Die Aufgaben der Realanstalten nach dem Kriege [Reprint 2021 ed.] 9783112461464, 9783112461457


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Die Aufgaben der Realanstalten nach dem Kriege [Reprint 2021 ed.]
 9783112461464, 9783112461457

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Das neue Deutschland in Erziehung und Unterricht Lerausgegeben von

Prof. Dr. Bastian Schmid und Privatdoz. Dr. Max Brahn in München

in Leipzig-Gohlis

Heft 7

Die Aufgaben der Realanstalten nach dem Kriege Von

Dr. Jakob HaHs Stadtschulrat in Breslau

Berlin und Leipzig 1919

Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co. vormals G. I. Göschen'sche Verlagshandlung :: I. Guttentag, Verlags­ buchhandlung :: Georg Reimer :: Karl I. Trübner :: Veit & Comp.

Die

Aufgaben der Realanstalten nach dem Kriege Von

Dr. Jakob Hacks Stadtschulrat in Breslau

Berlin und Leipzig 1919

Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co. vormals G. I. Göschen'sche Verlagshandlung :: I. (Suttentag, Verlags­ buchhandlung :: Georg Reimer :: Karl I. Trübner :: Veit öi Comp.

Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, Vorbehalten.

Vorwort Diese kleine Schrift ist im Hochsommer 1918 verfaßt, also zu einer Zeit,

wo wir noch hoffen durften, den Krieg nicht zu verlieren.

Obwohl durch den

unglücklichen Ausgang des Krieges die deutschen Verhältnisse von Grund aus

umgestaltet worden sind, brauchte ich meine Anschauungen im allgemeinen

nicht zu ändern.

Ich habe deshalb den Wortlaut meiner Ausführungen un­

verändert gelassen und nur einige unbedingt notwendige Berichtigungen in Form von Anmerkungen hinzugefügt. Breslau, im Dezember 1918.

Der Verfasser.

Inhalt Seite

Vorwort......................................................... 1. Übersicht über die Aufgaben der Schule........................................

5 9

2. Die volkswirtschaftlichen Aufgaben des Lebens und die Schule

H

3. Die sozialen Aufgaben des Lebens und die Schule .

19

4. Die kulturellen Aufgaben des Lebens und die Schule

25

a) Die Kunst

26

.

b) Die Philosophie.

28

c) Die Wissenschaften .

32

d) Die Ethik.

33

e) Die Religion................................................................... 5. Die nationalen Aufgaben des Lebens und

die Schule ....

6. Die Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der höheren Lehranstalten . 7. Das mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasium .

8. Die Berufsberatung

...

37 39 41

61 65

9. Die einzelnen Unterrichtsfächer.

67

a) Deutsch.............................

68

b) Französisch

10.

und Englisch.

70

c) Geschichte........................................

74

d) Mathematik

77

und Naturwissenschaften

Schlußbemerkung

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1. Übersicht über die Ausgaben -er Schule Der gewaltige Krieg, der dem deutschen Volke seit vier Jahren so ungeheure Opfer auferlegt und dessen Ende noch gamicht abzusehen ist, hat unser Denken und unsere Empfindungen in vielen Fragen umgestaltet. Wir haben umgelernt, so hört man von allen Seiten. Ob es mit dem Umlernen überall so vollkommener Ernst ist, ob insbesondere das Neugelernte auch nach dem Kriege bei allen haften bleiben wird, ist eine andere Frage, die wir nicht erörtern wollen. Eines aber ist sicher: Es ist undenkbar, daß diese großen Ereignisse an unseren Schulen spurlos vorübergehen werden. Auch die für die Schulfragen maßgebenden Männer und Frauen haben in mancher Beziehung umlernen müssen, und darum steht die Gestaltung der Schule nach dem Kriege unter den wichtigen Aufgaben der Gegenwart mit in erster Reihe. War schon vor dem Kriege die Zahl der Reformvorschläge nicht klein, so hat sich während des Krieges geradezu eine Flut von Schriften über uns ergossen, die das Schulwesen mehr oder weniger gründlich umgestalten wollen. Indessen gibt es auch Stimmen, die von Umwälzungen auf dem Gebiete des Schulwesens nichts wissen wollen, sondern in der. Hauptsache am alten festhalten möchten, da sie der Ansicht sind, daß unsere Schulen in ihrem innersten Kerne gut sind und sich im Kriege vollkommen bewährt haben. (Vgl. z. B. die lesenswerte Schrift von Siebourg, Die innere Weiterbildung unserer höheren Schulen, Leipzig 1917). Es ist das eine Auffassung, der man eine gewisse Berechtigung sicherlich nicht versagen wird. Wären unsere Schulen (es gilt dies von allen, nicht nur von den höheren) so schlecht, wie man viel­ fach behauptet, so wären die unvergleichlichen Leistungen unserer Soldaten zu Lande und zu Wasser ganz unerklärlich. Und doch wäre es verfehlt, hieraus den Schluß zu ziehen, daß so ungefähr alles beim alten bleiben kann. Wir haben vielmehr die Verpflichtung, ernstlich darüber nachzudenken, ob wirklich in unserem Schulwesen alles in schönster Ordnung gewesen ist, ob nicht doch im Kriege sich Mängel gezeigt haben, und ob nicht auch, ganz abgesehen vom Kriege, das Leben neue Aufgaben stellt, die auf die Gestaltung unserer Schulen Einfluß gewinnen müssen. Auch nach dem Kriege 1870/71 hat man aus unserer Überlegenheit nicht den Schluß gezogen, daß alles gut sei; man hat vielmehr wesentliche Neuerungen eingeführt. Die Umgestaltung unserer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnisse führte notwendig zu einer Reform des Schulwesens. So muß sich auch jetzt der Freund der Realanstalten die Frage vorlegen, welche Aufgaben diese Schulen nach dem Kriege zu erfüllen haben werden.

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Jakob Hacks

Wenn ich mich als einen Freund der Realanstalten bekenne, so folgt daraus nicht, daß ich ein Gegner des Gymnasiums bin. Nein, das bin ich nicht, und ich will gleich an dieser Stelle bemerken, daß ich auch die Gymnasien für un­ bedingt nötige Anstalten halte, deren Beseitigung nach meiner Auffassung geradezu eine Schädigung unserer Kultur bedeuten würde. Ich bin selbst Abiturient eines Gymnasiums und weiß, was ich ihm zu verdanken habe. Das hindert aber nicht, daß ich für die Realanstalten, deren Bedeutung für das geistige und wirtschaftliche Leben des deutschen Volkes immer noch in weiten Kreisen unterschätzt wird, eine besondere Vorliebe habe. Aus welchen Gründen, das wird sich aus den folgenden Ausführungen, insbesondere aus den Erörterungen über die Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der höheren Lehranstalten (Abschn. 6) mit aller Deutlichkeit ergeben. Mcht nur dem Gymnasium, sondern auch der Oberrealschule und dem Realgymnasium haften noch zahlreiche Mängel an, deren Beseitigung für eine gedeihliche Entwickelung unserer Zukunft mir unbedingt erforderlich erscheint. Welches sind nun die Aufgaben der Realanstalten nach dem Kriege? Es gibt zunächst Aufgaben, die nicht nur den höheren, sondern auch den Volks­ und Mittel-, ja auch den Hochschulen gemeinsam sind, und darum gilt ein Teil unserer Ausführungen für Schulen aller Art. Auch wird es mir nicht möglich sein, in jedem Falle anzugeben, ob eine Aufgabe, die ich als notwendig be­ zeichnen muß, nur für die Realanstalten oder für alle höheren Schulen oder gar für alle Schulgattungen gilt. Wollen wir die Aufgaben der Realanstalten für die nächste Zukunft er­ mitteln, so gilt es zwei Fragen zu beantworten: 1. Welche Aufgaben stellt das Leben an die Realanstalten? 2. Welche Folgerungen ergeben sich aus den Erfahrungen des Krieges für ihre Gestaltung? Doch erscheint es mir zweckmäßig, die beiden Fragen nicht zu trennen, sondern sie gemeinsam zu behandeln. Die Schule verfolgt den Zweck, unsere Jugend für diejenigen Aufgaben zu erziehen, deren Erfüllung ihr im späteren Leben obliegen wird. Wollen wir also die Aufgaben der Schule richtig erfassen, so müssen wir die Frage aufwerfen: Was wird das Leben von unserer Jugend verlangen? Non scholae, sed vitae. So alt und ehrwürdig und so unbedingt richtig dieser Spruch ist, so scheut man sich doch meistens, damit Ernst zu machen. Man fürchtet das Schlagwort „Amerikanismus" oder „Utilitarismus". Solche Vorwürfe hat aber der nicht zu fürchten, für den die Aufgaben des Lebens nicht nur materielle, sondern auch geistige Ziele umfassen. Nur für das Leben wollen wir unsere Jugend in der Schule vorbereiten. Wofür denn sonst? Wem es mit dieser Forderung bitter ernst ist, der muß mit Entschiedenheit dafür eintreten, daß aus der Schule alles verbannt wird, was für das Leben gleichgültig, und alles eingeführt wird, was für das Leben notwendig ist. Daß es nicht möglich ist, den Inbegriff aller Aufgaben, die das Leben an uns stellt und an unsere Jugend stellen wird, zu erfassen, braucht nicht gesagt zu werden. So wünschens­ wert hier Vollständigkeit wäre, so müssen wir doch darauf verzichten, und es muß uns genügen, nur die wichtigsten Punkte aufzuführen.

Die Aufgaben der Realanstalten nach dem Kriege

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Unter den Aufgaben des Lebens unterscheide ich hauptsächlich vier: 1. volks­ wirtschaftliche, 2. soziale, 3. kulturelle, 4. nationale. Ich weiß sehr wohl, daß diese Einteilung strengen logischen Anforderungen nicht genügt; vor allem deshalb nicht, weil sie nicht scharf genug ist. Die volkswirtschaftlichen Auf­ gaben hängen mit den sozialen aufs engste zusammen; die kulturellen Auf­ gaben sind wieder von den volkswirtschaftlichen und sozialen nicht scharf zu trennen; die nationalen endlich berühren sich aufs innigste mit allen übrigen Aufgaben des Lebens. Aber unsere Einteilung genügt für den Zweck, den wir im Auge haben. Auch soll die Reihenfolge keine Rangordnung bedeuten. Ich sehe davon ab, eine solche anzugeben, da ich sie für unmöglich halte. Zu den genannten Aufgaben würden dann noch Pflichten treten, die das Leben vom einzelnen Menschen als Persönlichkeit fordert, die aber im Grunde ge­ nommen schon mit inbegriffen sind, da die Erziehung zur Persönlichkeit auch für die Gesamtheit von der allergrößten Bedeutung ist.

2. Die volkswirtschaftlichen Aufgaben des Lebens und die Schule Die Verbindung zwischen Volkswirtschaftslehre und Pädagogik ist noch nicht hergestellt. Auf der einen Seite haben bisher die wenigsten Pädagogen das Bedürfnis gefühlt, sich mit der Volkswirtschaftslehre eingehend vertraut zu machen, um aus ihr die Folgerungen für die Ausgestaltung der Schule zu ziehen; auf der anderen Seite hat noch kein Nationalökonom die Leistungen der Schule für die Aufgaben der Volkswirtschaft einer gründlichen Prüfung unterzogen, obschon eine solche dringend notwendig wäre. Daß die beiden Gebiete hier und da miteinander in Berührung getreten sind, soll damit nicht bestritten werden. Aber die volkswirtschaftlichen Gesichtspunkte, die der Päd­ agoge seinen Ausführungen voranstellt und die er fast für selbstverständlich hält, sind sehr häufig nicht viel wert. Man hat kaum eine Ahnung, wie sehr die Heiden Wissenschaften in Zusammenhang stehen. Weder betrachtete man bisher die Volkswirtschaftslehre als eine Hilfswissenschaft der Pädagogik, noch hat man erkannt, daß ein erheblicher Teil der Pädagogik als ein Zweig der praktischen oder angewandten Volkswirtschaftslehre (meist Volkswirtschaftspolitik genannt) angesehen werden muß. Während der Zusammenhang zwischen Psychologie und Pädagogik längst erkannt ist, weiß man noch wenig davon, daß auch Volkswirtschaftslehre und Pädagogik eng zusammengehören, und doch würde diese Erkenntnis sicherlich zu wichtigen neuen Ergebnissen führen. Beide Wissenschaften würden dabei gewinnen. Ich habe in meiner Schrift: „Der Aufstieg der Begabten und die Ein­ heitsschule, ein Problem der praktischen Volkswirtschaftslehre" (Breslau, Priebatsch 1917) den Versuch gemacht, eine Brücke zwischen beiden Gebieten zu schlagen. Ich habe zu diesem Zwecke der Erörterung des eigentlichen Pro­ blems eine volkswirtschaftliche Grundlegung vorausgeschickt, die das Wichtigste von dem enthält, was für die richtige Erfassung der Frage des Aufstiegs der Begabten und der verwandten Aufgaben an volkswirtschaftlichen Grund-

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Unter den Aufgaben des Lebens unterscheide ich hauptsächlich vier: 1. volks­ wirtschaftliche, 2. soziale, 3. kulturelle, 4. nationale. Ich weiß sehr wohl, daß diese Einteilung strengen logischen Anforderungen nicht genügt; vor allem deshalb nicht, weil sie nicht scharf genug ist. Die volkswirtschaftlichen Auf­ gaben hängen mit den sozialen aufs engste zusammen; die kulturellen Auf­ gaben sind wieder von den volkswirtschaftlichen und sozialen nicht scharf zu trennen; die nationalen endlich berühren sich aufs innigste mit allen übrigen Aufgaben des Lebens. Aber unsere Einteilung genügt für den Zweck, den wir im Auge haben. Auch soll die Reihenfolge keine Rangordnung bedeuten. Ich sehe davon ab, eine solche anzugeben, da ich sie für unmöglich halte. Zu den genannten Aufgaben würden dann noch Pflichten treten, die das Leben vom einzelnen Menschen als Persönlichkeit fordert, die aber im Grunde ge­ nommen schon mit inbegriffen sind, da die Erziehung zur Persönlichkeit auch für die Gesamtheit von der allergrößten Bedeutung ist.

2. Die volkswirtschaftlichen Aufgaben des Lebens und die Schule Die Verbindung zwischen Volkswirtschaftslehre und Pädagogik ist noch nicht hergestellt. Auf der einen Seite haben bisher die wenigsten Pädagogen das Bedürfnis gefühlt, sich mit der Volkswirtschaftslehre eingehend vertraut zu machen, um aus ihr die Folgerungen für die Ausgestaltung der Schule zu ziehen; auf der anderen Seite hat noch kein Nationalökonom die Leistungen der Schule für die Aufgaben der Volkswirtschaft einer gründlichen Prüfung unterzogen, obschon eine solche dringend notwendig wäre. Daß die beiden Gebiete hier und da miteinander in Berührung getreten sind, soll damit nicht bestritten werden. Aber die volkswirtschaftlichen Gesichtspunkte, die der Päd­ agoge seinen Ausführungen voranstellt und die er fast für selbstverständlich hält, sind sehr häufig nicht viel wert. Man hat kaum eine Ahnung, wie sehr die Heiden Wissenschaften in Zusammenhang stehen. Weder betrachtete man bisher die Volkswirtschaftslehre als eine Hilfswissenschaft der Pädagogik, noch hat man erkannt, daß ein erheblicher Teil der Pädagogik als ein Zweig der praktischen oder angewandten Volkswirtschaftslehre (meist Volkswirtschaftspolitik genannt) angesehen werden muß. Während der Zusammenhang zwischen Psychologie und Pädagogik längst erkannt ist, weiß man noch wenig davon, daß auch Volkswirtschaftslehre und Pädagogik eng zusammengehören, und doch würde diese Erkenntnis sicherlich zu wichtigen neuen Ergebnissen führen. Beide Wissenschaften würden dabei gewinnen. Ich habe in meiner Schrift: „Der Aufstieg der Begabten und die Ein­ heitsschule, ein Problem der praktischen Volkswirtschaftslehre" (Breslau, Priebatsch 1917) den Versuch gemacht, eine Brücke zwischen beiden Gebieten zu schlagen. Ich habe zu diesem Zwecke der Erörterung des eigentlichen Pro­ blems eine volkswirtschaftliche Grundlegung vorausgeschickt, die das Wichtigste von dem enthält, was für die richtige Erfassung der Frage des Aufstiegs der Begabten und der verwandten Aufgaben an volkswirtschaftlichen Grund-

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begriffen notwendig ist. Was ich dort geschrieben habe, ist auch für die Frage nach der Gestaltung unseres Schulwesens von Bedeutung. Aber mit diesem Hinweis kann ich mich nicht begnügen. Ich werde vielmehr auch hier den Beweis erbringen müssen, daß der angegebene Zusammenhang zwischen Volkswirtschaftslehre und Pädagogik wirklich besteht. Welches ist denn der Zweck der Volkswirtschaftslehre? Die Volkswirt­ schaftslehre ist wie die Medizin und die Technik eine praktische Wissenschaft. Sie bezweckt, das wirtschaftliche Leben der Menschen möglichst günstig zu ge­ stalten, mit anderen Worten, sie will das Volk so reich als möglich machen, und auch dafür sorgen, daß die Güter dieses Lebens einigermaßen vernünftig verteilt werden. Die praktische Volkswirtschaftslehre bezweckt demnach Steigerung des Volksreichtums und Beseitigung der Armut. Der praktischen Volks­ wirtschaftslehre oder Volkswirtschaftspolitik muß aber die reine oder theoretische Volkswirtschaftslehre vorangehen. Bevor ich Maßregeln Vorschlägen kann, welche geeignet sind, ein Volk reich zu machen, muß ich wissen, worauf der Reichtum beruht; bevor ich Vorschläge zur Beseitigung oder Mlderung der Armut machen kann, muß ich die Ursachen der Armut kennen. Wenn man durch gesetzliche Maßnahmen den Lohn der Arbeiter erhöhen will, so muß man vorher wissen, welchen Gnfluß die Höhe der Löhne auf den allgemeinen Wohl­ stand hat. Will man Bevölkerungspolitik treiben, so muß man zunächst er­ kannt haben, in welcher Weise die Vermehrung der Bevölkerung auf den Wohl­ stand des Volkes einwirkt. Das Hauptproblem der theoretischen Volkswirtschaftslehre ist die Erklärung der Armut, wenn auch die meisten Volkswirtschaftler von diesem Probleme nichts wissen. Nur die großen Nationalökonomen, deren Zahl allerdings äußerst gering ist, haben sich gerade mit dieser Frage beschäftigt. Man erkannte das Mißverhältnis zwischen der durch Arbeitsteilung, Arbeitsvereinigung und tech­ nische Erfindungen gesteigerten Ergiebigkeit der Arbeit und dem Elend eines sehr großen Teiles des Volkes und fragte sich: Wie kommt es, daß trotz aller wirtschaftlichen Fortschritte immer noch so viel Armut herrscht? Das war es, was die ökonomischen Forscher zum Nachdenken über die wirtschaftlichen Dinge trieb von den Merkantilisten und Physiokraten bis auf Marx, Effertz und Franz Oppenheimer. Theodor Hertzka, der selbst in seinem Buche „Pro­ bleme der menschlichen Wirtschaft" einen erheblichen Beitrag zur Lösung des Problems der Armut geleistet hat, führt in der Einleitung seines Buches den überzeugenden Nachweis, daß die Hauptaufgabe der Nationalökonomie in der Tat keine andere ist, als eine Theorie der Armut aufzustellen. Wer dieses Ziel nicht verfolgt, kann den Namen eines ernsten ökonomischen Forschers nicht beanspruchen. Der vollen Entwickelung des Reichtums und der Beseitigung der Armut stehen grobe Mißverständnisse und Irrtümer entgegen. Jeder Mensch hat eine große Zahl von wirtschaftlichen Begriffen, die er von Jugend an in sich aufnimmt. Sie haben nur einen großen Mangel: Sie sind nämlich fast alle falsch oder mindestens fehlerhaft. Der verbreitetste dieser Irrtümer — man könnte ihn als den volkswirtschaftlichen Aberglauben bezeichnen — besteht in

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der Ansicht, daß das Geld der Maßstab aller wirtschaftlichen Dinge ist, und daß man deshalb mit dem Geldbegriff alle volkswirtschaftlichen Probleme lösen kann. Und aus der Wichtigkeit des Geldbesitzes für den Einzelnen schließt man auf seine Bedeutung für die Allgemeinheit. Man glaubt immer noch, je mehr Geld ein Volk besitze, desto reicher sei es, obschon man sich im Kriege nicht schwer davon überzeugen konnte, daß steigender Geldreichtum mit wach­ sender Verelendung verbunden sein kann. Aus dem Umstande, daß die privat­ wirtschaftlichen kosten' wenigstens zum Teil in Geld bestehen, schließt man, daß das Geld auch die volkswirtschaftlichen Kosten bildet. In Wirklichkeit be­ stehen aber die volkswirtschaftlichen Kosten nicht in Geld, sondern in Arbeit und Boden. Denn nicht das Geld wird vom Volke geopfert — das wechselt ja nur den Besitzer — sondern Arbeit und Boden. Die Arbeit und der Boden, die wir für die Erzeugung von Kartoffeln aufwenden müssen, können wir nicht im selben Jahre für den Anbau von Gerste verwenden, sie müssen also für die Erzeugung der Kartoffeln geopfert werden. Besonders Effertz hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß man all­ gemeine volkswirtschaftliche Probleme nicht mit dem Geldbegriff lösen kann. Franz Oppenheimer spricht von dem „Geldschleier der Maja", der sich über alle wirtschaftlichen Dinge legt und uns die hinter den Gütern steckenden Arbeits- und Bodenkosten nicht mehr erkennen läßt. Durch diesen Schleier müssen wir hindurchsehen, wenn wir volkswirtschaftliche Fragen lösen wollen. Der Physiologe v. Bunge hat den Nachweis erbracht, daß die Kosten der geistigen Getränke in den zivilisierten Ländern Europas (vor dem Kriege) den 10. Teil der gesamten Volksarbeit und den 10. Teil des gesamten Bolksbodens betragen. Sie sind also ungeheuer hoch. Die vielen Millionen Menschen, die mit der Erzeugung und dem Verkauf geistiger Getränke beschäftigt sind, könnten nützlichere Arbeit leisten und dadurch die Menge der Gebrauchsgüter vermehren. Und der der Erzeugung des Alkohols dienende Boden könnte zum Anbau von Nahrungsmitteln verwendet werden. Effertz hat gezeigt, daß die Kosten des deutschen Heeres in Friedenszeiten den 20. Teil der Volksarbeit und den 80. Teil des Volksbodens betragen. Auch diese Kosten sind groß genug. Aber wie klein sind sie, wenn man sie mit der ungeheuren Last vergleicht, welche die geistigen Getränke dem deutschen Volke auferlegen! Zu solcher Er­ kenntnis kommt aber nur derjenige, der es versteht, durch den Geldschleier hindurchzusehen! Dem Gelde wird eine wunderbare Kraft zugeschrieben. Am herrlichsten soll sich seine wundertätige Macht offenbaren, wenn es im Keller der Reichs­ bank liegt. Das Geld gilt als produkttv, d. h. man glaubt, es könne Güter produzieren, und doch kann nichts klarer sein, als daß nur Menschen produ­ zieren können. In der Volkswirtschaftslehre, als der Lehre vom wirtschaft­ lichen Leben der Menschen, sind nur die Menschen Personen, alle anderen lebenden oder leblosen Dinge dagegen Sachen. Tätig sein, arbeiten, produ­ zieren können aber nur Personen, also nur Menschen. Daher sind nur die Menschen produkttv, nicht aber irgendwelche Sachen, also auch nicht das Geld. Das Geld kann also auch nicht arbeiten. Wenn es sich um Geld handelt, so

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sind nichtsdestoweniger die meisten Menschen von einer gewissen Ehrfurcht ergriffen. Ms durch eines unserer U-Boote ein englisches Schiff versenkt wurde, welches neben wichtigen Lebensmitteln auch Gold enthielt, war in den Zeitungs­ berichten über diese Tat der Goldbetrag fett gedruckt! Als ob England aus Mangel an Gold zugmnde gehen könnte! Damit soll nicht gesagt werden, daß das Geld nicht von großer volkswirt­ schaftlicher Bedeutung ist: Das Geld ist ein Tauschmittel; Gütertausch aber bedeutet Arbeitsteilung, und darum ist das Geld für die Entwickelung der Arbeitsteilung, also für die Produktion von großer Wichtigkeit. Trotzdem hört aber das Geld nicht auf, Tauschmittel zu sein. Es ist kein Produktionsmittel, geschweige denn produküv, und die Produktionskosten bestehen nicht in Geld, sondern in Arbeit und Boden. Das Geld verwischt auch den so wichtigen Unterschied zwischen Nahrungs­ und Kulturmitteln. Diese unterscheiden sich volkswirtschaftlich dadurch von­ einander, daß die Nahrungsmittel verhältnismäßig viel Boden und wenig Arbeit, die Kulturmittel dagegen viel Arbeit und wenig Boden enthalten. Daß jedes Gut Arbeit enthält, ist ohne weiteres klar. Dagegen bedarf der Ausdruck: „Ein Gut enthält Boden" einer kurzen Erläuterung. Wenn ich sage: Ein Gut, z. B. ein Brot oder ein Buch, enthält Boden, so will ich damit sagen, daß das Gut oder die Stoffe, aus denen es hergestellt ist, eine gewisse Boden­ fläche eine Zeitlang beanspruchen, um darauf zu wachsen. So enthalten die Nahrungsmittel im allgemeinen sehr viel Boden, die Kulturmittel verhältnis­ mäßig wenig. Dieser sehr bedeutende Unterschied, ohne den z. B. ein Berständi is der Bevölkemngsfrage nicht möglich ist, wird durch den Geldbegriff verwischt. Man sieht in allen Gütern nur Geld und vergißt darüber die darin steckenden Arbeits- und Bodengrößen. Eine weitere Folge dieser irrtümlichen Auffassung von der Bedeutung des Geldes ist die Verwechselung zwischen Produktivität und Rentabilität. Unter Produktivität verstehen wir die volkswirtschaftliche, unter Rentabilität die privatwirtschaftliche Ergiebigkeit. Wir wollen nur an einem Beispiele zeigen, daß diese beiden Begriffe himmelweit voneinander verschieden sind. Als im Sommer 1916 die Kartoffeln in großen Mengen unreif aus der Erde genommen wurden, war dies für die Landwirte ein sehr gutes Geschäft, da sie infolge der damals festgesetzten Preisstufen um so mehr verdienten, je früher sie ihre Kar­ toffeln verkauften. Für die Volksernährung aber war dieses Verfahren äußerst schädlich. Denn "einmal hätten die ausgereiften Karwffeln sowohl der Menge als der Beschaffenheit nach einen erheblich größeren Gebrauchswert gehabt. Dann aber sind auf diese Weise sehr große Mengen von Karwffeln verdorben. Das Verfahren war also sehr rentabel, aber keineswegs produküv, es war im Gegenteil destruktiv. Dieser Gegensatz zwischen Produktivität und Rentabilität, den Dühring entdeckt hat, ist in der volkswirtschaftlichen Literatur auch heute noch ziemlich unbekannt. Nur wenige Männer haben seine ungeheure Wich­ ügkeit begriffen. Außer Hertzka, der namentlich die Bedeutung hoher Löhne für die Steigerung der Produküon, und Rudolf Goldfcheid, der besonders die Frage des Raubbaus an Arbeit eingehend behandelt hat, sind hier Franz

