Schulerziehung nach dem Großen Kriege [Reprint 2021 ed.] 9783112461587, 9783112461570


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German Pages 144 [151] Year 1919

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Schulerziehung nach dem Großen Kriege [Reprint 2021 ed.]
 9783112461587, 9783112461570

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(Etnführunö

Die Sammlung ist bestrebt, die großen und brennenden Fragen des Unterrichts und der Erziehung wie fie zweifellos Deutschlands gegenwärtiges Geschlecht in hohem Maße beschäftigen, in einzelnen Monographien zu behandeln. Vieles ist auf dem Gebiete der Schule alt und morsch geworden und wird voraussichtlich den Krieg nicht lange überdauern, aber auch das Neue will mit Vorbehalt geprüft und erwogen und manche Frage in ihrem Für und Wider gründlich durchdacht werden. Das künftige Schicksal unseres großen Volkes erfordert Führer auf allen Ge­ bieten, und es ist durchaus nicht gleichgilüg, wie sein Schul- und Erziehungswesen bestimmt und gelenkt wird. Vor allem hat das neue Geschlecht, dem wir den unglück­ seligsten und schreckhaftesten aller Kriege mit seinen schweren Folgen überliefern, ein Anrecht, von uns ernste Beweise und aufrichtigstes Bestreben einer Wiederherstellung vernichteter Werte und Güter zu fordern. Tausend Lücken klaffen, es fehlen Väter und Arbeitskräfte. Alle Gebiete des öffentlichen Lebens in der Landwirtschaft und Industrie, des Handels und Gewerbes verlangen gut geschulte Kräfte. Deutschlands geistiges Leben sehnt sich nach Vertiefung und Verinnerlichung, und die nackte Existenz­ frage erfordert eine materielle Basis. Daher ist ein Doppeltes anzustreben, auf den inneren wie den intellektuellen Menschen, auf Charakterbildung wie Aneignung von ftuchtbringenden Kenntniffen hinzuarbeiten. Diese Ziele mit anzustreben, soll Aufgabe unserer Sammlung sein. Sier sollen Männer wie Frauen verschiedener Berufsrichtung zu Worte kommen, nicht etwa ausschließlich der im Fache stehende Schulmann, und es sollen alle größeren Gebiete der körperlichen wie geistigen Erziehung und des Unter­ richts bis hinauf zu den Lochschulen zur Sprache gebracht werden. Auf diese Werse wird nach und nach eine Art Enzyklopädie der Erziehung und des Unterrichts entstehen, die von den bereits vorhandenen sich dadurch unterscheidet, daß sie zwar keine Stichworte enthält, wohl aber eine möglichst umfassende monographische Behandlung der einzelnen Gegenstände bieten wird. Die Herausgeber.

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l

Aus den bereits unter der Presse bezw. in Vorbereitung sich befindenden Arbeiten seien nachstehende angeführt.

Es sind erschienen:

Heft 1

Siir und wider die allgemeine Volksschule

—— von Schulrat Dr. Richard Seqfert und Prof. Dr. 5- lv. Zoerster Umfang 41/* Vogen Preis geheftet M. 2.40 Die Frage der allgemeinen Volksschule hat durch den Krieg an Bedeutung und Milcht ge­ wonnen. Es geht nicht länger niehr an, daß man mit vorgeblichen pädagogischen Gründen die Standes­ unterschiede schon in der Beschulung der kleinsten Kinder geltend macht. Der einheitliche Gedanke, der mit unwiderstehlicher Kraft alle Verhältnisse durchdringen wird, muß überall, wo Trennungen überflüssig sind, damit aufräuinen und die innere Einheitlichkeit unseres Volkes durchsetzen. Bon gewaltsamer Gleichmacherei ist hier keine Rede. Es wird nicht mehr verlangt, als daß die Grundstufe aller Bildungsgänge gemeinsam fein soll, weil sie es sein kann, ohne daß irgendein erziehlicher Zweck beeinträchtigt wird, weil sie es fein muß, wenn man einen planmäßigen Aufbau des gesamten Bildungs­ wesens erstrebt. Die vorliegende Schrift versucht es, die Kreise, die der Schule fernftehen, für die allgemeine Volksschule zu erwärmen und zu gewinnen. Die Frage der Einheitsschule wird in der Schrift zwar gestreift, aber nicht ausführlich behandelt. Ehe die Einheitsschule kommen kann, muß die allgemeine Volksschule für die Kinder vom 6. bis 10. Lebensjahr da sein. Lediglich um diese handelt es sich und um eine einheitliche Volksschule, neben der die höheren Schulen zu Recht bestehen.

R. Seyfert.

Teuerungszuschlag bis auf weiteres 25% auf sämtliche Preise (Fortsetzung auf Seite 3 des Umschlages.)

Das neue Deutschland in Erziehung und Llnterricht Lerausgegeben von

Prof.

Dr.

Bastian Schmid

und

Privatdoz.

in München

Dr.

Max Brahn

in Leipzig-Gohlis

Heft 2

Schulerziehung nach dem Großen Kriege Ein Beitrag zum Wiederaufbau des deutschen Volkskörpers

von

Christian Llfer

Leipzig Verlag von Veit & Comp. 1918

Schulerziehung nach dem Großen Kriege Ein Beitrag zum Wiederaufbau des deutschen Volkskörpers

Von

Christian Äser

Leipzig Verlag vo« Veit & Comp. 1918

Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechls, Vorbehalten.

Vorwort Die vorliegenden Ausführungen sind eine Erweiterung und Ergänzung

von zwei Reden, die der Verfasser int zweiten Kriegssommer vor Berufsgenossen gehalten hat. Die endgültige Niederschrift ist im Sommer 1916 begonnen und

im Frühjahr 1917 zum Abschluß gebracht worden. Die Spuren der Entstehungs­

zeit lassen sich deutlich erkennen. Sie nachträglich zu tilgen, hat der Verfasser sich nicht entschließen können. Ganz abgesehen davon, daß sachliche Änderungen bis jetzt nirgends geboten erscheinen, liegt ihm sehr viel daran, die Arbeit als Vermächtnis der Gegenwart an die Zukunft gerade so an die Öffentlichkeit zu bringen, wie sie sich unter dem Gang und Eindruck der Dinge gestaltet hat.

Elberfeld 1917, in den Tagen der Frühjahrsschlacht bei Arras.

Christian Ufer.

Inhalt Seite

Einleitung.................................................................................................................................

1. Die Hauptgliederung des Schulwesens.

Das Recht der Schwachen und der Tüchtigen

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2. Die körperliche Erziehung...................................................................................................... 30 a) Die Dringlichkeit einer Verbesserung der körperlichen Erziehung........................... 30 b) Der Schularzt derZukunft..............................................................................................36 o) Die Ernährung............................................................................................................39 d) Die Körperübungen.................................................................................................... 48

3. Die geistige Erziehung .......................................................................................................... 64 a) Die religiöse und die sittliche Erziehung................................................................... 66 b) Die geistige Erziehung für das praktische Leben............................,........................ 102 c) Verstandes-, Gefühls- und Willenspflege im allgemeinen......................................127 Sach- und Namenverzeichnis..................................................................................................... 140

(Einleitung Auf den ersten Blick mag es reichlich verfrüht erscheinen, von der Erziehung nach dem Kriege zu sprechen, lange bevor er zu Ende ist und ehe wir auch nur mit einiger Sicherheit sagen können, wie er ausgeht. Mein er mag enden, wann er will, und er mag ausgehen, wie er will, — wer einerseits an die Lebens­ kraft des deutschen Volkes glaubt, die unsere Feinde im Ernst schon jetzt nicht mehr zu vernichten sich getrauen, und sich andererseits gegenwärtig hält, wie wir — nicht der Gelegenheitsursache, sondem den üeferen Gründen nach — in diesen Krieg hineingekommen sind, und wie er sich im Laufe der Zeit erweitert hat, für den muß es unumstößlich feststehen: zu den dringlichsten Aufgaben unmittelbar nach dem Friedensschlüsse gehört, freilich nicht nur, aber doch leider auch die Vorbereitung auf den Krieg, sei es, um in der Zukunft zu verteidigen, was wir zu unserer künftigen Sicherung etwa gewinnen oder behalten, sei es, um wiederzuerlangen, was wir, wenn es das Schicksal wollen sollte, an Un­ entbehrlichem etwa verlieren. Diese Vorbereitung auf einen künftigen, hoffentlich in weiter Ferne liegenden Krieg darf aber nicht lediglich eine äußere sein, die sich auf die zahlenmäßige Ergänzung oder Vermehrung und auf die zweckmäßige Einrich­ tung und Ausrüstung unserer Wehrmacht zu Wasser, zu Lande und in der Luft zu erstrecken hat, sondem sie muß auch unser ganzes Volkstum erfassen, nicht nur, weil doch unsere Wehrmacht aus dem Volke hervorgeht, sondern auch, weil Heer und Volk, wie wir immer mehr einsehen lernen, gerade zu Kriegszeiten im Geiste eins sein müssen. Es gilt erneut und zweifellos für die Zukunft in noch höherem Grade als schon bisher die Schaffung eines Volks in Waffen, und ein ganz wesentlicher Teil an der Lösung dieser Aufgabe fällt unstreitig der Schulerziehung zu. Es war zwar ein sehr übertriebenes und daher später recht teuer bezahltes Lob, daß der preußische Schulmeister die Schlacht bei Königgrätz gewonnen habe, aber ein nicht geringes Verdienst um die kriegerischen Erfolge der neueren und neuesten Zeit darf die Schule auch bei aller gebotenen Bescheidenheit für sich in Anspmch nehmen, wenn es anders wahr ist, daß Schlachten und Kriege nicht lediglich durch rohe Kraft, sondem auch und mehr noch durch die zweckmäßige geistige Beherrschung dieser allerdings notwendigen Kraft gewonnen werden. Nun könnte man vielleicht einwenden, unser Heer und unser ganzes Volk hätten sich in diesem Kriege ja so vorzüglich bewährt, daß es überflüssig, wenn

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nicht gar bedenklich sei, auf mehr oder weniger einschneidende Änderungen in unserm Schulwesen zu sinnen. Die Bewährung ist allerdings bis jetzt eine un­ bestreitbare Tatsache, aber man macht sich doch wohl noch lange keiner Lästerung schuldig, wenn man die Frage unentschieden läßt, ob sie nicht doch noch hätte besser sein können, als sie erfreulicherweise gewesen ist. Vor dem Kriege hat es nicht an durchaus ernst zu nehmenden Stimmen gefehlt, die da meinten, unser Volk befinde sich auf einer stark abschüssigen Bahn, und wenn das so fortgehe, werde es mit der Zeit und im Notfälle gar nicht mehr im stände sein, einen Krieg zu führen, der dem deutschen Namen Ehre mache. Wären diese Stimmen im Recht gewesen, so würde das bedeuten, es sei vielleicht jetzt noch gerade Zeit zur Um- oder Abkehr; aber auch wenn man sie als Äußerungen von Schwarzsehern überhören wollte, so wäre die Frage, ob unser Erziehungswesen einer Änderung bedürfe, noch lange nicht als unnötig oder gar bedenklich beiseite geschoben. Wir dürfen nämlich nicht vergessen, daß dieser gewaltige Krieg voraussichtlich nicht nur die Landkarte umgestalten wird, sondern daß er, wenn nicht alles täuscht, wenigstens zeitweilig für unser Volksleben recht tiefgehende Veränderungen im Gefolge haben muß, an denen weder die sogenannte körperliche, noch die geistige Erziehung achtlos vorüber­ gehen darf. Mancher wird freilich, und das nicht ohne einigen Grund, meinen, die Sache sei, wenn schon notwendig, doch nicht so eilig, daß sie bereits erörtert werden müßte, während der Krieg noch in vollem Gange ist; man täte viel besser zu warten, bis wir wieder Frieden hätten, ja bis die Zeit der großen Erschlaffung vorbei sei, der unser Volk nach dem gewaltigen Verbrauch an Nervenkraft während der aufregenden, anstrengenden und ungemein entbehrungsreichen Kriegszeit vielleicht auf Jahre hinaus kaum entgehen wird; auch würde es von Wert sein, zuvor die Ansicht der Männer zu hören, die jetzt noch vor dem Feinde stehen, und endlich sei die aufgeregte Zeit besonnenen Überlegungen ohnehin nicht gerade günstig. Dem könnte man durchaus zustimmen, wenn man sicher wäre, daß all­ gemein solange gewartet würde, namentlich auch da, wo ein mitbestimmender oder gar maßgebender Einfluß auf die künftige Gestaltung der Dinge ausgeübt werden kann. Es hat aber den Anschein, daß man an diesen Stellen nicht überall solange zu warten gedenkt. Zunächst zeigt sich bei manchen obersten Unterrichtsbehörden das Bemühen, gewisse neuere Einrichtungen und Vorschriften, über deren künftige Notwendig­ keit oder Zweckmäßigkeit etwa Zweifel auftauchen könnten, zunächst einmal ungefährdet über die Kriegszeit Hinwegzubringen, und man wird kaum fehl­ gehen, wenn man annimmt, daß es sich hier um eine vorbauende Tätigkeit handelt, der nach dem Kriege ein zähes Festhalten folgen soll. Hierher rechne ich allerdings nicht die Tatsache, daß der preußische Unter­ richtsminister, als im Verlauf des Krieges die Lehrkräfte recht knapp wurden, einer etwa geplanten Auflösung von Schulen für Schwachbefähigte entgegentrat; denn wenn man auch sehr wohl der Meinung sein kann, bei dem großen Lehrer­ mangel sei eine zeitweilige Zurücksetzung der „Hilfsschulen" kaum so mißlich

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wie eine unzureichende Versorgung der gut oder leidlich begabten Jugend, so wird man doch aus Gründen, die später berührt werden sollen, das Hilfsschul­ wesen noch mehr fördern müssen, als es bisher schon geschehen ist, und es läßt sich daher wohl verstehen, daß man diese Anstalten durch ein vorläufiges Auf­ geben nicht in Gefahr bringen möchte. Bedeutsamer erscheint mir, daß sich der preußische Unterrichtsminister schon jetzt eine Faches besonders annimmt, das früher gar sehr um sein gutes Recht hat kämpfen müssen, in den letzten Jahren aber nach der Meinung zahlreicher Schulmänner eine allzu große Bevorzugung erfahren hat. Es ist das viel­ berufene Zeichnen. In einer Zeit, wo sich namentlich an höheren Schulen wegen des durch den Krieg veranlaßten Lehrermangels fast alle Fächer eine starke Beeinträchtigung gefallen lassen müssen, hat der Minister an die Provin­ zialschulkollegien eine Anweisung erlassen, in der er betont, daß „bei der Be­ deutung, die der Schulung des Auges und der Fähigkeit, das Geschaute in rascher Skizze darzustellen, gerade unter den jetzigen Zeitverhältnissen beige­ messen werden muß, der Freihand- und Linearzeichenunterricht an höheren Schulen, wenn irgend möglich, in vollem Umfang" erteilt werden solle. Der Umstand, daß sich die Anweisung des Ministers nicht auf die oberen Klassen der höheren Knabenschulen beschränkt, sondern ganz allgemein gehalten ist, legt die Vermutung nahe, hier werde schon auf eine möglichst günstige Zukunft dieses Faches hingearbeitet. Der Studienanstaltsdirektor Güldner macht dazu in seiner Zeitschrift „Die höheren Mädchenschulen" eine sehr offenherzige Bemerkung, die für die Auffassung mancher Kreise bezeichnend ist: „Kundige Leute behaupten, die starke Betonung des Zeichnens bei uns läge weniger an der ungeheuren Bedeutung..., sondern nur daran, daß es in Berlin einen Künstler gäbe, der so kräftig wirke, daß er alles fertig bringe. Das klingt nicht so unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, mit wie viel Stacheldrähten dieses Fach umgeben ist, damit niemand entwische..." Doch nicht nur vorbeugende Maßnahmen zum Schutze des Hergebrachten kann man bemerken; auch die Neuordnung der Dinge regt sich schon. Mitten im Kriege hat der preußische Unterrichtsminister einen Erlaß über den Geschichts­ unterricht an den höheren Knabenschulen herausgegeben, in dem eine bessere Pflege des Unterrichts in der neueren und neuesten Geschichte angeordnet wird, und in einem späteren Erlaß ist für die höheren Mädchenschulen die gleiche Maßnahme getroffen worden. An und für sich ist gegen diese Neuerung gewiß nichts einzuwenden; man darf sogar mit sehr gutem Recht sagen, sie wäre schon früher am Platze gewesen; aber nachdem sie sich nun doch einmal solange ver­ spätet hatte, sollte man meinen, es hätte damit auch noch bis nach Beendigung des Krieges gewartet werden könnend) Daß dies nicht geschehen ist, kann im Nachträglicher Zusatz: Wie es scheint, wäre das sogar entschieden besser gewesen Prof.Theobald Ziegler meint in der soeben (1917) erschienenen 4. Auflage seiner „Geschichte der Pädagogik", es sei sicher, daß es mit den angeordneten Stoffverschiebungen im Geschichts­ unterricht „so nicht gehe", und sagt weiter: „Vielleicht lernt man daraus, daß man jetzt im Kriege keine neuen Schulpläne machen soll". Die Frankfurter Zeitung, die in ihrem Literaturblatt vom 29. Juli 1917 das Buch anzeigt, bemerkt dazu: „In der Tat kann und muß man im Kriege viel Neues machen, nur nicht gerade neue Schulpläne."

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Zusammenhang mit den vorbauenden Maßnahmen die Befürchtung erwecken, eine allgemeine Durchprüfung und etwaige Neuordnung unseres Schulwesens sei nicht in Aussicht genommen, sondern man gedenke sich auf etwa notwendig erscheinende Einzelverordnungen zu beschränken. Dem widerspricht auch nicht, was der Minister am 14. März 1916 im preußischen Abgeordnetenhause geäußert hat: „Der Krieg mit seinen großen Erfahrungen und Erlebnissen wird von ein­ schneidender Bedeutung sein für den künftigen Betrieb unserer Universitäten und Schulen. Es wird sich aber nicht um eine gmndstürzende Neuordnung handeln. Man wird an das Bestehende anknüpfen müssen, Veraltetes besei­ tigen und durch Neues ersetzen, wo es erforderlich ist. Die Unterrichtsverwaltung will in diesem Sinne arbeiten und hat dies auch schon während des Krieges durch einige Maßnahmen bewiesen." (Nach der Kölnischen Zeitung vom 15. März 1916.) Wenn ich hiek von einer Befürchtung spreche, obwohl ich auf dem Schul­ gebiete, soweit ich es überhaupt zu übersehen vermag, eigentlich grundstürzende Neuerungen nicht zu befürworten gedenke, so beruht das auf Erfahrungen, die man bei der Wirkung sich häufender Einzelverordnungen überall machen kann. Solche Verordnungen, jede für sich genommen, mögen noch so gut sein; sie werden aber in ihrem Werte doch stark herabgesetzt, wenn das eine Gute ein andres in der Entwicklung hindert, wie es gerade in der neueren Zeit vielfach vorge­ kommen ist, und wie es in der Zukunft sicher noch häufiger vorkommen würde, wenn man sich auf bloße Ausbesserungsarbeit beschränkte. Aus diesem Grunde halte ich die Neuordnung der Dinge auf dem Wege der Einzelverordnungen für bedenklich. Man käme dann gar leicht dazu, sich mit dem für die obersten Dienststellen zwar ziemlich einfachen und bequemen, für die unteren aber geradezu verhängnisvollen „Immer noch mehr! Mehr noch als bisher!" zu behelfen. Was uns dringend not tut, ist gründliche, umfassende und einheitliche Arbeit, die freilich in ganz kurzer Zeit nicht wird geleistet werden können. Welche Schwierigkeiten hier zu besiegen sind, zeigt mit besonderer Deutlichkeit das soeben (1916) vom Geh. Oberregierungsrat Norrenberg bei Teubner herausgegebene Sammelbuch „Die deutsche höhere Schule nach dem Weltkriege". Hier verlangt Oberregierungsrat Lambeck (Berlin) mehr Raum für Philosophie, Professor Sprengel (Frankfurt a. M.) eine erhebliche Ver­ stärkung des Unterrichts im Deutschen, Gymnasialdirektor Neubauer (Frank­ furt a. M.) eine beträchtliche Vermehrung der Stundenzahl für den Geschichts­ unterricht; Professor Lampe (Berlin-Grunewald) will mehr Raum für die Erdkunde, namentlich in den oberen Klassen, Professor Hahn (Berlin) eine Erhöhung der Physikstundenzahl; Oberrealschuldirektor Neuendorf (Mülheim a. d. Ruhr) spricht sich für drei Wochenstunden Turnunterricht aus, wozu noch besondere Spielnachmittage und ganze Spieltage kommen sollen. Die Ver­ treter der andern Gebiete verlangen zwar nicht ausdrücklich mehr, als sie gegen­ wärtig haben, wollen aber auch nichts hergeben. Da braucht man es denn allerdings dem oben erwähnten Fachmann für das Zeichnen nicht allzu übel zu nehmen, wenn er noch etwas früher aufgestanden ist, und man darf neugierig sein, welche unvereinbaren Forderungen die Vertreter der mitt-

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leren1) und niederen Schulen erheben werden, wenn sie, wie zu erwarten steht, demnächst gleichfalls in Sammelbüchern hervortreten. Nutzlos sind ja solche Sammelbücher nicht, aber doch eben nur Vorarbeiten. Am letzten Ende darf es nicht darauf ankommen, daß die Fächer zu ihrem vermeintlichen Recht gelangen, denn nötig und nützlich erscheint hier so ziemlich alles; maß­ gebend können schließlich nur die dringenden Bedürfnisse und die Leistungs­ fähigkeit der jetzt und demnächst Heranwachsenden Jugend sein.

