismus sind.«170

Das ›wahre Wissen‹ durch Christus ist hiernach immer ein Wissen der Überwindung des Judentums: Sei ›Jahve‹171 der »Regierer der Nacht«,172 der Vertreter der »Nachtoffenbarung« und »Nachterkenntnis«, so folge ihm die »Tagesoffenbarung« und »Tageserkenntnis«.173 Als ›Mondenreligion‹ ist das Judentum und mit ihm der jüdische Schöpfergott (den Steiner als Mondgottheit vorstellt174) durch das Sohnesprinzip, d. h. durch Christus als Sonnenprinzip zu überwinden. Der neognostische Überwindungsgedanke wird 1924 präzisiert, wenn es heißt, in »Judas« habe sich die »ganze materielle Zeit« inkarniert, die »das Spirituelle verdunkelt und verdüstert« – Christus werde »durch seinen Tod der Erlöser der materiellen Zeit«.175 Hiermit werden schließlich zeitgenössisch antisemitische Konstruktionen, die den ›abstrakten Geist‹ als 169 Steiner, R. (GA 353), Vortrag vom 12.03.1924, S. 78. 170 Körner-Wellershaus, I. (1993), S. 463; vgl. Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 08.08.1908, S. 93f., Vortrag vom 10.08.1908, S. 95-106. Zum »Geist-, Sohnund Vater-Prinzip« vgl. Steiner, R. (GA 131), Vortrag vom 05.10.1911, S. 44. 171 Den jüdischen Vatergott nennt Steiner wahlweise auch ›Jehova‹, ›Vatergott‹, ›Einen der sieben Elohim‹ oder ›den Elohim‹. Vgl. Körner-Wellershaus, I. (1993), S. 313. 172 Steiner, R. (GA 194), Vortrag vom 22.11.1919, S. 36. 173 Steiner, R. (GA 194), Vortrag vom 30.11.1919, S. 110. Die Entwicklung des »Tagesbewusstseins« sei Resultat einer Transformation »Michaels« vom Nacht- zum Taggeist, der sich von »Jahve«, dem »Regierer der Nacht«, emanzipiert. Vgl. Steiner, R. (GA 194), Vortrag vom 22.11.1919, Vortrag vom 22.11.1919, S. 38. 174 Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 152), Vortrag vom 02.05.1913, S. 35. 175 Steiner, R. (GA 93a), S. 66.

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(falschen) ›Intellektualismus‹ im jüdischen ›Anderen‹ verorten,176 im anthroposophisch neognostischen Krisen- und Erlösungsmodell in Richtung eines ›falschen‹ Geistes des Materialismus gewendet.177 Steiners Abwertung der Abstraktion schließt zugleich an christlich antijudaistische Tradition an, wie sein Appell, das »tote«, »abstrakte Denken«178 gelte es, durch Christus wiederzubeleben,179 verdeutlicht. Hierbei zeigt sich auch eine anthroposophische Modifizierung paulinischer Lehre (2. Kor 3,6), wenn es heißt: »Darauf kommt es nicht an, was da für Worte stehen, sondern, aus welchem Geiste heraus sie sind. Nicht Worte wollen wir mit der Anthroposophie verbreiten, sondern einen neuen Geist, den Geist allerdings, der der Geist des Christentums vom 20. Jahrhundert ab sein muß.«180

Im Jahr 1888, also noch vor seiner Hinwendung zur Theosophie, spricht Steiner von einer »jüdischen Denkweise« und bezeichnet das »Judentum« als »Fehler der Weltgeschichte«: »Es ist gewiß nicht zu leugnen, daß heute das Judentum noch immer als geschlossenes Ganzes auftritt und als solches in die Entwickelung unserer gegenwärtigen Zustände vielfach eingegriffen hat, und das in einer Weise, die den abendländischen Kulturideen nichts weniger als günstig war. Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, und daß es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten. Wir meinen hier nicht die Formen der jüdischen Religion allein, wir meinen vorzüglich den Geist des Judentums, die jüdische Denkweise.«181

In Steiners okkultistischer Weltdeutung kehrt eine spezifische ›jüdische Denkweise‹ – wenn auch nicht dezidiert begrifflich als solche gefasst – mit der Vorstellung einer besonderen ›Begabung‹ der Juden für den Materialismus wieder. In seinem kosmologisch-spiritualistischen Evolutionsmodell erscheint das Judentum dabei weniger als ›Fehler‹, sondern erfüllt vielmehr seine ›Mission‹ im Monotheismus – eine Stufe, die jedoch überwunden sei und die »Assimilation«, wie Steiner 1924 ausführt, zur Zwangsläufigkeit erhebt.182 176 Vgl. Braun, C. v. (2001), S. 466-477. 177 Zu Steiners Assoziierung des Judentums mit dem Materialismus vgl. auch Sonnenberg, R. (2009b), S. 47-49. 178 Steiner, R. (GA 211), Vortrag vom 15.04.1922, S. 169. 179 Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 211), Vortrag vom 15.04.1922, S. 169-181. 180 Steiner, R. (GA 182), Vortrag vom 16.10.1918, S. 188. 181 Steiner, R. (GA 32), S. 152. Zitiert und problematisiert in Ausschnitten u. a. auch in: Sonnenberg, R. (2004); Sonnenberg, R. (2009b), S. 33-35; Zander, H. (2001), S. 320. 182 Vgl. Steiner, R. (GA 353), Vortrag vom 08.05.1924, S. 203; vgl. auch Zander, H. (2001), S. 320.

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Es liegt so auch nahe, diese Vorstellungen Steiners mit der bei Carus vorzufindenden Aussage, dass die ›Mission‹ des Judentums mit dem Erscheinen Christi erfüllt sei, in Zusammenhang zu bringen (vgl. Kap. 4.3.4). Finden sich bei Steiner teilweise auch Aussagen gegen den (politisch motivierten, völkisch-rassistischen) Antisemitismus,183 so sind die antijüdischen Implikationen dennoch Bestandteil der anthroposophischen Krisen- und Erlösungsgeschichte, in welcher das Judentum als zu überwindendes Element erscheint. Die unterlegte Geschlechtssymbolik der Steinerschen Überwindungsgeschichte des Judentums durch das Christentum ist über die Licht-FinsternisSymbolik strukturiert: Der jüdische Schöpfergott, degradiert zu einer demiurgischen, weiblich codierten ›Mond‹- und ›Nachtgottheit‹, wird durch Christus, den ›hohen Sonnengeist‹, als ›wahrem‹ männlichen Lichtprinzip überwunden. Zugleich liegt in der Konstruktion das Paradox einer doppelten Geschlechtssymbolik: Denn ist ›Jahwe‹ als (Mond-)Gott der ›Blutszusammenhänge‹, d. h. eben auch über das Prinzip der Materie, symbolisch weiblich identifiziert,184 so repräsentiert das Judentum über den Materialismus einen als ›falsch‹ gewerteten (abstrakten) ›männlichen‹ Geist, der dem Materiellen, dem Glauben an die ›äußere‹, materielle Natur, verhaftetet ist. Mit Blick auf den selbstreferentiellen Krisendiskurs um hegemoniale Weiße Männlichkeit lässt sich vor diesem Hintergrund ein Konstruktionszusammenhang ausmachen, der das zu überwindende Eigene – den Materialismus – partiell im jüdischen ›Anderen‹ verortet und externalisiert. Die Identifizierung der germanischen Völker mit Christus wendet zeitgenössische Diskurse um eine Arisierung Christi185 zum spiritualistischen Heilsversprechen.

183 Vgl. Sonnenberg, R. (2009b), S. 31, 44f. Sonnenberg verweist hier u. a. auf Steiner, Rudolf. 1900. Ahasver. In: Magazin für Literatur, 69. Jg., Nr. 35. In: Steiner, R. (GA 31), S. 378-381; Steiner, Rudolf. 1901. Verschämter Antisemitismus. In: Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus, II. Jg., Nr. 46-48. In: Steiner, R. (GA 31), S. 398-414. So positionierte sich Steiner um die Jahrhundertwende etwa mit folgenden Worten gegen den zeitgenössischen Antisemitismus: »Für mich hat es nie eine Judenfrage gegeben. Mein Entwicklungsgang war auch ein solcher, daß damals, als ein Teil der nationalen Studentenschaft Österreichs antisemitisch wurde, mir das als eine Verhöhnung aller Bildungserrungenschaften der neuen Zeit erschien. Ich habe den Menschen nie nach etwas anderem beurteilen können als nach den individuellen, persönlichen Charaktereigenschaften, die ich an ihm kennenlerne. Ob einer Jude war oder nicht: das war mir immer ganz gleichgültig. Ich darf wohl sagen: diese Stimmung ist mir auch bis jetzt geblieben. Und ich habe im Antisemitismus nie etwas anderes sehen können als eine Anschauung, die bei ihren Trägern auf Inferiorität des Geistes, auf mangelhaftes ethisches Urteilsvermögen und auf Abgeschmacktheit deutet.« Steiner, R. (GA 31), S. 378f. 184 Zur Verweiblichung des Judentums und des Juden vgl. auch Steiner, R. (GA 353), S. 78. 185 Vgl. Fenske, W. (2005).

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Zur Überwindung des Materialismus als Ausdruck der europäischen ›Männerkultur‹ werden wiederum symbolische Bilder von Weiblichkeit aufgerufen, einer Weiblichkeit indes, die nicht zu überwinden, sondern, wie im Folgenden gezeigt wird, sich als erlösende Weiblichkeit anzueignen ist.

5.5

E r l ö s e n d e W e i b l i c h k e i t u n d As ym m e t r i e n o r m a t i ve r G e s c h l e c h t e r »Und wer Mann ist, der weiß, was für ein schwieriges Instrument das Mannesgehirn oftmals ist. Es bildet furchtbare Hindernisse, wenn man es für biegsamere Gedankengänge brauchen will. Da will es nicht mitgehen. Es muß erst mit allen möglichen Mitteln herangebildet werden, um sich aus der Steifigkeit zu erlösen.«186

Steiners Rede von der Krise der einseitigen – intellektualistischen – ›Männerkultur‹ durchzieht insgesamt eine Rhetorik der ›Ganzheitlichkeit‹, in der Weiblichkeit als Symbol der Seele und des spirituellen Wissens eine erlösende Funktion besitzt. Zeitgenössische Matriarchatsmythen,187 das gnostisch androgyne Gottesbild188 und der platonische Geschlechter-Mythos kennzeichnen in anthroposophischer Umdeutung diese ›ganzheitliche‹ Überwindung. ›Die Frau‹ wird in Anschluss daran zur Trägerin des okkulten Wissens, oder gar, in Gestalt der Okkultistin Helena P. Blavatsky, zur ›Gebärerin‹ der wahren »geistigen Kultur«.189 In diesem Sinne ist das anthroposophische Wissenssystem substantiell mit einer Aufwertung symbolischer Weiblichkeit verbunden. Ihren anthroposophischen Ursprungsmythos erhalten die Mystifikationen einer erlösenden Weiblichkeit in den fiktiven Urzeiten ›Lemurien‹ und ›Atlantis‹, die in Steiners kosmologisch-spiritualistischem Evolutionsmodell als vergangene menschheitsgeschichtliche ›Bewusstseinsstadien‹ gelten (vgl. Kap. 5.6; 5.7). Dabei entwirft Steiner eine ›mutterrechtliche‹ Vorzeit,190 die mit der Inszenierung einer ursprünglichen Einheit von Mensch, Natur und göttlichen Wesen verbunden ist,191 und in der die Vermittlung göttlichen Wissens als unbewusster Prozess verstanden wird. Steiner bemüht hier den Topos

186 Steiner, R. (GA 120), Vortrag vom 26.05.1910, S. 179. 187 Zur kritischen Bearbeitung vgl. Lanwerd, S. (1993); Schnurbein, S. v. (1993); Schnurbein, S. v. (1997); Stephan, I. (1997), S. 37-59. 188 Vgl. Zimmermann, R. (2001). 189 Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 130. 190 Vgl. dazu auch Zander, H. (2007), Bd. 1, S. 626f. 191 Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 11), S. 69.

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der weisen Frauen und Priesterinnen.192 Diese sind durch das dunkle Geheimnisvolle (der Natur und der Seele) gekennzeichnet und erscheinen als Medium höherer geistiger Wesenheiten, welche die Entwicklung lenkten.193 Aufgerufen werden somit zeitgenössischen Matriarchatsmythen, wie sie Johann Jakob Bachofen popularisiert hatte,194 und ebenso spiegeln sich Diskurse um weibliche Medien.195 Es scheinen zugleich die bei Carus zu findenden idealistischen Vorstellungen einer erlösenden Weiblichkeit auf, die aus der konstatierten Nähe der Frau zum dunklen unbewussten Göttlichen der Natur hergeleitet werden (vgl. Kap. 4). Allgemein knüpft die erlösende Funktion von Weiblichkeit im anthroposophischen Kontext an den gnostischen und christlichen Geist-Seele-Dualismus an, den Steiner auch unter Rückgriff auf Goethe veranschaulicht: »Immer wird in allen Geheimlehren das höhere Bewußtsein, das der Mensch erlangen soll, dargestellt als das Weibliche, als die Seele. Dasjenige, was von außen aufgenommen wird, was die Seele befruchtet, das wird als das Männliche dargestellt. Wir haben da also die weibliche Seele, die befruchtet wird von der Weisheit, von dem Geist der Außenwelt. So rückt der Mensch auf, wenn er sich geistig entwickelt, bildlich gesprochen, zu dem höheren Weiblichen in seiner Natur. Das ist das, was Goethe meint, wenn er sagt: ›Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan‹.«196

In Steiners Rede von der erlösenden »Gretchen-Seele«197 wird die literarische, in seiner Charakterisierung der Frau durch – innere – »Aufopferung« und »Hingabe«198 die soziale Struktur einer ›Feminisierung des christlichen Heilsopfers‹ deutlich, die sich seit 1800 vollzieht.199 In Steiners Interpretation des »Faust« impliziert dies eine Feminisierung des Erlösers: Demnach wirke auf

192 Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 11), S. 68. 193 Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 11), S. 65-69. 194 Konkrete Bezugnahmen auf Johann Jakob Bachofens Schrift »Das Mutterrecht« (1861) (vgl. Bachofen, J. J. (1975)) sind bei Steiner nicht zu finden. Nach Weibring spricht Steiner auch an keiner Stelle von »Matriarchaten« (vgl. Weibring, J. (1998), S. 18), was die Volltextsuche in der Rudolf Steiner Gesamtausgabe bestätigt. Vgl. http://rsv.arpa.ch/cgi-bin/auth.cgi. (Recherchestand: 03.12.07). Der fehlende Quellenverweis auf Bachofen ist vor dem Hintergrund der mageren Quellenangaben in Steiners okkultistischem Werk jedoch nicht unbedingt erstaunlich und spricht nicht gegen den Einfluss zeitgenössischer Diskurse auf Steiners ›mutterrechtliche‹ Vorstellungen. Vgl. dazu auch Zander, H. (2007), Bd. 1, S. 626f. 195 Vgl. u. a. Panesar, R. (2005), S. 296. 196 Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 8.03.1906, S. 385; vgl. auch Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 130. 197 Steiner, R. (GA 272), Vortrag vom 16.08.1915, S. 190. 198 Steiner, R. (GA 56), Vortrag vom 18.03.1908, S. 94. 199 Vgl. Braun, C. v. (2001), S. 402-405.

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Faust das weibliche Element des Christus erlösend.200 Dieser doppelgeschlechtlichen Potenz Christi entspricht eine allgemeiner formulierte Macht des Geistes, als geschlechtliches ›Ausgleichsprinzip‹ zu fungieren.201 Im Konzept der Doppelgeschlechtlichkeit liegt eine Sehnsucht nach ›Ganzheitlichkeit‹, die Steiners normativen Geschlechterkonstruktionen inhärent ist. Die folgenden Abschnitte werden illustrieren und aufzeigen, dass die symbolische Aufwertung von Weiblichkeit in Steiners Krisenerzählung der ›männlichen Kultur‹ gerade nicht, wie verschiedentlich interpretiert wurde, mit einem antisexistischen Modell der sozialen Geschlechter einhergeht,202 sondern vielmehr einem dualistisch asymmetrischen Konstruktionsmechanismus folgt. Dennoch ist sicherlich gerade in der Rhetorik um eine erlösende Funktion von Weiblichkeit einer der Attraktionsmomente zu sehen, welcher die Bedeutung und die große Anzahl von Frauen unter der Anhängerschaft Steiners erklärt,203 und Steiners Ansätze für Teile eines ›spirituellen‹, differenztheoretischen Feminismus bis heute interessant macht.204 Steiners Vorstellung der Ergänzung der ›männlichen Kultur‹ durch ›Weiblichkeit‹ reagiert auf zeitgenössische Geschlechterdebatten. Nicht zuletzt hatte die bürgerliche Frauenbewegung eben diese Forderung als Einbringung ›weiblicher Fähigkeiten‹ in die Gesellschaft reklamiert.205 Der »Frauenfrage« widmet sich Steiner explizit in einem gleichnamigen Vortrag 1906206 sowie in einem Vortrag von 1908.207 Kritisiert werden hier die zeitgenössisch einschlägigen anthropologischen, sexualwissenschaftlichen, medizinischen und kriminologischen Arbeiten, u. a. von Rudolf Virchow, Paul Möbius, Havelock Ellis, Cesare Lombroso sowie der Philosophen Theodor Gottfried von Hippel und Friedrich Nietzsche, die Steiner anführt, um die widersprüchlichen Urteile über die Frau aufzuzeigen.208 »So könnten wir viel reden und auf der einen Seite diejenigen Urteile verzeichnen, die der Frau alle passiven, alle schwachen Eigenschaften zuschreiben, auf der andern Seite jene, die das gerade Gegenteil sagen.«209

200 201 202 203 204 205 206 207 208

Vgl. Steiner, R. (GA 272), Vortrag vom 16.08.1915, S. 190f. Vgl. Steiner, R. (GA 11), S. 77f. So u. a. proklamiert von Eggert, M. (2001); Müller, D. (1994). Vgl. Zander, H. (2007), Bd. 1, S. 392-395. U. a. vertreten von Müller, D. (1994). Vgl. u. a. Gerhard, U. (1995), S. 263. Vgl. Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906. Vgl. Steiner, R. (GA 56), Vortrag vom 18.03.1908. Vgl. Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 111f.; vgl. auch Steiner, R. (GA 56), Vortrag vom 18.03.1908, S. 91f. 209 Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 112.

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Steiner konstatiert, dass Frauen »gegen die Meinungen der Männerwelt« ihre Kompetenz in »männlichen Berufen« bewiesen hätten,210 und weist physiologische Thesen, die, wie Möbius, einen Zusammenhang von Gehirngröße und angeblicher geistiger Unterbemittlung der Frau vertreten, als falsch zurück.211 Diese liberale Position Steiners zur Frauenfrage hat Juliane Weibring durch den Einfluss der Frauenrechtlerin Rosa Mayreder erklärt,212 auf deren Schrift »Zur Kritik der Weiblichkeit« (1905) Steiner im besagten Vortrag verweist.213 Es finden sich hier ebenso Forderungen nach einer klassenspezifischen Verhandlung der Frauenfrage und Ansätze einer Historisierung der ›Männerkultur‹ – die allerdings in die Schlussfolgerung münden: »Dasjenige, was heute in den arbeitenden Ständen eigentlich die Frauenfrage geworden ist, das ist sie dadurch geworden, daß in den letzten Jahrhunderten, und namentlich im letzten Jahrhundert unsere Kultur im eminenten Sinne eine Männerkultur geworden ist. Das Maschinenzeitalter ist ein Produkt der Männerkultur [...] In die Fabrik paßt die Frau nicht hinein, und es ergeben sich ganz andere Kalamitäten, als wenn sie im Wirtschaftshofe, im Hause oder im alten Gewerbe als Leiterin, Übernehmerin oder als mittätige Person beschäftigt ist.«214

Die Frau wird hier als ›Hüterin des Hauses‹ und der traditionellen Familienbetriebe eingeführt und erscheint als solche als Gegenpol zur ›maschinellen‹, rationalistischen ›Männerkultur‹. Dabei ist der klassenspezifische Aspekt antiemanzipativ gewendet. Steiner geht es zudem mit seinen übersinnlichen Geschlechterkonstruktionen nicht um eine Fundamentalkritik am Biologismus. Er kritisiert die rein materialistische Perspektive und entwirft schließlich ganz eigene Formen eines anthroposophischen Biologismus. Dies zeigt sich u. a., wenn der dem Mann zugeschriebene Intellektualismus aus der Physiologie des Gehirns heraus erklärt wird: »Was als Intellektualismus des Mannes zu bezeichnen ist, das kommt von seinem steiferen, verfestigten Gehirn. Man könnte dabei von einem gewissen Grade von ›Eingefrorenheit‹ des Gehirns sprechen. Es muß erst auftauen, wenn es sich in feinere Gedankengänge hineinfinden soll. Dadurch aber wird der Mann veranlaßt, mehr die Äußerlichkeiten zu erfassen, weniger von denjenigen Erlebnissen aufzunehmen, die mit den Tiefen des Seelenlebens zusammenhängen.«215

210 211 212 213 214 215

Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 109. Vgl. Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 108f. Vgl. Weibring, J. (1998), S. 17-24. Vgl. Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 111. Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 116. Steiner, R. (GA 120), Vortrag vom 26.05.1910, S. 179.

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Demgegenüber werden der sprichwörtlich ›weichere‹ Charakter der Frau und die ihr als Medium und als Repräsentantin der Seele zugeschriebene Affinität zur übersinnlichen Geistigkeit zum körperlichen Symptom: »Das ist das Charakteristische der Frauennatur, daß sie mehr zurückbehält von freier Geistigkeit und sich daher weniger in die Materie hineinarbeitet und vor allem das Gehirn weicher hält. Daher ist es nicht zu verwundern, daß die Frauen für Neues, insbesondere auf geistigem Gebiete, eben eine besondere Neigung haben, weil sie das Geistige freier behalten haben und weil weniger Widerstand da ist.«216

Wiederum lässt sich hier eine Brücke zu Carus schlagen, d. h. zu dessen Gedanken, der Mann würde, »wenn er über das Bewußte das Unbewußte ganz aufgeben will und in einer einseitigen egoistischen oder bloß weltlichen Richtung sein geistiges Leben zu einer gewissen Starrheit kommen läßt, weit hinter der Lebendigkeit und Bildsamkeit des Weibes zurückbleiben.«217

Die sprichwörtliche ›Starrheit‹ wird bei Steiner buchstäblich im ›verfestigten‹, ›steifen‹ Gehirn manifest. Grundlegend basieren die anthroposophischen Geschlechterkonstruktionen auf dem platonischen Androgyniemythos, den Steiner verschiedentlich differenziert: Danach geht Steiner von einer ursprünglichen Doppelgeschlechtlichkeit des einzelnen Menschen aus: »[U]nd Sie werden finden, wie er [Plato] auf eine Zeit hinweist, in der es noch nicht Mann und Weib gab, indem der Mensch noch Mann und Weib zugleich war.«218 Die im Zuge der kosmologischen Evolution erfolgende »Trennung der Geschlechter«219 wird als krisenhaft skizziert, insofern sie ein Resultat der kosmologischen Krise der ›Verdichtung der Stoffe‹ sei.220 Hiermit konkretisiert sich die neognostische Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit, die in das Ideal einer perspektivischen Übergeschlechtlichkeit des vergeistigten Menschen der Zukunft mündet.221 Auch heute habe allerdings die Frau »im Innern männliche Eigenschaften, der Mann weibliche.«222 Dies führt zunächst zur Infragestellung einer statischen Natur der Geschlechter: »Angesichts dieser Tatsache aber hört die Möglichkeit auf, im strengen Sinne des Wortes von Mann und Weib zu sprechen, son-

216 217 218 219 220 221 222

Steiner, R. (GA 120), Vortrag vom 26.05.1910, S. 179. Carus, C. G. (1846), S. 258. Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 01.03.1906, S. 348. Vgl. u. a. das gleichnamige Kapitel in: Steiner, R. (GA 11), S. 74-86. Vgl. Steiner, R. (GA 11), S. 76. Vgl. Steiner, R. (GA 54), S. 130f. Steiner, R. (GA 56), Vortrag vom 18.03.1908, S. 94.

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dern man muß sprechen von männlichen und weiblichen Eigenschaften.«223 Diese anthroposophische Flexibilisierung geschlechtlicher Identitäten ist vor dem zeitgenössischen Hintergrund sexualwissenschaftlicher Ansätze zur ›Doppelgeschlechtlichkeit‹, zu Bi- und Homosexualität224 ebenso wie vor dem Hintergrund psychoanalytischer Bisexualitäts-Konzepte Sigmund Freuds und den psychologischen Anima-Animus-Konzepten C. G. Jungs225 zu lesen – wissenschaftliche Geschlechterdiskurse also, welche zeitgleich zu Steiners spiritualistischen Geschlechterkonstruktionen kursieren.226 Nicht nur die neognostische Herleitung, sondern auch das anthroposophische Leibkonzept, wonach sich der gegenwärtige Mensch, wie bereits erwähnt, aus vier ›Wesensgliedern‹ (dem ›physischem Leib‹, ›Ätherleib‹, ›Astralleib‹ und ›Ich‹) zusammensetzt, markiert jedoch die okkultistische Spezifik der Steinerschen Entwürfe. So heißt es: »Beim männlichen Geschlecht ist der Ätherleib weiblich, beim weiblichen Geschlecht männlich.«227 Und repräsentiert die Frau die Seele, so sei die Seele selbst »männlich und weiblich zugleich.«228 Hieraus resultiert: »Man kann nun sagen, daß der männliche Leib eine weibliche Seele, der weibliche Leib eine männliche Seele hat. Diese innere Einseitigkeit im Menschen wird nun durch die Befruchtung mit dem Geiste ausgeglichen.«229

Die Bestimmung der normativen Geschlechtscharaktere ist hingegen von einer schlichten Eindeutigkeit gekennzeichnet: »Psychisches und Emotionelles bei der Frau, intellektuelle und materialistische Momente beim Mann – so werden sie durch ihre Naturen geradezu bestimmt«,230 heißt es 1910. Und 1908 konstatiert Steiner: »Der Mann geht, wenn er sich zum Schaffen erhebt, in dem auf, was draußen ist. Die Frau wirkt in hingebungsvoller Passivität in der Welt.«231 Die Wirkungsweise einer konstitutiven Doppelgeschlechtlichkeit irritiert also nicht, sondern stabilisiert letztlich die hegemoniale Geschlechterordnung. Der Aktiv-Passiv-Modus ist nur vermeintlich umcodiert:

223 Steiner, R. (GA 56), Vortrag vom 18.03.1908, S. 94. 224 Vgl. u. a. die sexualwissenschaftlichen Arbeiten von Hirschfeld, M. (1994); Hirschfeld, M. (1984). 225 Kritisch zu C. G. Jungs Geschlechterkonstruktionen vgl. Stephan, I. (1997), S. 37-60; Glawion, S. (2007). 226 Auf sexualwissenschaftliche Debatten verweist auch Zander, H. (2007), Bd. 1, S. 401f. 227 Steiner, R. (GA 56), Vortrag vom 18.03.1908, S. 94; vgl. auch Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 127f. 228 Steiner, R. (GA 11), S. 75. 229 Steiner, R. (GA 11), S. 77f. 230 Steiner, R. (GA 120), Vortrag vom 26.05.1910, S. 177. 231 Steiner, R. (GA 56), Vortrag vom 18.03.1908, S. 94.

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»Daher wird in bezug auf diejenigen Leidenschaften, die gerade am Ätherleib hängen: Hingebung, Tapferkeit, Liebe, die Frau offenbar männliche Charaktereigenschaften zeigen können und der Mann manchmal recht weiblich erscheinen. Dagegen mit Bezug auf alle Charaktereigenschaften, die mehr am physischen Leib hängen, da wird sich im äußeren Leben die Konsequenz des Geschlechts ausleben.«232

Das bedeutet dann im Einzelnen: »Wenn also der Mann durch seine äußere Körperlichkeit beispielsweise zum Krieger wird, indem diese äußere Tapferkeit gebunden ist an die äußere Organisation seines Körpers, so hat die Frau die innere Tapferkeit, die Fähigkeit der Aufopferung, der Hingabe.«233

Zeitweise ›Erlösung‹ aus diesen dualistisch asymmetrisch konzipierten Geschlechtsidentitäten verheißen Karma und Wiedergeburt, wonach die geschlechtlichen Inkarnationen wechseln.234 Insgesamt bleibt die ›männliche Kultur‹ kosmologisch sinnhaft: »Es hat der Mann eine große Rolle gespielt, weil der Materialismus zur äußeren Kultur hindrängte. Diese äußere Kultur ist eine Männerkultur, weil sie eine materielle Kultur sein sollte.«235 Der Konsequenz nach kann die Frau nachholen, was der Mann schon hinter sich hat: »So wird im Weibe allmählich ein ähnliches Bewußtsein erwachen, wie während der Männerkultur im Mann erwacht ist.«236 Die notwendige Aneignung von Weiblichkeit erweist sich als Bewusstwerdung des Mannes um seine eigene Seele, die ›Männerkultur‹ ist um das dunkle geheimnisvolle, das mystische Element, welches das ›Weib‹ als Seele, als Medium des Übersinnlichen repräsentiert, zu ergänzen.237 Der hegemoniale Weiße Mann wird, so kann geschlussfolgert werden, durch Weiblichkeit erlöst, selbst jedoch – als leitender und leidender Krisenüberwinder – zum Welterlöser.

232 233 234 235 236 237

Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 128. Steiner, R. (GA 56), Vortrag vom 18.03.1908, S. 94. Vgl. Steiner, R. (GA 120), Vortrag vom 26.05.1910, S. 178-181. Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 128. Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 130. »Aber wir müssen uns klar sein, daß auch in der weltgeschichtlichen Entwickelung sich die Kulturepochen ablösen, und daß diese einseitige Männerkultur ihre Ergänzung finden muß durch dasjenige, was ja in jedem Manne lebt. Das hat man gerade in der Zeit der Männerkultur empfunden. Daher haben auch die Mystiker, wenn sie aus dem Tiefsten ihrer Seele sprachen, diese Seele als etwas Weibliches bezeichnet. Daher finden Sie überall den Vergleich der für die Welt empfänglichen Seele mit dem Weibe [...].« Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 128.

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5 . 6 K o s m o l o g i s c h e s E vo l u t i o n s m o d e l l 5.6.1 Schematischer Überblick238 Saturnzustand/ Der alte Saturn Sonnenzustand/ Die alte Sonne Mondenzustand/ Der alte Mond Erdenzustand/ Die Erde 1. Polarisches Zeitalter/ Polarische Wurzelrasse 2. Hyperboräisches Zeitalter/ Hyperboräische Wurzelrasse 3. Lemurisches Zeitalter/ Lemurische Wurzelrasse 4. Atlantisches Zeitalter/ Atlantische Wurzelrasse 1. Atlantische Kulturepoche/ 1. Unterrasse/Rmoahls 2. Atlantische KE239/ 2. Unterrasse/Tlavatli-Völker 3. Atlantische KE/ 3. Unterrasse/Tolteken 4. Atlantische KE/ 4. Unterrasse/Ur-Turanier 5. Atlantische KE/ 5. Unterrasse/Ur-Semiten 6. Atlantische KE/ 6. Unterrasse/Akkadier 7. Atlantische KE/ 7. Unterrasse/Mongolen 5. Nachatlantisches Zeitalter/ Arische Wurzelrasse 1. Nachatlantische KE/ Altindische Unterrasse (7227-5067 v. Chr.) 2. Nachatlantische KE/ Urpersische Unterrasse (5067-2907 v. Chr.) 3. Nachatlantische KE/ Ägyptisch-chaldäische Unterrasse (2907-747 v. Chr.) 4. Nachatlantische KE/ Griech.-lat. Unterrasse (747 v. -1413 n. Chr.) 5. Nachatlantische KE/ 5. Nachatlantische Unterrasse (1413-3573 n. Chr.) 6. Nachatlantische KE (3573-5733 n. Chr.) zukünftig 7. Nachatlantische KE (5733-7893 n. Chr.) zukünftig 6. zukünftiges Zeitalter/ zukünftige nachatlantische Wurzelrasse 7. zukünftiges Zeitalter/ zukünftige nachatlantische Wurzelrasse Jupiterzustand Venuszustand Vulkanzustand

5.6.2 Kurzdarstellung Die Metastruktur der anthroposophischen Evolutionslehre wurde im Vorangegangenen in ihrem Konstruktionsmodus von Krise und Erlösung bereits skizziert: Erzählt wird vom Gang des Geistes durch die Materie und einer zu238 Der schematische Überblick basiert auf Angaben, die u. a. folgenden Schriften entnommen wurden: Steiner, R. (GA 11); Steiner, R. (GA 13); Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 07.08.1908, S. 64-78, Vortrag vom 08.08.1908, S. 79-94; Baumann, A. (1991), Stichwort Erd- und Menschheitsentwicklung, Nachatlantisches Zeitalter; Zander, H. (2001), S. 297. 239 KE = Kulturepoche.

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künftigen Vergeistigung, vom Fall des Lichts in die Finsternis und dem Streben nach Licht. Wie die frühen monistischen Gnostiker geht Steiner davon aus, dass hinter dem Stofflichen geistige Kräfte liegen. Die irdische Materie sei ursprünglich Geistiges,240 die Verstofflichung des Menschen wird als ein krisenhafter, allmählicher Verdichtungs- und Verhärtungsprozess beschrieben.241 Mit dem Gedanken einer perspektivischen Vergeistigung der Materie verbindet sich die Vorstellung einer qualitativen Aufwärtsentwicklung der Menschheit. Das kosmologisch-spiritualistische Evolutionsmodell, das Steiner der Struktur nach weitgehend von der Okkultistin und Theosophin Helena Petrowna Blavatsky übernimmt242 (jedoch um großen Detailreichtum ergänzt), soll im Folgenden mit Blick auf die zentralen Begriffe und Gründzüge spezifiziert werden. Es bildet den Überbau anthroposophischer Weltanschauung, liefert einen näheren Zugang zum anthroposophischen Menschenbild und steckt zugleich einen fiktiven zeithistorischen Rahmen ab, in dem Steiner die heutige Menschheit verortet und die Steinerschen Rassen- und Geschlechtermodelle der gegenwärtigen Menschheit ihren Ursprungsmythos und Entwicklungsmodus erhalten. In groben Zügen besteht das anthroposophische Evolutionsmodell aus sieben planetarischen Entwicklungsstadien: Saturn, Sonne, Mond, Erde, Jupiter, Venus und Vulkan (siehe Schema). Der Mensch ist Anfang und Zentrum jeglicher Entwicklung: »Der Mensch war vorhanden, bevor es eine Erde gegeben hat. Doch darf man sich nicht vorstellen [...] daß er etwa vorher auf anderen Planeten gelebt habe und in einem gewissen Zeitpunkte auf die Erde gewandert sei. Diese Erde selbst hat sich vielmehr mit dem Menschen entwickelt. Sie hat ebenso wie er drei Hauptstufen der Entwickelung durchgemacht, bevor sie zu dem geworden ist, was man jetzt ›Erde‹ nennt.«243

Die Planeten bezeichnen demnach Menschheits- und Erdstadien, deren Entwicklungsgeschichte eine ursprünglich geistig-metaphysische Verbundenheit 240 »Es entwickelt sich dieses Stoffliche aus dem Geistigen heraus. Vorher ist nur Geistiges vorhanden.« Steiner, R. (GA 13), S. 140. 241 »Wir haben gesehen, wie der Mensch im Laufe der Erdentwickelung, ausgehend von einer rein geistigen Gestalt, nach und nach zu jener verdichteten Wesenheit herabgestiegen ist, die wir als den heutigen Menschen bezeichnen [...].« Steiner, R. (GA 61), Vortrag vom 25.01.1912, S. 287; vgl. u. a. Steiner, R. (GA 11), S. 80; Steiner, R. (GA 13), S. 152. »Dabei bleibt das Geistige auch während der stofflichen Entwickelungsperiode das eigentlich leitende und führende Prinzip.« Steiner, R. (GA 13), S. 140. 242 Vgl. Blavatsky, H. P. (1973). 243 Steiner , R. (GA 11), S. 141.

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beinhaltet. Zum Verhältnis von Erde und Planeten wird zusammengefasst: »Die Sache ist so, daß die Erde, bevor sie eben ›Erde‹ geworden ist, Mond war, noch früher Sonne und noch vorher Saturn.«244 Jupiter, Venus und Vulkan sind zukünftige Menschheitsstadien, denen der ›eigentliche‹ Erdenzustand – und darin situiert die gegenwärtige Menschheit – vorangeht. Im Zuge der Evolution habe sich der Mensch von einem anfänglichen Wärmekörper (Saturn), über luftige Körper (Sonne) und flüssige Körper (Mond) entwickelt, zwischenzeitlich ein ›gallertartig-durchsichtiges Gebilde‹245 dargestellt246 und schließlich im Stadium der Erde allmählich seine heutige Gestalt, d. h. seinen »Knochenleib«,247 ausgebildet. Die ›Verstrickung‹ in die irdische Materie sei in unserer Zeit am stärksten ausgeprägt.248 In ihrer Verhärtung und Verendlichung erscheint die Materie als böse Finsternis und, wie Kurt Rudolph schreibt, als »Gegenpol zum absoluten geistigen Sein des höchsten Gottes.«249 Die dem Modell inhärente Welt- und Leibfeindlichkeit verdeutlicht sich, wenn es mit Blick auf die erlösenden geistigen Impulse heißt: »Und je mehr wir von dieser Kraft anwenden, desto eher wird die Erde zu einem Leichnam werden, damit das, was das Geistige der Erde ist, sich hinüberwirken kann zum Jupiter. Die Kräfte müssen angewandt werden, um die Erde zu zerstören, damit der Mensch frei wird von der Erde und damit der Erdenleib abfallen kann.«250

Wenn Steiner die Verstrickung des Menschen in die Materie als Sündenfall begreift,251 den Begriff der ›Degeneration‹ in seinem Evolutionsmodell als »eine Art Abfall von dem Göttlichen«252 versteht und mit dem unreinen Zustand der Materie in Beziehung setzt, so können diese Vorstellungen auch als eine neognostische Modifizierung von Morels Verständnis von ›Degeneration‹ gedeutet werden: d. h. von Degeneration als »Sündenfall der menschlichen Natur« und der damit verbundenen Setzung eines »religiös-anthropologischen Ausgangspunkt[s]«, eines »›type primitif‹ – Adam«, der »dem Sündenfall« vorausgeht253 (vgl. Kap. 3.3.5). Steiners Evolutionsgeschichte indes, die sich nur vor dem Hintergrund zeitgenössischer Evolutions- (und Degene244 Steiner, R. (GA 11), S. 142. 245 Vgl. Baumann, A. (1991), Stichwort Welt- und Menschheitsentwicklung, S. 271. 246 Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 13), S. 191f. 247 Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 10.08.1908, S. 106. 248 Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 103), Vortrag vom 30.05.1908, S. 177; Zander, H. (2001), S. 298. 249 Rudolph, K. (1994), S. 75; vgl. auch Kreis, G. (1991), S. 40, 189f. 250 Steiner, R. (GA 130), Vortrag vom 01.10.1911, S. 95; vgl. auch Bierl, P. (1999), S. 43. 251 Vgl. Steiner, R. (GA 131), Vortrag vom 07.10.1911, S. 89. 252 Steiner, R. (GA 103), Vortrag vom 23.05.1908, S. 94. 253 Dornhof, D. (2005), S. 93.