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Oppenheimer (Theorie der reinen und politischen Ökonomie) und ganz be­ sonders Otto Effertz zu nennen. Effertz hat in seinen beiden Hauptwerken (Arbeit und Boden, neue wohlfeile Ausgabe, Berlin, Puttkamer und Mühlbrecht, und Antagonismes economiques, Paris, Giard et Briere 1907) die Anta­ gonismen zwischen Produktivität und Rentabilität gründlich untersucht. Be­ sonders das deutsche Buch kann jedem, der in die volkswirtschaftlichen Fragen tiefer eindringeu will, nicht nachdrücklich genug empfohlen werden. Aus den angegebenen Irrtümern fließen weitere Fehlschlüsse. Man ver­ kennt das Wesen des volkswirtschaftlichen Fortschrittes und des Volksreichtums. Man sieht den volkswirtschaftlichen Fortschritt irrtümlich in einer Vermehrung des in Geld berechneten „Nationalvermögens". In Wirklichkeit aber besteht er entweder in einer Arbeits- oder in einer Bodenersparnis, meist in einer Arbeitserspamis. Das Nationalvermögen oder der Volksreichtum besteht nicht in Geld, sondern 1. in der Arbeitskraft aller arbeitenden Menschen, 2. im Volks­ boden, 3. in den produzierten Produktionsmitteln oder dem volkswirtschaft­ lichen Kapital, 4. in den» Vorrat an Gebrauchsgütern. Darum liegt auch der Hauptverlust, den wir durch den Krieg erlitten haben, in der Arbeitskraft der­ jenigen Menschen, die im Kriege entweder ihr Leben oder ihre Gesundheit eingebüßt haben. Mit dem Einwande der Arbeitslosigkeit bekämpft man jeden volkswirt­ schaftlichen Fortschritt. Als ob nicht ein solcher fast notwendig zunächst Arbeits­ losigkeit nach sich ziehen müßtet Arbeitslosigkeit ist überhaupt kein Einwand vom volkswirtschaftlichen, sondem nur vom privatwirtschaftlichen Standpunkte aus. Daraus folgt nicht, daß man die Arbeitslosen ihrem Schicksal überlassen soll. Im Gegenteil ist die Allgemeinheit verpflichtet, nicht nur die Arbeits­ losen zu unterstützen, sondern die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Das kann allerdings nicht der Einzelne, auch nicht die einzelne Gemeinde, sondem nur der Staat! Man glaubt femer, die Produktivität werde durch hohe Löhne geschädigt. Diese Meinung bemht aber wieder auf einer Verwechselung zwischen Produk­ tivität und Rentabilität. Die Rentabilität der Untemehmer kann unter Um­ ständen durch hohe Löhne der Arbeiter geschädigt werden; niemals aber die Produktivität, da diese von ganz anderen Dingen abhängig ist. Alle diese Dinge können hier nur flüchtig berührt werden. Wegen des ausführlichen Beweises der aufgestellten Sätze 'erlaube ich mir, außer auf die genannten Bücher von Effertz, auf meine Schrift „Die Gmndbegriffe der Volkswirtschaftslehre", 2. Auflage, Breslau, Priebatsch 1918 und auf das demnächst im selben Verlage erscheinende Buch über die „wichtigsten volks­ wirtschaftlichen Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft" zu verweisen. Wenn in allen diesen volkswirtschaftlichen Fragen die nötige Klarheit verbreitet wäre, so würde die Welt ganz anders aussehen. Nicht als ob es nötig wäre, an den Grundlagen der Gesellschaft zu rütteln. Vielmehr lassen sich die Ubelstände (sehr wohl) im Rahmen der gegenwärtigen Gesellschafts­ ordnung abstellen. Es ist, um nur einige Beispiele zu nennen, durchaus nicht nötig, den zehnten Teil der Volksarbeit und den zehnten Teil des Volksbodens

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auf die Erzeugung und den Verschleiß alkoholischer Getränke zu verwenden. Wenn allgemein erkannt wäre, welch ungeheure volkswirtschaftliche Ver­ schwendung der kostbarsten Dinge, Arbeit und Boden, darin liegt, und wie teuer uns der Alkohol zu stehen kommt, so würde die Gesetzgebung einen solchen Unfug nicht mehr dulden. Es ist durchaus möglich, durch den Ausbau der sozialen Gesetzgebung dafür zu sorgen, daß auch der Arbeiter und der Unter­ beamte an den Fortschritten des Volkswohlstandes und der Kultur den ihm gebührenden Anteil erhält. Denn das ist der Sinn aller sozialen Gesetzgebung, den Arbeiter dafür zu entschädigen, daß sein Lohn zu niedrig ist. Freie Bahn dem Tüchtigen zu verschaffen, ist durchaus vereinbar mit der bestehenden Gesellschaftsordnung. Die ungeheuren Verluste, die mit der regellosen Berufswahl verbunden sind, ließen sich innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft durchaus vermeiden. Es würde nicht schwer sein, diese Beispiele beliebig zu vermehren. Damit aber die volkswirtschaftliche Erkenntnis überall verbreitet wird, ist es unbedingt notwendig, die Volkswirtschaftslehre in den Unterricht aller Schulen einzuführen, ganz besonders aber in den der Realanstalten. Ferner ist es ein dringendes Erfordernis unserer Zeit, den gesamten Unterricht so zu gestalten, daß die wichtigen volkswirtschaftlichen Aufgaben des Lebens da­ durch vorbereitet werden. In den meisten Unterrichtszweigen müssen die volkswirtschaftlichen Gesichtspunkte in den Vordergrund gerückt werden. Hiergegen könnte man den Einwand erheben, daß ja nicht einmal die Professoren der Nationalökonomie sich über die wichtigsten volkswirtschaftlichen Fragen einig sind. Das ist richtig, es gibt keine einzige Frage von erheblicher Bedeutung in oer gesamten Volkswirtschaftslehre, die nicht strittig wäre. Es liegt dies aber keineswegs an der Schwierigkeit der zu behandelnden Fragen, sondern es hat hauptsächlich den Gmnd, daß diese Fragen mit den Interessen der Menschen eng verknüpft sind, und es daher schwer ist, sie objektiv zu be­ handeln. Der Zustand der Nationalökonomie ist wirklich trostlos. Gerade die bedeutendsten Vertreter der Wissenschaft von der Volkswirtschaftslehre be­ klagen diese Tatsache am meisten. Sombart nennt die Nationalökonomie die zerfahrenste aller Wissenschaften. Schumpeter meint, es würde mit der Nationalökonomie nicht eher besser werden, bis sie in andere Hände überginge. (Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, S. 613.) Er will damit sagen, daß die Mathematiker und Naturwissenschaftler es sind, die sich mit der Nationalökonomie mehr beschäftigen und Ordnung in die Sache bringen sollen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich die Mathematiker und Natur­ wissenschaftler darauf aufmerksam machen, daß gerade Effertz in der Volks­ wirtschaftslehre durch die Anwendung der Mathematik sehr beachtenswerte Ergebnisse erzielt hat. Hier ist ein Feld für die Freunde der angewandten Mathematik, welches reiche Früchte tragen kann. Auch Liefmann ergeht sich in lebhaften Klagen über den traurigen Zustand der Volkswirtschaftslehre. Wollten wir aber die Einführung des volkswirtschaftlichen Unterrichts in unsere höheren Lehranstalten verschieben, bis die Professoren der Nationalökonomie einig sind, so würde das Ziel in zu'ferne Zeiten verschoben werden. So lange kann das Leben nicht warten, und, da Schule und Leben aufs engste zusammen-

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hängen, auch die Schule nicht. Sie muß sich vielmehr an der Arbeit beteiligen. Wenn unsere Primaner bereits auf der Schule anfingen, volkswirtschaftliche Dinge objektiv zu behandeln, so würde das für ihre spätere Entwickelung und für das gesamte volkswirtschaftliche Leben von der allergrößten Bedeutung werden. Die Aufgabe des volkswirtschaftlichen Unterrichts wird gelingen, wenn der Lehrer mit der erforderlichen Objektivität an die Sache herangeht. Gerade die wichtigsten Fraget! der Volkswirtschaftslehre sind einfach und durchsichtig. Auch bringen die Schüler diesem Gegenstände die allergrößte Teilnahme und Verständnis entgegen. Wenigstens habe ich dies überall erfahren, wo ich volkswirtschaftlichen Unterricht erteilt habe, an der Volksschule, der Mittel­ schule, dem Kindergärtnerinnenseminar, der Frauenschule und dem Gymnasium. Freilich muß man wissen, was man den Schillern zumuten kann. In dieser Beziehung werden in den „volkswirtschaftlichen Belehrungen" die schwersten Fehler gemacht. Es ist unmöglich, dem Schüler klar zu machen, daß die Valuta steigt, wenn mehr Gold in der Reichsbank ist. Es ist dies schon deshalb unmöglich, weil die Richtigkeit des Satzes zum mindesten sehr zweifel­ haft ist. Man kann den Schülern nicht klar machen, daß der niedrige Stand der Valuta während des Krieges hauptsächlich durch die „negative" Handels­ bilanz verschuldet ist, denn das ist falsch. Aus demselben Grunde ist es un­ möglich, den Schülern zu zeigen, daß der Volkswohlstand durch eine positive Handelsbilanz gefördert wird. Die gewöhnlichen „kleinen Bürgerkunden" wimmeln von solchen Sätzen, die teils falsch, teils so schwierig sind, daß sie von Schülern nicht verstanden werden können. Sehr schlimm aber ist es, wenn die Schüler glauben, solche Dinge verstanden zu haben. Die volkswirtschaftlichen Fragen, deren Kenntnis für jeden Gebildeten notwendig ist, sind sehr einfach. Ich habe das Allerwichtigste, was auch ohne besondere Unterrichtsstunden in der Prima der höheren Vollanstalt durch­ genommen werden könnte, in meinen „Grundbegriffen der Volkswirtschafts­ lehre" zusammengestellt. Ich halte die Volkswirtschaftslehre für so wichtig, daß ich ihre Einführung in den Unterricht mit aller Entschiedenheit befürworten muß. Besonders die Realanstalten müssen dieses für das Leben so wichtige Gebiet in die Zahl ihrer Unterrichtsgegenstände aufnehmen. Zwei wöchentliche Lehrstunden in den beiden Primen würden für diesen Zweig des Unterrichts nicht zu viel sein, namentlich toenn in ihnen auch noch einiges aus der Gesetzeskunde durch­ genommen werden soll (vgl. Abschnitt 8). Woher sollen aber diese beiden Stunden ohne Vermehrung der Gesamt­ stundenzahl genommen werden? Denn eine solche halte ich nicht für möglich. Das ist natürlich eine sehr schwierige Frage, die kaum so gelöst werden kann, daß alle „Beteiligten" zufrieden sind-. Jeder hält sein eigenes Fach für das wichtigste und sträubt sich daher gegen eine Kürzung der Stundenzahl. Nichtsdestoweniger erlaube ich mir einen Vorschlag. Die eine der beiden Stunden müßte dem Geschichtsunterricht genommen werden. Ich weiß wohl, daß dieser Vorschlag der herrschenden Anschauung widerspricht. Aber ich hoffe, daß diese Das neue Deutschland in Erziehung und Unterricht. Heft 7.

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Auffassung recht bald wieder verschwinden wird. Gründliche volkswirtschaft­ liche Kenntnisse sind für weitaus die meisten Gebildeten ungleich wichtiger als geschichtliche Kenntnisse. Nicht Mangel an geschichtlichem Wissen hat der Krieg bewiesen, wohl aber in erschreckendem Umfange Mangel an volkswirt­ schaftlichen Kenntnissen. Für die Entwickelung des geschichtlichen Verständnisses reichen die beiden übrigbleibenden Stunden völlig aus. Dieses hat mit der Kenntnis geschichtlicher Daten nur wenig zu tun, durch die gründliche Be­ schäftigung mit der Volkswirtschaftslehre aber kann es nur gewinnen. Ich komme auf diese Punkte noch zurück (im Abschnitt 9c). Die zweite Stunde müßte an den Realanstalten dem fremdsprachlichen Gebiete entnommen werden. Denn die Realanstalten würden in ihrer Eigenart geschädigt werden, wenn man die Zahl der Unterrichtsstunden in Mathemaük und Naturwissenschaften kürzen wollte. Für die Einführung eines besonderen volkswirtschaftlichen Unterrichts spricht noch ein wichtiger Grund. Die Volkswirtschaftslehre ist nämlich ein Gegenstand, der, wie kein anderer, zur Objektivität des Denkens erzieht. Das mag zunächst sehr überraschend klingen, ist aber nichtsdestoweniger richtig. Ich verkenne nicht die Bedeutung der Mathematik, der Naturwissenschaften und der Grammatik für die Erziehung zum logischen Denken. In der Volks­ wirtschaftslehre findet sich aber außerdem ein Umstand, der in den genannten Gebieten so gut wie nicht vorkommt: Was der Mensch wünscht, das glaubt er gern. In der Volkswirtschafts­ lehre aber kommen wir häufig zu Ergebnissen, die uns gar nicht angenehm sind, zu Ergebnissen, die unserm persönlichen Vorteil widersprechen und deren Gegen­ teil wir daher wünschen. Hier verlangt die „intellektuelle Rechtschaffenheit", daß wir uns nicht von unserem eigenen Vorteile bestechen lassen, daß wir ganz objektiv der Wahrheit nachgehen und gegebenenfalls die Richtigkeit eines Satzes erkennen und anerkennen, von dem wir das Gegenteil wünschen. Etwas Ähn­ liches kommt in der Mathemaük nicht vor. In keinem Falle hat der Mathe­ matiker den Wunsch, das Ergebnis seiner Untersuchung möchte anders sein, als es wirklich ist. Es ist ihm völlig einerlei, ob die Summe der Dreieckswinkel zwei oder drei Rechte beträgt, und wäre es anders, als es in Wirklichkeit ist, so würde er sich in keiner Weise dagegen sträuben. Gegen die Erkenntnis aber, daß das Kapital nicht produktiv ist, sträubt sich jeder Kapitalist. Das Interesse der Kapitalisten hat den abgeschmackten Satz hervorgerufen, das Kapital, also eine Sache, könne Güter produzieren. Gegen die Erkenntnis, daß die Rente nicht das Produkt des Bodens ist, da auch der Boden eine Sache ist, also im volkswirtschaftlichen Sinne nicht produzieren kann, sträubt sich jeder Grund­ besitzer. Gegen die Erkenntnis, daß eine Vermehrung des Geldvorrates eines Volkes noch keine Vermehrung seines Reichtums bedeutet, sträubt sich jeder Bankier. Gegen die Erkenntnis, daß der Arbeiter nicht, wie Marx behauptet, seine Arbeitskraft, sondern seine Arbeit verkauft, sträubt sich jeder Sozialist, da er glaubt, nur die Marxsche Ansicht sei imstande, die niedrigen Löhne der Arbeiter zu erklären. Diese Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Weder in der Mathematik noch in der Grammatik kann es vorkommen,

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daß die Ergebnisse der Untersuchung mit unseren Wünschen in Widerspruch stehen. Etwas anders liegt die Sache in den Naturwissenschaften, nämlich bei den Versuchen. Hahn macht im Sammelwerk von Norrenberg, S. 181, darauf aufmerksam, daß der Schüler durch die physikalischen Schülerübungen zur Redlichkeit, zur Zuverlässigkeit und zur Achtung vor der Wirklichkeit er­ zogen wird. In der Tat kann sowohl bei den physikalischen als bei den chemischen praktischen Arbeiten für den Schüler die Versuchung vorliegen, die Ergebnisse zu fälschen, wenn sich nämlich das erwartete Ergebnis nicht einstellen will. Sehen wir aber von diesen Fällen ab, so liegt auch in den Naturwissenschaften kein Widerstreit zwischen der Erkenntnis der Wahrheit und den menschlichen Interessen vor. Es gibt allerdings auch noch eine andere Wissenschaft, deren Erforschung an die Objektivität des Menschen hohe Anforderungen stellt: Ich meine die Geschichte. Die Tatsache, daß die Geschichte der Reformation ganz anders aussieht, nenn sie von einem überzeugten Katholiken als wenn sie von einem überzeugten Protestanten geschrieben ist, daß die Geschichte der französischen Revolution anders ausfällt, je nachdem sie von einem Monarchisten oder einem Republikaner herrührt, und daß die Geschichte des russisch-japanischen Krieges in anderem Lichte erscheint, je nachdem sie von einem Russen oder einem Japaner geschrieben ist, ist allgemein bekannt. Die Freunde der Wahrheit sind auch darüber einig, daß es nicht so sein sollte, und daß die Geschichte ob­ jektiv dargestellt werden müßte. In diesem Punkte hat auch der Geschichtslehrer ein Mittel an der Hand, seine Schüler zur Objektivität zu erziehen. Nur kann der Schüler diese Dinge nicht selbst beurteilen, da er nicht in der Lage ist, die hierzu erforderlichen Forschungen selbst anzustellen. Er ist vielmehr darauf angewiesen, das zu glauben, was ihm sein Lehrer mitteilt. In der Volkswirt­ schaftslehre dagegen liegen die Dinge so, daß der Schüler sehr wohl fähig ist, sich sein eigenes Urteil zu bilden. Dabei kommt das Ergebnis seines Nach­ denkens fortgesetzt in Widerstreit mit seinen Wünschen. Aus diesem Gmnde gibt es kein Gebiet, welches so geeignet für die Erziehung zum objektiven Denken ist, als gerade die Volkswirtschaftslehre. Auf andere Vorzüge des Unterrichts in der Volkswirtschaftslehre kommen wir noch zu sprechen (besonders in den Abschnitten 3, 4b) und d)).

3. Die sozialen Aufgaben des Lebens und die Schule Was unter der sozialen Frage zu verstehen ist, kann im tiefsten Gmnde nur ein genauer Kenner der Volkswirtschaftslehre ermessen. Wohl läßt sich ganz allgemein sagen: Die soziale Frage lösen heißt die Armut und das Elend beseitigen. Aber damit ist noch nicht viel gewonnen. Wir müssen vielmehr, bevor wir an die Beseitigung der Armut und an die Lösung der sozialen Frage herangehen können, zunächst wissen, welches die Ursachen der Armut sind. Da ist es nun die erste Aufgabe festzustellen, daß die Armut kein einfacher Be­ griff ist, sondem daß es eine dreifache Art von Armut gibt, Armut an Nahmngsmitteln, Armut an Kulturmitteln imb Armut au Muße. Ebenso gibt es eine 2*

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daß die Ergebnisse der Untersuchung mit unseren Wünschen in Widerspruch stehen. Etwas anders liegt die Sache in den Naturwissenschaften, nämlich bei den Versuchen. Hahn macht im Sammelwerk von Norrenberg, S. 181, darauf aufmerksam, daß der Schüler durch die physikalischen Schülerübungen zur Redlichkeit, zur Zuverlässigkeit und zur Achtung vor der Wirklichkeit er­ zogen wird. In der Tat kann sowohl bei den physikalischen als bei den chemischen praktischen Arbeiten für den Schüler die Versuchung vorliegen, die Ergebnisse zu fälschen, wenn sich nämlich das erwartete Ergebnis nicht einstellen will. Sehen wir aber von diesen Fällen ab, so liegt auch in den Naturwissenschaften kein Widerstreit zwischen der Erkenntnis der Wahrheit und den menschlichen Interessen vor. Es gibt allerdings auch noch eine andere Wissenschaft, deren Erforschung an die Objektivität des Menschen hohe Anforderungen stellt: Ich meine die Geschichte. Die Tatsache, daß die Geschichte der Reformation ganz anders aussieht, nenn sie von einem überzeugten Katholiken als wenn sie von einem überzeugten Protestanten geschrieben ist, daß die Geschichte der französischen Revolution anders ausfällt, je nachdem sie von einem Monarchisten oder einem Republikaner herrührt, und daß die Geschichte des russisch-japanischen Krieges in anderem Lichte erscheint, je nachdem sie von einem Russen oder einem Japaner geschrieben ist, ist allgemein bekannt. Die Freunde der Wahrheit sind auch darüber einig, daß es nicht so sein sollte, und daß die Geschichte ob­ jektiv dargestellt werden müßte. In diesem Punkte hat auch der Geschichtslehrer ein Mittel an der Hand, seine Schüler zur Objektivität zu erziehen. Nur kann der Schüler diese Dinge nicht selbst beurteilen, da er nicht in der Lage ist, die hierzu erforderlichen Forschungen selbst anzustellen. Er ist vielmehr darauf angewiesen, das zu glauben, was ihm sein Lehrer mitteilt. In der Volkswirt­ schaftslehre dagegen liegen die Dinge so, daß der Schüler sehr wohl fähig ist, sich sein eigenes Urteil zu bilden. Dabei kommt das Ergebnis seines Nach­ denkens fortgesetzt in Widerstreit mit seinen Wünschen. Aus diesem Gmnde gibt es kein Gebiet, welches so geeignet für die Erziehung zum objektiven Denken ist, als gerade die Volkswirtschaftslehre. Auf andere Vorzüge des Unterrichts in der Volkswirtschaftslehre kommen wir noch zu sprechen (besonders in den Abschnitten 3, 4b) und d)).

3. Die sozialen Aufgaben des Lebens und die Schule Was unter der sozialen Frage zu verstehen ist, kann im tiefsten Gmnde nur ein genauer Kenner der Volkswirtschaftslehre ermessen. Wohl läßt sich ganz allgemein sagen: Die soziale Frage lösen heißt die Armut und das Elend beseitigen. Aber damit ist noch nicht viel gewonnen. Wir müssen vielmehr, bevor wir an die Beseitigung der Armut und an die Lösung der sozialen Frage herangehen können, zunächst wissen, welches die Ursachen der Armut sind. Da ist es nun die erste Aufgabe festzustellen, daß die Armut kein einfacher Be­ griff ist, sondem daß es eine dreifache Art von Armut gibt, Armut an Nahmngsmitteln, Armut an Kulturmitteln imb Armut au Muße. Ebenso gibt es eine 2*

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dreifache Art von Reichtum, nämlich Reichtum an Nahrungsmitteln, Reichtum an Kulturmitteln und Reichtum an Muße. Diese drei Arten von Armut oder Reichtum brauchen sich weder bei einem Einzelnen noch bei einem Volke zu­ sammen vorzufinden. Es ist sehr wohl möglich, daß ein Mensch über Nahrungs­ mittel in genügender Menge und Beschaffenheit verfügt, an Kulturmitteln dagegen sehr arm ist und einen sehr langen Arbeitstag hat, also sehr arm an Muße ist. Umgekehrt kann auch ein Mensch reich an Kulturmitteln, reich an Muße und arm an Nahrungsmitteln sein, ein Zustand, den man in gebildeten Kreisen nicht selten findet. Nietzsche war verhältnismäßig arm an Nahrungs­ und an Kulturmitteln (abgesehen von Büchern), aber reich an Muße. Es kann auch ein Volk reich an Nahrungsmitteln aber arm an Kulturmitteln sein. Fragen wir mis nun, worin die heutige Armut besteht, so finden wir, daß vor dem Kriege Nahrungsmittel in ausreichender Menge vorhanden waren. Wenn wir während des Krieges mit eitter fast um ein Drittel verringerten Nahrungsnnttelmenge noch zur Not auskommen, so ist damit bewiesen, daß es vor dem Kriege Nahrungsmittel in Hülle und Fülle gab. Von einem allgemeinen Nahrungsmittelmangel konnte also nicht die Rede sein. Wohl aber findet man (auch abgesehen von der Kriegszeit) bei der überwiegenden Mehrzahl des deutschen Volkes einen erschreckenden Mangel an Kulturmitteln. Die Wohnungen der Arbeiter sind meist klein, vielfach unsauber, sie ermangeln der Sonne und der Luft; die Ausstattung ist überaus dürftig, in zahlreichen Arbeiterfamilien hat nicht einmal jedes Kind sein eigenes Bett. Die Kleidung des Arbeiters, seiner Frau und seiner Kinder ist unzulänglich, obschon in dieser Beziehung ein Wandel zum besseren in den letzten Jahrzehnten vor dem Kriege unver­ kennbar ist. Dazu tritt ein fast gänzlicher Mangel an guten Büchern und Kunst­ gegenständen. Ferner ist die Arbeitszeit noch meist zu fang.1 Mit der Armut an Kulturmitteln verbindet sich daher meist die Armut an Muße. Muße ist aber die Grundbedingung für die Entwickelung der Kultur. Wer einen über­ mäßig langen Arbeitstag hat, kann für seine und seiner Mitmenschen Bildung nichts tun. Die soziale Frage ist also nicht, wie man vielfach glaubt, eine Magen-, sondern eine Kulturfrage. Diese Erkenntnis ist von der allergrößten Bedeutuug. Wäre die soziale Frage eine Magensrage, mit anderen Worten, litten wir an allgemeinem Nahrungsmittelmangel, so könnte nur Übervölkerung die Schuld an allem menschlichen Elend sein. Wenigstens sehe ich keine andere Ursache, welche allgemeinen Mangel an Nahrungsmitteln hervorbringen könnte, als eine im Verhältnis zu der vorhandenen Bodenfläche zu große Menschenzahl. Wäre aber, wie es ja Malthus und seine Anhänger behaupten, die Armut der Massen die Folge der Übervölkerung, so würde es wohl auch kein Mittel gegen die menschliche Not geben, und die soziale Frage müßte für immer un­ gelöst bleiben. Zum Glück aber ist die Sache anders. Es handelt sich nicht um die unlösbare Aufgabe, die Menge der Nahrungsmittel über das Maß dessen, was bei dem vorhandenen Boden überhaupt erzeugt werden kann, zu 1 Dies gilt nach Einführung des Achtstundentages nicht mehr.