1. Die Hauptgliederung des Schulwesens. Das Recht der Schwachen und der Tüchtigen Die allgemeinen Bildungsanstalten — von Fachschulen irgendwelcher Art soll hier nicht die Rede sein — gliedern sich, wie in Preußen, so auch, trotz zuweilen abweichender Benennung, in manchen andern deutschen Staaten, einigermaßen den Bedürfnissen der Bevölkerungsschichten entsprechend, in niedere, mittlere und höhere. Unter niederen Schulen oder Volksschulen, hin und wieder auch Bürgerschulen genannt, versteht man Anstalten, die das erforderliche Mindestmaß allgemeiner Bildung vermitteln sollen. Die höheren Schulen, in Süddeutschland und in Österreich als Mittelschulen bezeichnet zur Unterscheidung von den Hochschulen, sind im allgemeinen als Vorbereitungs­ anstalten für irgendwelches Hochschulstudium gedacht oder haben doch Ziele im Auge, die der Reife zum Hochschulstudium mehr oder weniger nahe kommen. Mittelschulen nach preußischem Sprachgebrauch sind Anstalten, die weder zu den niederen, noch zu den höheren Schulen gehören, sondern, zunächst auf die Be­ dürfnisse des Mittelstandes berechnet, zwischen niederen und höheren Schulen in der Mitte stehen. Hierher würden wenigstens einigermaßen auch die sächsischen „höheren Bürgerschulen" zu rechnen sein, obwohl sie sich nur auf acht Schuljahre erstrecken, im Unterschiede zu den neun Schuljahre umfassenden preußischen

*) Nachträglicher Zusatz: Für die mittleren Schulen erhebt bereits die Kirche neue Ansprüche und findet dabei ein freilich viel Unsicherheit verratendes Entgegenkommen. Ein preußischer Ministerialerlaß vom 10. Januar 1917 lautet: „Von kirchlicher Seite ist mir der dringende Wunsch entgegengebracht worden, die Zahl der Unterrichtsstunden für Religion in der Mittelschule zu erhöhen. Bei der Bedeutung, die dem Religionsunterricht gerade auch für die mittleren Schulen beizumessen ist, will ich genehmigen, daß auf begründeten Antrag der Schulbehörden für diesen Unterricht in den Klassen der Mittel- und Oberstufe der mittleren Schulen die Zahl der Unterrichtsstunden auf drei erhöht wird. Da eineVermehrung der Gesamtstundenzahl ausgeschlossen bleiben muß, wird diese Stunde nur dadurch gewonnen werden können, daß eines der Fächer, für die ein Mindest- und ein Höchstmaß von Unterrichtsstunden im Lehrplan festgesetzt ist, von dem Höchstmaß der Stunden auf das Mindest­ maß heruntergesetzt wird, wobei zu vermeiden ist, daß die Erreichung des Lehrziels dieses Faches gefährdet wird (!) In den Klassen der Unterstufe bleibt es bei der bisherigen Zahl von wöchentlich drei Unterrichtsstunden."

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leren1) und niederen Schulen erheben werden, wenn sie, wie zu erwarten steht, demnächst gleichfalls in Sammelbüchern hervortreten. Nutzlos sind ja solche Sammelbücher nicht, aber doch eben nur Vorarbeiten. Am letzten Ende darf es nicht darauf ankommen, daß die Fächer zu ihrem vermeintlichen Recht gelangen, denn nötig und nützlich erscheint hier so ziemlich alles; maß­ gebend können schließlich nur die dringenden Bedürfnisse und die Leistungs­ fähigkeit der jetzt und demnächst Heranwachsenden Jugend sein.

1. Die Hauptgliederung des Schulwesens. Das Recht der Schwachen und der Tüchtigen Die allgemeinen Bildungsanstalten — von Fachschulen irgendwelcher Art soll hier nicht die Rede sein — gliedern sich, wie in Preußen, so auch, trotz zuweilen abweichender Benennung, in manchen andern deutschen Staaten, einigermaßen den Bedürfnissen der Bevölkerungsschichten entsprechend, in niedere, mittlere und höhere. Unter niederen Schulen oder Volksschulen, hin und wieder auch Bürgerschulen genannt, versteht man Anstalten, die das erforderliche Mindestmaß allgemeiner Bildung vermitteln sollen. Die höheren Schulen, in Süddeutschland und in Österreich als Mittelschulen bezeichnet zur Unterscheidung von den Hochschulen, sind im allgemeinen als Vorbereitungs­ anstalten für irgendwelches Hochschulstudium gedacht oder haben doch Ziele im Auge, die der Reife zum Hochschulstudium mehr oder weniger nahe kommen. Mittelschulen nach preußischem Sprachgebrauch sind Anstalten, die weder zu den niederen, noch zu den höheren Schulen gehören, sondern, zunächst auf die Be­ dürfnisse des Mittelstandes berechnet, zwischen niederen und höheren Schulen in der Mitte stehen. Hierher würden wenigstens einigermaßen auch die sächsischen „höheren Bürgerschulen" zu rechnen sein, obwohl sie sich nur auf acht Schuljahre erstrecken, im Unterschiede zu den neun Schuljahre umfassenden preußischen

*) Nachträglicher Zusatz: Für die mittleren Schulen erhebt bereits die Kirche neue Ansprüche und findet dabei ein freilich viel Unsicherheit verratendes Entgegenkommen. Ein preußischer Ministerialerlaß vom 10. Januar 1917 lautet: „Von kirchlicher Seite ist mir der dringende Wunsch entgegengebracht worden, die Zahl der Unterrichtsstunden für Religion in der Mittelschule zu erhöhen. Bei der Bedeutung, die dem Religionsunterricht gerade auch für die mittleren Schulen beizumessen ist, will ich genehmigen, daß auf begründeten Antrag der Schulbehörden für diesen Unterricht in den Klassen der Mittel- und Oberstufe der mittleren Schulen die Zahl der Unterrichtsstunden auf drei erhöht wird. Da eineVermehrung der Gesamtstundenzahl ausgeschlossen bleiben muß, wird diese Stunde nur dadurch gewonnen werden können, daß eines der Fächer, für die ein Mindest- und ein Höchstmaß von Unterrichtsstunden im Lehrplan festgesetzt ist, von dem Höchstmaß der Stunden auf das Mindest­ maß heruntergesetzt wird, wobei zu vermeiden ist, daß die Erreichung des Lehrziels dieses Faches gefährdet wird (!) In den Klassen der Unterstufe bleibt es bei der bisherigen Zahl von wöchentlich drei Unterrichtsstunden."

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Mittelschulen, und überdies eine zweite Fremdsprache (als wahlfteies Fach) nicht haben. Diese Gliederung wird man im allgemeinen auch in der Zukunft als durchaus gesund ansehen dürfen, wenngleich sich nicht verkennen läßt, daß den verschiedenen Schulgattungen etwas vom Charakter der Standesschulen anhaftet, namentlich auch deshalb, weil an vielen Orten den mittleren und höheren Schulen so­ genannte Vorschulen oder Borklassen angegliedert sind, deren Lehrstoff, von einigen geringen Erweiterungen abgesehen, auch Gegenstand des Unter­ richts in den entsprechenden Klassen der Volksschule ist. Man hat daher schon seit längerer Zeit vielfach und mit Nachdruck darauf hingearbeitet, diese Vorschulen oder Vorklassen abzuschaffen und die Kinder sämtlicher Volks­ schichten während der ersten drei oder vier Schuljahre in einer gemeinsamen Schule zu vereinigen. Es läßt sich nicht bestreiten, daß in den Bemühungen zur Herbeiführung einer solchen „Einheitsschule" in einfachster Gestalt ein wenigstens scheinbar berechtigter Kern steckt, und da diese Bemühungen schon während des Krieges mit erneuter und erhöhter Kraft in der Tagespresse sowohl wie in den Ver­ handlungen des preußischen Abgeordnetenhauses fortgesetzt worden sind und auch nach dem Kriege so bald nicht nachlassen werden, so dürfte wenigstens diese bescheidene Form der Einheitsschule, wenn auch vielleicht nur in den Anfängen, wohl kommen trotz mancher Bedenken, mit denen sich aber jeder aus­ einandersetzen muß, der sich nicht gedankenlos von der Zeitströmung treiben lassen will. Dem hauptsächlichsten Grunde, der schon vor dem Kriege für die Zweckmäßig­ keit, ja Notwendigkeit der Einheitsschule in dem angegebenen Sinne geltend gemacht wurde und jetzt erst recht viele offene Ohren findet, vermag ich am wenigsten zuzustimmen. In weiten Kreisen erhofft man als günstige Wirkung des Krieges eine Verblassung des namentlich in Norddeutschland recht stark hervortretenden Bewußtseins der Standesunterschiede, und um diese Ab­ schwächung auf die Dauer zu erhalten und zu fördern, soll die Einheitsschule mithelfen. Ich möchte es hier ganz dahingestellt sein lassen, ob das Standes­ gefühl, das schließlich in seiner besten Form doch nur eine Erwei­ terung des Persönlichkeitsgefühls ist und durchaus nicht ohne weiteres mit der wegwerfenden Bezeichnung „Kastengeist" abgetan werden darf, nicht doch auch sein Gutes hat; ich will aber zugeben, daß es leicht zu einer ungerechtfertigten Mißachtung anderer führen kann, ja tatsächlich geführt hat und daher eine Abschwächung sehr wohl verträgt. Ob aber in dieser Hinsicht nunmehr eine völlig neue Zeit kommen wird, das erscheint mir doch sehr zweifelhaft. Als beim Ausbruch des Krieges die Wogen der Begeisterung hoch gingen und alle Standesunterschiede verschwunden zu sein schienen, da konnte es einem vom Schwang der Gefühle mitgerissenen Beobachter wohl so vorkommen, als ob eine neue Zeit schon da sei; aber die andauernden Kriegsnöte im Lande haben doch so manches zutage gebracht, was weniger hoffnungsvoll stimmen kann. Immerhin mögen in der ersten Zeit nach dem Kriege die Kämpfe im Jnnem

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eine gegen früher gemäßigte Form annehmen; doch weist schon jetzt nur allzuviel darauf hin, daß wir leider gar bald die alten Zustände in vielleicht noch ge­ steigerter Schärfe erwarten müssen, und daran dürfte auch die etwa ins Leben tretende Einheitsschule nichts ändern. Oder ist es wirklich wahrscheinlich, daß ein drei- oder vierjähriges Zusammen­ sein der Kinder aller Volksschichten in einer und derselben Schule den zweifellos starken Drang nach standesgemäßer Absonderung wesentlich schwächen werde? Hinweise, etwa auf Martin Luther, der dem Sohn eines armen Bauern oder Bergmanns, mit dem er eine Zeitlang die Schule besuchte, dauernd ein freundliches Gedenken bewahrt hat, oder auf gelegentliche Äußerungen süd­ deutscher Würdenträger, die sich am Allerweltstische im Hofbräuhause wohl­ fühlen sollen, angeblich weil sie als Kinder einige Jahre die Volksschule besucht haben, wollen wirklich nicht viel besagen. Wenn in Süddeutschland das Be­ wußtsein der Standesunterschiede sich tatsächlich weniger stark äußert als anders­ wo, so dürfte das mehr an der Natur des Volksstammes als an dem gemeinsamen Besuch der-Volksschule liegen. Erfahrungen, die jeder Schulmann und jede Schulfrau machen kann, bekunden deutlich den geringen Einfluß, den das ver­ hältnismäßig doch nur kurze Zusammensein der Kinder verschiedener Volks­ schichten in der Zukunft auf die gegenseitige Achtung ausübt. So kann man z. B. durchaus nicht sagen, daß die Schülerinnen, die nach drei- oder vier­ jährigem Besuch der Volksschule in die Mittelschule eintreten, eine besondere Wertschätzung ihrer in der Volksschule zurückgebliebenen Klassengenossinnen an den Tag legten. Auch bei Mittelschülerinnen, die in die höhere Mädchenschule übertreten, lösen sich die Beziehungen zu den Zurückbleibenden sehr bald in ganz auffälliger Weise, und in andern Fällen und unter andern Verhältnissen wird es kaum anders sein. Man könnte nun freilich sagen, drei oder vier Jahre Einheitsschule seien eben eine zu kurze Zeit, als daß sie sozial ausgleichend zu wirken vermöchten; man müsse, um guten Erfolg zu erzielen, die Einheits- oder Grundschule, wie Tews und mit gewissen Beschränkungen auch Rein will, auf sechs Schuljahre ausdehnen. Ganz abgesehen davon, daß diese Einrichtung unterrichtliche Unzu­ träglichkeiten steigern müßte, die, wie wir noch sehen werden, schon bei der drei- oder vierjährigen Grundschule hervortreten, würde auch bei ihr die sozial ausgleichende Wirkung durchaus fraglich sein. Verlieren doch selbst Lehrer, die die Volksschule, die Präparandenanstalt und das Seminar besucht, später aber noch Universitätsstudien getrieben haben, in den allermeisten Fällen die gesellschaftliche Fühlung mit denen, die hinter ihnen zurückgeblieben sind. Ja selbst während der Schulzeit machen sich in ein und derselben Schule die Klassen­ unterschiede und Gegensätze geltend. Aus den höheren Mädchenschulen ist allgemein bekannt, daß Kinder, die aus niederen Verhältnissen stammen,' unter ihren bessergestellten Klassengenossinnen recht vereinsamt dastehen, wenn nicht hin und wieder verständige Eltern hier ausgleichend eingreifen, und ähnlich liegen die Dinge an höheren Knabenschulen, besonders an den Gymnasien, bei denen die „Bunken" oder „Binken" von ihren Genossen aus sogenannten guten Familien auch dann gar zu leicht über die Achsel angesehen werden, wenn sie

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nicht gerade, wie seinerzeit einmal in Essen a. d. Ruhr, zu einer Bunkenklasse vereinigt werden. Ich glaube denn auch nicht, daß der am häufigsten geltend gemachte Grund für die Herbeiführung der Einheitsschule wenigstens bei ihren wirklich denkenden Freunden völlig ernst zu nehmen ist; vielmehr scheint sich mir bei den unteren Volksschichten, die nach der Einheitsschule verlangen, das menschlich durchaus verständliche Streben zu äußern, den oberen wenigstens äußerlich in allem möglichst gleich zu sein, und wenn auch diese vielfach nach der Einheitsschule mfen, so geschieht das durchaus nicht immer, weil sie aus ihrer Sonderstellung herabsteigen möchten, was bekanntlich nur selten jemand gern tut, sondern weil sie, um sich als Volksmänner zu bekunden, was ihnen erfahrungsgemäß unter Umständen sehr von Nutzen sein kann, dem Volke entgegenkommen möchten, besonders wenn sie persönlich von der Angelegenheit gar nicht berührt werden. Es ist ja bisweilen so leicht und angenehm, für andere Wohltaten zu schaffen, auf deren Genuß man selber ganz gern verzichtet. Ich halte es daher gar nicht für ausgeschlossen, vielmehr für sehr wahrscheinlich, daß die staatlichen und städtischen Vertreter der höheren Schichten aus Entgegenkommen gegen die niederen, weil doch, wie man meint, nun einmal etwas geschehen muß, mit deren Vertretern zusammen die Unterstufe der Mittelschulen aufheben, um, wie man in solchen Fällen sagt, zunächst „einmal einen Anfang zu machen", daß sie sich aber heftig sträuben werden, wenn auch ihre, die höheren Schulen davon betroffen werden sollen. Im äußersten Falle jedoch werden sie sich damit zu trösten wissen, daß man ja seine Kinder, wenn man die Mittel dazu hat, in die Privatschulen schicken kann, für die dann sicherlich goldne Zeiten kommen würden, wenigstens in Preußen. Jeder aber, der es wirllich aufrichtig mit der Einheitsschule meint, muß für die Abschaffung sämtlicher öffentlicher Vorschulen und für das Verbot von Privat­ vorschulen eintreten, wenn er nicht den Teufel durch Beelzebub austreiben will. Tews meint zwar in seiner für den Deutschen Lehrerverein bearbeiteten Schrift „Die Einheitsschule" (1916), die häufig auftretende Behauptung, daß an Stelle von nicht vorhandenen oder eingegangenen Vorschulen Privatschulen treten würden, finde keine Bestätigung. An die Stelle von 90 (71) eingegangenen Vorschulen sei in 25 (18) Fällen die Volksschule getreten, in 16 (15) Fällen die Mittelschule (also, wenn anders ich Tews recht verstehe, doch eine Vorschule!), in 23 (26) Fällen die höhere Mädchenschule (also abermals eine Vorschule!) und nur in 14 (11) Fällen eine Privatschule. Um hier völlig klar zu sehen, müßte man bie, Verhältnisse näher kennen, unter denen die Vorschulen (doch wohl für höhere Knabenschulen!) eingegangen sind; aber auch so bilden die angeführten Zahlen für die Meinung von Tews eine zweifelhafte Stütze. Er wird selbst nicht behaupten wollen, daß die Ein­ richtung von Privatschulen nicht wesentlich größer gewesen wäre, wenn keine öffentlichen Vorschulen irgendwelcher Art zm Verfügung gestanden hätten. Tews beruft sich auch auf Bayem, wo es keine öffentlichen Vorschulen gebe und dennoch die Privatschule nicht benutzt werde; doch auch hier müßte man

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die Verhältnisse genauer kennen, um ein zutreffendes Urteil zu gewinnen. Bremen aber hat, wie H artnacke in seinem Aufsatz „Das Problem der Auslese der Tüchtigen" (Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Nov. u. Dez. 1915) mitteilt, auch keine öffentlichen Vorschulen; doch werden private ausgiebig besucht, und überdies bestehen dort noch Volksschulen, für die Schulgeld gezahlt werden muß, und in denen Besseres geleistet wird als in den ebenfalls vorhandenen unentgeltlichen. In Westfalen, wo es von alters her keine Vorschulen gibt, regt sich wenigstens an manchen Orten (z. B. in Dortmund) das Bedürfnis nach solchen, und an andern wird verlangt, daß innerhalb der Volksschule besondere Vorkehrungen getroffen werden, um den Kindern den rechtzeitigen Übergang zur höheren Schule zu ermöglichen, ohne daß sie einer Privatschule übergeben zu werden brauchen. Erst dann, wenn die „Grundschule" (wenigstens in Preußen!) mit dem nötigen Stacheldraht umgeben ist, um das Entweichen zu verhindern, kann die Volksschule auch auf den Gewinn hoffen, den ihr die Entwicklung zur Einheits­ schule bringen soll, nämlich eine gewiß dringend notwendige gesteigerte Pflege durch die höherstehenden und einflußreicheren Kreise, die ihr gegenwärtig inner­ lich fern stehen, weil sie eben ihre Kinder anderswo unterrichten lassen. Eine ungemischte Freude freilich wird der Volksschule auch dann noch nicht zuteil werden, schon deshalb nicht, weil nach dem dritten oder vierten Schuljahr, d. h. zur Zeit des Übergangs auf mittlere und höhere Schulen, eine förmliche Massenabwanderung stattfinden muß, die bei den Zurückbleibenden eine in den Schulbetrieb unter Umständen recht tief eingreifende Umgruppierung notwendig macht. Doch diese Umgruppierung in Verbindung mit dem unvermeidlichen Sinken der Klassengüte infolge der Abwanderung der Besseren ist nicht das einzige Mißliche, das der Volksschule von der Einheitsschule droht. Will die allgemeine Volksschule oder Einheitsschule an sich selbst Freude erleben, so muß sie natürlich auch das leisten, was die mittleren und höheren Schulen bei der Aufnahme in die vorschullose Anstalt zu verlangen haben. Nun steht aber die Sache gegenwärtig so, daß die Volksschule in der Regel vier Jahre gebraucht, um die Kinder so weit Hu fördern, wie es die üblichen drei Vorschuljahre vermögen und tun. Tews will allerdings die Richtigkeit dieser Behauptung nicht recht anerkennen. „Aus den Aufnahmen (des Deutschen Lehrervereins und der Gesellschaft für Volks­ bildung 1915) soll hervorgehen, „daß es den Tatsachen nicht entspricht, wenn behauptet wird, die Volksschüler könnten nur (?) nach vier bzw. viereinhalb­ jährigem (?) Schulbesuch in die höhere Schule eintreten. In der Mehrzahl der Fälle erfolgt der Eintritt, allerdings nach Ablegung einer Prüfung, mit dem vollendeten dritten Schuljahre, und zwar ohne daß in der Mehrzahl der Fälle im Lehrplan der Volksschule auf die Vorbereitung für die höhere Lehr­ anstalt Mcksicht genommen wird." Das ist reichlich unbestimmt, und außerdem fehlt die sehr wichtige Angabe darüber, wie weit hier die besondere För­ derung neben dem Schulunterricht eine Rolle spielt. Ihren Einfluß stillschweigend der Volksschule gutzuschreiben, geht doch nicht an. Daß die Leistungen der Volksschule hinter denen der Vorschule zurückbleiben, bestätigt DaS neue Deutschland in Erziehung und Unterricht.

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übrigens auch der preußische Kultusminister, da nach der Vossischen Zeitung vom 6. Juni 1916 ein auch von Tews erwähnter Erlaß bevorsteht, nach dem eine besondere Aufnahmeprüfung der vom Rektor oder Kreisschulinspektor für höhere Schulen reif befundenen Volksschüler wegfällt; zum Eintritt soll der dreijährige Besuch einer Volksschule berechtigen, und die Vorschulen haben ihre Anforderungen bis auf diesenStandpunkt zu ermäßigen*). Auch die neuen preußischen Bestimmungen für solche Mttelschulen, die keine Vorklassen haben, sehen ein die Mängel der Volksschulbildung ausgleichendes Jahr vor. Die Gründe für die Ungleichheit der Leistungen sind nicht allzu schwer einzusehen. Zunächst weisen die Vorschulklassen eine viel geringere Besetzung auf, als die entsprechenden Klassen der Volksschule. Soll also die allgemeine Volksschule das leisten, was gegenwärtig die Vorschule leistet, so muß man chr vor allem auch die nötige Vorbedingung schaffen, indem man die Besuchsziffern der einzelnen Klassen ganz wesentlich herabsetzt, was allerdings eine nicht uner­ hebliche Vermehrung der Lehrkräfte notwendig machen würde, wozu man, soviel läßt sich jetzt schon sagen, auch nach einem verhältnismäßig günstigen Ausgang des Krieges wenig Lust haben dürfte. Scheut man sich tatsächlich vor der dann erforderlichen Vermehrung der Schulllassen und Lehrkräfte, so müssen eben die Kinder, die in eine mittlere oder höhere Schule eintreten wollen, die Volksschule ein Jahr länger besuchen als die Vorschule, oder aber die mittleren und höheren Lehranstalten müssen ihre Anforderungen bei der Aufnahme ermäßigen. Am besten geschähe beides. Sodann ist das Zurückbleiben der Leistungen in der Volksschule gegenüber der Vorschule aber auch in dem Umstande begründet, daß Kinder, die die Vor­ schule besuchen, wenn auch nicht immer, so doch in der Regel aus Familien stammen, deren geistiger Stand für die Kinder förderlicher ist, ganz abgesehen davon, daß auch die in der Regel besseren Ernährungsverhältnisse sehr ins Gewicht fallen, und daß die Eltern mehr Zeit haben, sich ihrer Kinder anzunehmen. Sehr interessant und lehrreich sind in dieser Beziehung die Mitteilungen Hartnackes über die Verhältnisse in Bremen. Dort gibt es unentgeltliche Volksschulen und solche, für die Schulgeld erhoben wird, die also durchweg von Kindern wirtschaftlich besser gestellter Eltern besucht werden. Obwohl nun die Einrich­ tungen beider Arten von Volksschulen völlig gleich sind, übertreffen doch die Zahlschulen die Freischulen in der Leistungsfähigkeit der Kinder ganz beträchtlich. Ähnliche Erfahrungen habe ich in Mtenburg gemacht, wo für die sogenannten Ersten Bürger-, d. i. Volksschulen 18 Mark, für die Zweiten Bürgerschulen 6 Mark Schulgeld oder auch nichts erhoben wird. Auch eine Untersuchung, die Dr. A. Mac Donald in amerikanischen Schulen angestellt hat, wo man keine Vorschulen kennt, zeigen deutlich die Abhängigkeit der geistigen Leistungen x) Nachträglicher Zusatz: Die mittlerweile amtlich bekannt gewordene Entschließung des Ministers ist doch etwas anders ausgefallen. Die Anforderungen bei der Aufnahme in die Sexta der höheren Knabenschulen sollen zwar vom Jahre 1917 ab ermäßigt werden; die Prüfung verbleibt aber den Schulen, in die die Aufnahme erfolgt. — Welche Wirkung diese Anordnung auf die Leistungsfähigkeit der Sexta und der weiteren Klassen ausüben wird, und wie sich die Schulen dabei stehen werden, bleibt abzuwarten.