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rations-)theorien verstehen lässt,254 mündet mit der Setzung des (geistigen) Menschen als Ausgangspunkt jedweder Entwicklung in eine Theorie, nach welcher alle Lebewesen ›degenerativ‹ aus dem Menschen hervorgehen. Dies führt konsequenterweise auch zur Umkehrung der Darwinschen Evolutionstheorie: »Die ganze Summe der irdischen Lebewesen stammt also in Wahrheit vom Menschen ab.«255 Die Tiere sind hiernach ›rückgebildete Menschen‹,256 die lebenden »Organismen« sind als »Abfälle« des Menschen zu begreifen.257 Eingeleitet durch Luzifer, besitzt der Materialisierungsprozess nach Steiner jedoch zugleich weise, göttliche Dimensionen.258 Die Notwendigkeit der Materialisierung259 besteht danach, wie bereits angemerkt, v. a. in einer stufenweisen Bewusstwerdung, die relational zur Ausbildung verschiedener ›Wesensglieder‹ zu denken ist. Im »Wörterbuch der Anthroposophie« wird zu diesem Gedanken mit Blick auf die planetarischen Stadien erläutert: »Das Hauptsächlichste zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Mensch auf dem alten Saturn die Anlage des physischen Leibes, auf der alten Sonne die Anlage des Ätherleibes, auf dem alten Mond die Anlage des Astralleibes und auf der Erde das Ich empfing.«260

Der gegenwärtig ›viergliedrige Erdenmensch‹ werde zukünftig durch ›Geistselbst‹, ›Lebensgeist‹ und ›Geistesmensch‹ vervollkommnet.261 254 Vgl. u. a. Zander, H. (1995), S. 101. 255 Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 05.10.1905, S. 31. 256 Vgl. Steiner, R. (GA 11), S. 97; vgl. auch Steiner, R. (GA 293), Vortrag vom 23.08.1919, S. 52. 257 Steiner, R. (GA 28), S. 403; vgl. auch Badewien, J. (2006), S. 5. 258 »Dieses Verstricktwerden in die Materie war nicht eine menschliche Tat, sondern eine Gottestat [...]. Das ist etwas, was die höheren Mächte der fortlaufenden Entwickelung mit den luziferischen Mächten abgemacht haben.« Steiner, R. (GA 131), Vortrag vom 07.10.1911, S. 89f. 259 Zur Notwendigkeit der Materialisierung vgl. u. a. Steiner, R. (GA 56), Vortrag vom 09.04.1908, S. 285f.; Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 22.03.1909, S. 258; Steiner, R. (GA 127), Vortrag vom 03.05.1911, S. 155-164; Steiner, R. (GA 131), Vortrag vom 14.10.1911, S. 228; Steiner, R. (GA 133), Vortrag vom 14.05.1912, S. 109. 260 Baumann, A. (1991), S. 270, Stichwort Welt- und Menschheitsentwicklung. Zu Steiners Begriff des Leibes wird bemerkt: »Das Wort bedeutet einfach: ›Gestalt‹, ›Form‹ oder ›Träger‹. Von materieller Art ist am menschlichen Leib nur der Physische Leib; Äther- und Seelenleib [bzw. Astralleib] sind die nichtmaterielle physische Basis für Leben und Seelisches.« Baumann, A. (1991), S. 276f., Stichwort Wesensglieder; vgl. Steiner, R. (GA 9), S. 38f. 261 Das sieben- bis neungliedrige System der ›Wesensglieder‹ zieht sich als Grundsystematik durch nahezu alle der untersuchten Schriften, teils wird sich auf die gegenwärtige Viergliedrigkeit konzentriert. Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 9), S. 57f.; Steiner, R. (GA 11), S. 213; Steiner, R. (GA 56), Vortrag vom 18.03.1908, S. 93; Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 11.06.1910, S. 86-103;

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Bilden die Planeten die übergeordneten Stationen der Evolution, so rekapitulieren die ›Wurzelrassen‹ als Unterkategorien des planetarischen Zustands ›Erde‹ den Evolutionsmodus.262 Entscheidend festzuhalten ist: Die ›Wurzelrassen‹ als solche werden im theosophisch-anthroposophischen System als der heutigen Menschheit übergeordnete Kategorien verstanden, sie kennzeichnen – ebenso wie die Planeten im Großen – verschiedene Zeitalter und ›Menschheitsstadien‹. Auch die ›Arische Wurzelrasse‹ beschreibt in diesem Modell – als begriffliches Äquivalent zum ›5. Nachatlantischen Zeitalter‹ – keine einzelne (Menschen-)›Rasse‹ im engeren Sinne des Wortes, sondern eine mehrere Epochen umfassende Kategorie. Die Zahlensystematik des Evolutionssystems bezieht sich auf das sogenannte ›Platonische Weltenjahr‹, welches insgesamt 25920 Jahre umfasst.263 Die einzelnen Zeitangaben vermitteln dabei eine vermeintlich historische Faktizität. Die gegenwärtige Menschheit wird im planetarischen ›Zustand Erde‹ verortet, hierin im ›5. Nachatlantischen Zeitalter‹ bzw. der ›Arischen Wurzelrasse‹, und darin wiederum in der ›5. Nachatlantischen Kulturepoche‹ bzw. der ›5. Nachatlantischen Unterrasse‹, die zeitlich von 1413-3573 n. Chr. angesiedelt wird (siehe Schema). Die Begriffe ›Unterrasse‹ bzw. ›Kulturepoche‹, die wiederum als Unterkategorien der ›Wurzelrassen‹ fungieren, werden von Steiner teils äquivalent Steiner, R. (GA 131), Vortrag vom 09.10.1911, S. 117; Steiner, R. (GA 348), Vortrag vom 20.12.1922, S. 137f.; vgl. auch Baumann, A. (1991), S. 276-278, Stichwort Welt- und Menschheitsentwicklung. Die Systematiken weisen Analogisierungen von Kollektiv- und Individualentwicklung des Menschen auf. So bilde das – heutige – Individuum seine vier Wesensglieder in zeitlichen (sieben) Jahresschritten aus. Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 10.06.1910, S. 69f. Zum Verhältnis der Wesenglieder zur ›Vier-Reiche-Lehre‹ von Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreich vgl. u. a. Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 06.08.1908, S. 49-52. 262 Vgl. dazu auch Zander, H. (2001), S. 297f. Zu den Namen der verschiedenen Wurzelrassen und ihrer Anbindung an zeitgenössische Diskurse vgl. Zander, H. (2007), Bd. 1, S. 629f. 263 Baumann definiert das ›Platonische Weltenjahr‹ als »Großeinheit für die Bestimmung der historischen Rhythmik der Menschheitsgeschichte auf der Erde«, es wird durch eine zwölf- und siebengliedrige Grundstruktur differenziert: »Während dieses Zeitraums wandert der Frühlingspunkt einmal um die Ekliptik, durchläuft also jedes der zwölf Tierkreiszeichen, die sich um diese Bahn gruppieren, in je einem Zwölftel der Zeit, nämlich in 2160 Jahren.« Baumann, A. (1991), S. 208, Stichwort Platonisches Jahr. Das »Gesetz der Sieben« systematisiert »das zeitliche Nacheinander« sowohl der übergeordneten sieben planetarischen Entwicklungsstufen (vgl. Baumann, A. (1991), S. 208, Stichwort Platonisches Jahr), deren Unterstrukturierung in »›kleine Kreisläufe‹« (vgl. Baumann, A. (1991), S. 266f., Stichwort Weltentwicklungsstufen) als auch die zahlenmäßige Ausdifferenzierung der ›Wurzel‹- und ›Unterrassen‹. Zum Zahlensystem vgl. u. a. Steiner, R. (GA 104), Vortrag vom 27.06.1908, S. 194-216, Vortrag vom 29.06.1908, S. 217-236.

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verwendet und bezeichnen ebenso ein jeweiliges Entwicklungsstadium bzw. einen Zeitraum der Menschheit als solcher.264 Steiners Verständnis von ›Kultur‹ als Epochenbegriff ist entsprechend nicht gleichzusetzen mit soziohistorischen – kulturgeschichtlichen, sozio-politischen und sozio-ökonomischen – Entwicklungen spezifischer Regionen, Kulturkreise bzw. kulturund geistesgeschichtlicher Traditionen im historisch sozio-kulturellen Sinne. Schon das kosmologisch-spiritualistische Wurzelrassensystem an sich – und hierin etwa die Ausdifferenzierung des ›Atlantischen Zeitalters‹ in Kulturepochen – führt eine historische Lesart ad absurdum. Als Entwicklungsstufen der (gesamten) Menschheit wird den jeweiligen Kulturepochen letztlich eine – zeitlich begrenzte – globale Wirkungsmacht in der Menschheitsentwicklung zugeschrieben, die jeweiligen ›Kulturen‹ dominieren bzw. leiten die jeweilige Epoche in ihrer angenommenen jeweiligen geistig-spirituellen Seins- und Bewusstseinsweise.265 Den Stufenfolgen im Wurzelrassensystem ist insgesamt eine Hierarchisierung inhärent, die zeitliche Abfolge ist qualitative Weiterentwicklung, auch wenn sich nach Steiner in den jeweiligen Stufen alte Formen des Menschseins wiederholen,266 bestimmte Teile der Menschheit zurückbleiben und frühere Fähigkeiten des Menschen – etwa das konstatierte Vermögen der ›Atlantier‹, Fahrzeuge über dem Boden schweben zu lassen267 – als allgemeine Fähigkeit zurücktreten. Der Entwicklungsgedanke als solcher ist mit der Vorstellung von Erwählung und Führung verbunden, höhere Wesen, Geister und Führer lenkten demnach die Evolution des Menschen durch die Erwählung Einzelner und einzelner Gruppen.268 Unsere gegenwärtige, die ›5. Nachatlantische Kul264 1908 favorisiert Steiner gegenüber dem Begriff der ›Unterrasse‹ den Begriff der ›Kulturepoche‹ zur Kennzeichnung von Entwicklungszeiträumen innerhalb des ›Nachatlantischen Zeitalters‹ bzw. der ›Arischen Wurzelrasse‹. Vgl. Steiner, R. (GA 103), Vortrag vom 30.05.1908, S. 168f. 1910 definiert Steiner die »Entwickelung der Kulturen« als »höhere Stufe« der »Rassenentwickelung« und »Fortsetzung der Rassenlinie«. Vgl. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 10.06.1910, S. 80. Zur Überschneidung von Kultur- und Rassebegriff in diesem Kontext vgl. auch Steiner, R. (GA 104). 265 Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 121), S. 169-172; vgl. auch Baumann, A. (1991), S. 191, Stichwort nachatlantisches Zeitalter. Zum Kulturbegriff Steiners vgl. auch Lichte, A. (2007). 266 Zander zieht mit Blick auf diesen Wiederholungsgedanken eine Parallele zu Ernst Haeckels biogenetischem Grundgesetz. Vgl. Zander, H. (2001), S. 297. 267 Vgl. Steiner, R. (GA 11), S. 29. 268 Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 11), S. 66. Eine hierin angelegte spiritualistische Wendung des Selektions- und Züchtungsgedankens kommt ebenso in Steiners Thesen zur ›Urzeugung‹ zum Tragen. Dabei scheint Steiner Haeckels Begriff der »Urzeugung« der ersten Organismen aufzugreifen, jedoch gänzlich anders, spiritualistisch, zu wenden. Vgl. Haeckel, E. (1902), Bd. 1, S. 67f. So geht Steiner in seiner Vorstellung der ›Urzeugung‹ von geistigen ›Urvätern‹ als Menschenvorfahren aus. Neben diesen hätte uranfänglich die Menschenseele

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turepoche‹, werde, wie bereits skizziert, von der »weißen Menschheit« geleitet, sie stünde an der Spitze der Entwicklung, sei Garant derselben.269 Zur leitenden Funktion des »germanischen Kulturkreises« wird in Baumanns »Wörterbuch der Anthroposophie« zusammengefasst: »Das Jahr 1413 bezeichnet nun den ungefähren Zeitpunkt, an dem sich in den Völkern des germanischen Kulturkreises die Bewußtseinsseele auszubilden begann. Sie weiter zu entwickeln ist die Aufgabe der bis in die Mitte des vierten nachchristlichen Jahrtausends dauernden Fünften nachatlantischen Kulturepoche [...].«270

Schon dem Konzept der ›Kulturepochen‹ ist somit eine Differenzierung der Ungleichwertigkeit eigen, nicht nur als Hierarchie in zeitlicher Abfolge,271 sondern als zeitliches Nebeneinander fortgeschrittener und weniger fortgeschrittener Gruppen. Die Kulturepochen (der ›Arischen Wurzelrasse‹/des ›Nachatlantischen Zeitalters‹) sind nicht gleichzusetzen mit dem Konstrukt der ›Menschenrassen‹, aber ihnen sind rassentheoretische und völkische Hierarchisierungsgedanken über die festgeschriebene Führungsrolle der weißen und insbesondere der ›germanisch-nordischen‹ Völker inhärent. An dieser Stelle kann festhalten werden: Nicht nur der Begriff der ›Wurzelrassen‹ (als Epochenbegriff), sondern auch der rassentheoretische Entwicklungsgedanke verweist darauf, dass Steiners neognostisches Evolutionsmodell den Begriffen und der Struktur nach rassentheoretische Diskurse zur Voraussetzung hat. D. h. auch, die dem anthroposophischen Evoluexistiert. In Verbindung dieser beiden – geschlechtlich codierten – Ursprungsprinzipien sei der ›Mensch‹ entstanden. »So stammt der Mensch physisch von diesem ›Urvater‹ ab; seelisch aber von seinem ›Seelenvorfahren‹.« Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 05.10.1905, S. 31. Und in diesem Kontext heißt es: »Aus der Schar dieser Urväter waren die besten imstande, sich dem Höherbildungsprozeß der Seele zu unterwerfen; die minderwertigen waren es nicht.« Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 05.10.1905, S. 29. Zu Steiners Kritik am ›materialistischen‹ Konzept vom ›Kampf ums Dasein‹ vgl. Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 23.11.1905, S. 179-199. Zur Umdeutung des Selektions- und Züchtungsgedankens in Richtung der ›Erwählung‹ vgl. auch Kap. 5.7. 269 Vgl. Steiner, R. (GA 174b), Vortrag vom 13.02.1915, S. 37f.; siehe näher hierzu die folgenden Kapitel dieser Arbeit. 270 Baumann, A. (1991), S. 191, Stichwort Nachatlantisches Zeitalter. Zur besonderen Ich-Entwicklung und ›Bewusstseinsseele‹ der ›germanisch-nordischen Menschen‹ vgl. u. a. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 14.06.1910, S. 143149; Vortrag vom 16.06.1910, S. 175, 177; Steiner, R. (GA 174b), Vortrag vom 30.09.1914, S. 19, Vortrag vom 13.02.1915, S. 43. Zur ›Mission‹ der ›Germanen‹/›Deutschen‹/der ›nordischen Völker‹ vgl. u. a. auch Steiner, R. (GA 113), Vortrag vom 27.08.1909; Steiner, R. (GA 121) und Steiner, R. (174b) insgesamt. Zu völkischen Konstruktionen vgl. in kritischer Lesart u. a. Bierl, P. (1999); Zander (2001), S. 310-314; vgl. auch Kap. 5.9. 271 Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 14.06.1910, S. 137-149, Vortrag vom 16.06.1910, S. 170f., 177f.

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tionsmodell strukturell eingeschriebenen gnostisch-religiösen Schöpfungsmodelle werden neognostisch ›säkularisiert‹; umgekehrt werden ›rassische‹ Kategorien über das spiritualistische Evolutionsmodell spiritualisiert und zeitgenössische Evolutionstheorien neognostisch gewendet. Mit Blick auf Darwin heißt das: Sie werden dem Entwicklungsverlauf nach ›auf den Kopf gestellt‹.272

5.6.3 Geschlechtssymbolische Grundstrukturen Die schwarz-weiß-symbolischen Strukturen des Evolutionsmodells als neognostischer ›Schöpfungsgeschichte‹ erschließen sich über die gnostischen Geist-Materie-Konstruktionen und ihre farb- und geschlechtssymbolische Grundcodierung: So lässt sich Steiners Vorstellung der Verdichtung des Geistes auch als gnostischer Fall des männlich codierten Geistes/des Lichts in die finstere, sündhafte, weiblich codierte Materie deuten (vgl. Kap. 2.5.2; 2.5.3; 2.5.4). Die qualitative Gegenüberstellung von Geist und ›verhärteter‹ Materie verweist auf die dualistischen Aspekte, welche das monistische Denkmodell der Anthroposophie durchziehen. Über die Metaebene gnostischer Traditionskontexte hinaus, arbeitet Steiner farb- und geschlechtssymbolische Elemente in seiner Evolutionsgeschichte verschiedentlich aus. So wird die Evolution schon auf der Ebene ›planetarischer Stadien‹ als eine Geschichte geschlechtlicher Vereinigung und Differenzierung vorgestellt: Das urzeitliche ›Mondenhafte‹ ist das Weibliche, die Sonne befruchtender männlicher Geist: »Alles, was in alten Zeiten, als Sonne, Mond und Erde noch verbunden gewesen waren, so wirkte, daß man es als ein Weibliches bezeichnen könnte, wurde sozusagen befruchtet von den Kräften der Sonne selber. Die Sonne empfand sich als ein Männliches, der Mond als ein Weibliches. Jetzt zog sich der Mond hinaus; die Kräfte der beiden Körper vermischten sich.«273

Steiner reartikuliert hiermit die christliche Geschlechtssymbolik von Sonne und Mond (vgl. Kap. 2.4.5), die Carus in seinem idealistischen System als 272 So auch formuliert bei Schmid, G. O. (1995), S. 153. Zu Darwins Evolutionstheorie und ihrer Rezeption im naturwissenschaftlichen Diskurs des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts vgl. u. a. Engels, E.-M. (1995). 273 Steiner, R. (GA 99), Vortrag vom 04.06.1907, S. 125. Ebenso heißt es: »Überhaupt können wir die Wesenheiten, die bis zum Hinausstoßen des Mondes [aus der Erde] entstanden waren, als eine Art weiblicher Wesenheiten bezeichnen, denn alle befruchtenden Kräfte kommen von außen, von der Sonnenkraft.« Steiner, R. (GA 99), Vortrag vom 04.06.1907, S. 125. Zum Zustand der ›Erde als Sonne‹ vgl. u. a. auch Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 07.08.1908, S. 70, 73f., Vortrag vom 08.08.1908, 79f., 83f.

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kosmologisches Sinnbild eines geschlechtlichen ›Urdualismus‹ deutet (vgl. Kap. 4.3.3). Allerdings wird Steiner diese Symbolik zu einer geistig-physiologischen ›Tatsache‹, welche die spiritualistisch verwobenen ›Zustände‹ der Erde und der Menschheit beschreibt, wobei Sonne und Mond gleichzeitig für verschiedene geistige Wesenheiten stehen. Über Steiners spiritualistische Modifizierung des platonischen Geschlechtermythos schließlich, der, wie skizziert, für die anthroposophische Konstruktion der gegenwärtigen normativen Geschlechter grundlegend ist, wird die neognostische Evolutionsgeschichte ihren Grundzügen nach als Geschlechtermythos erzählt. Denn in Anlehnung an den platonischen Androgynie-Mythos erscheint die angenommene ursprüngliche Doppelgeschlechtlichkeit des einzelnen Menschen als Sinnbild seiner ursprünglich reinen, geistigen Natur. Die »Trennung der Geschlechter« trete erst auf, »als die Erde in einen bestimmten Zustand ihrer Verdichtung kommt.«274 Damit wird die Geschlechterdifferenz zum grundlegenden Sinnbild des neognostischen Sündenfalls: Während die biblische Darstellung des ›Feigenblatts‹ nach Steiner noch auf eine wörtlich zu nehmende pflanzenhafte, keusche Natur des ursprünglich geistigen Menschen weise,275 so sei der biblische »Sündenfall [...] im Grunde genommen nichts anderes als die symbolische Darstellung der Geschlechtsdifferenzierung.«276 Zum Ausdruck der Sündhaftigkeit der irdischen Materie wird Steiner (gemäß gnostischen Traditionen) die geschlechtliche Fortpflanzung: Wie die Materie in ihrem festen, verhärteten Zustand als solche steht (sexuelle) Fortpflanzung demnach für Krankheit und Tod.277 Reproduzierten sich die Menschen in ihrer androgynen Form noch jeweils selbst, so werde mit der geschlechtlichen Differenzierung allmählich der »häßliche Charakter« der »Geschlechtliebe« prägend;278 durch den Einfluss »halbübermenschlicher Wesenheiten« gewänne die äußere Welt an Bedeutung, »Trieb« und »Lust« richteten sich zusehends sinnlich aus, es ergebe sich dadurch der »Anfang von ›Gut‹ und ›Böse‹«.279 Die Begierde wird von Steiner mit schwarzen, dämonischen Schatten gleichgesetzt – und zwar nicht als Metapher, sondern in der

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Steiner, R. (GA 11), S. 76. Vgl. Steiner, R. (GA 100), S. 265. Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 01.03.1906, S. 348. Vgl. Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 05.08.1908, S. 40; Körner-Wellershaus, I. (1993), S. 456. 278 »Die Geschlechtsliebe wurde [von den übermenschlichen Wesen] durch unmittelbare Gedankenübertragung in den Menschen gepflanzt. Und alle ihre Äußerungen waren zunächst von der edelsten Art. Alles, was auf diesem Gebiete einen häßlichen Charakter angenommen hat, rührt aus späteren Zeiten her, in denen der Mensch selbständiger geworden ist und in denen er einen ursprünglichen reinen Trieb verdorben hat.« Steiner, R. (GA 11), S. 92. 279 Steiner, R. (GA 11), S. 94.

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Vorstellung realer Wesenheiten.280 Die gnostischen Traditionen des fleischlichen, symbolisch schwarzen Leibes werden hiernach auch über die finsteren Geister reartikuliert.281 Sinn und Notwendigkeit des menschheitsgeschichtlichen Verlustes der ursprünglichen Doppelgeschlechtlichkeit (und damit der reinen Geistigkeit) des Individuums ist in Steiners System jedoch wiederum die Höherentwicklung. Er rekapituliert: »Erst auf einer Erde, die den Mond ausgestoßen hatte, so daß die Sonne nun einen ganz anderen Körper beschien, konnte das alte und undifferenzierte Weibliche sich trennen in Männliches und Weibliches, so daß mit dem Verhärtungs- und Knochenbildungsprozeß der Übergang in das Geschlechtliche stattfand. Und damit war die Möglichkeit gegeben, das Ich in richtiger Weise auszubilden.«282

Durch die als krisenhaft beschriebene Verstofflichung des Geistes, welche die geschlechtliche Differenzierung bewirke, sei ›der Mensch‹ demnach auch erst »geistig-seelisch produktiv« geworden.283 Unter Einbeziehung des anthroposophischen Erlösungsgedankens, dass die Entwicklung der höheren, geistigen Natur in der fernen Zukunft mit einem Hinauswachsen über die Geschlechterdifferenz einhergeht,284 ist so auch hervorzuheben, dass die Krisen- und Erlösungsvorstellungen, die Steiners neognostischem Evolutionssystem inhärent sind, substantiell an der Geschlechterdifferenz und ihrer Überwindung ›gemessen‹ werden. Der anthroposophisch neognostische Gedanke der ›Ganzheitlichkeit‹ zeigt sich dabei in seiner ganzen Spannbreite gnostischer Weltfeindlichkeit. Im Folgenden wird zu zeigen sein, inwiefern die geschlechtlich strukturierte ›Ganzheitlichkeit‹ sich in vergeschlechtlichte Rassen- und Volkskonstruktionen, den Mythos ihrer Entstehung und die Vorstellung ihrer Auflösung einschreibt.

280 Vgl. Steiner, R. (GA 13), S. 106-108. 281 Die Sexualfeindlichkeit und der Gedanke der Überwindung der Fleischlichkeit drücken sich auch im anthroposophischen Askese- und Enthaltsamkeitsideal aus. Vgl. zum anthroposophischen Askeseideal u. a. Steiner, R. (GA 13), S. 106-109; vgl. kritisch zur anthroposophischen Askese und Sexualfeindlichkeit auch Bierl, P. (1999), S. 41f.; Weibring, J. (1998), S. 83-93. 282 Steiner, R. (GA 99), Vortrag vom 04.06.1907, S. 125. 283 Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 01.03.1906, S. 348. Zur Fortschrittsrelevanz der ›Trennung der Geschlechter‹ vgl. auch Steiner, R. (GA 11), S. 81. 284 Vgl. Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 129.

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5 . 7 An f a n g u n d E n d e d e r ( › M en s c h e n ‹ - ) › R a s s e n ‹ Das kosmologisch-spiritualistische Evolutionsmodell bedingt, dass Steiner von einem urzeitlichen Anfang und von einem perspektivischen Ende gegenwärtiger ›Rassen‹/›Menschenrassen‹285 ausgeht. Die anthroposophische Vorstellung der perspektivischen Vergänglichkeit heutiger (›Menschen‹-) ›Rassen‹ bezieht sich demnach auf eine Entwicklung in einigen tausend Jahren, in welcher sich der Mensch vergeistige286 und die angeblichen rassischen ›Vererbungs- und Blutzusammenhänge‹ verschwinden würden.287 In Steiners These der zukünftigen Auflösung der ›Rassen‹ liegt so zugleich die These ihrer Existenz und Bedeutsamkeit bis dahin begründet. Ihren Anfang nehmen die ›Rassen‹ laut Steiner parallel zur Trennung der Geschlechter in Lemurien und Atlantis, in jenen mythischen Zeiten also, in denen sich die Stoffe zunehmend verdichten.288 Steiners Atlantis-Vorstellungen sind, so sei an dieser Stelle vorausgeschickt, sowohl durch Blavatsky als auch maßgeblich durch William ScottElliot beeinflusst, wie Helmut Zander gezeigt hat.289 In den anthroposophischen Atlantis-Mythos sind allgemein Elemente der germanischen My-

285 Die Begriffe ›Menschenrassen‹ bzw. (gegenwärtige/heutige) ›Rassen‹ sind hier im engeren Sinne des Wortes zu verstehen und unterscheiden sich von der Ebene der ›Wurzelrassen‹ als Epochenbegriff. Der Begriff der ›Menschenrasse‹ wird von Steiner selbst, wenn auch nicht durchgängig im dezidiert rassentheoretischen Sinne verwendet. Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 107), Vortrag, vom 03.05.1909. Parallel dazu tauchen die Begriffe ›Volk‹, ›Völkerstrom‹, ›Bevölkerung‹ und ›Typ‹ in rassisierender Weise auf. Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 107), Vortrag, vom 03.05.1909, S. 277-294; Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 10.08.1908, S. 108-110. Aus der zeitlichen Perspektive vom Anfang und Ende der ›Rassen‹/›Menschenrassen‹ sowie durch die Differenz zur Ebene der ›Wurzelrassen‹ und ›Unterrassen‹/›Kulturepochen‹ ergeben sich zugleich Steiners partielle Einschränkung, Relativierung und widersprüchliche Verwendungen des Rassebegriffs. Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 103), S. 168f.; Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 16.08.1908, S. 183f. Zur Differenzierung zwischen Volks- und Rassebegriff vgl. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 09.06.1910, S. 66f. 286 Dieser Prozess setze erst mit dem Übergang in die sechste und siebte »Entwicklungsepoche«/Kulturepoche ein. (Die sechste ›nachatlantische Kulturepoche‹ umfasst den Zeitraum 3573-5733 n. Chr.; die siebte ›nachatlantische Kulturepoche‹ den Zeitraum 5733-7893 n. Chr.). Vgl. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 10.06.1910, S. 76; vgl. auch Zander, H. (2001), S. 305. 287 Vgl. Steiner, R. (GA 99), Vortrag vom 04.06.1907, S. 129. Zur perspektivischen Vergänglichkeit der Kategorie ›Rasse‹ vgl. auch Steiner, R. (GA 11), S. 209; Steiner, R. (GA 103), Vortrag vom 30.05.1908, S. 169; Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 10.06.1910, S. 76; Zander, H. (2001), S. 320f. 288 Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 10.06.1910, S. 68-85, 76f. 289 Vgl. Zander, H. (2007), Bd. 1, S. 637-647.

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thologie integriert, so etwa die germanischen Sagen um Niflheim290 (das Nebelland) und Muspelheim291 (das Feuerland). In der Antike als Mythos vom versunkenen Kontinent durch Platon begründet,292 wurde der Atlantis-Mythos zunächst in der utopischen Literatur der frühen Neuzeit, in Francis Bacons Werk »Nova Atlantis« (1643),293 erstmals zur historischen Tatsache erklärt, in Europa um 1900 in Wissenschaft, Literatur und Okkultismus verschiedentlich ausgebaut und im Kontext der Ariosophie zum Ursprungsmythos der ›Arier‹ umgedeutet.294 Analog zu Atlantis finden sich seit dem 19. Jahrhundert im wissenschaftlichen Kontext Vorstellungen von Lemurien als versunkenem Kontinent. Dieser erscheint – angelehnt an Thesen des Zoologen Philip Lutley Sclater (1829-1913) – in Haeckels »Natürlicher Schöpfungsgeschichte« (1868) als ›Urheimat‹ des Menschen – ein Kontinent, der gegenüber Atlantis im Gebiet des Indischen Ozeans existiert habe.295 Im anthroposophischen Evolutionsmodell sind Lemurien und Atlantis jedoch, wie im Vorangegangenen skizziert, als ›Wurzelrassen‹ nicht nur angeblich versunkene Kontinente, sondern geistig-physiologische Vorstadien, d. h. immer auch vergangene ›Bewusstseinsstadien‹ der heutigen Menschheit. Zugleich wirken die lemurischen und atlantischen Entwicklungen in die heutige Zeit hinein und strukturieren so auch die ›rassische‹ Differenzierung der gegenwärtigen Menschheit vor. Im Vorfeld einer näheren Auseinandersetzung mit den einzelnen (Menschen-)Rassenmodellen, die Steiner ihrer Entstehung nach an Lemurien und Atlantis anbindet, seien im Folgenden zunächst Grundzüge der anthroposophischen Vorstellung vom Anfang und Ende der ›Rassen‹ und unterschiedliche Dimensionen von Geschlecht, die diesem Entwicklungsmodus eingeschriebenen sind, herausgestellt. Steiners Grundgedanke der Entwicklungen in Lemurien und Atlantis ist mit der bereits erwähnten Vorstellung der dortigen ›Vorherrschaft der Frauen‹ verbunden: Danach seien es ›die Frauen‹, die als Medium die Pläne geistiger Mächte umsetzten: Die »hohen Wesenheiten« bzw.

290 Vgl. Steiner, R. (GA 94), Vortrag vom 06.07.1906, S. 162; Steiner, R. (GA 100), S. 136, 249; vgl. auch Lichte, A. (2006a), S. 19. 291 Vgl. Steiner, R. (GA 51), Vortrag vom 25.10.1904, S. 108. 292 Vgl. Platon (2004), Timaios. 293 Bacon, F. (2003). 294 Literarisch verarbeitet der französische Schriftsteller Jules Vernes (1828-1905) das sagenumwobene Atlantis bereits 1870 in seinem Roman »20.000 Meilen unter dem Meer«. Zum Atlantis-Mythos im rassentheoretischen Kontext vgl. u. a. Bruns, K. (2001), S. 77, Anm. 12; Schnurbein, S. v. (1993), S. 25, 62, 74. Zu Steiners Bezug auf Platons Atlantis-Mythos vgl. Strohm, H. (1997), S. 220f.; Lichte, A. (2006a). 295 Vgl. Haeckel, E. (1902), Bd. 2, S. 755f.

278 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK »[...] Führer bewirkten, daß sich das Häuflein [ausgewählter Stammeltern] in kleine Gruppen ordnete. Und sie übertrugen den Frauen die Ordnung und Einrichtung dieser Gruppen.«296

Der zeitgenössische Selektions- und Züchtungsgedanke wird hier mystifiziert und in Richtung der ›Erwähltheit‹ gewendet, ein Gedanke, den Steiner 1909 in seinen rassentheoretischen Dimensionen konkretisiert: Danach werden die atlantischen Vorläufer der weißen Menschheit, die Steiner auch als »Normalmenschen« bezeichnet (ein Begriff, der vermutlich Johann Gottlieb Fichtes ›Normalvolk‹ modifiziert297), durch »Manu«, den »großen Sonnen-Eingeweihten«, als das »entwicklungsfähigste Volk« versammelt.298 Die konstatierte Vorherrschaft ›der Frauen‹ in der lemurischen und atlantischen Zeit wird selbst zu einem exklusiven rassentheoretischen Merkmal der Entwicklungsfähigkeit erklärt: »Die gekennzeichnete Vorherrschaft der Frauenseele ist besonders stark in der letzten lemurischen Zeit und dauert bis in die atlantischen Zeiten [...]. Aber man darf sich nicht vorstellen, daß dies etwa bei der ganzen Menschheit der Fall war. Wohl aber gilt es für denjenigen Teil der Erdenbevölkerung, aus welchem später die eigentlichen fortgeschrittenen Rassen hervorgegangen sind. Und dieser Einfluß war auf alles das im Menschen am stärksten, was ›unbewußt‹ in und an ihm ist.«299

Hier konkretisiert sich die Relation zu Carus’ Identifizierung ›der Frau‹ mit dem (aufgewerteten, dunklen) Unbewussten (vgl. Kap. 4). Zugleich verlagert Steiner über die lemurischen und atlantischen Frauen eine rassentheoretische Differenzierung der Geschlechter in mythische (Ur-)Zeiten. Dabei ergeben sich mit seinen weiteren Ausführungen auch Assoziationen zum zeitgenössisch kolonialistischen Topos der ›Frau als Trägerin der Kultur‹,300 der mit den anthroposophischen Weiblichkeitsmystifizierungen verknüpft wird:

296 Steiner, R. (GA 11), S. 66. Vgl. auch Steiner, R. (GA 11), S. 65-69. 297 Fichte spricht in seiner Geschichtsphilosophie von einem »ursprünglichen Normalvolk«, das sich im »Zustand der vollkommenen Vernunftcultur« befunden habe. Vgl. Fichte, J. G. (1971), S. 133. 298 »Also die Normalmenschen waren für die Eingeweihten am besten zu brauchen als Material für die Zukunftsentwickelung, und sie waren auch diejenigen, welche der große Sonnen-Eingeweihte, der Manu, um sich sammelte als das entwickelungsfähigste Volk.« Steiner, R. (GA 107), S. 285f. Die Gestalt des ›Manu‹ entlehnt Steiner der indischen Mythologie: »Manu (sanskritisch ›Mensch‹) nach dem indischen Mythos der Vater der Menschheit.« Lexikon der Weltreligionen (2005), S. 243, Stichwort Manu. 299 Steiner, R. (GA 11), S. 72. 300 Vgl. Walgenbach, K. (2005).

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»Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man die Berichte der Akasha-Chronik so auslegt, daß man behauptet: ›Die Kulturnationen haben eine Leibesbildung und einen Leibesausdruck, sowie gewisse Grundlagen des leiblich-seelischen Lebens, die ihnen von der Frau [der lemurischen und atlantischen Zeit] aufgeprägt worden sind.‹«301

Steiners spiritualistisch rassentheoretische Modifikation zeitgenössischer Matriarchatsmythen verleiht den ›fortgeschrittenen Rassen‹ und ›Kulturnationen‹ entsprechend einen geistig-göttlichen und, über das (unbewusste) Weibliche, einen geheimnisvollen Ursprung. Dem Entwicklungsmodus nach sind zudem Gleichsetzungen des ›weiblichen Prinzips‹ mit dem Stofflichen, mit dem Materiellen/Fleischlichen für die Herausbildung der ›rassischen Blutszusammenhänge‹ konstitutiv. Die Entstehung der ›Rassen‹ (die mit dem evolutionären Prozess der Verstofflichung des Geistes erst einhergeht) und das prophezeite Verschwinden der ›Rassen‹ in der fernen Zukunft (das sich mit der perspektivischen Vergeistigung des Menschen ergibt) sind demnach grundlegend geschlechtlich strukturiert: Danach ist die zukünftige Überwindung der vermeintlich rassischen ›Blutszusammenhänge‹, die nach Steiner über die weibliche ›Gruppenseele‹ gebildet werden, auch als eine Überwindung des Weiblichen durch den männlichen Geist zu verstehen. Der männliche Individualisierungsfaktor garantiert Fortschritt und zukünftige Transzendenz: »Wir erblicken tatsächlich innerhalb unserer Menschheit im Weiblichen dasjenige Prinzip, das noch die alten Stammesrassen und Volkszusammenhänge erhält, und im Männlichen dasjenige, was diese Zusammenhänge fortwährend durchbricht, sie durchklüftet und so die Menschheit individualisiert. Es wirkt im Menschen tatsächlich ein altes Weibliches als Gruppenseele und ein neues Männliches als individualisierendes Element. Es wird dahin kommen, daß alle Rassen- und Stammeszusammenhänge wirklich aufhören. Der Mensch wird vom Menschen immer verschiedener werden. Die Zusammengehörigkeit wird nicht mehr durch das gemeinsame Blut vorhanden sein, sondern durch das, was Seele an Seele bindet. Das ist der Gang der Menschheitsentwickelung.«302

Bachofens Überwindung des ›weiblichen Stoffs‹ durch den ›männlichen Geist‹ und Hegels männliches Individuationsprinzip des ›Weltgeistes‹ scheinen sich hier spiritualistisch zu vereinen. Die anthroposophische Vorstellung der ›rassischen Blutszusammenhänge‹ als solche ist als spiritualistische Reinszenierung der rassentheoretischen 301 Steiner, R. (GA 11), S. 73. Zu diesen Eigenschaften zählt Steiner u. a. die »Bildung gewisser ständiger Gebärden«, die »Feinheiten der sinnlichen Anschauung«, die »Schönheitsempfindungen« und Teile des »Empfindungs- und Gefühlslebens überhaupt«. Steiner, R. (GA 11), S. 72f. Zu ›Frauen‹ als Motor bzw. Medium des Fortschritts vgl. auch Steiner, R. (GA 11), S. 64f., 72. 302 Steiner. R. (GA 99), Vortrag vom 04.06.1907, S. 129.

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Verweltlichung des christlichen Reinheits- und Blutsmythos zu lesen. D. h., der Rassenmythos vom ›reinen Blut‹, der auf der Entspiritualisierung seiner religiös-symbolischen Fundamente fußt (vgl. Kap. 3.2.3), wird anthroposophisch u. a. durch urzeitliche ›Rassen‹- und ›Volksseelen‹ spiritualistisch aufgeladen und erhält einen ›geistigen‹, (vor-)atlantischen Ursprung.303 Im 303 »Auch das hat sich in der atlantischen Zeit erhalten, daß, wenn man auch die Volksseele nicht mehr unmittelbar in sich spürte wie auf dem Monde, man doch die Wirkung der alten Volks- und Rassenseelen empfand. Sie war so stark, daß es damals ganz unmöglich gewesen wäre, daß derjenige, der einer Rasse oder Volksseele angehörte, sich je mit einem verbunden hätte, der einer anderen Rasse zugehörig war. Zwischen den Angehörigen der verschiedenen Volksseelen war eine tiefe Antipathie vorhanden. Nur das liebte sich, was innerhalb derselben Volksseele war. Man kann sagen, das gemeinsame Blut, das früher ja in der Mondenzeit sich aus der Volksseele herniedergegossen hatte, war der Grund der Zusammengehörigkeit, und man erinnerte sich nicht nur dunkel etwa, sondern ganz deutlich der Erlebnisse der Vorfahren. Man empfand sich als Glied in der Vorfahrenkette durch das gemeinsame Blut, so wie Sie die Hand fühlen als ein Glied Ihres Organismus.« Steiner, R. (GA 99), Vortrag vom 04.06.1907, S. 124. Steiners Vorstellungen der ›Rassen‹- und ›Volkseelen‹ sind allgemein von einer Personifizierung dieser ›Seelen‹ geprägt, er betrachtet sie als ›reale‹, geistige Wesen: »Sie wissen, daß heute auf der Erde das, was man Volksseele, Rassenseele nennt, ein ziemlich abstrakter Begriff geworden ist. Heute meinen viele, das eigentlich Wirkliche sei die individuelle Seele des Menschen, die in seinem Leib wohnt, und wenn man von deutschen, französischen, russischen Stammesseelen spricht, so betrachten das die Leute als etwas mehr oder weniger Abstraktes, als den zusammenfassenden Begriff, als die Eigenschaften, die die einzelnen Glieder dieser Völker haben. Für den Okkultisten ist das ganz und gar nicht der Fall. Für ihn ist das, was man Volksseele nennt, also deutsche, französische, russische Volksseele, etwas durchaus und absolut selbständig Existierendes. Nur ist diese Volksseele in unserem heutigen Erdendasein bloß geistig vorhanden, wahrnehmbar nur für den, der auf den Astralplan hinaufkommen kann. Dort würden Sie sie nicht ableugnen, denn dort ist sie vorhanden als wirklich lebendiges Wesen. Sie würden der Volksseele dort begegnen, wie Sie auf dem physischen Plane Ihren Freunden begegnen. Auf dem Monde würde es Ihnen noch weniger eingefallen sein, diese Seele von Gruppen zu leugnen, denn damals hatte sie ein noch viel realeres Dasein. Das, was den Blutstrom herunterleitete in die Körper von jenen Wesen, die den Mond umkreisten, das war die Volks-, die Rassenseele. Es ist das Schicksal unseres Zeitalters, solche Wesenheiten, die auf dem Astralplan ein wirkliches Leben haben und die hier auf dem physischen Plan nicht wahrzunehmen sind, zu leugnen. Und wir sind gerade auf dem Gipfel dieser materialistischen Entwickelung, die solche Wesenheiten wie Volks- und Rassenseelen leugnen möchte.« Steiner, R. (GA 99), Vortrag vom 04.06.1907, S. 115. Steiner greift hiernach völkerpsychologische Traditionen, auf wie sie u. a. in »Herders und Hegels Volksseelen- und Volksgeistvorstellungen« ausgearbeitet wurden. Vgl. Zander, H. (2001), S. 313. Dabei sind, wie die Zitate zeigen, bei Steiner jedoch die spiritualistischen Personifizierungen und Modifizierungen maßgebend, die er an sein neognostisches Evolutionsmodell anbindet. Ausarbeitungen einer ›Völkerpsychologie‹ auf sprachphilosophischer Basis finden sich im 19. Jahrhundert bei Moritz Lazerus und Hajim

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gleichen Kontext werden die Farben der ›Rassen‹ als Resultat des ursprünglichen ›Gruppenseelenelements‹ erklärt, das sich mit zukünftig fortschreitender Individualisierung auflösen würde; die Farben der ›Rassen‹ würden demnach perspektivisch selbst verschwinden.304 Das ›Gruppenseelenelement‹ ist allerdings nur eine von vielen anthroposophischen Begründungen rassentheoretischer Farbgebung, wie im weiteren Verlauf zu zeigen sein wird. Steiners Vorstellungen vom Anfang und Ende der ›Rassen‹ werden, wie hier zunächst weiter auszuführen ist, um eine weitere Ebene geschlechtlicher Momente ergänzt. Diese Ebene betrifft die Vergeschlechtlichung rassisierter Großgruppen. Dabei werden geschlechtliche Vereinigungsmetaphern zum Sinnbild der in der fernen Zukunft zu überwindenden ›rassischen‹ Differenzen, Differenzen, die über farb- und geschlechtssymbolische Elemente strukturiert sind. Dies zeigt sich beispielhaft in Steiners Konstruktion von zwei – nördlichen und südlichen – »Völkerströmungen«,305 die, als den einzelnen ›Menschenrassen‹ übergeordnete Kategorien, der Erzählung nach in der atlantischen ›Wurzelrasse‹ ihren Ursprung fänden. Zu den Menschen des ›südlichen Völkerstroms‹ heißt es, sie hätten »mehr die Anlage, einzutauchen in ihr Seelen-

Steinthal, zeitgenössisch ist zudem die Völkerpsychologie Wilhelm Wunds präsent. Vgl. Lazarus, M./Steinthal, H. (1997); Wundt, W. (1997a); Wundt, W. (1997b). 304 »In den ersten atlantischen Rassen bestand noch ein starkes Zusammengehörigkeitsband, so daß die ersten Unterrassen sich auch nach der Farbe gliederten, und dieses Gruppenseelenelement haben wir noch in den verschiedenfarbigen Menschen. Diese Unterschiede werden immer mehr verschwinden, je mehr das individuelle Element die Oberhand gewinnt. Es wird eine Zeit kommen, wo es keine verschiedenfarbigen Rassen mehr geben wird. Der Unterschied in bezug auf die Rassen wird aufgehört haben, dagegen werden individuell die größten Unterschiede bestehen.« Steiner. R. (GA 99), Vortrag vom 04.06.1907, S. 129. 305 Steiner, R. (GA 113), Vortrag vom 27.08.1909, S. 103f. Steiner verwendet hier verschiedentlich den Begriff »Völkerstrom«. Vgl. Steiner, R. (GA 113), Vortrag vom 27.08.1909, S. 102-104. Parallel benutzt er u. a. die Begriffe »Entwickelungsstrom« (Steiner, R. (GA 113), Vortrag vom 27.08.1909, S. 99) oder auch »Strom der Menschheitsentwickelung«. Steiner, R. (GA 113), Vortrag vom 27.08.1909, S. 96. So heißt es auch: Der »nördliche[] Entwickelungsstrom« sei »von der alten Atlantis durch Europa bis nach Asien« gezogen. Steiner, R. (GA 113), Vortrag vom 27.08.1909, S. 99. Dieser »Strom der Menschheitsentwickelung« habe u. a. die heutigen Gebiete England, Nordfrankreich, Skandinavien, Russland und Indien berührt. Vgl. Steiner, R. (GA 113), Vortrag vom 27.08.1909, S. 96f. Der südliche »Strom« hingegen wäre »vom Atlantischen Ozean durch Südspanien, durch Afrika bis hinüber nach Ägypten, dann nach Arabien« verlaufen. Vgl. Steiner, R. (GA 113), Vortrag vom 27.08.1909, S. 97. Die ›rassische‹ Konstruktion dieser Völkerströme erschließt sich im Kontext schon dadurch, dass Steiner vom »Rassentypus der nördlichen Völkermassen« spricht. Vgl. Steiner, R. (GA 113), Vortrag vom 27.08.1909, S. 103.