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vermehren, sondern es handelt sich darum, die Menge der Kulturmittel zu vermehren, sie einigermaßen vernünftig zu verteilen und die Arbeitszeit zu verringern. Nur so können wir die soziale Frage von Grund aus lösen. Bon der Lösung dieser großen Aufgabe sind wir aber noch weit entfernt. Dazu müßte erst unser ganzes Volk von volkswirtschaftlicher Erkenntnis durch­ drungen sein. Aber auch vorher gibt es eine große Reihe sozialer Aufgaben, die zu lösen das Ziel der sozialen Gesetzgebung und der sozialen Arbeit ist. Welches ist der Sinn aller sozialen Arbeit? Es ist eine weit verbreitete Ansicht, daß das Einkommen der einzelnen Menschen im allgemeinen ihrer sozialen Nützlichkeit entspricht. Diese Meinung ist aber grundfalsch. Das Einkommen ist in keiner Weise der öffentlichen Mtzlichkeit proportional. Diese kann nur in der geleisteten Arbeit bestehen. Nun gibt es aber Menschen, die sehr viel Arbeit verzehren (nämlich die Arbeit, die in den von ihnen verbrauchten Gütern steckt), ohne nennenswerte Arbeit zu leisten. So gibt es Menschen, die an einem Tage die Tagesarbeit von 100, ja von 1000 Menschen verzehren, ohne selbst eine erhebliche Arbeit zu leisten. Andere Menschen dagegen verzehren nur sehr wenig Arbeit, da in den Gütern, die sie verbrauchen, nur wenig Arbeit enthalten ist, und leisten dabei recht viel Arbeit. Dies gilt insbesondere von fast allen Arbeitern im engeren Sinne des Wortes. Viele von ihnen verzehren an einem Tage nur zwei oder drei Arbeitsstunden, da die von ihnen verbrauchten Güter nicht mehr enthalten. Hier einen gewissen Ausgleich zu schaffen und den „Enterbten des Glücks" einen Teil von dem wiederzugeben, was sie im „Spiel der freien Kräfte" nicht erlangen können, das ist der Sinn aller sozialen Gesetzgebung und aller sozialen Arbeit. Gegen den Begriff der verzehrten und der geleisteten Arbeit und gegen die Gegenüberstellung dieser beiden Größen wird sich die große Mehrzahl der­ jenigen Menschen sträuben, die erheblich weniger Arbeit leisten als sie ver­ zehren. Freilich bedarf der angegebene Gedanke insofem einer Ergänzung, als es nicht nur auf die Menge, sondern auch auf die Beschaffenheit sowohl der geleisteten als der verzehrten Arbeit ankommt. Aber auch unter Berück­ sichtigung dieses Umstandes bleibt die Tatsache bestehen, daß das Einkommen der Menschen keineswegs ihrer öffentlichen Mtzlichkeit entspricht, sondem daß hier klaffende Widersprüche vorliegen, die zu überbrücken die Aufgabe der sozialen Arbeit ist. Was hat nun mit alledem die Schule zu tun? Die soziale Frage gehört zu den allerwichtigsten Aufgaben des Lebens, und deshalb ist es unmöglich, daß die Schule an ihr vorübergeht. Unsere Jugend mit sozialem Verständnis erfüllen, heißt die soziale Frage ihrer Lösung wesentlich näher bringen. Wie aber wecken wir in unserer Jugend das soziale Verständnis? Das soziale Verständnis ist mit der volkswirtschaftlichen Erkenntnis aufs engste verknüpft. Wer einen Beitrag zur Lösung der sozialen Frage liefern will, muß die Ursachen der Armut gründlich kennen. Denn das Übel muß an der Wurzel angefaßt werden. Es genügt nicht, den einzelnen Fall zu behandeln, im ein­ zelnen Fall zu helfen, mit anderen Worten, es genügt nicht, Wohltätigkeit zu üben. Wäre es möglich, die soziale Frage durch Wohltätigkeit zu lösen, so wäre

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sie gelöst, denn das hat man viele Jahrhunderte hindurch versucht. Die Wohl­ tätigkeit verhält sich zur sozialen Arbeit oder zur Sozialpolitik wie die Tätigkeit des praktischen Arztes zur Hygiene. So wie die Hygiene die Ursachen der Krankheiten im großen zu beseitigen sucht, so will die Sozialpolitik die Ursachen des Elends im ganzen beseitigen. Aus dem Vergleich folgt aber auch, daß die Wohltätigkeit ebensowenig überflüssig ist, wie die Tätigkeit des praktischen Arztes. Nur muß auch die Wohltätigkeit auf gründlicher Kenntnis der Ur­ sachen des sozialen Elends und des einzelnen Falles beruhen. Sie darf nicht gedankenlos sein, nicht lediglich dem guten Herzen folgen-. Nicht als ob das gute Herz bei dieser ganzen Frage ausscheiden könnte. Ganz im Gegenteil, die soziale Erkenntnis genügt keineswegs, sie muß mit der sozialen Gesinnung, mit dem sozialen Empfinden verbunden sein. Was ist aber das soziale Empfinden? Es ist das Gefühl dafür, daß alle Menschen unsere Brüder sind, daß auch die Armen und Elenden Menschen sind, die nicht nur dazu da sind, um für ihre vom Glück begünstigteren Mitmenschen zu ar­ beiten. Es ist derjenige Teil des Christentums, in dem alle diejenigen einig sein sollten, die überhaupt den Namen Christen tragen, ja auch diejenigen, die keine Christen sind. Ganz unbekümmert darum, was der einzelne glaubt oder nicht glaubt, sollte das Gefühl der Brüderlichkeit uns allen gemeinsam sein. Noch deutlicher wird der Begriff des sozialen Empfindens, wenn wir uns klar zu machen suchen, aus welchem Grunde so vielen Menschen die soziale Gesinnung fehlt. Ihr steht vor allem das soziale Vorurteil oder das Vorurteil der guten Familie entgegen. Dieses Vorurteil besteht nicht in der Anschauung, daß es ein Glück ist, einer guten Familie zu entstammen und eine gute Kinder­ stube genossen zu haben. Denn diese Auffassung entspricht einer Tatsache und ist daher kein Vorurteil. Das soziale Vorurteil fängt erst an, wenn derjenige, der aus einer guten Familie stammt, sich einbildet, er sei eine andere, eine höhere Art Mensch, und der Rest der Menschheit existiere eigentlich gar nicht oder dürfe höchstens deshalb existieren, um den „höheren" Menschen zu dienen. Weder in bezug auf die Intelligenz noch in bezug auf die Sittlichkeit gibt es einen durchgreifenden Unterschied zwischen den Angehörigen der „vor­ nehmen" und der „unteren" Stände. Sicherlich sind die sittlichen Begriffe in den höheren Ständen vielfach anders als in den niederen, aber noch nie­ mand hat bewiesen, daß sie besser sind, und christlicher sind sie in keinem Falle. Nur wer von dieser Auffassung frei ist, kann von sich behaupten, daß er die rechte soziale Gesinnung hat. Freilich ist die Überwindung gerade dieses Vorurteils ungemein schwer. Selbst die meisten Personen, die sich von Amts­ wegen mit der sozialen Arbeit befassen, leiden daran. Dies zeigt das Beispiel von Alice Salomon, deren Ausführungen über soziale Gesinnung in ihrem Buche über soziale Fraucnbildung sehr oberflächlich sind. Daß der letzte Grund des Mangels an sozialer Gesinnung das Vorurteil der guten Familie ist, davon hat Alice Salomon keine Ahnung. Wie wecken wir nun die soziale Gesinnung in unseren Schülern? Mit Gewalt läßt sich da nichts erreichen, auch uicht durch ständiges Predigen. Ebensoweuig wie die Vaterlandsliebe läßt sich die soziale Gesinnung dadurch erwecken,

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daß man ihre Notwendigkeit bei jeder Gelegenheit betont. In dieser Beziehung darf die Schule ihre Macht nicht überschätzen. Aber ohne jede Tendenz läßt sich das soziale Empfinden in vielen Schülern durch gründliche volkswirtschaft­ liche Erkenntnis wecken. Wenn der Schüler erkennt, daß der Reichtum der einen in den meisten Fällen nicht ihr Verdienst, und die Armut der andren nur selten ihre Schuld ist, daß der Arme, der gegen kärglichen Lohn tüchtige Arbeit leistet, für die Gesamtheit einen höheren Wert hat als der reiche Müßiggänger, daß der volkswirtschaftliche Wert eines Menschen nicht nach seiner Steuerleistung, sondern nach seiner Arbeit zu bemessen ist, daß es Raubbau an der mensch­ lichen Arbeitskraft bedeutet, wenn man 14jährige oder noch jüngere Kinder zu gewerblichen Arbeiten zwingt, so wird er leicht ganz unbemerkt zu sozialem Verständnis, zu sozialem Empfinden gebracht. Ich habe wenigstens die Be­ obachtung gemacht, daß das soziale Empfinden zusammen mit der volkswirt­ schaftlichen Erkenntnis wächst. Die soziale Gesinnung allein vermag freilich für die Lösung der sozialen Frage nichts zu tun. Es hat immer Menschen mit starkem sozialem Empfinden gegeben, Menschen, die diese Empfindungen von Hause aus mitgebracht haben. Aber die soziale Frage haben sie nicht zu lösen vermocht, ja nicht einmal einen Beitrag zu ihrer Lösung geben können, da ihnen die nötige volkswirtschaftliche Erkenntnis fehlte. Soziales Empfinden ohne volkswirtschaftliche Erkenntnis ist daher nicht viel wert. Da ist volkswirtschaftliche Erkenntnis ohne soziale Ge­ sinnung noch vorzuziehen. In den volkswirtschaftlichen Belehrungen „auf das Verhängnisvolle der sozialistischen Bestrebungen hinzuweisen" halte ich in keiner Weise für erforderlich. Wir brauchen keine besonderen Maßnahmen, um die Schüler der höheren Lehr­ anstalten vor der Sozialdemokratie zu bewahren. Davor sind weitaus die meisten unserer Schüler durch ihr eigenes Interesse bewahrt. Es ist ein großer Irrtum, der durch die verkehrte sozialistische Mehrwert-Theorie hervorgerufen ist, zu glauben, daß diejenigen Menschen, die ihr Einkommen aus Arbeit beziehen, insofern eine Interessengemeinschaft bilden, als sie von den Unternehmem „ausgebeutct" werden. Die Arbeiter int engeren Sinne des Wortes werden voit den Unternehmern am allerwenigsten, vielmehr noch von den Kaufleuten und am allermeisten von den reichen Verbrauchern „ausgebeutet". Dies ist während des Krieges besonders deutlich geworden, wenn es auch noch kein Professor der Nationalökonomie bemerkt hat. Wenn Nahrung und Kleidung, Wäsche und Seife für die große Masse des Volkes nicht ausreichen, so sind die reichen Verbraucher daran schuld, die imstande sind, für Nahrungs- und Kulturmiltel beliebige Preise zu zahlen und dadurch große Mengen der wichtigsten Verbrauchsgüter an sich ziehen. Denn mehr als vorhanden ist, kann nicht verbraucht werden. Je mehr die reichen Verbraucher für sich verwenden, desto weniger bleibt für die anderen übrig. Das alles gilt, wenn auch in ge­ ringerem Maße und nicht mit so einschneidenden, Leben und Gesundheit der Armen schädigenden Folgen, auch im Frieden. Alle diejenigen Menschen, die aus ihrer Arbeit ein hohes Einkommen beziehen, gehören daher überhaupt nicht zu den „Ausgebeuteten", sie bilden also auch mit den Arbeitern im engeren

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Singe des Wortes und den übrigen Unbemittelten keine Interessengemeinschaft. Darum sind auch die gutbezahlten Angestellten, Ärzte, Rechtsanwälte usw. in

ihrer überwiegenden Mehrzahl keine Sozialdemokraten. Die „Gefahr" also, daß die Schüler der höheren Lehranstalten sich in einer irgendwie nennenswerten Zahl der Sozialdemokratie zuwenden könnten, besteht nicht, und darum braucht man auch nicht gegen sie anzukämpfen.^ Es ist übrigens geschichtlich sehr lehrreich, daß der Anstoß zu den Volks­ wirt schaftlichen Belehrungen an den höheren Schulen von dem Bestreben aus­ ging, die Sozialdemokratie zu bekämpfen, nicht von dem Bestreben, die so­ zialen Ubelstände zu beseitigen. Das war ein schiefer Gesichtspunkt, der des­ halb auch zu nichts Rechtem führen tonnte. Die Notwendigkeit volkswirtschaft­ lichen Unterrichts beruht für uns nicht auf der Tatsache, daß die Sozialdemokratie immer stärker geworden ist, sondern darauf, daß ein sehr großer Teil des deutschen Volkes immer noch in Armut und Elend lebt, und daß es eine unserer aller­ wichtigsten Aufgaben ist, diesem Elend abzuhelfen. Das kann eben nur durch eine int ganzen Volke verbreitete gründliche volkswirtschaftliche Bildung geschehen. .Mit der Erziehung zum sozialen Verständnis sind aber die sozialen Auf­ gaben der Schule noch nicht erschöpft. Die Schule kann ihrerseits unmittelbar sehr viel zur Lösung der sozialen Frage tun, indem sie bestrebt ist, einmal jeden Schüler so berufstüchtig als nur möglich zu machen und zweitens, ihm die richtige Berufswahl zu ermöglichen. Auf den zweiten Punkt kommen wir in einem besonderen Abschnitt noch zurück. Von dem Werte der Arbeitsgemeinschaft für die Erziehung zur sozialen Gesinnung bin ich nicht überzeugt. Sicherlich hat die Arbeitsgemeinschaft ihre hohe Bedeutung, aber daß gerade die soziale Gesinnung dadurch besonders gefördert werden soll, ist mir nicht wahrscheinlich. Unsere Schüler sind, so­ lange sie gemeinsam die Schule besuchen, meist gute Kameraden. Sie fragen rächt darnach, ob der Mitschüler der Sohn eines Arbeiters oder eines Regie­ rungsrats ist. Wenn sie aber zur Hochschule übergehen, so ändert sich das Bild leider sehr oft. Da tritt der.eine in eine „vornehme" Studentenverbindung ein und kennt seinen alten Schulfreund kaum noch. Ja man muß leider sagen, daß manche Studentenverbindungen in der Erziehung zum Vorurteil der guten Familie das Menschenmögliche leisten. Das sind Verhältnisse, denen wir ziemlich machtlos gegenüberstehen, und die höchstens durch eine klare volks­ wirtschaftliche Erkenntnis einigermaßen bekämpft werden können. Auch von der Staatsbürgerkunde halte ich in dieser Beziehung nicht viel. Gewiß ist Unterricht in der Staatsbürgerkunde in mäßigem Umfange not­ wendig und sicherlich viel wichtiger als manche Dinge, die jetzt in der Geschichte durchgenommen werden. Aber einen großen Wert für die soziale Erziehung kann ich der Staatsbürgerkunde nicht zuschreiben, weil ich in ihrem Inhalt nur wenige Elemente finde, welche geeignet wären, das soziale Vorurteil zu bekämpfen. 1 Die Revolution hat hoffentlich alle derartigen Tendenzen ans den „volkswirtschaftlichen Belehrungen" hinweggefegt.

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4. Vie kulturellen Aufgaben des Lebens und die Schule Die kulturellen Aufgaben des Lebens sind so zahlreich, daß es ganz ausgeschlossen ist, sie alle aufzuzählen. Auch ist jede einzelne so vielgestaltig, daß eine erschöpfende Darstellung nicht möglich ist.

Um aber die wichtigsten Seiten des kulturellen Lebens und ihre Beziehungen zur Schule- erörtern zu können, müssen wir uns zunächst mit der Frage beschäftigen, was man überhaupt unter Kultur versteht. Ich will hier nicht die vielen Definitionen des Kulturbegriffs um eine vermehren, sondem nur eine Gmndlage für unsere weiteren Erörterungen gewinnen. Ich rechne zur Kultur alles, was uns über das Mtagsleben erhebt. Damit scheint das kulturelle Leben in einen scharfen Gegensatz zum wirt­ schaftlichen Leben zu treten. Aber der Gegensatz besteht nur in Gedanken, nicht in Wirklichkeit. Es ist ein rein logischer Gegensatz, der nur für die Dar­ stellung notwendig ist. In Wirklichkeit bestehen zwischen Volkswirtschaft und Kultur die engsten Beziehungen. Die Gmndbedingung für die Entstehung einer Kultur ist, wie uns die Volkswirtschaftslehre zeigt, ausreichende Muße, die durch den volkswirtschaftlichen Fortschritt gewonnen wird, durch Arbeits­ teilung, Arbeitsvereinigung und technische Erfindungen. Damit eine Kultur entstehen kann, ist es notwenvig, daß wenigstens einige Menschen sich eines gewissen Wohlstandes erfreuen und von harter Arbeit befreit sind. Damit ein ganzes Volk in der Kultur vorwärts kommt, darf die Arbeitszeit nicht über­ mäßig lang sein. Dieser Satz gilt unbeschadet der Bedeutung einzelner großer Menschen für die Förderung der Kultur. Eine weitere Beziehung zwischen Volkswirtschaftslehre und Kultur ist folgende. Wer an der Aufgabe, das Elend zu beseitigen, arbeitet, erhebt sich dadurch gewiß über das Alltagsleben. Ich kann mir eine schönere Aufgabe kaum denken. Wer volkswirtschaftliche Studien treibt, erhebt sich dadurch sicherlich ebensogut über das Alltagsleben, wie derjenige, welcher sich mit der Naturwissenschaft oder mit Philosophie oder mit Philologie befaßt.

Ungekehrt haben auch sehr viele Wissenschaften eine erhebliche Bedeutung für die Entwickelung der Volkswirtschaft. Dadurch wird ihre kulturelle „Würde" in keiner Weise vermindert, und sie stehen in der Reihe der Wissenschaften ebenso hoch da wie diejenigen, die keinerlei praktische Verwendung finden können. Aber trotz dieser zahlreichen Beziehungen zwischen Kultur und Volks­ wirtschaftslehre wollen wir in diesem Abschnitt die kulturellen Aufgaben des Lebens nur insoweit betrachten, als sie über das Alltagsleben hinausgehen, ja in gewissem Gegensatz zu ihm stehen. Es schadet durchaus nichts, wenn dieser Gegensatz recht scharf genommen wird. Sosehr wir mit Nietzsche in der Auf­ fassung von der Wichtigkeit der täglichen Dinge übereinstimmen (sie sind die Gmndlage des Lebens überhaupt), ebensosehr stimmen wir ihm gerade darin bei, daß die Fördemng der Kultur der eigentliche Sinn des Lebens ist. Wir sind im ersten Abschnitt mit Entschiedenheit dafür eingetreten, daß alles das, was für das Leben gleichgültig ist, aus der Schule verbannt und das, was für das Leben notwendig ist, in die Schule eingeführt wird. Daß wir diese For-

derung uicht nur für das wirtschaftliche, sondern vor allen Dingen für das kulturelle Leben stellen, wollen wir, um jedes Mißverständnis auszuschließen, hier nochmals auf das Nachdrücklichste betonen. Die wichtigsten Gebiete des kulturellen Lebens sind folgende: a) die Kunst, b) die Philosophie, c) die Wissenschaften, d) die Ethik, e) die Religion. Auch diese Reihe erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Auch soll die angegebene Reihenfolge keine Rangordnung der verschiedenen Kulturgebiete bezeichnen. Ich halte eine solche Rangordnung für nicht möglich. Ebensowenig wollen wir behaupten, daß diese Gebiete scharf gegeneinander abgegrenzt sind. Ich gebe sogar zu, daß die angegebene Einteilung strengen Anforderungen durchaus nicht genügt. So ist sicherlich auch die Philosophie in gewissem Sinne eine Wissenschaft, ebenso wie umgekehrt jede einzelne Wissenschaft Beziehungen zur Philosophie hat. Gewisse Fragen des künstlerischen Gebietes sind einer wissenschaftlichen Behandlung durchaus fähig. Ferner ist die Ethik sicherlich eine praktische Wissenschaft. Auch hat sie zahlreiche Berührungspunkte mit der Religion. Endlich hat die Religion zahlreiche Beziehungen zu allen anderen Kulturgebieten. Aber das alles sind Dinge, die für uns hier nicht von Be­ deutung sind, da es uns lediglich darauf ankommt, die Aufgaben des Lebens so weit zu erörtern, als es für die Aufgaben der Schule notwendig ist. Und für diesen Zweck genügt unsere Einteilung.

a) Die Kunst.

Die Kunst ist das Stiefkind der Schule. Von der darstellenden Kunst er­ fährt der Schüler der höheren Lehranstalten in den meisten Fällen so gut wie gar nichts. Ähnlich steht es mit der Musik. Mit der Dichtkunst ist es insofern besser, als der Schüler mit einer Reihe bedeutender Werke der Weltliteratur bekannt gemacht wird. Das liegt in der Natur der Sache, da in allen unseren höheren Schulen der sprachliche Unterricht einen breiten Raum einnimmt. Sehen wir von der Musik ab, so sind in bezug auf die Kunst die Realanstalten, insbesondere die Oberrealschulen besser gestellt als die Gymnasien, da in ihnen der Zeichenunterricht bis zur obersten Klasse fortgesetzt wird und das Deutsche mit einer größeren Stundenzahl bedacht ist. Aber trotzdem ist es mit der Ent­ wickelung des Kunstverständnisses auch an den Realanstalten meist schlecht bestellt. Hat denn aber die Schule die Aufgabe, ihre Schüler zu Künstlem zu er­ ziehen? Gewiß nicht. Sie kann sie schon deshalb nicht haben, weil hervor­ ragende künstlerische Befähigung etwas sehr Seltenes ist. Wohl aber soll die Schule den Schülern, welche die Befähigung zum Künstler haben, nichts in den Weg legen. Und nicht nur das, sondern sie soll ihnen die Wege nach Mög­ lichkeit ebnen. Oft wird die künstlerische Begabung durch die Schule erstickt. Daher stammen auch die absprechenden Urteile so vieler Künstler über die Schule. Die Schule gab sich nicht selten alle Mühe, aus künstlerisch veran­ lagten Menschen wissenschaftliche Menschen zu machen und die künstlerischen Neigungen zu erdrücken. Daß die künstlerische Begabung trotzdem in vielen

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Fällen zur Entwickelung gekommen ist, war nur selten das Verdienst der Schule. Was soll nun aber die Schule in dieser Beziehung tun? Sie muß doch von ihren künstlerisch veranlagten Schülern dieselben Leistungen in den wissen­ schaftlichen Fächern verlangen wie von den anderen. Freilich gehört ein Schüler, der auf keinem wissenschaftlichen Gebiete etwas leistet, nicht auf die höhere Schule. Der muß, ob er nun künstlerisch hervorragend befähigt ist oder nicht, beizeiten abgehen und sich dem Beruf widmen, der für ihn geeignet ist. Aber die künstlerisch veranlagten Schüler leisten meist auch in irgendeinem wissen­ schaftlichen Fache etwas Tüchtiges. Das gilt zunächst von denjenigen, die eine bedeutende schriftstellerische Begabung besitzen. Es gilt aber meist auch von den anderen. Große Begabung für darstellende Kunst vereinigt sich recht häufig mit bedeutender mathematischer oder sprachlicher Begabung. Von solchen Schülern soll man nicht verlangen, daß sie auf allen Gebieten genügendes leisten. Man soll vielmehr schon in der Schule und nicht erst in der Prüfung ihre hervorragenden Leistungen auf ihrem Sondergebiet, auch wenn es nicht zu den Schulfächern gehört, als einen vollwertigen Ausgleich für- die mangel­ haften Leistungen in den übrigen Fächem betrachten und sie nicht zwingen, ihre ganze Zeit und Kraft auf die Schulfächer zu verwenden. Darin liegt für solche Schüler eine große Gefahr. Nicht nur erreichen sie meist in den Hauptfächem doch nichts, sondern es geht auch häufig noch ihre Spannkraft zugrunde, so daß sie auch für das Gebiet ihrer besonderen Begabung ver­ dorben werden. Künstlerisch begabte Schüler brauchen zu ihrer Entfaltung in der Regel weiter nichts als die Möglichkeit der freien Entwickelung, und die kann ihnen von der Schule sehr wohl gegeben werden. Ich kannte einen Lehrer des Deutschen, der, selbst ein bekannter Schriftsteller, die Gabe besaß, seine schriftstellerisch be­ gabten Schüler auf das Nachhaltigste anzuregen. Er zwang sie in keine Schablone, ließ ihnen vielmehr durchaus die wünschenswerte geistige Freiheit. Er erzielte auch Prächtige Ergebnisse. Aber er war kein Lehrer des Deutschen nach dem Herzen des zuständigen Provinzialschulrats. Er hatte den Abiturientenaussatz eines hervorragenden Schülers mit „sehr gut" bezeichnet. Der Provinzial­ schulrat setzte aber dieses Urteil auf „genügend" herab mit der Begründung: „So schreibt ein Literat, aber kein Schüler." Und dafür, daß der Abiturient schon als Schüler den Nachweis literarischer Befähigung erbringen konnte, mußte er bestraft werden. Dieses „genügend" hat ja dem Abiturienten, der das, was er damals versprochen, bis jetzt vollkommen erfüllt hat, nichts ge­ schadet. Wie aber, wenn dieser Jüngling von vornherein Lehrern in die Hände gefallen wäre, die den Standpunkt vertreten hätten, ein Schüler dürfe nicht mehr leisten, als einem Schüler gebührt, die jeden Versuch der freien Kräfte­ entfaltung unterbunden hätten? Dann hätte er es vielleicht gar nicht bis zum Reifezeugnis gebracht. Die Schule sollte sich auch Mühe geben, die hervorragend musikalisch be­ gabten Schüler ausfindig zu machen und für ihre Ausbildung zu sorgen. Sie kann das ohne Aufwendung großer Mittel durchaus leisten. Auf der anderen

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Seite sollte die Schule dafür sorgen, daß musikalisch welliger begabte Schüler keinen Klavierunterricht erhalten. Klavierstümper haben wir mehr als genug. Die Schule soll ferner ihre Schüler zu künstlerischem Verständnis erziehen. Daran fehlt es jetzt in bezug auf die darstellende Kunst noch sehr. Der Zeichen­ unterricht, der jetzt an vielen Realanstalten in vortrefflicher Weise erteilt wird, ist sicherlich für die Erziehung zum künstlerischen Sehen von großem Wert, aber er genügt nicht. Besonders die Zeichenlehrer sollten es sich angelegen sein lassen, ihre Schüler durch Belehrungen aus der Kunstgeschichte und durch Führung in Kunstsammlungen in die Bedeutung und das Wesen der dar­ stellenden Kunst einzuführen. Auch der Geschichtslehrer kann, wenn er selbst das nötige Kunstverständnis besitzt, hier viele Anregungen geben. Denn auch die Geschichte der Kunst gehört zur Weltgeschichte.

b) Die Philosophie. Ist es die Aufgabe der Schule, Philosophen zu erziehen? Nicht in dem Sinne, als ob sie versuchen sollte, alle ihre Schüler oder auch nur einen erheb­ lichen Teil zu Philosophen zu machen, wohl aber in dem Sinne, daß sie den hervorragend für Philosophie begabten Schülern die Möglichkeit freier Ent­ wickelung und starke Anregungen geben soll. Der Fortschritt der Kultur zu immer reicheren und schöneren Formen ist eine Hauptaufgabe alles Menschen­ lebens. -Die großen Förderer dieser Entwickelung aber sind die großen Philo­ sophen. Darum darf die Schule an einer so wichtigen Aufgabe des Lebens nicht gleichgültig Vorbeigehen. Sie muß vielmehr alles tun, was in ihren Kräften-steht, damit unserem Volke die großen Philosophen nicht fehlen. Sie darf daher die philosophische Begabung ihrer Schüler nicht unterdrücken, sondern muß ihnen Gelegenheit zu ihrer Entfaltung und auch die richtige Anleitung geben. Es kommt nicht selten vor, daß Schüler bereits in recht jugendlichen: Alter unseligen, philosophische Lektüre zu treiben und manchmal mit erstaunlich großem Verständnis. Mancher Primaner vermag sich bereits in die Lektüre von Schopenhauer, von Kant oder von Nietzsche zu vertiefen. Manchmal kommen dadurch die „eigentlichen" Aufgaben der Schule zu kurz, und die Leistungen solcher Schüler in den Hauptfächern gehen so zurück, daß die Ver­ setzung zweifelhaft wird. Da ist es die Aufgabe des Lehrers, diese Schüler auf den richtigen Weg zu bringen und ihnen zu zeigen, daß ein wirklicher Philosoph einer sehr gründlichen wissenschaftlichen Bildung nicht entbehren kann. Es hat nicht einen einzigen bedeutenden Philosophen gegeben, der nicht gleichzeitig auch in den Wissenschaften hervorragend tüchtig war. Über dem Eingang zu Platos Hause stand die Inschrift: Mathematisch Ungebildeten ist der Eintritt verboten. Aristoteles war nicht nur ein großer Philosoph, sondem auch ein großer Gelehrter. Descartes war nicht nur ein großer Philosoph, sondem auch ein großer Mathematiker, ebenso Leibniz. Kant war Mathematiker und Natur­ wissenschaftler. John Stuart Mill studierte mehrere Jahre die Naturwissen­ schaften, bevor er seine berühmte Logik schrieb. Nietzsche hat es später sehr be­ dauert, daß er auf der Schule die Mathematik und die Naturwissenschaften

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so vernachlässigt hatte. Er hat sich später eifrig bemüht, die Lücken in seiner Bildung auszufüllen. Trotzdem wußte er, wie unzulänglich seine naturwissen­ schaftlichen Kenntnisse waren. Er wollte daher noch im späteren Lebensalter zehn Jahre Naturwissenschaften studieren. Ganz abgesehen hiervon war Nietzsche nicht nur ein großer Philosoph, sondern auch ein ausgezeichneter Philologe. Hermann Cohen, um auch einen Namen zweiter Ordnung zu nennen, studierte noch in späteren Jahren die Differential- und Integralrechnung, weil er er­ kannte, daß für das volle Verständnis der „Kritik der reinen Vernunft" die höhere Mathematik unentbehrlich ist. So hätten alle bedeutenden Philosophen eine gründliche wissenschaftliche Bildung. Wenn der Lehrer dies seinen an­ gehenden Philosophen klar macht, so wird er damit gewiß den nötigen Erfolg haben; jedenfalls mehr Erfolg, als wenn er versuchen wollte, seinen Schülern die Beschäftigung mit den Philosophen einfach zu verbieten. Ganz im Gegen­ teil, meine ich, hat die Schule allen Grund, sich über solche Schüler zu freuen, die schon in früher Jugend starke philosophische Neigungen haben. Sinn und Verständnis für philosophische Fragen haben sehr viele, um nicht zu sagen, die meisten Primaner. Dieses Verständnis und die Freude am philosophischen Nachdenken zu fördern, kann die Schule sehr viel tun. Aller­ dings kann sie auch sehr viel dazu beitragen, den Sinn für Philosophie in den Schülern im Keime zu ersticken. Sie braucht zu diesem Zweck nur alles, was irgendwie nach eigenem Nachdenken über Fragen der Weltanschauung aus­ sieht, aus ihrem Unterrichtsbetriebe auszuschalten. Dann wird sie erreichen, daß nur noch diejenigen Schüler, die eine sehr starke Neigung zum Philosophieren haben, sich in ihren Gedanken mit diesen Dingen beschäftigen, während die arideren stumpfsinnig dahinleben. Es sind mir nicht selten Menschen mit akademischer Bildung begegnet, die sich noch niemals mit Fragen der Weltanschauung beschäftigt hatten. Wernr ich das Gespräch auf eine solche Frage brachte, so erklärten sie mir, von solchen Dingen hätten sie noch nie etwas gehört, und wenn ich dann fragte: Haben Sie denn mit Ihren Mitschülern oder mit Ihren Kommilitonen solche Fragen nie­ mals besprochen? so erklärten sie: Nein, das ist niemals geschehen. Auch im Unterricht hätten sie von Weltanschauurrgsfragen, abgesehen vom Religions­ unterricht, der aber ganz dogmatisch erteilt worden sei, niemals gehört. An solchen Erfolgen sieht man, daß die Schule es sehr wohl in der Hand hat, den Sinn für philosophische Fragen gar nicht zur Entwickelung kommen zu lassen. Ich zweifle nicht daran, daß viele Menschen in solchen Ergebnissen der Erziehung die Verwirklichung eines Ideals erblicken. Wozu braucht denn der Mensch sich mit Fragen der Weltanschauung abzugeben? Muß man denn über solche Probleme nachdenken oder gar mit anderen darüber sprechen? Genügt denn nicht die Weltanschauung, die dem Menschen schon im Kindes­ alter beigebracht worden ist? Ist es nicht, gerade herausgesagt, die Aufgabe der Schule, die Jugend im religiös-orthodoxen Geiste zu erziehen? Ist nicht jedes ernstliche Nachdenken über Fragen der Weltanschauung für diejenigen über­ flüssig, die auf dem festen Boden der überlieferten Anschauungen stehen? Nein, so liegt die Sache nicht. Sv erzieht man keine Männer von einer festen Welt-