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von der sozialen Herkunft („Eine Schulstatistik über die geistige Begabung, soziale Herkunft und Rassenzugehörigkeit." Zeitschrift für pädagogische Psycho­ logie. Sept. 1913). Nach alledem wird man es nicht mehr auffällig finden, daß bei einer umfassenden Jntelligenzprüfung (nach Sternschem Verfahren) in den Breslauer Vor- und Volksschulen die Vorschüler sich durchschnittlich um ein ganzes „Jntelligenzjahr" reifer erwiesen als die gleichalterigen Volksschüler (Zeitschrift für angewandte Psychologie. Bd. VIII. 1913) i). Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß alle Kinder der Vorschule eine größere Leistungsfähigkeit aufwiesen als alle Kinder der entsprechenden Volks­ schulklassen, denn hier wie dort gibt es Gescheite und Dumme, und manches Kind der Volksschule mag Kinder der Vorschule in der Fähigkeit weit übertreffen; es handelt sich nur um den Durchschnitt, und der wird in der Vorschule besser sein. Besuchen solche Kinder in den ersten Jahren die Volksschule, so können sie ihren großen Vorteil nicht voll ausnutzen, da sie von dem Schwergewicht der andern notwendig nach unten gezogen, in einem ihren Kräften entsprechenden Fortschritt aufgehalten werden. Um diesem Übelstande zu begegnen, hat man an manchen Orten, wo Vorschulen, nicht bestehen oder wo, wie in Frankfurt a. M., auf ihre Beseitigung hingearbeitet wird, für solche Kinder, die später eine höhere oder auch nur eine mittlere Schule besuchen sollen, einen Nebenunterricht zu schaffen in den Dingen, die für die Aufnahme besonders in Betracht kommen, d. h. in Deutsch (Sprachlehre) und Rechnen. Wenn man auf diese Weise eine Vorschule in der Volksschule schafft, so bekommt die Einheitsschule, wie zugegeben werden muß, ein großes Loch. Doch davon ganz abgesehen, würde die gerade in den ersten Schuljahren besonders notwendige Einheitlichkeit des Unterrichts für einen Teil der Kinder aufs äußerste gefährdet, und den andern würde durch die not­ gedrungen besonders sorgfältige Pflege der verkappten Vorschule wahrscheinlich ein gut Teil der besten Lehrkraft entzogen, wozu auch vielleicht noch Schwierig­ keiten in der äußeren Einrichtung kämen. Man kann es daher leicht verstehen, daß der Vorschlag der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung, den Unter­ richt der Vorschulen durch Nebenunterricht in den Volksschulen zu ersetzen, bei dem dortigen Stadtschulrat Dr. I. Ziehen, einem anerkannt tüchtigen Schul­ manne, und überhaupt beim Magistrat auf starken, aber wie es scheint, doch nicht ganz ausreichenden Widerstand gestoßen ist. Daß man auf ein solches Mittel verfallen ist, daran sind fieilich wenigstens die höheren Knabenschulen nicht ganz unschuldig. Tews hat einigermaßen recht, wenn er sagt, der Unterricht in der Volksschule sei in den unteren Klassen viel pädagogischer als in den Vorschulen der höheren Knabenschulen, da hier x) Nachträglicher Zusatz: Mir besonderm Interesse darf man den Ergebnissen eines eigenartigen Versuchs entgegensetzen, den man demnächst in Berlin unternimmt. Dort wird zum 1. Oktober 1917 das Köllnische Gymnasium in ein verkürztes Realgymnasium umge­ wandelt, das ausschließlich für hochbegabte Knaben bestimmt ist, die aus der ersten (obersten) Klasse der Berliner Gemeindeschulen kommen Und nach weiteren 6 Jahren die Reifeprüfung ablegen können. Die Auswahl für die neue Anstalt geht folgendermaßen vor sich: die Rektoren der Gemeindeschulen machen ihre begabtesten Schüler namhaft, und aus diesen werden von den Psychologen Piorkowsky und Moede auf Grund sorgfältiger Prüfung unter dem Beisein eines Stadtschulrats und des Direktors wiederum die besten ausgesucht.

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bedeutend weniger auf eine allgemeine Förderung als auf den Erwerb sprach­ lichen Wissens und auf Fertigkeit im Rechnen hingearbeitet werde. Ich kann hier nm wiederholen, was ich gelegentlich in meiner Schrift „Die Ergebnisse und Anregungen des Kunsterziehungstages zu Weimar" (1904) gesagt habe, daß man nämlich die Vorschulen vielfach noch nicht als eigentliche Bildungsanstalten zu betrachten scheint, sondern als Stätten, wo die Schüler im Laufe von drei Jahren in einer Reihe von Fertigkeiten „so weit gebracht" werden, daß die Bildung beginnen kann. Die Vorschulen sollten in keinem Falle bloße Ab­ richtungsanstalten sein, sondem stets einen wahrhaft pädagogischen Geist atmen, wie es nach meiner Erfahrung z. B. in vielen mittleren und höheren Mädchen­ schulen der Fall ist, bei welchen Schulgattungen man früher auch amtlich den irreführenden Namen ^.Vorschulen" nicht kannte, sondem wo das, was man jetzt nach dem Übeln Vorbilde der höheren Knabenschulen als Vorschulen oder Vorklassen bezeichnet, für einen wesentlichen Teil der ganzen Bildungsanstalt galt und für deren gesamtes pädagogisches Leben vielfach eine nicht zu unter­ schätzende Kraftquelle bedeutete und auch jetzt noch bedeutet. Nach alledem dürfte bei ruhiger und allseitiger Überlegung die Sache einfach

so liegen: will man nun einmal durchaus die Einheitsschule, d. h. hier die ge­ meinsame Grundschule für die ersten Schuljahre, so untersage man die Privat­ schulen (auch in Gestalt der sogenannten Familienschulen!), setze die Schüler­ zahlen in den entsprechenden Klassen angemessen herab und lasse, wenn die bisherigen Anfordemngen in den dann vorschullosen mittleren und höheren Schulen weiterbestehen sollen (wie übrigens auch der Elberfelder Stadtschulrat und Kreisschulinspektor Dr. O. Schumann — Kölnische Zeitung vom 9. IM 1916 — unter Berufung aus die Verhältnisse im Königreich Sachsen und in Bayern vorgeschlagen hat), die Kinder erst mit dem vollendeten vierten Schuljahr in diese Anstalten eintreten. Alles andere wäre nur Halbheit und Flickwerk. Und dann noch eins, was zu bemerken leider nicht überflüssig erscheint: man trage den Hahn nicht auf, bevor der Turm gebaut ist, d. h. man schaffe erst die Vorbedingungen, ehe man die Einheitsschule in dem angegebenen Sinne wirklich ins Leben ruft! Die Freunde der Einheitsschule im engeren und im weiteren Sinne erhoffen von der Verwirklichung ihrer Vorschläge eine für die kommende Zeit allerdings hochbedeutsame Auslese der Tüchtigen. Es fragt sich aber, ob sich eine solche Auslese in angemessener Weise mehr als bisher nicht auch, und vielleicht noch besser und zweckmäßiger, unter Anlehnung an die gegenwärtige Ordnung der Dinge, also ohne „grundstürzende Veränderungen" bewirken läßt. Die Zeiten sind noch lange nicht vorbei, und vielleicht ist es hin und wieder jetzt noch so, daß ein Schulaufsichtsbeamter, wenn er die Leistungen einer Volks­ schule prüfen wollte, zuerst nach den Schwachen fragte, sich dann bei diesen am meisten aufhielt und sich vorwiegend nach ihnen das Urteil bildete. Dieses Verfahren hatte nach der einen Seite freilich den Vorteil, daß einer etwaigen Vernachlässigung der Schwachen entschieden vorgebeugt wurde. Da aber andrerseits die Fürsorge für die Schwachen noch nicht ohne weiteres verbürgt,

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daß auch die Tüchtigen zu ihrem Recht kommen, so lag die Gefahr nahe, daß die Tüchttgen zum Vorteil der Schwachen geschädigt wurden, d. h., daß man ihre größeren Kräfte nicht genügend ausnutzte; und in der Tat hat es wenigstens in der Volksschule eine derartige Bevorzugung, man könnte fast sagen einen Kultus der Schwachen, auf Kosten der Tüchtigen gegeben. Selbst heute noch kann man mit einiger Berechügung sagen, daß die Tüchtigen zugunsten der Schwachen etwas in den Hintergrund treten müssen. Das ist schon an gewissen Äußerlichkeiten wahrzunehmen. Wer z. B. jemals an einer Tagung des Verbandes deutscher Hilfsschulen teilgenommen hat, der wird sich über die glänzende Veranstaltung gewundert haben. Staatliche und städtische Würdenträger bis hoch hinauf drängen sich hier nur so, während die gewöhnlichen pädagogischen Versammlungen, die sich doch mit dem Wohl der leistungsfähigeren und daher gesellschaftlich wertvolleren Jugend beschäftige,:, jener Beachtung und Zier in viel geringerem Maße teilhaftig werden. Für Kinder, die, ohne in die Hilfsschule zu gehören, doch im Unterricht nicht genügend vorwärts kommen, hat man an manchen Orten sogenannte Förder­ klassen mit geringer Besetzung und ausgewählten Lehrkräften gebildet und sie, wenn auch mit vielleicht etwas erhöhter Besuchsziffer, sogar während des Krieges, zur Zeit des empfindlichsten Lehrermangels, im Betrieb gelassen; aber von einer besonderen Förderung der Tüchtigen, denen doch die Zukunft unseres Volkes in ganz anderm Maße in die Hand gegeben ist als den Schwachsinnigen und Schwachen, verlautet nichts, abgesehen von einigen örtlichen Ausleseversuchen, die so verwickelt und gewagt sind, daß sie, wie das bekannte „Mannheimer System" Sickingers, keinen dauernden Erfolg und Bestand versprechen, und abgesehen ferner von der Verleihung einiger Freistellen an begabte Kinder unbemittelter Eltern zum Besuche mittlerer und höherer Schulen. Allerdings kann nicht bestritten werden, daß die Volksschule zum Vorteil der Besseren schon durch die zeitweilige oder dauernde Entlastung, wie sie durch die Förderklassen und durch die Hilfsschulen bewirkt wird, eine gewisse Förderung erfährt. Man sollte aber doch meinen, wie für die ganz Schwachen besonders gesorgt wird durch die Hilfsschulen, so müßten für die besonders Tüchttgen ebenfalls gewisse Vorkehmngen getroffen werden. Das könnte auch leicht geschehen. Der Lehrplan der Volksschule ist so reichhalttg, daß man bei einem (obern) Gegenstück zur Hilfsschule aus dem Volks­ schulrahmen gar nicht herauszutreten brauchte, um für besonders Begabte reichliche Arbeit zu finden. Ich denke mir die Sache so, daß vor allem in größeren und mittleren Städten vorzügliche Schüler und Schülerinnen im lernkräfttgsten Alter von etwa elf Jahren auf Grund sorgfältiger Prüfung aus den entsprechenden Klassen der Volksschulen ausgewählt und zu besondern, mäßig zu besetzenden Klassen vereinigt würden, wo sie dann noch drei Jahre vor sich hätten, in denen sie ihren größem Kräften gemäß gefördert werden könnten, selbstverständlich ohne daß die Eltem Schulgeld zu zahlen hätten. Auf dem Lande freilich wäre eine solche Einrichtung aus naheliegenden Gründen schwer zu ermöglichen, wie man dort ja auch kaumHilfsschulen einrichten kann. Doch was sich durchaus nicht machen läßt, muß eben unterbleiben, wenn nur sonst geschieht, was geschehen kann.

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Junge Leute beiderlei Geschlechts, die solche gehobene Volksschulklassen dmchgemacht hätten, würden auch ohne Berechtigungsschein im beruflichen Leben ihr gutes Fortkommen finden, denn es gibt im Handwerkerstände, im Geschäftswesen und im Fabrikbetriebe sowie in der Landwirtschaft sogenannte bessere Beschäftigungen genug, bei denen eine gute Volksschulbildung voll­ kommen ausreicht, jedenfalls besser ist, als etwa mangelhafte Kenntnisse und Fertigkeiten, die auf dem Unterrichtsgebiete mittlerer und höherer Schulen erworben sind. Es erhebt sich nun noch die Frage, ob die Einheitsschule, statt bis zum dritten oder vierten Schuljahre, nicht zweckmäßig bis zur Abzweigung der gehobenen Volksschulklassen auszudehnen sei, da alsdann auch die mittleren und höheren Schulen eher die Möglichkeit hätten, nur wirklich befähigte Schüler aufzunehmen und nicht mehr zum Nachteil der Tüchtigen soviel Ballast zu schleppen hätten. Darauf wäre zu sagen, daß die mittleren und höheren Schulen sich auch ohnedies von mangelhaft befähigten Schülem freihalten könnten und befreien sollten. Tun sie das, dann gedeiht die ihnen anvertraute und in ihnen verbleibende Jugend unstreitig besser als in einer Einheitsschule, die anstatt bis zum dritten oder vierten Schuljahr bis zum elften oder zwölften Lebensjahre reichte, ganz abgesehen davon, daß der fremdsprachliche Unterricht bei der verlängerten Einheitsschule zu spät kommen würde, er müßte denn nach dem Vorschläge Reins als Nebenunterricht eingerichtet werden, was aber, wie schon Schumann eingewandt hat, leicht zur Uberbürdung führen dürfte. Obwohl nun, worauf namentlich Hartnacke hingewiesen hat, die Vor­ schüler und Vorschülerinnen, wenn auch durchaus nicht in allen Einzelfällen, so doch im allgemeinen schon eine Art Auslese bilden, und es erfahrungs­ gemäß durchaus unberechtigt wäre, gerade aus den niedersten Volksschichten die besten Kräfte zu erwarten, so ist doch nicht zu ver­ gessen, daß die Zuführung zur Vorschule vielfach als eine Art Versicherung auch recht wenig begabter Kinder zum Übergang in die höhere Schule gilt und sich als solche „bewährt" hat, während hingegen tüchtige Kinder, die aus den Volksschulen kommen, bei etwaigem Platzmangel zurückstehen müssen, wenn sie auch die Aufnahmeprüfung gut bestanden haben oder bestehen würden. Das ist entschieden ein persönliches Unrecht und auch sachlich nicht gerechtfertigt. Ich selbst habe diesem Ubelstande in der von mir geleiteten Anstalt in der Weise zu begegnen gesucht, daß ich wenigstens die schriftlichen Prüfungsarbeiten, die den Aufnahmesuchenden aufgegeben wurden, auch von den Schülerinnen der entsprechenden Vorschulklassen machen ließ, und daß dann in erster Linie nach dem Vergleichsergebnisse über die Versetzung aus der Vorschule und über die Neuaufnahme entschieden wurde. Ich trete aber vollständig der Forderung Schumanns bei, daß die Borschüler gemeinsam mit den andern eine Prüfung abzulegen hätten, und zwar nicht bloß, wie Schumann allerdings zu befür­ worten scheint, in Sprachlehre und Rechnen, sondern derart, daß die gesamten geistigenFähigkeitenund Kenntnisse inAnspruch genommen würden. Um die Unparteilichkeit bei der Aufnahme und Versetzung auch äußerlich sicher­ zustellen, würde es sich empfehlen, daß die Prüfung unter Anwesenheit und

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Mitverantwortung eines Vertreters der Schulaufsichtsbehörde stattfände. Dieser Weg scheint mir viel zweckmäßiger zu sein als die vom preußischen Kultusminister angeblich in Aussicht genommene Aufnahme auf Grund einer lediglich von der Volksschule ausgesprochenen Befähigung?) Wenn dann noch bei den späteren Versetzungen nicht allzu milde verfahren wird, so werden besondere Maßnahmen zur Förderung der Tüchtigen in den mittleren und höheren Schulen lange nicht in dem Maße nötig sein wie in den niederen. Für die wenigen Pferde, die doppeltes Futter brauchen, dürfte namentlich im reiferen Schulalter durch Anregungen und Hinweise des Lehrers im Anschluß an den Klassenunterricht leicht Rat geschafft werden können. Allerdings weiß man aus Erfahrung sehr gut, daß Aufnahmeprüfungen recht trügerisch sein können, namentlich was mehr noch als die Beurteilung der vorhandenen Kenntnisse und Fertigkeiten die Feststellung der allgemeinen geistigen Fähigkeit betrifft. Viel mehr Sicherheit würde den höheren Schulen die allgemeine Durchführung einer Einrichtung bieten, die in Preußen nur da geduldet werden soll, wo zwar Mittelschulen vorhanden sind, höhere Schulen aber fehlen. Hier wird nämlich den Mittelschulen gestattet, eine Reihe von Jahren unter Anlehnung an den Lehrplan einer höheren Schule zu arbeiten, so daß die Schüler und Schülerinnen später, wenn sie anderwärts zur höheren Schule übergehen wollen, schon eine Art Probezeit hinter sich haben, die einigermaßen ein Urteil darüber zuläßt, ob der Knabe oder das Mädchen den Anforderungen einer höheren Schule gewachsen sein wird. Würde aber das, was jetzt Ausnahme ist, einigermaßen zur Regel, so wäre es gut, wenn in den preußischen Bestimmungen über das Mittelschulwesen eine Stelle in Wegfall käme, die der Klarheit entbehrt und sehr leicht eine Deutung erfahren kann, die vielleicht nicht mit der Absicht des Bearbeiters übereinstimmt. In den „Vorbemerkungen" heißt es, die Mittelschule habe die Aufgabe, „unter Vermeidung auch des Scheines wissenschaftlichen Betriebes die Kinder in chrem Lebenskreise heimisch zu machen und sie zu befähigen, sich in ihrem späteren Lebensberufe zurechtzufinden." Es ist hier nicht klar, was die schon in der Form ausfällige Untersagung „auch des Scheins wissenschaftlichen Betriebes" bedeuten soll. Man könnte zunächst denken, es handle sich um Auswahl und Umfang des Lehrstoffs; aber schon der Umstand, daß solchen Mittelschulen, die auf den Besuch höherer Schulen vorbereiten, die Anlehnung an den Lehrplan dieser Schulen gestattet ist, weist darauf hin, daß zwischen den mittleren und höheren Schulen wenigstens auf der Mittelstufe keine unüberbrückbare Kluft besteht. Und in der Tat, wenn man z. B. die Lehrpläne der Mädchenmittelschulen und der höheren Mädchenschulen vergleicht, so findet man kaum etwas, wodurch die scharfe amtliche Unterscheidung im Betriebe erklärt werden könnte. Daß die J) Nachträglicher Zusatz: Nur so hätte auch der am 22. Februar 1917 vom Unter­ richtsausschuß des preußischen Abgeordnetenhauses beschlossene Antrag einigen Sinn: „die Staatsregierung zu ersuchen, Maßnahmen insbesondere für die Volksschulen zu treffen, durch welche die Aufnahme in höhere Schulen den Volksschülern unter nicht ungünstigeren Bedingungen ermöglicht wird als den Vorschülern."