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leben, in ihr Inneres.«306 Das »Ideal« des nördlichen sei es hingegen gewesen, den »äußeren Leib« in der Art »zu vervollkommnen, zu vergeistigen, zu veredeln«, dass dieser »ein edles Gefäß sei zur Aufnahme des höchsten Geistigen.«307 Beide Völkerströme verfolgten das Ziel einer Höherentwicklung zum Geistigen, jedoch über die verschiedenen Wege von Seele und Geist, Innerem und Äußerem. Die mit dem südlichen Völkerstrom assoziierte Seele ist weiblich, der mit dem nördlichen Völkerstrom assoziierte Geist männlich codiert.308 Die Vision ihrer zukünftigen Vereinigung analogisiert Steiner zur Befruchtung der Pflanzen. Die Völkerströme erscheinen dabei als unterschiedliche ›Gefäße‹ für unterschiedliche ›Herrscher‹ und deren jeweiliger Geschlechtlichkeit: »So war der Luzifer sozusagen eingezogen in der südlichen Völkerströmung in die Menschheit, so war der Christus eingezogen in der nördlichen Völkerströmung, beide in Gemäßheit des Charakters dieser Völkerströmungen. Und wir leben in der Zeit, in welcher sich diese beiden Völkerströmungen miteinander verbinden müssen, wie die männlichen und weiblichen Befruchtungssubstanzen [der Pflanzen] sich gegenseitig durchdringen müssen.«309

Christus und Luzifer werden hiernach (in Kombination mit dem christlichen und gnostischen Geist-Seele-Dualismus) zum schwarz-weiß-symbolischen Kennzeichen ›säkularer‹, gegenwärtiger ›Völkerschaften‹ und ihrer ›Geschlechtlichkeit‹. Die geschlechtliche Polarisierung und Vereinigung ist als Logik der ›Ganzheitlichkeit‹ im dualistisch strukturierten Monismus zu verstehen, in dem sich die Pole zur Einheit ergänzen. Die Vereinigungs- und Auflösungsvisionen scheinen damit dem zeitgenössischen Krisenszenario der ›Rassenmischung‹ gegenüberzustehen. Allerdings erfüllen die Völkerströme als übergeordnete Kategorien der ›Menschrassen‹ bis zu ihrer prophezeiten Auflösung gerade in ihrer kategorischen Differenz ihre (geschlechts-)spezifische menschheitsgeschichtliche Mission. (Wenn Steiner dabei im o. g. Zitat von ›unserer Zeit‹ spricht, so ist zu bedenken, dass dieser Zeitverweis in Steiners Zeitrechnung zumindest den Zeitraum bis zu Jahr 3573 umfasst.) Die geschlechtlichen Vereinigungsmetaphern und die ihnen eingeschriebene asymmetrische (farb- und geschlechtssymbolisch strukturierte) Charakterisierung und Positionierung von ›Völkerschaften‹ wird von Steiner verschiedentlich variiert. So findet sich diese vergeschlechtlichte Struktur auch in einer Polarisierung westlicher und östlicher Bevölkerungen, wobei dem Kon306 Steiner, R. (GA 113), Vortrag vom 27.08.1909, S. 97. 307 Steiner, R. (GA 113), Vortrag vom 27.08.1909, S. 105. 308 Zur geschlechtlichen Codierung von Seele und Geist vgl. u. a. Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 8.03.1906, S. 385. 309 Steiner, R. (GA 113), Vortrag vom 27.08.1909, S. 107; vgl. auch Steiner, R. (GA 113), Vortrag vom 27.08.1909, S. 103f.

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text nach hiermit das »Germanentum« und das »Slawentum« assoziiert sind.310 Dabei verdeutlicht sich, dass diese (›rassisch‹ konnotierten) Kategorien auch noch der ›unseren Zeit‹ folgend bedeutsam bleiben. Mit okzidentalistischem Blick in die Zukunft heißt es in eben diesem Sinne 1915: »Was wird man unter der sechsten Kulturepoche [3573-5733 n. Chr.] zu verstehen haben? Man wird darunter eine Kulturepoche zu verstehen haben, innerhalb welcher ein großer Teil der östlichen Menschen ihr Menschentum demjenigen zum Opfer gebracht haben wird, was in der Volkskultur errungen worden ist, indem gleichsam wie ein Weibliches das Östliche sich wird haben befruchten lassen von dem männlichen Westlichen.«311

Diese sexuelle Vereinigungssymbolik mündet in ein Bild gewaltvoller ›Übermannung‹: »Dasjenige, was leben wird in den Seelen der sechsten Kulturepoche, wird dasselbe sein, was von den Seelen der fünften [unserer gegenwärtigen] Kulturepoche errungen worden ist. Das bedingt, daß von Osten her das Unreife und noch nicht Gereifte sich wälzt, sich wehrt gegen dasjenige, was ja doch geschehen muß.«312

Das ›Unreife‹ ist hier zugleich mit (trotziger) Kindlichkeit assoziiert: »Man möchte sagen, wie sich ein Kind dagegen sträubt, die Errungenschaften der Alten zu lernen, so sträubt sich der Osten gegen die Errungenschaften des Westens«.313 Dass diesen Bildern der ›Übermannung‹ und Belehrung eine Struktur der Gewaltförmigkeit und des Kampfes inhärent ist, verdeutlicht sich, wenn Steiner ausführt: »Dieses germanische Element hatte eben das persönliche Erringen darzuleben. Und es wäre das größte Unglück, wenn jemals das slawische Element das germanische besiegen würde.«314 In den hierin enthaltenen Vorstellungen eines (zukünftigen) ›Rassenkampfes‹ klingen die kulturpessimistischen Entwürfe und katharsischen Phantasien des zeitgenössischen Rassediskurses an, wie sie u. a. das Werk des ›Lebensphilosophen‹ Oswald Spengler (1880-1936) beispielhaft kennzeichnen.315 Steiner stellt Spenglers Krisenszenario vom »Untergang des Abendlandes« (1918-1922) das neognostische Heilsversprechen der Vergeistigung, sein Aufstiegsmodell

310 311 312 313 314 315

Steiner, R. (GA 174b), Vortrag vom 13.02.1915, S. 42. Steiner, R. (GA 174b), Vortrag vom 13.02.1915, S. 42. Steiner, R. (GA 174b), Vortrag vom 13.02.1915, S. 42f. Steiner, R. (GA 174b), Vortrag vom 13.02.1915, S. 42. Steiner, R. (GA 174b), Vortrag vom 13.02.1915, S. 43. Vgl. Spengler, O. (1972).

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der Kulturepochen und den erlösenden ›lebendigen Geist‹ gegenüber.316 Ist demnach bei Steiner nicht die Vision eines Untergangs, sondern der spiritualistische Fortschrittsoptimismus maßgebend, so findet sich bei Steiner dennoch (parallel zu den ›ganzheitlich‹ strukturierten sexuellen Vereinigungsmetaphern) die apokalyptische Vision vom »Krieg aller gegen alle«.317 Neben der Vereinigung ist es so auch die Prophezeiung einer ›reinigenden‹ Schlacht in der fernen Zukunft, die mit der perspektivischen Auflösung der ›Rassenzusammenhänge‹ zusammengebracht wird.318 Weißsein, so ist den anthroposophischen Vorstellungen vom Anfang und Ende der ›Rassen‹ zu entnehmen, ist als ›rassische‹ Kategorie seinen urzeitlichen (lemurischen und atlantischen) Ursprüngen nach bereits durch eine Lichthaftigkeit gekennzeichnet, die sich aus den geistigen (Licht-)Welten herleitet, eine Lichthaftigkeit, die ›Manu‹, der ›Sonnen-Eingeweihte‹, als geistiger Führer, als geistig-männliches Lichtprinzip, vermittelt. Hiermit verbinden sich sogleich Entwicklungsfähigkeit und Normativität, die im Begriff der ›Normalmenschen‹ konvergieren. Im Bild des ›nördlichen Völkerstroms‹ figurieren sich Licht, Geist und Männlichkeitssymbolik auf zwei Ebenen: Erstens erscheint der ›äußere Leib‹ dieser rassisierten Großgruppe durch den Geist strukturiert, d. h. die ›Mission‹ liegt in einer Vergeistigung und ›Veredelung‹ des äußeren Leibes. Dieser wird zum ›Gefäß‹ des höchsten Geistigen, eine Vorstellung, die der ›Durchimprägnierung‹ des Fleisches durch den Geist im Bild der weißen Haut als ›Gehäuse‹ des (Christus-)Geistes entspricht (vgl. Kap. 5.4). Zweitens wird der nördliche Völkerstrom als Gefäß Christi selbst mit dem (Licht-)Prinzip der (geistigen) Befruchtung assoziiert. Diese anthroposophische Vorstellung ist als spiritualistische Wendung symbolischer Traditionen geistig-männlicher Fruchtbarkeit zu verstehen (vgl. u. a. Kap. 2.3.2; 2.4.3; 2.4.5; 2.5.2). Dabei werden die symbolischen Traditionen in spiritualistischer Weise naturalisiert und diskursive Prozesse einer ›kulturellen Menschwerdung Gottes‹ wiederum ›rassisch‹ reartikuliert. Über diese Charakterisierung erschließen sich auch Steiners sexualisierte Vereinigungsmetaphern der Überwindung der ›rassischen Blutszusammenhänge‹ als ›Penetrationsmetaphern‹ einer ›erlösenden‹ geistigen Befruchtung. Die Ursprungserzählung von Weißsein ist zugleich, wie gezeigt wurde, an Weiblichkeit als (dunklem) Medium, als Prinzip des ›Stoffs‹, des Unbewussten und der Seele geknüpft. Über diese symbolischen Formen von Weiblichkeit, die sich in der Konstruktion ›urzeitlicher Frauen‹ niederschlagen und 316 Vgl. Steiner, R. (GA 197), S. 187; vgl. zu Steiners Rekurs auf Spengler auch Steiner, R. (GA 73a), S. 475f.; Steiner, R. (GA 82), S. 225; Steiner, R. (GA 198), S. 134-149. 317 Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 104), Vortrag vom 20.06.1908, S. 76f., Vortrag vom 24.06.1908, S. 144. 318 Vgl. auch Zander, H. (2001), S. 305.

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über die sich die unsichtbaren geistigen (Licht-)Welten vermitteln, wird Weißsein ›physisch‹ hergestellt. Das männliche Individuationsprinzip, das die ›rassischen Blutszusammenhänge‹ perspektivisch überwindet, schließt als geistiges Entwicklungsprinzip an lichthafte Transzendenz an. Erscheint der ›Andere‹ (als südlicher Völkerstrom und als Slawentum) in den Ausführungen als weiblicher Ergänzungspol, so wird im Folgenden u. a. zu zeigen sein, inwiefern sich die Weiblichkeit des ›Anderen‹ in Steiners Rassenmodellen zudem aus Relationierungen zur finsteren, weiblich codierten Materie ergibt – und damit den konstitutiven Gegenpol zur Figuration des geistig-männlichen Lichtprinzips in Form der weißen ›Rasse‹ darstellt.

5.8 Rassenmodelle und Individualkörper »Wenn der Mensch sein Inneres ganz ausprägt in seiner Physiognomie, in seiner Körperoberfläche, dann durchdringt das gleichsam mit der Farbe der Innerlichkeit sein Äußeres.«319

Steiners spezifisch anthroposophische Begründungen der ›Menschenrassen‹ sind, wie angedeutet, vielfältig. Grundlegend ist der Gedanke, dass planetarische Kräfte und geistige Wesenheiten Einfluss auf die Formgebung und Entwicklung des jeweiligen ›Rassencharakters‹ ausübten. So heißt es etwa 1912, Luzifer differenziere die ›Rassen‹,320 er gebe ihnen Gestalt und äußere Farbe.321 Steiner imaginiert darüber hinaus (wie in der Sekundärliteratur mehrfach herausgestellt wurde), eine ganze Heerschar von ›Rassegeistern‹, ›Zeitgeistern‹, ›Volksgeistern‹ und ›Geistern der Form‹ und nicht zuletzt habe auch der jüdische Schöpfergott (als demiurgische Mondengottheit) mit der Rassenentwicklung zu tun.322 Ebenso mannigfaltig wie die spiritualistischen Begründungen erweisen sich die verschiedenen Konkretisierungen einzelner Rassenmodelle. Danach definiert Steiner 1910 »fünf Grundrassen im Erdendasein«323 oder auch »fünf Hauptrassen der Menschheitsentwickelung«.324 Hierzu zählt er erstens die »Merkur-Rasse«325 als »schwarze[] Rasse«326 bzw.

319 320 321 322 323 324 325 326

Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 03.05.1909, S. 286. Vgl. Steiner, R. (GA 143), Vortrag vom 17.04.1912, S. 138. Vgl. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 15.06.1910, S. 156. Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 113f.; vgl. u. a. auch Bierl, P. (1999); Zander, H. (2001). Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 108. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 119. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 108, 110. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 108.

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»äthiopische[] Rasse«,327 die er Afrika zuordnet; zweitens die »Venus-Rasse oder die malayische Rasse«,328 die Asien zugehörig sei; drittens die »MarsRasse« als »mongolische[] Rasse«;329 viertens die »Jupiter-Menschen« als »europäische[] Menschen«;330 und fünftens die »Rasse des finsteren Saturn« als »indianische Rasse« bzw. »amerikanische Rasse«.331 Nach Steiner »kochen und brodeln«332 die »Planetengeister[]«333 als »Rassengeister«334 im Innern des Menschen (im Blut, im Nervensystem, im Drüsensystem) und geben den Rassen so ihre Merkmale.335 Die fünfgliedrige Rassensystematik ist der numerischen Struktur nach an rassentheoretische Traditionen Blumenbachs anlehnt (vgl. Kap. 3.3.7). Sie erscheint Steiner jedoch (vermittelt über die Planeten und ihre Geister) als kosmologisch harmonisches Gesamtsystem, als Verweltlichung einer kosmologisch-göttlichen Ordnung. Die anthroposophische Physiologie differenziert dabei rassenspezifische Einflüsse planetarischer Kräfte und ist als solche Ausgangspunkt einer kosmologisch-spiritualistischen Biologisierung. In der Charakterisierung der (weißen) ›Jupiter-Menschheit‹ etwa erläutert Steiner exemplarisch zur Wechselwirkung von geistiger Welt und menschlicher Physiologie: »Der Angriff, der von dem Jupiter ausgeht, geht auf dem Umweg durch die Sinneseindrücke und strömt von da aus auf die Teile des Nervensystems, die im Gehirn und Rückenmark zentriert sind. Da hinein fließen also bei denjenigen Rassen, die zur Jupiter-Menschheit gehören, jene Kräfte, die den Rassencharakter besonders ausprägen. Das ist bei den arischen, vorderasiatischen und europäischen Völkern, bei denen, die wir zu den Kaukasiern rechnen, mehr oder weniger der Fall.«336

Die fünfgliedrige Rassensystematik kann als übergeordnetes Schema eines dreigliedrigen Modells verstanden werden. ›Indianer‹ und ›Malaien‹ werden danach teils, so in einem der Vorträge Steiners vor den Bauarbeitern des Goe-

327 328 329 330

331 332 333 334 335 336

Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 109, 110. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 108. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 108. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 108. »Modifikationen dieses Jupiter-Einflusses sind im Grunde genommen alle vorderasiatischen und namentlich europäischen Völker [...].« Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 115. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 109. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 112. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 110. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 111. Vgl. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 110-117. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 114.

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theanums337 1923, als ›gesonderte Abzweigungen‹ beschrieben. In farblicher Übersetzung: »Sehen Sie, so hat sich die Sache entwickelt, daß diese fünf Rassen entstanden sind. Man möchte sagen, in der Mitte schwarz, gelb, weiß, und als ein Seitentrieb des Schwarzen das Kupferrote, und als ein Seitenzweig des Gelben das Braune – das sind immer die aussterbenden Teile.«338

Abbildung 1: Steiner, Rudolf: Tafelskizze 6.

Quelle: Steiner, R. (GA 349), S. 56. Im dreigliedrigen Grundmodus assoziiert Steiner hier die weiße ›Rasse‹ mit dem ›Denkleben‹ und dem Vorderhirn; die schwarze ›Rasse‹ mit dem ›Triebleben‹ und dem Hinterhirn; und die gelbe ›Rasse‹ mit dem ›Gefühlsleben‹ und dem Mittelhirn.339 Die jeweiligen ›Rassen‹ repräsentieren somit Farben, physiologische Teile des anthroposophisch strukturierten Individualkörpers und eine dreigliedrige Differenzierung der conditio humana in Emotion, Trieb und Rationalität. Mit dem Gehirn als ›Rassefaktor‹ werden Traditionen der rassentheoretischen Phrenologie einbezogen.340 Zugleich lassen sich die Charakteri337 Das Goetheanum wurde als Zentrum der Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach/Schweiz nach Entwürfen von Rudolf Steiner errichtet und ist heute der Sitz der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. 338 Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 62. 339 Vgl. Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 58. 340 Die Dreiteilung der Hirnregionen als solche schließt an eine Schematisierung an, die sich bereits bei Carus findet. Carus übernimmt dabei, wie Hagner darstellt, seinerseits Vorstellungen von Emil Huschke, einem Schüler von Lorenz Oken: »Danach war die hintere Hirnregion [...] Sitz des Triebs und des Willens [...], die mittlere Region [...] Sitz des Gefühls [...] und das vordere Segment Sitz des Verstands [...].« Hagner, M. (2009), S. 262. Zu Carus’ Differenzierung zwischen »Erkennen«, »Fühlen« und »Wollen« und einer entsprechenden Zuordnung zu drei Gehirnregionen vgl. auch Melzer, K. (2009a), S. 273f.

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sierungen an eine anthroposophisch spezifische Physiologie, die der Dreiteilung in »Nerven-Sinnessystem«, »Stoffwechsel-Gliedmaßensystem« und »rhythmische[s] System« folgt,341 anbinden. Über die Analogiebildung zum Individualkörper, seiner dreigliedrigen ›Ganzheitlichkeit‹, erschließt sich der Konstruktion nach entsprechend die dreigliedrige Grunddifferenzierung in ›Rassen‹. D. h., die ›Rassen‹ erscheinen als ›logisches‹ Abbild des dreigliedrigen Körpers; zugleich gibt der psycho-physiologische Sinnzusammenhang des anthroposophischen Körperbildes den ›Rassen‹ ihren jeweiligen Charakter und diese scheinen wiederum für die Existenz eines dreigliedrigen individuellen Körpers zu sprechen.342 Die anthroposophisch ›ganzheitlichen‹ Körperkonzepte sind in diesem Kontext demnach ihrerseits über Analogiebildungen rassentheoretisch codiert. Auf die ›aussterbenden Rassen‹ wird im Folgenden noch zurückgekommen. Steiners Analogiebildungen zwischen ›Rassen‹ (als Kollektivkörpern) und dem Individualkörper umschließen sogleich individual-psychologische Entwicklungsmodelle. Hier zeigt sich deutlich, dass Steiner von Carus’ Schriften inspiriert ist. In Reduktion seiner fünfgliedrigen zu einer viergliedrigen Rassensystematik (die bereits 1909 benannt wird und dort dem Farbsystem Linnés entspricht343) gibt Steiner 1910 Carus wider,344 wenn er folgende Zuordnung formuliert: »Afrika« und die »schwarze Rasse« stünden für »Kindheitsmerkmale«, »Asien« und die »gelben« oder »bräunlichen Rassen« für »Jugendmerkmale«, Europa für »reifste Merkmale« und Amerika für das »Absterben der Menschheit«.345 Bierl verweist hinsichtlich dieser Zuord341 Untersuchungskommission »Anthroposophie und die Frage der Rassen« (1998), S. 266. 342 Zur grundlegenden Bedeutung der Dreigliederung in Steiners Anthroposophie, die sich auch auf den Bereich des ›sozialen Organismus‹ erstreckt, vgl. Körner-Wellershaus, I. (1993). 343 »Erinnern Sie sich daran, wie es ›Rassen‹ gibt, die schwarze, rote, gelbe und weiße Rasse, und wie diese Rassen ursprünglich verknüpft sind mit gewissen Gebieten unserer Erde.« Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 03.05.1909, S. 277. 344 Vgl. Carus, C. G. (1861), S. 468. 345 Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 10.06.1910, S. 77-79. In Steiners Worten: »Der afrikanische Punkt entspricht denjenigen Kräften der Erde, welche dem Menschen die ersten Kindheitsmerkmale aufdrücken, der asiatische Punkt denjenigen, welche dem Menschen die Jugendmerkmale geben, und die reifsten Merkmale drückt dem Menschen der entsprechende Punkt im europäischen Gebiete auf. Das ist einfach Gesetzmäßigkeit. Da alle Menschen in verschiedenen Reinkarnationen durch die verschiedenen Rassen durchgehen, so besteht, obgleich man uns entgegenhalten kann, daß der Europäer gegen die schwarze und die gelbe Rasse einen Vorsprung hat, doch keine eigentliche Benachteiligung. Hier ist die Wahrheit zwar manchmal verschleiert, aber Sie sehen, man kommt mit Hilfe der Geheimwissenschaft doch auf merkwürdige Erkenntnisse. Wenn wir dann diese Linie weiterziehen, so kommen wir weiter

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nungssystematik auf die Parallele zu Spenglers Modell von Aufstieg, Jugend und Verfall.346 Nicht zuletzt der Begriff der ›Abenddämmerung‹, den Steiner im folgenden Zitat (ebenso von 1910) auf die ›Indianer‹ anwendet, spricht jedoch dafür, dass Steiner Carus’ Modell spiritualistisch umschreibt. Hier konkretisiert Steiner einen vermeintlichen kosmologischen Sinnzusammenhang von Planeten- und Erdenkräften, einer anthroposophischen Physiologie der ›Rassen‹ und ihrem Charakter (ein Zusammenhang, der auch über vier »atlantische Orakel« erklärt wird347). In einer ›ganzheitlichen‹ Systematik, in welcher die ›Indianer‹ (als ›Saturn-Rasse‹) die Sterblichkeit des Menschen repräsentieren, wird ihr ›Aussterben‹ (analog zu Carus) kosmologisch ›sinnhaft‹ aufgeladen: »Da haben wir in allem, was wir als Saturn-Rasse zu bezeichnen haben, in allem, dem wir den Saturn-Charakter beizumessen haben, etwas zu suchen, was sozusagen zusammenführt, zusammenschließt das, was wieder der Abenddämmerung der Menschheit zuführt, deren Entwickelung in gewisser Weise zum Abschluß bringt, und zwar zu einem wirklichen Abschluß, zu einem Hinsterben. Wie sich das Wirken auf das Drüsensystem ausdrückt, sehen wir an der indianischen Rasse. Darauf beruht die Sterblichkeit derselben, ihr Verschwinden. Der Saturn-Einfluß wirkt durch alle anderen Systeme zuletzt auf das Drüsensystem ein. Das sondert aus die härtesten Teile des Menschen, und man kann daher sagen, daß dieses Hinsterben in einer Art Verknöcherung besteht, wie dies im Äußeren doch deutlich sich offenbart. Sehen Sie sich doch die Bilder der alten Indianer an, und Sie werden gleichsam mit Händen greifen können den geschilderten Vorgang, in dem Niedergang dieser Rasse.«348

Diese Äußerungen Steiners, die den ›Indianer‹ über eine spiritualistischbiologistische Konstruktion mit ›Verknöcherung‹ assoziieren – und die damit nach Westen nach den amerikanischen Gebieten hinüber, in jene Gebiete, wo diejenigen Kräfte wirksam sind, die jenseits des mittleren Lebensdrittels liegen. Und da kommen wir – ich bitte das nicht mißzuverstehen, was eben gesagt wird; es bezieht sich nur auf den Menschen, insofern er von den physischorganisatorischen Kräften abhängig ist, von den Kräften, die nicht sein Wesen als Menschen ausmachen, sondern in denen er lebt –, da kommen wir zu den Kräften, die sehr viel zu tun haben mit dem Absterben des Menschen, mit demjenigen im Menschen, was dem letzten Lebensdrittel angehört. Diese gesetzmäßig verlaufende Linie gibt es durchaus; sie ist eine Wahrheit, eine reale Kurve, und drückt die Gesetzmäßigkeit im Wirken unserer Erde auf den Menschen aus. Diesen Gang nehmen die Kräfte, die auf den Menschen rassebestimmend wirken. Nicht etwa deshalb, weil es den Europäern gefallen hat, ist die indianische Bevölkerung ausgestorben, sondern weil die indianische Bevölkerung die Kräfte erwerben mußte, die sie zum Aussterben führten.« Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 10.06.1910, S. 78f. 346 Vgl. Bierl, P. (1999), S. 90. 347 Vgl. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 109. 348 Vgl. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 116f.

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verbundene Rechtfertigung der tödlichen Folgen des europäischen Kolonialismus349 – werden auch nicht dadurch gemildert, dass Steiner im Anschluss vom »Großen Geist« der ›Indianer‹ spricht.350 Diese vermeintliche Wertschätzung folgt der Vorstellung eines Festhaltens des ›Indianers‹ an einem vergangenen und zu überwindenden Stadium von Spiritualität bzw. »Monotheismus«, wie Steiner bereits 1907 klarmacht.351 Wenn Steiner 1907 konstatiert, »die Indianer« seien »stehen geblieben und dadurch in Dekadenz gekommen«352 so greift er im Charakteristikum der ›Dekadenz‹ die rassentheoretischen Konstruktionen aus dem 19. Jahrhundert auf, wie sie u. a. von Meiners formuliert wurden (vgl. Kap. 3.3.7). Steiner verbindet dieses Attribut aber eben mit einem spiritualistischen Entwicklungsgedanken, in dem Dekadenz und Degeneration (als Gegenbild des geistigen Fortschreitens) im ›Indianer‹ eine Symbiose eingehen.353 Über die spezifische Konstruktion des ›Indianers‹ hinaus, verweist die anthroposophische Formulierung einer physiologischen ›Verknöcherung‹ auf eine übergeordnete Grundstruktur, die Steiners Rassenmodelle dem Konstruktionsmodus nach als Schwarz-Weiß-Struktur durchzieht. Diese Grundstruktur beschreibt eine Polarisierung von ›weiß‹ versus ›nicht-weiß‹ als neognostische Polarisierung von Geist/Licht versus finstere, ›verhärtete‹ Materie. Hierbei spielt wiederum eine anthroposophische Physio-

349 Vgl. dazu kritisch u. a. Warten und weiterlesen. Von Christian Füller. In: die tageszeitung (taz), 14.03.01. 350 Vgl. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 118. 351 »Wir haben in der amerikanischen Rasse eine primitive Urbevölkerung vor uns, die weit, weit zurückgeblieben ist, auch in bezug auf religiöse Weltanschauung. Aber sie hat sich bewahrt den Glauben an einen monotheistischen Geist, der aus allen Lauten der Natur zu ihr spricht. Der Indianer steht mit der Natur in so innigem Verhältnis, daß er noch in allen ihren Äußerungen die Stimme des hohen schöpferischen Geistes hört, während der Europäer so in der materialistischen Kultur steckt, daß er die Stimme der Natur nicht mehr wahrnehmen kann. Beide Völker haben denselben Ursprung, beide stammen von der Bevölkerung der Atlantis ab, die einen monotheistischen Glauben besaß, entsprungen aus einem geistigen Hellsehen. Aber die Europäer sind hinaufgestiegen zu einer höheren Kulturstufe, während die Indianer stehen geblieben und dadurch in Dekadenz gekommen sind. Diesen Entwicklungsvorgang muß man immer beachten. Er läßt sich darstellen wie folgt. Im Laufe der Jahrtausende verändert sich unser Planet, und diese Veränderung bedingt auch eine Entwicklung der Menschheit. Die Seitenzweige, die nicht mehr in die Verhältnisse hineinpassen, werden dekadent. Wir haben also einen geraden Entwicklungsstamm und abgehende Seitenzweige, die verfallen.« Steiner, R. (GA 100), S. 259f. 352 Steiner, R. (GA 100), S. 259. 353 Zur Dekadenz des ›Indianers‹ vgl. u. a. auch Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 03.05.1909, S. 292. Zum ›degenerierten‹ Indianer vgl. u. a. Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 10.08.1908, S. 106; siehe dazu die Ausführungen im folgenden Abschnitt.

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logie des Individualkörpers, jedoch auch der neognostische Entwicklungsmodus als solcher eine Rolle, wie der folgende Abschnitt zeigt.

5.9 Knochenleib und Lichtleib Es liegt in der Logik einer Analogisierung von Mikro- und Makroebene, dass Steiners Rassenkonstruktionen zur gegenwärtigen Menschheit mit dem übergeordneten Evolutionsmodell korrespondieren. D. h., die neognostische Grundstruktur des anthroposophischen Evolutionsmodells schematisiert die Charakterisierungen heutiger ›Rassen‹. Demnach werden Außereuropäer durch die dunkle Materie, durch physiologische ›Verhärtung‹, ›Verknöcherung‹ und den Begriff der Degeneration gekennzeichnet. Die als weiß beschriebenen Europäer stehen für erlösende Vergeistigung – ein Führungsanspruch, der im Vorangegangenen bereits skizziert wurde und den Steiner 1923 mit den Worten zusammenfasst: »Die weiße Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schaffende Rasse.«354 Zander hat aufgezeigt, dass Steiners kosmologisches Evolutionsmodell und die ihm inhärenten ›Bewusstseinsstufen‹ in Relation zur Hierarchisierung der ›Menschenrassen‹ zu denken sind und in einen Dualismus von ›Fortschritt‹ und ›Degeneration‹ münden.355 Zu präzisieren sind im Folgenden die neognostischen Grundstrukturen, in denen sich das gnostische Geist-MaterieVerhältnis in seinen schwarz-weiß-symbolischen Dimensionen als anthroposophische Physiologie der ›Rassen‹ manifestiert. Thesen zu einer rassenspezifischen ›Verhärtung‹ finden sich u. a. in Steiners Vortragszyklus »Welt, Erde und Mensch« von 1908. Danach sei bei den »Indianer[n]« das »Knochensystem« in besonderer Weise verhärtet,356 bei der »schwarze[n] Rasse« das »Ernährungssystem«, bei der »malayische[n] Rasse« das »Nervensystem« und bei der »mongolischen Rasse« sei das »Ich im Blute« verhärtet.357 Die Verhärtung führe bei den ›Indianern‹ und ›Malaien‹ zu ihrer Degeneration. So heißt es u. a.: »Solche Gruppen von Menschen, bei denen das Knochensystem sozusagen zuviel abgekriegt hatte, blieben dann als degenerierte Menschenrasse zurück. Sie konnten sich nicht mehr hineinfinden in die Verhältnisse der nachatlantischen Zeit; und die letzten Überbleibsel davon sind die amerikanischen Indianer. Sie waren degeneriert.«358

354 355 356 357 358

Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 67. Vgl. Zander, R. (2001), S. 309, 316. Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 10.08.1908, S. 106. Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 10.08.1908, S. 107. Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 10.08.1908, S. 106. Zur Verhärtung der ›Indianer‹ vgl. auch Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 117.

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Die atlantischen Vorläufer der Europäer hätten alle Elemente insgesamt ›weicher‹ erhalten und sich dadurch fortentwickeln können.359 Den Konstruktionen liegen gnostische Bilder der ›Verstofflichung‹ und Verdunklung und demgegenüber Bilder der Ent-Stofflichung, der Ent-Dichtung der Materie zu Grunde. Sie sind Ausdruck einer neognostischen Weltfeindlichkeit, in der die Entwicklungsfähigkeit hin zum ›Geistleib‹ dem (weißen) Europäer über seine durchlässigere, weniger verdichtete Materie eingeschrieben wird. Die irdische Materie wird als ›verknöcherte‹, ›verhärtete‹ Materie hingegen (dem Evolutionsmodell gemäß) als Ausdruck der Degeneration gewertet. In Reartikulation gnostischer Traditionen steht die irdische ›verknöcherte‹ Materie zudem mit dem Tod in Beziehung, eine Relation, die bei Steiner buchstäblich zu verstehen ist, da er die Knochen allgemein als physiologische Ursache für die Sterblichkeit des Menschen ansieht.360 Nicht zuletzt über diese Relationierung scheint eine besondere Verhärtung des ›Knochensystems‹ der Systematik nach auch das ›Absterben‹ der indianischen und malaiischen ›Zweige‹ anthroposophisch zu ›plausibilisieren‹. Tatsächlich wird dieser Gedanke von Steiner 1923 formuliert. Der oben benannte (und bereits mehrfach kritisierte) ›Arbeitervortrag‹,361 in dem sich die entsprechenden Ausführungen finden, ist zugleich eines der markantesten Beispiele dafür, inwiefern ein Zusammenspiel von Physikalisierung, Spiritualisierung und Biologisierung Steiners Rassenkonstruktionen prägt. Hier wird eine Relation von ›Licht‹, anthroposophischer Farbenlehre, den rassentheoretischen Hautfarben, einer rassenspezifischen Verhärtung und ›rassischen‹ Charaktereigenschaften aufgestellt. Die ›Indianern‹ (deren »kupferrote« Farbe Steiner aus der schwarzen Haut der nach »Westen« ausgewanderten »Schwarzen« ableitet, die nun nicht mehr genug »Licht und Wärme« abbekämen, »um schwarz« zu werden«362), gehen hier buchstäblich an ihren Knochen »zugrunde«: »Das Kupfer ist selber ein Körper, der Licht und Wärme so ein bißchen zurückwerfen muß. Das können sie nicht aushalten. Daher sterben sie als Indianer im Westen aus, sind wiederum eine untergehende Rasse, sterben an ihrer eigenen Natur, die zu 359 Vgl. Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 10.08.1908, S. 107. 360 Vgl. Steiner, R. (GA 105), S. 175. 361 Vgl. Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 52-68. Passagen des Vortrags wurden bereits 1992 von Jutta Ditfurth zitiert und kritisiert (vgl. Ditfurth, J. (1992), S. 220f.) und in der kritischen Sekundärliteratur verschiedentlich aufgegriffen. Vgl. u. a. Bierl, P. (1999); Schmid, G. O. (1995); Zander, H. (2001). 362 »also wenn die Schwarzen nach dem Westen auswandern, da können sie nicht mehr so viel Licht und Wärme aufnehmen wie in ihrem Afrika. [...] Jetzt kriegen sie nicht so viel Licht und Wärme, als sie brauchen, um schwarz zu werden. Daher werden sie kupferrot, werden Indianer. Das kommt davon her, weil sie gezwungen sind, etwas von Licht und Wärme zurückzuwerfen. Das glänzt dann so kupferrot.« Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 61.

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wenig Licht und Wärme bekommt, sterben an dem Irdischen. Das Irdische ihrer Natur ist ja ihr Triebleben. Das können sie nicht mehr ordentlich ausbilden, während sie noch starke Knochen kriegen. Weil viel Asche hineingeht in ihre Knochen, können diese Indianer diese Asche nicht mehr aushalten. Die Knochen werden furchtbar stark, aber so stark, daß der ganze Mensch an seinen Knochen zugrunde geht.« 363

Ein ähnliches Schicksal ist den ›Malaien‹ beschieden, deren »Knochengerüst« nicht in der Lage sei, »Licht und Wärme« richtig zu verarbeiten; sie werden daher zu »unbrauchbaren Menschen«, zu Menschen, »die am Menschenkörper zerbröckeln, deren Körper abstirbt. Das ist in der Tat bei der malaiischen Bevölkerung der Fall. Die stirbt an der Sonne. Die stirbt an der Östlichkeit.«364

Das von Carus übernommene Bild der ›Abenddämmerung‹, das die ›Indianer‹ mit Sterblichkeit belegt, findet so auch sein Pendant in einer anthroposophischen Modifizierung von Carus’ ›östlichen Dämmerungsvölkern‹, die hier über ihre Knochen am (Sonnen-)Licht sterben. Einleitend führt Steiner in dem besagten Vortrag Relationsbestimmungen des Lichts (des ›Weltenraums‹) und der vermeintlichen Hautfarben ein, womit Aspekte seiner ›Farbenlehre‹365 angerissen werden. Er nimmt dabei Bezug auf Schwarz und Weiß: 363 Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 61f. 364 Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 61. In Gänze heißt es: »Also diese braunen Malaien sind ausgewanderte Mongolen, die sich aber jetzt, weil die Sonne anders auf sie wirkt, angewöhnen, mehr Licht und mehr Wärme aufzunehmen. Bedenken Sie aber, daß sie nicht die Natur dazu haben. Sie haben sich schon angewöhnt, sogar ein solches Knochengerüste zu haben, daß sie nur einen bestimmten Grad von Wärme aufnehmen können. Sie haben nicht die Natur, so viel Wärme aufzunehmen, als sie jetzt als Malaien aufnehmen. Die Folge davon ist, daß sie anfangen, unbrauchbare Menschen zu werden, daß sie anfangen, Menschen zu werden, die am Menschenkörper zerbröckeln, deren Körper abstirbt. Das ist in der Tat bei der malaiischen Bevölkerung der Fall. Die stirbt an der Sonne. Die stirbt an der Östlichkeit. So daß man sagen kann: Während die Gelben, die Mongolen, noch Menschen in der Vollkraft sind, sind die Malaien schon eine absterbende Rasse. Sie sterben ab.« Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 61. 365 Grundlegend rekurriert Steiner in seiner Farbenlehre verschiedentlich auf Goethes Farbenlehre, dessen Gesamtausgabe er zusammenstellte und kommentierte. Vgl. Goethe, J. W. v. (1992); Steiner, R. (1992a); Steiner, R. (1992b); vgl. auch Goethe, J. W. v. (o. J.). Allerdings ist Steiners anthroposophische Farbenlehre insgesamt nicht mit Goethes Farbenlehre zu vergleichen. Steiner entwickelt ganz eigene, von Goethe abweichende mystische Grundzüge in der Bestimmung von Licht und Finsternis sowie einzelner Farben, die sich u. a. in der anthroposophischen Kunst niederschlagen. Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 276). Licht und Finsternis sind in Steiners Anthroposophie zudem, wie allein die vo-

294 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK »Wollen wir uns einmal einfach an gewöhnlichen Gegenständen die Farben betrachten. Da unterscheiden Sie zunächst, sagen wir, Schwarz und Weiß. Das sind ja die auffälligsten Farben, Schwarz und Weiß. Wie steht es denn nun mit einem schwarzen Körper? Mit einem schwarzen Körper steht es so, daß er all das Licht, das auf ihn fällt, in sich verarbeitet und gar kein Licht zurückspiegelt. [...] Wenn Sie einen weißen Körper haben, der sagt: Ich brauche das Licht nicht; ich will nur das verarbeiten, was in mir selber ist. Ich schicke alles Licht zurück. – Daher ist er weiß.«366

Hiernach überträgt Steiner seine ›physikalischen‹ Ausführungen auf die angenommenen Farben der ›Menschenrassen‹ bzw. schreibt die fiktiven Hautfarben über ›farbtheoretisch-physikalische‹ Überlegungen fest. Und so heißt es: »Diese Schwarzen in Afrika haben die Eigentümlichkeit, daß sie alles Licht und alle Wärme vom Weltenraum aufsaugen. Sie nehmen das auf. Und dieses Licht und diese Wärme im Weltenraum, die kann nicht durch den ganzen Körper durchgehen, weil ja der Mensch immer ein Mensch ist, selbst wenn er ein Schwarzer ist. Es geht nicht durch den ganzen Körper durch, sondern hält sich an die Oberfläche der Haut, und da wird die Haut dann selber schwarz. [...] Überall nimmt er Licht und Wärme auf, überall. Das verarbeitet er in sich selber.«367

In der Folge wird einen Zusammenhang von schwarzer Haut, Sonne, Hitze, Hirn und ›Triebleben‹ konstruiert: »Er hat, wie man sagt, ein starkes Triebleben, Instinktleben. Der Neger hat also ein starkes Triebleben. Und weil er eigentlich das Sonnige, Licht und Wärme, da an der Körperoberfläche in seiner Haut hat, geht sein ganzer Stoffwechsel so vor sich, wie wenn in seinem Innern von der Sonne selber gekocht würde. Daher kommt sein Triebleben. Im Neger wird da drinnen fortwährend richtig gekocht, und dasjenige, was dieses Feuer schürt, das ist das Hinterhirn.«368

rangegangenen Ausführungen zeigen, mit verschiedensten übersinnlichen Geistern und Wesenheiten assoziiert. 366 Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 53f. 367 Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 55. 368 Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 55. Dem geht die Aussage voraus: »Da muß etwas da sein, was ihm [dem Schwarzen] hilft bei diesem Verarbeiten [des Lichts und der Wärme]. Nun, sehen Sie, das, was ihm da hilft beim Verarbeiten, das ist namentlich sein Hinterhirn. Beim Neger ist daher das Hinterhirn besonders ausgebildet. Das geht durch das Rückenmark. Und das kann alles, was da im Menschen drinnen ist an Licht und Wärme, verarbeiten. Daher ist beim Neger namentlich alles das, was mit dem Körper und mit dem Stoffwechsel zusammenhängt, lebhaft ausgebildet.« Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 55.