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auschauung, sondem stumpfe gleichgültige Menschen. Kein wirklich gläubiger Mensch von wahrhaft wissenschaftlicher Bildung ist von starken Zweifeln nie­ mals unsanft gerüttelt worden. Diejenigen, denen die Probleme der Welt­ anschauung überhaupt keine Kopfschmerzen machen, stehen allen diesen Dingen gleichgültig gegenüber. Der wissenschaftliche Geist, mag er orthodox sein oder nicht, nimmt diese Fragen ernst und widmet ihnen die ganze Kraft seines Nach­ denkens, ohne jemals damit aufzuhören. Ich muß es ferner auf das Entschiedenste bestreiten, daß die Schule die Aufgabe hat, ihren Schülern eine'bestimmte Weltanschauung zu übermitteln. Wer das für die Aufgabe der Schule hält, der will die Schüler nicht zur Selb­ ständigkeit, sondem zur Unselbständigkeit des Denkens, nicht zur Freiheit, sondern zur Unfreiheit des Geistes erziehen. ^Niemand kann das wollen, dem die För­ derung der Kultur am Herzen liegt. Wohl aber hat die Schule die Aufgabe, in den Schülern den philosophischen Trieb wachzurufen und ihnen das Mstzeug zur Bildung einer eigenen Welt­ anschauung mitzugeben. Damm muß der gesamte Unterricht auf der Ober­ stufe von philosophischem Geiste durchdmngen sein. Aber auch das reicht nicht aus; es ist vielmehr außerdem ein eigener philosophischer Unterricht notwendig. Auch dieser hat nicht die Aufgabe, die Schüler zu einer bestimmten Welt­ anschauung hinzuführen. Dagegen soll er die Schüler zur Vomrteilslosigkeit erziehen. Man kann es fast als das Kennzeichen eines gebildeten Menschen ansehen, daß er fähig ist, ein Vorurteil als solches zu erkennen und sich von ihm frei zu wachen. Nicht Freiheit von Vorurteilen betrachte ich als das Kenn­ zeichen eines gebildeten Menschen. Denn wer könnte von sich behaupten, daß er frei von Vorurteilen ist? Die Fragen, die an den Menschen herantreten, sind so mannigfaltig, daß es für ihn gar nicht möglich ist, sich in allen diesen Dingen von Vomrteilen vollständig frei zu halten. Also nicht Freiheit von Vorurteilen kann man von einem gebildeten Menschen verlangen, wohl aber muß er die Fähigkeit haben, auch ein eingewurzeltes Vorurteil objektiv zu prüfen und es abzulegen, wenn er es als solches erkannt hat. Und zu solcher Fähigkeit die Schüler zu erziehen, dazu dient vor allem der philosophische Unterricht. (Daß auch der Unterricht in der Volkswirtschaftslehre vorzüglich geeignet ist, der Erziehung zum objektiven Denken und damit zur Borurteilslosigkeit zu dienen, haben wir im 2. Abschnitt bereits erwähnt.) Aus allen diesen Gründen bin ich der Meinung, daß dem philosophischen Unterricht an den Realanstalten in den beiden Primen eine besondere Stunde gewidmet werden muß. Wenigstens gilt das für diejenigen Anstalten, an denen ein geeigneter Lehrer vorhanden ist. Denn nur in diesem Falle kann der Unter­ richt wirkliche Vorteile bringen. Wenn der Lehrer sich den Unterrichtsstoff erst mühsam anquälen nmß, so kann dies nur dazu führen, daß die Philosophie den Schülem verleidet wird. Bei dem wachsenden Interesse für philosophische Fragen dürfen tvir hoffen, daß es nicht allzu lange mehr dauern wird, bis jede Anstalt wenigstens einen Lehrer hat, der der Aufgabe des philosophischen Unter­ richts gewachsen ist. Über die Art, wie nach meiner Anffassung der philosophische Unterricht

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fruchtbar gestaltet werden kann, habe ich auf der Hauptversammlung des Vereins zur Förderung des lateinlosen höheren Schulwesens in Bielefeld einen Vortrag gehalten, welcher im 15. Jahrgang der „Zeitschrift für lateinlose höhere Schulen" abgedruckt ist. Als Einführung in die philosophischen Probleme habe ich dort die Behandlung der Geschichte der neueren Philosophie empfohlen. Für be­ sonders vorteilhaft halte ich auch die Lektüre geeigneter philosophischer Schriften. Als solche kommen die „Betrachtungen über die Grundlage der Philosophie" und die „Methode des richtigen Vernunftgebrauchs" von Descartes, ferner einzelne Abschnitte aus Locke, Hume und John Stuart Mill in Betracht, vielleicht auch die „Vierfache Wurzel" von Schopenhauer, ganz besonders aber Kants „Prolegomena". Ob der Versuch, die Prolegomena in der Oberprima zu lesen, schon einmal gemacht worden ist, weiß ich nicht. Mir wurde er an der Oberrealschule in Kattowitz im Jahre 1904 auf Antrag des Provinzialschulkollegiums vom Unter­ richtsminister leider unterbunden. Ich gebe zu, daß einige Stellen der Prole­ gomena sehr schwer, ja ohne Kenntnis der gesamten Kantischen Philosophie, insbesondere der „Kritik der reinen Vernunft," gar nicht zu verstehen sind. Dies gilt namentlich von den Ausführungen über die Grundsätze des reinen Verstandes. Aber hier muß der Lehrer einsetzen. Zur Einführung in die philosophischen Pro­ bleme eignen sich die Prolegomena auch heute noch in vortrefflicher Weise. Wer Bedenken trägt, die ganze Schrift zu lesen, könnte sich vielleicht mit den ersten 20 oder 21 Paragraphen begnügen. Sogar von der Kritik der reinen Vernunft könnte die Einleitung und die transzendentale Ästhetik mit den Oberprimanem

mohl gelesen werden. Von den gewöhnlichen Leitfäden für den Unterricht in der philosophischen Propädeutik halte ich gar nichts (vgl. meine Kritik des Leitfadens von Jonas in dem angeführten Vorträge). Sehr beachtenswert sind dagegen die Ver­ suche, von den Naturwissenschaften aus den Weg zum philosophischen Ver­ ständnis der Schüler zu fiuden. Hier ist vor allem Schulte-Tigges zu nennen. Für weit wertvoller aber, als irgendwelche Anleitungen oder Leitfäden halte ich die Lektüre der Philosophen selbst und zwar, wenn irgend möglich, ganzer Schriften. Auch Nietzsche hat manches geschrieben, was in der Prima gelesen werden sollte. Wie man auch zu Nietzsche stehen möge, das Eine muß jeder Vomrteilslose zugeben: Nietzsche ist nicht nur ein Sprachkünstler allerersten Ranges (ich kenne keinen deutschen Schriftsteller, der ihm in dieser Beziehung überlegen wäre), sondern auch ein großer, durchaus ernst zu nehmender Philosoph. Einen solchen Mann dürfen wir unserer Jugend nicht länger vorenthalten. Es geht nicht mehr an, daß ein Lehrer einem Primaner, der sich mit Nietzsche be­ schäftigt, seine Meinung in dec Weise ausdrückt, daß er sagt: „Wissen Sie, ‘ wer Nietzsche war? Nietzsche toar verrückt". (Tatsache!) Nietzsche hat der Welt sowohl in der theoretischen wie in der praktischen Philosophie so viel geschenkt, er bedeutet für die Entwickelung der Kultur so viel, daß auch unseren Primanern von den: großen Reichtum etwas geboten werden sollte. Ich bemerkte schon, daß ich von den Leitfäden für den philosophischen Unterricht an den höheren Lehranstalten nicht viel halte. Die nötigen Be-

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lehrungen aus der Logik und der Psychologie kann der Lehrer an geeigneten Stellen der zu lesenden Schriften sehr wohl einflechten. Der früher begangene Weg mußte notwendig unfruchtbar bleiben. Eine geeignete Auswahl aus den Schriften eines Philosophen kann dagegen sehr gute Dienste leisten; sie ist besonders da angebracht, wo es aus irgendeinem Grunde nicht möglich ist, die Originalschriften mit den Schülern zu lesen. (Ob es nicht auch in anderen Fächern, z. B. in der Geschichte, vorzuziehen wäre, wenn das „Schulbuch" durch wissenschaftliche Werke ersetzt würde, ist eine Frage, die wir nicht weiter untersuchen wollen. Ganz besonders aber möchte ich mich gegen die deutschen Lesebücher wenden, die man höchstens bis zur Quarta einschließlich dulden sollte. Das Sammelsurium, welches unsere Lesebücher darbieten, hat bei weitem nicht den Wert, wie eine einzige gute Schrift, welche vollständig gelesen wird. Wer nimmt denn nach der Schulzeit noch ein Lesebuch zur Hand? Die Schulbücher, wenigstens die sür die oberen Klassen, sollten alle auch wissenschastlichen Wert haben.)

c) Die Wissenschaften. Was zu Deutschlands Kulturentwickelung am meisten beigetragen hat, ist der wissenschaftliche Geist. Wenn jemand außerdem auf das Pflicht­ gefühl hinweist, so erwidere ich darauf, daß auch dieses mit dem wissenschaft­ lichen Geist zusammenhängt. Wer wissenschaftlich so wenig durchgebildet ist, daß er den Aufgaben, die das Leben an ihn stellt, nicht gewachsen ist, der kann auch in seinem Pflichtgefühl auf die Dauer leicht erlahmen. Umgekehrt ist ein hoher Grad wissenschaftlicher Durchbildung in der Regel mit einem starken Pflichtgefühl verbunden. Darum bedeutet die Erziehung zum wissenschaft­ lichen Denken und zur wissenschaftlichen Arbeit zu gleicher Zeit auch eine Er­ ziehung zum Pflichtgefühl. Dieser Zusammenhang zwischen Intelligenz und Charakter kann, wie ich glaube, uicht stark genug betont werden. Auf einen anderen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Charakter werden wir im nächsten Abschnitt noch zu sprechen kommen. Wir Deutschen stehen nicht nur in.den meisten Wissenschaften an der Spitze aller Völker, sondern auch in der Technik. Das hängt aufs engste zusammen, denn die Technik ist nichts anderes, als die angewandte Wissenschaft. Wenn in den Vereinigten Staaten manche Maschinen eingeführt sind, die wir in Deutschland nicht finden, so liegt dies nicht daran, daß die Amerikaner bessere Techniker sind als wir, sondern daran, daß in Amerika die Löhne höher sind als bei uns. Infolgedessen ist es für den amerikanischen Unternehmer oft rentabel, eine arbeitersparende Maschine einzuführen, deren Einführung bei uns wegen der niedrigeren Arbeitslöhne unrentabel ist und daher unterbleibt. Die Techniker arbeiten nach wissenschaftlichen Grundsätzen. Dasselbe tun die Männer der Verwaltung. Auch die Leistungen der Verwaltung beruhen auf der Arbeit nach wissenschaftlichen Methoden, und wenn diese Arbeiten vielfach noch recht viel zu wünschen übrig lassen, so liegt das häufig genug an der mangelhaften wissenschaftlichen Durchbildung der in der Verwaltung tätigen

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Männer. Vor allem wäre ihneil eine gründlichere volkswirtschaftliche Bildung dringend vonnöten. Auch wäre es von großem Nutzen für die Vertvaltung, wenn man von dem weitverbreiteten Vorurteil abkäme, daß nur die Juristen sich für die Verwaltung eignen. Daß die theoretischen und praktischen Wissenschaften nicht nur für das wirtschaftliche, sondern auch für das kulturelle Leben von der höchsten Be­ deutung sind, ist selbstverständlich. Nach dem Gesagten bedarf es keiner Begründung mehr, daß die Wissen­ schaften in der Schule den breitesten Raum einnehmen müssen. Es gilt das nicht nur von den theoretischen, sondern auch von den angewandten Wissen­ schaften. Ich komme hierauf noch zurück (Abschnitt 9d). Hier nur noch einige allgemeine Bemerkungen: Der Unterricht muß durch­ aus wissenschaftlich sein. Darum strenge Definition der vorkommenden Be­ griffe ! Nur streng logische Schlüsse! Keine Scheinbeweise! Diese Forderungen sind für Mathematik und Naturwissenschaften selbstverständlich; sie sollten aber auch in den übrigen Fächern erfüllt werden, namentlich in Volkswirt­ schaftslehre, Geschichte, Deutsch und den fremden Sprachen. Die Beschäftigung mit den Wissenschaften bringt nicht nur einen ungeheuren wirtschaftlichen und kulturellen Nutzen, sondern sie ist auch mit einer hohen Freude verbunden. Niemand hat das Glück des Erkennenden schöner geschildert als Nietzsche. d) Die Ethik.

Ich weiß nicht, ob es eine Frage gibt, die den Primanern mehr zu schaffen macht, als das Problem der Moral. Die religiöse Begründung der Moral, die einzige, die dem Primaner meistens in der Schule geboten wird, genügt ihm nicht mehr. Sie genügt oft auch demjenigen nicht, der an den religiösen Lehren festhält, viel weniger noch den vielen, die an der Wahrheit der über­ lieferten Lehre zweifeln. Der denkende Mensch kommt ganz von selbst zu der Frage: Worauf gründet sich denn die Moral? Warum muß ich nach den Vor­ schriften der Moral handeln? Hier kommt nun der Primaner leicht zu dem Ergebnis, daß der Egoismus die einzige Triebfeder der menschlichen Hand­ lungen sei und sein könne, da nur das selbstsüchtige Handeln sich logisch be­ gründen lasse. In solchen Zweifeln muß dem Schüler die Schule zu Hilfe kommen. Freilich gehört auch dazu ein philosophisch gebildeter Lehrer, und der Unterricht in der philosophischen Propädeutik ist durchaus die richtige Stelle, um die Frage nach den Grundlagen der Moral zu behandeln. Im übrigen kommt es auf das Fach, innerhalb dessen dieses Problem besprochen wird, sehr wenig an. Auch im Deutschen oder in der fremdsprachlichen Lektüre oder in der Geschichte lassen sich diese Fragen sehr wohl erörtern. Zunächst wird der Lehrer den Schülern klar machen müssen, daß im Laufe der Geschichte die verschiedensten Versuche gemacht worden sind, die Frage nach dem obersten Grundsätze der Moral zu beantworten. Hierüber gibt es zunächst vier verschiedene Meinungen. Das neue Deutschland in Erziehung und Unterricht.

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Die unter Philosophen und Laien am meisten verbreitete Anschauung ist die, daß nur diejenigen Handlungen moralischen Wert haben, die nicht um des eigenen Vorteils willen, sondern einem anderen zuliebe geschehen. Nicht der Egoismus, sondern der Altruismus ist hiernach die Triebfeder der sittlichen Handlungen. Dem wirklich moralischen Handeln liegt das Mitleid zugrunde. Ein Hauptvertreter dieser Anschauung ist Schopenhauer. Die zweite Anschauung, welche der vorigen gerade entgegengesetzt ist, lehrt, daß alle Handlungen der Menschen auf dem Egoismus beruhen. Hand­ lungen, die lediglich aus Liebe zum Mitmenschen geschehen, die wirklich selbstlos sind, gibt es nach dieser Ansicht überhaupt nicht. Die Handlungen, die dem oberflächlichen Beobachter als selbstlos erscheinen, beruhen nur auf einem ver­ feinerten Egoismus. Die dritte Anschauung über die Grundlage der Moral ist die Lehre Kants vom kategorischen Imperativ. Der kategorische Imperativ, das ist das Gesetz in meiner Brust, dessen Ursprung ich nicht mit Bestimmtheit kenne, sondern nur vermuten kann, das Gesetz, welches mir befiehlt, lediglich meine Pflicht zu erfüllen, unbekümmert darum, ob sie meinen Neigungen entspricht oder nicht. Auf die Frage nach dem obersten Grundsätze der Moral antwortet Kant: Handle immer so, daß deine Handlungen die Unterlage für eine allgemeine Gesetzgebung bilden könnten. D. h. lege dir immer die Frage vor: Könntest du wünschen, daß alle Menschen stets so handelten, wie du jetzt handeln willst? Würde die allgemeine Wohlfahrt bestehen können, wenn alle Menschen so handelten, wie du? Hier berührt sich das Kantische Moralprinzip sehr nahe mit einer vierten, gleichfalls weit verbreiteten Anschauung, nämlich mit dem sog. Prinzip des allgemeinen Nutzens. Dieser Grundsatz macht nicht den Vorteil des einzelnen, sondern den der Gesamtheit zur Richtschnur des Handelns. Die Handlungen, welche der Allgemeinheit zum Vorteil gereichen, haben moralischen Wert: der einzelne muß sich um des Ganzen willen aufopfem. Diese verschiedenen Anschauungen über die Grundlage der Moral sind nun keineswegs von der Art, daß sie sich gegenseitig völlig ausschließen. Es schlingen sich vielmehr Fäden von der einen zur anderen, wie sich besonders deutlich zeigt, wenn die Vertreter der verschiedenen Richtungen ihre Ansichten begründen. Die Vertreter der altruistischen Moral führen zur Begründung ihrer Lehre aus, daß bei dieser Moral auch das Wohl der einzelnen am besten fahre, sie stützen sich also auf den Egoismus. Die Philosophen, welche ihre Moral auf den Egoismus aufbauen, suchen zu zeigen, daß gerade dann, wenn jeder seinen eigenen Vorteil im Auge hat, auch das Wohl der Gesamtheit am besten gefördert wird; sie begründen also die egoistische Moral mit altruistischen Prinzipien oder mit dem Grundsatz des allgemeinen Nutzens. Selbst Kant stützt sich, wenn er bestimmte Fragen der Moral entscheidet, auf den Egoismus. Die Vertreter des Prinzips vom allgemeinen Nutzen endlich wollen zeigen, daß gerade dadurch auch dem Wohl des einzelnen am besten gedient wird, wenn ein jeder weniger an sich, als an das Wohl der Allgemeinheit denkt. Wir haben es also hier mit einem Durcheinander der verschiedensten

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Meinungen, mit einer Verworrenheit zu tun, Wie sie größer kaum gedacht werden samt. Es ist kein Wunder, daß sich mrsere Primaner in diesen Dingen nicht zurecht finden. Welche von den vier Anschauungert ist nun richtig und welche sind falsch? In einer Beziehung sind sie alle teilweise richtig und in einer anderen Beziehung alle falsch. Richtig sind sie insofern, als in der Tat alle diese Prinzipien Beweggründe des menschlichen Handelns sein können. Falsch sind sie insofern, als es überhaupt unmöglich ist, die Moral rein logisch zu begründen und es daher einen obersten Grundsatz der Moral, der den strengen Anforderungen der Logik standhält, gar nicht gebet: kann. Schopen­ hauer sagt: „Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer". Ich gehe noch weiter und sage: Moral begründen ist unmöglich, wenn das Wort „be­ gründen" im logischen Sinne verstanden wird. Darum mußten alle Philo­ sophen, welche das Problem der Begründuttg der Moral mit dem Verstände lösen wollten, notwendig scheitern. Kein Mensch kann beweisen, daß ich in einem gegebenen Falle so und iiidjt anders handeln muß. Selbst der Anhänger der egoistischen Moral kann nicht beweisen, daß ich genötigt bin, unter allen Umständen meinen eigenen Nutzen zu suchen. Er kann nur sagen, daß in sehr vielen Fällen die Menschen ihren eigenen Vorteil verfolgen, aber niemand ist gezwungen, nach diesem Gruitdsatz zu verfahren. Ebensowenig kann der Verteidiger der altruistischen Moral den Nachweis führen, daß ich so hattdeln muß, wie es das Wohl des Nächsten erfordert, und daß ich mein eigenes Wohl hintansetzeit muß. Wentt dem Anhänger der Moral des allgemeinen Nutzens jemand entgegnete: „Was geht mich der allgemeine Nutzen an?" so würde gegen eine solche Antwort mit den Waffen der Logik nichts auszurichten sein. Vom „kategorischen Im­ perativ" ettdlich wird niemand behaupten, daß er logisch zwingend ist. Mit dem Verstände läßt sich nur die Frage beantworten: Welches sind die tatsächlichett Triebfedern der menschlichen Handlungen? Dies ist eine sehr wichtige und schwierige Frage, deren Beantwortung noch in den ersten Anfättgen ist. Die Frage dagegen: Welches sollen die Triebfedern der mensch­ lichen Handluttgett sein? läßt sich ntit dem Verstände überhaupt nicht beantworten, auch nicht im einzelnen Falle. Hier entscheidet das Herz, nicht der Kopf. Die Gesetze des Handelns sind eben ganz anders als die Gesetze des Erkettnens. Willst du hattdeln, so frage dein Herz, willst du aber erkennen, so traue dem Herzen nicht, sondern mit deinem Kopfe, deinem Verstände! So unmöglich es ist, die Frage: Was ist gut? ntit dein Verstände zu beantworten, ebenso verkehrt ist es, die Frage: Was ist wahr? mit dem Herzen, mit dem Gefühl zu beantworten. Die intellektuelle Redlichkeit erfordert, daß wir solche Fragen, die sich an die Erkenntnis richten, nur mit dem Verstände zu lösen versuchen. Jede Heranziehung des Gefühls, des Gemütes bei der Be­ antwortung solcher Fragen ist unehrlich und auf das Entschiedenste zurück­ zuweisen. Sind derartige Fragen, die sich auf die Erkenntnis beziehen, nicht mit dem Verstände zu beantworten, so sind sie überhaupt nicht zu entscheiden. Aber in Erkenntnisfragen, in denen der Kopf uns im Stich läßt, das Herz ent­ scheiden zu lassen, das ist nie und nimmer zulässig.

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Dies ist der grundlegende Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Sätzen. Kein praktischer Satz, also auch kein moralischer Satz läßt sich beweisen. Daher spielt in allen ethischen Fragen das Gefühl, das Gemüt, das Herz eine so große Rolle. Nur theoretische Sätze, d. h. solche, die sich auf die Erkenntnis der Wahrheit beziehen, sind wirklich beweisbar. Diesen einfachen Unterschied zwischen rein wissenschaftlichen und ethischen Sätzen habe ich auf der Schule niemals gehört. Das gehörte nicht zum Pensum. Und doch habe ich auf der Schule Protagoras gelesen, ohne daß unser Lehrer es für nötig hielt, auf die darin behandelten Probleme der Philosophie und Moral irgendwie einzugehen. Wenn ich eine auf den Inhalt sich beziehende Frage stellte, so erhielt ich von meinem Lehrer (er soll ein tüchtiger klassischer Philologe gewesen sein) die Antwort: „Uber diese Frage gehen wir zur Tages­ ordnung über." Die Tagesordnung war die griechische Grammatik. Ich hoffe, daß diese Art von Philologen heute ausgestorben ist. Daß eine reinliche Scheidung zwischen den theoreüschen und prakttschen oder zwischen den rein wissenschaftlichen und ethischen Fragen unbedingt nötig ist, wird man dem Primaner unschwer klarmachen können. Der Schüler muß wissen, daß der Verstand nicht alles kann, daß das Gefühl für das Leben und die Kultur ebenso notwendig ist wie der Verstand. Damit ist aber nicht gesagt, daß Mangel an Verstand und Tiefe des Gemüts immer miteinander verbunden sind. Das Gegenteil ist in der Regel der Fall. Nicht nur Dummheit und Stolz, sondern auch Dummheit und Roheit wachsen auf einem Holz. Man glaubt gar nicht, wie viele Schädigungen und Verletzungen des Mitmenschen aus Gedankenlosigkeit, aus Dummheit hervorgehen. Das wußte schon der alte Sokrates. Auch er hat einen allgemeinen Grundsatz der Moral aufgestellt. Er lehrte: „Alle Schlechtigkeit und Bosheit ist aus Dummheit zurückzusühren. Macht nur die Menschen klüger und weiser, so werden sie von selbst besser werden!" Nietzsche sagt, Sokrates habe durch diese Lehre der Dummheit Schaden getan, indem er ihr das gute Gewissen benahm. Und sicherlich hat Sokrates nicht nur der Dummheit, sondern auch der Unsittlichkeit Schaden getan. Hier haben wir wieder einen engen Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Moral, zwischen Intelligenz und Charakter (vgl. den vorigen Abschnitt). Auch Metzsche hat ein oberstes Moralprinzip aufgestellt. Dieser Grundsatz besteht in der Entwickelung der Kultur zu immer schöneren und reicheren Formen. Niemand wird verkennen, daß auch dieser Grundsatz seine hohe Bedeutung hat. Es gibt also im- ganzen mindestens sechs oberste Gmndsätze der Moral, und keiner ist unter ihnen, dem man jede Berechügung bestreiten könnte. Die Trieb­ federn der menschlichen Handlungen sind zu mannigfaltig, als daß sie alle unter einen Hut zu bringen wären. Diese Fragen mit den Schülern zu besprechen, findet sich im Verlauf des Unterrichts reichlich Gelegenheit. Ich meine, die Schule hat die Pflicht, diese Dinge in Prima zu behandeln. Es braucht nicht systemaüsch, sondem nur ge­ legentlich zu geschehen. Obwohl ich diese Belehrungen für unumgänglich nötig halte, muß ich mich doch gegen einen besonderen Unterricht in der Moral aussprechen. Die

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einzelnen moralischen Forderungen, die in einem solchen Unterricht gestellt werden könnten, würden von den Geboten des praktischen Christentums nicht abweichen. Solange daher der Religionsunterricht in der Schule verbindlich ist,1 erscheint mir ein besonderer Unterricht in der Ethik nicht erforderlich. Es sind ja auch nicht die einzelnen ethischen Forderungen, die in der Regel den Schüler quälen, sondern das Bedürfnis nach einer einwandfreien Begründung der Moral überhaupt. Die Förderung der intellektuellen Redlichkeit ist besonders eine Aufgabe der Realanstalten. Intellektuelle Sauberkeit um jeden Preis! Keine Meinungen bei sich dulden, welche die Prüfung vor dem Richterstuhle der Vernunft nicht vertragen können! Das ist es, was, wie Nietzsche sagt, die höheren Menschen von den niederen scheidet (Fröhliche Wissenschaft, S. 37). Es ist im Grunde genommen dieselbe Folgerung, die wir oben aufstellten: Erziehung zur Fähig­ keit, ein Vorurteil als solches zu erkennen und dann abzustreifen. Gerade die strenge Wissenschaftlichkeit, die besonders auf den Realanstalten herrschen soll, ist geeignet, zur intellektuellen Rechtschaffenheit zu erziehen. Der wissenschaftlich gebildete Mensch soll seine Ehre darein setzen, und der Schüler muß es lernen, nicht ins Blaue hinein zu schwatzen und keine Ansichten auszusprechen, die er nicht begründen kann. Das kann aber nur derjenige, welcher gelernt hat, worauf es im Schließen und Urteilen ankommt, der gelernt hat, den Dingen auf den Grund zu gehen und nicht leichtsinnig mit der größten Gelassenheit Sätze auszusprechen, deren Richtigkeit er gar nicht beurteilen kann. Wie weit diese unwissenschaftliche Neigung verbreitet ist, werden wir bei Erörterung der Frage nach der Gleichwertigkeit der höheren Lehranstalten (Abschnitt 6) an einem grandiosen Beispiel kennen fernen. Die Forderung der intellektuellen Rechtschaffenheit ist ein Gebot der Ethik, das aber nur derjenige erfüllen kann, der saubere wissenschaftliche Arbeit gelernt hat. Hier ist wieder ein Berührungspunkt zwischen Wissenschaft und Ethik oder zwischen Intelligenz und Charakter. Auch zwischen Ethik und Volkswirtschaftslehre besteht ein enger Zusammen­ hang. Die Moral verlangt nicht nur, daß ich im einzelnen Falle so handle, wie es mir mein Gewissen vorschreibt und mein Gefühl diktiert, sie verlangt viel­ mehr auch, daß ich der allgemeinen Not meiner Volksgenossen, ja der ganzen Menschheit nach Möglichkeit abzuhelfen suche. Mit anderen Worten: Die Moral verlangt nicht nur Wohltätigkeit, sondern Sozialpolitik und soziale Arbeit. Diese kann aber nur von einem Menschen mit Erfolg geleistet werden, der die Volkswirtschaftslehre von Grund aus kennt. Gründliche Kenntnis der Volks­ wirtschaftslehre ist also auch eine Forderung der Ethik. e) Die Religion.