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Ziele des Lyzeums, der ein Jahr länger dauernden Schulzeit entsprechend, für die Oberstufe etwas weiter gesteckt sind und von den Zielen der Mädchenmittel­ schule hier auch sonst etwas abweichen, reicht doch an und für sich nicht aus, um einen so scharfen Schritt zu rechtfertigen. Soll es aber heißen, die Mittelschule habe mehr auf das praktische Leben vorzubereiten, das Lyzeum aber habe mehr die Einfühmng in die Wissenschaft um ihrer selbst willen im Auge zu behalten, so wird man sagen dürfen, daß das Lyzeum, wenn anders es eine gesunde Einrichtung sein soll, doch wohl ebenfalls die Aufgabe hat, die Schülerinnen „in ihrem Lebenskreise heimisch zu machen und sie zu befähigen, sich in ihrem späteren Berufe zurechtzufinden." Die Lebens­ kreise der Schülerinnen beider Schulgattungen liegen aber keineswegs sauber getrennt nebeneinander, sondern sie schneiden sich, wenn sie sich in vielen Fällen nicht gar decken, und mit den Lebensberufen ist es nicht anders, wenn man davon absieht, daß die Schülerinnen der Lyzeen nach Erfüllung gewisser er­ gänzender Bedingungen (Besuch des Oberlyzeums usw.) später die Hochschule besuchen können und so den Zugang zu Berufen erhalten, die den Schülerinnen der Mädchenmittelschulen allerdings verschlossen sind. Man würde es zur Not noch verstehen können, wenn zwischen den Mädchenmittelschulen und den Studienanstalten für das weibliche Geschlecht ein solcher Unterschied im Betriebe gemacht wäre, obwohl der Berliner Universitätsprofessor Ferdinand Jakob Schmidt in dem Norrenbergschen Sammelbuche eine Abkehr von der Ge­ lehrtenschule zur Erziehungsschule fordert und zur Überleitung in den rein wissenschaftlichem Betrieb der Hochschulen besondere Vorkehrungen in den Hochschulen selbst getroffen haben will. Es kann auch nicht gut sein, daß bei der Untersagung „auch nur des Scheines wissenschaftlichen Betriebs" an das Lehrverfahren in psychologischer Hinsicht gedacht werden soll. Der verstorbene Direktor O. Frick von den Franckeschen Stiftungen, der doch auch etwas vom wissenschaftlichen Betriebe verstand, pflegte zu sagen, in pädagogischer Beziehung sei die Volksschule die Hochschule für die höhere, und der Bearbeiter der Bestimmungen für das Mittelschulwesen in Preußen, Geheimrat Schöp p a, stand Frick in pädagogischer Hinsicht viel zu nahe, als daß ich glauben könnte, er habe sich hier im Widerspruch mit ihm befunden. Also der Sinn des Satzes von der Vermeidung „auch des Scheines wissen­ schaftlichen Betriebes" bleibt im Dunkel und bedarf um so mehr der Aufhellung, als vielfach die Vermutung aufgetreten ist, man habe sich überhaupt nichts Rechtes dabei gedacht, sondern es handle sich dabei wahrscheinlich um eine bloße Freundlichkeit gegen die Lehrer höherer Schulen, die schon seit längerer Zeit nachdrücklich und immer wieder den Ruf nach „reinlicher Scheidung" erhoben haben, und von denen denn auch manche, man weiß sonst nicht recht weshalb, gar sehr die gesunde GruMage zu rühmen wissen, die die Mittelschule durch die neuen Bestimmungen erhalten haben soll. Freilich würde die Probezeit bei „wissenschaftlichem Betrieb" — wie man ihn denn auch verstehen mag — durchaus noch nicht unter allen Umständen die volle Gewißheit darüber bringen können, ob einem Kinde der Besuch einer höheren Schule unbedingt anzuraten sei; denn es kommt nur zu oft vor, daß

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die geistige Entwicklung bis zum zehnten oder elften Jahre günstig, ja sehr günstig verläuft, daß aber dann die Leistungsfähigkeit, statt weiter zu wachsen, stehen bleibt oder gar nachläßt. Auch in der Zeit der angehenden Geschlechts­ reife treten manchmal dauernde Veränderungen ein, die sich nicht ohne weiteres voraussehen lassen. Es steht auch durchaus nicht so, daß sich von jungen Leuten, die sich im Schulbetrieb nicht wohl fühlen und im Lernen gern ihre eigenen Wege gehen, mit einiger Sicherheit später etwas Tüchtiges erwarten läßt, wie man zu glauben versucht sein könnte, wenn man Ostwalds Werk „Große Männer" liest. Mit den Ostwaldschen Beispielen mag es seine Richtigkeit haben, aber wenn man sich die Mühe geben wollte, würde sich leicht zeigen lassen, daß es doch ungleich mehr „kleine Männer" gibt, die es in dieser Beziehung den großen in der Jugend mindestens gleich getan galten1). x) Nachträglicher Zusatz: In diesem Sinne äußert sich neuerdings auch sehr scharf Prof. Dr. Georg Biedenkapp im zweiten Juliheft 1917 des „Türmers" („Die Probleme des Tüchtigen"). Ich setze seine Worte hierher, da es dringend notwendig erscheint, noch recht­ zeitig einer unter Umständen verhängnisvollen Zeitströmung entgegenzuwirken: „Niemand hat annähernd so viele Beispiele (von später tüchtigen „Schultaugenichtsen") gesammelt wie ich in meinem Buche „Schultaugenichtse und Musterschüler" (1907). Es ist mir aber nie ein­ gefallen, so unsinnige Behauptungen aufzustellen, wie sie seither in allen möglichen Tages­ zeitungen und Zeitschriften von geistiger Halbwelt beliebt und gewissermaßen zur Verherr­ lichung des eigenen, nie viel wert gewesenen Ichs unterstrichen werden: „alle großen Männer hätten in der Schule nichts getaugt" oder „nie sei ein Mann von eigenem Kem ein Musterknabe gewesen." Schon der grobfädige flitteratenhafte Verfasser von Schulhumoresken, Ernst Eckstein, hat in dieser Beziehung viel gesündigt. Von solchen Flitteraten ist geradezu ein Makel auf die Tüchtigkeit des Musterknaben geworfen worden: als kämen Begabung und Fleiß, leichte Auffassung und ernster Wille, spielende Bewältigung der Schulanforderungen und dabei doch auch sorgfältige Pflichterfüllung nicht zusammen vor. Moltke, Schiller, Rückert, Senefelder, Heinrich v. Stephan, die meisten hervorragenden Fachgelehrten und Schulmänner waren Musterknaben. Jene Halbweltler des Geistes, die das Musterknabentum in Vermf zu bringen trachten, wissen und bedenken nicht, wieviel Denkkraft und Scharfsinn bei wissenschaftlichen Arbeiten und im Schulunterricht benötigt wird, ohne daß fragwürdiger Zeitungsruhm oder Jahrhundertglanz damit verbunden ist. Gewiß, mancher Musterknabe enttäuscht später, und die große Zahl schlechter Schüler, die später berühmte Entdecker und Erfinder wurden, sind für die Psychologie der Erfindungen und Entdeckungen ein beachtenswerter Umstand — im genannten Werke ist dies ausführlich begründet —, aber in den Musterknaben schlechtweg nicht die besten Köpfe zu sehen, wäre eine Übereilung." Da die Verächter der Musterknaben sich zuweilen auch auf Bismarck berufen, so sei hierher erwähnt, was Prof. Zelle in der soeben erschienenen „Festschrift zum 25jährigen Jubiläum des Vereins für die Geschichte Berlins" (nach der Kölnischen Zeitung vom 26. Juli 1917) über das Ergebnis der Reifeprüfung am Gymnasium zum „Grauen Kloster" 1832 mitteilt. Bismarck, der damals erst 17 Jahre alt war, während das Durchschnittsalter der 19 Reifeprüflinge 19% Jahre betrug, erhielt mit 7 andern die Nummer 2 gegenüber 8, die Nummer 3 bekamen. Im Zeugnis Bismarcks heißt es von seiner Aufführung: Stets anständig und wohlgesittet; von seinem Fleiß: zuweilen unterbrochen, auch fehlte seinem Schulbesuch unaus­ gesetzte Regelmäßigkeit. In den einzelnen Fächern wies das Zeugnis auf: gut in Deutsch, Französisch, Englisch, ziemlich gut in Griechisch, befriedigend in Mathematik, Geschichte und Erdkunde. Bei der mündlichen Prüfung, die am 3. April 1832 erfolgte, war er jedoch in Geschichte und im Tacitus der beste. Von Bismarcks Schulkameraden ist eine große Anzahl im öffentlichen Leben bekannt geworden, so Ernst Köpke, der Direktor der Ritterakademie in Brandenburg, Julius Friedländer als Direktor des Münzkabinetts, Rudolf Tirpitz, Vater des Großadmirals, Eduard Zimmermann, Mitglied des Frankfurter Parlaments und des Stuttgarter Rumpfparlaments, 1850 wegen Hochverrats verurteilt und erst 1861 amnestiert, Julius Ewald, Geologe und Mitglied der Beriner Akademie, Wilhelm v. Giesebrecht, Professor an der Münchener Universität, ferner die Oberregierungsräte v. Parbandt und Bamihl, andere als Ärzte, Räte, Professoren usw.

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Neuerdings haben namhafte Psychologen, wie besonders Alfred Binet in Frankreich und William Stern bei uns, den an sich gewiß nicht unverdienst­ lichen Versuch gemacht, durch Aufstellung von sorgfältig erwogenen Frage­ gruppen die sichere Enthüllung des jeweiligen Grades der Verstandesent­ wicklung bei Kindern zu ermöglichen; aber diese „Jntelligenzprüfungen", die bei der Feststellung von schwereren oder auch leichteren Fällen von Schwach­ sinn bereits gute Dienste leisten mögen, dürften zu einer sicheren Beurteilung der künftigen geistigen Leistungsfähigkeit anderer Kinder doch noch lange nicht ausreichen, und bei der ungemein verwickelten Natur des Seelenlebens erscheint es sehr fraglich, ob das jemals gelingen wird, selbst wenn wir einmal den von gewisser Seite auch nach dem Urteil von hervorragenden Vertretern der Versuchspsychologie, wie Marbe, etwas voreilig verlangten „Schulpsycho­ logen", ein Seitenstück zum Schularzt, bekommen sollten. Diese Unsicherheit der Voraussage würde besonders mißlich sein, wenn man der in unsern Tagen aus Anlaß des Krieges ausgegebenen, an sich sehr schönen Losung: „Dem Tüchtigen die Bahn frei!" hauptsächlich in der Weise folgen wollte, daß man in bedeutend größerem Umfang als schon bisher Kindern un­ bemittelter Eltern, wenn sie Gutes versprechen, den unentgeltlichen Besuch höherer Schulen ermöglichte und sogar die Kosten für den Aufenthalt auf der Hochschule trüge. Es bestände dann die Gefahr, daß man unter Aufwendung öffentlicher Mittel die ohnehin nicht unbeträchtliche Zahl der Mittelmäßigen noch ver­ mehrte, die in andem Lebenslagen vielleicht Gutes hätten leisten und sich hier hätten wohl fühlen können, in gehobener und unter Umständen für die Gesellschaft doppelt verhängnisvoller Lebensstellung aber wegen ihrer Un­ fähigkeit mit sich und der Welt zerfallen. Noch lange nicht jedem jungen Menschen, der einmal Gutes zu versprechen schien, ist die Erleichterung seines Aufstiegs zum Heil gewesen, sei es nun, daß sich später seine Kräfte entgegen eigenen und fremden Erwartungen als nicht ausreichend erwiesen; sei es, daß durch die Vergünstigungen Ansprüche in ihm großgezogen wurden, die keine Be­ friedigung finden konnten oder, wenn sie dennoch befriedigt wurden, sich zu einem dünkelhaften Wesen auswuchsen, das weit entfernt war, durch treue Hingabe an die Gesellschaft den angemessenen Dank für die ihm widerfahrene Förderung abzustatten. Es hat ja auf den ersten Blick etwas Bestechendes, wenn Ostwald ausführt, jeder Mensch habe von Natur ein bestimmtes Maß von Energie, das unter keinen Umständen vergeudet werden dürfe, sondern zeitig in die richtigen, an der besonderen Begabung erkennbaren Bahnen gelenkt werden müsse. Sieht man aber etwas genauer zu, so erheben sich, auch abgesehen von der Schwierig­ keit, die dauerhafte Begabung zu erkennen, mancherlei ernsthafte Bedenken. Zunächst fragt es sich noch sehr, ob der Ostwaldsche Energiebegriff sich so ohne weiteres auf das seelische Gebiet übertragen läßt. Es könnte doch auch sein, daß die Energie nicht unterschiedslos eine wäre, die beliebig in die verschiedenen Kanäle fließen würde, sondern daß es besondere Energien für besondere Gebiete gäbe. Wäre es dann unter allen Umständen notwendig, der Energie frühzeitig einen möglichst mühelosen Weg zu bahnen und sie gleichsam tropfenweise ver-

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rinnen zu lassen? Hätte nicht vielmehr eine gewisse Stauung, die dann mit gesteigerter Kraft die Hindernisse durchbräche, nicht auch ihren — vielleicht noch größeren — Wert? Wenn es von Raffael heißt, er wäre auch dann ein großer Maler geworden, wenn ihm bei der Geburt die Hände gefehlt hätten, so soll damit auf die dem wirklichen innern Beruf entspringende Kraft der Überwindung von Hindernissen hingewiesen werden, die schließlich trotz allem zum Erfolge führt. Wer will von der „schwedischen Nachtigall" behaupten, sie würde als Sängerin noch mehr geleistet haben, wenn ihr die Eltern nicht allerlei Schwierig­ keiten in den Weg gelegt hätten, ihrer Neigung zu folgen, oder Uhde wäre ganz sicher ein noch bedeutenderer Maler geworden, wenn seine Bahn für diesen Beruf durch einen von Anfang an besser geeigneten Unterricht geebnet worden wäre, als er ihn in Düsseldorf empfing? Fraunhofer, der spätere Professor und Entdecker der nach ihm benannten Linien im Spektrum, war noch in seinem 14. Lebensjahre ein mit dürftigster Schulbildung versehener Glaserlehrling, und Wilhelm Bauer, ein ehemaliger Drechslergeselle wurde der Erfinder des Unterseeboots. Doch wenn man auch auf diese Bedenken kein Gewicht legen will, so gibt es wenigstens eins, das sich nicht so leichthin übergehen läßt und hier um so weniger übergangen werden darf, als es sich auch gegen die neuerdings viel beachteten Ausfühmngen Kerschensteiners richtet, in denen die Fordemng der „Vielseitigkeit des Interesses", wie sie von Her bart und seinen Anhängern erhoben worden ist, bekämpft wird. Es ist zwar schon seit längerer Zeit nicht unbedenklich, auf Herb art und Ziller zustimmend zurückzugreifen, wenn man in weiteren pädagogischen Kreisen williges Gehör finden will, weniger weil alles das, was jene Männer in Sachen der Erziehung gelehrt haben, wirklich überwunden wäre, als vielmehr, weil sich die Pädagogik der neueren Zeit so lange bei ihnen aufgehalten hat, daß viele gern endlich einmal etwas Neues hören möchten und unwillig werden, wenn man ihnen immer wieder mit den, wie sie gern sagen, veralteten Dingen kommt. Unsere Zeit, die Zeit des großen Krieges, ist aber, wie ich glaube, sehr dazu angetan, daß in mancher Beziehung auf diese „veralteten Dinge" zurück­ gewiesen wird, so unter anderm auch, gleich hier, auf die Fordemng der „Viel­ seitigkeit des Interesses". Zu den tröstlichsten Nachrichten, die wir über unsere Truppen aus dem Felde erhalten, gehört es zweifellos, daß sie bei dem langen Liegen in Feindes­ land, bei dem eintönigen Leben im Stellungskriege ein so reges und mannig­ faltiges geistiges Leben und ein so bedeutendes Vermögen der Anpassung an die verschiedensten Umstände und eine solche innere Standhaftigkeit zeigen; wie sie für allerlei Dinge Sinn haben und so dem entnervenden, zermürbenden Einflüsse der Langeweile entgehen. Die Kriegsberichterstatter können diese geistige Verfassung nicht genug rühmen, und die Feldpostbriefe legen von ihr beredtes Zeugnis ab. Hier zeigt sich, das wird auch von allen Einsichtigen anerkannt, die Wirkung einer guten Schulbildung. Würde das aber auch so sein, wenn die Schule, die ihre ehemaligen Zöglinge jetzt im Felde hat, darauf ausgegangen wäre, die Vielseitigkeit des Interesses beiseite zu schieben und die

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geistige Ausbildung in — man gestatte den Ausdruck — amerikanische Bahnen zu lenken, wie es leider auch in Deutschland vielfach, und nicht ohne jede Aussicht auf Erfolg an einflußreichen Stellen, empfohlen wird? Doch noch mehr! Herbart hat wiederholt darauf hingewiesen, und Ziller hat in seiner „GruMegung zur Lehre vom erziehenden Unterricht" (§ 17) ausführlich dargelegt, welch große Bedeutung der Vielseitigkeit des Interesses zukommt „als Rettungsmittel bei den Stürmen des Schicksals". Da einer ge­ wissen Einseitigkeit des Unterrichts, nämlich in der Richtung besonderer Begabung, nicht selten das Wort geredet wird unter Hinweis auf die angebliche Bedeutung für das bessere Fortkommen im Leben, so sind die Ausführungen Zillers auch heute noch im höchsten Grade beachtenswert, denn er zeigt, wie das vielseitige Interesse einem fruchtbaren Boden gleicht, aus dem immer wieder neues Wachstum hervorkommt, wenn Mtes vernichtet ist, wie bei vielseitigem Interesse der Mensch, dessen Dasein nicht sozusagen an einem Faden hängt, sich immer wieder aufzurichten und zurechtzufinden weiß, wenn seine gewohnten Da­ seinsbedingungen durch schlimme Wechselfälle des Berufslebens zerstört werden. Wäre die „GruMegung" nicht zu Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts geschrieben worden, sondern in unsern Tagen, in der Zeit des großen Krieges, so würde ihr Verfasser nicht nur die alltäglichen bösen Fälle des geschäftlichen Lebens besonders hervorgehoben haben, sondern auch die gewaltigen Störungen, die heutzutage so manches Menschendasein durch den Krieg erfährt. Man denke nicht nur an die schweren Vermögensschädigungen, die im Kriege ihren Ursprung haben, und die sehr viele nötigen werden, ihr Dasein auf einer andern Grundlage neu aufzubauen; man denke auch — und vor allem — an die Vielen, Allzuvielen, die durch Verstümmelungen schwerster Art für ihren bisherigen Beruf oder ihre bisherige Beschäfügung dauemd un­ tauglich gemacht werden und doch weiterleben müssen, die verzweifeln müßten, wenn es für sie nur eine einzige, die jetzt erloschene Lichtquelle gäbe und nicht noch andere, wenn auch kleinere Lichtlein, die das dunkle Dasein wieder einiger­ maßen erhellen und ihnen den Weg zur Ausfüllung trostloser innerer Leere zeigen können. Je vielseitiger ihr (nicht etwa von selbst, sondern erst durch recht­ zeitige und angemessene Pflege entstandenes) Interesse ist, um so weniger schwer wird es werden, ihrem Leben neuen Inhalt zu geben und sie, wenn auch in stark beschränktem Maße, erneut für die Gesellschaft nutzbar zu machen, anstatt daß sie dieser ganz und gar zur Last lägen?) Doch verlassen wir die, wie wir gesehen haben, nicht ganz einfache Frage, wie die Tüchtigen in der Schule zu ihrem besondern Rechte kommen können. Die Schule ist zwar der beste, aber schließlich doch nicht der einzige Ort, wo, namentlich in reiferen Jahren, etwas gelernt werden kann, und der wirklich *) Nachträglicher Zusatz: Neuerdings hat sich auch der Leipziger Nationalökonom und Philosoph Prof. Franz Eulenburg in seinem Aufsatz „Jugendkunde?" (Berliner Tageblatt vom 18. März 1917) gegen das allzu frühe Hinarbeiten auf die Berufsbildung gewandt. Unter anderm sagt er: „Der Ausgangspunkt für die Annahme einer besonderen Berufsbe­ gabung ist bei unsern sozialen Verhältnissen völlig verkehrt. Trotz einer modernen Gegen­ strömung halte ich darum die Forderung der Allgemeinbildung utiif der Allgemeinschulung keineswegs für so töricht, wie man sie jetzt oft hinstellt."

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Tüchtige wird auch neben und nach ihr die Gelegenheiten suchen und nützen, die ihm förderlich sein können, oder er wird auf dem Wege des Selbstunterrichts voran zu kommen suchen, der zwar seine Mängel, aber doch nicht nur Mängel hat, wie Beispiele beweisen. Wem Bebel nicht paßt, mag an Herbert Spencer denken, der nicht einmal eine regelrechte höhere Schulbildung erhielt, keine Universität besuchte und doch, nach Wundts Bezeichnung, „der letzte große englische Philosoph" wurde. Solchen von ihrer Lebenslage nicht begünstigten Tüchtigen sollte man wenigstens eine spätere Förderung zuteil werden lassen, indem man bei ihrer Verwendung im Dienste der Gesellschaft weniger darauf achtete, wo sie ihr Wissen und Können erworben haben, als vielmehr darauf, daß sie überhaupt etwas Ordent­ liches wissen und können. Es läßt sich gar nicht in Abrede stellen, daß in dieser Beziehung, namentlich in dem letzten Jahrzehnt vor dem Kriege, bei uns böse Zustände geherrscht haben, die zwar in dem überreichen Angebot an Kräften ihre Erklärung und teilweise Entschuldigung, aber nicht ihre volle gesellschaftliche Rechtfertigung finden.

Zum Beweise dafür nehme ich einen Fall aus dem Lehrerleben, der in seinem Kernpunkte durchaus nicht vereinzelt dasteht. Bis zur Neuregelung des höheren Mädchenschulwesens in Preußen geschah es hier vielfach, ja meistens, daß nicht nur in den obersten Klassen der höheren Mädchenschulen, sondern auch in den mit ihnen verbundenen Lehrerinnenbildungsanstalten seminarisch vorgebildete Lehrer, die die Mittelschullehrer- und fast immer auch noch die Rektorprüfung abgelegt hatten, und Lehrer mit Hochschulbildung nebeneinander arbeiteten, und zwar zur wiederholt bekundeten Zufriedenheit der höchsten Aufsichtsbehörde. Mit der Neuregelung wurde das wesentlich anders, und insbesondere aus den Lyzeen, den jetzigen Oberlyzeen, d. h. den Lehrerinnenpildungsanstalten, wurden Lehrer, die nicht Hochschulbildung hatten, wenn irgend angängig, hinausgedrängt, bisweilen in nicht gerade sanfter Weise. Wie mir der Direktor eines Lyzeums und Oberlyzeums in einer größeren west­ deutschen Stadt mitgeteilt hat, kam er in Verlegenheit, weil einem zwar laut Zeugnis zum Seminardirektor befähigten, aber nicht akademisch gebildeten Lehrer, der viele Jahre fang und mit gutem Erfolge den Unterricht in der

pädagogischen Psychologie erteilt hatte, dieser Unterricht genommen wurde, obwohl nach dem Urteil des Direktors eine in gleichem Maße geeignete Lehr­ kraft mit Hochschulbildung nicht zur Verfügung stand. Eine Eingabe an die Aufsichtsbehörde hatte keinen Erfolg, und ein junger, in diesem Fach wenig kundiger und gänzlich unerfahrener Akademiker mußte den Unterricht über­ nehmen, nachdem ihn der bewährte abtretende Lehrer auf Bitten des Direktors in seine neue Arbeit notdürftig eingeführt hatte!

Man darf nicht annehmen, daß so etwas in andern Berufen nicht vorge­ kommen sei. Bei dem starken Angebot an Kräften hat allenthalben die wirk­ liche Tüchtigkeit sehr oft lediglich der Abstempelung nach dem Bildungsgang weichen müssen. Bei den ungeheuren Verlusten, die der Krieg mit sich bringt,

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steht zu erwarten, daß für die nächste Zeit eine Änderung eintritt. Möchte es aber auch in der ferneren Zukunft heißen: „Dem Tüchtigen die Bahn frei!" Ein Stückchen Amerikanismus von dieser Art könnte uns wahrlich nicht schaden, wie gern wir ihn in mancher andern Beziehung auch entbehren möchten.