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Analog zum ›Indianer‹ konstatiert Steiner hiernach eine rassenspezifische physiologische Verdichtung der Knochen, wenn er anschließt, das ›Triebleben‹ des Schwarzen, »was im Innneren [sic!] kocht« würde »viel Asche« geben, die sich »dann in den Knochen« absetze.369 Die (weißen) Europäer hätten »feiner« ausgebildete Knochen.370 Was diesen Konstruktionen zu entnehmen ist, ist eine abstruse Zusammenführung von rassentheoretischen Elementen der Klimatheorie, der eurozentrischen Sexualisierung des außereuropäischen ›Anderen‹, eine Physikalisierung rassisierter weißer und schwarzer Körper (die bereits in der ästhetischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts relevant erscheint (vgl. Kap. 3.3.7)), und eine spiritualistische Umdeutung dieser Elemente, die grundlegend vom gnostischen Gedanken der Materiefeindlichkeit geleitet ist. Es lässt sich so auch mit Blick auf die neognostische Ausrichtung schlussfolgern: Der gnostisch sündhafte, sexualisierte, mit der sterblichen, weiblichen Materie assoziierte, symbolisch schwarze Leib nimmt im Konstrukt des ›verhärteten‹, schwarzen/bunten Außereuropäers, seiner Sexualisierung und seiner zum Aussterben verdammten Natur bei Steiner eine neognostische, rassenspezifische physiologische Gestalt an. Die dem eurozentrischen Konstrukt des sexualisierten ›Anderen‹ seinen Anfängen nach eingeschriebenen religiösen Bilder der dunklen, sündigen Natur/des Fleisches werden von Steiner über die ›Verknöcherung‹ des ›Anderen‹ neognostisch reartikuliert. Im Detail allerdings stehen die anthroposophischen Ausführungen in ihrer gleichermaßen obskuren wie menschenverachtenden Rhetorik für sich. Der Struktur nach stabilisiert die Konstruktion des rassisierten nichtweißen ›Anderen‹ das Konstrukt der weißen Ausgangsnorm, mit der sich das Erlösungsversprechen, das Potential der Erleuchtung und eine erneute Vergeistigung verbinden. Dies schließt die Überwindung der dunklen Begierden ein, als deren Sinnbild – im gängigen Modus kolonial-rassistischer Konstruktion, jedoch in spezifisch anthroposophischer Wendung – der ›Andere‹ erscheint. So heißt es auch bereits 1906, der »europäische Durchschnittsmensch« herrsche gegenüber dem »Wilden« über »Leidenschaften und Triebe«, er habe seinen »astralischen Leib« (der »Träger von Begierden und Leidenschaften ist«) über das »Ich« umgestaltet und damit sein »geistiges Selbst oder Manas« entwickelt.371 Im ›Arbeitervortrag‹ von 1923 dominiert die Gegenüberstellung von ›Triebleben‹ und ›Gefühlsleben‹ des ›Anderen‹ einerseits und dem eingangs skizzierten (Leiden am) ›Denkleben‹ des weißen Europäers andererseits – eine in sich geschlechtlich codierte Schwarz-WeißStruktur rassenspezifischer Charakterisierungen. Das ›Denkleben‹/»selbst-

369 Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 60. 370 Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 60. 371 Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 124.

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ständige[s] Denken«372 setzt Steiner in Zusammenhang mit der »europäische[n] Menschenfarbe«.373 Dabei wird zunächst das farbliche Weißsein ›physikalisch‹ festgeschrieben, wenn es heißt: »Wir sind in der Tat dem Weltenall gegenüber eine weiße Rasse, denn wir werfen alles äußere Licht zurück. Wir werfen alles äußere Licht und im Grunde genommen auch alle Wärme zurück.«374 Der physikalisch weiße Körper wird so zum ›rassischen‹ ›Lichtkörper‹, zur weißen Fläche, die das Licht reflektiert. Hieran schließt eine Relationsbestimmung von ›Kopf‹/›Denkleben‹, Hautfarbe und äußerem Licht an: »Wir müssen also mit unserem Kopf auch das erarbeiten, was Licht und Wärme ist. Wir werfen eigentlich alles äußere Licht und Wärme zurück. Wir müssen unserem Blut selber die Farbe geben. Das dringt dann durch das Weiße durch, und dadurch bekommen wir diese europäische Menschenfarbe. Die ist also vom Innern. Daher sind wir schon so wie ein weißer Körper, der alles im Innern verarbeitet, und alles Licht und alle Wärme zurückwirft. Wir sind schon so ein weißer Körper.«375

Über die ›europäische Menschenfarbe‹ wird das abstrakte Weiß sowohl bestätigt als auch (durch das Blut) ›belebt‹: Dabei ist die ›europäische Menschenfarbe‹, wie bereits skizziert, von Steiner als Farbe ›Pfirsichblüt‹, als Farbe des ›Inkarnats‹, gefasst und gilt als farbliches Zeichen Christi.376 Hier konstruiert Steiner die Hautfarbe des Europäers als Resultat der Aktivität des Denkens, einer geistigen Produktivität, die im ›Innern des Körpers‹ (als Prozess einer Farbgebung des Blutes) wirkt und darüber die äußere ›Menschenfarbe‹ herstellt. Letztlich fallen damit (das Licht des) Logos und die Inkarnatfarbe als Zeichen Christi in der Konstruktion der Hautfarbe des Europäers wiederum als zwei Prinzipien des Geistes zusammen. Hinsichtlich von Steiners Thesen zum ›äußeren‹ Licht, das der rassisierte weiße Körper reflektiert, und worüber Weißsein eine ›physikalische Realität‹ und Sichtbarkeit verliehen wird, ist zu betonen, dass Steiners Farbenlehre ihren Grundzügen nach mystisch ausgerichtet ist. D. h. auch: Für Steiner ist, wie er an anderen Stellen ausführt, das Licht »eine wirkliche Wesenheit in der Sinneswelt, die aber selbst außersinnlich ist.«377 Im sinnlich äußeren Licht lebe das Geistige,378 das »physische

372 373 374 375 376

Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 59. Steiner , R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 58. Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 57. Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 58. Vgl. u. a. Wiesberger, Hella/Proskauer Heinrich O. Die Inkarnatfarbe. In: Steiner, R. (GA 291a), S. 167; Steiner, R. (GA 207), Vortrag vom 24.09.1921, S. 42. 377 Steiner, R. (GA 28), S. 95. 378 Vgl. Steiner, R. (GA 131), Vortrag vom 06.10.1911, S. 68.

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Licht« ist nur »der äußere Leib des astralischen Lichtes«.379 Insofern verleihen die ›farbtheoretisch-physikalischen‹ Ausführungen Steiners dem weißen Körper als rassisiertem Lichtkörper eine spirituelle Qualität.380 Im ›Arbeitervortrag‹ wird die weiße Hautfarbe des Europäers zudem mit geistig-kultureller Aktivität in Verbindung gebracht. Dies verdeutlicht sich in Steiners Überlegungen zur Farbe der ›Inder‹. Deren »schönste[] indische[] Dichtungen« verdanken sich demnach der weißen Farbe der ›Kaukasier‹: »Daher ist es auch gekommen, daß, von da oben ausgehend, einstmals eine große Völkerwanderung bis nach Indien hinunterging. Da traf ein Strom weißer Bevölkerung in das Gebiet hinein, wo man gelb wird. Daher kamen dann die Inder, so eine Mischung von Mongolischem und Kaukasischem. Daher die schönsten indischen Dichtungen, das Schönste, was da ist; aber zu gleicher Zeit wiederum etwas, von dem man merkt, es ist schon träge geworden, weil eben das Weiße nicht in seinem eigentlichen Gebiet drinnen ist.«381

Beispielhaft zeigt sich hier, dass Steiner »das Weiße« in ›farbtheoretischem‹ Sinne als eigenständige Größe und gemäß symbolischen Traditionen als Farbe des (aktiven) Geistes, des geistig-schöpferischen (Licht-)Prinzips fasst, das im weißen Kaukasier seine Verkörperung findet. Hängt die geistige Produktivität der farblichen Konstruktionslogik nach an der weißen Farbe des Geistes, so liegt in Steiners konstatiertem (kulturellem) Qualitäts- und Aktivitätsverlust der Inder eine zweifache Farblogik begründet: Implizit führt schon die Verunreinigung der weißen Farbe durch ›Mischung‹ (mit ›Gelb‹) zum ›trägen‹ Moment, zur ›Dämpfung‹ der geistigen Aktivität. Konkret jedoch verliert dem Zitat zufolge ›das Weiße‹ durch eine Entfernung seines ›eigentlichen Gebietes‹, seines Zentrums, an Qualität, wird abgeschwächt. Es spiegelt sich so auch in Steiners Ausführungen die eurozentrische Relationsbestimmung von Zentrum und Peripherie. ›Das Weiße‹, das Prinzip des Geistes, erhält hierüber seinen (irdischen) Ort in Europa und seinen dort verorteten ›rassischen‹ Körper. 379 Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 06.08.1908, S. 57. 380 Nicht zuletzt ließe sich mit Blick auf Steiners ›farbtheoretische‹ Ausführungen zu weißen und schwarzen Körpern eine Brücke zu Steiners an Goethes Farbenlehre angelehnte Auffassung schlagen, nach der, wie Hella Wiesberger zusammenfasst, Steiner Schwarz und Weiß als »Repräsentanten« von Licht und Finsternis versteht: Licht und Finsternis sind dabei als »geistige Entitäten« gefasst, die »nicht nur der Entstehung der Farben, sondern allen Erscheinungen – sei es im Physischen, Seelischen oder Geistigen – zugrunde liegen.« Wiesberger, Hella. Die Farbenerkenntnis im Lebenswerk Rudolf Steiners. In: Steiner, R. (GA 291a), S. 12. Schon vor diesem Hintergrund besitzen Steiners ›farbtheoretische‹ Thesen zu rassisierten schwarzen und weißen Körpern eine weitere übersinnliche Dimension. 381 Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 62.

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Die farbliche Konstruktionslogik, nach der die weiße Farbe des Europäers mit Geistigkeit, Licht und Entwicklung in Verbindung steht, zeigt sich, wie die Ausführungen nahelegen, in Steiners neognostischem Denksystem auf vielfältige Weise. Dabei spielt der rassisierte weiße Körper als sichtbares Zeichen einer ›durchgeistigten Materie‹ die entscheidende Rolle. Dies betrifft schon die skizzierten Vorstellungen zur weißen Hautfarbe, die mit dem (Christus-)Geist und dem ›Denkleben‹ in Zusammenhang gebrachten wird, und zur insgesamt ›feineren‹ Materialität des weißen Körpers. Zudem erweisen sich darüber hinaus rassentheoretische Konstruktionen reiner Körperformen als bedeutsam, die mit der Farbe der Reinheit in Verbindung stehen. Zur Geltung kommt dieser Aspekt u. a. in einem Vortrag aus dem Jahr 1908, in dem Steiner rassentheoretisch zwischen einem »Zeustypus«, ›Hermes- (oder Merkur-)typus‹ und »Fauntypus« unterscheidet.382 Die rassisierten Göttertypen erscheinen hier als künstlerische (Ideal-)Typen: »Wir erkennen, wie sich in den einzelnen Gestalten der griechischen Kunst – in den Gestalten der Mythologie – die Rassenbildung erhalten hat«.383 D. h., die künstlerischen, mathematisch abstrakten Körperformen und -normen werden zum Ausdruck der (ur-)zeitlich vorgeschalteten ›Rassenbildung‹ erklärt. Und so heißt es auch: Das, »was man als seinen eigenen Typus bezeichnen könnte, diejenige Rasse, die den arischen Stamm begründet hat, das brachte er [der Grieche] in dem erhabenen idealen Zeustypus zum Ausdruck.«384 Nicht zuletzt erhält der Begriff ›arisch‹ hiermit (gegenüber dem Epochenbegriff der ›Arischen Wurzelrasse‹) seine nähere rassentheoretische Bedeutung. Der ideale Zeustypus (und seine »erhabene[] Stirnbildung«385) verweist auf eben jene abstrakten, geometrischen Körperbilder der Antike, die in der Physiognomie und Rassentheorie seit dem 18. Jahrhundert als rassentheoretische Naturgesetze erscheinen (vgl. Kap. 3.3.7), hier jedoch metaphysisch codiert sind. Die Gesetze des Logos werden zum Ausdruck eines geistig-spirituellen Prinzips, das sich rassenspezifisch konfiguriert. Diese Vorstellung wird 1909 dezidiert formuliert, wenn Steiner konstatiert, die griechische Plastik stehe für die äußere Konfiguration des »Rassentypus der nördlichen Völkermassen«386 – eine Aussage, die im Kontext der bereits erwähnten Rede vom »durchgeistigten« und »veredelten« physischen Leib der »nördlichen Völkermassen«387 getroffen wird. Reartiku382 Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 10.08.1908, S. 108f. Assoziiert werden die Typen der Reihe nach mit den Griechen/Europa; den Asiaten/Osten und mit dem Süden/Afrika. Vgl. Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 10.08.1908, S. 108-110. 383 Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 10.08.1908, S. 110. 384 Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 10.08.1908, S. 109. Zum »Jupiter- oder Zeus-Volk« vgl. auch Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 115. 385 Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 10.08.1908, S. 109. 386 Steiner, R. (GA 113), Vortrag vom 27.08.1909, S. 103. 387 Steiner, R. (GA 113), Vortrag vom 27.08.1909, S. 103.

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liert Steiner damit in gewisser Weise den tradierten Konstruktionsmodus einer geistig strukturierten Materie, so ist das geistige Moment, die rassenspezifische Vergeistigung, bei ihm jedoch Ausdruck einer übersinnlichen (Natur-) Wahrheit. Und die abstrakte, mathematische Strukturierung des menschlichen Körpers ist spiritualistisch rassistisch gewendet. Mit diesen rassenspezifischen Körperkonstruktionen korrespondiert auch die 1910 formulierte Aussage, die Griechen sähen »das Geistige in der sinnlichen Anschauung und werden dadurch das Grundvolk aller Plastik«,388 sie seien »gerade in ausgezeichneter Weise das Jupiter- oder Zeus-Volk«389 – um daraufhin anzuschließen: »Modifikationen dieses Jupiter-Einflusses sind im Grunde genommen alle vorderasiatischen und namentlich europäischen Völker«.390 Hieraus ergibt sich für Steiner schließlich die Ableitung: »Eine Aufgabe, die besonders der kaukasischen Rasse obliegt, ist die: Sie soll den Weg machen durch die Sinne zum Geistigen, denn sie ist auf die Sinne hin organisiert.«391 Konzeptionell wie begrifflich veranschaulicht sich durch diese Aussagen Steiners Mythologisierung des Rassebegriffs. Über ›Zeus‹ und ›Jupiter‹ ist die Licht- und Männlichkeitssymbolik dabei namentlich angelegt und eine (rassentheoretische) Weltwerdung der Lichtgötter schon begrifflich inszeniert. So widersprüchlich Steiners Rassenkonstruktionen der Systematik nach im Einzelnen auch sind (wie allein die drei- bis fünfgliedrigen Modelle und die bisher skizzierten unterschiedlichen Begründungen der Form- und Farbgebung zeigen) – die farbliche Identifizierungslogik, in der Weißsein mit Licht und Geistigkeit verbunden wird, durchzieht die Ausgestaltung und begründet die rassenspezifische ›erlösende‹ Mission.

5.10 ›Licht-Ich‹ und Hautfarben In die farblich strukturierte anthroposophische ›Normierungslogik‹ der ›Rassen‹ fügen sich Steiners Thesen zur Ich-Entwicklung ein, die er mit spiritualistisch-physikalischen Begründungen zur Entstehung der Hautfarben in Verbindung setzt. In seinem Vortrag »Die Ausprägung des Ich bei den verschiedenen Menschenrassen« (03.05.1909)392 wird danach die angenommene richtige und falsche Herausbildung des menschlichen Ichs geradezu als Ursache für die Entstehung der Hautfarben (gegliedert in schwarz, rot, (gelb), weiß) angeführt. Die Ursprünge der rassentheoretischen Farbgebungsprozesse werden in Atlantis verortet. Es handelt sich dabei um jenen bereits aufgegriffenen 388 389 390 391 392

Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 115. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 115. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 115. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 12.06.1910, S. 115f. Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 03.05.1909.

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Vortrag, in dem Steiner ›Manu‹, den ›großen Sonneneingeweihten‹, als ›geistigen Führer‹ der atlantischen ›Normalmenschen‹ benennt und der, neben dem Vortragszyklus »Die Mission einzelner Volksseelen« (1910)393 und den ›Arbeitervorträgen‹ (1922/1923)394 verschiedentlich kritisch zitiert wurde.395 Zander spricht mit Blick auf Steiners Ausführungen zur rassentheoretischen Ich-Entwicklung bezeichnenderweise von einer »Metaphysik des Farbtopfes«.396 Vor dem Hintergrund, dass das menschliche Ich im anthroposophischen Verständnis generell als göttliche Instanz im Menschen durch Geistigkeit und Licht gekennzeichnet ist,397 der »Urgrund« jeden menschlichen Ichs hiernach auch Christus, das ›hohe Sonnenwesen‹, selbst sei,398 lässt sich eine farbsymbolische Identifizierungslogik ausmachen, nach welcher das anthroposophische ›Licht-Ich‹ in seiner ›richtigen‹ Form den weißen Europäern vorbehalten bleibt.399 Steiner stellt das anthroposophische ›Ich‹, das sich im kosmologisch-spiritualistischen Evolutionsmodell erst allmählich als eines von insgesamt vier ›Wesensgliedern‹ des heutigen Menschen entwickelt (vgl. Kap. 5.6.2), im Vorfeld des besagten Vortrags zudem unter Rückgriff auf Fichte400 vor: »Mit dem Auge läßt sich das Erwecken des inneren Selbst vergleichen. Ebensowenig wie Sie in dem Organismus die Seele finden, in dem Auge das Licht, ebensowenig finden Sie in sich selbst den Gott. Aber wir finden die Möglichkeit, die Organe auszubilden, um diesen Gott zu finden. Die Tätigkeit im Ich, die unsere Geistorgane ausbildet, das ist das Sein, das sich der Mensch selbst gibt. Das ist die Tathandlung, das ist Fichtes Selbsterkenntnis.«401

Im Vortrag »Die Ausprägung des Ich bei den verschiedenen Menschenrassen« wird der Außereuropäer mit einem falschen Ich assoziiert, worüber sich nicht nur das wahre weiße Ich, sondern zugleich die Hautfarbensystematik als 393 Steiner, R. (GA 121). 394 Vgl. Steiner, R. (GA 348), Vortrag vom 13.12.1922; Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923. 395 So bereits zitiert bei Ditfurth, J. (1992), S. 220f.; ausführlicher rezipiert v. a. bei Schmid, G. O. (1995); Zander, H. (2001). 396 Zander, H. (2001), S. 302. 397 Vgl. Steiner, R. (GA 9), S. 50. 398 Vgl. Steiner, R. (GA 13), S. 294. 399 Vgl. Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 03.05.1909, S. 287f., 292, 294. 400 Zu Fichtes Lehre vom Ich, insbesondere zur Verbindung von erkenntnistheoretischem Entwicklungsgedanken, ›Ich‹ und ›Licht‹ vgl. u. a. Fichte, J. G. (1986), S. 104, 113, 118. Zu Fichtes ›absolutem Ich‹ vgl. u. a. Lexikon der Philosophie (2005), S. 496. Zu Fichtes Verständnis von »(Selbst-)Bewußtsein« im Kontext seiner »philosophischen Religion« vgl. Brumlik, M. (1992), S. 242, 257. 401 Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 15.03.1906, S. 397f.

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solche begründet. Im Folgenden seien lediglich Grundzüge und einige Beispiele der farblichen Konstruktionslogiken dieses Vortrags angeführt, welche u. a. auch die rassentheoretische ›Übersetzung‹ sprichwörtlicher Redewendungen sowie anthroposophisch spezifische Begründungen Weißer Subjektivität veranschaulichen. Der Grundstruktur nach konstruiert Steiner das richtige Ich als eine ausgeglichene Position zwischen ›zu viel‹ und zu ›wenig‹ Ich, als eine Position zwischen den Extremen. Danach ist die »kupferrote« Farbe der »Indianer« hier das Resultat eines zu starken »Ich-Triebs«.402 Die »schwarze« Farbe sei hingegen Ausdruck einer ›Verleugnung‹ des Ichs, d. h. eines zu geringen ›IchGefühls‹: »Das andere Extrem waren die, welche da sagten: Ach, das Ich ist nichts wert! Das Ich muß sich selber ganz verlieren, muß ganz und gar aufgehen, muß sich alles sagen lassen von außen! – In Wirklichkeit haben sie es nicht gesagt, denn sie reflektierten ja nicht so. Aber das sind die, welche so ihr Ich verleugnet haben, daß sie schwarz davon wurden, weil die äußeren Kräfte, die von der Sonne auf die Erde kommen, sie eben schwarz machten.«403

Mit Blick auf die ›Normalmenschen‹, die atlantischen Vorläufer der weißen Menschheit, heißt es hingegen: »Nur diejenigen, welche imstande waren, die Balance zu halten in bezug auf ihr Ich, das waren die, welche sich in die Zukunft hinein entwickeln konnten.«404 – In dieser Struktur von ›Balance‹ und ›Extremen‹ klingen die Traditionen von ›extremos‹ und ›medios‹ an, wie sie Leibnitz’ frühe Rassenkonstruktionen beispielhaft kennzeichnen (vgl. Kap. 3.3.3). Der ›Dreiklang‹ als solcher korrespondiert wiederum mit Steiners Struktur der ›Dreigliederung‹.405

402 »Diejenigen Völker, bei denen der Ich-Trieb zu stark entwickelt war und von innen heraus den ganzen Menschen durchdrang und ihm die Ichheit, die Egoität aufprägte, die wanderten allmählich nach Westen, und das wurde die Bevölkerung, die in ihren letzten Resten auftritt als die indianische Bevölkerung Amerikas.« Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 03.05.1909, S. 286. »Da gab es zum Beispiel in der alten Atlantis Völker, die dann zu Indianern geworden sind, die sich sozusagen verloren haben von der Erdenbevölkerung. [...] - Und sie haben dieses Ich so stark entwickelt, daß es bei ihnen bis in die Hautfarbe gegangen ist: sie wurden eben kupferrot. Sie haben sich in der Dekadenz entwickelt.« Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 03.05.1909, S. 291f. 403 Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 03.05.1909, S. 292. 404 Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 03.05.1909, S. 292. 405 Vgl. Körner-Wellershaus, I. (1993).

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Gültigkeit besitzen die atlantischen Ausprägungen nach Steiner seinem Entwicklungsschema der ›Rassen‹ gemäß bis heute.406 Mit Blick auf das ›Schwarzwerden‹ wird hierzu ausgeführt: »Heute ist natürlich alles geistiger, als es in der Atlantis war. Heute wird man nicht mehr schwarz davon, wenn man bloß auf Traditionen baut, wenn man sagt: Es werden schon diejenigen für uns sorgen, denen unser Seelenheil anvertraut ist, die um uns herum wirken, und die eben angestellt sind, um unsere Seelen in den Himmel zu bringen! – Heute wird man nicht mehr schwarz davon. Aber wir wollen nicht alles in Abrede stellen: Es gibt auch heute noch Gegenden Europas, in denen gesagt wird, man werde von einer solchen Gesinnung ›schwarz‹!«407

Dieses und das vorangegangene Zitat zum ›Schwarzwerden‹ veranschaulichen die Wirksamkeit sprichwörtlicher Redewendungen und religiöser Symbolik, die im Rahmen anthroposophischer Rassenkonstruktionen aufgegriffen, rassisiert und spiritualistisch aufgeladen werden. Dabei wird auch das religiöse Bild vom ›Schwarzwerden‹ (das sich im christlichen Traditionskontext auf die ›Ungläubigen‹ und ›Sünder‹ bezieht, die Christus leugnen), in den Hautfarbendiskurs integriert. Hier jedoch bezieht sich die ›Verleugnung‹ auf eine Verkennung des ›wahren‹ (göttlich markierten) Ichs, welche die schwarze Haut hervorbringt. Die kolonial-rassistische Konstruktion des unselbstständigen, bewusstseinslosen Schwarzen, welcher der Führung durch die Weißen KolonisatorInnen bedarf, ist im Zitat deutlich angelegt und erhält bei Steiner ihre urzeitliche Begründung in Atlantis. Weißsein wird entsprechend implizit über das Gegenbild des Schwarzwerdens mit einer paternalistischen Führungsposition in Verbindung gebracht. In seinen weiteren Erläuterungen reaktiviert Steiner zudem die ›chemischen‹ Erklärungsmuster zur schwarzen Haut, wie sie schon bei Kant zu finden sind (vgl. Kap. 3.3.6) und von Carus modifiziert werden (vgl. Kap. 4.3.2). Auch hier schreibt Steiner Carus buchstäblich um, wenn es heißt: »Diejenigen Menschen aber, die ihre Ich-Wesenheit zu schwach entwickelt hatten, die den Sonneneinwirkungen zu sehr ausgesetzt waren, sie waren wie Pflanzen: sie 406 »So sehen wir, wie die heutigen Zustände, denen der Mensch verfallen kann, nur sozusagen neuere, geistigere Ausgestaltungen dessen sind, was uns in der atlantischen Zeit schon entgegengetreten ist. Da gab es auch schon diese drei Teile unter den Menschen: Die einen, die ihr Ich wirklich entwickeln wollten, Neues und immer Neues aufnahmen und dadurch wirklich zu Trägern der nachatlantischen Kultur wurden. Es gab die anderen, die ihren Gottmenschen nur aus sich sprechen lassen wollten, und ihr Ich durchdrang sie mit der kupferroten Farbe. Und die dritten, welche nur nach außen hin den Sinn wandten, und dieser Teil wurde schwarz.« Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 03.05.1909, S. 294. 407 Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 03.05.1909, S. 292f.

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setzten unter ihrer Haut zuviel kohlenstoffartige Bestandteile ab und wurden schwarz. Daher sind die Neger schwarz.«408

Sowohl Carus’ Erklärung der schwarzen Haut über den Kohlenstoff als auch das von ihm angeführte Sinnbild des ›Aushauchens‹ der Pflanzen von Kohlenstoff bei Nacht, wird demnach von Steiner verarbeitet. Die Grunderklärung Steiners hingegen kehrt Carus’ Ableitungsmodus um: ›Erklärt‹ in Carus’ Rassensystematik die schwarze Haut der Nachtvölker ihren Mangel an Bewusstsein (als einen Mangel an Licht), so erscheint Steiner der Mangel am (Licht-) Ich und zu viel Sonne die schwarze Haut zu erklären. Grundlegend sind Steiners Thesen zur Ich- und Hautfarbenentwicklung durch eine Fortschreibung der eurozentrischen Konstitutionsstruktur Weißer Subjektivität gekennzeichnet, die als asymmetrischer (geschlechtlich codierter) Aktiv-Passiv-Dualismus in Erscheinung tritt. Dabei ist ›Passivität‹ als Gegenpol zum »Persönlichkeitsgefühl« konzipiert, das die atlantischen Vorläufer der »weißen Bevölkerung [...] am stärksten ausgebildet« hätten.409 Steiner präsentiert diese Gegenüberstellung einerseits als ›ganzheitliches‹ Ergänzungsmodell, wenn er mit Blick auf »Asien« die dortigen »Bevölkerungen« als »passive, hingebende Naturen« beschreibt, »bei denen gerade das Passive im höheren Grade zum Ausdruck kommt. Die Bevölkerung wird dadurch träumerisch, der Ätherleib dringt sehr tief in den physischen Leib ein.«410 Deutlich weniger ›harmonisch‹ wird es, wenn Steiner die jeweilige Qualität der ›Rassenseelen‹ entlang der rassentheoretischen Farbgebung präsentiert: »Sehen Sie sich diese Farben an, von den Negern angefangen bis zu der gelben Bevölkerung hin, die in Asien zu finden ist. Daher haben Sie dort Leiber, die wiederum Hüllen der verschiedensten Seelen sind, von der ganz passiven Negerseele angefangen, die völlig der Umgebung, der äußeren Physis hingegeben ist, bis zu den anderen Stufen der passiven Seelen in den verschiedensten Gegenden Asiens.«411

Der passive, bunt bzw. schwarz markierte ›Andere‹, sein auf die ein oder andere Weise ›falsches‹ Ich, konstituiert das weiße, aktive, männliche ›LichtIch‹, das ›rassische‹ Weißsein selbst. Widmet Steiner in diesem Vortrag der ›Erläuterung‹ der weißen Hautfarbe im Vergleich zur bunt und schwarz markierten Haut auch keine ausführliche Aufmerksamkeit, so ist den Konstruktionen die Vorstellung einer neutralen, ›normalen‹ Farbe der ›Normalmenschen‹, die der »weißen Bevölkerung«412 als Atlantier vorangehen, einge408 409 410 411 412

Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 03.05.1909, S. 286. Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 03.05.1909, S. 288. Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 03.05.1909, S. 288. Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 03.05.1909, S. 288. Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 03.05.1909, S. 288.

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schrieben, eine ›normale‹ Farbe, die in Relation zum »normalen IchGefühl«413 zu denken ist. Das ›richtige‹ Ich steht für eine Aktivität, die nicht zuletzt in der Entwicklungsfähigkeit begründet liegt414 und mit der weißen Farbe des Geistes harmoniert. 1914 wird der Zusammenhang von ›Ich‹ und der vorausgesetzten ›neutralen‹ Hautfarbe des Europäers von Steiner in eben jenen Dimensionen farblicher »Neutralität« dezidiert beschrieben, wenn es im Kontext seiner (künstlerischen) Farbenlehre heißt: »Die Hautfarbe des Menschen, so wie sie auftritt in den gemäßigten Zonen, ist im wesentlichen der Ausdruck des Ich, der Ausdruck der absoluten Neutralität gegenüber den äußeren flutenden Farbenwellen, sie ist eine Folge des Emporsteigens über das flutende Farbenmeer.«415

Die ›äußeren flutenden Farbenwellen‹ sind hier allgemein als Buntheit der äußeren Natur gefasst. Die Buntheit wird in dem Zitat nicht dezidiert mit dem rassisierten ›Anderen‹ in Verbindung gesetzt, und dennoch wird genau diese farbliche Absetzung vom ›Anderen‹ zur Voraussetzung der Konstruktion farblicher Neutralität: Über die einschränkende Formulierung zur »Hautfarbe des Menschen, so wie sie auftritt in den gemäßigten Zonen« sind das (›richtige‹) Ich und Hautfarbenlehre rassentheoretisch zusammengebunden. Zugleich erinnert die Vorstellung der farblichen Neutralität gegenüber der äußeren bunten Welt in gewisser Weise an das gnostische Bild von Christus als ›WeißFärber‹ (vgl. Kap. 2.5.5). 1921 wird Steiner die Buntheit der Natur im Bild des »ausgebreiteten Regenbogen[s] als Zeichen des Vatergottes«416 beschreiben, dem das menschliche »Inkarnat« als (Farb-)Zeichen Christi gegenübersteht (und »in dem sich alle Farben durchdringen, aber Leben annehmen«417). Im 1914 formulierten Bild des ›Emporsteigens über das flutende Farbenmeer‹ ist dieser Gedanke farblicher Transformation als Absetzung von und als Überwindung der äußeren bunten Natur gefasst. Dass Steiner seine für die anthroposophische Evolutionslehre grundlegend bedeutsame Entwicklung des Ichs schließlich auch national spezifisch ausdifferenziert und damit den Führungsanspruch der ›Deutschen‹ als Missionsgedanken einbindet, sei hier lediglich erwähnt. So heißt es etwa 1914 im Kontext einer (karmisch begründeten) Abwehr der ›Kriegsschuldfrage‹: »Im deutschen Geiste ruht Europas Ich.«418 Bereits 1910 wird von »der Begabung des 413 414 415 416 417 418

Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 03.05.1909, S. 285. Vgl. Steiner, R. (GA 107), Vortrag vom 03.05.1909, S. 286, 294. Steiner, R. (GA 291), Vortrag vom 26.07.1914, S. 85. Steiner, R. (GA 207), Vortrag vom 24.09.1921, S. 42. Steiner, R. (GA 207), Vortrag vom 24.09.1921, S. 42. Steiner, R. (GA 174b), Vortrag vom 30.09.1914, S. 19; vgl. hierzu auch Zander, H. (2001), S. 313.

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alten nordischen Volkes mit dem Ich ausströmend durch den Gott Thor oder Donar aus der Geistwelt bis in diese [idealistische] Philosophie« (Hegels und Fichtes) gesprochen und diese Vorstellung mit der »Mission der germanischnordischen Völker in Mitteleuropa« verbunden. 419 Doch zurück zur dezidierten Farbenlehre Steiners: In Erläuterung seines ›Kosmischen Farbenkreises‹ trifft Steiner 1923 folgende Aussage, die das Ich als ›Licht-Ich‹ farblich fasst: »Wenn wir im Lichte, das heißt im Weiß-Verwandten, aufwachen, dann empfinden wir unser Ich. Wenn wir im Finstern, das heißt im Schwarz-Verwandten, aufwachen, fühlen wir uns fremd in der Welt.«420

Und in Zusammenbindung von Ich und Licht heißt es in einem der eigentümlichen Vergleiche ebenso 1923: »Ein Ich ist es, in dem wir sozusagen den Schmetterling herumflattern sehen. Wir Menschen haben unser Ich in uns. Der Schmetterling hat es außer sich. Das Ich ist eigentlich Licht. Das färbt ihn. [...] Dieses selbe Licht, das den Schmetterling in Farben färbt, das rufe ich in mir auf, wenn ich zu mir Ich sage.«421

Selbst wenn man davon ausginge, dass Steiner seine 1909 formulierten Zusammenhänge von Hautfarben und Ich-Entwicklung sowie seine 1914 getroffene farbtheoretische Aussage über den Zusammenhang von ›neutraler‹ Hautfarbe und Ich über seine umfangreiche Vortragstätigkeit ›vergessen‹ haben sollte: Im gleichen Jahr (1923) hatte er, wie ausgeführt, seinen berühmt berüchtigten ›Arbeitervortrag‹422 mit Überlegungen zur Farbenlehre verbunden und ›das Weiße‹ rassenspezifisch gefasst, seinen rassisierten weißen (Licht)Körper konstruiert und das Sonnenlicht (sowie das kosmische Licht des ›Weltenraums‹) in seiner Wirkung auf die Ausbildung des ›Rassencharakters‹ erläutert. Steiners Farbenlehre und die darin formulierten Zusammenhänge von Weiß/Licht/Ich lassen sich somit schwerlich von den rassentheoretischen Ausarbeitungen trennen, sie sind vielmehr in Steiners ›ganzheitlichem‹ Weltund Menschenbild zusammenzudenken. In eben diesem doppeldeutigen Sinne kann auch die letzte Zeile einer »Farbmeditation« Steiners aus dem Jahr 1908 gelesen werden (aus dem gleichen Jahr also, in dem Steiner die atlantischen Vorläufer der weißen Europäer durch eine ›weichere‹ Physiologie kennzeich-

419 420 421 422

Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 16.06.1910, S. 175. Steiner, R. (GA 276), Vortrag vom 18.05.1923, S. 125. Steiner, R. (GA 351), Vortrag vom 08.10.1923, S. 23. Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923.

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net, die Fortentwicklung garantierte, »so daß sie über das geschlossene Ich sogar noch hinauskamen«423): »In der Finsternis finde ich Gottes=Sein 2 Im Rosenrot fühl ich des Lebens Quell 3 Im Ätherblau ruht des Geistes Sehnsucht 4 Im Lebensgrün atmet alles Lebens Atem 5 In Goldesgelb leuchtet des Denkens Klarheit 6 In Feuers Rot wurzelt des Willens Stärke 7 Im Sonnenweiß offenbart sich meines Wesens Kern --Weiß – Ich / Finsternis – Gott«424

Über die auszumachende Verbindungslinie zwischen ›Farbenlehre‹ und weißer ›Rasse‹ (und weißem Ich) liefern Steiners Aussagen einen äußerst plakativen Eindruck farbsymbolischer Konstruktionslogiken Weißer Subjektivität und der damit verbundenen Selbstermächtigungsstrategien. Der normative Sinnzusammenhang von Weiß/Licht/Ich schließt dabei im Einzelnen an den anthroposophischen Erlösungs- und Missionsgedanken an. Zugleich wird Weißsein von Steiner, wie eingangs dargestellt, über das abstrakte Denkleben mit einer Krisenhaftigkeit in Verbindung gebracht. Dies impliziert im Kontext der ›Krise des Materialismus‹ ein ›Leiden am Logos‹, über welches das weiße ›Rassesubjekt‹ (als rational denkendes Subjekt) konstituiert wird. Das folgende, durch Harry Rowohlt zur parodistischen Berühmtheit gelangte Zitat425 zeigt, inwiefern Steiners anthroposophische Physiologie auch die farblich weiß markierte Bevölkerung in sich farbschematisch differenziert und dabei das ›Denkleben‹ farblich ausdifferenziert. So konstatiert Steiner 1922: »Die Menschen würden ja, wenn die Blauäugigen und Blondhaarigen aussterben, immer dümmer werden, wenn sie nicht zu einer Art Gescheitheit kommen würden, die unabhängig ist von der Blondheit. Die blonden Haare geben eigentlich Gescheit-

423 Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 10.08.1908, S. 107. 424 Steiner, R. (GA 291a), Meditationsspruch zum Farbenerleben. 1908, S. 207. 425 Vgl. Rowohlt, H. (2005).

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heit. Geradeso wie sie [die Blonden] wenig in das Auge hineinschicken, so bleiben sie im Gehirn mit ihren Nahrungssäften, geben ihrem Gehirn die Gescheitheit.«426

Steiner verarbeitet demnach das Ideal des ›arischen Typus‹ und zeitgenössisch biologistische Krisendiskurse um rassische Reinheit. Das blonde Haar wird der farblichen Identifizierungslogik nach zum körperlichen (Farb)Zeichen des symbolisch weißen Geistes (d. h. hier des gescheiten Denkens), das Licht des Logos entsprechend (re-)naturalisiert. Das sich anschließende Zitat veranschaulicht jedoch, dass Steiner einer spezifisch anthroposophischen Schwarz-Weiß-Schematisierung folgt, in welcher der finstere Materialismus (als Ausdruck des abstrakten Denkens) im weißen Körper seine eigene farbliche Figuration erhält: »Die Braunhaarigen und Braunäugigen, und die Schwarzhaarigen und Schwarzäugigen, die treiben das, was die Blonden ins Gehirn treiben, in die Augen und Haare hinein. Daher werden sie Materialisten, gehen nur auf dasjenige, was man sehen kann, und es muß das durch geistige Wissenschaft ausgeglichen werden. Man muß also eine Geisteswissenschaft haben in demselben Maße, als die Menschheit mit der Blondheit ihre Gescheitheit verliert. Wir haben nicht zum Spaß diesen Bau, das Goetheanum, hierhergebaut [...].«427

Steiner geht es hier offensichtlich nicht um eugenische Reinheits- und Züchtungsphantasien, vielmehr greift er zeitgenössische Rassendiskurse der ›materialistischen‹ Wissenschaft auf, deutet sie anthroposophisch um und konstruiert hierüber ein Krisenszenario des Materialismus, dem er das Heil der anthroposophischen Geisteswissenschaft gegenüberstellt. Das Gefahrenszenario des Aussterbens der Blonden wird entsprechend mit dem ›materialistischen Zeitalter‹ gekoppelt und anthroposophisch spezifisch ›erklärt‹.428 Steiners ›Erklärungen‹ der schwarzen und blonden Haare benennen dabei das Licht als relevanten Faktor und verdeutlichen einmal mehr, welche »interessante« Art des Erkenntnisgewinns die hellseherische Geisteswissenschaft als Ausgleich zum Materialismus zu geben verspricht: »Die Haare sind nämlich tatsächlich wie Pflanzen, die dem Boden eingesetzt sind, und ihr Wachstum hängt mit dem Licht zusammen. Wenn daher das Licht nicht imstande ist, bis in die Haare hinein die Nahrungssäfte zu ziehen, so bleiben die Haare 426 Steiner, R. (GA 348), Vortrag vom 13.12.1922, S. 103. 427 Steiner, R. (GA 348), Vortrag vom 13.12.1922, S. 103. 428 In Steiners ›physiologischen‹ Detailerläuterung heißt es: »Also selbst das, daß die Blondhaarigen aussterben, versteht man, wenn man begreift, wie die Nahrungssäfte bis in die Augen hinein kommen, und auch bis in die Haare hinein. Die Haare hängen nämlich sehr stark mit den Augen zusammen.« Steiner, R. (GA 348), Vortrag vom 13.12.1922, S. 104.