Die Religion hat in der Geschichte eine so ungeheure Rolle gespielt und ist auch in der Gegenwart für das Leben des Einzelnen wie der Völker von so großer Bedeutung, daß jeder gebildete Mensch gründliche Kenntnisse nicht 1 Da der Religionsunterricht jetzt wahlfrei ist, liegt die Sache anders.

nur in feiner eigenen, sondern auch in den wichtigsten fremden Religionen besitzen muß. Darum ist ein besonderer Religionsunterricht auch in den obereir Klassen nach meiner Überzeugung unbedingt notwendig.* Ob dieser Unterricht immer so erteilt wird, wie man es wünschen möchte, das ist eine Frage für sich. Wir wollen hier auf den Lehrstoff des Religionsunterrichts nicht eingehen, sondern lediglich die Forderungen aufstellen, denen ein nach unserer Auffassung guter Religionsunterricht genügen müßte. Für die Hauptaufgabe des Religionsunterrichts betrachte ich die Erziehung zum praktischen Christentum, zur inneren und äußeren Reinheit in Gesinnung, Wort und Tat (ohne Prüderie!), zur Güte gegen die nächste Umgebung, zur sozialen Betätigung. Dazu kommt ferner die Erziehung zur religiösen Duld­ samkeit gegen die Andersgläubigen und Andersdenkenden. An dieser Duld­ samkeit fehlt es gar sehr. Der gläubige Katholik kann es nicht begreifen, wie ein evangelischer Christ gläubig sein kann, und umgekehrt. Dem einen erscheint die Forderung einer positiven Religion ohne autoritatives Prinzip, dem anderen die Forderung des Glaubens an ein unfehlbares Lehramt vollkommen wider­ sinnig! Man bemüht sich oft nicht, in den Gedankenkreis des anderen Be­ kenntnisses wirklich einzudringen. Der Religionslehrer ist häufig geradezu bemüht, die Lehren der anderen Konfession als sinnlos darzustellen. Er forscht nicht nach, was die Vertreter der anderen Anschauung sich denken, wie auch sie sich bemühen, die Forderungen des Glaubens mit denen der Vernunft in Einklang zu hingen. Man lasse sich durch die Tatsache nicht täuschen, daß die orthodoxen Vertreter der verschiedenen Konfessionen zusammenzuhalten pflegen, wenn es sich darum handelt, gegen die freier Denkenden Stellung zu nehmen. Da denken sie: Es ist immer noch besser, daß der Mensch etwas Falsches, als daß er gar nichts glaubt. Religiöse Duldsamkeit kann nur erzielt werden, wenn der Religionslehrer ernstlich bestrebt ist, die Lehren der anderen Konfessionen objektiv darzustellen. Die meisten Angriffe der Evangelischen auf die katholische und der Katholiken auf die evangelische Religion beruhen auf einer völlig ungenügenden Kenntnis der betreffenden Lehren. Es ist eine Forderung der intellektuellen Redlichkeit, daß man die Anschauungen, die man angreift, zunächst genau kennt und richtig darstellt. Ein solches Verfahren würde weit mehr zur religiösen Duldsamkeit beitragen, als alle Ermahnungen. Duldsamkeit predigen ist leicht, Duldsamkeit begründen schwer! Übrigens muß sich Duldsamkeit nicht nur auf die Angehörigen der fremden Konfessionen, sondern auch auf die auders Denkenden der eigenen Konfession beziehen! Ich habe es erlebt, daß ein evangelischer Oberlehrer deshalb nicht an eine Anstalt gehen, wollte, weil ihr Direktor katholisch war! Die Anstalt war nicht katholisch, sondern paritätisch. Sollte man so etwas wohl für möglich halten? Der Religionsunterricht in den oberen Klassen führt, wenn er richtig er­ teilt wird, den denkenden Schüler zu den höchsten Problemen der Menschheit. 1 Doch darf kein Schüler zur Teilnahine gezwungen werden.

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Dies ist ein großer Vorzug. Ganz besonders wertvoll ist in dieser Beziehung der apologetische Unterricht. Er war es, der von Untersekunda an mein Interesse für philosophische Fragen tvachrief. Noch heute gedenke ich dieses Unterrichts mit großer Dankbarkeit.

5. Vie nationalen Ausgaben des Lebens und der Schule Eine Folgerung, die fast allgemein aus den Erfahrungen des Krieges gezogen wird, ist die, daß die Schüler in erhöhtem Maße zu nationaler Ge­ sinnung erzogen werden müssen. Das ist ein merkwürdiger Irrtum. Wo hat sich denn der Mangel an nationaler Gesinnung gezeigt? Wo haben es ins­ besondere die Schüler der höheren Lehranstalten daran fehlen lassen? Wenn der Krieg eins mit Sicherheit bewiesen hat, so ist es dies: Eine besondere Er­ ziehung zum Chauvinismus ist nicht erforderlich; wenn es nötig ist, sind wir alle Chauvinisten.^ Man darf sich über diesen Punkt nicht durch die Äußerungen der im öffent­ lichen Leben stehenden Männer irreführen lassen. Die Alldeutschen und Kon­ servativen werfen den Liberalen, Zentmmsleuten upd Sozialdemokraten Mangel an nationaler Gesinnung vor, diese wieder den Alldeutschen und Konservativen. Wenn zwei deutsche Männer in einer nationalen Frage verschiedener Meinung sind, so ist jeder geneigt, dem anderen antinationale, „reichsfeindliche" Ge­ sinnung, Mangel an Vaterlandsliebe vorzuwerfen. Das war schon vor dem Kriege so. In den beiden ersten Kriegsjahren war es besser, da herrschte der Burgfriede. Dann ging der Schwindel wieder los. Man fing wieder an, sich gegenseitig der vaterlandslosen Gesinnung zu beschuldigen. Es scheint tief in der menschlichen Natur begründet zu sein, daß die Menschen sich die ab­ weichenden Ansichten ihrer Mitmenschen.nicht anders erklären können, als daß sie schlechte Beweggründe dahinter vermuten. Sie sind so von der Richtigkeit ihrer Anschauungen durchdrungen und glauben die Gründe für ihre Ansichten so klar zu erkennen, daß sie meinen, es könne nur schlechter Wille sein, der dieanderen hindert, ebenso zu denken. Nicht nur in nationalen Fragen finden wir diese bedauerliche Erscheinung. Genau dasselbe beobachten wir auf dem religiösen Gebiete. Viele Menschen können sich die abweichende Anschauung anderer Menschen in religiösen Fragen nur so erklären, daß sie sie für schlecht halten. Diese nationale Unduldsamkeit ist, ebenso wie die religiöse, im Grunde genommen nichts als ein Mangel an Urteilskraft. Die Fragen, um die es sich gegenwärtig in der äußeren Politik handelt, sind so unendlich schwierig, daß kein Mensch mit Sicherheit wissen kann, ob er darin das Richtige getroffen hat. Wie kann man nun demjenigen, der in diesen Fragen anders denkt, nicht nur das Verständnis, sondern vor allem die gute Gesinnung absprechen? Dieses allgemein übliche Verfahren ist ein sicherer Beweis nicht für die Schlechtigkeit, sondem für die Dummheit eines sehr großen Teiles der Menschen. Der alte Sokrates hat schon recht.

1 Hoffentlich wird es nie mehr nötig sein.

Die Aufgaben der Realanstalten nach dem Kriege

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Dies ist ein großer Vorzug. Ganz besonders wertvoll ist in dieser Beziehung der apologetische Unterricht. Er war es, der von Untersekunda an mein Interesse für philosophische Fragen tvachrief. Noch heute gedenke ich dieses Unterrichts mit großer Dankbarkeit.

5. Vie nationalen Ausgaben des Lebens und der Schule Eine Folgerung, die fast allgemein aus den Erfahrungen des Krieges gezogen wird, ist die, daß die Schüler in erhöhtem Maße zu nationaler Ge­ sinnung erzogen werden müssen. Das ist ein merkwürdiger Irrtum. Wo hat sich denn der Mangel an nationaler Gesinnung gezeigt? Wo haben es ins­ besondere die Schüler der höheren Lehranstalten daran fehlen lassen? Wenn der Krieg eins mit Sicherheit bewiesen hat, so ist es dies: Eine besondere Er­ ziehung zum Chauvinismus ist nicht erforderlich; wenn es nötig ist, sind wir alle Chauvinisten.^ Man darf sich über diesen Punkt nicht durch die Äußerungen der im öffent­ lichen Leben stehenden Männer irreführen lassen. Die Alldeutschen und Kon­ servativen werfen den Liberalen, Zentmmsleuten upd Sozialdemokraten Mangel an nationaler Gesinnung vor, diese wieder den Alldeutschen und Konservativen. Wenn zwei deutsche Männer in einer nationalen Frage verschiedener Meinung sind, so ist jeder geneigt, dem anderen antinationale, „reichsfeindliche" Ge­ sinnung, Mangel an Vaterlandsliebe vorzuwerfen. Das war schon vor dem Kriege so. In den beiden ersten Kriegsjahren war es besser, da herrschte der Burgfriede. Dann ging der Schwindel wieder los. Man fing wieder an, sich gegenseitig der vaterlandslosen Gesinnung zu beschuldigen. Es scheint tief in der menschlichen Natur begründet zu sein, daß die Menschen sich die ab­ weichenden Ansichten ihrer Mitmenschen.nicht anders erklären können, als daß sie schlechte Beweggründe dahinter vermuten. Sie sind so von der Richtigkeit ihrer Anschauungen durchdrungen und glauben die Gründe für ihre Ansichten so klar zu erkennen, daß sie meinen, es könne nur schlechter Wille sein, der dieanderen hindert, ebenso zu denken. Nicht nur in nationalen Fragen finden wir diese bedauerliche Erscheinung. Genau dasselbe beobachten wir auf dem religiösen Gebiete. Viele Menschen können sich die abweichende Anschauung anderer Menschen in religiösen Fragen nur so erklären, daß sie sie für schlecht halten. Diese nationale Unduldsamkeit ist, ebenso wie die religiöse, im Grunde genommen nichts als ein Mangel an Urteilskraft. Die Fragen, um die es sich gegenwärtig in der äußeren Politik handelt, sind so unendlich schwierig, daß kein Mensch mit Sicherheit wissen kann, ob er darin das Richtige getroffen hat. Wie kann man nun demjenigen, der in diesen Fragen anders denkt, nicht nur das Verständnis, sondern vor allem die gute Gesinnung absprechen? Dieses allgemein übliche Verfahren ist ein sicherer Beweis nicht für die Schlechtigkeit, sondem für die Dummheit eines sehr großen Teiles der Menschen. Der alte Sokrates hat schon recht.

1 Hoffentlich wird es nie mehr nötig sein.

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Daß es unserer Jugend nicht an nationaler Gesinnung gefehlt hat, beweist vor allem die große Zahl der Kriegsfreiwilligen. Auch die Ruhe uud Selbst­ verständlichkeit, nut der das deutsche Volk, Männer, Frauen und Kinder die großen Entbehrungen, die ihm der Krieg auferlegt, getragen hat und noch trägt, beweist, wie stark die Vaterlandsliebe im deutscheil Volke verankert ist. Die Schule, nicht nur die höhere, sondern auch die Volks- mid Mittelschule, hat in der Erziehung zur Vaterlandsliebe nicht versagt. Gewiß hat der Krieg auch Erscheinungen gezeitigt, die einen Mangel an vaterländischer Gesinnung zu verraten scheinen. Ich denke an das wirtschaftliche Leben Währelid des Krieges. Dieselben Menschen, die ihr eigenes oder ihrer Kinder Leben ohne jedes Besinnen dem Vaterlande zum Opfer bringen, scheuen sich nicht, die Ernährung des deutschen Volkes durch eigennützige Handlungen aufs äußerste zu gefährden. Zunächst gibt es viele Menschen, die auch während des Krieges nicht wesentlich anders leben als im Frieden, die sich kein Gewissen daraus machen, mehr an Nahrungsmitteln zu verzehren, als auf ihren Anteil entfällt, und dadurch das Leben ihrer Mitmenschen zu gefährden. Wer für zwei ißt, tötet einen Menschen! Dieser Satz, den ich im Januar 1915 aus­ gesprochen habe (vgl. meine Kriegsgemäße Lebensweise, Breslau, Priebatsch S. 10) ist auch heute trotz der staatlichen Lebensmittelverteilung noch richtig. Nach dem Kriege werden wir erfahren, wie viele Menschen infolge der un­ gleichen Verteilung der Nahrungsmittel zugrunde gegangen finb.1 Auch der Rückgang der Geburtenzahl während des Krieges ist hierbei mit in Betracht zu ziehen. Viele Menschen sind dem Kriege zum Opfer gefallen, ehe sie ent­ standen sind. Die ungleiche Verteilung der Nahrungsmittel hatte aber noch einen anderen Grund, nämlich die Gewinnsucht. Sie ist es neben dem Mangel an Gemein­ samkeitsgefühl, die den so ungeheuer schädlichen Schleichhandel hervorgerufen hat. Den dritten Grund bilden die Kriegsgewinne, durch die eine nicht geringe Anzahl von Menschen in den Stand gesetzt worden ist, für die Erwerbung von Lebensmitteln beliebig hohe Preise anzulegen und so den auf die anderen ent­ fallenden Anteil zu schmälern. Freilich haben die Kriegsgewinner eine Entschuldigung. Die herrschende volkswirtschaftliche Lehre ging dahin, daß der einzelne möglichst nach Gewinn streben soll, damit das Ganze am besten gedeihe. Diese Übertragung des

egoistischen Prinzips von der Moral auf die Volkswirtschaftslehre hat nicht nur im Kriege ungeheuren Schaden angerichtet. Der Gegensatz zwischen Rentabilität und Produktivität, der schon im Frieden die ganze bürgerliche Gesellschaft durchzieht, war fast völlig unbekannt (vgl. über diese wichtige Frage vor allem Effertz, Arbeit und Boden). Hier liegt eine Zwiespältigkeit der menschlichen Natur vor, für welche die Schule nicht verantwortlich gemacht werden kann. Keine noch so sorg­ fältige Erziehung wird die Auswüchse des privaten Gewinnstrebens beseitigen. Das Moralpredigen nützt hier gar nichts. Einige Besserung kann nur ein gründ-

1 Bis zum Eintritt des Waffenstillstandes waren eS 765000.

Die Ausgaben der Realanstalten nach dem Kriege

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licher Unterricht in der Volkswirtschaftslehre bringen. Daß das gewinnsüchtige und selbstsüchtige Verhalten der Kriegsgewinner das Leben ihrer Mitmenschen gefährdet, ist wohl den wenigsten unter ihnen klar geworden. Auch in dieser Beziehung sind die Menschen mehr dumm als schlecht. Zur Förderung der nationalen Gesinnung hat der preußische Unterrichtsminister v. Trott zu Solz unter allgemeinem Beifall eine Verstärkung des Geschichtsunterrichts angeordnet. J,r Baden hat sogar aus demselben Gmnde eine Vermehrung der Deutsch- und Geschichtsstunden stattgefunden und zwar auf Kosten der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer! In Hamburg soll man dasselbe beabsichtigen. Ich will nun keineswegs behaupten, daß der Geschichtsunterricht, wie er auch heute noch vielfach erteilt wird, nicht seine erheblichen Mängel aufzuweisen hat. Daß aber gerade der. Krieg an irgend­ einer Stelle Mangel an irgendwelchen geschichtlichen Kenntnissen offenbart hätte, das glaubt doch kein Mensch. Nein, der Krieg hat ebensowenig Mangel an geschichtlichem Wissen wie an nationaler Gesinnung bewiesen. Der Krieg hat Mangel an ganz anderen Kenntnissen bewiesen. In Volkswirtschaftslehre, Mathematik, Physik und Chemie hat es Aar sehr gefehlt. Doch über den Mangel an mathematisch-naturwissenschaftlichen Kenntnissen werden wir an anderer Stelle noch zu reden haben (Abschnitt 9d). Aber nach einer anderen Richtung ist die Vorbereitung für die nationale Aufgabe nicht ausreichend gewesen. Ich meine die Erziehung zur militärischen Tüchtigkeit und zwar besonders in körperlicher Beziehung.* Darum müssen die Leibesübungen noch in ganz anderer Weise gefördert werden. Turnen, Schwimmen, Wandem, Rüdem! Das alles wird aufs eifrigste gepflegt werden müssen und zwar nicht nur für die Knaben, die dereinst, falls es wieder not­ wendig sein sollte, das Vaterland verteidigen müssen, sondem auch für die Mädchen, die künftigen Mütter. Die Schülervereine, die sich die Förderung der Leibesübungen zum Ziele gesetzt haben, verdienen die eifrigste Förderung und Unterstützung. Wenn sie zugleich von ihren Mitgliedern Enthaltsamkeit von Alkohol und Nikotin verlangen, dann um so besser.

6. Die Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der höheren Lehranstalten Es wird eine sehr wichtige Aufgabe der Vertreter und Freunde der Real­ anstalten sein, den Kampf um die Gleichberechtigung und die Anerkennung der Gleichwertigkeit mit den Gymnasien zum siegreichen Ende zu führen. Die schwersten Kämpfe auf diesem Gebiete stehen uns vielleicht noch bevor. Die Vorurteile gegen die Realanstalten sind noch nicht überwunden imif die Legende von der Überlegenheit des Gymnasiums ist noch lange nicht zerstört. Diese Vor­ urteile finden sich in . allen gebildeten Kreisen bis zu den Universitätsprofessoren 1 Die militärischen Gründe für die körperliche Erziehung der Jugend werden in Zukunft wegfallen, da wir unser ganzes Denken in den Dienst der Aufgabe stellen werden, künftige Kriege unmöglich zu machen.

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licher Unterricht in der Volkswirtschaftslehre bringen. Daß das gewinnsüchtige und selbstsüchtige Verhalten der Kriegsgewinner das Leben ihrer Mitmenschen gefährdet, ist wohl den wenigsten unter ihnen klar geworden. Auch in dieser Beziehung sind die Menschen mehr dumm als schlecht. Zur Förderung der nationalen Gesinnung hat der preußische Unterrichtsminister v. Trott zu Solz unter allgemeinem Beifall eine Verstärkung des Geschichtsunterrichts angeordnet. J,r Baden hat sogar aus demselben Gmnde eine Vermehrung der Deutsch- und Geschichtsstunden stattgefunden und zwar auf Kosten der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer! In Hamburg soll man dasselbe beabsichtigen. Ich will nun keineswegs behaupten, daß der Geschichtsunterricht, wie er auch heute noch vielfach erteilt wird, nicht seine erheblichen Mängel aufzuweisen hat. Daß aber gerade der. Krieg an irgend­ einer Stelle Mangel an irgendwelchen geschichtlichen Kenntnissen offenbart hätte, das glaubt doch kein Mensch. Nein, der Krieg hat ebensowenig Mangel an geschichtlichem Wissen wie an nationaler Gesinnung bewiesen. Der Krieg hat Mangel an ganz anderen Kenntnissen bewiesen. In Volkswirtschaftslehre, Mathematik, Physik und Chemie hat es Aar sehr gefehlt. Doch über den Mangel an mathematisch-naturwissenschaftlichen Kenntnissen werden wir an anderer Stelle noch zu reden haben (Abschnitt 9d). Aber nach einer anderen Richtung ist die Vorbereitung für die nationale Aufgabe nicht ausreichend gewesen. Ich meine die Erziehung zur militärischen Tüchtigkeit und zwar besonders in körperlicher Beziehung.* Darum müssen die Leibesübungen noch in ganz anderer Weise gefördert werden. Turnen, Schwimmen, Wandem, Rüdem! Das alles wird aufs eifrigste gepflegt werden müssen und zwar nicht nur für die Knaben, die dereinst, falls es wieder not­ wendig sein sollte, das Vaterland verteidigen müssen, sondem auch für die Mädchen, die künftigen Mütter. Die Schülervereine, die sich die Förderung der Leibesübungen zum Ziele gesetzt haben, verdienen die eifrigste Förderung und Unterstützung. Wenn sie zugleich von ihren Mitgliedern Enthaltsamkeit von Alkohol und Nikotin verlangen, dann um so besser.

6. Die Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der höheren Lehranstalten Es wird eine sehr wichtige Aufgabe der Vertreter und Freunde der Real­ anstalten sein, den Kampf um die Gleichberechtigung und die Anerkennung der Gleichwertigkeit mit den Gymnasien zum siegreichen Ende zu führen. Die schwersten Kämpfe auf diesem Gebiete stehen uns vielleicht noch bevor. Die Vorurteile gegen die Realanstalten sind noch nicht überwunden imif die Legende von der Überlegenheit des Gymnasiums ist noch lange nicht zerstört. Diese Vor­ urteile finden sich in . allen gebildeten Kreisen bis zu den Universitätsprofessoren 1 Die militärischen Gründe für die körperliche Erziehung der Jugend werden in Zukunft wegfallen, da wir unser ganzes Denken in den Dienst der Aufgabe stellen werden, künftige Kriege unmöglich zu machen.

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hinauf, ja bei diesen scheinen sie besonders stark zu sein. Wie stark sic z. B. in Breslau fhib, mögen folgende kleine Tatsachen beweisen. Man fragt in Breslau nicht: auf welche Schule geht Ihr Sohn?, sondern: auf welches Gynmasium? Daß man seinen Sohn auf ein Gymnasium und nicht auf ein Realgymnasium oder gar auf die Oberrealschule oder eine Realschule schickt, ist selbstverständlich. Wenn jemand das Realgymnasium besucht, so wird diese beschämende Tatsache dadurch etwas gemildert, daß man sagt: Ich besuche das Zwingergymnasium (statt das Realgymnasium am Zwinger). Obschon die beiden Breslauer Studien­ anstalten nach dem realgymnasialm Lehrplane unterrichten, besuchen die Schülerinnen das „Mädchengymnasium". Als ich den Neubau einer Ober­ realschule für den Süden (einen vornehmen Stadtteil) Breslaus plante, sagte mir ein Stadtverordneter: Gehen Sie doch mit Ihrer Oberrealschule; unsere Jungen brauchen eine höhere Bildung! Davon, daß dem Abiturienten der Realanstalten auch das Studium der Medizin und der Rechtswissenschaft ge­ öffnet ist, hat man vielfach in akademisch gebildeten Kreisen keine Ahnung. Mir ist es begegnet, daß in einem Kreise von etwa 20 Akademikern kein ein­ ziger wußte, daß die Oberrealschulabiturienten ohne Nachprüfung Rechts­ wissenschaft studieren können. Ja, es ist sogar vorgekommen, daß ein Real­ schuldirektor das nicht wußte. Er war allerdings mehrere Jahre im Felde gewesen und mag es inzwischen vergessen haben. In diesen Fragen der tatsächlichen Bestimmungen über die Gleichberech­ tigung tut fortgesetzte Aufklärung besonders not, und die ist gerade in den großen Städten am schwersteki, weil der Großstädter die Zeitung meist nur flüchtig liest. Wenn man einen Aufsatz in sämtlichen Breslauer Tageszeitungen veröffentlicht, so wird ihn trotzdem nur ein kleiner Teil der Bevölkerung lesen. Wenn man dagegen in der Zeitung einer kleinen Stadt etwas veröffentlicht, so kann man sicher sein, von der gesamten Bevölkerung gelesen zu werden. In Kattowitz O./S., einer Stadt von 50000 Einwohnern, wußte über diese Frage jedermann Bescheid. Hier genügten einige Aufsätze in der Kattowitzer Zeitung, um die gesamte Einwohnerschaft der Stadt und Umgebung auszu­ klären. Die Wahl der Schulgattung wird noch in sehr vieleir Fällen durch die Meinung bestimmt, daß man nur vom Gymnasium aus studieren könne. Daß die Realanstalten gleichfalls den Zugang zu allen höheren Berufen (mit Aus­ nahme der Theologie) eröffnen, ist noch keineswegs allgemein bekannt. Darum müssen die Vertreter der Realanstalten fortwährend auf die tatsächlichen Be­ stimmungen über die Berechtigungen Hinweisen und vor allen Dingen für ihre Verbreitung durch die Presse sorgen. Die Gegner der Realanstalteir ver­ stehen sich besser auf die Benutzung der Presse, wie ich bald an einem Beispiele nachweisen werde. Es ist nicht ganz leicht, über den Wert der verschiedenen Bildungsanstalten ein sicheres Urteil zu fällen. Zahllose Schriften sind über diesen Gegenstand erschienen und sehr viel Geistreiches ist darüber gesagt worden. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind sehr verschieden. Während die einen das Gymnasium als die Schule für die Aristokraten des Geistes und die Realanstalten als die

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Schule für die Banausen betrachten, lassen andere am Gymnasium kein gutes Haar. Wieder andere halten Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule für gleichwertig, insbesondere in der Richtung, daß sie sie als gleichwertige Vorbereitungsstätten für die höheren Berufsarten, namentlich auch für das Universitätsstudium ansehen. Viele unter diesen Schriften lesen sich wunderbar schön, und doch ist es wohl gänzlich ausgeschlossen, daß ein einzelner Mensch in allen denjenigen Gebieten zu Hause ist, die er kennen müßte, wenn et eine derartige Frage a priori entscheiden sollte. Ja, ich glaube sogar, je mehr jemand mit allen den Fragen des Lebens und der Wissenschaft, die hier in Betracht kommen, vertraut ist, desto mehr wird er erkennen, daß es einfach unmöglich ist, eine so ungeheuer verwickelte Frage überhaupt a priori zu beurteilen. Durch welche Fächer der Geist am besten entwickelt wird und welche Gebiete er ins­ besondere betreiben muß, um sich mit der größten Aussicht aus Erfolg wissen­ schaftlichen Studien auf den verschiedenen Gebieten hingeben zu können, oas ist eine so verwickelte Frage, daß sie noch niemand beantworten kann. In dieser Frage stehen wir erst am Anfänge der Erkenntnis. Einen Beitrag zu ihrer Lösung liefert Kerschensteincr in seinem Buche über das Wesen und die Bedeutung des naturwissenschaftlichen Unterrichts und Schickhelm in einem sehr lesenswerten Aufsatze „Reifezeugnis und die Ergebnisse der Prüfungen" in der Monatsschrift für höhere Schulen 1917. Schickhelms Aufsatz, auf den wir noch zurückkommen werden, bringt auf Grund der Prüfungen für das höhere Lehramt an der Universität Münster in acht aufeinander folgenden Studienhalbjahren den Nachweis, daß diejenigen Studierenden, die im Reife­ zeugnis in der Mathematik das Prädikat gut oder sehr gut hatten, nicht nur in dec Prüfung für Mathematik und Naturwissenschaften, sondern auch für die sprachlich-geschichtlichen Fächer besser abschnitten, als diejenigen, deren Leistungen in der Mathematik nur genügend oder gar nicht genügend waren. Da es sich bei diesen Untersuchungen um 818 Prüflinge handelt, so kann das Ergebnis nicht lediglich auf Zufall beruhen. Kerschensteiner schreibt den alten Sprachen, vor allem dem Lateinischen, einen besonders hohen Wert für die Geistesbildung zu, jedenfalls einen höheren Wert, als den Naturwissenschaften. Freilich bestreitet er nicht, daß insbesondere Physik und Chenüe, richtig betrieben, einen hohen Wert für die Geistesbildung haben. Ähnlich ist es auch bei den alten Sprachen: Es kommt ungeheuer viel

darauf an, wie die einzelnen Fächer angefaßt werden. Darum sind solche Untersuchungen, wie Kerschensteiner sie angestellt hat, gewiß von hohem Werte für die Gestaltung des Unterrichts. Für die Frage der Gleichwertigkeit aber bedeuten sie vorläufig nichts, da es noch in keiner Weise ausgemacht ist, ob Kerschensteiner wirklich recht hat. Der Nachweis, daß auch in den Naturwissenschaften, wenn der Unterricht in der richtigen Weise erteilt wird, eine ausgezeichnete Schulung des Geistes liegt, ist oft genug erbracht worden. Daß aber die alten Sprachen in bezug auf ihren Wert für die geistige Schulung den Naturwissenschaften überlegen sind, das hat Kerschensteiner nicht gezeigt, und es kann auf diesem Wege überhaupt nicht bewiesen werden.