2. Vie Körperliche Erziehung Wenn ich zwischen körperlicher und geistiger — oder soll ich lieber sagen seelischer — Erziehung unterscheide, so möchte ich damit keineswegs der noch immer nicht ganz ausgestorbenen Auffassung Vorschub leisten, als handle es sich um zwei ihrem Wesen nach völlig gesonderte Tätigkeiten, von denen allerdings die eine auf die andere Rücksicht nehmen und mit ihr in Fühlung sein müsse, da sie sich doch nun einmal auf ein und dieselbe Person erstrecken. Es gibt streng genommen nur eine Erziehung, und diese hat zwei Seiten, d. h. man kann sie sowohl von der körperlichen wie von der geistigen Seite betrachten; aber zum Verstehen der einen Seite gehört auch das Verstehen der andern, und die körper­ liche Erziehung ist gleichzeitig in gewissem Umfange geistige und umgekehrt. Besonders deutlich würde sich das zeigen, wenn wir nicht nur dem Namen nach, sondem in Wirklichkeit eine Psychologie der Leibesübungen hätten, die zu schreiben nicht allzu schwer fallen dürfte oder doch nicht allzu schwer sein sollte für solche, die auf dem Gebiete der körperlichen Erziehung als Fachleute gelten wollen, zumal es an wertvollen Vorarbeiten in manchen neueren Gesamt­ darstellungen der Psychologie und der Physiologie, wie auch in vielen Einzel­ untersuchungen nicht fehlt. Bei den engen Beziehungen zwischen körperlicher und geistiger Erziehung wird man es daher nicht als Verstoß gegen meine Einteilung ansehen dürfen, wenn ich öfter von dem einen Gebiet auf das andre übergreife.

a) Die Dringlichkeit einer Verbesserung der körperlichen Erziehung. Was die Frage nach der körperlichen Erziehung gerade für die Zukunft so dringlich macht, ist der Umstand, daß unser Volk durch den gewaltigsten aller Kriege höchstwahrscheinlich eine erheblicheRassenschädigung erfährt. Freilich die jetzt schon Heranwachsende Jugend wird, falls nicht etwa ungenügende Emährung einen nachwirkenden verderblichen Einfluß hat, auch später keine wesentlich andre körperliche Verfassung aufweisen als die älteren Jahrgänge, die, soweit die Männer in Betracht kommen, ihre körperliche Tüchtigkeit in erstaunlichem Maße vor dem Feinde beweisen; ja sie wird vielleicht noch etwas günstiger gestellt sein, da ihr zum Zweck der körperlichen Ausbildung schon jetzt mancherlei Einrichtungen und Veranstaltungen zugute kommen, die früher lange nicht in dem gegenwärtigen Maße getroffen waren. Mlerdings würden diese Einrichtungen und Veranstaltungen in ihrer Wirkung wenig zu bedeuten haben, wenn es, wie man wohl behaupten hört, wahr wäre, daß sich die körperliche Beschaffenheit unseres Volkes in einem mehr

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steht zu erwarten, daß für die nächste Zeit eine Änderung eintritt. Möchte es aber auch in der ferneren Zukunft heißen: „Dem Tüchtigen die Bahn frei!" Ein Stückchen Amerikanismus von dieser Art könnte uns wahrlich nicht schaden, wie gern wir ihn in mancher andern Beziehung auch entbehren möchten.

2. Vie Körperliche Erziehung Wenn ich zwischen körperlicher und geistiger — oder soll ich lieber sagen seelischer — Erziehung unterscheide, so möchte ich damit keineswegs der noch immer nicht ganz ausgestorbenen Auffassung Vorschub leisten, als handle es sich um zwei ihrem Wesen nach völlig gesonderte Tätigkeiten, von denen allerdings die eine auf die andere Rücksicht nehmen und mit ihr in Fühlung sein müsse, da sie sich doch nun einmal auf ein und dieselbe Person erstrecken. Es gibt streng genommen nur eine Erziehung, und diese hat zwei Seiten, d. h. man kann sie sowohl von der körperlichen wie von der geistigen Seite betrachten; aber zum Verstehen der einen Seite gehört auch das Verstehen der andern, und die körper­ liche Erziehung ist gleichzeitig in gewissem Umfange geistige und umgekehrt. Besonders deutlich würde sich das zeigen, wenn wir nicht nur dem Namen nach, sondem in Wirklichkeit eine Psychologie der Leibesübungen hätten, die zu schreiben nicht allzu schwer fallen dürfte oder doch nicht allzu schwer sein sollte für solche, die auf dem Gebiete der körperlichen Erziehung als Fachleute gelten wollen, zumal es an wertvollen Vorarbeiten in manchen neueren Gesamt­ darstellungen der Psychologie und der Physiologie, wie auch in vielen Einzel­ untersuchungen nicht fehlt. Bei den engen Beziehungen zwischen körperlicher und geistiger Erziehung wird man es daher nicht als Verstoß gegen meine Einteilung ansehen dürfen, wenn ich öfter von dem einen Gebiet auf das andre übergreife.

a) Die Dringlichkeit einer Verbesserung der körperlichen Erziehung. Was die Frage nach der körperlichen Erziehung gerade für die Zukunft so dringlich macht, ist der Umstand, daß unser Volk durch den gewaltigsten aller Kriege höchstwahrscheinlich eine erheblicheRassenschädigung erfährt. Freilich die jetzt schon Heranwachsende Jugend wird, falls nicht etwa ungenügende Emährung einen nachwirkenden verderblichen Einfluß hat, auch später keine wesentlich andre körperliche Verfassung aufweisen als die älteren Jahrgänge, die, soweit die Männer in Betracht kommen, ihre körperliche Tüchtigkeit in erstaunlichem Maße vor dem Feinde beweisen; ja sie wird vielleicht noch etwas günstiger gestellt sein, da ihr zum Zweck der körperlichen Ausbildung schon jetzt mancherlei Einrichtungen und Veranstaltungen zugute kommen, die früher lange nicht in dem gegenwärtigen Maße getroffen waren. Mlerdings würden diese Einrichtungen und Veranstaltungen in ihrer Wirkung wenig zu bedeuten haben, wenn es, wie man wohl behaupten hört, wahr wäre, daß sich die körperliche Beschaffenheit unseres Volkes in einem mehr

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noch von innen heraus kommenden, als von außen verursachten, beständig fortschreitenden Niedergänge, in einer gewissen Entartung befände. Indessen scheint diese Ansicht mehr aus einem allgemeinen Gedanken als aus der Er­ fahrung hergeleitet zu sein, aus dem Gedanken nämlich, daß Völker in ähnlicher Weise alterten wie der einzelne Mensch, und daß sich nachgerade auch in unserm Volke diese Alterserscheinungen zeigen müßten. Vor dem Kriege hat man namentlich von der Entartung des französischen Volkes viel zu reden gewußt, wie aber die Haltung seiner Truppen je länger je mehr gezeigt hat, sehr mit Umecht. Was unser eigenes Volk betrifft, so hat ein sachkundiger Beurteiler, der gegenwärtig im Felde stehende Münchener Arzt Dr. Spier, im „Zeitgeist" darauf hingewiesen, daß z. B. unsere Sportsleute bedeutend mehr zu leisten vermögen als Männer des Mertums, die uns wegen ihrer Tüchtigkeit im Laufen und Springen so gewaltig gerühmt werden, und daß, was von der Gegenüberstellung einzelner Auserwählter gelte, auch bei der Gesamtheit zutreffe, wie sie sich in den Heeren darstelle: die Truppen Hinden­ burgs ständen in ihren Marschleistungen mindestens unübertroffen da, und ihre Widerstandsfähigkeit gegen die Unbilden der Witterung und andere ge­ sundheitswidrige Einflüsse sei stärker als die in den alten Zeiten, ganz bedeutend stärker als die mit Unrecht so gerühmte Widerstandsfähigkeit der Naturvölker. Wenn das alles richtig ist — und die bekannt gewordenen Tatsachen scheinen allerdings nicht dagegen zu sprechen—, so liegt kein Grund vor zu der Befürchtung, der angebliche Rückgang vollziehe sich mit einer solchen Kraft, daß eine Gegen­ wirkung auch durch gesteigerte Körperpflege nicht von wesentlichem Nutzen sein könne. Für das kommende Geschlecht aber, das wollen wir uns nicht verhehlen, scheint die Aussicht, wenn auch durchaus nicht hoffnungslos, so doch viel weniger günstig zu liegen. Die gesamte wehrfähige Männerwelt ist ins Feld gezogen, und wahr­ scheinlich kehrt weit, weit über eine Million Menschen, die einen guten oder doch leidlichen Nachwuchs erhoffen ließen, nicht wieder zurück. Der bedingungs­ lose Optimismus, der um das Auffinden von Trostgründen niemals verlegen ist und während des Krieges auch, besonders wenn schließlich alles gut geht, ganz sicher eine nicht zu unterschätzende Bedeutung hat, pflegt zwar mit Vorliebe von einer Auslese der Tüchtigsten auch im Kriege zu sprechen, und wenn man ihn hört, so sollte man meinen, wir bekämen wenigstens im ganzen und großen die Tüchtigsten wieder, und das verbürge einen, wenngleich in der Zahl be­ schränkten, so doch in der Beschaffenheit guten Nachwuchs. Mir scheint aber, daß Trommelfeuer, Maschinengewehre, Torpedos und Angriffe aus der Luft der Auslese recht wenig Raum lassen! Doch gesetzt auch, die Tüchtigsten kämen wieder, — in welchem Zustande werden dann nur zu viele wiederkommen! Mit solchen, die ihren Optimismus so weit treiben, daß sie den Krieg für eine Gesundungsanstalt halten, weil sie vielleicht gesehen haben, daß irgendein Soldat, der auf Urlaub kam, blühend aussah, war er auch nur sonnverbrannt, oder daß jemand im Felde kleine Leiden vergessen hat, die ihn vielleicht früher weit mehr als nötig beschäftigten, — mit solchen verlohnt es sich nicht zu reden.

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Freilich werden bei den körperlich Tüchtigen Verwundungen besser heilen, Krankheiten nicht so leicht eintreten und nicht so oft zum Tode führen; aber werden diese ehemals Tüchtigen, wenn ihnen die Rückkehr aus dem Felde beschieden ist, in der Beschaffenheit ihrer Muskeln und Nerven und Säfte auch dann noch so tüchtig sein und aus diesem Grunde einen guten Nachwuchs versprechen? Unverwüstliche Optimisten, die mit ihrer Sorglosigkeit während des Krieges , besser am Platze sind als nachher, werden allerdings auch bei dieser Frage nicht in Verlegenheit geraten.'Die Tatsache, daß beim Nachwuchs ja nicht nur der Vater, sondern auch die Mutter von Einfluß ist, verleitet sie bei ihrer ungemeinen geistigen Beweglichkeit leicht zu der Behauptung, auf den Vater komme es weniger an als auf die Mutter. Haben sie dann noch von der übrigens gar nicht über jeden Zweifel erhabenen Lehre gehört, daß schwächere Männer mit kräftigen Frauen vorwiegend Knaben zeugten, so folgern sie aus der vielleicht in Aussicht stehenden verhältnismäßigen Zunahme an Knabengeburten in einer noch ge­ wagteren Weise weiter, daß das kommende Knabengeschlecht auch besonders kräftig sein werde. Man redet in solchen Fällen von einer „mitleidigen Regung der Natur". Mit der Berufung auf die mitleidige Regung der Natur, die sonst für eine so gute Rechnerin gilt und alles genau bucht, läßt sich auch leicht über die große Gefahr weggleiten, die dem Nachwuchs von den in unserm Heere mehr als nur reichlich vorhandenen Geschlechtskrankheiten droht. Die Zeitungen wiederholen zwar von Zeit zu Zeit immer wieder, die Sache sei gar nicht so schlimm, wie man sie vielfach darstelle; aber wenn der Generalgouverneur von Belgien, v. Bissing, im preußischen Herrenhause zum Haushaltsplan die Einstellung eines Betrages zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten ge­ fordert hat, so wird er leider seine guten Gründe dazu gehabt haben, und die Fürsorge, die man schon jetzt durch Einrichtung von Beratungsstellen trifft, um den schädigenden Einfluß der aus dem Kriege mitgebrachten Geschlechts­ krankheiten zu verringern, weist auch nicht gerade auf eine günstige Lage der Dinge hin. Selbst die Mitteilung des Präsidenten im Reichsversicherungsamt, daß im Heere die Zahl der Geschlechtskranken, aufs Hundert berechnet, gegenüber der Zeit vor dem Kriege wesentlich heruntergegangen sei, kann den nicht sorglos machen, der bedenkt, wie gewaltig sich die Zahl der Soldaten durch den Krieg erhöht hat, und wie groß die Menge der Geschlechtskranken sein muß, wenn auch wirklich vom Hundert nur zwei damit behaftet sind; er wird es begreiflich finden, wenn man von kundiger Seite behauptet, daß aus dieser Ursache unserm Heere ein Ausfall von einigen Armeekorps entstehe. Rohleder glaubte schon am Ende des ersten Kriegsjahres berechnen zu können, daß die Geschlechts­ krankheiten in dem jetzigen Kriege zu einem künftigen Verlust von etwa 150 000 Geburten in Deutschland führen würden, und damit ist das Unheil noch lange nicht erschöpft, da es unter den mancherlei Erkrankungen genannter Art eine gibt, deren körperlich und geistig verheerende Nachwirkung kein Arzt, und sei er auch der tüchtigste, und bediente er sich auch der besten alten und neuen Mittel, mit voller Sicherheit ausschalten kann. Kinderärzte, sowie kundige und ärztlich

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wohlberatene Leiter von Hilfsschulen und Anstalten für schwer erziehbare Kinder würden über diesen Punkt in Zukunft noch viel mehr erzählen können als schon jetzt, wenn nicht Schweigen, wenigstens über die Einzelheiten, ihre gesetzliche oder doch selbstverständliche Pflicht wäre. Ähnliches dürfte von der Wirkung des zweiten großen Volksfeindes, des Alkohols, gelten. Im allgemeinen läßt sich ja die erfteuliche Tatsache nicht bestreiten, daß der Mißbrauch des Alkohols in unserer Zeit beträchtlich zurück­ gegangen ist, und beim Beginn des Krieges hat ihm ja auch unsere Heeres­ verwaltung nachdrücklich entgegengewirkt; ebenso dürfen wir wohl annehmen, daß auch jetzt noch die Truppen im Felde vor dauemd übermäßigem Alkohol­ genuß bewahrt werden. Wer aber gesehen hat, wie namentlich im zweiten Kriegswinter die zahlreichen Urlauber, zum großen Teil unter dem nötigenden Einflüsse von guten Freunden und Bekannten, sich keineswegs alle der wünschens­ werten Mäßigkeit befleißigten, der muß von Besorgnis erfüllt werden für das Geschlecht, das dem Kriegsurlaub seine Entstehung verdankt. Ein Berliner Blatt, das die Bedeutung des Kriegsurlaubs für die Bevölkerung besprach, bemerkte zwar in seiner Weise, der Soldatenjahrgang 1936 sei gesichert, und für die Zahl mag das vielleicht notdürftig gelten; was aber die Beschaffenheit betrifft, so darf man kaum so zuversichtlich sein. Zwar steht die schädliche Wirkung des gelegentlichen Alkoholrausches, in dem ein Kind gezeugt wird, nicht in gleichem Grade fest wie der Einfluß des Ge­ wohnheitstrinkers, der einer dauernden, das Keimplasma ergreifenden Ver­ giftung unterliegt; aber durchaus nicht nur der Volksglaube spricht sich dafür aus, sondern auch viele Ärzte urteilen in dieser Weise. Natürlich sind hier Feststellungen, wie sie z. B. Bourneville gemacht hat, nach der ganzen Sachlage wenig zuverlässig; doch dürften gerade für unsere Zeit die Wahrnehmungen von Bezzola (angeführt von Forel in seinem Buche „Die sexuelle Frage". 4. und 5. Ausl. 1906) sehr ins Gewicht fallen. Bezzola fand auf Grund der Ver­ arbeitung des statistischen Materials einer Jdiotenzählung in der Schweiz bei Anlaß einer allgemeinen Volkszählung (1900), daß die 9000 gezählten Idioten hauptsächlich während zwei kurzen Zeitabschnitten des Jahres gezeugt wurden, nämlich zur Zeit der Weinlese und der Fastnacht, wo am meisten getrunken wird, und zwar lag die Sache so, daß besonders in den weinbauenden Kantonen die Zeit kurz nach der Weinlese fast allein die gewaltige Zahl Zeugungen von Idioten aufwies. Diese beiden „Zeugungsmaxima" fallen aber in jene Jahres­ abschnitte, wo die Zeugungskurve die für übrigen Menschen am tiefsten herabgeht, während sie sonst im Sommer, namentlich zu Anfang, den höchsten Punkt erreicht. „Bestätigt sich diese Tatsache," sagt Forel, „so geht daraus hervor, daß auch die vorübergehende Mkoholvergiftung „blastophorisch" wirkt. Es bleibt hier nicht anderes übrig, als anzunehmen, daß, wenn eine Keimzelle gerade im Moment, während sie alkoholisiert ist, vom Körper ihres Trägers abgelöst wird und zu einer erfolgreichen Konjunktion gelangt, sie nicht mehr im stände ist, ihren normalen Zustand wiederzuerlangen, weil ihr die rasche Abwaschung durch den Stoffwechsel des Blutes fehlt, so daß sie blastophorische Minder­ wertigkeiten auf das aus ihr hervorgehende Wesen überträgt." Nach alledem Dar neue Deutschland In Erziehung und Unterricht.

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wird man es zum mindesten für sehr wahrscheinlich halten müssen, was viele Ärzte als sicher annehmen, daß auch hier, biblisch geredet, dem Kinde die Zähne stumpf werden, weil der Vater Schlehen gegessen hat. Natürlich würde der üble Einfluß einer Erzeugung im Rausch beim Kinde nicht nur in geistiger, sondern auch, und -erst recht, in körperlicher Hinsicht hervortreten. Doch damit ist die ungünstige Wirkung des Krieges auf das kommende Geschlecht noch keineswegs erschöpft. Man hat in früheren Zeiten viel von „vorgeburtlicher Erziehung" gesprochen in dem Sinne, daß die Gedanken und Gemütsbewegungen der Mutter während der Schwangerschaft auf das Kind übergingen und bei ihm auch später dauernden Einfluß hätten, also in erziehlicher Hinsicht günstig oder schädlich wirkten. In einem 1876 auch deutsch erschienenen Büchlein des Engländers Wright heißt es von der Mutter und dem Kinde unter ihrem Herzen wörtlich: „Das Schlagen ihres Herzens prophezeit das Schlagen des Kinderherzens in weiter, ferner Zukunft. In ihren eigenen Plänen und Absichten kann sie seine Gedanken, Pläne und Absichten erkennen. Ihre Vorliebe und ihr Widerwille, ihre Liebe und ihr Haß, ihre Sympathien und Antipathien sind nur eine sichere und unfehlbare Prophezeiung dessen, was ihr Kind einst lieben und hassen wird." Das sind nun allerdings Phantasien, die nicht wahrscheinlicher werden durch den Umstand, daß sie, wie Sticker in seinem, wenn auch nicht völlig einwandfreien, so doch gewiß sehr lesenswerten Buche „Gesundheit und Erziehung" (1900) bemerkt, von dem bekannten spiritisti­ schen Schriftsteller du Prel (1899) bis auf Paracelsus zurückreichen. Auch hat schon Jean Paul in der „Levana" (§ 40) darauf hingewiesen, daß es schlimm um die Zukunft des Kindes stehen müßte, wenn von der Mutter während der Schwangerschaft außer dem ernährenden Einflüsse noch ein unmittelbar geistiger ausginge, da dann unterschiedslos alle seelischen Zustände der Mutter auf das Kind überfließen würden. Doch der tatsächlich bestehende ernährende Einfluß der Mutter ist wichtig genug, um hier erwähnt zu werden. Schon die trotz aller wohlgemeinten Beschönigungsversuche zweifellos durchaus ungenügende Ernährung zahl­ reicher hoffender Frapen im zweiten Kriegsjahre, vom dritten gar nicht zu reden, muß für den in Aussicht stehenden Nachwuchs stark schädigende Folgen haben. Dazu kommen noch heftige Gemütserschütterungen, wie sie die Frauen in diesem an Schrecknissen so ungeheuer reichen Kriege erfahren, weil die Männer oder nahe Anverwandte den mannigfachsten Schicksalen des Feldzugs aus­ gesetzt sind. So ist es nicht weiter verwunderlich, daß der Krieg von 1870—71 in Frank­ reich auffällig viele körperlich und geistig minderwertige Kinder hervorbrachte, besonders in Paris, das lange unter den Schrecken und Mühsalen der Belagerung zu leiden hatte. Sogar in Deutschland machte sich der Einfluß des Krieges in ähnlicher Weise geltend, denn als die Kinder, die um jene Zeit gezeugt worden waren, in das Alter kamen, in denen die Verbrechen Jugendlicher zu beginnen pflegen, zeigte sich bei ihnen (seit 1887) eine bedeutende Steigerung der Zahl jugendlicher Übeltäter. Wenn es auch nun nicht angeht, das Verbrechertum lediglich auf minderwertige Körperbeschaffenheit zurückzuführen, so wird doch

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selbst von ausgesprochenen Gegnem der Schule Lombrosos, z. B. von Baer in seinem Werke „Der Verbrecher in anthropologischer Beziehung" (1893), der Zusammenhang der mangelhaften und schlechten körperlichen Ver­ fassung mit dem Verbrechertum zugegeben, und man darf schon aus der Zu­ nahme der jugendlichen Verbrecher um das Jahr 1887 auf die Körperbe­ schaffenheit der anfangs der 70 er Jahre geborenen Kinder einigermaßen zurückschließen. Diese stammten ja auch von schwächlicheren Vätern, die zu Hause waren, als die kräftigere Männerwelt im Felde stand, und ferner vielfach von Männern, die geschwächt aus dem Felde zurückgekehrt waren. Der gegen­ wärtige Krieg, der ganz bedeutend mehr Leute ins Feld geführt hat und viel länger dauert, muß auf das kommende Geschlecht einen noch viel ungünstigeren Einfluß ausüben, wenn auch die Gesundheitsverhältnisse im Felde seit dem deutsch-französischen Kriege offenbar ganz erhebliche Fortschritte gemacht haben. Zum Vergleich möchte ich noch auf eine Angabe Hinweisen, die ich in Kurellas Buch „Naturgeschichte des Verbrechers" (1893) finde: „In Frankreich zeigte sich in dem Zeitraum von 1830—35, wo die in den schlimmsten Kriegsjahren zwischen 1810 und 1815 gezeugte Generation das Alter der kriminellen Reife erreichte, eine Zunahme der Verbrecher gegen die Person von 1824 Individuen (Lustrum 1826—30) auf 2371 im jährlichen Durchschnitt. Damit stimmt die von Marro erwähnte Tatsache überein, daß der im Jahre 1812—13 erzeugte Rekrutenjahrgang der schwächste des Jahrhunderts war." Es mag ja sein, daß mir das Bild der Zukunft allzu dunkel erscheint, aber auch wenn es sich Heller gestalten sollte, wird es doch zweckmäßig sein, der körper­ lichen Erziehung eine erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden, und das sogar in dem ganz unwahrscheinlichen Falle, daß die Gesundheitsverhältnisse unseres Volkes im wesentlichen auch nach dem Kriege so bleiben sollten, wie sie gegen­ wärtig sind. Um sich das klar zu machen, braucht man bloß daran zu denken, daß — nach den Angaben Stickers — von allen männlichen Kindern nur der vierte Teil den Grad körperlicher Entwicklung erreicht, der nach herkömmlicher (nicht nach gegenwärtiger) Bewertung für den Heeresdienst erforderlich erscheint, und daß auch von diesem Viertel eine nicht kleine Zahl solcher, die anfänglich zum Heere zugelassen waren, nachträglich ausgeschlossen werden muß, weil sich über kurz oder lang körperliche Mängel zeigen, die anfänglich übersehen worden sind oder erst im Dienst sich entwickelt haben. Beim weiblichen Geschlecht steht es mit der körperlichen Tüchtigkeit nicht allein nicht besser, sondern eher noch schlechter. Angesichts solcher Verhältnisse darf man nun aber in der Zukunft nicht in den Fehler verfallen, daß man die Sorge für die körperliche Ertüchtigung so sehr in den Vordergrund stellt, daß wir Deutsche aufhören müßten, das gebildetste Volk der Erde zu sein. Denn wenn auch körperliche und geistige Erziehung zwei Seiten ein und derselben Sache sind, so fallen sie doch im einzelnen keineswegs völlig zusammen. Aber allerdings muß für die körperliche Er­ ziehung mehr Raum geschaffen werden, als ihr bisher tatsächlich zur Verfügung gestellt werden konnte, wo zwar an sie immer höhere Ansprüche gestellt wurden,

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ohne daß man jedoch, wie notwendig^ gewesen wäre, die Ansprüche auf der andern Seite beschränkt hätte. So hat sich in unseren Schulen ein beständiger Kampf herausgebildet in Gestalt eines heimlichen gegenseitigen Wegnehmens von Zeit und Kraft, das aber endlich einmal aufhören muß.

b) Der Schularzt der Zukunft.