308 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK blond. Wenn einer mehr materiell ist, so kriegt er schwarze Haare, und die Nahrungssäfte gehen hinein, vertragen sich dann nicht mit dem Licht. Das haben die Alten noch gewußt, vor ein paar Jahrhunderten noch, und haben daher die Mähne des Löwen nicht kräuselig gemacht, sondern strahlend gemacht, so wie wenn die Sonne die Lichtstrahlen in seinen Kopf hineinsteckte. Das ist auch sehr interessant zu beobachten.«429

5.11 Egalität? Wie passt Steiners Rhetorik der Egalität, der »Bürger des Geistes« – »ohne Unterschied von Rasse und Geschlecht«,430 den das ›anthroposophische Christentum‹ verheißt, mit Steiners rassentheoretischen Konstruktionen zusammen? Kehren wir abschließend zu Steiners Einschätzung von Gobineau zurück, dem Steiner, wie einleitend skizziert, zugesteht, zwar das ›Äußere‹ richtig erfasst zu haben, dem aber »noch der Hinblick auf jenen geistigseelischen Wesenskern des Menschen [fehlte], der sich durch die übersinnliche Forschung ergibt«:431 »Er [Gobineau] kann sich nicht vorstellen, daß in dem Menschen im Rassendasein ein geistiger Kern lebt, welcher im entsprechenden Zeitpunkte ein neues geistiges Element aufnehmen kann, das nicht in den heraufkommenden ursprünglichen und sich vermischenden Rassen liegt, sondern das in dem geistig-seelischen Wesenskerne, in der Individualität liegt, was die Individualitäten so aufnehmen, wie die Pflanzen den Keim, der ihnen von anderen Pflanzen zufliegt, und was befruchtend wirkt aus der geistigen Welt heraus auf den geistig-seelischen Wesenskern des Menschen und das Menschenwesen fortsetzt, wenn das Äußere abfällt, wie Blätter und Blüten von der Pflanze abfallen, wenn die Mission des Äußeren erfüllt ist.«432

Es ist dieser Gedanke des ›geistig-seelischen Wesenskerns‹, der einerseits auf eine das Äußere überwindende perspektivische Transzendenz des Menschen deutet, andererseits jedoch bis dahin das Egalitätsverständnis Steiners als durchaus kompatibel mit rassentheoretischen Differenzierungs- und Hierarchisierungssystematiken erscheinen lässt. Und dabei liegt im Weiterleben und Fortschreiten der Seelen in verschiedenen (Lehr-)Stufen der ›Menschenrassen‹ gegenüber dem kulturpessimistischen Modell Gobineaus das Heilsversprechen der Reinkarnation:

429 Steiner, R. (GA 348), Vortrag vom 13.12.1922, S. 105. 430 Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 22.02.1906, S. 329; vgl. auch Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 23.11.1905, S. 179. 431 Steiner, R. (GA 61), Vortrag vom 28.03.1912, S. 505. 432 Steiner, R. (GA 61), Vortrag vom 28.03.1912, S. 504f.

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»Ein jeder von uns geht durch die verschiedensten Stufen der Rassen hindurch und der Durchgang bedeutet für die einzelne Seele gerade eine Fortentwickelung. Derjenige, der heute als Angehöriger der europäischen Menschenrasse erscheint, hat in früherer Zeit andere Menschenrassen durchlaufen und wird in späterer Zeit andere durchlaufen als unsere. Es erscheinen uns die Rassen wie Lehrstufen, und es kommen Zusammenhang und Zweck in diese Mannigfaltigkeit hinein.«433

Steiners Egalitätsverständnis beschränkt sich entsprechend darauf, auf die verschiedenen Inkarnationsstufen zu verweisen, wodurch sich jede Seele in jeder, d. h. irgendwann auch in der höchsten weißen ›Rassenstufe‹ verkörpere: »Da alle Menschen in verschiedenen Reinkarnationen durch die verschiedenen Rassen durchgehen, so besteht, obgleich man uns entgegenhalten kann, daß der Europäer gegen die schwarze und die gelbe Rasse einen Vorsprung hat, doch keine eigentliche Benachteiligung. Hier ist die Wahrheit zwar manchmal verschleiert, aber Sie sehen, man kommt mit Hilfe der Geheimwissenschaft doch auf merkwürdige Erkenntnisse.«434

Gleichheit ohne Unterschied von ›Rasse‹ und Geschlecht bleibt somit ein zukünftiges Heilsversprechen. In der fernen Zukunft kommt es schließlich laut Steiners »geisteswissenschaftliche[r] Anatomie und Physiologie«,435 wie dargestellt, sowohl zur Erlösung aus den vermeintlichen rassischen Vererbungs- und Blutzusammenhängen436 als auch zur erlösenden ›Übergeschlechtlichkeit‹437 – die Geschlechtlichkeit an sich werde transzendiert: Der zukünftige doppelgeschlechtliche bzw. übergeschlechtliche Mensch werde »durch seine auf der Höhe ihrer Vollkommenheit angelangten Sprechorgane sich selbst – seinesgleichen – hervorbringen [...]. Die Sprechorgane enthalten also in sich gegenwärtig keimhaft die zukünftigen Fortpflanzungsorgane.«438

Die künftige keusche Fortpflanzung als Sprachakt ist in die Logik des anthroposophischen Erlösungsversprechens auf göttlichen Geist und Licht eingereiht. Hier treffen sich übersinnliche Weisheit, Reinheit und männliche Schöpfungspotenz als eine in die anthroposophische Physiologie verlagerte farbsymbolische Weißheit des vergeistigten Menschen der Zukunft. Das wei433 434 435 436 437 438

Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 09.11.1905, S. 133. Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 10.06.1910, S. 78f. Steiner, R. (GA 11), S. 230. Vgl. u. a. Steiner, R. (GA 121), S. 75f. Vgl. Steiner, R. (GA 54), Vortrag vom 17.11.1906, S. 130-131. Steiner, R. (GA 11), S. 230.

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ße ›Rassesubjekt‹, Träger dieser Entwicklung, hat hiermit sein ›rassisches‹ männliches Weißsein transzendiert bzw. an seine konstitutiven symbolischen und abstrakten Entstehungsbedingungen rückgebunden.

5.12 Schlussfolgerung In Rudolf Steiners anthroposophischen Rassenkonstruktionen werden schwarz-weiß-symbolische Elemente, die den säkularen Rassentheorien ihren Anfängen nach eingeschrieben sind, auf neognostische Weise naturalisiert und respiritualisiert. Dabei erweisen sich auch idealistisch rassentheoretische Reinszenierungen schwarz-weiß-symbolischer Ordnungsmuster und Leibkonzepte, wie sie Carus’ Rassentheorie beispielhaft kennzeichnen, als bedeutsam. Historisch vorangegangene und zeitgenössische ›wissenschaftliche‹ Evolutions- und Rassentheorien werden im Kontext von Steiners (Menschen)Rassenmodellen und ihrer Eingebundenheit in ein kosmologisches Evolutionsmodell spiritualistisch überformt, Begriffe des zeitgenössischen Krisendiskurses wie jener der Degeneration spiritualistisch umgedeutet. Die anthroposophischen Rassenkonstruktionen sind ihren Grundstrukturen nach durch eine neognostische Welt- und Leibfeindlichkeit wie auch durch eine neognostische Sehnsucht nach ›Ganzheitlichkeit‹ charakterisiert. Ein Entwicklungsmodus von Krise und Erlösung, der Steiners Evolutionsmodell durchzieht, erweist sich als rassentheoretische Konstitutionsstruktur. Wie dargestellt, beschreibt die Krise bei Steiner in ihrer doppelten Form von Materie und Materialismus eine notwendige Etappe der Entwicklung des weißen männlichen ›Rassesubjekts‹ hin zur lichten Erlösung. Zugleich werden die dunklen Krisen in Bildern des rassisierten ›Anderen‹ analogisiert und externalisiert. Verkörpert danach der rassisierte nicht-weiße ›Andere‹ die gnostisch finstere, ›verknöcherte‹, sexualisierte und weiblich codierte Materie, so figuriert sich im weißen ›Rassesubjekt‹ selbst ein Zusammenhang von Licht, Geist und Erlösung. Weißsein und Christus, Geistigkeit und Männlichkeit markieren hierbei einen substantiell farbsymbolischen Konstruktions- und Entwicklungszusammenhang. Der dem rassentheoretischen Denken zugrunde liegende Prozess einer ›kulturellen Menschwerdung Gottes‹ – der Weißsein farb- und geschlechtssymbolisch der Konstruktionslogik nach konstituiert – wird bei Steiner spiritualistisch reinszeniert. Die anthroposophische Konstruktion des rassisierten weißen Körpers als Lichtkörper, als ›durchgeistigtem‹ Körper, wird mit dem Licht und der göttlich reinen Natur Christi verknüpft; die Konstruktion von Weißsein wird als ›embodiment of the spirit‹ sichtbar und damit in all ihrer Fiktionalität greifbar. Zanders These, Steiners »Rassentheorie« sei als

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»Manifestationsgeschichte des Göttlichen« zu verstehen,439 wird vor diesem Hintergrund in Gänze plausibilisiert, ist jedoch um den Aspekt der Respiritualisierung symbolischer Konstruktionselemente der ›wissenschaftlichen‹ Rassentheorien zu ergänzen. Analog zu Carus, wird bei Steiner der Ableitungsmodus rassentheoretischer Körperkonstruktionen grundlegend umgekehrt: der rassisierte weiße Körper, der sich der Farbkonstruktion nach einem symbolischen Zusammenhang von Licht und Geist verdankt, wird hier zum spirituellen (Farb-)Zeichen des weiß symbolisierten Geistes. Ebenso wird die rassentheoretische Konstruktion der Formreinheit des weißen Körpers zum Ausdruck einer ›durchgeistigten‹ Materie; die formreine Körpernormierung – Resultat einer geistigen Abstraktion und ihrer rassentheoretischen Naturalisierung – wird hier als Spiritualisierung des Abstrakten erkennbar. Der rassisierte weiße Körper ist in seiner Farb- und Formreinheit spirituell aufgeladen und zugleich als Lichtkörper in spiritualistischer Weise physikalisiert. Steiners Farbenlehre zum ›Weißen‹ erweist sich nicht nur analog als kompatibel, sondern fließt in die (als solche formulierte) Rassenlehre ein, ist selbst konkret von rassentheoretischen Elementen durchzogen, und auch dort, wo es sich scheinbar lediglich um ›reine‹ Farbenlehre handelt, liegen – wie im formulierten Zusammenhang von ›Weiß/Licht/Ich‹ – Wechselwirkungen mit rassentheoretischen (Farb-) Konzepten nahe, eine Wechselwirkung, die der Struktur nach Steiners ›ganzheitlichem‹ Denken entspricht. Über die Zusammenbindung von anthroposophischer Lehre vom ›Ich‹ und Hautfarbenlehre erhält Weiße Subjektivität in Steiners Rassenlehre ihre dezidiert farbliche Markierung. Umgekehrt wird der rassisierte weiße Körper durch das ihm zugewiesen ›richtige‹ Ich zum Träger der (geistigen) Entwicklung im Rahmen des anthroposophischen Evolutionsmodells, ein Gedanke, der zudem völkisch differenziert wird. Dem Grundmodus des anthroposophischen Evolutionsmodells von Krise und Erlösung ist in Anschluss an gnostische Traditionskontexte eine farb- und geschlechtsymbolische Struktur eingeschrieben, nach welcher dem Fall des Geistes in die sündige, finstere, weiblich codierte Materie Erlösung durch das geistig-männliche (Licht-)Prinzip folgt – eine Struktur, die in Steiner Erzählung vom Anfang und Ende der ›Rassen‹ als Überwindung des weiblichen Prinzips (des Stoffs, der (Gruppen-)Seele) durch das männliche Prinzip des Geistes/das männliche Individuationsprinzip vorgestellt wird. Gnostische Entwicklungsmodelle werden zur Rassen- und Geschlechtergeschichte umgedeutet. In der anthroposophischen Erzählung der zukünftigen Überwindung der Materie/der ›rassischen Vererbungs- und Blutszusammenhänge‹ artikuliert sich dabei auch eine neognostische Sehnsucht nach ›Ganzheitlichkeit‹, 439 Zander, H. (2001), S. 293.

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die in Form sexueller Vereinigungsmetaphern rassisierter (Groß-)Gruppen in Erscheinung tritt. Symbolische Dualismen wie der gnostische und christliche Geist-Seele-Dualismus werden als ›rassische‹ Charakterisierungsmerkmale wirksam. Hier nimmt der konstitutive ›Andere‹ die (passive) Position der empfangenden weiblichen Seele ein, das geistig-männliche Schöpfungsprinzip, der befruchtende männliche Geist, figuriert sich rassenspezifisch in Form der ›westlichen‹/›nordischen‹ Völker/der ›Germanen‹. Rassentheoretisch strukturierte Dominanzverhältnisse werden über diese farb- und geschlechtsspezifisch gefassten Charakterisierungen und sexuellen Vereinigungsmetaphern spiritualistisch sinnhaft aufgeladen. ›Ganzheitlichkeit‹ erweist sich hier als (sexualisierte) rassistische Gewaltförmigkeit. Steiner verarbeitet dabei die im historischen Vorfeld entwickelten und im zeitgenössischen Kontext vorzufindenden geschlechtsspezifisch strukturierten Rassismen. Vor dem Hintergrund, dass sich die geschlechtsspezifisch konstruierten Rassismen als Naturalisierung und Rassisierung symbolischer Dualismen fassen lassen, kann bei Steiner von einer Respiritualisierung dieser symbolischen Dualismen gesprochen werden. Diesen Prozessen der Respiritualisierung ist zugleich eine anthroposophisch spezifische Naturalisierung, Rassisierung und Funktionalisierung im neognostischen Entwicklungsmodell inhärent: Verkörpern die weiße ›Rasse‹ bzw. die ›nordischen Völker‹ auf vielfältige Weise das aktive, geistigmännliche Lichtprinzip, so bewegt sich die Verweiblichung des ›Anderen‹ zwischen den Bildern der gnostisch finsteren, sündhaften Materie und der weiblich codierten Seele. Steiners Ursprungsmythos zu ›Rasse‹, vorgestellt im Atlantis-Mythos, schafft eine rassentheoretische Genealogie des Weißen männlichen Herrschaftsanspruchs, der sich seinerseits Mystifikationen symbolischer Weiblichkeit und einer (aufgewerteten) Dunkelheit (der Seele, des Unbewussten, ›weiblicher‹ Spiritualität, des dunklen Geheimnisvollen, Vorstellungen weiblicher Medien) bedient. Die abstrakten Naturkonstruktionen, die den Rassenkonstruktionen zugrunde liegen, erfahren hier zugleich eine Rückbindung an geistige Welten, die als spiritualistische Geisterwelten gefasst sind. Und darin markieren spezifische Lichtgestalten den geistigen Lichtgrund der weißen ›Rasse‹, begründen ihre Lichthaftigkeit den atlantischen Ursprüngen nach. Steiners kosmologisches Evolutionsmodell bildet somit nicht nur die zeithistorisch fiktive Rahmenhandlung, sondern über Analogiebildungen und den neognostischen Entwicklungsmodus die Charakterisierungsstruktur (vergeschlechtlichter) Rassen- und rassisierter Geschlechterkonstruktionen, ihre Ursprungsmythen und Auflösungsvisionen. Dabei ist ein christlich geprägter Zusammenhang von Sünde, Leiden und Erlösung neognostisch und zugleich vermeintlich kultur- und gender-kritisch gewendet. Steiners ›Kulturkritik‹ an der zeitgenössischen ›materialistischen Kultur‹ ist als Krisenrhetorik zu verstehen, welche Weiße männliche Herrschaft stabi-

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lisiert. Das ›Leiden am Logos‹ wird zum rassenspezifischen Privileg, das die weiße ›Rasse‹/den weißen Mann exklusiv mit dem ›Denkleben‹ in Verbindung bringt. Die hiermit verbundenen Ermächtigungsstrategien beinhalten auch eine Aneignung idealisierter Weiblichkeit als notwendiger polarer Ergänzung (der Kultur und des inneren männlichen Selbst) und sind zugleich mit asymmetrischen spiritualistisch-biologistischen Geschlechterkonstruktionen verbunden. Die Rede von der Krise der ›männlichen Kultur‹ als solcher ist vor dem Hintergrund einer politischen Intervention und Umbruchssituation europäischer Geschlechterverhältnisse zu lesen.440 Dieser kulturpolitische Kampf wird in Steiners Konzept der ›Ergänzung‹ und ›Ganzheitlichkeit‹ letztlich kosmologisch-spiritualistisch abgeschwächt, und die ›männliche Kultur‹ erscheint als entwicklungsbedingte Notwendigkeit. In einem ›Geschichtssystem‹, in dem gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse kosmologisch sinnhaft aufgeladen werden und in dem bereits feststeht, was in der fernen Zukunft passiert, wird Kulturkritik im Sinne von gesellschaftlicher Hegemoniekritik letztlich ad absurdum geführt. Es sind, unter Einbeziehung der anthroposophischen Rhetorik um die Krise des Materialismus, danach gleichsam zwei Arten des Wissens und des Geistes, das materialistische und das spirituelle Wissen, der abstrakte und der lebendige Geist, die Weißsein konstituieren: Und danach ›leidet‹ das weiße ›Rassesubjekt‹ am Denkleben und wird zugleich zum Träger der Zukunft, des wahren Geistes, der Erlösung stilisiert. Wird das abstrakte, materialistische Denken, die materialistische Wissenschaft selbst, mit der Figur des finsteren ›Ahriman‹ identifiziert, wird der Intellektualismus, der Logos, entsprechend zum ›Problem‹, so wird der ›lebendige‹ Geist, das Licht Christi, zum Ausdruck einer lichthaften Selbstüberwindung. Über die gleichzeitige Assoziation des Materialismus mit dem jüdischen Schöpfergott wird das zu überwindende Eigene partiell im jüdischen ›Anderen‹ verortet und externalisiert und die Überwindungsgeschichte eines wahren Wissens durch Christus als Überwindungsgeschichte des Judentums erzählt. Das anthroposophische Evolutionsmodell ist vor dem Hintergrund zeitgenössischer Entwicklungstheorien (die Steiner dem Entwicklungsmodus nach umkehrt) zu lesen, und auch der anthroposophische Gedanke der Ganzheitlichkeit ist im Kontext der Moderne als Teilbestand eines Denkens zu begreifen, das Rita Panesar (in Anlehnung an Peter Gay) mit Blick auf die Weimarer Republik, auf moderne Vereinzelung, Verstädterung und politische Umbruchssituationen als ›Hunger nach Ganzheit‹ beschrieben hat.441 Die zutiefst hierarchisierten Dualismen, die Steiners ›ganzheitliches Denken‹ durchziehen,

440 Vgl. Schnurbein, S. v. (2001). 441 Vgl. Panesar, R. (2005), S. 300.

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zeigen sich in ihrer Anwendung auf die vergeschlechtlichten Rassenkonstruktionen und rassisierten Geschlechterkonstruktionen. Der Egalitätsanspruch der Anthroposophie hebt Steiners Denken von zeitgenössischen Theorien, welche eine Vernichtung und ›Ausmerzung‹ des ›Anderen‹ proklamieren, zwar ab, erweist sich jedoch zeitgleich und systemimmanent mit rassentheoretischen Hierarchisierungen kompatibel. Die anthroposophischen Differenzierungssystematiken an sich beinhalten Essentialisierungen und Diskriminierungen und verbinden sich mit einem ›kosmologischen Determinismus‹, der mit einem spiritualistischen Biologismus einhergeht. Dabei erscheinen der Glaube an eine Geisterwelt, anthroposophisch spezifische Leibkonzepte, die Lehre der verschiedenen anthroposophischen Wesensglieder als substantiell bedeutsam. Sie bringen eine anthroposophisch spezifische Physiologie der ›Rassen‹ und Geschlechter hervor und sind ihrerseits mit ›ganzheitlichen‹ psycho-physiologischen Modellen des anthroposophisch strukturierten Individualkörpers verbunden. Die unterschiedlichen spiritualistischen Begründungsstrategien und systematischen Ausprägungen der anthroposophischen Menschenrassenmodelle (die in drei- bis fünfgliedriger Form in Erscheinung treten) führen zu der Schlussfolgerung, dass Steiner zwar keine in sich kohärente, geschlossene Rassentheorie für die gegenwärtige Menschheit entwickelt, aber mehrere rassentheoretische Modelle von einer durchgängigen Struktur geprägt sind, die Licht, Geist, Männlichkeit und Erlösung in Form der weißen ›Rasse‹ konfiguriert. Und ist Steiners Lehre der ›Menschenrassen‹ auch nicht quantitativer Bestandteil seines umfangreichen Werks, so haben die rassentheoretischen Modelle dennoch strukturelle Bedeutung für sein Welt- und Menschenbild. Allein die hier einbezogenen Werke Steiners zeigen, dass rassentheoretische Elemente mehr oder minder zeitlich kontinuierlich seine Lehre durchziehen. Das anthroposophische Evolutionsmodell und die hierin eingelagerten Menschenrassenmodelle sind dabei als Ausdruck und Bestandteil einer hegemonialen Weißen Wissenskultur zu begreifen. Zugleich ist die Anthroposophie als ›Erlösungswissenschaft‹ ihrerseits – mit ihrem Versprechen auf ein wahres Wissen durch Christus, das einer Eurozentrierung unterliegt und eine rassenspezifische Verkörperung Christi proklamiert – als eurozentrisches Weißes Wissenssystem markiert. Bei aller anthroposophischen (›unspezifischen‹) Rede vom Geist442 und der geistigen Natur ist das anthroposophische Menschenbild in seiner rassentheoretischen Spezifik einem Glauben an eine ›äußere‹ Sichtbarkeit verhaftet. Und es erweist sich in diesem Sinne als kompatibel mit dem im zeitgenössisch wissenschaftlichen Kontext vorherrschenden ›aggressiven Empirismus‹

442 Vgl. Ringleben, J. (2006), S. 17.

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(»aggressive empiricism«443), der u. a. über das Medium der Photographie die rassisierten und vergeschlechtlichten Körper in ihrer Norm und Abnorm technisch visuell erzeugt. Die anthroposophischen Rassenmodelle verleihen einer empiristisch strukturierten ›äußeren‹ Sichtbarkeit eine spiritualistische ›Unsichtbarkeit‹ und die (unsichtbare) hegemoniale Blickposition des empiristischen Blicks wird hier durch den hellseherischen Blick mystifiziert, ersetzt. Wenn Micha Brumlik vom »stupenden Werk Rudolf Steiners« spricht und konstatiert, ein »Blick« dort hinein sei »ebenso komisch wie ernüchternd, weil dieses Werk die ungeheure Banalität der Gnosis, sofern sie Systembau ist, enthüllt«,444 so ist dem, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Detailaufnahmen, sicherlich zuzustimmen. Nichtsdestotrotz verweist Steiners okkultistisches Denksystem, eingebunden in die Krisendiskurse und die »Verwissenschaftlichung des Okkultismusdiskurses«445 seiner Zeit, hinsichtlich seiner rassentheoretischen Dimensionen aber eben auch auf die Mythen, symbolischen Traditionen und Zusammenhänge von Krise und Erlösung, die den zeitgenössisch ›wissenschaftlichen‹ Rassendiskursen inhärent sind. Und Steiners neognostische Sehnsucht nach Transzendierung der Materie hält dabei in gewisser Weise die Erinnerung an den abstrakten, fiktionalen Konstruktionscharakter wach, welcher der säkularen Konstruktion von Weißsein den diskursiven historischen Anfängen nach zugrunde liegt.

443 McClintock, A. (1995), S. 124. 444 Brumlik, M. (1992), S. 348. 445 Dornhof, D. (2005), S. 179.

6 Keine Rassenle hre be i Rudolf Steine r? Ak tue lle a nthropos ophisc he Positione n

6.1 Vorbemerkung Das vorliegende Kapitel verhandelt die Frage nach dem heutigen Umgang mit dem rassentheoretischen Erbe Rudolf Steiners. Es werden aktuelle Positionen der Anthroposophie und Waldorfpädagogik in Deutschland vorgestellt. Den Argumentationslogiken einer Zurückweisung des ›Rassismusvorwurfs‹ von offizieller Seite soll nachgegangen und abschließend die pädagogische Praxisrelevanz am Beispiel eines aktuellen Lehrbuchs für WaldorflehrerInnen exemplifiziert werden. Helmut Zander spricht 2001 mit Blick auf anthroposophische Literatur zur Rassentheorie Rudolf Steiners von einer Strategie der »werkimmanenten Plausibilisierung«.1 Ich werde im Einzelnen zeigen, inwiefern diese Strategie als eine Strategie der Immunisierung gegen Rassismuskritik zu begreifen ist, die über die Plausibilisierung der Steinerschen Rassenlehre zugleich anthroposophische Rassismen reaktiviert und modernisiert. Dabei spielen Reflexionen zur aktuellen Relevanz des Rassebegriffs ebenso eine Rolle wie der Wandel von Begrifflichkeiten. Inwiefern den Argumentationslogiken einerseits eine normative Konstruktion von Weißsein als »Unsichtbarkeit einer herrschenden Normalität«2 zugrunde liegt und andererseits gerade die anthroposophisch spezifischen farb- und geschlechtssymbolischen Codierungen ›rassischer‹ Kategorien re-etabliert werden, wird exemplarisch dargestellt. Die Schwarz-Weiß-Symbolik als Struktur des ›Eigenen‹ und des ›Anderen‹ tradiert sich also, so meine Ausgangsthese, im Spannungsfeld von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Weißsein als unhinterfragter normativer Ausgangskategorie. Der ›hellseherische‹ Blick Steiners schreibt sich dabei in die aktuellen 1 2

Zander, H. (2001), S. 298, Anm. 15. Wachendorfer, U. (2001).

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anthroposophischen Rezeptionen ein und tradiert den Rassemythos als Vorstellung einer ›reinen‹ und ›objektiv‹ lesbaren Natur. Zunächst sollen anthroposophische Positionierungen angesichts öffentlicher Rassismuskritik der letzten Jahre rekapituliert werden.

6 . 2 › R a s s i s m u s v o rw ü r f e z u r ü c k g ew i e s e n ‹ Der Bund der Freien Waldorfschulen hat, wie im Jahr 2000 durch die dpa gemeldet, die »Rassismus- und Antisemitismus-Vorwürfe vehement zurückgewiesen.«3 Ähnlich reagierte bereits Mitte der 1990er Jahre die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland auf öffentliche Diskussionen um Rassismus und Antisemitismus in Rudolf Steiners Werk.4 Die Debatte erreichte in den Jahren 2000/2001 durch das ARD-Magazin »Report Mainz« mit insgesamt drei Sendungen eine größere Öffentlichkeit und bildungspolitische Brisanz.5 Denn Teil der Kritik waren Beschwerden von Eltern über Thesen zu ›Rassen‹ und ›Atlantis‹ in den Schulheften ihrer Kinder.6 Und der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, bestätigte Berichte von »Report Mainz« über Vorfälle von Antisemitismus an Waldorfschulen in Deutschland.7 Zudem intervenierte das Bundesfamilienministerium im Jahr 2000 mit einem Indizierungsantrag bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften.8 Der Antrag bezog sich auf das Buch »Atlantis und das Rätsel der Eiszeitkunst«, das ein Steiner-Schüler, Ernst Uehli, 1936 verfasst hatte. Uehlis Buch, das rassentheoretische Inhalte Steiners referiert,9 hatte sich bis dahin auf einer Literaturliste befunden, die WaldorflehrerInnen

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Rassismusvorwurf zurückgewiesen. dpa, 22.03.2000. Vgl. Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland (1995). Vgl. Waldorfschulen – Enttäuschte Eltern berichten. ARD, Report Mainz, 28.02.2000; Ministerium nimmt Geschichtsbuch ins Visier. ARD, Report Mainz, 10.07.2000; Wie Kritiker mundtot gemacht werden sollen. ARD, Report Mainz, 09.04.2001. Vgl. u. a. Sybille Jacobs von der »Initiative zur Anthroposophie-Kritik« Augsburg. In: Waldorfschulen – Enttäuschte Eltern berichten. ARD, Report Mainz, 28.02.2000. Vgl. das Interview mit Paul Spiegel im Südwestfernsehen (SWR), Sendung »Wortwechsel«, 19.03.2000 (Auszüge transkribiert im Archiv der Vereinigung »Aktion Kinder des Holocaust«: http://www.akdh.ch/ps/ps_report.html (Recherchestand: 01.02.06)); vgl. den Artikel: Waldorfschulen ›rassistisch geprägt?‹ Von Mariette Schäfer. In: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, 30.03.2000. Die damalige Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften trägt heute den Namen Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM). Vgl. Uehli, E. (1957). Uehli bezieht sich konkret auf Steiner, R. (GA 107); Steiner, R. (GA 121); vgl. Uehli, E. (1957), S. 59.

KEINE RASSENLEHRE BEI RUDOLF STEINER? | 319

zur Vorbereitung des Unterrichts empfohlen wurde.10 Der Titel von Uehli wurde vom herausgebenden Verlag vorsorglich zurückgezogen, das Indizierungsverfahren daraufhin eingestellt.11 Die Berichterstattung 2000/2001 war von mehreren juristischen Verfahren begleitet. Der Bund der Freien Waldorfschulen klagte u. a. gegen Berichte von »Report Mainz«, gegen den Südwestrundfunk (SWR), die Schweizer Vereinigung »Aktion Kinder des Holocaust« und die »Jüdische Wochenzeitung« erfolglos auf Unterlassungen und Gegendarstellungen.12 In der kontroversen Diskussion sprach sich Evelyn Hecht-Galinski, Tochter des ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrats des Juden in Deutschland und ehemalige Waldorfschülerin, gegen die Antisemitismusvorwürfe aus und startete eine Kampagne gegen die ›Verunglimpfung der Waldorfpädagogik‹.13 Vor dem Hintergrund der öffentlichen Kontroversen und mehrerer Publikationen seit Ende der 1990er Jahre, die neuen Argumentationsdruck erzeugten,14 gab der Bund der Freien Waldorfschulen 2001/2002 zwei Schriften her10 Vgl. Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen (1998); vgl. u. a. den Artikel: Genaues Hinsehen zeigt: In Waldorfschulen wird etliches gelehrt, das jugendgefährdend sein kann. Die Bundesprüfstelle muss reagieren. Von Josef Kraus. In: Rheinischer Merkur, 04.08.2000. 11 Vgl. Ministerium nimmt Geschichtsbuch ins Visier. Report Mainz, 10.07.2000; vgl. die Artikel/Zeitungsmeldungen: Rassismus-Vorwurf an Waldorfschulen. Familienministerium beantragt Verbot von Waldorf-Buch. AFP Meldung, 12.07.2000; Verbotsantrag für Waldorf-Lehrbuch. [AFP Meldung]. In: Berliner Zeitung, 12./13.07.2000; Waldorf-Lehrbuch preist ›Genie der weißen Rasse‹. [AFP Meldung]. In: Frankfurter Rundschau, 12./13.07.2000; Arisches Genie und die Waldorfschulen. Von Wulf Reimer. In: Süddeutsche Zeitung, 15.07.2000; Waldorfbuch vor Indizierung. Von Christian Füller. In: die tageszeitung (taz), 15.07.2000; Genaues Hinsehen zeigt: In Waldorfschulen wird etliches gelehrt, das jugendgefährdend sein kann. Die Bundesprüfstelle muss reagieren. Von Josef Kraus. In: Rheinischer Merkur, 04.08.2000; Einschüchterung nach Waldorf-Art. Von Arno Frank. In: die tageszeitung (taz), 08.08.2000; Rassistisches Buch ist vom Markt. [AFP Meldung]. In: die tageszeitung (taz), 12.08.2000; Warten und weiterlesen. Von Christian Füller. In: die tageszeitung (taz), 14.03.01; vgl. kritisch zu anthroposophischen Positionen zum Thema ›Rassismus und Anthroposophie‹ zwischen den 1990er Jahren bis 2000 v. a. Bierl, P. (1999), S. 160, 168-183; Geden, O. (1999), S. 159-161; Zander, H. (2001), S. 334-341. 12 Vgl. zu den juristischen Verfahren die Informationen auf der Website der Vereinigung »Aktion Kinder des Holocaust«: http://www.akdh.ch/ps/ps_report.html (Recherchestand: 31.08.07). 13 Hecht-Galinski schaltete mehrere Anzeigen in der Tagespresse. Vgl. »Verbale Diffamierungen«. Evelyn Hecht-Galinski, die Tochter des langjährigen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Heinz Galinski, verteidigt die Waldorfschulen gegen den Verdacht des Antisemitismus. [Interview mit Evelyn HechtGalinski]. In: die tageszeitung (taz), 13.05.2000. 14 Wie in Kapitel 1 thematisiert, wurde die Rassismuskritik an Rudolf Steiner Anfang der 1990er Jahre durch die von Jutta Ditfurth angestoßene Debatte um den

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aus: »Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit. Anthroposophie und der Rassismusvorwurf«15 sowie »Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit. Anthroposophie und der Antisemitismusvorwurf«.16 Diese zwei Bücher stellen bis heute die offizielle Referenzliteratur des Bundes der Freien Waldorfschulen in Deutschland dar und vertreten die Position: »Ein vernichtenderer Vorwurf als der des Rassismus kann heute kaum erhoben werden – und das zu Recht. Wer ihn vorbringt, muss deshalb überzeugende Gründe vorweisen können. Im Falle der Waldorfschulen und ihres Gründers Rudolf Steiner entbehrt ein solcher Vorwurf jeder Grundlage.«17

Argumentationsfiguren dieser These, die äquivalent zum ›Antisemitismusvorwurf‹ vertreten wird, wird im Verlauf dieses Kapitels näher nachgegangen. Seit 2006 geriet die Frage nach Rassismus bei Rudolf Steiner erneut in den Fokus des öffentlichen Interesses. So sendete u. a. das ZDF-Magazin »Frontal21« einen Bericht mit dem Titel: »Von Ariern und primitiven Rassen – Steiners Lehren und die Waldorfschulen.«18 Wiederum klagte der Bund der Freien Waldorfschulen gegen das ZDF (auf Gegendarstellung).19 Und die offizielle Stellungnahme des Bundes der Freien Waldorfschulen zum TVBericht lautete: »Es besteht kein Anlaß sich von einem angeblich absurden Denken Steiners zu verabschieden. Eine vorurteilslose Auseinandersetzung mit Steiners Werk erweist eine solche Forderung als gegenstandslos. Das schließt die Feststellung nicht aus, daß manche Formulierungen Steiners zeitverhaftet sind und einer Übersetzung in heutige Sprachgewohnheiten und Denkformen bedürfen.«20

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sogenannten ›Ökofaschismus‹ eingeleitet. Vgl. Ditfurth, J. (1992). Es folgten daraufhin Publikationen von Schmid, G. O. (1995); Grandt, G./Grandt, M. (1997); Let, P. v. d. (1999). Insbesondere die Arbeiten von Bierl, P. (1999) sowie Zander, H. (2001) setzten in der Debatte neue Impulse. Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002). Bader, H.-J./Leist, M./Ravagli, L. (2002). Bader, H.-J./Ravagli, L. (2005), S. 1. Diese Position wird auch in der 6., verbesserten Auflage des PDF-Flyers zu den o. g. Publikationen (Bader, H.-J./Leist, M./Ravagli, L. (2002) und Bader, H.-J./Leist, M./Ravagli, L. (2002)) in leicht veränderter Formulierung weiterhin vertreten. Vgl. Bader, H.-J./Ravagli, L. (2008a), S. 1. Der Text des Flyers wird auch vom Bund der Freien Waldorfschulen zum Download bereitgestellt [http://www.waldorfschule.info/upload/pdf/ rassismus_flyer.pdf (Recherchestand: 15.07.10)]. Von Ariern und primitiven Rassen – Steiners Lehren und die Waldorfschulen. ZDF, Frontal21, 18.04.06. Es lief am 10.07.2007 vor dem Landgericht Stuttgart auf einen außergerichtlichen Vergleich hinaus. Vgl. Landgericht Stuttgart, Aktenzeichen 17 O 615/06, Bund der Freien Waldorfschulen e.V. gegen ZDF. Bund der Freien Waldorfschulen e.V. (21.04.06).

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Im Dezember 2006 stellte das Bundesfamilienministerium einen weiteren Indizierungsantrag. Dieser bezog sich nun auf die zwei Originalwerke Steiners, auf die sich sein Schüler Ernst Uehli 1936 ausdrücklich berufen hatte: »Die Mission einzelner Volksseelen« und die »Geisteswissenschaftliche Menschenkunde«.21 Am 06.09.2007 kam die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien zu dem Ergebnis, »dass die vorgelegten Bücher Elemente aufweisen, die aus heutiger Sicht als rassistisch zu bewerten sind.«22 Eine ca. 20 Jahre währende Rassismuskritik an Rudolf Steiner – die nicht zuletzt der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, 2007 geäußert hatte23 – wurde somit von der Bundesbehörde exemplarisch bestätigt. Die Entscheidung der Behörde gegen eine Indizierung wurde folgendermaßen begründet: »Von der Indizierung wurde jedoch abgesehen, da der betroffene Verlag in der Sitzung zugesichert hat, die jetzigen Bücher innerhalb eines Zeitraums von einem halben bis spätestens einem Jahr durch eine kritisch kommentierte Neuauflage zu ersetzen bzw. als Sofortmaßnahme den bis dahin ausgelieferten Exemplaren ein entsprechendes Beiblatt beizufügen.«24

Das Indizierungsverfahren, das im Pressediskurs ausführlich rezipiert wurde, führte zu einer umfangreichen öffentlichen Diskussion um Anthroposophie und Rassismus.25 21 Vgl. Steiner, R. (GA 107); Steiner, R. (GA 121). Der Vollständigkeit halber sei hier auf die Gutachten des Antrag stellenden Bundesfamilienministeriums hingewiesen: Husmann-Kastein, J. (2006a); Lichte, A. (2006a). 22 Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (06.09.07). 23 Josef Kraus »sagte im Deutschlandradio Kultur, das Menschenbild in Steiners Lehre sei problematisch, weil es rassistische Züge beinhalte.« dradio.de, Kulturnachrichten, 12.07.07, 09:30 Uhr.[http://www.dradio.de/kulturnachrichten/2007 0712090000/drucken/ (Recherchestand: 13.07.07)]. 24 Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (06.09.07). 25 Zu Medienberichten zum Indizierungsverfahren und der angegliederten Rassismusdiskussion vgl. (zeitchronologisch sortiert) u. a. Was Grammatik mit dem Gleichgewichtssinn zu tun hat. Von Joseph Kraus. In: Rheinischer Merkur, 24.05.07; »Im Neger wird fortwährend gekocht.« Das Familienministerium will die Jugend vor Rudolf Steiners Rassentheorie schützen. Eine Studie verzeichnet Gewalt an Waldorfschulen. Von Alexander Kissler. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 08.07.07; »Waldorfpädagogik muss sich von ihrem Gründer distanzieren«. Interview mit Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL). Deutschlandradio Kultur, 11.07.07; Rassismus an Waldorfschulen? Von Lotte Everts. In: Berliner Zeitung, 12.07.07; Rudolf Steiners ›Eingebungen‹. Hat er abgeschrieben? Von Alex Rühle. In: Süddeutsche Zeitung, 17.07.07; Bundesprüfstelle untersucht Rudolf Steiner-Schriften. 3sat, Kulturzeit, Aktuelles, 18.07.2007; Wirbel um Waldorf-Lehre. Schulen wehren sich gegen Rassismus- und Gewaltvorwürfe/Zwei Steiner-Schriften auf Index? Von Ursula Barth. In: Mannheimer Morgen, 24.07.07; Rudolf Steiner soll auf den Index. Von Marina Mai. In: die tageszeitung (taz), 24.08.07; Rudolf Steiner auf den In-

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Dass die Rassismuskritik an Steiner unberechtigt sei, wurde im Vorfeld der Entscheidung der Bundesbehörde von Vertretern des Bundes der Freien Waldorfschulen verschiedentlich öffentlich betont.26 Trotz Verlautbarungen, dex? Von Andrea Hennis. In: Focus Online, 29.08.07; Die Lehre von Atlantis. Von Per Hinrichs. In: Der Spiegel, Nr. 36, 03.09.07; Waldorfschulen-Gründer. »Der Neger hat ein starkes Triebleben«. Von Manuela Pfohl. In: stern.de, 05.09.07; Bücher von Rudolf Steiner nicht auf dem Index gelandet. [dpa Meldung]. In: süddeutsche.de, 06.09.07; Steiner nicht auf dem Index. Von Andrea Hennis. In: Focus Online, 06.09.07; Die Blondhaarigen und die Neger. War Rudolf Steiner Rassist? – Keine Indizierung, aber der Streit um den Gründer der Waldorf-Schule geht weiter. Von Martin Jasper. In: Braunschweiger Zeitung, Kultur, 08.09.07; Schedel, G. (2007); ›Esoterische Rassenkunde‹. Schriften Rudolf Steiners, Initiator der Waldorfpädagogik, wurden vom deutschen Familienministerium scharf kritisiert, letztendlich jedoch nicht indiziert. In: derStandard.at/Schule, 16.11.07; Waldorfpädagogik. Auf Tuchfühlung mit dem rechten Rand. Von Sebastian Christ und Manuela Pfohl. In: stern.de, 16.11.07; WaldorfPädagogik. »Kein Rassismus im Werk Rudolf Steiners«. Von Sebastian Christ. In: stern.de, 16.11.07; Waldorfschulen. Der bittere Kampf um Rassismusvorwürfe. In: Welt Online, 16.11.07; Schadensbegrenzung. Waldorfschulen wehren sich bundesweit gegen Rassismusvorwürfe. Von Tina Rohowski. In: Tagesspiegel, 20.11.07; Bundesprüfstelle an der Nase herumgeführt. Von Gunnar Schedel. In: hpd. humanistischer pressedienst, 21.11.2008. Zur Diskussion um Rassismus in Anthroposophie und Waldorfpädagogik 2007 vgl. ferner die Kontroverse um den Artikel: Waldorfpädagogik: Jenseits von Steiners höherer Erkenntnis. Entmythologisiert die Anthroposophie! Von Helmut Zander. In: Stuttgarter Zeitung, 24.07.07; Demeter-Tomaten schmecken sehr gut! Eine Entgegnung auf Helmut Zander. Von Jörg Ewertowski. In: Stuttgarter Zeitung, 28.07.07; vgl. hierzu das Diskussionsforum der Stuttgarter Zeitung: http://www.stuttgarter-zeitung.de/ stz/page/detail.php/1475883/feedback12 (Recherchestand: 15.09.07). Für weiteren öffentlichen Diskussionsstoff zum Thema Anthroposophie, Waldorfpädagogik und Rassismus sorgten im Sommer 2007 die Pläne des Ex-Waldorlehrers und damaligen NPD-Politikers Andreas Molau, ein eigenes Waldorf-Schulheim zu eröffnen. Der Bund der Freien Waldorfschulen wendete sich mit Blick auf Molaus Pläne gegen dessen »Missbrauch des geschützten Namens ›Waldorf‹«. Vgl. Bund der Freien Waldorfschulen e.V. (2007). Zu diesbezüglichen Medienberichten vgl. u. a. NPD-Funktionär darf keine Waldorf-Schule eröffnen. In: Tagesspiegel, 01.08.07; Waldorf-Schulheim in Brandenburg geplant: Neonazis bauen Infrastruktur weiter aus. ARD, Tagesschau, 02.08.07; NPD schmückt sich mit Waldorfpädagogik. Von Jörg Schindler. In: Frankfurter Rundschau, 06.08.07; Waldorfpädagogik. Auf Tuchfühlung mit dem rechten Rand. Von Sebastian Christ und Manuela Pfohl. In: stern.de, 16.11.07; Klage gegen Spitzenkandidat der NPD. Waldorf-Dachverband will Schulpläne von Andreas Molau verhindern. Von Reimar Paul. In: Weser Kurier, 11.12.07. Zu Molaus eigenen Ansichten zur Waldorfpädagogik und zur öffentlichen Rassismuskritik, die er 2007 im rechtsextremen Magazin »Die Deutsche Stimme« publizierte, vgl. Molau, A. (2007). 26 Vgl. u. a. entsprechende Äußerungen Hartwig Schillers vom Bundesvorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen, in: Rassismus an Waldorfschulen? Von Lotte Everts. In: Berliner Zeitung, 12.07.07; Wirbel um Waldorf-Lehre. Schulen wehren sich gegen Rassismus- und Gewaltvorwürfe/Zwei Steiner-Schriften auf

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in denen sich der Bund der Freien Waldorfschulen – wie im November 2007 mit der sogenannten »Stuttgarter Erklärung« – allgemein gegen Rassismus und Nationalismus aussprach, blieb die Rassismuskritik am Gründervater weitgehend ausgespart.27 Der Vorstand der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung reartikulierte in einer Pressemitteilung in Reaktion auf die Entscheidung der Bundesprüfstelle die (bereits 1998 in einem anthroposophischen Untersuchungsbericht aus den Niederlanden formulierte) These, »Rudolf Steiners Werk« enthalte »keine rassistische Lehre«; lediglich aus dem Zusammenhang gerissen könnten einige Stellen diskriminierend wirken, »Steiners Äusserungen über Rassen« seien »in seiner Zeit in jedem Fall unbedenklich« gewesen.28 Der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland erklärte im November 2007, der Anthroposophie sei

Index? Von Ursula Barth. In: Mannheimer Morgen, 24.07.07; Leserkommentar. Von Detlef Hardorp. In: die tageszeitung, taz.de, 26.08.07 [in Reaktion auf: Rudolf Steiner. Diese Waldorfs! Von Marina Mai. In: die tageszeitung, taz.de, 23.08.07]; vgl. auch Bund der Freien Waldorfschulen e.V. (11.07.07). 27 So beinhaltet die »Stuttgarter Erklärung« zwar eine kurze Passage, in welcher von »vereinzelte[n] Formulierungen« Steiners die Rede ist, die »nach heutigem Verständnis [...] diskriminierend wirken«; gleichzeitig wird sich jedoch dagegen verwahrt, die Anthroposophie Rudolf Steiners in irgendeiner Weise mit »Rassismus und Nationalismus« in Verbindung zu bringen, wenn es in der entsprechenden Passage heißt: »Die Anthroposophie als Grundlage der Waldorfpädagogik richtet sich gegen jede Form von Rassismus und Nationalismus. Die Freien Waldorfschulen sind sich bewusst, dass vereinzelte Formulierungen im Gesamtwerk Rudolf Steiners nach dem heutigen Verständnis nicht dieser Grundrichtung entsprechen und diskriminierend wirken. – Weder in der Praxis der Schulen noch in der Lehrerausbildung werden rassistische oder diskriminierende Tendenzen geduldet. Die Freien Waldorfschulen verwahren sich ausdrücklich gegen jede rassistische oder nationalistische Vereinnahmung ihrer Pädagogik und von Rudolf Steiners Werk.« Bund der Freien Waldorfschulen e.V. (16.11.07). Noch am 06.09.2007, zwei Monate vor der »Stuttgarter Erklärung«, hatte der Bund der Freien Waldorfschulen in einer Presseerklärung zur Entscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien jegliche Rede von Diskriminierung zurückgewiesen: »Der Bund der Freien Waldorfschulen lehnt Rassismus in jedweder Form ab. Die Erziehung im Sinne der von Rudolf Steiner begründeten Waldorfpädagogik lässt keinen Raum dafür, Menschen nach ihrer Abstammung oder Herkunft zu beurteilen, zu bewerten oder in einer sonstigen Art und Weise zu diskriminieren.« Bund der Freien Waldorfschulen e.V. (06.09.07). Vgl. u. a. auch Bader, H.-J./Ravagli, L. (2007); Bader, H.-J./ Ravagli, L. (2008b). Siehe zur Relativierung von ›Diskriminierung‹ in Steiners Werk auch die folgenden Ausführungen in diesem Kapitelabschnitt sowie Kap. 6.3. 28 Rudolf Steiner Nachlassverwaltung (2007). Die Pressemitteilung nimmt dabei Bezug auf Thesen in: Untersuchungskommission »Anthroposophie und die Frage der Rassen« (1998).