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Aber auch aus Schickhelms Untersuchuugen schvir jetzt den Schluß zu ziehen, daß gerade die Oberrealschulen und die Realgymnasien wegen ihres stärkeren Unterrichts in der Mathematik auch für das Studium der sprachlichen Fächer besser vorbereiten, wäre offenbar voreilig. Ja, wer soll denn da die Frage überhaupt entscheiden? Und sie ist doch zu wichtig, als daß sie einfach unentschieden bleiben könnte. Wer also soll sie entscheiden? Doch sicherlich wohl die Berufenen, das heißt diejenigen, welche die Abiturienten der verschiedenen Schulgattungen zu prüfen haben, also die Universitätsprofessoren! Die haben doch gewiß ein Urteil über die Frage der Gleichwertigkeit? Zum mindesten bilden sie sich's vielfach ein. Das beweisen die verschiedenen „Kundgebungen" der Universitätsprofessoren in Leipzig, Göttingen, Marburg, Breslau, Berlin, Heidelberg usw. Diesen „Kundgebungen" gegenüber muß immer wieder darauf hingewiesen werden, daß ein einzelner Mensch überhaupt nicht in der Lage ist, auf Grund seiner Beobachtungen ein Urteil über eine so verwickelte Frage zu fällen. Diese Herren urteilen teils a priori, d. h. ohne jede Sachkenntnis, teils auf Grund ihrer persönlichen Er­ fahrungen, die aber in jedem Falle eine zu geringe Zahl von Beobachtungen umfassen, als daß daraus ein allgemeiner Schluß gezogen werden könnte. Ob die Abiturienten des Gymnasiums oder die des Realgymnasiums oder die der Oberrealschule bei den akademischen Prüfungen besser abschneiden, das kann man weder a priori beurteilen, noch kann es ein einzelner Universitätsprofessor auf Grund seiner persönlichen Beobachtungen noch der Lehrkörper einer ganzen Universität auf Grund seiner Erfahrungen wissen. Das kann man nur auf Gruird einer ganz Preußen umfassenden Statistik beurteilen. Und die Statistik beweist das genaue Gegenteil von dem, was die Herren Universi­ tätsprofessoren behaupten. .Es wird genügen, eine dieser Erklärungen etwas näher zu beleuchten. Sie behaupten ja alle ungefähr dasselbe. Der größte Teil der geisteswissen­ schaftlichen Dozenten der Universität Breslau hat im Jahre 1916 folgende Erklärung veröffentlicht: „Die vor 17 Jahren erfolgte Verleihung der Gleichberechtigung an die drei verschiedenen Gattungen der höheren Schulen hat dazu geführt, daß sich mehr und mehr auch Zöglinge der Realanstalten dem Studium der Geisteswissenschaften zuwenden. Es läßt sich nicht verkennen, daß darin eine große Gefahr liegt. Für eine Anzahl von Fächern ist Kenntnis des Griechischen unentbehrlich, für andere wünschenswert, und in den meisten Fällen ist die sichere Kenntnis des Lateinischen, die das Gymnasium durch eine neunjährige gründliche Schulung vermittelt, von großem Nutzen. Die zur nachträglichen Aneignung dieser Kenntnisse an der Universität eingerichteten Kurse können ihren Zweck nur sehr unvollkommen erfüllen, da sie weder die Zwangsmittel noch die langsame und sichere Arbeitsweise der Schule anzu­ wenden in der Lage sind. Die unterzeichneten Lehrer der Breslauer Universität erklären daher, ohne die Vorzüge der auf Realgymnasien und Oberrealschulen erworbenen Bildung für andere Berufszweige verkennen zu wollen, daß sie die durch das humanistische Gymnasium vermittelte Bildung nach wie vor für die beste Vorbereitung zum Studium der Geisteswissenschaften halten und

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bedauern die sich immer wiederholenden Versuche, die Eigenart des Gymnasiums anzutasten. Sie wissen sich in dieser Überzeugung eins mit ihren Leipziger Kollegen, die vor kurzem eine ähnliche Erklärung veröffentlicht haben". Fast alle Vertreter der „Geisteswissenschaften" der Breslauer Universität haben diese Erklärung unterschrieben. Es fehlen nur ein katholischer Theologe, drei Juristen, ein Neusprachler und ein Vertreter der Musikwissenschaft. Gänzlich fehlen außerdem die Mathematiker. (Als ich ist einem Zeitungsaufsatz hierauf aufmerksam machte, meinte ein Universitätsprofessor, ein Altphilologe: „Daß die Mathematik zu den Geisteswissenschaften gehört, ist mir neu." Ich erwiderte ihm darauf, mir sei es wieder neu, daß die Mathematik zu den Naturwissen­ schaften gehört. Mit der Frage, ob es möglich ist, die Geisteswissenschaften scharf gegen die Naturwissenschaften abzugrenzen, wollen wir uns hier nicht beschäftigen. Es sei nur bemerkt, daß viele „Geisteswissenschaften", besonders die Philosophie und die Volkswirtschaftslehre, zahlreiche Berührungspunkte mit den Naturwissenschaften haben.) Unsere Vertreter der Geisteswissenschaften erblicken in der Tatsache, daß sich mehr und mehr Zöglinge der Realanstalten dem Studium der Geistes­ wissenschaften zuwenden, eine große Gefahr; wofür, teilen sie leider nicht mit. Professor Levin Schücking, der eine Gegenerklärung veröffentlicht hat, meint ironisch: „Anscheinend für die Geisteswissenschaften." Ich erblicke in solchen nichts beweisender: Kundgebungen von so autoritativer Stelle eine große Gefahr für die gedeihliche Entwicklung des höheren Schulwesens, die nur dann möglich ist, wenn an der Gleichberechtigung der höheren Lehranstalten nicht gerüttelt wird. Die Unterzeichner der Breslauer Kundgebung „halten die durch das .humanistische« Gymnasium vermittelte Bildung nach wie vor für die beste Vorbereitung zum Studium der Geisteswissenschaften". Woher wissen die Herren das? Die Vertreter der beiden theologischen Fakultäten haben zwar noch nie­ mals einen Abiturienten eines Realgymnasiums oder gar einer Oberrealschule geprüft und sind daher gar nicht imstande, auf Grund eigener Beobachtungen über die, Eignung der Realgymnasialabiturienten für das theologische Studium ein Urteil abzugeben. Sie urteilen also in einer Frage, die sich nur aus der Erfahrung, und zwar aus einer möglichst alle Einzelfälle umfassenden Erfahrung beurteilen läßt, a priori, d. h. vor aller Erfahrung und unabhängig von aller Erfahrung. Aber sie sind wenigstens in der glücklichen Lage, daß sie auch durch keine bisherige Erfahrung widerlegt werden können. Anders steht die Sache mit den Juristen. Zahlreiche Abiturienten von Realanstalten haben seit dem Jahre 1904 die erste juristische Prüfung abgelegt. Mit welchem Erfolge, darüber gibt die Statistik Auskunft (vgl. meine Schrift über die Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der höheren Lehranstalten, Breslau, Priebatsch). In den Jahren 1904—1912 haben von den Gymnasial­ abiturienten 72%, von den Realgymnasialabiturienten 69% und von den Oberrealschulabiturienten gleichfalls 69% die erste juristische Prüfung ab­ gelegt. Dabei ist noch der Umstand zu beachten, daß diejenigen Realgymnasial-

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Abiturienten, welche die Reifeprüfung an einem Gymnasium nachgemacht haben, zu den Abiturienten des Gymnasiums gezählt sind. Ohne dieses offen­ bar ganz unberechtigte Verfahren, dessen Tragweite ich allerdings nicht be­ urteilen kann, würde der. Unterschied vielleicht noch geringer sein. Es wäre wünschenswert, hierüber von amtlicher Stelle Genaueres zu erfahren. Sehr merkwürdig ist es, daß auch drei Philosophen die „Kundgebung" unterzeichnet haben, darunter sogar einer, der eine medizinische, also natur­ wissenschaftliche Vorbildung hat (Professor Hönigswald). Denn diese Herren müßten doch ganz genau wissen, daß die Beobachtung eines einzelnen Menschen und auch die aller „geisteswissenschaftlichen" Dozenten einer Universität nicht ausreichen, um eine so ungemein verwickelte Frage zu beantworten, daß viel­ mehr über die Eignung der Abiturienten der verschiedenen Lehranstalten für das Studium nur die Statistik Auskunft geben kann. In einer noch schlimmeren Lage als die Theologen und Juristen sind die Vertreter der neueren Sprachen und der Geschichte, welche die Kundgebung unterzeichnet haben. Ihre Ansicht über die bessere Eignung der Gymnasial­ abiturienten für das Studium der neueren Sprachen und der Geschichte wird nämlich durch die Statistik glatt widerlegt. Denn die Ergebnisse der Prüfungen für das höhere Lehramt sind für die Abiturienten der Realanstalten durchweg günstiger als für die Abiturienten der Gymnasien. In der Zeit von 1901 bis 1912 haben in Preußen 10942 Gymnasialabiturienten und 3025 Realgym­ nasialabiturienten die Prüfung für das höhere Lehramt abgelegt. Von den Gymnasialabiturienten haben 64,3%, von den Abiturienten der Realanstalten 69,7% bestanden. Von den Gymnasialabiturienten, welche die Prüfung bestanden, erhielten 69,9% das Prädikat „genügend", 26,3% „gut" und 3,8% „mit Auszeichnung". Von den Realabiturienten dagegen, welche die Prüfung bestanden, erhielten 64,5% „genügend", 30,6% „gut" und 4,9% „mit Auszeichnung". Auch wenn man die Prüfungsergebnisse nach Fächern trennt, bleiben sie für die Realanstalten günstig. In Französisch und Englisch bestanden die Prüfung 987 Abiturienten vom Gymnasium und 988 Abitu­ rienten von Realanstalten. Von den Gymnasialabitucienten bestanden 72,6% mit „genügend", 24,7% mit „gut" und 2,6% „mit Auszeichnung", von t>en Abiturienten der Realanstalten 69,2% mit „genügend", 27,5% mit „gut" und 3,2% „mit Auszeichnung". Für Geschichte und Erdkunde lauten die ent­ sprechenden Zahlen 73,9, 23,2, 3,0 und 70,9, 26,1, 3,0. Damit bei einer so ernsten Sache auch der Humor nicht fehle, haben auch zwei Vertreter der Kunstgeschichte und ein Vertreter der Musikwissenschaft die „Kundgebung" unterschrieben. Man darf annehmen, daß diese Herren dabei nur das Wissen um die Kunst, nicht die Kunst selbst im Auge hatten. Denn die meisten großen Künstler haben überhaupt keine Reifeprüfung abgelegt. Es scheint aber, daß das Wissen um die Kunst eine viel gründlichere Vorbildung erfordert, als die Kunst selbst. So sieht es mit der besseren Eignung der Gymnasialabiturienten für das Studium der „Geisteswissenschaften" aus. Auch in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern sind die Prü-

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fungsergebnisse für die Abiturienten der Realanstalten günstiger. In Mathe­ matik und Physik sind die entsprechenden Prozentsätze für die Gymnasial­ abiturienten 65,8, 27,9, 6,3, für die Realabiturienten 58,5, 33,2, 8,3. In Chemie und Biologie lauten die Zahlen für die Gymnasialabiturienten 67.5, 25,7, 6,8, für die Abiturienten der Realgymasien und Oberrealschulen 59.5, 38,1, 2,4. Ich möchte nicht verfehlen, ausdrücklich auf die verhältnis­ mäßig große Zahl von Gymnasialabiturienten hinzuweisen, die in Chemie und Biologie die Prüfung „mit Auszeichnung" bestanden haben. Für das Jahr 1914/15 sind die Ergebnisse der preußischen Prüfungen im 32. Heft (Ergänzungsheft) des Zentralblattes für die gesamte Unterrichtsver­ waltung in Preußen enthalten. Ich habe die dort angegebenen Zahlen in Prozentzahlen umgerechnet. Ich beschränke meine Ausführungen auf die männ­ lichen Prüflinge. Für die weiblichen Prüflinge habe ich die Zahlen im 7. in d 8. Hefte des XVI. Jahrganges der „Frauenbildung" mitgeteilt. Von 1362 Gymnasialabiturienten, welche in die erste, Wiederholungs- oder Ergänzungsprüfung eintraten, bestanden 870, das sind 63,9%, von 312 Real­ gymnasialabiturienten bestanden 223, das sind 71,5%, von 291 Oberrealschul­ abiturienten 208, das sind gleichfalls 71,5%. Der Unterschied ist also gegen das Gesamtergebnis aus den Jahren 1901—1912 noch größer und für die Real­ anstalten noch günstiger geworden. Auch in bezug auf die von den Prüflingen erlangten Prädikate ist das Gesamtergebnis für die Realanstalten günstig. Von den Gymnasialabiturienten machten 75,7% die Prüfung mit „genügend", 20,8% mit „gut" und 3,4% „mit Auszeichnung", von den Realgymnasial­ abiturienten 73,5% mit „genügend", 24,2% mit „gut" und 2,2% „mit Aus­ zeichnung", von den Oberrealschulabiturienten 70,7% mit „genügend", 27,4% mit „gut" und 1,9% „mit Auszeichnung". Zwar stehen hier (int Gegensatz zu dem Gesamtergebnis aus den Jahren 1901—1912) die Gymnasialabiturienten unter den Prüflingen, welche „mit Auszeichnung" bestanden haben, an der Spitze, dafür ist aber der Prozentsatz der Realgymnasial- und namentlich der Oberrealschulabiturienten, welche die Prüfung mit „gut" bestanden haben, bedeutend höher wie bei beit Gymnasialabiturienten. Das Zentralblatt teilt auch die Ergebnisse der Prüfungen für das Jahr 1914/15 bei den einzelnen wissenschaftlichen Prüfungskommissionen mit. Auch bei den einzelnen Kommissionen schneiden die Abiturienten der Realanstalten fast durchweg besser ab, als die der Gymnasien. Eine auffallende Ausnahme bildet Breslau. In Breslau haben von den Gymnasialabiturienten 68,4, von den Realgymnasialabiturienten nur 57,1% und von den Oberrealschulabitu­ rienten gar nur 50% (7 unter 14) die Prüfung bestanden. Vielleicht hat dieses für die Realanstalten ungünstige Teilergebnis das Vomrteil der Breslauer Universitätsprofessoren, welche die „Kundgebung" unterzeichnet haben, ver­ stärkt. Doch scheint es mir nicht ganz unmöglich, daß umgekehrt dieses Vor­ urteil einen Einfluß auf das Ergebnis der Prüfungen gehabt hat. Damit will ich natürlich nicht sagen, daß auch nur ein einziger unter den beteiligten Pro­ fessoren absichtlich die Abiturienten der Realanstalten schlechtem behandelt hat als die Gymnasialabiturienten. Ich halte das vielmehr für gänzlich ausge-

schlossen. Wohl aber halte ich es für möglich, daß solche Herren, welche die Real­ anstalten als minderwertige Vorbereitungsstätten für das Studium der Geistes­ wissenschaften ansehen, von vornherein mit einem vorgefaßten Urteil an die Prüfung herantreten und dadurch zu ungunsten der Realabiturienten beein­ flußt melden. Solche „objektive Ungerechtigkeiten", denen keinerlei Absicht zu­ grunde liegt, kommen auch im Schulleben häufig vor. Ein Provinzialschulrat sagte mir einmal, es sei ihm ein besonderes Vergnügen, junge Grafen in der Reifeprüfung durchfallen zu lassen. Es lag ihm ganz fern, etwa absichtlich einen jungen Grafen schlechter zu behandeln, als einen anderen Schüler. Und doch würde ich, wenn ich ein Graf gewesen wäre, mir nicht gerade diesen Provinzial­ schulrat als Prüfungskommissar gewünscht haben. Ebenso würde ich, wenn ich Abiturient einer Realanstalt wäre, mich nicht gerne von einem Professor prüfen lassen, der die „Kundgebung" unterzeichnet hat. Auch für das Großherzogtum Hessen gibt es eine Statistik über die Er­ gebnisse der Prüfungen für das höhere Lehramt. In Hessen bestanden vom Februar 1901 bis Juli 1912 in 100 Fällen, in denen sich Kandidaten der Prü­ fung unterzogen, 77 Gymnasiasten, 69,9 Realgymnasiasten und 66,7 Oberreal­ schüler. Auch in den Prädikaten stehen die Gymnasiasten an der Spitze. In den Jahren 1901—1907 erhielten das Prädikat „ausgezeichnet" ^daneben gab es noch „gut" und „genügend") 18,6% der Gymnasialabiturienten, 11,5% der Realgymnasialabiturienten und 13,2% der Oberrealschulabiturienten. In den Jahren 1908—1912 bestanden mit „ausgezeichnet" 9,2 — 2,6 — 3,2, „sehr gut" 22,6 — 21,9 — 13,8, mit „gut" 33,6 — 36,0 — 41,5, mit „genügend" 34,6 — 39,5 — 41,5. Die Zahlen sind also durchweg für das Gymnasium günstig. Auch wenn man die Prüfung nach Fächern trennt, schneidet das Gymnasium günstig ab. In den sprachlich-geschichtlichen Fächern bestanden 80,4 — 73.5 — 71,4 (sämtliche Zahlen auf 100 Fälle berechnet); von diesen erhielten das Prädikat „ausgezeichnet" 11,1 — 4,3 — 4,0. Von 100 Bewerbern, welche sich der Prüfung in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern unter­ zogen, bestanden 69,9 — 66,3 — 65,7. Das Prädikat „ausgezeichnet" oder „sehr gut" erhielten 17,9 —15,9 —13,0, „gut" 37,5 — 31,8 — 42,0, „genügend" 44.6 — 52,3 — 45,3. Diese Zahlen sind in fast alle Tageszeitungen übergegangen und wurden fast allgemein als ein Beweis für die Vortrefflichkeit des „alten" Gymnasiums angesehen. Das Ergebnis in den sprachlich-geschichtlichen Fächern fand man weiter nicht verwunderlich, „da wohl allgemein anerkannt wird, daß das Gym­ nasium die geeignetste Vorbereitung für das Sprachstudium bietet". Daß aber auch in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern die Ergebnisse für das Gymnasium günstiger sind als für das Realgymnasium und die Oberreal­ schule, das soll erst recht die „Überlegenheit des alten Gymnasiums" beweisen. Die von mir im Jahre 1914 berechneten Gesamtzahlen dec preußischen Sta­ tistik habe ich außer in Breslauer Blättern noch in keiner Tageszeitung ge­ funden. Nur dre den Realanstalten geneigten Fachblätter haben sie meines Wissens bisher veröffentlicht. Die Zahlen der hessischen Statistik sind lvohl

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durch die gesamte deutsche Tagespresse verbreitet worden. Ich meine, die Freunde der Reatanstalten hätten die Pflicht, für die weiteste Verbreitung der preußischen Statistik Sorge zu tragen. In dieser Beziehung sind die Gegner der Realanstalten ungleich rühriger. Die hessische Statistik umfaßt nur die Ergebnisse einer einzigen Universität. Der aus ihnen allgemein gezogene Schluß war also sehr leichtfertig und nicht im geringsten mehr wert, als die „Kundgebungen" der Universitätsprofessoren. Wenn die hessischen Zahlen die Vortrefflichkeit und Überlegenheit des alten Gymnasiums beweisen, mit wieviel größerer Sicherheit beweisen dann die preußischen Zahlen die Vortrefflichkeit und Überlegenheit des Realgymnasiums und der Oberrealschule! Jetzt sagen aber die Gegner der Realanstalten: „Die Ergebnisse der Prü­ fungen beweisen überhaupt nichts." Warum sie nichts beweisen, dafür wissen sie allerdings irgendwie triftige Gründe nicht anzugeben. So sprechen die Herren auch erst, nachdem ihnen die Ergebnisse der preußischen Statistik be­ kannt geworden sind. Als vorher die Zahlen der hessischen Statistik veröffent­ licht wurden, da bewiesen die Ergebnisse der Prüfungen die Vortrefflichkeit und Überlegenheit des alten Gymnasiums! Ferner sagen die Herren: Mit der Statistik läßt sich alles beweisen! Mit Verlaub, .meine Herren, mit der Statistik läßt sich nicht alles beweisen. Beweisen Sie doch, bitte, mit der preußischen Statistik, daß die Gymnasien besser für das Studium der Geistes­ wissenschaften vorbereiten als die Realanstalten! Nein, nicht mit der Statistik, wohl aber mit Redensarten läßt sich alles beweisen. Allerdings ist es richtig, daß. man mit Schlüssen aus der Statistik äußerst vorsichtig sein muß. Das eine aber ist doch durch die preußische Statistik un­ zweifelhaft und unumstößlich bewiesen, daß das Realgymnasium und die Ober­ realschule eine durchaus geeignete Vorbereitungsstätte auch für das Studium der Geisteswissenschaften sind. Wenn aber jemand aus der preußischen Statistik den Schluß ziehen wollte, daß die Realanstalten für das Studium besser vorbereiten als das Gymnasium, so müßten wir zur Vorsicht mahnen. Wir müssen vielmehr einstweilen einen solchen Schluß als voreilig bezeichnen uttb seine Berechtigung so gründlich unter­ suchen, als es nur möglich ist. Wenn die Gegner der Realanstalten in ihren Schlüssen so voreilig sind (oder hat irgendwo einer von ihnen vor solchen leicht­ fertigen Schlüssen gewarnt, solange nur die hessischen Zahlen bekannt waren?), so ist das kein Grund für die Freunde der Realanstalten, in den gleichen Fehler zu verfallen. Stellt man sich vorläufig auf den Standpunkt, daß die verschiedenen Arten von höheren Schulen gleich gut für das Studium in der philosophischen Fakul­ tät vorbereiten, so bleibt doch noch ein Plus zugunsten der Realanstalten, welches der Erklärung bedarf.. Bei der Untersuchung der Gründe für dieses Plus muß mit der äußersten Behutsamkeit und Vorsicht verfahren werden. Ich habe bei solchen Untersuchungen ein Gefühl der Unsicherheit und bitte deshalb, die fol­ genden Betrachtungen mit starkem Vorbehalt aufzunehmen. Wenn ich meine Ansichten über diese Fragen dennoch hier vortrage, so tue ich es deshalb, weil Das neue Deutschland in Erziehung und Unterricht.

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ich doch vielleicht einen kleinen Beitrag zu ihrer Lösung liefern und vor allem Anregungen für die weitere unumgänglich nötige Erörterung geben kann. Trotz der vielen, über diesen Gegenstand mit mehr oder weniger Scharfsinn ge­ schriebenen Schriften sind wir hier erst in den allerersten Anfängen. Es handelt sich in letzter Linie um den Wert der verschiedenen Unterrichtsfächer für die Ausbildung des Geistes. Wie vorsichtig man in diesen Schlüssen sein muß, möge ein Beispiel zeigen. Fast alle Welt war darüber einig, daß das Gymnasium für die sprachlichen Fächer besser vorbereitet als das Realgymnasium oder gar die Oberrealschule. In der Tat liegt die Ansicht sehr nahe, daß das Gymnasium mit seinen vielen fremdsprachlichen Stunden und seinem gründlichen sprachlichen Unterricht die beste Gmndlage für das Studium der Philologie ist. Auch ich hatte früher die starke Vermutung, daß die Gymnasialabiturienten nicht nur für das Studium der alten, sondern auch für das der neueren Sprachen besser vorbereitet seien, als die Abiturienten eines Realgymnasiums oder gar einer Oberrealschule, und erst die Statistik hat mich gelehrt, daß diese Vermutung unzutreffend war. Diese irrige Ansicht findet man sogar in realistischen Zeitschriften, z. B. in der Zeitschrift für lateinlose höhere Schulen, und doch ist sie falsch, wie die Sta­ tistik lehrt. In dem Buch über die Berliner Begabtenschulen von Wolff-MoedePiorkowski sagt Wolff (S. 76): „Nach der Statistik wählen mehr als die Hälfte der an deutschen Universitäten studierenden Frauen das Studium der Philo­ logie und Geschichte, für das die Vorbildung durch das Gymnasium eine bessere Gmndlage als die der Realanstalten bildet." Also auch hier dieselbe irrige An­ schauung. Gerade bei der Statistik für die Prüfungen in den neueren Sprachen dürften die Zufälligkeiten nur eine geringe Rolle spielen. Die fast gleiche und nicht unerhebliche Zahl der Prüflinge, welche die Prüfung bestanden haben (987 Gymnasial- und 988 Realabiturienten) macht es äußerst wahrscheinlich, daß der Einfluß der Zufälligkeiten hier ausgeschaltet ist. Die Ergebnisse dieser Prüfungen zeigen, daß die Realabiturienten nicht nur ebensogut, sondem sogar besser abschneiden als die Gymnasialabiturienten. Bevor ich die Gründe erörtere, welche vermutlich für die Erklärung dieser Erscheinung von Bedeutung sind, möchte ich zunächst eine allgemeine Tat­ sache erwähnen, welche vielleicht das Gesamtergebnis aller Prüfungen zuun­ gunsten des Gymnasiums beeinflußt hat. Man sagt sehr oft, daß die besser be­ gabten Schüler vorwiegend das Gymnasium besuchen. Über diese Frage be­ steht leider noch keine Statistik. Vielleicht werden wir sie in einigen Jahren, wenn die Methoden der Jntelligenzprüfung besser ausgebildet sind, und wenn sich die pädagogische Welt von ihrem Werte noch mehr überzeugt hat, bekommen. Aber zahlreiche Einzelbeobachtungen sprechen dafür, daß das Gymnasium im allgemeinen von den begabteren Schülern besucht wird. Fast jeder Lehrer einer Realanstalt wird es schon mehr als einmal erlebt haben, daß ein besonders begabter Schüler aus einer unteren Klasse zum Gymnasium überging. Davon, daß umgekehrt ein hochbegabter Gymnasiast ohne äußere Gründe zu einer Real­ anstalt übergegangen ist, ist mir kein einziger Fall bekannt geworden. Wenn