Die Aufgabe der körperlichen Erziehung besteht darin, daS Leibesleben als Ganzes zu einer möglichst günstigen Entwicklung zu bringen, wozu aber nicht nur die Förderung des gesunden Zustandes gehört, sondern auch das Fernhalten von Störungen, die dem Leibe von der Umwelt, insbesondere auch von der Schule drohen, sowie die Beseitigung oder Milderung von solchen entwicklungshemmenden Schädigungen, die das Kind etwa im Keime mit auf die Welt gebracht oder später erworben hat. Rousseau zwar wollte sich nur um gesunde Kinder kümmem, aber er konnte sich ja seinen Zögling wählen, was die Schule durchaus nicht in jeder Beziehung kann, und außerdem ist die Grenze zwischen gesundem und krankhaftem Zustande so fließend, daß schon aus diesem Grunde eine durchgreifende und dauerhafte Sonderung nicht möglich wäre. Zur Mitwirkung bei der körperlichen Erziehung sind natürlich nur solche Lehrer und Lehrerinnen geeignet, die nicht bloß mit den wichtigsten Grund­ zügen der allgemeinen Leibeslehre vertraut sind, sondern auch von den Stö­ rungen des leiblichen Gedeihens so viel verstehen, daß sie mit dem Arzte in ersprießlicher Weise zusammenarbeiten können. Man wird indessen kaum fehlgehen, wenn man behauptet, daß trotz aller Unterweisung in der Gesundheitslehre diese Kenntnis unter den Lehrern und Lehrerinnen in der Gegenwart nicht genügend verbreitet sei, wenn auch nicht bestritten werden kann, daß es zahlreiche und sogar glänzende Ausnahmen gibt. Aus der andem Seite aber muß doch auch vor der Auffassung gewarnt werden, als könnten männliche und weibliche Lehrkräfte mit guter Ausbildung, von besonders ernsthaften Krankheitsfällen abgesehen, die gesamte körperliche Schulerziehung allein übernehmen. Damit ist schon gesagt, daß in jede Schule, sei es nun eine niedere, mittlere oder höhere, ein Schularzt gehört; denn es versteht sich von selbst, daß die körperliche Erziehung, soweit der Arzt dabei von Bedeutung ist, nicht auf die Zufälligkeiten gelegentlicher ärztlicher Einwirkung angewiesen sein darf. Nun ist ja in neuerer Zeit der schulärztliche Dienst in zahlreichen größeren uni) auch kleineren Orten eingerichtet worden; allein man muß sagen, daß auch ihm oft noch gar sehr der Charakter der gelegentlichen und zufälligen Einwirkung anhaftet. Das ist fast überall da der Fall, wo praktische Ärzte den schulärztlichen Dienst sozusagen im Nebenamt versehen. Obwohl auch hier die Einrichtungen vielfach voneinander abweichen, dürfte es doch in den meisten Fällen so sein, daß der Schularzt sämtliche Schüler einer Anstalt ein oder zweimal, vielleicht auch dreimal im Jahre untersucht und in geeigneten Fällen den Eltern ärztliche Behandlung der Kinder anrät. Einzelne Kinder werden auf

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Grund der Untersuchung wohl in besondere Überwachung genommen; aber diese besondere Überwachung besteht dann meistens in einer etwas genaueren Untersuchung bei der nächsten Gelegenheit. In manchen Fällen findet auch wohl eine Untersuchung auf Antrag der Lehrer statt. Bon einer zusammen­ hängenden ärztlichen Überwachung und Einwirkung kann bei einer solchen Einrichtung keine Rede sein; sie ist eben nur eine gelegentliche, da sie sich in der Regel nicht nach den augenblicklichen Erfordernissen, sondern nach einem rein äußerlich bestimmten Zeitmaß richtet. Man ist aber auch berechtigt, eine solche Einwirkung als eine zufällige zu bezeichnen. Zufällig ist sie zunächst, weil — es wird wenigstens häufig darüber geklagt — die Untersuchungen wegen der beschränkten Zeit, die den praktischen Ärzten für ihr durchweg geringfügig

besoldetes „Nebenamt" zur Verfügung steht, sehr schnell und damit oft sehr wenig gründlich vor sich gehen, so daß es schon aus diesem Grunde sehr vom Zufall abhängt, ob der Zustand eines Kindes richtig erkannt wird. Zufällig ist sie sodann — ich Berufe mich hier auf das Urteil hervorragender Ärzte, die in Sachen der Schulgesundheitspflege besonders Bescheid wissen, z. B. auf Albert Eulenburg — weil selbst der gute praktische Arzt noch lange nicht ohne weiteres auch ein guter Schularzt ist, und also auch in dieser Beziehung allzuviel auf den Zufall ankommt. Wenn nun auch ein solcher schulärztlicher Dienst im Nebenberuf immer noch besser sein mag als gar keiner, und wenn man sich an kleineren Orten damit vielleicht wird begnügen müssen, so sollte man doch wenigstens in größeren Städten allenthalben Berufsschulärzte anstellen. Der Vorteil für die Jugend würde zunächst darin bestehen, daß sie in der Lage wären, die Entwicklungs­ und Gesundheitsverhältnisse nicht sprungweise, sondern zusammenhängend zu überwachen. Ebenso wichtig aber wäre es, daß sie genügend Zeit hätten und auch gewiß Veranlassung nehmen würden, in das Eigenartige ihres umfangreichen und schwierigen Arbeitsgebietes ordentlich einzudringen. Namentlich kommt hier ein Zweig in Betracht, der bis jetzt durchaus nicht allenthalben die erforderliche Würdigung erfahren hat, und der gleich hier erwähnt werden mag, weil er zur körperlichen Gesundheitspflege in sehr enger Beziehung steht, nämlich die Lehre von der geistigen Gesundheit und den geistigen Störungen im Kindes- und Jugendalter mit besonderer Berücksichtigung des Schullebens. Im Zusammenhang damit könnte man von einem solchen Schulärzte auch ver­ langen, daß er sich mit der Pädagogik so weit befasse, wie es der Lehrer mit dem Arbeitsgebiet des Schularztes tun muß, wenn anders er mit diesem ein­ trächtig und erfolgreich zusammenwirken will. Wie es an unfern Hochschulen besondere Lehrstühle für Kinderheilkunde gibt, so sollte es auch solche für Schul­ gesundheitspflege im weitesten Sinne des Wortes geben, und es wäre gewiß nicht zuviel verlangt, wenn, wie es z. B. in Ungarn schon geschieht, ein Arzt, der sich zur Stelle eines Berufsschularztes meldete, einen in besonderer Prüfung erworbenen Befähigungsnachweis vorzulegen hätte. Ein solcher Schularzt, würde auch zu dem Lehrkörper leicht in ein besseres Verhältnis kommen, als es leider heutzutage vielfach besteht. Allerdings denke ich ihn mir nicht als Aufsichtsperson gegenüber dem Lehrkörper, sondern als

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dessen stimmberechtigtes, in der Gesundheitslehre auch unterrichtlich tätiges Mitglied. Die Aufsicht über ihn würde ebenfalls der Schulaufsichts­ behörde zustehen, der freilich auch ein oder mehrere mit der Schulgesundheitspflege besonders vertraute Ärzte als Kreis-, Regierungs- oder Provinzial­ schulärzte anzugehören hätten. Eine solche Einrichtung würde nicht nur zur Erzielung einer wahrhaft wirksamen Schulgesundheitspflege von Nutzen sein, sondem bei ihrer engen Verschmelzung mit dem gesamten Schulbetriebe würde auch die sonst bestehende Gefahr schwinden, daß die Schulaufsichtsbehörde an die Leistungen der Schule und ihrer Lehrer Anforderungen stellte, als wenn es keine Zeit und Kraft erfordernde Schulge­ sundheitspflege gäbe. Eine wichtige Frage ist noch, ob der Schularzt die Schuljugend nicht bloß beobachten und beraten, sondern ob er sie in geeigneten Fällen auch behandeln soll. Hier muß man, glaube ich, einen Unterschied machen zwischen niederen oder Volksschulen einerseits und mittleren und höheren Schulen andrerseits. Beschränkt sich der Schularzt in der Volksschule auf die Beobachtung und auf das Anempfehlen einer etwa notwendigen Behandlung, so ist seine Tätigkeit, wie die Erfahrung zeigt, in sehr vielen Fällen fruchtlos, da die Eltem dem Rate nicht Folge leisten, entweder aus Nachlässigkeit, oder weil sie das trotz des Schul­ arztes nicht für notwendig halten, oder endlich, weil sie die Ausgaben scheuen. Ich sehe hier keinen andem Ausweg, als die Eltern zu verpflichten, ihre Kinder, wenn nötig, vom Schularzt behandeln zu lassen, geradeso, wie sie verpflichtet sind, ihre Kinder zur Schule zu schicken und sie den unterrichtlichen und sonstigen erziehlichen Maßnahmen der Schule und sogar der Impfung zu unterwerfen. Selbstverständlich müßte die schulärztliche Behandlung, ebenso wie der Unter­ richt, unentgeltlich sein, auch in den Ausnahmefällen, wo die Heranziehung eines Spezial- oder Facharztes notwendig sein sollte. Das mag in vielen Fällen hart erscheinen und für die Gemeinden kostspielig werden, aber wenn man den guten Zweck erreichen will, darf man in der Anwendung notwendiger Mittel nicht allzu ängstlich sein. In den mittleren und höheren Schulen liegt die Sache wesentlich einfacher. Da hier der Besuch freiwillig ist, und Schüler, die sich der allgemeinen Ordnung nicht fügen wollen, ausgeschlossen werden können, da ferner die Eltem eher in der Lage sind, die ärztliche Behandlung zu bezahlen, so kann es der Schularzt bei der Anordnung der etwa notwendigen Behandlung durch einen andern Arzt bewenden lassen. Daß der Schularzt unter solchen Umständen vollständige Beamteneigen'schaft erhalten und angemessen besoldet werden muß, versteht sich von selbst. Auf Nebenverdienst aus anderweitiger Krankenbehandlung darf er nicht ange­ wiesen sein, und man darf die Frage aufwerfen, ob ihm nicht zweckmäßig die Heilbehandlung außerhalb seines Amtes zu untersagen sei. Burgerstein meint zwar in seinem „Handbuch der Schulhygiene", das dürfte sich nicht empfehlen, denn man würde ihm auf diese Weise eine wichtige Quelle seiner wissenschaft­ lichen Fortbildung verschließen; allein ohne mir hier ein maßgebendes Urteil erlauben zu wollen, glaube ich doch vermuten zu dürfen, daß es dem Berufsschularzt, wie ich ihn mir denke, auch auf seinem eigenen, überaus reichen

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Arbeitsgebiet an Gelegenheit zur Fortbildung nicht fehlen würde. Immerhin könnte man ihm vielleicht gestatten, Kinder im vorschulpflichtigen Alter zu behandeln, weil es für ihn von Wichtigkeit sein müßte, die gesundheitlichen Verhältnisse der Kinder vor der Schulzeit kennen zu lernen, und er wenigstens in vielen Fällen die früher begonnene Tätigkeit beim Eintritt der Kinder in die Schule um so besser fortsetzen könnte. Vielleicht dürfte man ihn verpflichten, sich auch sonst in der einen oder andern Weise an der öffentlichen Gesundheits­ pflege für die noch nicht schulpflichtige Jugend zu beteiligen. Die öffentliche Gesundheitspflege wird sich nach dieser Richtung noch sehr steigern müssen, denn sie ist nach meiner Meinung der beste Weg, den in neuerer Zeit immer leb­ hafter beklagten Rückgang des Bevölkerungszuwachses aufzuhalten. Alle andern Maßnahmen, mögen sie nun in der gesetzlichen Einschränkung des Gebrauchs gewisser Mittel zur Verhinderung der Empfängnis, in der Auferlegung einer besondern Steuer für Unverheiratete, in weitgehenden Begünstigungen kinder­ reicher Familien, in sittlicher Anregung oder vaterländischer Ermahnung oder in allem zusammen bestehen, werden nicht so viel Einfluß haben wie eine erhöhte gesundheitliche Fürsorge für Kinder, die schon da sind. Mit der Verbesserung der Säuglingspflege hat man schon einen guten Anfang gemacht, aber man darf nicht dabei stehen bleiben. In der während des Krieges entstandenen Vereinigung zur Bekämpfung des Geburtenrückgangs ist zwar gesagt worden, daß die Erhaltung der Lebenden nicht ausreiche, um den Rückgang der Be­ völkerungszunahme zu verhindern. Wenn das auch wahr ist, so fürchte ich doch, daß wir uns in den Rückgang finden müssen und schon froh sein können, wenn er nur recht langsam vor sich geht.

c) Die Ernährung.

Fragen wir nach den Mitteln der körperlichen Erziehung, so können wir sagen, daß sie in der Ernährung und in der Übung bestehen. In dieser Unterscheidung liegt schon an gedeutet, daß ich den Begriff der Ernährung nicht so weit fasse, wie es manche Ärzte tun, so z. B. der Neuyorker Kinderarzt Nathan Oppenheim, der in seinem (1905) auch deutsch erschie­ nenen Buche „Die Entwicklung des Kindes" auch die Übung, und zwar nicht nur die körperliche, sondern selbst die geistige, zur Ernährung rechnet. Zur guten oder schlechten Ernährung gehört nämlich nach seiner Auffassung alles, was in der einen oder andern Richtung Einfluß auf den Stoffwechsel hat, und es läßt sich ja nicht leugnen, daß ein solcher Einfluß nicht nur durch körperliche Übung, sondern auch durch geistige (seelische) Zustände und Tätigkeiten bewirkt wird. Daß die Gemütsbewegungen in naher Beziehung zum Stoffwechsel stehen, ist allgemein bekannt und hat sogar in einer ganzen Anzahl volkstümlicher Redensarten Ausdruck gefunden. Daß die geistige Arbeit hier von Bedeutung ist, sieht man oft an Schulkindern, deren Körper namentlich in den ersten Schul­ jahren das Lernen nur schwer verträgt, eine Tatsache, die man nicht lediglich dem erforderlichen Stillsitzen zuschreiben darf, sondern auch aus dem Umstande herleiten muß, daß in solchen Fällen die Abnutzung des Gehirns, das seins

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Nahrung aus dem übrigen Körper erhält, größer ist als der Ersatz durch die körperliche Ernährung, daß mithin eine Unterernährung des Gehirns vorliegt. Wie bedeutend die Zersetzung im Gehirn bei großer geistiger Arbeit ist, zeigt sich am besten darin, daß sich die Beschaffenheit des Harns in chemisch nachweis­ barer Weise verändert. Doch wenn das nun auch so ist, und also eine scharfe Trennung der körper­ lichen und geistigen Übung vom Stoffwechsel, anders ausgedrückt von der Emährung, nicht durchführbar erscheint, so kann doch nicht bestritten werden, daß Essen und Trinken zur Emährung in noch engerer Beziehung stehen, und dasselbe darf man von der Einwirkung der Luft, ja auch des Lichts und der Wärme sagen. Somit dürfte es sich auch nicht empfehlen, den Begriff der Emähmng nur im allerengsten Sinne zu nehmen und damnter nur die Aufnahme der Nahmng in festem und tropfbar flüssigem Zustande zu verstehen, sondem, wie es übrigens bei den Pflanzen selbstverständlich ist, die Wirkung von Luft, Licht und Wärme auf den Körper einzubeziehen. Wenn diese Abgrenzung auch in wissenschaftlicher Beziehung zu wünschen übrig läßt, so wird man sie doch wohl aus praktischen Gründen gelten lassen können. Die Emähmng hat (an ihrem Teile) einerseits für die Erhaltung und Entwicklung des gesunden Körpers zu sorgen, andrerseits aber auch auf den etwa kranken Körper mjt ihren Mitteln, soviel wie möglich, bessernd einzuwirken. Daß die besondere Art der Ernährung für die Erhaltung und Ent­ wicklung des gesunden und für die Besserung des nicht gesunden Körpers von wesentlichem Einfluß ist, weiß jedermann; weniger bekannt aber und sogar noch nicht einmal wissenschaftlich völlig sichergestellt ist, wie weit dieser Einfluß reicht, namentlich wie weit Umbildungen ursprünglich vorhandener körperlicher Anlagen, sei es beim Einzelnen für sich, sei es bei der Aufeinanderfolge der Geschlechter, unter dem Einfluß der Emähmng vor sich gehen können. Was die aufeinanderfolgenden Geschlechter betrifft, so können wir hier nicht gut auf die schwierige, trotz Darwin und Weismann u. a. noch lange nicht endgültig gelöste Frage der Vererbung erworbener Eigenschaften eingehen. Das ist aber für unsern Zweck auch nicht nötig. Auch wenn man auf ferne Geschlechterreihen wirken will, muß man auf den Einzelnen wirken, und es bleibt dann abzuwarten, welche Bedeutung diese Einwirkung für die Nach­ kommen etwa hat. Am augenfälligsten ist der Einfluß der Ernähmng auf das Wachstum. Die Kinder der untern Volksschichten bleiben infolge der schlechteren Emährung hinter den in diesem Punkte wesentlich besser gestellten Kindern der mittleren und oberen Schichten im allgemeinen zurück. Mit diesem durch die Art der Ernähmng verursachten Zurückbleiben im körperlichen Wachstum scheint auch ein Zurückbleiben in der geistigen Entwicklung verbunden zu sein. Unter­ suchungen, die man vor einigen Jahren in Breslau angestellt hat, haben ergeben, daß die geistige Reife der Kinder in den Vorschulen größer war als in den ent­ sprechenden Klassen der Volksschulen. Wenn man diesen Unterschied zum Teil auch, worauf früher (S. 18) schon hingewiesen wurde, aus dem Umstande erklären kann, daß in Familien, die ihre Kinder mittlere unb höhere Schulen

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besuchen lassen, der geistige Stand (im allgemeinen!) höher ist als bei den Eltern der schulgeldfreien Volksschuljugend, so wird man doch, wie von Mac Doaald in Washington festgestellt worden ist, den Einfluß der besseren Ernährung nicht übersehen dürfen, um so weniger, als man in Schulen jeder Art Gelegenheit hat zu der Beobachtung, daß eine wesentliche Verbesserung oder Verschlech­ terung der Ernährung geistig fördernd oder hemmend wirkt?) Im Zusam­ menhang hiermit muß erwähnt werden, daß die Ernährung unter Umständen Veränderungen in der Gestalt eines Körperteils hervormfen kann, den man am wenigsten für veränderlich halten möchte, und dessen Beschaffenheit in naher Beziehung zum Gehirn und zu den Geisteskräften steht, des Schädels nämlich. Wir wollen hier von den Beobachtungen absehen, die Darwin, v. Nathusius u. a. über die Veränderungen gemacht haben, die an Tierschädeln vor sich gehen, wenn man gewisse, sonst wild lebende Tiere zu Haustieren macht, denn bei ihnen spielt neben der veränderten Nahrung — man denke an das Hausschwein im Unterschied zum Wildschwein — auch die veränderte Tätigkeit des Schädels beim Aufsuchen der Nahrung eine große Rolle, so daß die Verändernng nicht der veränderten Nahrung allein, sondern auch der veränderten Übung zugeschrieben werden muß. Hingegen gibt es beim Menschen Ver­ änderungen in der Schädelgestalt, die von Männern wie Ranke, Virchow, Henoch und vielen andern lediglich aus der Ernährung hergeleitet werden. Die sogenannte Schläfenenge, eine Hemmungsbildung in den Schläfen­ teilen, die auch die geistige Entwicklung stark beeinträchtigt, hat nach Ranke ihre Ursache in Ernährungsstörungen des Kindes im Mutterleibe und in den ersten Lebensjahren. Auch die sehr gefürchtete und namentlich unter den Kindern der ärmeren Volksschichten so sehr verbreitete Englische Krank­ heit (Rhachitis), die am ganzen Knochenbau, namentlich auch am Schädel Abweichungen von der gewöhnlichen Gestalt hervorruft, beruht nach dem Urteil der angesehensten Ärzte, unbeschadet verschiedener Auffassung im einzelnen, auf schlechter Ernährung im frühesten Alter, und ihr bestes Heilmittel wird in der Zuführung geeigneter Nahrung und in der Verbesserung der Wohnungs­ verhältnisse (Luft, Licht, Wärme!) erblickt. Je früher die entsprechende Gegen­ wirkung einsetzt, desto erfolgreicher ist sie, nicht nur für die körperliche Ent­ wicklung, sondern auch für die geistige. Von vielen Ärzten wird die Entstehung des Schwachsinns auch mit der Rhachitis in wesentliche Verbindung gebracht, eine Ansicht allerdings, die der Karlsruher Schularzt Doll auf Grund seiner Untersuchungen glaubt unsicher machen zu können, und der auch Eugen Schlesinger (in seinen „Vorgeschichten und Befunden bei schwachbegabten Schulkindern". 1907) nicht recht beizutreten vermag. Da sich das Leben des Kindes vor dem Beginn der Schulpflicht der Ein, Wirkung durch die Schule völlig entzieht, wenn man von einem etwa gelegentlich x) Nachträglicher Zusatz: Sehr lehrreich waren für jeden, der sehen wollte, die Erscheinungen, die man bei der überaus dürftigen Ernährung im dritten Kriegssommer be­ merken konnte. Selbst viele sonst sehr tüchtige Kinder versagten schließlich vollständig in Dingen, über die sie früher ganz gut Herr werden konnten.