324 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK »jeder Rassismus und jede Ausgrenzung von Menschengruppen fremd. Rudolf Steiner hat in seinem Werk die Grundlagen für ein solches Selbstverständnis des Menschen geschaffen. Sein Ziel war die Überwindung von Unfreiheit und Grenzen, die aus Definitionen von Gruppenhaftigkeit und Rassenzugehörigkeit entstehen. Die von Rudolf Steiner am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwendeten Formulierungen sind dabei selbstverständlich zeitgebunden. Im heutigen Sprachempfinden kann an einigen Stellen der Eindruck einer rassebezogenen Ausdrucksform entstehen; ernsthafte Prüfung von Inhalt und Kontext wird aber jederzeit eine gegenteilige Intention erkennbar machen.«29

Nachträglich wurde die Entscheidungsfindung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien von offiziellen Vertretern der Anthroposophie und Waldorfpädagogik schließlich auch ins Gegenteil verkehrt: »So erläuterte Henning Kullak-Ublick, Mitglied im Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen, in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur [am 17.09.2008] der Hörerschaft, die Bundesprüfstelle habe die inkriminierten ›Stellen für unwesentlich erklärt und ... sie eben nicht indiziert. Gerade das hat sie ja nicht getan. Sie wäre dazu verpflichtet gewesen, wenn sie die eben als rassendiskriminierend angesehen hätte.‹ Angesichts der Tatsache, dass in der Entscheidung 5505 explizit steht, dass das Zwölfergremium zu dem Ergebnis gekommen ist, dass ›Die Mission einzelner Volksseelen‹ in Teilen ›als zum Rassenhass anreizend bzw. als Rassen diskriminierend anzusehen‹ sei, muss sich Kullak-Ublick eine Verdrehung der Fakten vorwerfen lassen.«30

Auf ähnliche Weise hatte das Publikationsorgan der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, »Das Goetheanum. Wochenschrift für Anthroposophie«, bereits »im Oktober 2007 wahrheitswidrig behauptet[], Vertretern des Dornacher RudolfSteiner-Verlages sei es gelungen, ›die deutsche Bundesstelle für jugendgefährdete [sic!] Medien zu überzeugen, dass Steiner in der Tat kein Rassist war‹.«31

29 Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland e.V. (2007). Zu ähnlichen Argumentationen der Abwehr des ›Rassismusvorwurfs‹ in diesem Kontext vgl. u. a. auch Niederhausen, H. (2007). 30 Bundesprüfstelle an der Nase herumgeführt. Von Gunnar Schedel. In: hpd. humanistischer pressedienst, 21.11.2008. Das Interview gab Kullak-Ublick in: »Mit der Wirklichkeit in den Schulen nichts zu tun«. Bund der Freien Waldorfschulen attackiert ›Schwarzbuch‹-Autor Grandt. Henning Kullak-Ublick im Gespräch mit Joachim Scholl. Deutschlandradio Kultur, Radiofeuilleton, 17.09.2008. 31 Bundesprüfstelle an der Nase herumgeführt. Von Gunnar Schedel. In: hpd. humanistischer pressedienst, 21.11.2008. Zit. im Zit.: Das Goetheanum (11.10.2007).

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Die vom Rudolf Steiner Verlag angekündigte kritisch kommentierte Neuauflage, eine Ankündigung, welche die Grundlage der Entscheidung der Bundesprüfstelle gegen eine Indizierung bildete, ist auch knapp zwei Jahre nach dem vereinbarten Erscheinungstermin noch nicht erschienen.32 Ende 2007 stellten die Vereinigung »Aktion Kinder des Holocaust« und der Journalist Michael Grandt Strafanzeige gegen den Rudolf Steiner Verlag in Dornach/Schweiz. Die Anzeige bezog sich auf den Vertrieb des Buches »Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884-1902« (GA 32; letzte Neuauflage 2004) und darin enthaltene (unkommentierte) Aussagen Steiners zum Judentum. Im Fokus stand insbesondere jene bereits zitierte Passage, in der Steiner 1888 konstatiert: »Es ist gewiß nicht zu leugnen, daß heute das Judentum noch immer als geschlossenes Ganzes auftritt und als solches in die Entwickelung unserer gegenwärtigen Zustände vielfach eingegriffen hat, und das in einer Weise, die den abendländischen Kulturideen nichts weniger als günstig war. Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, und daß es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten. Wir meinen hier nicht die Formen der jüdischen Religion allein, wir meinen vorzüglich den Geist des Judentums, die jüdische Denkweise.«33

Der Leiter des Rudolf Steiner Archivs in Dornach, Walter Kugler, kommentierte diese Passage in der Sendung »7 vor 7« des TV-Senders »Telebasel« am 29.09.2007 mit den Worten: »Erschüttern tut’s mich nicht, ich meine es sind – es handelt sich um Äußerungen, um kritische Äußerungen zum Judentum, aus dem Jahre 1888, wohlgemerkt, und das muss man ertragen können in einer wissenschaftlichen Ausgabe und das heißt ja nicht, dass jeder Leser identifiziert sich ja so mit Rudolf Steiner, dass er jetzt das alles als Glaubenssätze nimmt, sondern das sind auch Aspekte zum Nachdenken. Außerdem halte ich diese Äußerung auch gar nicht für antisemitisch, sondern sie sind ja, sie sind judenkritisch und das müsste ja eigentlich auch erlaubt sein, sonst dürften wir gar keine Kritik mehr üben. Antisemitisch werden die Dinge erst, wenn 32 Die kritisch kommentierte Neuauflage sollte laut Vereinbarung zwischen dem Rudolf Steiner Verlag und der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien ein Jahr nach der Entscheidungsfindung der Bundesprüfstelle vorliegen, d. h. bis Oktober 2008. Der Termin wurde nicht eingehalten. Vgl. Bundesprüfstelle an der Nase herumgeführt. Von Gunnar Schedel. In: hpd. humanistischer pressedienst, 21.11.2008. Derzeitig ist die Neuauflage auf der Website des Rudolf Steiner Verlags für »Frühjahr 2010« angekündigt. Beide besagten Steiner-Bände (GA 107 und GA 121) werden dort als »vergriffen« ausgewiesen und sind bisher noch nicht neu erschienen. Vgl. die Website des Rudolf Steiner Verlags: http://www.steinerverlag.com/ (Recherchestand: 20.08.10). 33 Steiner, R. (GA 32), S. 152.

326 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK darin verborgen, schon eine Überlegenheitsstrategie, die den Anderen diskriminiert.«34

6.3 ›Partielle Diskriminierung‹: Niederländische und deutsche Positionen Ende der 1990er Jahre hatten AnthroposophInnen in den Niederlanden bereits nach öffentlichen Diskussionen um Steiners Rassenlehre eine anthroposophische Untersuchungskommission unter dem Namen »Anthroposophie und die Frage der Rassen« eingesetzt. Diese schlussfolgerte 1998: »In dem 89.000 Seiten umfassenden Gesamtwerk Rudolf Steiners sind [...] zwölf Stellen zu finden, die, würden sie heute ausgesprochen, geeignet wären, Menschen wegen ihrer Rassenzugehörigkeit zu diskriminieren. Jemand, der diese Stellen heute in der Öffentlichkeit zustimmend, das heißt, als beträfen sie seine eigene Auffas-

34 Kugler, Walter. In: Telebasel, 7vor7, 29.09.07. Zit. in: Strafanzeige wegen Volksverhetzung und Rassendiskriminierung gegen den Leiter des RudolfSteiner-Archivs, Pressemitteilung, Medienredaktion TV-Print-Online, 26.10.07 (Quelle des Interviews: www-telebasel.ch, Link: »Strafanzeige gegen Anthroposophen«, Sendung »7 vor 7«, 29.09.07); vgl. auch den Artikel: Fehler der Weltgeschichte. Rassismusklage gegen Rudolf Steiner Verlag. Von Alexander Kissler. In: Süddeutsche Zeitung, 15.10.07. Der Journalist Michael Grandt erstattete gegen Walter Kugler Strafanzeige wegen »Volksverhetzung und Rassendiskriminierung«. Vgl. Strafanzeige wegen Volksverhetzung und Rassendiskriminierung gegen den Leiter des Rudolf-Steiner-Archivs, Pressemitteilung, Medienredaktion TV-Print-Online, 26.10.07. Der Verlag stoppte schließlich die Auslieferung des Steiner-Buches. Vgl. dazu: Rassistische Wirkung? Auslieferungsstopp für einen Band von Rudolf Steiner. Von Alexander Kissler. In: Süddeutsche Zeitung, 27.11.07; Vertrieb von Steiner-Buch gestoppt. 3sat Kulturzeit, Aktuelles, 28.11.07; Wie antisemitisch war Rudolf Steiner? Ein Band seiner Werke wird zurückgezogen. Von Hendrik Werner. In: Welt Online, 29.11.07. Zu vorangegangenen Positionen seitens offizieller Verbände bzw. Vertreter der Anthroposophie und Waldorfpädagogik zu Rudolf Steiners Verhältnis zum Judentum vgl. u. a. das vom Bund der Freien Waldorfschulen herausgegebene Buch von Bader, H.-J./Leist, M./Ravagli, L. (2002); vgl. auch Hardorp, D. (o. J.); Steiner und das Judentum. Von Detlef Hardorp. In: die tageszeitung (taz), Anthroposophie in der taz, 13./14.05.2000. Jüngst erschien im anthroposophischen Info3-Verlag der Sammelband »Anthroposophie und Judentum«. Vgl. Sonnenberg, R. (2009a). Der Herausgeber, Ralf Sonnenberg, ehemaliger Redakteur und Autor der Zeitschrift »Die Drei – Anthroposophie in Wissenschaft, Kunst und sozialem Leben«, zeigt in seinem Artikel gegenüber durchweg kritiklosen Lesarten (u. a. Bader, H.-J./Leist, M./Ravagli, L. (2002)) ambivalente Positionen Steiners zum Judentum auf. So wird darauf verwiesen, dass Steiner sich zwar gegen den politisch motivierten ›Rassenantisemitismus‹ wandte, sein Denken jedoch gleichzeitig von antijüdischen Momenten durchzogen war. Vgl. Sonnenberg, R. (2009b).

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sung, zitiert, machte sich deshalb nach niederländischem Recht vermutlich strafbar. Weitere 50 Stellen könnten, aus dem Zusammenhang gerissen, missverständlich sein und eine diskriminierende Wirkung haben oder zeugen von einer minderen Art der Diskriminierung.«35

Zusammenfassend wird von der anthroposophischen Kommission erklärt: »Die Anthroposophie Rudolf Steiners enthält keine Rassenlehre.«36 In Deutschland wurde mit der vom Bund der Freien Waldorfschulen herausgegeben Publikation »Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit. Anthroposophie und der Rassismusvorwurf« der ›Vorwurf‹ der Diskriminierung gänzlich zurückgewiesen.37 Unter Verweis auf diese Publikation war so auch die Kritik des o. g. »Frontal21«-Beitrags »Von Ariern und primitiven Rassen –Steiners Lehren und die Waldorfschulen«38 2006 abgewehrt worden.39 Die anthroposophische Zeitschrift »Info3« hingegen verfasste in Reaktion auf den »Frontal21«-Beitrag eine Stellungnahme, in der es unabhängig von den offiziellen Positionen (in Anlehnung an die niederländische Untersuchungskommission) hieß: »Zum Thema unterschiedlicher menschlicher Rassen gibt es Äußerungen Rudolf Steiners, die in der Tat problematisch sind. Während sie im Kontext der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch relativierbar erscheinen, ist es wichtig, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass diese Äußerungen heute befremdlich und teilweise auch diskriminierend wirken.«40

Die Schlussfolgerung jedoch lautete: »Entscheidend ist, dass diese zu Recht kritisierten Bemerkungen Steiners nie eine Rolle für das Werk Rudolf Steiners oder für die in den anthroposophischen Arbeitsfeldern stehenden Menschen gespielt haben und dass sie in keiner Weise für sie relevant sind.«41

Mit der These der Irrelevanz des Rassismus für die Anthroposophie – für Steiners historisches Werk und für die aktuelle Praxis – distanzierte sich letztlich auch »Info3« vom besagten »Frontal21«-Beitrag, und zwar insbesondere 35 Untersuchungskommission »Anthroposophie und die Frage der Rassen« (1998), S. 15. 36 Untersuchungskommission »Anthroposophie und die Frage der Rassen« (1998), S. 15. Zur Kritik am niederländischen Untersuchungsbericht vgl. u. a. Bierl, P. (o. J.). 37 Vgl. Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 40-45. 38 Von Ariern und primitiven Rassen – Steiners Lehren und die Waldorfschulen. ZDF, Frontal21, 18.04.06. 39 Vgl. Bund der Freien Waldorfschulen e.V. (21.04.06). 40 INMEDIA-Newsletter/Info3 (2006). 41 INMEDIA-Newsletter/Info3 (2006).

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von jenen Inhalten, welche mit der Aussage eines ehemaligen Seminaristen des »Seminars für Waldorfpädagogik Berlin« Fälle der ungebrochenen Tradierung von Steiners Rassenlehre in der Lehrerausbildung problematisierten.42 Initiiert von der anthroposophischen Zeitschrift »Info3« erschien im Jahr 2008 in Reaktion auf das Indizierungsverfahren und die sich im Jahr 2007 anschließende öffentliche Rassismuskritik an Steiner die Schlussfassung des sogenannten »Frankfurter Memorandum: Rudolf Steiner und das Thema Rassismus.«43 Das »Memorandum« kommt zu dem Schluss: »Es gibt bei Steiner keinen Rassismus im Sinne der historischen Forschung, keine systematisch vertretene ›Rassenlehre‹ und keine Ideologie eines ›Rassenkampfes‹, insbesondere nicht als Theorie und Handlungsanweisung für die moderne bzw. gegenwärtige Menschheit. Indessen finden sich in Steiners Werk vereinzelte diskriminierende und einige wenige rassistische Äußerungen, die eindeutig als historisch überholt eingeordnet werden müssen. Sie sind historisch dadurch erklärbar, dass sich Steiner in einer Zeit von Kolonialismus und Eurozentrismus an einem teilweise rassistisch gefärbten Diskurs zu Fragen der Evolution des Menschen beteiligte. [...] Grundsätzlich spielt das Thema der Rassen weder quantitativ noch qualitativ für das Ideengebäude der Anthroposophie eine Rolle.«44

Viel hat sich mit dieser ›kritischen‹ Einschätzung zum Rassismus bei Steiner gegenüber vorangegangenen (und parallelen) offiziellen Verlautbarungen entsprechend nicht verändert. Dass sich die offiziellen anthroposophischen Organisationen wie der Bund der Freien Waldorfschulen, die Rudolf Steiner Nachlassverwaltung sowie das Goetheanum in Dornach, Sitz der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, nicht entschließen konnten, die im »Frankfurter Memorandum« geäußerte Minimal-Kritik zu unterschreiben,45 sei an dieser Stelle festgehalten. »In der Mitgliederzeitschrift Anthroposophie weltweit« hatte »sich der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland von dem Memorandums-Entwurf« bereits »distanziert«.46 In den folgenden Kapitelabschnitten wird sich mit jenen Positionen näher auseinandergesetzt, welche die Rassismuskritik an Steiner gänzlich zurückweisen. Hierbei steht, wie eingangs bemerkt, die vom Bund der Freien Waldorfschulen herausgegebene Publikation »Rassenideale sind der Niedergang

42 Vgl. das Interview mit Markus Beauchamp. In: Von Ariern und primitiven Rassen – Steiners Lehren und die Waldorfschulen. ZDF, Frontal21, 18.04.06. 43 Brüll, R./Heisterkamp, J. (2008). 44 Brüll, R./Heisterkamp, J. (2008), S. 15. 45 Dies ist der Darstellung des Entstehungsprozesses des Memorandums zu entnehmen. Vgl. Brüll, R./Heisterkamp, J. (2008), S. 16f. 46 Brüll, R./Heisterkamp, J. (2008), S. 17.

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der Menschheit. Anthroposophie und der Rassismusvorwurf«47 im Vordergrund der Auseinandersetzung. Im Vorfeld ist allerdings hervorzuheben, dass auch dem o. g. niederländischen Untersuchungsbericht, der immerhin partielle Diskriminierung einräumt (und der als Leitbild des »Frankfurter Memorandums« gelten kann), seinerseits umfangreiche Relativierungen und Plausibilisierungen Steinerscher Rassismen inhärent sind.48 Trotz der nicht unerheblichen Differenzen teilen beide Positionen so auch grundlegende Thesen. Die Argumentationslogiken beruhen maßgeblich auf folgenden, teils paradoxen Strängen und Prämissen, die hier den einzelnen Erläuterungen vorausgeschickt seien: 1. Die Anthroposophie sei per se egalitär; 2. Es gebe keine Rassenlehre bei Rudolf Steiner; 3. Steiners Rassebegriff sei nicht biologisch begründet; 4. Es gebe menschliche ›Rassen‹: Steiners Rassenmodell sei naturwissenschaftlich; 5. Steiner beschreibe nur Unterschiede, ohne dabei Wertungen vorzunehmen; 6. Steiner betone die Vergänglichkeit von ›Rassen‹; 7. Rassismus bestehe nur dann, wenn eine Gruppe eine andere Gruppen mit Absicht herabgesetzt würde; 8. Rassismus beruhe ausschließlich auf biologischen Merkmalsbestimmungen. Neben der von Hans-Jürgen Bader und Lorenzo Ravagli verfassten Publikation »Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit. Anthroposophie und der Rassismusvorwurf«49 werden im Folgenden einige weitere aktuelle Stellungnahmen offizieller Vertreter der Anthroposophie einbezogen. Gegenüber Positionen, die, wie Christoph Lindenberg, die These vertreten, Steiners Rassenlehre habe mit Biologie gar nichts zu tun,50 liegen dabei solche Argumentationen im Fokus des Interesses, die sowohl die ›biologische Stichhaltigkeit‹ als auch den neognostischen Erlösungsgedanken der Steinerschen Rassenlehre zu begründen suchen.

6 . 4 M yt h o s › R a s s e ‹ o d e r : R a s s e n l e h r e m i t u n d ohne ›Rassen‹ 6.4.1 Der ›wissenschaftliche‹ Rassebegriff der Anthroposophie »Wenn Steiner auf das Rassenthema eingeht, geht es ihm stets darum, darzustellen, dass Rassen vorübergehende Erscheinungen in der Gesamtevolution der Menschheit sind.

47 48 49 50

Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002). Vgl. u. a. Bierl, P. (o. J.); Geden, O. (1999), S. 161. Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002). Vgl. Lindenberg, C. (1999); Lindenbergs Artikel reagiert auf: Let, P. v. d. (1999).

330 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK Das gilt prinzipiell für alle Rassen, die nach Steiners Auffassung aus Anpassungen an Umweltbedingungen entstanden sind [...]. Hier befindet er sich in Übereinstimmung mit der heutigen Biologie, die durchaus von der Existenz anthropologischer Diversitäten ausgeht, genauso wie die Anthropologie, entgegen manchen Extremisten der political correctness, für die es bereits an Rassismus grenzt, das Wort Rasse überhaupt nur in den Mund zu nehmen.«51

Die Mobilisierung des biologischen Rassekonzepts stellt eine der tragenden Säulen in der Argumentationslogik der These dar, man dürfe und könne bei Steiner nicht von Rassismus sprechen. Dabei muss zunächst die in dem Zitat angeführte These erstaunen, dass nach Steiner die ›Rassen‹ durch ›Anpassung an Umweltbedingungen‹ entstanden seien. Denn, wie gezeigt wurde, sind nach anthroposophischer Lehre die ›Rassen- und Volksgeister‹, die ›Geister der Form‹, der ›demiurgische Vatergott‹ und ›geistige Führer‹ für die äußere Formgebung verantwortlich – das Innen bestimmt das Außen, der Geist ›durchseelt‹ die Materie usw. Die in verschiedensten Forschungskontexten formulierte und plausibilisierte Rassismuskritik am Rassebegriff und die damit verbundene Etablierung von ›Rasse‹ als kritischer Analysekategorie (vgl. Kap. 1.1; 1.2.1; 1.3.1) wird in dem Zitat zum ›Extremismus‹ erklärt. Dabei wird, unter Auslassung von Steiners spiritualistischen Argumentationsstrukturen, der Eindruck erweckt, Steiner referiere nur das reine, ›faktische‹, naturwissenschaftlich übliche Wissen. Indes haben gerade auch Biologen den fiktiven und kulturhistorischen Charakter der Rassensystematiken benannt und den Rassebegriff zurückgewiesen.52 In ihrem Rückbezug auf die Humanbiologie formulieren Bader/Ravagli zugleich dezidiert, was in der Wissenschaftskritik als aktuelle Strategie kosmetischer Korrekturen kritisiert wurde: Die schlichte Ersetzung des Rassebegriffs durch andere Begriffe, ohne sich indes von den dahinter stehenden historischen Konzepten zu verabschieden.53 So heißt es bei Bader/Ravagli: »Heute spricht man in der Humanbiologie von Varietäten der menschlichen Art oder Populationen, in der Ethnologie von Ethnien, und meint unter Vermeidung eines verfemten Ausdrucks dasselbe wie früher.«54 Dieses undistanzierte Festhalten am Mythos ›Rasse‹ korrespondiert der Argumentationsstruktur nach mit jenen humanbiologischen Konzepten und Strategien, wie sie am Lehrstuhl von Prof. Dr. Rainer Knußmann an der Universität Hamburg vertreten wurden. Hier wurde bis in die Mitte der 1990er Jahre das Fach ›Rassenkunde‹ gelehrt. Nach etlichen studentischen, professoralen und öffentlichen Protesten ist das Fach in »Biologische Variabilität des Menschen« umbenannt, der Begriff ›Rasse‹ in Knußmanns umstritte51 52 53 54

Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 27f. Vgl. Kattmann, U, (1999), S. 66f. Vgl. u. a. Kaupen-Haas, H./Saller, C. (1999). Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 28.

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nem Lehrbuch »Vergleichende Biologie des Menschen« durch ›Bevölkerungstyp‹ und die von Bader/Ravagli benannten Begriffe ersetzt worden.55 Die Grundsatzfrage, mit der der Biologe Ulrich Kattmann seinen 1999 erschienen Aufsatz in kritischer Absicht überschrieben hat: »Warum und mit welcher Wirkung klassifizieren Wissenschaftler Menschen?« blieb dabei von Knußmann ebenso unbeantwortet wie die Frage nach der historischen Genese des Rassekonzepts.56 Bei Bader/Ravagli erweisen sich nicht zuletzt gewisse derzeitige biologische Grundbegriffe als verwirrend besetzt, etwa, wenn aus einem ›Chromosom‹ ein ›Gen‹ wird: »Das Argument, die Humangenetik beweise, dass es keine Rassen gebe, weil angebliche Rassenunterschiede nur 4 Prozent des Genmaterials beträfen, ist nicht stichhaltig. Denn der Unterschied zwischen Mann und Frau hängt von einem einzigen Gen ab und niemand behauptet, es gebe keinen anthropologischen Unterschied zwischen Mann und Frau.«57

Die biologische (bipolare) Geschlechterdifferenz wird demnach als ›Beweis‹ für die vermeintliche Richtigkeit der Rassensystematik angeführt. Dabei wird – neben der biologisch nicht unerheblichen Verwechslung von ›Gen‹ und ›Chromosom‹ – ignoriert, dass die gegenwärtige Humanbiologie selbst von mehreren Kriterien der Geschlechtsbestimmung und der Variabilität der Kategorie Geschlecht ausgeht.58 Neben den internen Widersprüchen in der Berufung auf die Humanbiologie als objektiver Instanz, wirft das Zitat damit die Frage nach der Vereindeutigung biologischer Kategorien, d. h. die Grundsatzfrage nach reinen Kategorienbildungen auf. Denn: Natürlich gibt es unzählige anthropologische Unterschiede – wie aber wird diese endlose Vielfalt systematisiert und normiert? Welcher (numerologischen) Logik und welchen historischen Denktraditionen folgen die Systematiken? Detlef Hardorp, bildungspolitischer Sprecher der Freien Waldorfschulen Berlin-Brandenburg und Vorstandsmitglied des European Council for Steiner Waldorf Education (ECSWE), reartikuliert 2006 vor dem Hintergrund öffent55 Vgl. Knußmann, R. (1996). 56 Vgl. Kattmann, U. (1999); AG gegen Rassenkunde (1998); Kaupen-Haas, H./Saller, C. (1999); Hund, W. D. (1999). 57 Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 28. 58 Vgl. u. a. Christiansen, K. (1995). Zur Normativitätskritik an Kerrin Christiansens Konzept vgl. Hoffmann-Axthelm, F./Husmann, J. (2000). Zur Konstruktion von Geschlecht aus naturwissenschaftlicher Perspektive vgl. u. a. FaustoSterling, A. (1985); Orland, B./Scheich, E. (1995). Zum Überblick vgl. Scheich, E. (2000). Zur historischen Konstruktion bipolarer Zweigeschlechtlichkeit vgl. u. a. auch Bublitz, H. (1993); Honegger, C. (1996); Laqueur, T. (1996); Schiebinger, L. (1995).

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licher Debatten59 die These, Steiner habe lediglich Differenzen in der »Naturanlage« des Menschen beschrieben, die Einteilung in menschliche ›Rassen‹ entspräche der heutigen wissenschaftlichen Forschung.60 Dabei bezieht sich Hardorp auf biologisch umstrittene Ansätze aus Teilen der amerikanischen Genforschung, welche das in der Populationsgenetik verworfene biologische Rassekonzept zu reaktivieren suchen.61

6.4.2 Kulturalisierung von ›Rasse‹ Parallel zu diesen vermeintlich biologischen Absicherungen der Steinerschen Thesen zu ›Menschenrassen‹ ist eine paradoxe Plausibilisierungsstrategie erkenntlich, die sich als Kulturalisierung von ›Rasse‹ beschreiben lässt. So verteidigt Hardorp 2007 in seiner Funktion als bildungspolitischer Sprecher der Freien Waldorfschulen Berlin-Brandenburg öffentlich Steiners Thesen zur rassenspezifischen Ich-Entwicklung, indem er hier den Rassebegriff Steiners durch den Kulturbegriff ersetzt: »Es ist allgemein bekannt, dass in der Tat Asiaten eher zu einer Haltung tendieren, die das einzelne Ich nicht in den Vordergrund stellt (man schaue z.B. einmal nach China). Somit redet Steiner kulturellen Differenzen das Wort, die mit der Ausbreitung der Menschheit über verschiedene Erdteil [sic!] zu tun hat (und benutzt dabei ein nicht mehr zeitgemäßes Vokabular, indem er von ›Menschenrassen‹ spricht, wie vor einem Jahrhundert, wobei das Wort damals eine viel breitere Bedeutung hatte und man sogar von einer ›britischen Rasse‹ sprechen konnte, was man heutzutage als Kultur bezeichnet.«62

›Rasse‹ wird demnach zur kulturellen Differenz erklärt. Der spiritualistische Biologismus, der über den Hautfarbendiskurs mit Steiners Thesen zur Ich59 Vgl. u. a. Waldorfschulen in Sektennähe? rbb-Kulturradio, Zeitpunkte, 04.02.06.; Von Ariern und primitiven Rassen – Steiners Lehren und die Waldorfschulen. ZDF, Frontal21, 18.04.06; Rassismusvorwürfe gegen Waldorfschulen. Deutschlandfunk, DLF-Magazin, 27.04.06; Arier, Atlantis und Akasha. Eine Tagung sucht nach Rudolf Steiners Rassismus. Von Alexander Kissler. In: Süddeutsche Zeitung, 25.07.06. 60 Vgl. Hardorp, D. (2006). 61 Vgl. Hardorp, D. (2006). Hardorp beruft sich hierbei u. a. auf Argumentationen von Leroi, Armand Marie: A Family Tree in Every Gene. In: The New York Times, 14.03.2005, S. A23. [http://raceandgenomics.ssrc.org/Leroi/ (Recherchestand: 08.03.07)]. 62 Leserkommentar. Von Detlef Hardorp. In: die tageszeitung, taz.de, 26.08.07. In Reaktion auf: Rudolf Steiner. Diese Waldorfs! Von Marina Mai. In: die tageszeitung, taz.de, 23.08.07. Detlef Hardorp reagiert hier auf die öffentliche Diskussion um den o. g. 2006 gestellten Indizierungsantrag des Bundesfamilienministeriums bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, in Verhandlung der Bände Nr. 107 und Nr. 121 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe.

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Entwicklung substantiell verknüpft ist, bleibt unerwähnt. Was Hardorp mit »man schaue z.B. einmal nach China« sagen will, bleibt unklar – eine ›allgemeine‹ Mentalität, Seinsweise oder den Kommunismus? Die kulturalistische Argumentation, die auch als solche eurozentrisch-deterministisch ausgerichtet ist, umgeht Steiners eigentliche spiritualistisch-biologistische Thesen. Als kulturalistische Differenz vorgestellt, ist auch in Hardorps Darstellung Deutschsein/Europäischsein exklusiv Weiß gedacht. Und ›der Asiate‹ bleibt der ewige ›Andere‹, den das mangelhafte ›asiatische‹ Ich bestimmt. Im Folgenden seien Beispiele aus der vom Bund der Freien Waldorfschulen herausgegebenen Publikation von Bader/Ravagli genannt, in denen entlang der Interpretation einzelner Zitate Steiners Rassismus ›plausibilisiert‹ und als anthroposophischer Humanismus umgedeutet wird. Dabei werde ich mich maßgeblich auf die Lesart eines Vortrags konzentrieren.

6.5 Plausibilisierungsstrategien: B e i s p i e l › Ar b e i t e r v o r t r a g ‹ n a c h B a d e r / R a va g l i 6.5.1 ›Vorurteile‹ und Farbenlehre Es muss hervorgehoben werden, dass die o. g. Aussagen offizieller Vertreter der Anthroposophie vor dem Hintergrund einer dezidierten Kenntnis der Texte Steiners erfolgen. Bader/Ravagli diskutieren die einschlägigen Vorträge Steiners zu ›Menschenrassen‹. Hierzu zählen u. a. die Gesamtausgaben Nr. 107, 121, 348, 349, die in den vorangegangenen Kapiteln der vorliegenden Arbeit vorgestellt, und aus denen bestimmte Textpassagen immer wieder in der Öffentlichkeit kritisch diskutiert worden sind. Bader/Ravagli reformulieren Steiners Thesen als Humanismus: »So griff Steiner etwa in den ›Arbeitervorträgen‹ die Vorurteile gegen Schwarze auf, die von der französischen Armee in Deutschland eingesetzt wurden, und betonte – unter Verwendung eines damals üblichen Wortes – diesen Vorurteilen gegenüber, dass auch ›Neger‹ Menschen seien.«63

Aus den ›Arbeitervorträgen‹ werden einzelne Textpassagen Steiners zitiert, die in der Öffentlichkeit – angeblich fälschlicherweise – »als besonders anstößig betrachtet« würden.64 Hier sei die Auflistung Bader/Ravaglis wiedergegeben, um das Fundament der sich anschließenden Begründungsstrategien näher zu kontextualisieren. Zitiert werden aus Steiners Vortrag vom 03.03.1923 (GA 349) – von Bader/Ravagli irrtümlich mit dem Datum 63 Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 36. 64 Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 120.

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23.03.1923 versehen – folgende Sätze (ohne nähere Angaben von Seitenzahlen): »1. Über Schwarzafrikaner: ›Die Negerrasse gehört nicht zu Europa, und es ist natürlich nur ein Unfug, dass sie jetzt in Europa so eine große Rolle spielt.‹ 2. ›Weil ja der Mensch immer ein Mensch ist, selbst wenn er ein Schwarzer ist.‹ ›Der Neger hat also ein starkes Triebleben. Und weil er eigentlich das Sonnige, Licht und Wärme, da an der Körperoberfläche seiner Haut hat, geht sein ganzer Stoffwechsel so vor sich, wie wenn in seinem Innern von der Sonne selber gekocht würde. Daher kommt sein Triebleben.‹ 3. Über die ›malaiische Rasse‹: ›Die Folge davon ist, dass sie anfangen, unbrauchbare Menschen zu werden, dass sie anfangen, Menschen zu werden, die am Menschenkörper zerbröckeln, deren Körper abstirbt. Das ist in der Tat bei der malaiischen Bevölkerung der Fall.‹ 4. Über die Weißen: ›Die Weißen sind eigentlich diejenigen, die das Menschliche in sich entwickeln.‹ 5. ›Die weiße Rasse ist die zukünftige, die am Geiste schaffende Rasse.‹«65

Die sich an diese Auflistung anschließende Interpretation Bader/Ravaglis lautet: »Bei diesem Vortrag handelt es sich zunächst um eine Darstellung über Grundbegriffe der Goetheschen Farbenlehre, die an den verschiedenen Farben der Menschen erläutert wurden. Die Ausführungen über unterschiedliche Hautfarben illustrieren Grundbegriffe der Farbenlehre und erläutern gleichzeitig en passant die Gründe, warum der 1923 grassierende Rassismus unberechtigt ist.«66

Bader/Ravagli reaktivieren damit das fiktive rassentheoretische Hautfarbenschema, d. h. sie setzten es voraus, und führen Steiners spezifisch anthroposophische Konstruktion als Argument gegen seinen Rassismus an. Dies ist eine Umkehrung von Ursache und Wirkung: Denn dass Steiner seine ›Menschenrassen‹ über die anthroposophische ›Farbenlehre‹ (die im Vortrag 1923 mit Goethes ›Farbenlehre‹ nicht zu vergleichen ist), d. h. über eine kosmologisch-spiritualistische Begründungstruktur bestimmt, und umgekehrt aus seinem rassentheoretischen Hautfarbenkonzept wiederum Rückschlüsse für seine Farbenlehre zieht, spricht nicht gegen das Vorhandensein von Rassenlehre und Rassismus bei Steiner, sondern markiert die spezifische Konstruktionslogik anthroposophischer Rassentheorie. Umso unverständlicher erscheint vor diesem Hintergrund die Argumentationslinie, die Steiners Aussagen zum Spiegel der ›Vorurteile des Publikums‹ erklärt, wobei Rassismus zum klas65 Ausschnitte aus: Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923. Zit. in: Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 120f. 66 Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 121.

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senspezifischen Arbeiter-Phänomen, und Steiners rassentheoretische Ausführungen zur antirassistischen Arbeit werden: »Steiner versucht die in den Arbeitern vorhandenen Rassenvorstellungen aufzulösen und in ihnen das Bewusstsein von der Gleichwertigkeit aller Menschen zu erwecken, das Bewusstsein, dass alle Menschen der Menschheit angehören und global aufeinander angewiesen sind.«67

Nicht nur hat Steiner auch in anderen Vorträgen seine Rassenvorstellungen dargelegt, sondern die Unterstellung widerspricht einem breiten Konsens in der Rassismus- und Antisemitismusforschung, in der hervorgehoben wurde, dass Rassismen und Antisemitismen um die Jahrhundertwende gerade im christlichen Bildungsbürgertum und im wissenschaftlichen Kontext ausgearbeitet wurden und verankert waren.68 Ravagli/Bader externalisieren damit an dieser Stelle Steiners eigene Thesen und geben sie als Klischeevorstellungen des Arbeiterpublikums aus, auf das sich Steiner nur eingestellt habe. Indes werden Steiners Erläuterungen in den Interpretationen gerade in ihrer anthroposophischen Spezifik dargestellt.

6.5.2 Rassismus als Humanismus: ›Rassische‹ Differenz als Gleichheit Der Dreh zum Humanismus über die Aussage Steiners »weil ja der Mensch immer ein Mensch ist, selbst wenn er ein Schwarzer ist«,69 muss im Textkontext, in dem Steiner einen Zusammenhang von Absorbierung des kosmischem Lichts, von Sonne, Hitze, Hinterhirn, Triebleben und schwarzer Hautfarbe konstruiert (vgl. Kap. 5.9) – mehr als zweifelhaft erscheinen. Bader/Ravagli selbst benennen diesen Textkontext70 und führen hierzu in der Rechtfertigung von Steiners Thesen u. a. an: »Auch die heutige Spezialforschung spricht von unterschiedlichen Teilen des menschlichen Gehirns und ihren unterschiedlichen Funktionen (Näheres in Anmerkung 115).«71 Die aktuelle »Spezialforschung« – gemeint ist vermutlich die Hirnforschung – wird demnach als legitimierende Instanz für Steiners rassentheoretisch relevante Dreiteilung des menschlichen Gehirns angeführt. Basieren solche Ableitungsmodi Steiners auf den rassentheoretischen Traditionen der Phrenologie, so bleiben Bader/ Ravagli den Nachweis für die Aktualität einer solchen angeblich gängigen wissenschaftlichen Behauptung schuldig. Denn der Verweis auf »Näheres in 67 68 69 70 71

Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 121. Vgl. u. a. Braun, C. v./Heid, L. (2000). Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 55. Vgl. Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 129-131. Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 130.