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auch diese Emzeibeobachtungen zu einem sicheren Beweise nicht ausreichen, so spricht doch eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Gymnasien im allgemeinen die begabteren Schüler haben. Das gilt allerdings nur von denjenigen Orten, an denen die Schüler wirk­ lich zwischen den verschiedenen Schulgattungen wählen können, wo also sich sowohl Gymnasien als Realgymnasien und auch Oberrealschulen in ausreichender Zahl befinden. Nun gibt es aber viele Orte, die nur eine einzige höhere Voll­ anstalt besitzen. Und zwar sind diese isolierten Anstalten weit überwiegend Gymnasien, während sich isolierte Realgymnasien und Oberrealschulen nur an wenigen Orten befinden. Hier haben also die Schüler überhaupt keine Wahl, sie müssen das Gymnasium besuchen. Diese Gymnasien sind vielfach nicht besonders zahlreich besucht, und es liegt in der Natur dec Sache, daß sie in der Regel nicht dieselben Anforderungen stellen können, wie die gut besuchten Schulen an größeren Orten. An solchen Gymnasien mag mancher die Reife­ prüfung bestehen, dem es an einer Anstalt mit höheren Anforderungen nicht gelingen würde. Dieser Umstand trägt vermutlich dazu bei, die Ergebnisse der Prüfung für die Gymnasien ungünstiger zu gestalten. Mit dem Lehrplan des Gymnasiums hat das offenbar nichts zu tun. Ob diese Vermutung richtig ist, würde sich statistisch ermitteln lassen. Man brauchte zu diesem Zwecke nur die Gymnasialabiturienten in bezug auf die Prüfungsergebnisse in zwei Klassen zu teilen, nämlich in solche, die die Reife­ prüfung an einem isolierten Gymnasium, und solche, die sie an einem Orte mit noch anderen Schulgattungen bestanden haben. Vielfach haben auch in großen Städten die Schüler keine wirkliche Wahl. Besonders in einigen sehr großen Städten, wie Berlin, Köln und Breslau über­ wiegt die Zahl der Gymnasien so, daß viele Eltern, die ihre Kinder gerne einer Realanstalt übergeben würden, sie in ein Gymnasium schicken müssen. Auch an solchen Orten ist es sehr fraglich, ob die Gymnasiasten durchschnittlich be­ gabter sind als die Realgymnasiasten und Oberrealschüler. Dagegen scheinen an denjenigen Anstalten, wo ein Gymnasium mit einem Realgymnasium ver­ bunden ist, die begabteren Schüler sich in größerer Zahl dem Gymnasium zu­ zuwenden. Aber nehmen wir einmal an, die Gymnasiasten wären im ganzen durch­ schnittlich begabter als oie Schüler der Realanstalten. So müssen wir doch um so mehr fragen, wie das für die preußischen Realanstalten bessere Prüfungsergebnis zu erklären ist. Vielleicht liegen im Großherzogtum Hessen die Verhältnisse so, daß in der Tat die Gymnasien durchschnittlich die begabteren Schüler haben. In den größeren Städten des Großherzogtums (Mainz, Darmstadt, Offenbach und Gießen) haben wir sowohl Gymnasien als auch Realanstalten in genügender Zahl, so daß die Eltem an diesen Orten wirklich in allen Fällen die Schul­ gattung frei wählen können. Dagegen gibt es im Großherzogtum Hessen nur ein einziges isoliertes Gymnasium, dagegen mehrere isolierte Realschulen. Hat dieser Umstand tatsächlich die Wirkung, daß die begabteren Schüler vor­ zugsweise das Gymnasium aufsuchen, so ist das für die Gymnasien günstige 4*

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Prüfungsergebnis nicht mehr auffallend; es hört dann aber auch auf, irgend etwas für das Gymnasium zu beweisen. Für Preußen muß es vorläufig als unentschieden gelten, welche Anstalten durchschnittlich die begabteren Schüler haben. So wichtig es wäre, hierüber Genaueres zu wissen, so muß diese Frage für unsere weiteren Betrachtungen ausscheiden. Immerhin, bleibt die Möglichkeit bestehen, daß aus den oben angegebenen Gründen im gesamten Königreich Preußen durchschnittlich nicht die Gymnasien, sondern die Realanstalten die begabteren Schüler haben und daß sich hierdurch die für die Realanstalten besseren Prüfungsergebnrsse zum großen Teile erklären. Gegen das Ergebnis der preußischen Gesamtstatistik und den daraus ge­ zogenen Schluß ist mehrfach der Einwand erhoben worden, die Statistik gebe keine Auskunft darüber, wieviel Zeit die Abiturienten der verschiedenen Gat­ tungen der höheren Lehranstalten gebrauchen, um bis zur Prüfung zu gelangen. Auch sage sie nichts über die Zahl derjenigen, die überhaupt nicht in oie Prüfung eingetreten sind, sondern das Rennen vorher aufgeben mußten. Dieser Ein­ wand, der übrigens von keinem Gegner der Realanstalten gegen die Folgerungen aus der hessischen Statistik erhoben worden ist, trifft zu, über diese Dinge wissen wir nichts; wenn aber die Herren, welche den Einwand erheben, die Behauptung aufstellen, nur die Universitätsprofessoren, könnten über diese Fragen Auskunft erteilen, so liegt hier derselbe Irrtum vor, auf dem die „Kundgebungen" über­ haupt beruhen. Kein Universitätsprofessor, auch nicht die gesamte» Pro­ fessoren einer Universität können diese Frage beantworten, das kann nur eine die gesamten Universitäten umfassende Statistik, an der es leider fehlt. Hoffent­ lich kommt sie recht bald. Aber nichts berechtigt die Herren zu der Behauptung, wie sie z. B. von einem Breslauer Universitätsprofessor aufgestellt worden ist, daß die Abiturienten der Realanstalten durchschnittlich längere Zeit zu ihrem Studium brauchen und daß ein größerer Teil von ihnen überhaupt nicht zur Prüfung kommt, als von den Gymnasialabiturienten. Ich wage sogar die Vermutung auszusprechen, daß auch in dieser Statistik die Abiturienten der Realanstalten günstiger abschneiden werden, als die Gym­ nasialabiturienten. Ich vermute, daß die, welche bei den Prüfungen das beste Ergebnis erzielen, nicht diejenigen sind, die am längsten zu ihrem Studium brauchen, sondern umgekehrt. Doch handelt es sich nur um eine Vermutung. Klarheit über diese Frage kann nur die Statistik bringen. Einen ähnlichen Einwand gegen die aus der Statistik gezogenen Schlüsse macht Wychgram. Ich hatte in der Zeitschrift „Frauenbildung" a. a. O. aus den Ergebnissen der preußischen Prüfungen für die weiblichen Prüflinge den Schluß gezogen, daß der „vierte Weg" durchaus gangbar ist, und daß keinerlei Grund besteht, den Oberlyzeen die Berechtigung zum Studium wieder zu entziehen. Diesen Schluß hatte ich aus der Tatsache gezogen, daß von den Frauen, die auf Grund des am Oberlyzeum erworbenen Zeugnisses der Lehrbefähigung studiert haben und in die Prüfung für das höhere Lehramt eingetreten sind, fast ebenso viele die Prüfung bestanden haben, wie von denjenigen, die eine Studienanstalt besucht haben. Dazu bemerkt der Herausgeber der Zeitschrift

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Schulrat Wychgram: „Uns scheint diese Schlußfolgemng aus den Prozent­ zahlen allein nicht unanfechtbar zu sein. Diese Zahlen beweisen nur, wie viele Studentinnen aus der Zahl derjenigen, die überhaupt zum Examen gelangen, dieses bestehen. Von den schweren Kämpfen derer, die ohne Latein zur Uni­ versität kamen und sich an solche Fächer begaben, die Latein als unerläßliche Voraussetzung haben, sagt die Zahl ebensowenig aus, wie von denen, die diesen Kämpfen erliegen. Die ganze Frage des vierten Weges läßt sich nur auf einer Basis erörtern, die viel breiter als dieses Zahlenmaterial sein und die außer Zahlen noch vieles andere enthalten muß (vgl. auch die bekannten Erklärungen der Universitätsprofessoren)." Das Sonderbarste an dieser Bemerkung ist der Hinweis auf „die bekannten Erklärungen der Universitätsprofessoren". Denn diese entbehren ja jeder sta­ tistischen Unterlage, während meine Schlußfolgerungen sich auf ein immerhin umfangreiches statistisches Material stützen. Daß diese Staüstik nach der von Wychgram angedeuteten Richtung der Ergänzung bedarf, daß insbesondere festgestellt werden muß, wie viele von den einzelnen Schulgattungen her­ kommende männliche und weibliche Studierende überhaupt nicht zur Prüfung gelangen, und wie lange die anderen durchschnittlich bis zur Prüfung gebrauchen, ist ohne weiteres zuzugeben. Ob aber diese Statistik irgend etwas zugunsten des Gymnasiums oder der Latein treibenden Anstalten beweisen wird, ist doch zum mindesten fraglich. Und wenn Wychgram sich zum Beweise seiner An­ schauungen auf die Erklärungen der Universitätsprofessoren beruft, so zeigt er damit nur, daß er von der Art, wie man solche Dinge untersuchen muß, wenig Ahnung hat. Merkwürdig ist auch, daß nach Wychgrams Auffassung einem Studierenden nur das Lateinische fehlen kann. Daß es auch solchen Studie­ renden, die weder Mathematik noch Naturwissenschaften studieren, z. B. an Mathematik fehlen kann, der Gedanke ist Wychgram wohl noch nicht ge­ kommen. Die Tatsache, daß die weiblichen Prüflinge in der Staüstik durchweg er­ heblich günstiger dastehen als die männlichen, erklärt sich sicherlich zum Teil dadurch, daß sie fleißiger sind. Haben wir nun irgendeinen Grund, anzunehmen, daß die Abiturienten der Realanstalten fleißiger sind als ihre Kommilitonen vom Gymnasium? Mir sind keine Beobachtungen bekannt, aus denen dies geschlossen werden könnte. Vielleicht könnte man glauben, daß die Abiturienten der Realanstalten durchschnittlich weniger reichen Familien entstammen als die Gymnasialabiturienten, und daß sie infolgedessen weniger bummeln. Ich glaube aber nicht, daß sich dies beweisen oder ckuch nur wahrscheinlich machen läßt. Es liegt kein Grund zu der Annahme vor, daß die Söhne reicher Familien weniger arbeiten als ihre unbemittelten Kommilitonen. Gebummelt wird allenthalben mehr als genug. Auf keinen Fall aber kann dieser Umstand für die philosophische Fakultät eine große Rolle spielen, da in ihr die Zahl der reichen Studierenden überhaupt nicht sehr groß ist. Es muß aber auch wohl in den Lehrplänen ein Unterschied stecken, der in der vorliegenden Frage von Einfluß ist. Das behaupten ja gerade die Gegner der Realanstalten, insbesondere behaupten es die „Kundgebungen" der Uni-

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versitätslehrer. Die Ansicht, daß gerade die alten Sprache:!, besonders das Lateinische, eine vorzügliche Schulung des Geistes bilden, ist ja allgemein ver­ breitet. Gerade wegen seines starken fremdsprachlichen Betriebes gilt ja die Gymnasialbildung auch heute noch vielfach als „die beste menschliche Bildung". Insbesondere soll die lateinische Sprache als ein Mittel der Erziehung zum logischen Denken durch nichts zu ersetzen sein. Diesen Auffassungen gegen­ über muß ich immer wieder betonen, was ich schon mehrfach ausgesprochen habe: Wir leiden an einer maßlosen Überschätzung der fremden Sprachen über­ haupt. Ich neige stark zu der Meinung Neuendorffs, daß auf jeder höheren Schule nur eine fremde Sprache als Pflichtfach getrieben werden sollte. Doch komme ich auf seine Ausführungen (int Abschnitt 7) noch zurück. Ist dieAnsicht wirklich richtig, daß gerade das Studium der fremden Sprachen, insbesondere des Lateinischen, in dem jungen Menschen die Kraft des logischen Denkens weckt? Ich gebe ohne weiteres zu, daß die Akten über diese Frage noch nicht geschlossen, ja, daß sie kaum angefangen sind. Immerhin möchte ich folgendes zu bedenken geben. Selbst Nietzsche ist der Meinung, daß sich die Mathematik viel besser für die Erziehung zum logischen Denken eignet als die lateinische Sprache. Mir hat einmal ein Student der Rechtswissenschaft von seinem Mathematiklehrer gesagt, er habe ihm durch seinen Unterricht „den Kopf geöffnet". Ähnliche Urteile habe ich häufig gehört. Allerdings hat man derartige Äußerungen auch schon über andere Unterrichtsfächer getan. So

über den Religionsunterricht, insbesondere über den Unterricht in der Apolo­ getik. Einer meiner Schüler, der bis Untersekunda ein zwar genügender, aber keineswegs hervorragender Schüler war, entwickelte sich von Obersekunda ab zu einem ausgezeichneten Schüler. Er war selbst der Meinung, er habe dies dem apologetischen Unterricht zu verdanken, der habe „ihm den Kopf geöffnet". Auch vom naturwissenschaftlichen und volkswirtschaftlichen Unterricht habe ich ähnliches gehört. (Der volkswirtschaftliche Unterricht, der meist an unseren Universitäten erteilt wird, hat allerdings häufig genug die entgegengesetzte Wirkung.) Nie aber hat mir jemand etwas Derartiges vom fremdsprachlichen Unterricht zu sagen gewußt. Ich gebe gerne zu, daß dies ein Znfall sein kann. Sehr häufig aber habe ich von Gymnasialoberlehrern gehört, daß ganz dumme Schüler es durch Fleiß und Ausdauer zu genügenden Leistungen im Lateinischen und Griechischen und damit zur Reifeprüfung gebracht haben. Gerade der stärkere Betrieb der Mathematik an den Realanstalten gibt diesen vermutlich einen großen Vorzug vor dem Gymnasium. Das scheint auch die schon erwähnte Statistik von Schickhelm zu beweisen. Es kann wohl kaum ein Zufall sein, daß die Schüler, die in der Mathematik Gutes leisteten, auch in den sprachlich-geschichtlichen Fächern mehr leisten als diejenigen, die sich in der Mathematik auf der Schule weniger hervortaten. Ich halte diese Frage durchaus noch nicht für völlig geklärt, neige aber stark zu der Vermutung, daß der tiefer eindringende mathematische Unterricht an den Realanstalten dazu beiträgt, den Schülem „die Köpfe zu öffnen" und sie auch für andere Studien befähigter zu machen. Es wäre dringend zu wünschen, daß ähnliche Untersuchungen auch für die

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übrigen Universitäten angestellt würden. Es würden sich daraus sicherere Schlüsse über den Wert der Mathematik für die Bildung des menschlichen Geistes ergeben als aus allen theoretischen Erörterungen. Aber nicht nur für die Mathe­ matik, sondern auch für die anderen Fächer müßten solche Untersuchungen an­ gestellt werden, vor allem für Deutsch, sür die fremden Sprachen, für Ge­ schichte und für die Naturwissenschaften. Man würde auf diese Weise zu einer Beantwortung der Frage gelangen, ob die Schüler, die in den fremden Sprachen Gutes leisten, eher Aussicht haben, in der Prüfung für Mathematik und Physik zu bestehen, als solche, die in den Fremdsprachen es nur auf ein „genügend" bringen, oder ob diejenigen Schüler, die in Physik und Chemie Gutes leisten, in größerer Zahl die Prüfung in den sprachlich-geschichtlichen Fächern bestehen würden, als diejenigen, deren Schulleistungen in Physik und Chemie nur ge­ nügend sind usf. Auf diese Weise würde man vielleicht wirklich zu einer Rang­ ordnung der Unterrichtsfächer für die Ausbildung des Geistes gelangen können. Dies könnte auch für andere Fragen, z. B. für die Frage des Ausgleichs bei Versetzungen und Prüfungen, von Bedeutung werden. Damit würde der Satz, daß es weniger auf das Fach,- als auf den Lehrer ankommt, nicht umgeworfen. In jedem Fache gibt es gute und weniger gute Lehrer, und wenn solche zahlenmäßige Untersuchungen für den ganzen preußi­ schen Staat angestellt würden, so ist anzunehmen, daß der Einfluß der ver­ schiedenen Lehrerpersönlichkeiten sich für die einzelnen Fächer ausgleichen würde. Damit will ich nicht behaupten, es sei bewiesen, daß in allen Fächem verhältnismäßig gleich viel gute Lehrer vorhanden sind. Das ist eine Frage, die schwer zu entscheiden ist und zu deren Beantwortung ich vorläufig über­ haupt keinen Weg sehe. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß auf dem angegebenen Wege sich ein nicht unerheblicher Bildungswert der fremden Sprachen Herausstellen würde. Ich vermute aber auch, daß Physik und Chemie in der aufzustellenden Rangordnung einen ziemlich hohen Platz einnehmen würden. Ich vermute dies deshalb, weil gerade in der Physik und Chemie die induktiven Schlüsse, wie sie im Leben und in den Wissenschaften so häufig vorkommen, eine außerordent­ lich große Rolle spielen. Wohl die meisten Schlüsse, die von Menschen über­ haupt gezogen werden, sind induktiv. Es ist aber nicht leicht, die Richtigkeit eines Jnduktionsschlusses mit Sicherheit zu beurteilen. Darum sehen wir auch so häufig, daß selbst Männer von akademischer Bildung, ja sogar Uni­ versitätsprofessoren, sobald sie das Gebiet ihrer eigenen Wissenschaft verlassen, so unglaublich leichtfertige, auf induktiven Schlüssen beruhende Urteile ab­ geben (vgl. die Erklärungen der Universitätsprofessoren in der Frage der Gleich­ wertigkeit). Der naturwissenschaftliche Unterricht erscheint mir nun besonders geeignet, in den Schülern die Fähigkeit des richtigen Schließens und Urteilens zu wecken. Hier haben wir nicht wie in der Mathematik nur deduktive Schlüsse, sondern Deduktion und Induktion sind in der Physik und Chemie von gleich großer Wichtigkeit. Der Schüler wird mit allen Arten von Schlüssen bekannt, wie sie John Stuart Mill so meisterhaft in seinem System der deduktiven und induktiven Logik entwickelt hat.

Wir haben oben erwähnt, daß in der ersten juristischen Prüfung in den Jahren 1900—1912 von den Gymnasialabiturienten 73%, von den Real­ gymnasialabiturienten 69% und von den Oberrealschulabiturienten ebenfalls 69% die Prüfung bestanden haben. Um dieses Ergebnis richtig zu verstehen, ist noch ein Umstand zu beachten. Die Anforderungen der ersten juristischen Prüfung sind von 1904 an ständig gewachsen, so daß der Prozentsatz der Be­ stehenden fortwährend gesunken ist. So betrug in den Jahren 1911 und 1912 auch die Zahl der Gymnasialabiturienten, welche die Prüfung bestanden, nur 69%. In den ersten Jahren nach der Zulassung der Realabiturienten zur juristischen Prüfung (1904 wurden die ersten Realabiturienten geprüft) war aber ihre Zahl noch sehr klein. Sie wuchs von Jahr zu Jahr, was zur Folge hat, daß bei ihnen die strengeren Anforderungen in den Prozentzahlen zum stärkeren Ausdruck kommen als bei beit Gymnasialabiturienten oder anders ausgedrückt: Von den Gymnasialabiturienten wurde ein größerer Teil unter den früheren leichteren Verhältnissen geprüft als von den Realgymnasial- und Oberrealschulabiturienten. Darum ist der tatsächliche Unterschied in den Er­ gebnissen noch kleiner, als er nach den Zahlen erscheinen Möchte. In den Jahren 1910—1912 ist überhaupt kein Unterschied mehr vorhanden. Ich würde mich in keiner Weise gewundert haben, wenn diese Statistik für die Abiturienten des Realgymnasiums und besonders der Oberrealschule erheblich ungünstiger ausgefallen wäre. Denn der Gymnasialabiturient hat doch nun einmal vor dem Realabiturienten eine gründliche Kenntnis des Latei­ nischen voraus, die für das Studium des Corpus iuris doch sicherlich äußerst wertvoll ist. Diesen Vorsprung des Gymnasiasten muß der Realgymnasiast und namentlich der Oberrealschüler einholen, und es ist ihm, wie die Statistik beweist, in den meisten Fällen gelungen. Wenn trotz dieses Vorsprunges die Realabiturienten verhältnismäßig fast in ebenso großer Zahl die Prüfung be­ stehen wie die Gymnasialabiturienten, so liegt darin wohl ein Beweis, daß auch die Realabiturienten etwas mitbringen, was ihnen vor den Gymnasial­ abiturienten einen Vorsprung gibt. Ich vermute, daß dies in erster Reihe die gründlichere mathematische und naturwissenschaftliche Bildung, in zweiter Reihe die gründlichere Kenntnis der neueren fremdsprachlichen Schriftsteller ist. Ich verweise in dieser Beziehung auf das, was ich in meiner Schrift über die Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der höheren Lehranstalten S. 8—13 gesagt habe. Ähnliche Untersuchungen, wie Schickhelm sie für die Beziehungen zwischen den Schulleistungen in der Mathematik und den Ergebnissen der Prüfungen für das höhere Lehramt ausgeführt hat, müßten auch für die Beziehungen zwischen den Schulleistungen in den verschiedenen Fächern und den Ergeb­ nissen der ersten juristischen Prüfung angestellt werden. Auch das würde uns in der Beurteilung dieser Frage weiter bringen als noch so tiefgründige Eriörterungen a prori. Für das Studium der Heilkunde und der verschiedenen technischen Wissen­ schaften gibt es eine solche Statistik überhaupt noch nicht. Es ist aber dringend zu wünschen, daß wir sie bald erhalten.

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Soweit die Frage der Gleichwertigkeit der höheren Lehranstalten bis jetzt überhaupt beurteilt werden kann, fällt die Antwort sicherlich nicht zu­ ungunsten der Realgymnasien und Oberrealschulen aus. Wie steht es aber mit der Gleichberechtigung, die doch nichts als die Konsequenz der amtlichen Anerkennung der Gleichwertigkeit ist? Man muß zugeben, daß die Gleich­ berechtigung im großen und ganzen durchgeführt ist. Wenn wir von einigen unbedeutenderen Ausnahmen absehen, so bleiben nur zwei große Lücken in der Gleichberechtigung übrig. Erstens wird von den Oberrealschulabiturienten, welche Medizin studieren wollen, immer noch der Nachweis einer gewissen Menge lateinischer Kenntnisse verlangt, und dann können die Abiturienten der Realanstalten immer noch nicht Theolpgie studieren. Während der Oberrealschulabiturient das Recht hat, ohne jede Kenntnis des Lateinischen die Naturwissenschaften zu studieren, muß er sich vor der Zu­ lassung zum medizinischen Examen einer Prüfung im Lateinischen unterziehen, wenn er nicht am wahlfreien lateinischen Unterricht der Oberrealschule „mit Er­ folg" teilgenommen hat. Ja, ist denn die Medizin nicht auch eine Naturwissen­ schaft? Das bißchen Latein, welches der Mediziner braucht, um die Fachaus­ drücke zu verstehen und Rezepte zu schreiben, wird wohl nicht schwerer zu er­ lernen sein, als das Latein, welches der Naturwissenschaftler braucht, um seine botanischen, zoologischen und chemischen Fachausdrücke zu verstehen. Darum ist die Forderung, daß der Mediziner durchaus Latein können muß, ganz und gar unberechügt. Diejenigen Mediziner, die sich auch heute noch einen Arzt ohne Latein nicht denken können, scheinen den Charakter ihrer Wissenschaft gründlich zu verkennen. Sie haben sich offenbar von der Auffassung früherer Jahrhunderte, nach welcher die Medizin sowie auch die übrigen Naturwissen­ schaften ein Zweig der Altphilologie war, noch nicht ganz freigemacht. Es ist sehr merkwürdig, daß in dieser Frage die Mediziner sich engherziger gezeigt haben, als die Juristen. Während den Oberrealschülern das Studium der Medizin erst am 31. Januar 1907 freigegeben wurde, und auch dann nur mit der angegebenen Beschränkung, wurden die Abiturienten der Realanstalten bereits am 1. Februar 1902 ohne jede Einschränkung zum Studium der Rechts­ wissenschaften zugelassen. , Der diese Frage regelnde Ministerialerlaß überläßt es dem Abiturienten der Realanstalten auf seine eigene Verantwortung, sich die für das Studium' der römischen Rechtsquellen erforderlichen lateinischen Kenntnisse selbst anzu­ eignen. Dieser Standpunkt verdient die allgemeine Billigung. Wer die Reife­ prüfung an einer höheren Lehranstalt abgelegt hat, von dem muß angenommen werden, daß er die erforderliche geistige Reife besitzt, um sich demjenigen Stu­ dium zu widmen, zu dem er sich hingezogen fühlt. Hat er wirklich Lust und Liebe sowie die erforderliche Begabung zu seinem Berufe, so wird er die Schwie­ rigkeiten zu überwinden verstehen, mögen sie auch noch so groß sein. Abitu­ rienten höherer Lehranstalten sind doch keine kleinen Kinder mehr. Die rührende Sorge, wie sie sich z. B. in den „Kundgebungen" der Universitätsprofessoren ausspricht, ob die Abiturienten der Realanstalten den Anforderungen des Stu­ diums der „Geisteswissenschaften" auch gewachsen sind, ist daher ganz und gar

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nicht angebracht. Es ist auch sehr sonderbar, daß sich diese zarte Sorge niemals den Gymnasialabiturienten gegenüber äußert. Der Gymnasialabiturient kann ohne weiteres Chemie studieren, wenn er auch eine Säure nicht von einer Base zu unterscheiden vermag. Er kann sich ohne weiteres dem Baufach oder einem sonstigen technischen Fache widmen, wenn ihm auch die Anfangsgründe der darstellenden Geometrie fehlen. Er kann ohne weiteres Englisch studieren, wenn er auch kein Wort englisch versteht. Und niemand denkt daran, ihm eine dieser Berechtigungen nehmen zu wollen. Niemand sieht in der Tatsache, daß immer noch viele Gymnasialabiturienten sich solchen Studien widmen, in denen die Abiturienten der Realanstalten einen großen Vorsprung vor ihnen haben, „eine große Gefahr". Niemand verlangt von den Gymnasialabiturienten, welche Chemie oder Baufach oder Englisch studieren, eine Nachprüfung. Man überläßt es ihnen auf eigene Verantwortung, sich die Kenntnisse zu verschaffen, die sie in der Staatsprüfung nachweisen müssen. Warum kann man sich nun noch immer nicht entschließen, den Abiturienten der Realanstalten gegenüber den gleichen Standpunkt einzunehmen? Darum fort mit dieser Nachprüfung im Lateinischen für Mediziner! Das Studium der Theologie ist den Abiturienten der Realanstalten noch immer verschlossen. Zwar hat man die Bestimmungen über die Zulassung der Reälgymnasialabiturienten zum Studium der Theologie in jüngster Zeit wesentlich erleichtert, aber auch die Abiturienten der Realgymnasien können nicht ohne Nachprüfung sich der theologischen Prüfung unterziehen. Und die Abiturienten der Oberrealschuren bleiben nach wie vor von der theolo­ gischen Fakultät ausgeschlossen! Warum kann man sich noch immer nicht ent­ schließen, den Abiturienten der Realanstalten das Studium der Theologie frei zu geben und es ihnen selbst zu überlassen, auf welche Weise sie sich die erforderlichen Sprachkenntnisse aneignen wollen? In der Staatsprüfung kann und muß man ja dann dasselbe von ihnen verlangen wie von den Gymnasial­ abiturienten. So ist es auch bei den Juristen, wo den Abiturienten der Real­ anstalten in der Staatsprüfung nichts geschenkt wird. Der Oberrealschul­ abiturient, dem drei alte Sprachen fehlen und der sich trotzdem dem Studium der Theologie widmen will, wird für seinen «Beruf eine solche Begeisterung mit­ bringen, daß er die Schwierigkeiten wohl überwinden kann. Aus einem be­ stimmten Grunde scheint es mir besonders wünschenswert, daß auch Abiturienten der Realanstalten sich dem Studium der Theologie widmen. Zwischen Theo­ logie und Naturwissenschaften gibt es zahlreiche Berührungspunkte. Zum Be­ weise dieses Satzes will ich nur die Apologetik von Schanz erwähnen, die ohne gründliche naturwissenschaftliche Kenntnisse nicht verstanden werden kann. Der Religionslehrer an einer Realanstalt hat es mit Schülem zu tun, die, wenig­ stens zum Teil, nicht unbedeutende naturwissenschaftliche Kenntnisse haben. Damm sind die Zweifel, welche in diesen Schülern entstehen, vielfach ganz anderer Art Hals diejenigen, die beim Gymnasiasten auftreten. Der Reli­ gionslehrer der Realanstalt kann daher seiner Aufgabe, insbesondere dem apologetischen Unterricht, gar nicht gewachsen sein, wenn er nicht selbst in den Naturwissenschaften einigermaßen zu Hause ist. Aus diesem Gmnde erscheint