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vorkommenden Einflüsse der Lehrer und Lehrerinnen sowie des Schularztes auf die Familie absieht, und da gerade die ersten Lebensjahre für die künftige körperliche Entwicklung so wichtig sind, so ist es, wenn auch gut gemeint, doch entschieden zuviel gesagt, wenn es in einer während des Krieges von der König­ lichen Regierung zu Düsseldorf veröffentlichten amtlichen Anweisung zur Schulgesundheitspflege heißt: „Die Schulzeit ist von grundlegender Bedeutung nicht nur für das geistige, sondern auch für das leibliche Gedeihen des Menschen." Hier werden der Schulerziehung Aufgaben gestellt, die über ihre Kraft gehen: in Fällen besonders günstiger Entwicklung kann dadurch die Schulerziehung leicht verleitet werden, sich Verdienste beizulegen, die ihr in einem gewissen Grade ebensowenig zukommen, wie dem preußischen Schulmeister das ganze Verdienst, die Schlacht bei Königgrätz gewonnen zu haben. Wirklich grund­ legend für die körperliche und in einem nicht ganz geringen Umfange auch für die geistige Entwickelung des Kindes sind die Leibesbeschaffenheit der Erzeuger, die Zeugung, der Vorgang bei der Geburt (Schädel!) und die Lebensweise bis zum Eintritt in die Schule. Dies anerkennen, heißt noch lange nicht, die Bedeutung der Schule auch für die körperliche Entwickelung unterschätzen. Was die Schule tun kann, um die Entwickelung zu fördern, das muß unter allen Umständen geschehen. Für die Ernährung, die in erster Linie Sache des Hauses ist und, soweit es sich um die Nahrung handelt, früher sogar ausschließlich war, vermag die Schule auch jetzt noch verhältnismäßig wenig zu tun; aber dieses Wenige muß sie mit der gleichen Sorgfalt verrichten, die sie der geistigen Erziehung widmet, wogegen sie dann aber auch — was immer wieder zu betonen nicht überflüssig ist — ein Anrecht auf die volle Würdigung auch dieser Tätigkeit durch die Aufsichts­ behörde hat. Ein großer Teil unserer Volksschuljugend, das steht fest, wird mangelhaft ernährt, sei es nun, daß die Eltern zur ausreichenden Ernährung ihrer Kinder die Mittel nicht haben, sei es, daß Trägheit, Nachlässigkeit und Unverstand die Ursachen sind. Die schlechte Ernährung während der Schulzeit zu bekämpfev, ist mindestens so wichtig, wie auf mancherlei Mittel zur Verhinderung des Geburtenrückgangs zu sinnen; denn wenn wir es noch nicht gewußt hätten, so hätte es uns der gegenwärtige Krieg lehren können, daß es durchaus nicht allein auf die Zahl der Bevölkerung, sondern mindestens ebensosehr auf deren Beschaffenheit ankommt. An manchen Orten, namentlich in Großstädten, hat man daher mit vollem Recht öffentliche Mttel zur Verfügung gestellt, aus denen arme Kinder in der Schule gespeist werden, und in Zukunft wird das noch in viel größerem Umfange geschehen müssen, wenn man den vielen schönen Worten von der Vermehrung, Erhaltung und Kräftigung unseres Volkes Taten folgen lassen will. Lehrer und Lehrerinnen haben aber diese Schulspeisungen nicht als etwas anzusehen, was sie eigentlich nichts angehe oder gar eine lästige Störung ihrer Lehr- und Erziehungstätigkeit bedeute, um sie dann achtlos etwa dem Schuldiener oder dessen Gehilfen zuzuschieben. Angemessene Ernährung ist eben gleichzeitig ein gutes Stück auch der geistigen Erziehung; wohlgenährte Kinder unter sonst

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ähnlichen Verhältnissen sind durchweg artiger, aufmerksamer und im Semen leistungsfähiger als andere. Wie aber schon angedeutet, ist nicht nm große Armut eine Ursache schlechter Ernährung der Kinder, sondern auch Nachlässigkeit und Trägheit der Eltern, besonders der Mütter. Daß auch in diesen Fällen mit Aufwendung öffentlicher Mittel einzugreifen wäre, ist natürlich ausgeschlossen, und doch darf die Schule einer solchen Sache nicht unbekümmert zusehen, sondern muß wenigstens ver­ suchen, Ms das Haus einen fühlbaren Druck auszuüben. Das wird einigermaßen wirksam geschehen, wenn sie täglich feststellt oder doch festzustellen sucht, welche Kinder früh, ohne gegessen zu haben, zur Schule kommen, welche Kinder kein zweites Frühstück mitbringen und welche kein warmes Mittagessen erhalten. Diese Feststellung oder Erkundigung allein wird schon bei vielen Müttern die Scham rege machen und Bessernng bringen. Im andern Falle müßte durch amtliche Vorladung der Eltern und, wenn es denn nun einmal nicht anders gehen sollte, durch Strafen nachgeholfen werden. Auch auf das Verhalten der Kinder würden solche Maßregeln günstig wirken, denn sie sind oft an ihrer schlechten Ernährung mit schuld. Nicht wenige Kinder sind sehr damit zufrieden, daß sie morgens, wenn sie zur Schule gehen, von der nachlässigen Mutter kein Frühstück erhalten, weder ein erstes, noch ein zweites, sondern Geld, wofür sie sich auf dem Schulwege beim Bäcker etwas kaufen sollen. Was sie dann meistens kaufen- weiß die Schule nur zu gut: nicht nahrhaftes Brot, sondern Leckereien, Süßigkeiten. Herbert Spencer hat zwar in seinem Erziehungsbuche ein besonderes Recht des Kindes auf Süßig­ keiten lebhaft verteidigt: alle Kinder liebten Süßigkeiten, folglich seien diese ein besonderes Bedürfnis ihres Körpers, folglich müsse man sie ihnen in reichem Maße geben. Ich fürchte zwar, daß Spencer hier, wie auch sonst gelegentlich in Erziehungssachen, das Kind doch gar zu sehr zum Maßstab aller Dinge macht; immerhin denkt er nur an die reichliche Zuteilung von Süßigkeiten bei den Mahlzeiten. Die Mahlzeiten haben aber nicht nur den Zweck, dem Körper den nötigen Nährstoff zuzuführen, sondern sie sollen auch die Verdauungs­ werkzeuge, besonders Magen und Darm, in angemessene Tätigkeit versetzen, sonst erschlaffen und verkümmern sie. Das Naschen von Süßigkeiten allein, mögen sie soviel Nährgehalt haben, wie sie wollen, ist aber keine Mahlzeit, weil es dem Magen zu wenig zu tun gibt und, da überdies der Mensch von Süßigkeiten allein trotz allem nicht leben kann, die Ernährung ganz empfindlich stört. Man braucht sich dämm auch gar nicht zu wundern, daß Kinder, die auf die Butterbrote ver­ zichten und auf dem Schulwege dem Feinbäcker nachgehen, auch zu Hause nicht den vielbernfenen „Schulhunger" bekunden und wenig Lust zum Mittagessen haben, d. h. der Unterernähmng anheimfallen, die sich bald sowohl im Aussehen wie auch in der abnehmenden geistigen Leistungsfähigkeit verrät. Mit dem Ausdruck „Schulhunger" wird auch vielfach die Neigung der Kinder, möglichst oft zu essen, beschönigt und entschuldigt, während es doch — abgesehen natürlich von Fällen, über die der Arzt zu bestimmen hat — nur eine Unart ist, die nicht die Ernährung fördert, sondern schädigt. Es gibt Kinder, namentlich Mädchen, die mit Butterbroten förmlich beladen zur Schule kommen, vor Be-

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ginn des Unterrichts schon essen, in allen Pausen essen, sogar in den Unterrichts­ stunden verdächtige Mundbewegungen machen und dann aber mittags zu Hause nicht ordentlich essen mögen. Dabei wird das zur Schule mitgebrachte Brot in den meisten Fällen nicht einmal aufgegessen, sondern an allen möglichen und unmöglichen Orten liegen gelassen oder sonst weggeworfen. Dieses Geknabber reicht wohl aus, um das Hungergefühl nicht aufkommen zu lassen, regt aber keine kräftige Magentätigkeit an und beeinträchtigt somit die Ernährung. An der von mir geleiteten Schule wurde diese beständige Esserei lange Zeit bekämpft, doch ohne Erfolg, bis uns der Krieg zu Hilfe kam, der wegen der Knappheit der Lebensmittel ein strenges Verbot rechtfertigte, gegen das sich auch niemand mehr beschwerte. Es wurde jetzt nur noch (am Vormittag) in der großen Pause gegessen, nicht geknabbert, und die Lust zum Mittagessen stellte sich, wie ich erfuhr, in überraschender Weise ein. Ich darf wohl annehmen, daß es anderswo ebenso gewesen ist, und bin der Meinung, daß man auch nach dem Kriege, wenn der Bestand an Lebensmitteln wieder reichlicher ge­ worden ist, an dem jetzigen Gebrauch streng festhalten sollte, der nicht nur einer guten Ernährung dienlicher ist, sondern auch der geradezu sündhaften Vergeudung des Brotes Einhalt tut, die vor dem Kriege wohl an allen Schulen üblich war. Die Schule muß ferner darauf hinwirken, daß die Verabreichung von Alkohol an Kinder vermieden wird. Daß viele Kinder zu Hause Alkohol bekommen, ist jedermann bekannt; wie oft das aber vorkommt, dürfte manchen in Verwunderung setzen. Der Wiener Kinderarzt Kassowitz z. B. erwähnt in seiner Schrift „Alkoholismus hh Kindesalter" (1902) das Ergebnis von Um­ fragen, die man in Wien und Bonn veranstaltet hat. In einer Wiener Volks­ schule ergab sich, daß von sämtlichen Schülern nur nahezu 23 vom Hundert gar keinen Alkohol erhielten, dagegen etwa 28 vom Hundert nur manchmal, etwas weniger als 50 vom Hundert regelmäßig und von diesen ein Drittel sogar mehr als einmal am Tage. Eine umfassendere Feststellung an den Wiener Knabenschulen zeigte, daß jeder dritte Wiener Schuljunge regelmäßig Bier, jeder neunte regelmäßig Wein und jeder vierundzwanzigste regelmäßig Brannt­ wein zu sich nahm. In einer Volksschule der Stadt Bonn war unter 247 Kindern zwischen sieben und acht Jahren nur ein einziges, das noch nie geistige Getränke bekommen hatte, und nur 67 (das waren 25 vom Hundert) hatten noch niemals Likör oder Kognak erhalten. Täglich ein- oder mehrmaliger Genuß von Wein oder Bier ergab sich bei 110 Kindern; 20 von ihnen erhielten sogar täglich Kognak „zur Stärkung", und zwar war dies viel häufiger bei Mädchen als bei Knaben (17 gegen 3) der Fall. Dabei hat sich, wie Kassowitz gleichfalls angibt, in Wien wie in Bonn übereinstimmend gezeigt, daß die Kinder, die sehr häufig oder regelmäßig Alkohol erhielten, in der Aufmerksamkeit und im Fortschritt am allerwenigsten befriedigten. Der Umstand, daß viel weniger Knaben als Mädchen Kognak zur Stärkung bekamen, läßt vermuten, daß hier ärztliche Verordnung im Spiele war; denn wenn auch wohl alle Ärzte darin einig sind, daß man gesunden und kräftigen Kindern jeden Alkoholgenuß untersagen soll, so gehen sie doch, was die Ver-

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Wendung geistiger Getränke bei Krankheits- und Schwächezuständen betrifft, in ihren Ansichten weit auseinander. In diesen Streit können wir uns selbst­ verständlich nicht einmischen; wir wollen aber als ausgemacht festhalten, daß Mkohol von Kindern nicht genommen werden darf, wenn er nicht vom Arzt ausdrücklich verordnet ist. Viele Eltern, die ihren Kindern aus eigenem Antrieb Alkohol geben, tun das aus bloßer Gedankenlosigkeit; andre hingegen erblicken in ihm unter allen Umständen ein Nähr- und Kräftigungsmittel. Selbst wenn er das wäre, dürfte man doch nicht vergessen, daß er, wie jedes Gift, auch seine Übeln Nebenwirkungen haben würde. Es scheint sich aber durch physiologische Versuche herausgestellt zu haben, daß der Alkohol, obwohl er im tierischen Körper zu Kohlensäure und Wasser verbrennt, wie Kohlehydrate und Fette auch, dennoch keinerlei Nährwerte hat, sondern sogar die Stickstoffausscheidung vermehrt und damit den Körper schwächt, statt ihn zu kräftigen. Andere Eltern sehen in dem Alkohol ein Mittel, die Eßlust anzuregen und aus diese Weise die Ernährung zu heben. Väter mögen dabei an die Wirkung des Frühschoppens denken; aber die Erinnerung könnte ihnen sagen, daß der Frühschoppen beim Neuling keineswegs die Eßlust anregt, sondem eher das Gegenteil bewirkt, und wenn es mit der Zeit anders wird, so liegt der Grund in einer Betäubung bereits nicht niehr gesunder Nerven, bei denen nun das eine Übel durch ein andres ausgetrieben wird. Was die Kinder betrifft, so hat Kassowitz in den zahlreichen von ihm beschriebenen Fällen fast regelmäßig Unlust zum Essen beobachtet und gefunden, daß manchmal gerade Magenstörungen im Vordergründe des Krankheitsbildes standen. Man darf auch nicht meinen, ganz geringe Mengen Alkohol — was heißt das übrigens? — richteten beim Kinde keinen Schaden an; hat man doch sogar festgestellt, daß die Milch solcher Mütter oder Ammen, die Vorliebe für geistige Getränke haben, bei den Säuglingen Beschwerden hervorruft, und daß diese schwinden, wenn der Alkoholgenuß völlig eingestellt wird. Ganz gering sind die Mengen aber zweifellos nicht, die viele Schulkinder, namentlich Mädchen, in Gestalt von gefüllten Zuckerpillen zu sich nehmen, die Kognak, Arrak und dergleichen enthalten und besonders auf Ausflügen eine Rolle spielen. Man könnte sagen, was für die Knaben die Zigaretten sind, das sind für die Mädchen die Alkoholpillen, und wenn während des Krieges in verschiedenen Bezirken die Stellvertretenden Generalkommandos den Verkauf von Zigaretten und Zigarren an Kinder verboten haben, so hätten sie mit gleichem Recht und Nutzen auch die Alkoholpillen, die „Drops", verbieten können. Schon im Jahre 1908 erging von dem preußischen Unterrichtsminister ein Erlaß folgenden Inhalts: „Es sind in neuerer Zeit vielfach Konfekte in den Handel gekommen, welche mit Schnaps verschiedener Art, darunter oft mit sehr minderwertigem, gefüllt sind. Angestellte Untersuchungen mit diesen Konfektarten haben ergeben, daß der Alkoholgehalt in denselben oft ein sehr erheblicher ist. So enthielten fünfzehn Stück eines solchen Konfekts, die etwa hundert Gramm wogen, zusammen ungefähr einen Löffel Trinkbranntwein bei einem Preise von achtundzwanzig Pfennigen. Es sind auch bereits Fälle vorgekommen, in denen erwachsene

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Personen durch den Genuß eines solchen Konfekts berauscht worden sind. Um so mehr werden solche Konfekte den Kindern gefährlich, denen im Interesse ihrer Gesundheit der Genuß alkoholhaltiger Flüssigkeiten in jeder Form untersagt werden sollte. Es wird insbesondere Aufgabe der (Stiem und Erzieher sein, den ihrer Obhut anvertrauten Kindern und Pfleglingen den Genuß solcher Konfekte zu verbieten..." Es wäre zu wünschen, daß nach dem Kriege, wenn die Stell­ vertretenden Generalkommandos ihre jetzigen Befugnisse wieder abgeben, das Tabakverbot von der Polizei übernommen würde und das Verbot der Alkoholpillen hinzukäme. Auf jeden Fall aber sollte man sie in den Schulen ebensowenig dulden wie die Zigaretten und das Rauchen überhaupt. Wie weit das Rauchen unter den Knaben verbreitet ist, kann jeder sehen, der sich die Mühe gibt, darauf zu achten. Weniger deutlich sind die schädlichen Folgen zu merken, aber sie treten mit Sicherheit ein, wenn auch nicht immer in so auffälliger Weise wie in einem Falle, von dem Theodor Heller in seiner „Heilpädagogik" (1904) berichtet: „Ein Militärarzt erzählte mir, daß in der untersten Klasse einer Militärschule einst so heftige nervöse Stömngen bei fast allen Schülern auftraten, daß der Unterricht zeitweilig unterbrochen werden mußte. Diese beängstigende Erscheinung konnte schließlich auf übermäßiges Tabakrauchen der 10—12jährigen Kinder zurückgeführt werden." Auch Heller meint: „Das unbedingte Verbot, Tabak an Kinder zu verabreichen, und die Verpflichtung der Sicherheitsorgane, das Tabakrauchen der Kinder sofort abzustellen, wäre im Interesse der Jugend dringend geboten." Die Physiologie lehrt uns, daß das Kind verhältnismäßig mehr und bessere Nahrung nötig hat als der Erwachsene, und zwar aus dem sehr einfachen Grunde, weil es nicht bloß, wie dieser, die im Körper verbrauchten Stoffe ersetzen muß, sondern auch eines über die bloße Erhaltung hinausgehenden, ganz beträcht­ lichen Überschusses an Nährstoff bedarf, der dem schnellen Wachstum dient. Wenn es den Engländern gelungen wäre, uns auszuhungern, so würden die Kinder am meisten und schnellsten damnter gelitten haben oder in Zukunft darunter leiden. .. Manche Eltern halten es bei ihren Kindern mit der sogenannten sparta­ nischen Erziehung, in der Nahrnng sowohl wie in der Kleidung; sie nähren sie absichtlich dürftig, und sie kleiden sie ebenso, um sie „abzuhärten", und es ist in unserer Zeit des „Umlernens" nicht ausgeschlossen, daß sich unter dem Einfluß des Krieges die Zahl der Freunde „spartanischer Erziehung" noch beträchtlich vermehrt. ... Was die Kleidung betrifft, so mag es ja sein, daß ihr Ursprung am letzten Ende auf das Schmuckbedürfnis zurückzuführen ist; jetzt aber und bei uns dient sie ebensosehr der Ernährung. Wenn uns die Engländer die Wollzufuhr ab­ schneiden, so kann man sagen, daß sie uns auch auf diese Weise an der Ernähmng schädigen. Der beste Gewährsmann dafür ist ihr Landsmann Herbert Spencer, namentlich was die Kinderwelt anlangt. Er macht sich den Satz v. Liebigs zu eigen: „Unsere Kleidung ist in bezug auf die (zur Erhaltung und Entwicklung notwendige) Temperatur des Körpers nur ein Äquivalent für eine gewisse

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Menge Nahrung", und belegt diesen Satz durch Anführung voir Erfahmngstatsachen in umfassender Weise. Die Kleidung verhindert die übermäßige Aus­ strahlung und vermindert damit den im Körper sich vollziehenden Verbrennungs­ vorgang, zu dem die Nahrung den Stoff liefern muß. Wird von den Nähr­ stoffen infolge starker Wärmeausstrahlung zu viel verbrannt, so bleibt für den Aufbau des Körpers zu wenig übrig, denn die Verarbeitung durch den Magen ist auch beim Vorhandensein von reichlichen Nahrungsmitteln zu be­ schränkt, als daß sie unter allen Umständen die nötige Stoffmenge liefern könnte. Unter diesem Gesichtspunkte war es auch für die Ernährung als ein großes Glück anzusehen, daß der zweite Kriegswinter verhältnismäßig mild verlief?) Da bei Kindern die Oberfläche des Körpers im Verhältnis zu seiner Masse größer ist als beim Erwachsenen, soist auch der Wärmeverlust verhältnis­ mäßig größer und muß der diesen Verlust ersetzende Verbrennungsvorgang kräftiger sein. Dazu stimmt es, daß, wie man gefunden hat, junge Tiere und Kinder fast zweimal soviel Kohlensäure ausscheiden wie Erwachsene, wenn man den Unterschied des Körpergewichts mit in Rechnung bringt. Aus alledem ergibt sich, daß bei dürftiger Kleidung die Ernährung beim Kinde mehr leidet als beim Erwachsenen, und daß namentlich sein Wachstum beeinträchtigt wird, das einer über die bloße Erhaltung noch hinausgehenden Nährstoffmenge bedarf. Demgemäß sagt Spencer: „Man überlege die große Torheit, die Kleinen dürftig zu kleiden. Welcher Vater, voll ausgewachsen wie er ist, der die Wärme weniger schnell verliert, der keine anderen physiologischen Bedürfnisse hat als das, den Verbrauch eines jeden Tages zu ersetzen, welcher Vater, fragen wir, würde es für zuträglich halten, mit nackten Beinen, nackten Armen und nacktem Halse umherzugehen? Und doch legt er die Belastung des Organis­ mus, vor der er zurückschrecken würde, seinen Kleinen auf, die noch viel weniger im stände sind, sie zu tragen!2) Oder wenn er es nicht tut, so sieht er es doch ohne Widerspruch geschehen. Möge er sich erinnern, daß jedes Gramm von Baustoffen, das ohne Not für die Erhaltung der Temperatur ausgegeben worden ist, von den Nährstoffen, die den Körper aufbauen sollen, abgezogen worden ist, und daß, selbst wenn Erkältungen, Blutandrang und andere daraus hervorgehenden Beschwerden vermieden werden, ein vermin­ dertes Wachstum oder eine weniger vollkommene Ausbildung des Körpers unvermeidlich ist." Wenn die Schule den Eltern pflichtgemäß derartiges sagt, so sind sie freilich leicht geneigt, sich auf allerlei zu berufen, auf die Spartaner, auf die Natur­ völker, auf die Alpenbewohner, auf unsere Seesoldaten und dergleichen mehr. Aber was die Spartaner betrifft, so weiß man, daß sie sich um die Erhaltung schwächlicher Kinder wenig Sorge machten, sondern sie einfach aussetzten oder, *) Nachträglicher Zusatz: Eine auch für die Ernährung sehr üble Wirkung hatte hingegen der strenge Winter 1916—17, wie allgemein zugegeben wird. ’) Nachträglicher Zusatz: In unserer Zeit der Umwertung aller Werte haben freilich Ärzte in amtlicher Stellung und auch andere plötzlich entdeckt, daß das im Sommer 1917 freilich zur Notwendigkeit gewordene Barfußgehen nicht allein nicht schädlich, sondern sogar gesundheitsfördernd sei. In den Schulen könnten sie sich indessen mit leichter Mühe anders belehren lassen, wenn sie wirklich diese Ansicht haben sollten.