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Anmerkung 115« führt ins Leere: In besagter Fußnote findet sich lediglich der Satz: »Vorträge wurden von Steiner in der Regel nicht redigiert oder korrigiert. Ihr Wortlaut ist also nicht durch ihn selbst autorisiert. Sie waren ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt.«72 – Ein an dieser Stelle zusammenhangslos angeführter Gedanke. Insgesamt wird von Bader/Ravagli alles legitimiert, was Steiner in den diskutierten Schriften zu ›Menschenrassen‹ gesagt und geschrieben hat. Dabei zeigt sich, dass Steiners Rassensystematiken geradezu als Garant einer vermeintlichen Gleichwertigkeit in der Differenz gewertet werden. Benannt werden folgende strukturelle »Beziehungen«:73 »Stoffwechselsystem – Lebensäther – Hinterhirn – Wollen – ›Schwarze‹. Rhythmisches System – Chemischer Äther – Mittelhirn – Fühlen – ›Gelbe‹. Nerven-Sinnessystem – Lichtäther – Vorderhirn – Denken – ›Weiße‹.«74

Dieser rassentheoretische Systemzusammenhang, der sich über die Analogisierung zum anthroposophisch strukturierten Individualkörper ergibt, wird, gemäß der Steinerschen Lehre, als ›ganzheitliches‹ System vorgestellt. Es wird dabei grundlegend verkannt, dass diese Systematik an sich zutiefst rassistisch ist. Sie teilt Individuen schematisch entlang von fiktiven biologischen Unterschieden (in diesem Fall: dreigegliedertes Hirn, dreigliedrige Hautfarbensystematik, dreigegliederte andere Körpersysteme) in ›Rassen‹ ein und schreibt in deterministischer Weise eine bestimmte Art des Seins, einen rassenspezifischen Charakter fest. Dabei ist es strukturell betrachtet zunächst egal, wie diese Differenzen gewertet werden, ob etwa ›Fühlen‹ und ›Wollen‹ auch ›positive‹ Aspekte aufweisen etc. Die deterministische Charakterisierungspraxis ist schon in ihren Grundzügen zu problematisieren. Sie legt Individuen (jedenfalls in ihrem jetzigen Leben) schematisch auf ein bestimmtes, stereotypes, ›rassisches‹ So-oder-So-Sein fest, determiniert sie in rassistischer Weise. Im Einzelnen zeigt sich, dass die jeweiligen Charakterisierungen keineswegs als ›egalitäre‹ Bestandteile der ›Ganzheit‹ zu betrachten sind. Wenn ›gelbe Asiaten‹ durch das ›Gefühl‹ bestimmt werden, am ›Menschenkörper abbröckeln‹ und ›unbrauchbare‹ Menschen werden, wenn Schwarze durch die nach Steiner zu überwindenden Triebe charakterisiert sind, Weiße intellektuelle Fähigkeiten besitzen und für Fortschritt stehen, wie Bader/Ravagli selbst zitieren, dann bedarf es einer großen Abstraktionsleistung, um solche Aussagen als Humanismus und egalitäre Ganzheitlichkeit zu präsentieren.

72 Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 110, Anm. 115. 73 Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 132. 74 Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 133.

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6.5.3 ›Krise des Materialismus‹ und Weiße Erlösung Die Ausführungen von Bader/Ravagli zum ›Arbeitervortrag‹ führen u. a. zu den Thesen, Steiner habe den Schwarzen eine »besondere Fähigkeit« zugeschrieben, nämlich »den Lebensäther anders als die ›Gelben‹ und die ›Weißen‹ zu nutzen«, dadurch habe Steiner das »zeitgenössische Bild des ›schwarzen Wilden‹« revolutioniert.75 Die Weißen kämen am schlechtesten weg, da ihr Denkleben als »Handicap«76 gewertet werde, ihnen gegenüber den ›Gelben‹ und ›Schwarzen‹ die Spiritualität fehle.77 Steiners evolutionistische Konstruktion, nach der das Triebleben zu überwinden ist und das Ich des Europäers diesen Transformationsprozess bereits bewege, nach der das Denkleben/der Materialismus die Voraussetzung für die wahre spirituelle Entwicklung darstellt, und somit die ›Krise des Materialismus‹ als Krise des Weißen Selbst bereits das Versprechen auf Erlösung in sich trägt, nach der der ›Große Geist‹ der ›Indianer‹ eine Spiritualität bezeichnet, die vergangen und dem Untergang geweiht ist usw. (vgl. Kap. 5) – diese eurozentrisch evolutionistischen Strukturen Weißer Subjektinszenierung bleiben bei Bader/Ravagli unbenannt bzw. lesen sich folgendermaßen: »Die Hilfe, die die ›Afrikaner‹ und ›Asiaten‹ den ›Europäern‹ leisten, könnte darin bestehen, dass sie die kosmische Spiritualität in sich bewahrt haben und damit den Europäer an das erinnern, was er auf individuellem Weg wieder erreichen muss. Weil der Europäer etwas verloren hat, was ›Asiaten‹ und ›Afrikaner‹ noch besitzen, bewahren Letztere – mit der gegenwärtigen Verfassung des ›Europäers‹ verglichen – einen Zustand der Vergangenheit, während der Europäer in seiner Existenz auf etwas Zukünftiges bezogen ist, das er aber noch nicht besitzt, sondern erwerben muss, um es zu besitzen.«78

Die eurozentrische Konstruktion von Weißsein als Fortschrittsprinzip wird hier als harmonisches Ergänzungssystem präsentiert, in dem Vergangenheit und Zukunft, das ›Eigene‹ und der ›Andere‹ vermeintlich in Einklang gebracht sind. Die evolutionistische Struktur wird jedoch auch drastischer formuliert. Dabei zeigen sich fatale historische Ableitungen aus Steiners Krisenerzählung des Materialismus: »Was die Europäer jetzt ausbilden, indem sie den Materialismus aus der Kraft ihres Geistes überwinden, das muss jeder einzelne Europäer selbst in sich entwickeln, seine Zugehörigkeit zum Europäertum nützt ihm dabei gar nichts: es schafft nur die Bedingung zum weiteren geistigen Fortschreiten der Menschheit, indem es die Spiri75 76 77 78

Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 133. Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 134. Vgl. Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 39, 135. Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 139.

338 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK tualität, in der die ›Asiaten‹ oder ›Afrikaner‹ leben, im ›Europäer‹ zerstört hat – und auch im ›Afrikaner‹ und ›Asiaten‹ zerstören wird, können wir hinzufügen, da sich durch den kulturellen und wirtschaftlichen Imperialismus der nördlichen Hemisphäre ebenjener unspirituelle, jegliche Spiritualität verneinende Materialismus ausbreitet, der Europa im 20. Jahrhundert in die Katastrophen zweier Weltkriege und den Holocaust geführt hat [Herv. J. H.].«79

Zusammengefasst lassen sich dem Zitat folgende Aussagen entnehmen: 1. ›Europäertum‹ wird als Bedingung und Garant der kosmologischen Entwicklung festgesetzt, Europäischsein garantiert geistigen Fortschritt; 2. Die Zerstörung einer ursprünglichen ›Spiritualität‹ durch den ›europäischen Materialismus‹ wird zur Voraussetzung geistiger Entwicklung; 3. ›Afrikaner‹ und ›Asiaten‹ steht diese Entwicklung zwangsläufig noch bevor; 4. Imperialismus, die beiden Weltkriege und der Holocaust werden als Ausdruck des Materialismus, d. h. als Resultat einer Verneinung von ›Spiritualität‹ erklärt. Rückgebunden an Steiners Erlösungsgeschichte, in der die ›Krise des Materialismus‹ seine kosmologische Notwendigkeit besitzt, werden die historischen Geschehnisse und aktuellen Ökonomien letztlich ›sinnhaft‹ aufgeladen. Wenn nun noch berücksichtigt würde, dass Steiner den Materialismus nicht nur als Charakteristikum des Weißen christlichen Europäers, begreift, sondern den Juden eine »große Begabung« für den Materialismus zuschreibt,80 den jüdischen Schöpfergott mit dem ›materialistischen Prinzip‹ assoziiert,81 und die These aufstellt, in »Judas« habe sich »die ganze materielle Zeit« inkarniert, die das »Spirituelle verdunkelt und verdüstert«82 (vgl. Kap. 5.4), so nähme Bader/Ravaglis Erklärungsmuster zum Holocaust die fatale Wendung, die ursprüngliche Ursache im Judentum selbst verorten zu müssen. Da diese Thesen Steiners aber unberücksichtigt bleiben, erscheint es ›nur‹ so, als ob der Europäer durch eine materialistische Verblendung handele, vor der schon Steiner gewarnt habe.83 Durch diese Entpolitisierung und Enthistorisierung von Kolonialismus, Nationalsozialismus und Holocaust werden die Fragen nach kulturhistorischen und politischen Entstehungshintergründen, nach individueller Verantwortung, TäterInnenschaft und der Spezifik des deutschen Nationalso79 Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 137f. 80 Steiner, R. (GA 353), S. 78. 81 Vgl. Körner-Wellershaus, I. (1993), S. 463; Steiner, R. (GA 105), Vortrag vom 08.08.1908, S. 93f., Vortrag vom 10.08.1908, S. 95-106; 82 Steiner, R. (GA 93a), S. 66. 83 Zum konstatierten Zusammenhang von Materialismus und Holocaust heißt es kurz zuvor auch: »Dass die beispiellosen Exzesse des Materialismus und die von diesem ausgehenden Massenmorde im 20. Jahrhundert die geradlinige Konsequenz dessen sind, was Steiner hier als Gefahr beschrieben hat, wenn die Europäer keine Spiritualität entwickeln, liegt nahe. Der Nazismus konvergiert in seiner materialistischen Wurzel mit dem Stalinismus oder jeder anderen Form des ›wissenschaftlichen‹ Materialismus.« Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 136.

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zialismus irrelevant. Bader/Ravagli gelingt es im Anschluss an das obige Zitat, diese Reformulierungen und Aktualisierungen Steinerscher Thesen wiederum als egalitär emanzipative Erzählung vorzustellen: »Konsequenterweise darf das, was heute als Europa bezeichnet wird, nicht mit jenem Idealbild eines von neugeschöpfter Spiritualität durchdrungenen europäischen Geisteslebens verwechselt werden, das Steiners Sicht der europäischen Aufgabe zugrunde liegt. Denn diese Spiritualität ist auch imstande, das, was in nichteuropäischen Völkern an Spiritualität lebt, zu würdigen, wie aus den entsprechenden Darstellungen Steiners über die ›Asiaten‹ und ›Indianer‹ hervorgeht [...].«84

Steiners ›entsprechende Darstellungen‹ kennzeichnen die Außereuropäer an keiner Stelle des Vortrags dezidiert durch den Begriff der ›Spiritualität‹. Die Charakterisierung suggeriert somit, was der Rezeption nach wünschenswert wäre. Die angeblich positiven und respektvollen Beschreibungen des ›Anderen‹ bleiben zu suchen. Dies verdeutlicht nicht zuletzt die (in Kap. 5.9 zitierte) Aussage Steiners zu den ›Indern‹, denen in dem Vortrag zwar ›die schönsten Dichtungen‹ zugesprochen werden, die aber, da sich das ›kaukasische‹, weiße Element bei ihnen nicht in Reinform finde, zu Trägheit neigen würden.85 Diese Aussagen Steiners sind Teilbestandteil eben jenes von Bader/Ravagli eingangs angeführten Zusammenhangs von anthroposophischer ›Farbenlehre‹ als ›Hautfarbenlehre‹, in der Weißsein nicht nur als reine Farbe, sondern als Ausdruck der Farbe des (göttlichen) Geistes gedacht und als eine in sich reine, kategorisch abgrenzbare rassische Kategorie konstruiert ist. Insgesamt wird Weißsein in der Rezeption Baders/Ravaglis rezentralisiert und als geistig-männliches Individualisierungs- und Zukunftsprinzip re-etabliert. Dabei wird der asymmetrische Konstruktionsmodus, der sich in Steiners Denksystem als Gegenüberstellung von Weißsein als doppelt codierter Geistigkeit (Denkleben und wahre Spiritualität) und der Verweiblichung des ›Anderen‹ (über dessen Charakterisierung durch das ›Gefühlsleben‹ und ›Triebleben‹) als dezidiert geschlechtsspezifischer Rassismus zeigt, seiner hierarchischen Struktur vermeintlich enthoben und als reine ›ganzheitliche‹ Ergänzung präsentiert.

84 Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 138. 85 Vgl. Steiner, R. (GA 349), Vortrag vom 03.03.1923, S. 62.

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6.6 ›Materialistische Weltanschauung‹ und Textinterpretation Zur Plausibilisierung der anthroposophischen Thesen zu ›Menschenrassen‹ gehört die Behauptung: »Mitunter drückt er [Steiner] seine Ansichten in Sprachformeln aus, die – aus dem Zusammenhang gerissen – nach Rassismus klingen (besonders in den so genannten Arbeitervorträgen, die sich besonders leicht für polemische Zwecke missbrauchen lassen), doch beschreiben diese Formeln ein Bewusstsein, das es nach Steiner zu überwinden gilt.«86

Die Überwindung dieses Bewusstseins und die Auflösung der angeblichen ›Menschenrassen‹ setzt Steiner dabei – wir erinnern uns – in einigen tausend Jahren an. Mit der Umschreibung ›Sprachformeln‹ wird der Eindruck erweckt, Steiners Rhetorik sei für Außenstehende nicht wirklich erfassbar, das Gesagte sei verschlüsselt. Indes sind die Aussagen durchaus verständlich. An dieser Stelle sei auf eine analoge Argumentationsstruktur im Untersuchungsbericht der niederländisch anthroposophischen Untersuchungskommission verwiesen, die den Gedanken der ›Sprachformeln‹ mit Blick auf Steiners eingangs erwähnte Prämisse, nur AnthroposophInnen könnten seine Aussagen verstehen, modifiziert.87 So heißt es etwa in der Plausibilisierung der Steinerschen These, dass die Menschheit immer dümmer werden würde, wenn die Blondhaarigen und Blauäugigen aussterben88 (vgl. Kap. 5.10): »Wer die Existenz einer solchen Weisheit [der anthroposophischen Geisteswissenschaft] nicht nachvollziehen kann, wird die obige Darstellung [Steiners zu den Blondhaarigen und Blauäugigen] leicht mißverstehen können. Es könnte Steiner sogar unterstellt werden, es komme ihm auf die Fortpflanzung möglichst vieler blonder, blauäugiger Menschen an, um die Intelligenz zu retten. Wer so denkt, wird von der eigenen (materialistischen) Weltanschauung daran gehindert, das Gemeinte korrekt zu interpretieren. Es wird darin ja ausdrücklich betont, daß die zukünftige Menschheitsentwicklung nicht mehr vom Körperlichen, sondern vom körperunabhängigen Geist abhängig ist [Herv. J. H.].«89

Auch hier wird mit Steiners hellseherischem Blick in die Zukunft argumentiert, wonach sich die gegenwärtigen ›Rassen‹ auflösen, der Mensch sich zum 86 Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 35f. 87 Auf Steiners diesbezügliche Prämissen wird auch von Bader/Ravagli verwiesen. Vgl. Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 44f. 88 Vgl. Steiner, R. (GA 348), Vortrag vom 13.12.1922, S. 102-105. 89 Untersuchungskommission »Anthroposophie und die Frage der Rassen« (1998), S. 181.

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Geistwesen transformiere. Der Verweis relativiert nicht Steiners Gegenwartsbeschreibung, sondern bestätigt sie. Dabei ist durchaus auch für NichtAnthroposophInnen dem Textkontext zu entnehmen, dass es Steiner nicht um ein eugenisches Züchtungsprogramm im Sinne ›naturwissenschaftlich‹medizinischer Rassentheorien geht: Sein Heilsversprechen liegt hier darin, dass allein die anthroposophische Geisteswissenschaft den als krisenhaft beschriebenen Zustand, der sich durch das Aussterben der Blonden ergebe, beheben könne. Steiner stützt sich damit auf die rassentheoretische Krisenerzählung und die ihr inhärenten Gefahrenszenarien und übernimmt idealtypische Klassifikationen des Ariermythos, integriert sie in seine anthroposophische Erlösungsgeschichte rassentheoretischer Entwicklung (vgl. Kapitel 5.10.). Die Rezeption erweist sich als Umkehrung dieses Verhältnisses, indem Steiners ›hellseherischer‹ Blick die eigens produzierten Rassismen aufzulösen scheint. Die Immunisierung gegen den ›Blick von Außen‹, der als ›materialistischer Blick‹ im Sinne Steiners als Blindheit gefasst ist, bildet den Sockel der Abwehr kritischer Hinterfragung. Auf der Website »anthroposophy.com« von Lorenzo Ravagli zeigt sich diese ›okkultistische‹ Grundargumentation interessanterweise dezidiert farbsymbolisch codiert: Frei nach Goethes Faust, in dem Mephistopheles zum Schüler sagt: »Grau ist alle Theorie, teurer Freund, und grün des Lebens goldner Baum«,90 ist dort zum Stichwort »Kritische Publikationen zur Anthroposophie« – »Graue Literatur« zu lesen: »Als ›grau‹ wird die Literatur deshalb bezeichnet, weil die von den betreffenden Autoren benutzten Methoden charakteristisch für den ›grauen Pfad‹ des Okkultismus sind, der sich nicht wie der ›weiße‹ Okkultismus den Idealen von Wahrheit und Liebe verpflichtet fühlt, sondern Unwahrheiten und Schürung von Haß gezielt als Mittel des Kampfes einsetzt (webmaster).«91 90 Goethe, J. W. v. (1991), S. 57. 91 http://www.anthroposophy.com/ [Navigation: Anthroposophie – Anthroposophie: Fragen und Themen – Kritische Publikationen zur Anthroposophie – Graue Literatur] (Recherchestand: 12.07.07). Folgende Bücher werden aufgeführt: Baumann-Bay, L./Baumann-Bay, A. (2000); Bierl, P. (1999); Jacob, S.C./Drewes, D. (2004); Wegener, Franz. 2001. Das Atlantidische Weltbild. Gladbeck. Rezensionen dazu von Lorenzo Ravagli und Michael S. Schild. Verschiedene anthroposophische Deutungen und Verurteilungen ›materialistischer‹ Anthroposophie-Kritik wurden in jüngerer Zeit insbesondere in Diskussionen um die historisch-kritischen Forschungen von Helmut Zander (vgl. Zander, H. (2007)) deutlich. Vgl. u. a. Neider, H. (2007a); Neider, A. (2007b); vgl. kritisch dazu Nachrichten aus der Welt der Anthroposophie (2007). In diesem Kontext sucht Ravagli den Historiker Zander, der »trotz seiner katholischen Vergangenheit einem marxistisch inspirierten, historischen Materialismus verpflichtet« sei, auch als »Enthüllungsjournalisten marxistischer Orientierung« zu diffamieren. Vgl. Ravagli, L. (2009), S. 35; u. a. auch zitiert in Lichte, A. (2009).

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Bader/Ravagli sprechen hinsichtlich der Rassismuskritik an Steiner u. a. von »Anwürfe[n]«, die der »Propaganda nazistischer Kampfblätter wie des Stürmer« glichen.92 Detlef Hardorp kommt 2007 zu der These, dass AnthroposophInnen von KritikerInnen in rassistischer Weise diskriminiert würden.93

6.7 Waldorfpädagogik und das »dunkle Herz des Materialismus« »Entwicklungsgeschichtlich ist es schon merkwürdig, wie der Impuls moderner Wissenschaftlichkeit von einem Instrument der geistigen Befreiung zu einem neuen Dogma geworden ist, das sich der Beschränkung auf das sinnlich-empirisch Feststellbare verschrieben hat. Die Gralshüter der öffentlichen Meinung in den Medien sind daher zurecht alamiert: denn es geht der Anthroposophie letzten Endes nicht um ein paar bessere Schulen, um gesünderes Essen oder verträglichere Medizin, sondern um ein neues Bewusstsein und ein anderes Weltbild: Anthroposophie zielt auf das dunkle Herz des Materialismus. Und wie jeder Tyrannei, die in der Weltgeschichte aufgetreten ist, wird man auch dieser nicht mit Anpassungsversuchen, mit gutem Zureden beikommen. Hier ist der fröhlich entschlossene Aufstand gegen eine von niemandem legitimierte Deutungsallmacht gefragt: Okkultismus? Und wenn schon! Ätherleib und Akasha-Chronik? Ja sicher, wenn wir das wichtig finden! [...] Es gibt keine Instanz, die uns die wahren Abenteuer des Geistes verbieten oder vorschreiben

92 Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002), S. 8. Als Kritiker werden folgend benannt: Peter Bierl, Colin Goldner, die Brüder Grandt und Helmut Zander. Vgl. Bader, H.-J./ Ravagli, L. (2002), S. 8-11. An anderer Stelle spricht Ravagli mit Blick auf KritikerInnen der Anthroposophie auch von »rassistoiden Antirassisten« und »faschistoiden Antifaschisten«. Vgl. Ravagli, L. (2007a). Zur Diffamierung von KritikerInnen der Anthroposophie vgl. u. a. Einschüchterung nach Waldorf-Art. Von Arno Frank. In: die tageszeitung (taz), 08.08.2000; Grandt, G./Grandt, M. (2001); Wie Kritiker mundtot gemacht werden sollen. ARD, Report Mainz, 09.04.2001; Schedel, G. (2007). Zu Steiners Diffamierung von KritikerInnen vgl. Badewien, J. (1990), S. 214-218. 93 »Rassismus ist der Versuch, andersartige Gruppierungen zu erniedrigen. Dieser Versuch wird derzeit gegenüber Anthroposophen von einer kleinen Truppe effektiv inszeniert.« Leserkommentar. Von Detlef Hardorp. In: die tageszeitung, taz.de, 26.08.07. In Reaktion auf: Rudolf Steiner. Diese Waldorfs! Von Marina Mai. In: die tageszeitung, taz.de, 23.08.07. Unter Rückbezug auf einen kritischen Artikel zur Anthroposophie und Waldorfpädagogik der FAZ-Journalistin Heike Schmoll setzt Lorenzo Ravagli auch Schmolls Hinterfragung der Rolle von WaldorflehrerInnen als ›Erziehungskünstlern‹ mit Rassismus gleich: »Im Grunde ist die Unterstellung, der Erziehungskünstler sei dem Wissensvermittler nicht gleichwertig, eine Art von verkapptem Rassismus.« Ravagli, L. (2007b); vgl. Auf Rudolf Steiners Spuren. Von Heike Schmoll. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.05.07.

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könnte, was Gegenstand von Erkenntnisgewinn werden darf und was nicht. Wir wollen einen erweiterten Wissenschaftsbegriff.«94

Jens Heisterkamp, Chefredakteur des anthroposophischen Magazins »Info3«, formuliert 2007 mit diesem selbstbewussten Vorstoß ins ›dunkle Herz des Materialismus‹ eine ungewöhnlich offenherzige Perspektive, welche die pädagogische Praxis in zentraler Weise berührt: Denn von offizieller Seite wird bestritten, dass der Lehre des Gründervaters irgendeine konkrete Bedeutung im Unterricht an Waldorfschulen zukommt, ein Grundsatz, der auch im Kontext der Rassismusdiskussion immer wieder hervorgehoben wird: »Außerdem sind die Ansichten Steiners keine Unterrichtsinhalte an Waldorfschulen, das widerspräche ihrem pädagogischen Anliegen grundlegend. Waldorfschüler sollen nicht in eine weltanschauliche Richtung hin erzogen werden.«95

Was bisher KritikerInnen der Waldorfpädagogik als weltanschauliches Unterrichtskonzept problematisierten,96 reformuliert Sebastian Gronbach, Autor von »Info3«, in Anlehnung an Heisterkamps Aussage positiv. Er macht auf den Waldorf-internen Widerspruch zwischen Praxis und Außendarstellung aufmerksam und argumentiert, dass es abwegig sei, die Bedeutung Steiners im Schulalltag zu negieren. Schließlich beginne bereits jeder Schultag mit einem Morgenspruch Rudolf Steiners, der »die Gedanken und Empfindungen der Schüler und Lehrer ganzheitlich auf die kommende Arbeit«97 konzentriere: »Der Sonne liebes Licht, es hellet mir den Tag; der Seele Geistesmacht, sie gibt den Gliedern Kraft; im Sonnen-Lichtes-Glanz verehre ich, o Gott, die Menschenkraft, die du in meine Seele mir so gütig hast gepflanzt, dass ich kann arbeitsam 94 Heisterkamp, J. (2007); vgl. auch Gronbach, S. (2007b). 95 Bund der Freien Waldorfschulen e.V. (21.04.06). 96 Aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive vgl. Prange, K. (2000). Aus praxispädagogischer Perspektive vgl. Glocke, N. (2007); Lichte, A. (2006a); Lichte, A. (2006b); Lichte, A. (2006c); vgl. ferner u. a. Badewien, J. (1990); Baumann-Bay, L./Baumann-Bay, A. (2000); Bierl, P. (1999); Brügge, P. (1984); Grandt, G./Grandt, M. (2001); Jacob, S.-C./Drewes, D. (2001). 97 Gronbach, S. (2007a).

344 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK und lernbegierig sein. von dir stammt Licht und Kraft, zu dir ström’ Lieb’ und Dank.«98

Damit exemplifiziert Gronbach das anthroposophische Pendant zum ›dunklen Herz des Materialismus‹: »Der Spruch versinnbildlicht, in einem dem Alter der Kinder und ihrem kulturellen Diskurs angemessenen und anspruchsvollen Duktus, dass in allem, was von nun an gelernt wird, etwas enthalten ist, das über das Zählen, Messen und Wiegen hinaus geht – das seelische und geistige Element. Man könnte auch sagen: die innere Version der Dinge.«99

Sind die künstlerischen Impulse Steiners ein allgemeines Kennzeichen der Waldorfschulen, so bezieht sich das Argument von offizieller Seite, Steiner spiele keine Rolle im Unterricht, auf die pädagogische Praxis, dass SchülerInnen im Unterricht Steiners Werke nicht selbst lesen. Im Gegensatz dazu steht das Ausbildungskonzept für angehende WaldorflehrerInnen: Denn in den Lehrerseminaren stellt die Lektüre Steiners ein zentrales Element dar. Der Struktur nach ist die nähere Beschäftigung mit Steiners Schriften demnach exklusiv für LehrerInnen gedacht, die gewonnenen Erkenntnisse sollen ›indirekt‹ in den Unterricht einfließen.100 Der Erziehungswissenschaftler Klaus Prange von der Universität Tübingen spricht von einer »Technik der Indoktri-

98

Morgenspruch für Waldorfschüler von der ersten bis zur vierten Klasse. Zit. in: Gronbach, S. (2007a). Zu Sprüchen anderer Klassen vgl. ebenso Gronbach, S. (2007a). 99 Gronbach, S. (2007a). 100 Hinweise auf anthroposophische Ausbildungsinhalte finden sich auf der Website des Bundes der Freien Waldorfschulen u. a. zum »modularisierten Vollzeitstudium« des »Lehrerseminars für Waldorfpädagogik, Kassel«: »Qualifikation speziell für den Bereich der Oberstufe in den Fächern Mathematik, Physik, Biologie, Chemie, Geographie, Deutsch, Geschichte, Kunstgeschichte. Aufbauend auf die [sic!] anthropologisch−anthroposophische Grundlagen [sic!] jeweils wissenschaftliche Einführung in phänomenologische Naturwissenschaft und symptomatologische Geschichtsbetrachtung [...].« Ebenso wird zum »Jahreskurs zur Vorbereitung einer Lehrtätigkeit an Waldorfschulen mit dem Schwerpunkt im Klassenlehrerbereich« am »Pädagogischen Seminar an der Rudolf SteinerSchule«, Nürnberg vermerkt: »Studiengebiete: Denk-Arbeit über den Menschen und seine Entwicklungsstufen unter dem Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft und einer daraus hervorwachsenden Methodik.« [http://www.waldorfschule.info/index.20.0.1.html (Recherchestand: 01.09.07)]. Zur Kritik an der ›indirekten Wissensvermittlung‹ anthroposophischer (Lehr-)Inhalte aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive vgl. Prange, K. (2000). Aus praxispädagogischer Perspektive vgl. Glocke, N. (2006); Lichte, A. (2006a), S. 9-35.

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nation«.101 Ehemalige SeminaristInnen des »Seminars für Waldorfpädagogik Berlin« haben diese zweischneidige Praxis 2006 ebenso kritisiert wie die ungebrochene Vermittlung von Steiners Evolutions- und Rassenlehre von Seiten mehrerer Ausbildungskräfte des Berliner Lehrerseminars.102 Der Ansatz einer indirekten Vermittlung anthroposophischer Lehrinhalte kann und soll in seinen komplexen Dimensionen für die pädagogische Praxis an dieser Stelle nicht verhandelt werden. Der folgende Abschnitt wird jedoch veranschaulichen, was als offener Widerspruch die Waldorfpädagogik bestimmt: Dass in Lehrbüchern für WaldorflehrerInnen Steiners Lehre ausdrücklich zentral gesetzt ist und damit die Frage auf der Hand liegt, warum dies der Fall ist, wenn es für den Unterricht irrelevant ist. Ich werde entlang eines Lehrbuchs zur Geografie aus dem Jahr 1999 der Frage nach der Bedeutung der Steinerschen Rassenlehre nachgehen. Inwiefern sich Steiners ›hellseherischer‹ Blick als Weißer Blick tradiert, welche Kontinuitäten und Brüche sich zeigen, wird exemplarisch dargestellt.

6.8 Geographie oder Steiners Rassenlehre als geographisch-kulturelle Differenz 6.8.1 Zielsetzung des Lehrbuchs »Das lebendige Wesen der Erde« In der Einleitung des von Christoph Göpfert herausgegeben Lehrbuchs: »Das lebendige Wesen der Erde. Zum Geographieunterricht der Oberstufe«, das 1999 im Verlag »Freies Geistesleben« erschien,103 werden zu Beginn folgende Grundansätze formuliert: erstens die Annahme, dass es sich bei der Erde um einen »lebendigen Organismus« handele, zweitens die Stützung dieser These durch den Rückbezug auf die Naturphilosophie von Carl Gustav Carus,104 drittens der Glaube an Steiners hellseherische Fähigkeiten und viertens die Präsentation von Steiners Theorien als ›Faktenwissen‹, d. h. als ›reines‹, überzeitliches, naturwissenschaftliches Wissen.105 Dabei scheint Steiner den heutigen Forschungen bereits immer einen Schritt voraus:

101 Prange, Klaus. Zit. in: Land: Waldorfschulen liegen im Trend. In: Badische Zeitung, 29.08.07; Rudolf Steiner auf den Index? Von Andrea Hennis. In: Focus Online, 29.08.07. 102 Vgl. Lichte, A. (2006a); Lichte, A. (2006c); Von Ariern und primitiven Rassen – Steiners Lehren und die Waldorfschulen. ZDF, Frontal21, 18.04.06. 103 Göpfert, C. (1999a). Ich danke Andreas Lichte für diesen Literaturhinweis. 104 Vgl. Göpfert, C. (1999b), S. 7, unter Bezugnahme auf Carus, C. G. (1986). 105 Vgl. Göpfert, C. (1999b), S. 7.

346 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK »Zu einer wirklichkeitsgemäßen Anschauung vom Wesen der Erde als eines lebendigen Organismus gelangt man erst, wenn man die Erkenntnisse Rudolf Steiners über die ätherischen Bildekräfte berücksichtigt. Sie wirken nicht nur als Träger von Leben, Formbildung und Wachstum in Pflanze, Tier und Mensch, sondern man kann auch von einem ›Ätherleib der Erde‹ sprechen.«106

Anliegen des Lehrbuches ist es, »ein erweitertes Verständnis unseres Planeten zu erschließen und Anregungen zu geben, wie man eine solche Sichtweise für den Geographieunterricht der Oberstufe fruchtbar machen kann.«107 ›Natur‹ und ›Kultur‹ hierbei zusammenzudenken, sei Ausgangspunkt einer ›ganzheitlichen‹ Betrachtung. So endet die Einleitung des Lehrbuchs auch mit den Worten: »Beide, Natur und Kultur eines bestimmten Raumes, stehen möglicherweise unter einer gemeinsamen, höheren Ordnung, die ihnen das Siegel aufprägt. Rudolf Steiner hat auf die außerordentliche Bedeutung hingewiesen, die der Einfluß der Naturumgebung einer Region auf den Menschen hat. [...] Wir stehen mit der Entzifferung dieses Zusammenhangs erst am Anfang.«108

Die ›höhere Ordnung‹ beschreibt Hermann Fink in seinem Artikel »Das Kreuz auf der Erde. Aus dem Erdkundeunterricht der 9. Klasse« als Symbol des Kreuzes, das in der geographischen Formgebung der Erde erkenntlich sei. Die christliche Symbolik wird hier als überzeitlich vorgestellt, eine abstrakte, symbolische Ordnung materialisiert sich sprichwörtlich als Naturordnung: »So sehen wir ein dreifaches Kreuz über die Erde gespannt: ein Zeitenkreuz, ein Gebirgskreuz, ein Kräftekreuz. Die Rune, die so dem Antlitz der Erde eingegraben ist, das Kreuz auf der Erde, sie ist zugleich ein altes Mysterienbild. Platon spricht z. B. im Timaios davon, daß die Weltenseele in Kreuzesform auf den Leib der Erde gespannt sei. Einmal aber wurde dieses Bild historisches Ereignis: als das Kreuz auf Golgatha errichtet wurde. Damals erfüllte sich das Wesen der Erde, das im Bild der geographischen Gestaltungen schon immer seinen Ausdruck gefunden hatte.«109

Neben derartigen allgemein gehaltenen Grundthesen, die das neognostische Christentum Steiners zum allgemeinen Naturprinzip erklären und verdeutlichen, was in der Einleitung des Lehrbuchs unter der These verstanden werden kann, dass eine ›höhere Ordnung‹ der Natur ihr ›Siegel‹ aufprägt, veranschaulichen insbesondere drei Artikel des Lehrbuchs die Bedeutung neognostischer 106 Göpfert, C. (1999b), S. 9. 107 Göpfert, C. (1999b), S. 9. 108 Göpfert, C. (1999b), S. 10, unter Bezugnahme auf Steiner, Rudolf. 1987 (GA 232). Mysteriengestaltungen, Vortrag vom 24.11.1923, Dornach. 109 Fink, H. (1999), S. 100.

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Evolutionslehre und den gesetzten Zusammenhang von Natur und Kultur in seinen rassentheoretisch relevanten Dimensionen.

6.8.2 »Afrika – das Geburtsland der Menschheit« Wolfgang Schad, Professor für Evolutionsbiologie an der Privatuniversität Witten-Herdecke, beginnt, ähnlich wie die Einleitung des Lehrbuchs, seinen Artikel »Afrika – das Geburtsland der Menschheit«110 mit der Einführung Steiners als Wissensinstanz: »Im letzten Jahrhundert vermutete Ernst Haeckel den Herkunftsort der Menschheit in Südostasien. Aber Rudolf Steiner deutete schon 1910 etwas davon an, daß das Kindheitsland der Menschheit Afrika gewesen sei.«111

Für Außenstehende bleibt unklar, in welchem Kontext diese ›Andeutungen‹ Steiners aus dem Jahr 1910 stehen und was sie im Einzelnen besagen. Es wird an dieser Stelle keine Literaturangabe gemacht und keine nähere Erläuterung angefügt. Interessierte LeserInnen werden jedoch in der Literaturliste des Artikels fündig: Schads Verweis auf 1910 bezieht sich auf Steiners Werk »Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanischnordischen Mythologie«,112 also jene, von Steiner selbst zur Veröffentlichung autorisierte Vortragsreihe, die einen entscheidenden Grundbaustein der anthroposophischen Menschenrassenkonstruktionen darstellt, und im Indizierungsverfahren der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien zur Disposition stand. Steiners hierin zu findende Thesen zu vier geographischen Punkten der Erde, die – in Anlehnung an Carus’ Rassentheorie – jeweilige Entwicklungsstadien der Menschheit rassisch markieren und Afrika mit »Kindheitsmerkmalen«, Asien mit »Jugendmerkmalen«, Europa mit den »reifsten Merkmalen« und Amerika mit dem »Absterben« der Menschheit assoziieren113 (vgl. Kap. 5.8), werden demnach bei Schad als evolutionsbiologische Erkenntnis Steiners präsentiert. Dass daran kein Zweifel bestehen kann, belegt Schads präziser Verweis auf eben jenen Vortrag vom 10.06.1910, der mit dem Titel »Rassenentwicklung und Kulturentwicklung« versehen ist und diese Thesen ausführt. Es ist damit nicht zuletzt auf die aktuelle Relevanz dieses Steiner-Bandes verwiesen, der unter den 354 Bänden der Rudolf-Steiner-

110 Schad , W. (1999); vgl. kritisch zu Schad u. a. auch Bierl, P. (1999), S. 174176; Lichte, A. (2006c), S. 33. 111 Schad, W. (1999), S. 14. 112 Steiner, R. (GA 121). 113 Steiner, R. (GA 121), Vortrag vom 10.06.1910, S. 78f.

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Gesamtausgabe neben vier weiteren Bänden (GA 57; GA 101; GA 110; GA 354) als Quellenmaterial des Artikels benannt wird.114 Inhaltlich liefert Schad in seiner Geographielehre Afrikas neue Beispiele einer plakativen Sinnbildlichkeit der Schwarz-Weiß-Symbolik im anthroposophischen Rassendiskurs, die auf einer relationalen Bestimmung der äußeren Natur des Kontinents und eines vermeintlich erkannten Charakters der Afrikaner fußen: »Mit ›Nscharo‹ ist der Geist des Berges selbst benannt. Er wurde [von den Afrikanern] als erschreckend empfunden. So wurde ›Kilimandscharo‹ auch oft als ›Berg des Schreckens‹ übersetzt. Eis und Schnee, die Welt der klaren Kühle erschienen dem Afrikaner unheimlich. Sie zerstörten seine in der urmütterlichen Wärme dieses Landes geborgene und aufgehobene Erlebniswelt. Sie zerbrechen die Hülle des Traumes, sie zerstören die Bande zum Kosmos der Nacht.«115

Auch Steiners Lehre vom Ich ist für den Geographieunterricht und die Erfassung zoologischer Spezifika des afrikanischen Kontinents nach Schad entscheidend: »Elefant und Giraffe, zwei gewaltige Tiere, die dem gleichen Land entsprungen sind wie der Mensch, zeigen uns selbst eine Fülle menschlicher Lebensmotive – und das in doch sehr verschiedener, ja polarer Weise. In ihnen leuchtet etwas naturhaft auf, was wir als die zwei Seiten, ja als die Doppelnatur des menschlichen Ich selbst in uns entdecken können: das sich kräftig mit dem Irdisch-Diesseitigen verbindende und dauernd weiterlernende Ich – und die in einer jenseitigeren Region der Transzendenz wie fertig erscheinende hohe Welt der Ewigkeitsnatur des Ich.«116

Nach dieser Ausführung anthroposophisch-zoologischer Dualismen heißt es anschließend: »Hier in Afrika spricht sich in der Natur sinnlich-sichtbar aus, was sonst nur das menschliche Ich durch die innere Selbsterkenntnis als seine geistige Doppelnatur entdecken kann. In Afrika tritt dem Menschen außen entgegen, was er sonst nur im Inneren finden kann. Oder ist diese Zweiteilung selbst schon wieder zu europäisch?«117

Schads Antwort mündet in eine universalistische Ich-Konzeption, die – durch die vorangegangene Charakterisierung des Afrikaners und die darauf folgende Gegenüberstellung von äußerem Afrika und menschlichem Ich – in der Tat 114 115 116 117

Vgl. Schad, W. (1999), S. 35. Schad, W. (1999), S. 19. Schad, W. (1999), S. 22. Schad, W. (1999), S. 22.

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zumindest die Frage aufwirft, inwiefern das menschliche Ich hier als europäisch vorausgesetzt wird.

6.8.3 »Mensch und Natur in anderen Kulturen und Kontinenten« Andreas Suchantke formuliert in seinem Beitrag »Mensch und Natur in anderen Kulturen und Kontinenten«118 zunächst eine Distanzierung vom ›Kulturchauvinismus‹.119 Im Zuge seines Artikels werden am Beispiel Sri Lankas vermeintlich positive Charakterisierungen der dortigen Bevölkerung in puncto ›Naturverbundenheit‹ vorgenommen: »Ein selbstverständliches, unreflektiert brüderliches Verhältnis herrscht zwischen dem Menschen und den Wesen der Natur.«120 Diese Charakterisierung, die auf die kolonialistischen Bilder eines ›kindlichen‹ Gemüts des ›Anderen‹ deutet, wird schließlich in eine Modernisierung der anthroposophischen Krisenerzählungen eingewoben: »Vielleicht geht das Paradies der tropischen Märcheninsel unter, weil seine Bewohner diesen Umgang unreflektiert, gemüthaft, aus einer passiv gestimmten Lebenshaltung heraus und schließlich vielleicht nur noch aus Gewohnheit und zunehmend sinnentleerter Tradition vollziehen.«121

Die sich anschließende ›Kritik‹ am europäischen Kolonialismus manifestiert diese Zuschreibungspraxis: »Sie [die Bewohner Sri Lankas] haben dadurch dem Ansturm der modernen Ausbeutungsmaschinerie nichts entgegenzusetzen, die ihre Energien aus ganz anderen Quellen bezieht: aus der Verbindung unerhörter, auf die Beherrschung der Materie gerichteter Intelligenz mit der Gier nach ausschließlich materiellem Besitz.«122

Weißsein wird in anthroposophischer Tradition über die ›Krise des Materialismus‹ konstruiert, womit die charakteristische Privilegierung durch eine (noch) fehlgeleitete Intelligenz des Europäers einhergeht. Der Kolonialismus ist hierin letztlich als Resultat höherer Mächte/Energien gedacht, und das derzeitige und künftige Elend macht, wie das folgende Zitat verdeutlicht, auch hier kosmologisch ›Sinn‹: »Vielleicht führt erst das Erlebnis des Irrsinns totaler Zerstörung, das unerbittlich am Ende dieses Prozesses stehen wird, zum Aufwachen, zum Bewußtseinsruck. Davon

118 119 120 121 122

Suchantke, A. (1999). Vgl. Suchantke, A. (1999), S. 36. Suchantke, A. (1999), S. 41. Suchantke, A. (1999), S. 47. Suchantke, A. (1999), S. 47.

350 | SCHWARZ-W EISS-SYMBOLIK ist in der Abenddämmerung, in der das Inselparadies versinkt, noch nichts zu spüren.«123

Der asiatische ›Andere‹ repräsentiert die Vergangenheit, d. h. einen ursprünglichen unbewussten Zustand kosmischer Verbundenheit, der sich angeeignet und zugleich um des Fortschritts willen überwunden werden muss: »Was einstmals vom Menschen gewissermaßen eigenwesenlos empfunden wurde – das Einssein mit der Natur und dem All –, muß jetzt, will es neu erfahren werden, vom einzelnen [sic!] mit aller Gedanken-Willenskraft in sich wachgerufen werden.«124

Das Resümee: »Der alte Zustand, wir sahen es, ist dem Untergang geweiht. Er kann in umgekehrter Form wieder neu auferstehen, aber zu dieser Umkehrung, dieser Metamorphose, gehört eben auch, daß er dem Menschen nicht mehr als Offenbarung aus dem geisterfüllt erlebten Umkreis zukommt, sondern ganz aus der Kraft des eigenen Wesensinneren heraus in Freiheit neu gefunden und verwirklicht werden muß. Und zu dieser Freiheit, der per definitionem jede Zwangsläufigkeit abgeht, gehört eben auch, daß es verpaßt, verschlafen, verspielt werden kann.«125

Der Handlungsspielraum, über den Begriff der Freiheit eingeführt, wird im Anschluss daran ›kulturell‹ begrenzt, denn, so ist zu lesen: »Die Länder des tropischen Asiens sind an dieser Bewußtseinsschwelle sicherlich noch nicht angelangt.«126 Hier tauchen Steiners träumerische und passive ›Asiaten‹ erneut auf – Inszenierungen eines weiblich codierten ›Anderen‹, welche die Imagination vom freien, aktiven, männlich-individualistischen Weißen Selbst unterstreichen und die Entwicklungsfähigkeit des Menschen in seiner Exklusivität versinnbildlichen. Der Artikel wendet gen Ende den Blick nach Südamerika und kontrastiert zunächst die von Suchantke als ›mutig‹ und ›phantasievoll‹ beschriebenen Land-Initiativen und Kooperativen der indigenen Bevölkerung Brasiliens mit der vermeintlichen Passivität der Bevölkerung Sri Lankas.127 Darauf folgt eine Erfolgsgeschichte des biologisch-dynamischen Betriebs der »Estancia Demêtria«,128 der als »ein Modell, verödete Erde neu zu beleben«,129 vorge123 124 125 126 127 128 129

Suchantke, A. (1999), S. 47. Suchantke, A. (1999), S. 49. Suchantke, A. (1999), S. 49. Suchantke, A. (1999), S. 49. Vgl. Suchantke, A. (1999), S. 50. Suchantke, A. (1999), S. 50. Suchantke, A. (1999), S. 49.

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stellt wird.130 Hierin schlägt schließlich der kosmologische Fatalismus erneut zu Buche. Denn die ›ganzheitliche Entwicklungshilfe‹ und das formulierte Ideal einer Gemeinschaft, in der »Menschen aus der ganzen Welt [...] bunt zusammengewürfelt« sind,131 beruhen Suchantkes Darstellung nach auf der enthistorisierenden Logik von zwangsläufigem Untergang und anthroposophisch inspiriertem Neubeginn: »[U]nd heute ist das Gelände ein blühendes Paradies – kein altes, aus der Vergangenheit herüberragendes, dem baldigen Untergang geweihtes, sondern ein neues, junges, zukunftsgewisses.«132 In dem Artikel findet sich nicht eine Quellenangabe zu Rudolf Steiner und doch sind sein Entwicklungsmodell, seine Thesen vom ›Anderen‹ und von der ›zukunftsweisenden Energie‹ der EuropäerInnen, die Erlösung verheißen, ebenso sinnfällig wie die Anlehnung an Steiners Sprachstil. Die Freude am ›Bunten‹ setzt die Impulse einer geistigen ›Weißung‹ implizit voraus. Farbe scheint damit nur vorgeblich keine Rolle zu spielen, ›Rasse‹ ist in ›Bevölkerung‹ und ›Kultur‹ transformiert, Weißsein in die ›Unsichtbarkeit‹ überführt worden und dennoch über die Konstruktion des ›Anderen‹ auffallend präsent.

6.8.4 »Geographische Polaritäten« In Giselher Wulffs Beitrag »Geographische Polaritäten. Zentral- und Ostasien im Vergleich mit Nordamerika«133 scheinen diese Dynamiken ebenso auf. Die ›Unsichtbarkeit‹ von Weißsein ist hier als Leerstelle noch ›sichtbarer‹. Wulff geht es darum, geographische Gebiete, das Wesen des Menschen und die Architektur als plastischen Ausdruck polarer geistiger Kräfte im Sinne Steiners vorzustellen. Hierbei wird Ostasien als ›gen Himmel strebend‹ und Amerika als ›erdverbunden‹, als der »Erdmutter«134 zugewandt, beschrieben, was für letztere im Einzelnen heißt: »Ihre intensive Hinwendung zur Stoffeswelt ermöglichte ihnen [den präkolumbianischen bzw. indianischen Völkern] eine sehr bildhafte Sprache, welche nicht von der ratio, sondern allein aus der Anschauung geprägt wurde.«135

Die nach Wulff »hochstehenden Kulturen«136 Mexikos und Nordamerikas, denen angeblich die ratio zugunsten anderer ›Qualitäten‹ fehlt, werden über

130 131 132 133 134 135 136

Vgl. Suchantke, A. (1999), S. 49-51. Suchantke, A. (1999), S. 50. Suchantke, A. (1999), S. 50. Wulff, G. (1999). Wulff, G. (1999), S. 65. Wulff, G. (1999), S. 65. Wulff, G. (1999), S. 65.

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ihre Architektur, die »nordamerikanischen Mounds«,137 von den Steinerschen »Sterbekräften« eingeholt: »Was veranlaßte die ›Temple-Mound-Builder‹ [...] zu solchen Anstrengungen? Haben sie ihre Gotteshäuser mit einem pyramidenartigen Unterbau aus den Materieund Erosionswirksamkeiten herausheben wollen, um den Sterbekräften zu widerstehen? Des öfteren hat Rudolf Steiner in seinen Vorträgen auf die aus dem Boden Amerikas aufsteigenden Wirksamkeiten hingewiesen.«138

In der Tat hat Steiner die ›Indianer‹, wie dargelegt, verschiedentlich mit dem Tod (und ›Verknöcherung‹) in Zusammenhang gebracht (vgl. Kap. 5.8; 5.9). Wulff verweist an dieser Stelle konkret auf den Band »Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen« (GA 178).139 Hierin finden sich mehrere Aussagen Steiners zu ›Amerika‹, die auch verdeutlichen, was in Wulffs gesamten Artikel fehlt bzw. ›unsichtbar‹ angelegt ist: die bei Steiner formulierte Relationsbestimmung der ›Pole‹ zu Europa, seine Zentralisierung und Charakterisierung einer Weißen Position. An dieser Stelle seien einige, bisher nicht erwähnte Zitate Steiners angeführt, um den von Wulff empfohlenen Inhalt des Bandes und die Leerstellen seines eigenen Artikels zu veranschaulichen. So definiert Steiner im besagten Band, Amerika sei »das Gebiet, wo vor allen Dingen Verwandtschaft entwickelt wird mit der mephistophelisch-ahrimanischen Natur durch die äußeren Verhältnisse. Und durch diese Verwandtschaft wird vieles bewirkt in der fortschreitenden Entwickelung der Erde.«140

Die ›geographischen‹ Faktoren werden folgend als relationale Determinanten benannt: »Europa wird sich zu Amerika nur dann in ein richtiges Verhältnis setzen können, wenn solche Verhältnisse durchschaut werden können, wenn man weiß, welche geographischen Bedingtheiten von dort her kommen. Sonst aber, wenn Europa fortfahren wird, in diesen Dingen blind zu sein, dann wird es mit diesem armen Europa so gehen, wie es mit Griechenland gegenüber Rom gegangen ist. Das darf nicht sein; die Welt darf nicht geographisch amerikanisiert werden.«141

137 Wulff, G. (1999), S. 65 138 Wulff, G. (1999), S. 67. Zit. im Zit.: Ceram, C. W. 1972. Der erste Amerikaner. Reinbek [ohne Seitenangabe]. 139 Steiner, R. (GA 178). 140 Steiner, R. (GA 178), Vortrag vom 16.11.1917, S. 70. 141 Steiner, R. (GA 178), Vortrag vom 16.11.1917, S. 70.

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Der Warnung vor einer ›geographischen‹ Amerikanisierung geht in Steiners Historie der ›Ausschluss‹ des ›Anderen‹ als entwicklungsbedingte Notwendigkeit des ›Eigenen‹ voraus: »Europa mußte eine Zeitlang geschützt werden vor allen diesen [amerikanischen] Einflüssen, und es hätte nicht geschützt werden können, wenn man nicht in den Jahrhunderten vor dem 15. Jahrhundert die europäische Welt zugesperrt hätte, ganz abgeschlossen hätte von der amerikanischen.« 142

Und zur Begründung wird angegeben: »Nun, man mußte sich eben bemühen, eine Zeitlang in den vorbereitenden Jahrhunderten etwas in die europäische Menschheit hereinzutragen, das der feineren Sensitivität Rechnung trug. Ich möchte sagen: der Verstand, der vorzugsweise Platz greifen sollte in dieser fünften nachatlantischen Zeit, der mußte in seinem ersten Auftreten ganz besonders geschont werden. Dasjenige, was ihm geoffenbart werden sollte, das mußte ganz besonders fein an ihn herangebracht werden. Manchmal war diese Feinheit natürlich auch eine solche wie die Feinheit der Erziehung, wo man natürlich auch tüchtige Bestrafungsmittel anwendet. Aber das alles, was ich meine, bezieht sich ja auf größere historische Impulse.«143

In Wulffs Artikel, der diese Lektüre Steiners empfiehlt, ohne die Inhalte näher zu erläutern, ist Europa als stillschweigende Norm präsent. Weißsein ist der Blick von oben, die Mitte zwischen den Polen, die Position der ›Neutralität‹, deren Farbinszenierung in die geographischen Tiefenschichten verbannt wurde und als Nicht-Benennung ebenso tradiert wie unsichtbar geworden ist. Die aktuelle ›geisteswissenschaftliche‹ Geographie ersetzt den Rassediskurs, ohne die rassentheoretischen Konstruktionslogiken zu verlassen.

6.9 Schlussfolgerung Es erscheint kulturhistorisch betrachtet weniger erstaunlich, dass es Rassenlehre und Rassismus im Werk Rudolf Steiners gibt, als die mehr oder minder durchgängige Verweigerung von anthroposophischer Seite, dies heute als solches zu benennen und kritisch zu reflektieren. Das wird nicht für alle VertreterInnen der Anthroposophie und Waldorfpädagogik gelten – und das will ich hiermit nochmals deutlich herausstellen – aber leider eben doch für die bisherigen offiziellen Stellungnahmen.144 Dass diese gesellschaftspolitisch bedenk142 Steiner, R. (GA 178), Vortrag vom 16.11.1917, S. 67. 143 Steiner, R. (GA 178), Vortrag vom 16.11.1917, S. 67. 144 Um so bemerkenswerter ist die kürzlich formulierte Kritik eines Waldorfschülers an den Abwehrstrategien seitens des Bundes der Freien Waldorfschulen.

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liche Immunisierung gegenüber der Rassismuskritik an Steiner (bzw. die Relativierung der Steinerschen Rassismen bis hin zu ihrer Umdeutung zum Humanismus) schließlich auch eine pädagogische Praxisrelevanz besitzt und einer unreflektierten Tradierung von Steiners Rassentheorie/n in der auf ihm fußenden Waldorfpädagogik den Weg ebnet, zeigt allein das verhandelte Lehrbuch zur Geographie exemplarisch. Hierin bewegt sich die Bezugnahme der Autoren auf Steiner zwischen einer Betonung seiner Bedeutung und der ›Verschleierung‹ seiner eigentlichen Thesen, zwischen der Übersetzung des Rassemythos in kulturalistische Repräsentationen und einer Modernisierung und Kulturalisierung des ›rassisch‹ strukturierten Evolutions- und Geschichtsmodells. Es ist einer der vielen Widersprüche, dass der bildungspolitische Sprecher der Waldorfschulen Berlin-Brandenburg, Detlef Hardorp, das Werk des Steiner-Schülers Ernst Uehli im Jahr 2000 als »mieses Werk«145 bezeichnete, die Inhalte der besagten Steiner-Werke jedoch bis heute unter anderen Vorzeichen vertreten werden. Eine solche Haltung macht nur dann ›Sinn‹, wenn Steiner nicht als historische Gestalt, sondern als überzeitliche hellseherische Wissensinstanz gesehen und inszeniert wird. Eine solche Perspektive geht mit Denkverboten einher, die ihrem Grundansatz nach zu hinterfragen und gesellschaftlich zu problematisieren ist. Steiner war – verglichen mit selbst erklärten »politischen« Antisemiten und Rassisten seiner Zeit – kein antisemitischer und rassistischer ›Scharfmacher‹,146 seine problematischen Thesen zum Judentum und zu ›Menschenrassen‹ werden aber nicht durch den historischen Zeitgeist relativiert, sondern lediglich ansatzweise erklärbar. Eine historische Auseinandersetzung mit Steiners Rassentheorie/n verdeutlicht dabei einerseits die Spezifik spiritualistisch-biologistischer Rassismen, zeigt andererseits aber auch, dass eine absolute Trennung zwischen Rationalität und Irrationalität, zwischen Wissenschaft und Religion, die historische Genese des ›naturwissenschaftlichen‹ Rassenkonzepts verkennt. Denn der naturwissenschaftliche Mythos ›Rasse‹ lässt sich In dem entsprechenden Artikel mit dem Titel »Rudolf Steiners Rassenlehre. Wie der ›Bund der Freien Waldorfschulen‹ Steiners Rassismus vertuscht«, heißt es: »Statt Aufarbeitung und sachlicher Distanzierung von Steiners rassistischem Unfug geht es den Autoren [Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002)] und dem Herausgeber ›Bund der Freien Waldorfschulen‹ nur um Abwehr und Apologie, sowie darum, Kritikern eine ›unhistorische und selektive‹ Arbeitsweise zu unterstellen [...]. Das kann höchstens dazu führen, Waldorfvertreter auf eine – sachlich falsche – ideologische Linie einzuschwören. Und natürlich dazu, dass die Debatte um Steiners Rassismen und die Waldorfschulen weiterhin explosiv bleibt.« Martins, A. (2010); vgl. kritisch zu Bader, H.-J./Ravagli, L. (2002) auch Sonnenberg, R. (2009c). 145 Vgl. Waldorfbuch vor Indizierung. Von Christian Füller. In: die tageszeitung (taz), 15.07.2000. 146 Vgl. Zander, H. (2001), S. 325.

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(wie in Kap. 3 dargestellt) kulturhistorisch selbst als – diskursive – Säkularisierung symbolischer Ordnungssysteme und dualistischer Denktraditionen begreifen. Scheinen die Tradierungen dieses Mythos in Teilen der aktuellen Humanbiologie von jeglicher Spekulation und Philosophie gereinigt, so ist – analog zu den historischen Diskursen – in der Neuerzählung der anthroposophischen Rassenlehre der abstrakte, idealistische Charakter der Systematiken als ›höhere‹ Ordnung deutlich erkenntlich, der Verweis auf Carus’ Naturphilosophie und seine angegliederte ›Wissenschaft der Symbolik‹ symptomatisch. Der anthroposophische Rückbezug auf biologische Rassensystematiken als vermeintlichem Fels in der Brandung lässt sich nicht nur als Versuch der Plausibilisierung angesichts des Verlusts von Evidenzen und einer Angst vor öffentlichem Imageschaden begreifen.147 Vielmehr dienen die biologischen Rassensystematiken umgekehrt – wie der Struktur nach bei Carus – als vermeintlicher Garant und ›materieller Beweis‹ für die Richtigkeit des symbolischen Ordnungssystems, das als ewige, der Natur vorgeschaltete Ordnung den Grundpfeiler anthroposophischer Weltanschauung bildet. In dieser Hinsicht ist die Natur und ihre Differenzierung Garant des systemischen Überbaus. Dabei lässt sich letztlich sowohl der Rassebegriff durch den Kulturbegriff ersetzen als auch die numerologische Systematik variieren (zwei-, drei-, vieroder fünfgliedrige Rassenmodelle, der siebengliedrige Rhythmus des Evolutionsmodells etc.) – entscheidend ist der Rückbezug auf jeweilige angenommene kosmische Prinzipien. Nicht zuletzt diese Umkehrschlüsse erklären möglicherweise die heftigen Abwehrreaktionen gegenüber der Kritik an Steiners Rassenmodellen – die Abwehr ist ›Systemschutz‹ einer geistigen, ›ganzheitlichen‹ Ordnung und der Reinheit ihrer Kategorien, welche ›Natur‹ und ›Kultur‹ zu bestätigen scheinen. Vor dem Hintergrund schließlich, dass das anthroposophische Evolutionsmodell in sich – deutlich in der hierarchischen Abfolge von ›Kulturepochen‹ – eurozentrisch und völkisch angelegt ist, die ›germanisch-nordischen Völker‹ die Entwicklung anführen, beinhaltet eine konsequente Hinterfragung dieser Struktur in der Tat die Infragestellung der gesamten Systematik. Hierin liegt das grundlegende strukturelle Dilemma Anthroposophie-interner Rassismus-, Eurozentrismus- und Nationalismus-Kritik, das sich letztlich nur durch erhebliche Umschreibungen der Steinerschen ›Geistesschau‹ kosmologisch-geschichtlicher Abfolgen enthierarchisieren ließe. Das hieße aber, sich von dem Evolutionsmodell Steiners verabschieden zu müssen, in dem die 147 Diese Aspekte scheinen in Detlef Hardorps Argumentationen auf, wenn er resümiert: »Es reicht nicht mehr aus, auf gute Bücher [gemeint ist vermutlich Bader/Ravagli] zu verweisen und dazu zu bemerken, Steiner wäre definitiv kein Rassist gewesen. Das stimmt zwar, ist aber unwirksam. So greift man den Stier der öffentlichen Meinung nicht bei den Hörnern und könnte sogar von diesem mittelfristig umgerannt werden.« Hardorp, D. (2006).

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messianische Inszenierung von Weißsein als geistig-männlichem Lichtprinzip prinzipiell angelegt und mit dem Gedanken neognostischer Transzendenz verwoben ist. Inhaltlich gehen das Festhalten an diesem Modell und die Behauptung seiner egalitären Struktur mit der Fortschreibung eines Mythos der ›Ganzheitlichkeit‹ einher, dem diese Zentralisierung und Privilegierung von Weißsein und eine konstitutiv dualistische, asymmetrische Struktur inhärent ist. Farblich scheint dabei die Kategorie Weißsein irrelevant geworden zu sein, als spirituelles Erlösungsprinzip sich jedoch hartnäckig in Form des vermeintlich farblosen ›Europäertums‹ zu halten. Die Diskussionen um Rassismus in Anthroposophie und Waldorfpädagogik berühren immer auch allgemeine Fragen und Definitionsansätze des Rassismus. Die in den vorgestellten anthroposophischen Argumentationen vorzufindende Reduzierung des Rassismusbegriffs – einerseits auf die Wertung biologischer Unterschiede, andererseits auf ein intentiöses Verhalten – übergeht nicht zuletzt die kulturelle Wirkmächtigkeit rassistischer Denkmuster wie auch die Diversität von (Alltags-)Rassismen. Fasst man Rassismus nicht nur als eine ›Idee‹, die schnell ad acta gelegt werden kann, sondern als nach wie vor sozio-strukturelles Phänomen, so müsste die Rassismuskritik ihren Ausgangspunkt in einer dekonstruktivistischen Perspektive nehmen, welche die kulturell und individuell verinnerlichte schwarz-weiß-symbolische Struktur von Weißsein hinterfragt. Da ›Ahriman‹ als finsterer Geist des Materialismus indes bis heute sein Unwesen treibt, ist eine derartige dekonstruktivistische Perspektive im Rahmen der Anthroposophischen Gesellschaft allerdings vermutlich eher unwahrscheinlich. So teilt Sergej Prokofieff vom Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach/Schweiz – und dies ist das höchste internationale Gremium der Anthroposophie – am 16.11.2007 in den »Nachrichten für Mitglieder« seinen Mitgliedern mit, es sei kein anderer als Ahriman gewesen, der dem Historiker Helmut Zander sein historisch-kritisches Werk zur Anthroposophie diktiert habe.148 Allein die Antwort auf die Frage, ob, wann und wie eine kritische Historisierung Steiners von offizieller anthroposophischer Seite möglich sei, muss vor diesem Hintergrund wohl derzeit offen bleiben.

148 »[Zitat Steiner:] ›Und diejenigen, die heute noch jünger sind, werden manches sehen von dem, wie Ahriman als Schriftsteller auftritt. […] Menschenhände werden die Werke schreiben, aber Ahriman wird der Schriftsteller sein.‹ Damit spricht Rudolf Steiner von der Zeit, in welcher Zander begonnen hat, sein Buch über die Anthroposophie und Rudolf Steiner zu schreiben.« Prokofieff, Sergej. Blick auf die Gegnerschaft. In: Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft, Nachrichten für Mitglieder, 16.11.07. Zit. in: Nachrichten aus der Welt der Anthroposophie (2007).

7 Sc hlus sfolge rung

Abendländische Traditionskontexte der Schwarz-Weiß-Symbolik stellen ein wirkmächtiges farb- und geschlechtssymbolisches Repräsentationssystem bereit, das im Zuge der Säkularisierung weltliche, naturalisierte Formen annimmt. Ein symbolischer, substantieller Sinnzusammenhang von Licht, Geist und Männlichkeit bildet den geistesgeschichtlichen Hintergrund für Farbgebungsprozesse des rassentheoretischen Weißwerdens und die Vermännlichung des weißen ›Rasse‹- und ›Vernunftsubjekts‹, die farbliche Identifizierung lässt sich als säkulare Ermächtigungsstrategie begreifen. Wenn Weißsein seine heutige diskursive Macht gerade der Unmarkiertheit verdankt, so wird über die Einbeziehung schwarz-weiß-symbolischer Traditionen des Abendlandes in die Analyse historischer Rassenkonstruktionen der historische Entstehungshintergrund des in der Kritischen Weißseinsforschung aufgezeigten Paradigmas von Weißsein als »Unsichtbarkeit einer herrschenden Normalität«1 in seinen Dimensionen der ›Macht des Unsichtbaren‹ farblich entzifferbar und dekonstruierbar: Die religiösen Traditionen christlicher und gnostischer Vorstellungen vom symbolisch weißen ›Geist/Lichtleib‹ erweisen sich dabei, wie gezeigt wurde, in ihren wechselseitigen Aspekten einer Verkörperung des Transzendenten und einer ›transzendierten‹ Materie für die Konstruktionen weißer Haut als visuellem Zeichen geistiger Schöpfungspotenz gleichermaßen bedeutsam. Kants weiße Stammgattung verweist hierbei lediglich in beispielhafter Weise auf zusammenhängende Prozesse der Rassisierung einer geistig strukturierten Materie, eines zur ›weißen Natur‹ gewordenen geistigen Ausgangsprinzips und einer rassenspezifischen Naturalisierung des Lichts der (göttlichen) Vernunft, das sich in der weißen Farbe als machtvollem Symbol des göttlichen Lichts/des Geistes niederschlägt. Das rassentheoretische Weißwerden des Vernunftsubjekts findet dabei, wie gezeigt wurde, der farblichen Konstruktionslogik nach seine Vorläufer im demiurgischen Humanismus: Dem ›studiosus homo‹ als ›naturalis lux‹ folgt das ›lumen naturale‹ des Cartesianischen Subjekts. Diese virulent

1

Wachendorfer, U. (2001), S. 87.

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werdende »Lichthaftigkeit des menschlichen Geistes«2 bereitet das visuelle Weißwerden des Vernunftsubjekts farbsymbolisch ebenso vor wie die in der Renaissance einsetzenden visuellen abstrakten ›Reinigungsprozesse‹ der Materie. Dass der farb- und geschlechtssymbolisch codierte Geist-Materie-Dualismus einen Zusammenhang von Farbgebung und Vergeschlechtlichung der ›Rassen‹ strukturiert, wurde in dieser Arbeit in unterschiedlicher Weise exemplifiziert. Die Fokussierung der Einschreibung religiöser Wissenstraditionen in säkulare Naturkonzepte hat dabei auch gezeigt, dass das rassentheoretische Schwarzwerden in substantiellem Zusammenhang mit christlichen Traditionen von Sünde, Sexualität und Krankheit zu lesen ist, religiöse Vorstellungen einer finsteren, unreinen, weiblichen Materie die Verweiblichung und Schwärzung des ›Anderen‹ prägen. Die Konstruktion einer farblichen/bunten/ schwarzen Abweichung vom ›Weiß‹ tritt dabei als Mangel am Licht der Vernunft in Erscheinung, ein Mangel, der in umgekehrter Lesart zugleich als ›falsches‹, weiblich codiertes Wissen, als Aberglaube und Irrationalität die Verdunklung und Verweiblichung des ›Anderen‹ impliziert. Die Analyse der Carus’schen Rassentheorie ist insofern als besonders ergiebig zu bewerten, als dass über die idealistisch-empiristischen Konstruktionen des ›Körpers als Symbol‹ die schwarz-weiß-symbolischen Strukturelemente vorangegangener Rassenkonstruktionen auf beispielhafte Weise lesbar werden. Die Einschreibung der Schwarz-Weiß-Symbolik in empiristische Körperkonstruktionen wird hier auf plakative Weise sichtbar. Zugleich sind Aspekte der Säkularisierung einer ›göttlichen Finsternis‹ herauszustellen: Eine Position hegemonialer Weißer Männlichkeit konstituiert sich demnach nicht nur über Abgrenzung und Unterwerfung, sondern auch über Aneignung und Erhöhung weiblicher Repräsentationen (des Geheimnisvollen, der Natur als eines unbewussten Göttlichen). Die Fokussierung schwarz-weiß-symbolischer Strukturen in Rudolf Steiners okkultistischer Rassenlehre verdeutlicht einen Zusammenhang von Rassisierung und Vergeschlechtlichung neognostischer anthroposophischer Krisen- und Erlösungserzählungen. Zugleich zeigt sich, dass die anthroposophischen Konstruktionen als Respiritualisierung schwarz-weiß-symbolischer Elemente ›wissenschaftlicher‹ Rassentheorien zu begreifen sind. Diese treten beispielhaft als spiritualistische Reinszenierung eines ›embodiment of the spirit‹,3 als rassenspezifische Verkörperung des Christusgeistes in Erscheinung. Das ›Leiden am Logos‹ wird hier zum Privileg einer hegemonialen Weißen Männlichkeit, die als Krisenüberwinder inszeniert ist; das materialistische und das spirituelle Wissen, der abstrakte und der lebendige Geist konstituieren 2 3

Blumenberg, H. (2001), S. 167. Vgl. Dyer, R. (2006), S. 24f.

SCHLUSSFOLGERUNG | 359

Weißsein im Spannungsfeld von Krise und Erlösung. Die geschlechtsspezifisch konstruierten Rassismen strukturieren sich in ihrer Ambivalenz entlang neognostischer Weltfeindlichkeit und einer Sehnsucht nach ›Ganzheitlichkeit‹. Steiners spiritualistische Rassisierung des geistig-männlichen Schöpfungsprinzips, die rassisierte Version ›geistiger Befruchtung‹, die rassentheoretisch weiße Verkörperung erlösender Transzendenz und die Erlösungsvision einer Transzendierung der Materie – über diese neognostische Spezifik wird der fiktive Charakter der rassentheoretischen Konstruktion von Weißsein als solcher lesbar. Die historischen Imaginationen von ›Rasse‹ sind insgesamt Ausdruck kultureller Prozesse einer »›Verwirklichung‹ oder Materialisierung des Imaginären«.4 In diesem kulturtheoretischen Sinne veranschaulichen die Forschungsergebnisse zur Verweltlichung, Naturalisierung und Rassisierung abendländischer Schwarz-Weiß-Symbolik auch die kulturelle, realitätsmächtige Wirkungsmacht des Imaginären, des Symbolischen als solche. Im Kontext des rassentheoretischen Denkens wiederum ist die farbsymbolische Ermächtigung, die der Konstruktion von Weißsein zugrunde liegt, Ausdruck diskursiver Gewaltförmigkeit einer materialisierten Symbolik, die als Bestandteil der (Realitäts-)Macht des Diskursiven zu begreifen ist. Zusammengefasst lässt sich ›Schwarz-Weiß‹ verstehen als: ein Denkschema, eine Logik, eine Ordnungs- und Konstitutionsstruktur, als ein religiöses, mythologisches und ›naturgesetzliches‹ Symbolsystem, als sozio-politischer Strukturfaktor und als Farbsymbolik der Schrift. Alle Ebenen erweisen sich im Kontext des Rassismus als bedeutsam. Für historische und gegenwartsbezogene Re- und Dekonstruktion von Weißsein bietet die analytische Fokussierung des symbolischen Zusammenhangs von Licht/Geist/Wissen/ Macht, die Frage nach (farb-)symbolischen Bedeutungen religiöser Leibkonzepte, nach Strukturen von Transzendenz und Erlösung und die Frage nach jeweiligen Vergeschlechtlichungen weitere Analyseperspektiven.

4

Braun, C. v. (2001), S. 551.

Litera tur- und Que lle nve rze ic hnis

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Steiner, Rudolf. [GA 73a]. Fachwissenschaften und Anthroposophie. Acht Vorträge, elf Fragenbeantwortungen und ein Schlußwort, Dornach und Stuttgart 24. März 1920 bis 2. September 1921. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2005. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 77a]. Die Aufgabe der Anthroposophie gegenüber Wissenschaft und Leben. Vorträge und Ansprachen, Darmstädter Hochschulkurs. Vorträge und Ansprachen, Darmstadt, 27. bis 30. Juli 1921, darunter Fragenbeantwortungen sowie ergänzende Bemerkungen zu Vorträgen anderer Redner. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1997. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 82]. Damit der Mensch ganz Mensch werde. Die Bedeutung der Anthroposophie im Geistesleben der Gegenwart. Sechs Vorträge, gehalten beim anthroposophischen Hochschulkurs in Den Haag, 7. bis 12. April 1922, mit einem schriftlichen Bericht Rudolf Steiners über den Hochschulkurs. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1994. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 93a]. Grundelemente der Esoterik. Notizen von einem esoterischen Lehrgang in Form von einunddreißig Vorträgen, gehalten in Berlin vom 26. September bis 5. November 1905. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1987. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 94]. Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums. Eine Zusammenfassung von achtzehn Vorträgen, gehalten in Paris zwischen dem 25. Mai und 14. Juni 1906, und Notizen aus fünfundzwanzig Vorträgen, gehalten in Berlin, Leipzig und München zwischen dem 19. Februar und 6. November 1906. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2001. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 99]. Die Theosophie des Rosenkreuzers. Vierzehn Vorträge, gehalten in München vom 22. Mai bis 6. Juni 1907. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1985. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 100]. Menschheitsentwicklung und Christus-Erkenntnis. Theosophie und Rosenkreuzertum. Vierzehn Vorträge, gehalten in Kassel vom 16. bis 29. Juni 1907. Mit Fragenbeantwortungen. Das JohannesEvangelium. Acht Vorträge, gehalten in Basel vom 16. bis 25. November 1907. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2006. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 101]. Mythen und Sagen. Okkulte Zeichen und Symbole. Sechzehn Vorträge, gehalten in Berlin, Stuttgart und Köln zwischen dem 13. September und 29. Dezember 1907. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1992. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009.

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Steiner, Rudolf. [GA 103]. Das Johannes-Evangelium. Ein Zyklus von zwölf Vorträgen, gehalten in Hamburg vom 18. Mai bis 31. Mai 1908. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1995. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 104]. Die Apokalypse des Johannes. Ein Zyklus von zwölf Vorträgen mit einem einleitenden öffentlichen Vortrag, gehalten in Nürnberg vom 17. bis 30. Juni 1908. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2006. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 105]. Welt, Erde und Mensch, deren Wesen und Entwickelung, sowie ihre Spiegelung in dem Zusammenhang zwischen ägyptischem Mythos und gegenwärtiger Kultur. Ein Zyklus von elf Vorträgen, gehalten in Stuttgart vom 4. bis 16. August 1908. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1983. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 107]. Geisteswissenschaftliche Menschenkunde. Neunzehn Vorträge, gehalten in Berlin vom 19. Oktober 1908 bis 17. Juni 1909. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1988. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 113]. Der Orient im Lichte des Okzidents. Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi. Ein Zyklus von neun Vorträgen, gehalten in München vom 23. bis 31. August 1909 mit einer Betrachtung zur Goethe-Feier am 28. August 1909. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1982. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 118]. Das Ereignis der Christus-Erscheinung in der ätherischen Welt. Sechzehn Vorträge, gehalten zwischen dem 25. Januar und 15. Mai 1910 in verschiedenen Städten. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1984. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 120]. Die Offenbarungen des Karma. Ein Zyklus von elf Vorträgen, gehalten in Hamburg zwischen dem 16. und 28. Mai 1910. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1992. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009 Steiner, Rudolf. [GA 121]. Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der germanisch-nordischen Mythologie. Ein Zyklus von elf Vorträgen, gehalten in Kristiana (Oslo) vom 7. bis 17. Juni 1910. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1982. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 127]. Die Mission der neuen Geistesoffenbarung. Das Christus-Ereignis als Mittelpunktsgeschehen der Erdenevolution. Sechzehn Vorträge, gehalten zwischen dem 5. Januar und 26. Dezember 1911 an verschiedenen Orten. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1989. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 130]. Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit. Dreiundzwanzig Vorträge, gehalten in den Jahren

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1911 und 1912 in verschiedenen Städten. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1995. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 131]. Von Jesus zu Christus. Ein Zyklus von zehn Vorträgen mit einem vorangehenden öffentlichen Vortrag gehalten in Karlsruhe vom 4. bis 14. Oktober 1911. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1988. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 133]. Der irdische und der kosmische Mensch. Ein Zyklus von neun Vorträgen, gehalten in Berlin am 23. Oktober 1911 und zwischen dem 19. März und 20. Juni 1912. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1989. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 143]. Erfahrungen des Übersinnlichen. Die drei Wege der Seele zu Christus. Vierzehn Vorträge, gehalten zwischen Januar und Dezember 1912 in verschiedenen Städten. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1994. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 147]. Die Geheimnisse der Schwelle. Ein Vortragszyklus, gehalten in München vom 24. bis 31. August 1913 im Anschluß an die Aufführungen der Mysteriendramen: »Der Hüter der Schwelle« und »Der Seelen Erwachen«. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1997. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 152]. Vorstufen zum Mysterium von Golgotha. Zehn Vorträge, gehalten 1913 bis 1914 in verschiedenen Städten. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1990. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 169]. Weltwesen und Ichheit. Sieben Vorträge, gehalten in Berlin 06. Juni bis 18. Juli 1916. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2005. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 174b]. Die geistigen Hintergründe des ersten Weltkrieges. Kosmische und menschliche Geschichte. Siebenter Band. Sechzehn Vorträge, gehalten in Stuttgart zwischen dem 30. September 1914 und dem 26. April 1918 und am 21. März 1921. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1994. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 178]. Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen. Neun Vorträge, gehalten in St. Gallen, Zürich und Dornach vom 6. Bis 25. November 1917. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1992. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 182]. Der Tod als Lebenswandlung. Sieben Vorträge, gehalten in verschiedenen Städten zwischen dem 29. November 1917 und 16. Oktober 1918. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1996. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 191]. Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis. Fünfzehn Vorträge, gehalten in Dornach zwischen dem 3. Ok-

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tober und 15. November 1919. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1989. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 194]. Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens. Zwölf Vorträge, gehalten in Dornach vom 21. November bis 15. Dezember 1919. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1994. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 197]. Gegensätze in der Menschheitsentwickelung. West und Ost. Materialismus und Mystik. Wissen und Glauben. Elf Vorträge, gehalten in Stuttgart zwischen dem 5. März und 22. November 1920. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1996. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 198]. Heilfaktoren für den sozialen Organismus. Siebzehn Vorträge, gehalten in Dornach und Bern zwischen dem 20. März und dem 18. Juli 1920. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1984. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 202]. Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen. Die Suche nach der neuen Isis, der göttlichen Sophia. Sechzehn Vorträge gehalten in Dornach, Bern und Basel vom 26. November bis 26. Dezember 1920. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1993. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 203]. Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwickelung durch seinen geistigen Zusammenhang mit dem Erdplaneten und der Sternenwelt. Achtzehn Vorträge, gehalten in Stuttgart, Dornach und Den Haag zwischen dem 1. Januar und 1. April 1921. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1989. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 207]]. Anthroposophie als Kosmosophie. Erster Teil. Wesenszüge des Menschen im irdischen und kosmischen Bereich. Elf Vorträge, gehalten in Dornach vom 23. September bis 16. Oktober 1921. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1990. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 211]]. Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung. Exoterisches und esoterisches Christentum. Zwölf Vorträge, gehalten 1922 in verschiedenen Städten. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2006. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 260a]]. Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum 1924-1925. Aufsätze und Mitteilungen, Vorträge und Ansprachen, Dokumente Januar 1924 bis März 1925. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1987. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009.

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Steiner, Rudolf. [GA 272]]. Faust, der strebende Mensch. Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes ›Faust‹, Band I. Vierzehn Vorträge, gehalten in Berlin am 17. Dezember 1911 und Dornach vom 4. April 1915 bis 11. Sebtember 1916, mit einem öffentlichen Vortrag in Straßburg am 23. Januar 1910. Vorwort von Marie Steiner, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1981. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 276]. Das Künstlerische in seiner Weltmission. Der Genius der Sprache. Die Welt des sich offenbarenden strahlenden Scheines. Anthroposophie und Kunst. Anthroposophie und Dichtung. Sechs Vorträge, gehalten in Dornach vom 27. Mai bis 9. Juni 1923. Zwei Vorträge, gehalten in Kristiania (Oslo) am 18. und 20. Mai 1923. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2002. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 291]. Das Wesen der Farben. Drei Vorträge, gehalten in Dornach am 6., 7. und 8. Mai 1921 sowie neun Vorträge als Ergänzungen aus dem Vortragswerk der Jahre 1914 bis 1924. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1991. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 291a]. Farbenerkenntnis. Ergänzungen zu dem Band ›Das Wesen der Farben‹. Schriftliche und mündliche Darstellungen von Rudolf Steiner und Anderen. Abbildungen, Handschriftenwiedergaben und Dokumente 1889-1925. Hrsg. und kommentiert v. Hella Wiesberger und Heinrich O. Proskauer. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1990. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 293]. Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. Vierzehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 21. August bis 5. September 1919 und eine Ansprache vom 20. August 1919. Schulungskurs für Lehrer anläßlich der Begründung der Freien Waldorfschule in Stuttgart. Teil I Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1992. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 302a]. Erziehung und Unterricht aus Menschenkenntnis. Neun Vorträge, gehalten für die Lehrer der Freien Waldorfschule in Stuttgart. Meditativ erarbeitete Menschenkunde. Vier Vorträge vom 15. Bis 22. September 1920. Erziehungsfragen im Reifealter. Zur künstlerischen Gestaltung des Unterrichts. Zwei Vorträge am 21. und 22. Juni 1922. Anregungen zur innerlichen Durchdringung des Lehr- und Erzieherberufes. Drei Vorträge am 15. und 16. Oktober 1923. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1993. Digitale Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 2009. Steiner, Rudolf. [GA 333]. Gedankenfreiheit und soziale Kräfte. Die sozialen Forderungen der Gegenwart und ihre praktische Verwirklichung. Sechs öffentliche Vorträge mit einem Schlußwort, gehalten zwischen dem 26. Mai und 30. Dezember 1919 in Ulm, Berlin und Stuttgart. Rudolf Steiner

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GenderCodes – Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht Christina von Braun, Dorothea Dornhof, Eva Johach (Hg.) Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften Studien zum Verhältnis von Wissen und Geschlecht 2009, 448 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1145-8

Gabriele Dietze Weiße Frauen in Bewegung Genealogien und Konkurrenzen von Race- und Genderpolitiken (2., unveränderte Auflage 2010) Dezember 2010, ca. 450 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-89942-517-8

Gabriele Dietze, Claudia Brunner, Edith Wenzel (Hg.) Kritik des Okzidentalismus Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht (2., unveränderte Auflage 2010) 2009, 318 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1124-3

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GenderCodes – Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht Maja Figge, Konstanze Hanitzsch, Nadine Teuber (Hg.) Scham und Schuld Geschlechter(sub)texte der Shoah Oktober 2010, 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1245-5

Elke Frietsch, Christina Herkommer (Hg.) Nationalsozialismus und Geschlecht Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, »Rasse« und Sexualität im »Dritten Reich« und nach 1945 2009, 456 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-89942-854-4

Sabine Grenz, Martin Lücke (Hg.) Verhandlungen im Zwielicht Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart 2006, 350 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-549-9

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GenderCodes – Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht Ulrike Auga, Claudia Bruns, Dorothea Dornhof, Gabriele Jähnert (Hg.) Dämonen, Vamps und Hysterikerinnen Geschlechter- und Rassenfigurationen in Wissen, Medien und Alltag um 1900 März 2011, ca. 270 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1572-2

Bettina Bock von Wülfingen, Ute Frietsch (Hg.) Epistemologie und Differenz Zur Reproduktion des Wissens in den Wissenschaften Oktober 2010, 226 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1013-0

Ulrike Brunotte, Rainer Herrn (Hg.) Männlichkeiten und Moderne Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900 2007, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-707-3

Ute Frietsch, Konstanze Hanitzsch, Jennifer John, Beatrice Michaelis (Hg.) Geschlecht als Tabu Orte, Dynamiken und Funktionen der De/Thematisierung von Geschlecht

Sven Glawion, Elahe Haschemi Yekani, Jana Husmann-Kastein (Hg.) Erlöser Figurationen männlicher Hegemonie 2007, 218 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-733-2

Ulrike Klöppel XX0XY ungelöst Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität Februar 2010, 698 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1343-8

Sophia Könemann, Anne Stähr (Hg.) Das Geschlecht der Anderen Eine Wissensgeschichte der Alterität: Kriminologie, Psychiatrie, Ethnologie und Zoologie März 2011, ca. 278 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1592-0

Katarzyna Leszczynska Hexen und Germanen Das Interesse des Nationalsozialismus an der Geschichte der Hexenverfolgung 2009, 396 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1169-4

2007, 270 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-713-4

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