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wenn sie der „spartanischen Erziehung" nicht gewachsen waren, sie ruhig zu­ grunde gehen ließen, und ob die andern bei andrer Behandlung sich nicht noch kräftiger entwickelt hätten, ist gar sehr die Frage. Me der schon früher erwähnte Dr. Spier bemerkt hat, und wie auch sonst schon vielfach hervorgehoben worden ist, darf man sich von der Leistungsfähigkeit von Völkern, die vom sagenhaften Dunkel des Altertums umgeben sind, keine übertriebene Vorstellung machen. Von den Naturvölkern, wenigstens von den Bewohnem kalter Gegenden, ist bekannt, daß sie geringes Wachstum aufweisen und viel weniger widerstandsfähig sind als wir. Daß die offenbar auf der größeren Bequemlichkeit beruhende Sitte der Alpenbewohner, selbst bei kalter Witterung mit nackten Knien zu gehen, schon deshalb, weil und soweit sie Tatsache ist, auch als unschädlich oder gar als nützlich anzusehen sei, darf man stark in Zweifel ziehen, wenn man bedenkt, daß es viele sich mit Hartnäckigkeit erhaltende Volksgebräuche gibt, die in gesund­ heitlicher Hinsicht ganz sicher kein Lob verdienen. Die Tracht unserer Seesoldaten, die, wenn auch nicht beständig, Hals und Brust frei läßt und der Kälte aussetzt, wird vielleicht dermaleinst das Schicksal der seinerzeit für nützlich und unent­ behrlich gehaltenen engen Gamaschen, überstrammen Halsbinden und gerollt über der Brust getragenen Mäntel teilen. Wenn aber die Schule das Recht und die Pflicht hat, auf eine dem jugend­ lichen Bedürfnis entsprechende Bekleidung hinzuwirken, so hat sie erst recht die Pflicht, in dem Bereich, für das sie allein maßgebend ist, alle Schädigungen zu vermeiden, die aus unzureichender Erwärmung hervorgehen können, was mit dem ganz selbstverständlichen Fernhalten von Verweichlichung sich sehr wohl in Einklang bringen läßt, wie jedes Lehrbuch der Gesundheitspflege zeigt, d) Die Körperübungen.

Größeren Einfluß als auf die Ernährung hat die Schule auf die körperliche Übung, die freilich mit der Ernährung in enger Wechselbeziehung steht, insofern

sie einerseits von ihr die zu verbrauchende Kraft erhält, andrerseits aber auch, wenn nicht im Übermaß betrieben, auf sie anregend und kraftfördernd zurückwirkt. Man kann ruhig zugeben, daß die Schule bisher im allgemeinen, trotz mancher nützlicher Maßnahmen in der neueren Zeit, der körperlichen Übung zu wenig Pflege gewidmet hat; man darf aber nicht übersehen, welche ge­ waltigen Kraftleistungen unsere im Felde stehenden Truppen dennoch voll­ bringen, und es wäre im höchsten Grade bedauerlich, wenn man nunmehr, in der Zeit des sprichwörtlich gewordenen „Umlernens", ins Gegenteil, ins Übermaß verfallen sollte. Die Gefahr ist zweifellos vorhanden; reden doch bereits Männer mit gefeiertem oder doch angesehenem Namen davon, daß hinfort auf der Schul­ bank rauheres Gelände aufgesucht werden müsse, und daß wir körperliche wie geistige Höchstleistungen anzustreben hätten, so Adolf Matthias in seiner Schrift „Krieg und Schule" (1915), obwohl er kurz vor dem Kriege in einem Aufsatz des Berliner Tageblatts noch den Zuchtlosigkeiten in Gustav Wyneckens Jugendzeitschrift „Der Anfang" halb und halb das Wort geredet

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hat, so der Prager Schularzt Theodor Altschul, der in der Zeitschrift für Schulgesundheitspflege (1914) genau genommen eine rücksichtslose Auslese der Tüchtigsten verlangt. Wer aus unserer männlichen Schuljugend, was das Ertragen von Ent­ behrungen und Strapazen betrifft, eine Art Hindenburgischer Truppen im kleinen machen möchte, der vergißt mehrerlei: er vergißt, daß jene wackeren Männer ihre ungeheuren Leistungen vollbringen, obwohl sie eine — so müßte man dann doch wohl sagen — minderwertige körperliche Erziehung erhalten haben; er vergißt, daß es längst voll ausgewachsene Leute sind, die auch im Verhältnis mehr aushalten können als noch im Wachstum begriffene Jugend­ liche — nicht umsonst zieht Hindenburg, wie man hört, die alten Jahrgänge den jungen vor; nicht umsonst sehen die ganz jungen Kriegsurlauber meistens recht angegriffen aus —; er vergißt endlich, daß der Krieg ein Ausnahmezustand ist, bei dem es, wenn es hart aus hart geht, nicht darauf ankommen darf, ob viele wegen Überanstrengung am Wege liegen bleiben. Die Schule aber erzieht, obwohl auch, so doch nicht nur für den Krieg und darf in eine Rücksichtslosigkeit, wie sie im Kriege Gebot sein kann, nimmermehr verfallen. Die Frage, ob die körper­ liche Ausbildung unserer Schuljugend, soweit sie Sache der Übung ist, einer Steigerung bedürfe, wird damit noch lange nicht verneint. Wenn man von körperlichen Übungen spricht, so denkt man gewöhnlich und zunächst an Turnen und Schwimmen, allenfalls noch an Tumspiele und Wanderungen; aber die Übungen, die man unter diesen Bezeichnungen zusammen-' faßt, erschöpfen das Gebiet keineswegs. Man kann sie, wenn man das Wort nicht allzu sehr pressen will, als (von außen) auferlegt ansehen; es gibt aber auch Übungen, die mehr von innen heraus kommen, auf einer gewissen inneren Nötigung beruhen. Hierher gehören nicht nur die Bewegungen der Lunge, des Herzens, des Magens usw., Bewegungen also, die unmittelbar im Dienste der Ernährung stehen und durch selbsttätige Übung erstarken und sich entwickeln, sondern auch noch andere körperliche Bewegungen, die ihre Ursache mehr in einem inneren Bedürfnis als in äußerer Anregung im Sinne einer gewissen Aufnötigung haben. Schon im Körper des kleinen Kindes bildet sich sehr bald eine Kraftmenge, die nicht nur für die Ernährung ausreicht, sondern auch noch einen Überschuß enthält, der zur Entladung drängt oder, wie Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung so treffend sagt, „zur Tätigkeit stachelt". Diese Ent­ ladung vollzieht sich in einer mit der Zeit schier unübersehbaren Fülle körper­ licher Bewegungen, die scheinbar zwecklos sind und dem Kinde nur zur Be­ freiung, zum Vergnügen gereichen, in Wahrheit aber auch zur Kräftigung der äußeren und mittelbar auch der inneren Organe dienen und sie zu späterer Tätigkeit im Kampfe ums Dasein geschickt machen. Diese Tätigkeit, die bloß zur Befreiung, zum Vergnügen ausgeübt wird, können wir zum Unterschiede von Handlungen, bei denen nicht diese selbst, sondern mit ihnen etwas außer ihnen Liegendes bezweckt wird, als Spiel bezeichnen. Daß im Spiel des Kindes ein tiefer Sinn liege, ist schon längst und oft behauptet worden; aber erst Karl Groos hat sich das Verdienst erworben, Da» neue Teuischland in Erziehung und Unterricht. Hest 2.

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den freilich auch schon von Herbert Spencer erkannten Sinn des Spiels als einer Einübung der Fähigkeiten für die Ernsthandlungen des Lebens überzeugend und umfassend darzulegen, ein Verdienst, das—wenigstens in pädagogischen Kreisen — noch lange nicht gebührend anerkannt ist. Groos Buch über die Spiele der Tiere, das 1896 erschien, liegt schon seit einer ganzen Reihe von Jahren in neuer Auflage vor; das Werk über die Spiele der Menschen aber, das 1899 herauskam, muß noch immer darauf warten. Es scheint hiernach, daß etwa Oberförster, Landwirte, Landpastoren usw. für eine tiefergehende Untersuchung über die Spiele der Tiere mehr Interesse haben, als — selbst im Zeitalter der Jugendspiele! — Lehrer und Erzieher für eine wissenschaftliche Arbeit über die Spiele der Menschen. Allerdings hat der als Forscher auch in Deutschland wohlbekannte ameri­ kanische Universitätsprofessor G. Stanley Hall in seinem großen Werke „Adolescence“ (1904) und anderswo eine Auffassung entwickelt, die der Groosschen Einübungstheorie, wie es scheint, völlig entgegensteht. Hall sieht in den Spielen der Kinder, soweit sie nicht künstliche, von außen einge­ drungene Bestandteile aufweisen, Nachwirkungen aus alten Zeiten des Menschen­ geschlechts, ja aus der Tierreihe, die der Mensch nach der Entwicklungslehre sortsetzt. Was früher Emsthandlungen der Erwachsenen waren, wie etwa das Erklettem der Bäume, das Werfen mit Steinen, das Graben von Erdhöhlen usw., das hat sich im Gedächtnis und im Trieb der Art erhalten und tritt jetzt bei den Kindem als Spiel zutage, als eine lustvolle Wiederholung längst ver­ gangener Ernsthandlungen, die einmal notwendig waren, es jetzt aber wenigstens lange nicht mehr in dem früheren Maße sind. Man darf aber nun nicht meinen, solche auf Vererbung bemhende Spiele hätten nach Hall keine Bedeutung für das spätere Leben; im Gegenteil, sie erscheinen ihm als notwendige Durch­ gangsstufen. Wie der noch in der Entwicklung begriffene Frosch sich als Kaul­ quappe des später verschwindenden Schwanzes bedienen muß, wenn sich die Beine entwickeln sollen, so bedarf der Mensch als Kind mancherlei Übungen, die er geerbt hat, die aber später, wenn sie ihre Schuldigkeit getan haben, aufhören. Wie man gewissen Tieren, die ihrer Natur nach blind zur Welt kommen, nicht künstlich und voreilig die Augen öffnen darf, wenn man sie nicht schwer schädigen will, so darf man auch die entwicklungsgeschichtlich bedingte Spielzeit des jungen Menschen nicht durch Übungen ausfüllen, die erst einer späteren Stufe angemessen sind. Wie groß nun der Unterschied zwischen der Auffassung von Hall und Groos auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so stimmen beide doch darin überein, daß sie im Spiel des Kindes eine Vorbereitung für das Leben sehen, nur daß diese Vorbereitung nach Groos später mehr eine Fortsetzung, nach Hall mehr eine Ablösung findet. Sehen wir uns aber die Spiele der Kinder in der Wirklichkeit an, so finden wir manche, die, wie z. B. das Puppenspiel der Mädchen, später keineswegs durch eine anders geartete Tätigkeit abgelöst werden: der Umgang der Mutter mit dem Kinde ist im wesentlichen eine Fortsetzung der früheren Spieltätigkeit in Gestalt der Ernsthandlung. Andere Spiele erfahren in der spätern Ernst-

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Handlung wohl eine mehr oder minder große Abänderung, aber doch keine eigentliche Ablösung; so das Spiel der Knaben mit Pfeil und Bogen: die in ihm erworbene Kräftigung und Geschicklichkeit gewisser Muskeln des Armes, der Hand und des Auges sind auch für den Umgang mit dem Gewehr von Nutzen. Ja, angesichts der Kämpfe in den Argonnen, in der Champagne und am Stilfser Joch wird man nicht einmal behaupten wollen, daß das Klettern und Höhlenmachen der Jugend keine Einübung höchst ernsthafter Tätigkeiten seien. Es kann zugegeben werden, daß manche, besonders ganz einfache Spiel­ bewegungen schwinden, wenn ihre Zeit abgelaufen ist, aber ebenso scheint es auch sicher, daß sich, namentlich in Spielen von mehr zusammengesetzter Natur, dauernde Bestandteile finden, die sich als Einübung auffassen lassen. Man könnte vom Standpunkte Halls zwar einwenden, in den Fällen, wo die Ernsthandlung als Fortsetzung der Spielhandlung erscheine, seien bereits künstliche, durch die Umgebung mehr oder weniger aufgenötigte Bestandteile, „artifacts", in das natürliche Spiel eingedrungen, und daran mag etwas Wahres sein; es wird indessen seine großen Schwierigkeiten haben, hier stets mit Sicher­ heit zu sondern, was „natürlich" ist und was „künstlich". Wo aber Natürliches und Künstliches sich so innig und untrennbar verbinden, wie etwa in den Puppen­ spielen der Mädchen und in den Soldatenspielen der Knaben, da wird man sich sagen müssen, daß das Künstliche gerade wegen seiner nahen Verwandt­ schaft mit dem Natürlichen ein solche Verschmelzung eingegangen ist und nun ganz ungezwungen und immer noch als Spiel über die bloßen „Erbreaktionen" hinausführt in das Leben der Erwachsenen, wie es jetzt ist. Man könnte im Sinne Halls auch vielleicht sagen, daß gewisse uralte Betätigungen, die bei den Kindern als Spiel erscheinen, wie eben das Klettern, das Höhlengraben, das kriechende Heranschleichen und anderes mehr, sich im Kriege wiederholten, beweise für die Richtigkeit der Einübungstheorie nichts, denn der Krieg sei nur ein „Atavismus", ein Rückfall in einen von der Kultur­ welt eigentlich überwundenen Zustand. Daß hieße aber, wie wir die Dinge jetzt kennen, sich der Theorie allzusehr anbequemen. Wie wenig die Kultur­ menschheit das Kriegführen überwunden hat, ist niemals deutlicher geworden als in unsern Tagen, und nur Träumer können noch glauben, es sei trotz allem ein Fremdkörper in der Entwicklungsstufe der Gegenwart geworden. So scheint es denn, daß die Theorie Halls, soweit bis jetzt von ihr die Rede gewesen ist, der Theorie von Groos nicht eigentlich widerspricht, sondern sie eher ergänzt. Von einer unmittelbaren Vorübung, wenn auch nicht gerade von einer Einübung, für das spätere Leben könnte man auch übrigens dann noch reden, wenn man von den einzelnen Spielen absähe, die nach Groos' Ausdruck offenkundig „Vorahmungen", sozusagen vorweggenommene Abbilder späterer Ernsthandlungen darstellen, und nur die auf dem Wege des Spiels erworbene Kraft und Geschicklichkeit des Körpers (und des Geistes) in Betracht zöge, eine Art formaler Bildung, die die Anpassung an die Einzelfordemngen des Lebens zwar nicht völlig in sich schließt, aber doch erleichternd vorbereitet.

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Nun tritt in der Auffassung Halls weiter allerdings ein Punkt hervor, der nach meiner Meinung mit der Einübungstheorie durchaus nicht vereinbar ist und gleich hier besprochen werden mag, wenn er auch auf das geistige Gebiet hinüberführt. Da die echten Spieltätigkeiten des Kindes nach Halls Ansicht (aus dem Wege der Vererbung überkommene) Tätigkeiten niederer Ordnung sind, so soll die Übung dazu dienen, die niederen Triebe, auf denen sie beruhen, abzuschwächen, so daß sie beim Erwachsenen völlig verschwinden oder doch nicht mehr mit der früheren Kraft und Häufigkeit austreten und so den Tätig­ keiten höherer Ordnung Platz machen. Wie aber durch Übung eine Ab­ schwächung zustande kommen soll, ist nicht zu begreifen, es sei denn, daß es sich um ein die Fähigkeiten erschöpfendes und zerstörendes Übermaß an Übung handelt. Angemessene Übung erhält und kräftigt; sie schwächt nicht. Wenn auch bei der Kaulquappe der Schwanz im Laufe der Zeit verschwindet, so läßt sich doch kaum behaupten, er werde weggeübt, sondern es wird wohl so sein, daß er verschwindet, weil er allmählich nutzlos, also immer weniger geübt wird, und wenn beim Menschen im Laufe der Einzelentwicklung ur­ sprüngliche Tätigkeiten etwa aufhören oder abgeschwächt werden sollten, so dürfte es sich wohl ebenso verhalten. Die Lehre Halls wird hier auch ganz offensichtlich den Tatsachen nicht gerecht. Die Liebe, der Eifer und die Ge­ schicklichkeit der Mutter bei der Pflege des Kindes würden sicher nicht größer sein, wenn die Mutter früher nicht mit Puppen gespielt hätte, und was den angeblich abschwächenden Einfluß der Kampfspiele anlangt, so hat bereits der Schweizer Claparöde darauf hingewiesen, daß man bei den deutschen Kriegern von 1870 trotz alles früheren Soldatenspielens von einer Abschwächung kriegerischen Sinnes und Könnens nichts gemerkt habe. Von der Gegenwart braucht man gar nicht zu reden. Gewiß, unsere erwachsenen Männer führen nicht so gern Krieg, wie die Knaben Krieg spielen, und sind froh, wenn er zu Ende ist, während die Knaben in der Regel vom Spiel nicht genug bekommen können; aber das liegt, wie auch Groos in seinem Buche über das Seelenleben des Kindes bemerkt hat, nicht an der angeblichen Abschwächung der Kampftriebe durch frühere Kriegsspiele, sondern daran, „daß die dauernde Emstbetätigung der Kampftriebe mit ihrem reichen Maß von unangenehmen und schmerzlichen Folgeerscheinungen (die beim Spiel fehlen) den älteren ruhebedürftigen Kämpfer schließlich friedfertig stimmen kann". Man hat die körperlichen Übungen, unter denen man, wie schon angedeutet, gar zu leicht nur das Turnen mit seinen verschiedenen Formen und Abarten versteht, wohl die „Poesie des Leibes" genannt. Will man den Vergleich festhalten, so muß man ihn etwas weiter ausführen und dabei zurechtrücken in der Weise, daß man sagt: das aus der Natur des Kindes herauswachsende, wenn auch durch äußere zufällige Anregungen mitbestimmte Spiel gleicht der Volks­ dichtung; ein Spiel, das zwar von Erwachsenen für Kinder gemacht wird, aber dem natürlichen Spiel seine Grundzüge entnimmt, so daß es dem ge­ wordenen Spiel nahekommt, ist mit der guten, nach dem Vorbilde der Volksdichtung geschaffenen Kunstdichtung zu vergleichen („Play is molar poetry“, sagt auch Hall); das Turnen hingegen, soweit es nicht bloße Arbeit

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ist, sondem wenigstens äußerlich auch etwas vom Spiel an sich hat, wäre etwa neben die lehrhafte Dichtung zu stellen, die ja von der wirklichen Dichtung beinahe nur das Gewand hat. Da das gewordene Spiel in seinen wesentlichen Bestandteilen von selbst aus der Natur des Kindes, aus innerem Drange entspringt, so müssen wir annehmen, daß sich die Natur in ihm diejenigen körperlichen Bewegungen schafft, die wenigstens vorläufig am notwendigsten sind und der körperlichen Entwicklung am besten dienen. Mit der Zeit muß freilich eine vorsichtige und schonende Beeinflussung der urwüchsigen Spiele durch den Erzieher eintreten, der hier ebensowenig wie sonst gut daran tun würde, gewissen oberflächlichen Neuerern zu folgen und alles wild wachsen zu lassen, und je älter das Kind wird, um so mehr wird es sich empfehlen, den natürlichen Spielen, die aus dem Kinde selbst entstehen, auch andere hinzuzufügen, um den Spielkreis zu erweitern und der wachsenden Leistungsfähigkeit Nahrung und steigernde Anregung zu geben. Allerdings dürfen die künstlichen Spiele nicht aufs Geratewohl frei erfunden, auch nicht, wie Spieß es bei den Turnübungen machte, aus der Verwirklichung von allerlei, selbst ganz entlegenen „Bewegungsmöglichkeiten" zusammengesetzt werden; endlich darf man nicht glauben, auf dem richtigen Wege zu sein, wenn man nach irgendeiner Physiologie der Leibesübungen, und sei es die beste, Spielgebilde zusammenstellt. Es handelt sich auch hier wenigstens noch lange Zeit, mit Pestalozzi zu reden, um ein Pulsgreifen der Kunst, die man sucht. Der Puls ist hier das kiMiche Bedürfnis, das durch sorgfältige und wissenschaftlich geschärfte"Beobachtung erkannt werden muß, und die Kunst ist die von erziehlichen Absichten geleitete, erziehlich angemessene Anpassung an dieses Bedürfnis, ist dessen zweckmäßige Leitung. Dem kindlichen Spiele am nächsten stehen Volksspiele, wie sie sich in manchen Gegenden noch bis auf den heutigen Tag erhalten haben, oder wie man solche aus früherer Zeit gelegentlich oder in besonderen Büchern beschrieben findet; und gerade solche Volksspiele können zur Ausgestaltung des Spielwesens für die Jugend wertvolle Fingerzeige geben. Auch manche Spiele der Natur­ völker dürften mit Nutzen zu verwerten sein. Neuerdings wird das alles grund­ sätzlich ja auch anerkannt; aber wenn das Jugendspiel in der Richtung des Naturgemäßen, Gesunden und Unerkünstelten auch nicht zu unterschätzende Fortschritte gemacht hat, so kann man doch nicht sagen, daß nicht noch sehr viel zu wünschen übrig sei.