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es mir sehr wünschenswert, wenn er selbst Schüler einer Realanstalt gewesen ist. Die Aufgabe des Religionsunterrichts in den oberen Klassen einer höheren Lehranstalt ist schon an sich sehr schwierig und erfordert einen Lehrer, der auf der Höhe moderner Bildung steht. Doppelt gilt dies von dem Religionslehrer an einem Realgymnasium oder einer Oberrealschule. Da genügt die „klassische" Bildung in keiner Weise. Aber selbst die rechtlichen Bestimmungen über die Gleichberechtigung werden von einzelnen philosophischen Fakultäten und von einzelnen Universitäts­ professoren noch durchbrochen, so daß tatsächliche Ungleichheiten in der Be­ handlung der Abiturienten der verschiedenen Schulgattungen entstehen, die als geradezu unerträglich bezeichnet werden müssen. So haben (vgl. den Auf­ satz von Ellenbeck „der neue Erlaß des Unterrichtsministers über den Latein­ unterricht an den Oberrealschulen in Preußen" in Nr. 23—24 des deutschen Philologenblattes vom 26. Juni 1918) die Direktoren der germanistischen, romanistischen, englischen und hiswrischen Seminare der Universität Marburg noch vor Jahresfrist beschlossen, die Zulassung zu den Übungen der Universi­ tätsseminare davon abhängig zu machen, daß die Abiturienten der Oberreal­ schulen die Reife des Realgymnasiums im Lateinischen nachweisen. Es ist das eine empörende Ungerechtigkeit gegen die Oberrealschulabiturienten, die so lange aufs entschiedenste bekämpft werden muß, bis sie beseitigt ist. „Fallen muß auch", sagt Ellenbeck a. a. O., „die Ungleichheit in der Behandlung der Abiturienten der Oberrealschulen bei den Doktorpromotionen. Noch immer ver­ weigern die historisch-philologischen Abteilungen der Fakultäten zu Berlin, Bonn, Frankfurt a. M., Göttingen und Halle ihren Reifeschülern die Erwer­ bung der philosophischen Doktorwürde." Wie der Dekan der philosophischen Fakultät Ellenbeck mitgeteilt hat, geschieht dies deshalb, „weil die Zulassung zur Doktorprüfung nach der Ansicht der philologisch-historischen Abteilung zu einer schweren Schädigung des wissenschaftlichen Charakters dieser Prüfungen führen würde!" Um diese Begründung zu widerlegen, weist Ellenbeck darauf hin, daß auch an den genannten Universitäten die Reifeschüler der Oberreal­ schulen in den Prüfungen der sprachlich-geschichtlichen Abteilungen nicht schlechter, sondern besser abschneiden, als ihre aus Gymnasien hervorgegangenen Kom­ militonen. So haben in Göttingen in den Prüsungsjahren 1912/13 bis 1915/16 von den Gymnasialabiturienten 34,6%, von den Oberrealschulabiturienten da­ gegen 47,5% die Prüfung für das höhere Lehramt mit gut oder sehr gut be­ standen. In Bonn betragen diese Zahlen 28,8 und 40. „Wie will und wie kann man die durch die Promotionsordnung jener Fakultäten bedingte Benach­ teiligung der ehemaligen Oberrealschüler da noch rechtfertigen? Man wird doch wohl nicht im Emst behaupten wollen, daß ein Kandidat, der die zweifel­ los umfassendere Staatsprüfung mit gutem oder sehr gutem Erfolge abgelegt hat, nicht befähigt sein soll, an derselben Fakultät, deren Dozenten ihm die gute Examensnote zuerkannt haben, die Doktorwürde zu erwerben, weil er nicht wissenschaftlich arbeiten gelernt habe! Das würde die Aufrechterhaltung einer Beeinträchtigung der Oberrealschüler bedeuten, die aN sich niemals berechtigt gewesen ist, für die aber mit der Herausgabe des Lateinerlasses vom

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4. April 1918 (durch den der bisherige private Lateinunterricht an der Ober­ realschule in einen wahlfreien Unterricht umgewandelt worden ist) auch der letzte Schein eines Rechtes entfällt. Sollten in Zukunft die beteiligten Stellen auf ihrer Stellungnahme beharren, und aus den vorliegenden Verhältnissen nicht die Folgerung der unbedingten Gleichwertigkeit und der gleichen Be­ handlung der Reifeschüler der drei höheren Schularten ziehen, so wird den Direktoren der Oberrealschulen und den an diesen Anstalten arbeitenden Lehrem nicht anderes übrig bleiben, als ihre Schüler vor dem Besuch der oben ge­ nannten Fakultäten zu wamen und ihnen zu empfehlen, zum Zweck ihrer Stu­ dien diejenigen Hochschulen aufzusuchen, deren Lehrer ihrer Schulart mehr Verständnis entgegenbringen." Diesen Worten des Vorsitzenden des Ver­ eins zur Fördemng des lateinlosen höheren Schulwesens kann ich mich nur anschließen. Es ist die Pflicht jedes Freundes der Realanstalten, immer von neuem und bei jeder Gelegenheit dafür einzutreten, daß die Gleichberechtigung voll­ ständig durchgeführt wird. Denn nur dann ist ein friedlicher Wettbewerb zwischen Gymnasium und Realanstalten mit wirklich gleichen Waffen möglich. Als ich vor mehreren Jahren in Breslau in einer Versammlung des Bundes für Schul­ reform bei der Aussprache über einen Vortrag sehr schüchtern die Forderung nach der vollen Gleichberechtigung der höheren Schulgattungen ausstellte, wurde mir von einem Gymnasialdirektor erwidert: „Hier herrschte bisher der Burg­ friede!" Der Burgfriede bestand nämlich darin, daß die Freunde der Real­ anstalten überhaupt nicht wagen durften, ihren Standpunkt öffentlich zu ver­ treten. Das hinderte aber die Gegner der Realanstalten nicht, bei jeder Ge­ legenheit die „Vortrefflichkeit" des „humanistischen" Gymnasiums in allen. Tönen zu preisen. Und als ich bei den städtischen Körperschaften die Angliederung .Don realgymnasialen Abteilungen an zwei städtischen Gymnasien beantragte, wurde mir vorgeworfen, daß ich die Eigenart des „humanistischen" Gymnasiums angreife. Daran habe ich aber niemals gedacht. Ganz im Gegenteil bin ich immer dafür eingetreten, daß jede Anstalt nach ihrer Eigenart ausgebaut werde. Wer den Eltern durch Vermehrung der Realanstalten die Möglichkeit geben will, ihre Kinder derjenigen Schule zuzuführen, welche sie als die geeignetste erachten, der greift doch die Eigenart des Gymnasiums nicht an! Das Bedürfnis nach einer Vermehrung der Realanstalten ist an vielen Orten, namentlich auch in vielen großen Städten unzweifelhaft vorhanden. Im Jahre 1913 erließ ich an sämtliche Eltern der unteren und der Vorschul­ klassen der drei städtischen Gymnasien eine Umfrage, ob sie für den Fall der Angliederung einer realgymnasialen Abteilung ihre Kinder dem Realgymnasium übergeben würden. Diese Frage wurde an zwei Anstalten von mehr als 50% und an der dritten von 44% der Eltern bejaht. Ich bin fast sicher, daß eine Umfrage an den meisten Doppelgymnasien ein ähnliches Ergebnis haben würde, und daß daher die Umwandlung der einen Abteilung in ein Realgymnasium durchaus gerechtfertigt wäre. Gewiß stehen der Vermehrung der Realanstalten an manchen Orten große Schwierigkeiten entgegen. Das größte Hindernis 'aber sind die immer noch vorhandenen Vorrechte des Gymnasiums. Wenn

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diese völlig beseitigt und die Gleichberechtigung vollständig durchgeführt sein wird, werden sich die Realanstalten zu einer ungeahnten Blüte entwickeln. Auch dann wird das Gymnasium nicht untergehen. Es wird aber nur noch von den Schülern besucht werden, die wirklich nach ihrer Begabung dort­ hin gehören, während es jetzt von Schülern überlaufen ist, die mangels einer wirklichen Wahlmöglichkeit einfach gezwungen sind, Schüler des Gymnasiums zu werden, oder die das Gymnasium wegen der ihm noch verbliebenen Vor­ rechte besuchen. Mir scheint, daß gerade die Freunde des Gymnasiums dafür eintreten sollten, daß die volle Gleichberechtigung durchgeführt und die Zahl der Realanstalten vermehrt werde, damit das Gymnasium nur noch von solchen Schülern besucht zu werden braucht, die nach ihrer Veranlagung dafür be­ stimmt sind. Denn erst dann kann das Gymnasium seiner Aufgabe wirklich gerecht werden. Diesen Standpunkt nehmen ja heute auch wohl die meisten Freunde des Gymnasiums ein, namentlich gilt dies jetzt von fast allen Schul­ männern, z. B. in Breslau.

7. Das mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasium Wenn die volle Gleichberechtigung der höheren Lehranstalten durchgeführt sein wird, dann wird, das können wir Höffen, für die Auswahl der Schulgattung im wesentlichen nur noch ein Gesichtspunkt maßgebend sein, nämlich die Ver­ anlagung des Schülers. Die mehr für Sprachen begabten Knaben werden sich dem Gymnasium, die mehr für Mathematik und Naturwissenschaften ver­ anlagten den Realanstalten zuwenden. Allerdings steht die Sache so, daß ein für Sprachen wenig beanlagter Schüler gegenwärtig auf keiner höheren Lehranstalt große Aussicht hat, weiter zu kommen. Nicht nur auf dem Realgymnasium, sondern selbst auf der Ober­ realschule nehmen die fremden Sprachen einen breiten Raum und eine be­ vorzugte Stellung ein. Auch auf der Oberrealschule haben wir zwei verbind­ liche und eine wahlfreie Fremdsprache.. Gegen das Latein als wahlfreies Fach will ich damit nichts einwenden. Ich halte es im Gegenteil für einen Fortschritt, daß das Latein an den Oberrealschulen nicht mehr als Privatunterricht, sondern als wahlfreies Fach erteilt wird. Solange der Mediziner gezwungen ist, ein gewisses Maß lateinischer Kenntnisse nachzuweisen, und solange der Jurist durch die Prüfungsbestimmungen genötigt ist, sich angelegentlich mit dem Corpus iuris zu beschäftigen, bleibt den Oberrealschulen nichts anderes übrig, als für ihre Schüler das Lateinische als wahlfreies Fach einzuführen. Lange genug haben sich die staatlichen Behörden gegen das Latein als wahl­ freien Unterrichtsgegenstand gesträubt. Es ist noch gar nicht so lange her, daß mir vom Unterrichtsminister verboten wurde, einen Raum der Oberrealschule in Kattowitz für den lateinischen Unterricht zur Verfügung zu stellen, den ein Oberlehrer meiner Anstalt unentgeltlich seinen Primanern erteilte. Das geschah im Jahre 1905! Der zweite Bürgermeister von Kattowitz hatte mich

dieser Sache wegen angezeigt; er fürchtete nämlich, die Oberrealschule könnte durch ihre zwei wöchentlichen Lateinstunden in den drei oberen Klassen dem

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diese völlig beseitigt und die Gleichberechtigung vollständig durchgeführt sein wird, werden sich die Realanstalten zu einer ungeahnten Blüte entwickeln. Auch dann wird das Gymnasium nicht untergehen. Es wird aber nur noch von den Schülern besucht werden, die wirklich nach ihrer Begabung dort­ hin gehören, während es jetzt von Schülern überlaufen ist, die mangels einer wirklichen Wahlmöglichkeit einfach gezwungen sind, Schüler des Gymnasiums zu werden, oder die das Gymnasium wegen der ihm noch verbliebenen Vor­ rechte besuchen. Mir scheint, daß gerade die Freunde des Gymnasiums dafür eintreten sollten, daß die volle Gleichberechtigung durchgeführt und die Zahl der Realanstalten vermehrt werde, damit das Gymnasium nur noch von solchen Schülern besucht zu werden braucht, die nach ihrer Veranlagung dafür be­ stimmt sind. Denn erst dann kann das Gymnasium seiner Aufgabe wirklich gerecht werden. Diesen Standpunkt nehmen ja heute auch wohl die meisten Freunde des Gymnasiums ein, namentlich gilt dies jetzt von fast allen Schul­ männern, z. B. in Breslau.

7. Das mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasium Wenn die volle Gleichberechtigung der höheren Lehranstalten durchgeführt sein wird, dann wird, das können wir Höffen, für die Auswahl der Schulgattung im wesentlichen nur noch ein Gesichtspunkt maßgebend sein, nämlich die Ver­ anlagung des Schülers. Die mehr für Sprachen begabten Knaben werden sich dem Gymnasium, die mehr für Mathematik und Naturwissenschaften ver­ anlagten den Realanstalten zuwenden. Allerdings steht die Sache so, daß ein für Sprachen wenig beanlagter Schüler gegenwärtig auf keiner höheren Lehranstalt große Aussicht hat, weiter zu kommen. Nicht nur auf dem Realgymnasium, sondern selbst auf der Ober­ realschule nehmen die fremden Sprachen einen breiten Raum und eine be­ vorzugte Stellung ein. Auch auf der Oberrealschule haben wir zwei verbind­ liche und eine wahlfreie Fremdsprache.. Gegen das Latein als wahlfreies Fach will ich damit nichts einwenden. Ich halte es im Gegenteil für einen Fortschritt, daß das Latein an den Oberrealschulen nicht mehr als Privatunterricht, sondern als wahlfreies Fach erteilt wird. Solange der Mediziner gezwungen ist, ein gewisses Maß lateinischer Kenntnisse nachzuweisen, und solange der Jurist durch die Prüfungsbestimmungen genötigt ist, sich angelegentlich mit dem Corpus iuris zu beschäftigen, bleibt den Oberrealschulen nichts anderes übrig, als für ihre Schüler das Lateinische als wahlfreies Fach einzuführen. Lange genug haben sich die staatlichen Behörden gegen das Latein als wahl­ freien Unterrichtsgegenstand gesträubt. Es ist noch gar nicht so lange her, daß mir vom Unterrichtsminister verboten wurde, einen Raum der Oberrealschule in Kattowitz für den lateinischen Unterricht zur Verfügung zu stellen, den ein Oberlehrer meiner Anstalt unentgeltlich seinen Primanern erteilte. Das geschah im Jahre 1905! Der zweite Bürgermeister von Kattowitz hatte mich

dieser Sache wegen angezeigt; er fürchtete nämlich, die Oberrealschule könnte durch ihre zwei wöchentlichen Lateinstunden in den drei oberen Klassen dem

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Gymnasium Konkurrenz machen. Und die staatliche Unterrichtsbehörde Hab ihm recht! Also gegen das wahlfreie Latein an der Oberrealschule will ich nichts ein­ wenden, ebensowenig gegen den Sprachenbetrieb auf den bestehenden Arten von höheren Schulen. Vor allen Dingen deshalb nicht, weil ich die Forderung Neuendorffs, an jeder höheren Schule nur eine Fremdsprache zu lehren, so sympathisch sie mir ist, vorläufig für undurchführbar halte. Denn die für das höhere Schulwesen maßgebenden Männer sind meist Philo­ logen! Neuendorff (a. a. O. S. 18f.) will vier Arten von höheren Schulen und zwar alle nur mit einer fremden Sprache haben: eine mit Griechisch, eine mit Latein, eine mit Französisch und eine mit Englisch. Und es läßt sich auch nicht bestreiten, daß er seine Forderung mit guten Gründen vertritt. So sagt er (S. 21): „Jetzt sind wir so weit, daß wir von zwei Übeln das kleinere wählen müssen: zwei Sprachen lernen und beide nur halb, oder nur eine Sprache lernen, aber diese ganz. Ich ziehe unbedingt das letztere vor." — Sonder­ beanlagungen will Neuendorff dadurch zu ihrem Rechte verhelfen, daß die besonders begabten Schüler entweder auf dem Gebiete der Mathematik und der Naturwissenschaften oder in einer zweiten fremden Sprache für sich unter­ richtet werden. Wir leiden nun einmal an dem Vorurteile, daß nur derjenige ein gebildeter Mensch ist, der zwei fremde Sprachen gelernt hat. Es braucht nicht gerade viel zu sein, was er davon versteht, aber zwei müssen es sein! Wer nur eine fremde Sprache kann und wenn er sie auch vollkommen beherrscht, kann z. B. das Zeugnis für den einjährig-freiwilligen Heeresdienst im allgemeinen nicht er­ langen. Dieses Vorurteil hat auch dazu geführt, daß man sogar au den Mttelschuleu eine zweite fremde Sprache als wahlfreies Fach eingeführt hat. Ge­ rade die Kenntnis fremder Sprachen ist es, durch die sich der „Gebildete" von dem „Ungebildeten" unterscheidet. Es wäre wirklich an der Zeit, daß mit diesem Vorurteil endlich aufgeräumt würde. Aber es kann noch lange dauern, bis dies erreicht ist. Denn alle Menschen, die auf die Gestaltung des höheren Schulwesens einen Einfluß haben, sind durch die fremdsprachlichen Schulen gegangen und verstehen etwas von min­ destens zwei, meist aber drei oder noch mehr fremden Sprachen. Und die Schulung durch die fremden Sprachen halten sie vielfach für den wertvollsten Bestand der Bildung, die sie von der Schule mitbekommen haben. Daher die Zähigkeit, mit der die Juristen an ihrem Corpus iuris, die Mediziner an ihrer Forderung der lateinischen Vorbildung, die Theologen an ihrer Forderung der gymnasialen Vorbildung festhalten. Daher die Weigerung mancher Fakul­ täten, die Abiturienten der Oberrealschulen zu bestimmten Seminarübungen und zur Doktorpromotion zuzulassen! Diese lateinlosen Menschen sind ja ganz ungebildet! Was sollen die in unseren Seminaren?! Wie kann man solche Men­ schen zu Doktoren machen?! So sehr ich also auch grundsätzlich der Forderung Neuendorffs zustimme, so habe ich doch keine Hoffnung, daß sie in absehbarer Zeit verwirklicht werden kann. Darum stelle ich vorerst eine erheblich bescheidenere Forderung auf, die,

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wie ich glaube, sich verhältnismäßig leicht in die Wirklichkeit übertragen lassen wird. Ich sordere, daß wenigstens eine höhere Schulgattung mit nur einer (neueren) fremden Sprache errichtet wird. Selbstverständlich müßte diese neue Schule dieselben Berechtigungen haben, wie. die schon bestehenden. An dieser Schule müßten besonders Mathematik und Naturwissenschaften, ferner Zeichnen sowie praktische' Übungen aller Art stark betrieben werden. Denn es soll eine Schule für solche Schüler sein, die für Mathematik und Naturwissenschaften, insbesondere auch für die Technik hervorragend begabt sind. Also keine Schule für Schwachbegabte, sondem für Hochbegabte! In dieser Forderung stimme ich mit Kerschensteiner überein, der schon längst ein mathematisch-naturwissenschaftliches, oder wie er es auch nennt, ein technisches Gymnasium verlangt hat (vgl. z. B. seine „Deutsche Schulerziehung in Krieg und Frieden", Teubner 1916, S. 106f.). Ich kann es mir nicht ver­ sagen, aus Kerschensteiners Begründung seiner Forderung hier einiges an­ zuführen: „Gibt es ein technisches Gymnasium, d. h. eine Schule, die sich an die Gruppe der zunächst praktisch-technisch veranlagten Knaben wendet und sie durch das Kulturgut der Technik hindurch auch zu den Kulturgütern der reinen Wissenschaft führt, soweit eben diese Knaben geführt werden können? Spannt nicht jede der höheren Schulen sofort jeden Knaben in das Prokrustes­ bett der reinen Lernfächer? Alle sind heute bis in die Knochen imprägniert von dem Gedanken, daß zur geistigen Möbelausstattung des höher kultivierten Menschen, des sogenannten „Gebildeten", oder noch schöner gesagt, des „aka­ demisch Gebildeten" der Besitz von ein paar fremden Sprachen unerläßlich ist, womöglich der Besitz von Griechisch und Latein. Ich leugne gar nicht, daß die geistige Schulung, die vor allein durch die antiken Sprachen erlangt werden kann, und daß die Vorstellungskreise und Begrisfsgebiete, in welche die Menschen durch sie eingeführt werden, für das.Aufsteigen der Seele in eine höhere Kultur­ schicht von großem Werte sein kann und tatsächlich für gewisse Seelenformen auch ist. Aber nach allen den Überlegungen, die wir jetzt gemacht haben, ist es ebenso klar, daß sie in gar keiner Weise für jeden das gleichgeeignete Werk­ zeug seiner Bildung bedeuten, und daß es Menschen gibt, die mit anderen Werk­ zeugen leichter und widerstandsfreier auf die gleiche Kulturlage gehoben werden können. Man müßte denn beweisen können, daß höchste Kultur nur durch fremde Sprachen erreicht werden kann. Dem widersprechen aber nicht bloß die Beispiele einzelner Menschen, sondern ganzer Völker. Daß unser öffentliches Schulwesen in solchen Anschauungen befangen ist, liegt einmal in der Überschätzung der bloß intellektuellen Kultur oder, richtiger gesagt, der intellektuellen Kultiviertheit und in der Verkennung der Tatsache, daß eine Seele kultivieren nichts anderes heißt, als die besondere Seelenstruktur des einzelnen gemäß ihrer Beschaffenheit zu ihrer höchsten Leistungsfähigkeit zu bringen." Die Schüler mit vorwiegend mathemattsch-naturwissenschaftlicher, noch mehr aber diejenigen mit hervorragender technischer Begabung kommen in unseren Schulen nur sehr schwer voran, wenn sie nicht gleichzeitig für Sprachen gut veranlagt sind. Ein großer Teil von ihnen kommt nicht einmal bis zur Be-

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rechtigung für den einjährig-freiwilligen Heeresdienst; sie werden durch die fremden Sprachen, für die ihnen die Veranlagung fehlt, erdrückt. Das gilt nicht nur vom Gymnasium, sondern auch vom Realgymnasium, ja sogar von der Oberrealschule. Selbst auf der. Oberstufe der Oberrealschule wird nach den tatsächlich bestehenden Verhältnissen der für Sprachen gut beanlagte Schüler eher vorankommen, als der für Mathemattk und Naturwissenschaften begabte. Es wird nach meinen Beobachtungen, die allerdings nicht sehr umfassend sind, obschon ich einer nicht ganz kleinen Zahl von Prüfungskommissionen angehöre, selbst in der Reifeprüfung einer Realanstalt eher ein Schüler durchkommen, der in Mathemattk und Naturwissenschaften nicht Genügendes, in den Sprachen aber Gutes leistet, als umgekehrt. Es liegt dies daran, daß die Mehrheit der Prüfungskommissionen stets aus Philologen besteht. Auch wird in den meisten Fällen der Prüfungskommissar selbst Philologe sein. Daß „nicht genügende" Leistungen in zwei fremden Sprachen durch gute Leistungen in Mathemattk und Naturwissenschaften ausgeglichen werden, ist zwar nach den gegenwärtigen Prüfungsbestimmungen möglich, aber es ist ein Gedanke, der in die Köpfe der meisten Mitglieder unserer Prüfungskommissionen nur sehr 'schwer ein­ dringt. Für die mathemattsch oder technisch hervorragend begabten Schüler fehlt daher noch die rechte Schulgattung. Daß an dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasium die Schüler­ werkstätten einen großen Raum einnehmen werden, versteht sich von selbst. Ich meine nicht nur Arbeitsstätten für physikalische, chemische und biologische Schülerübungen, sondern Werkstätten im eigentlichen Sinne des Wortes. Hier werden die technisch gut veranlagten Schüler Gelegenheit haben, ihre besondere Begabung zu betätigen, um so zu der ihnen gemäßen Kultur zu gelangen. Sie werden auf diesem Wege dann auch den Wert und die Bedeutung der Mathematik und der Naturwissenschaften kennen lernen und sich dem Studimn dieser Fächer um so freudiger widmen, je mehr sie erkennen, wie wertvoll sie für ihre weitere Ausbildung sind. Viele Wege führen zur Kultur; der Weg durch die Technik ist noch nicht beschritten, weil uns die Schulen hierfür fehlen. Hätten wir höhere Schulen mit nur einer, ja sogar ohne fremde Sprache, so würde es uns auch an hochgebildeten Männern mit nur einer oder ganz ohne fremde Sprache nicht fehlen. Trotzdem will ich nicht so weit gehen, die Gründung höherer Schulen ohne fremde Sprachen zu fordern, vor allem deshalb nicht, weil ich die gründliche Beschäfttgung mit einer fremden Sprache für jeden Menschen für überaus wertvoll halte. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, einen ausführlichen Lehrplan für das mathemattsch-naturwissenschaftliche Gymnasium aufzustellen. Der Lehr­ plan wird sich schon finden, wenn einmal der Grundgedanke so weit durchgedrungen ist, daß die zuständigen Behörden an seine Verwirklichung Heran­ gehen. Hier liegt eine dankbare Aufgabe für die großen Städte, die ja auch bisher auf fast allen Schulgebieten bahnbrechend vorangegangen sind. Das technische Gymnasium wird um so eher kommen, als die Notwendig­ keit seiner Errichtung durch die ungeheuren Verluste des furchtbaren Krieges noch verstärkt worden ist. Der Hauptverlust, den wir durch den Krieg erleiden,

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besteht in der großen Zahl von Männem im arbeitskräftigsten Alter, die aus dem Schlachtfelde entweder ihr Leben oder ihre Gesundheit eingebüßt haben. Um diesen Verlust wieder einigermaßen auszugleichen, wozu auch bei größter Anspannung längere Zeit erforderlich sein wird, werden wir unsere Heran­ wachsende Jugend auf das Gründlichste ausbilden müssen, uhb zwar jeden Knaben und jedes Mädchen nach seiner besonderen Befähigung. Muß dieser Umstand schon zu einer Vermehrung der Realanstalten führen, so wird er insbesondere uns zwingen, solche Anstalten zu gründen, auf denen die technisch hervorragend befähigten Knaben zu ihrem vollen Rechte kommen, d. h. zur Gründung von mathematisch-naturwissenschaftlichen oder technischen Gym­ nasien. Auf diese Weise werden wir auch eine genügende Zahl von Kräften für Gewerbe und Industrie erhalten und ganz besonders für die Ausbildung solcher Männer Sorge tragen, die geeignet sind, in der Industrie eine führende Stellung einzunehmen.

8. Die Berufsberatung Es wird nicht möglich sein, im Rahmen dieser Schrift das große Gebiet der Berufsberatung und Berufsvermittlung einigermaßen erschöpfend zu be­ handeln. Es wird aber auch deshalb nicht nötig sein, weil über diese Frage bereits besondere Schriften erschienen sind, vor allem das lesenswerte Buch von Kuckhoff über „Höhere Schulen und Wirtschaftsleben". Über die Frage der Berufsberatung hat ferner Stadtschulrat Professor Dr. ThümmlerDresden am 18. Mai 1918 in Dresden auf der Versammlung der Stadtschul­ räte der großen deutschen Städte einen ausgezeichneten Vortrag gehalten, der demnächst im Druck erscheinen wird. Ich muß mich damit begnügen, hier nur einige wenige Gesichtspunkte zu dieser Frage zu erörtern. Die regellose Berufswahl, die wir bisher allenthalben beobachten, stellt eine ungeheure Arbeitsverschwendung und dadurch eine riesige Schädigung des nationalen Einkommens dar. Stände jeder Mann und jede Frau an der richtigen Stelle, so würde es möglich sein, die Menge der jährlich zu erzeugenden Güter und damit das Volkseinkommen gewaltig zu steigern. Auf diese Weise könnte die furchtbare Wunde, die der Krieg durch den Verlust des Lebens oder der Arbeitskraft so vieler Männer geschlagen hat, wenigstens zum Teil geheilt werden. Diese Erwägung mag genügen, um die große Bedeutung der Be­ rufsberatung und Berufsvermittlung für den Volkswohlstand zu zeigen. Und nicht nur für den Wohlstand, sondern auch für die Kultur des deutschen Volkes ist diese Frage von großer Tragweite. Denn ein Teil der deutschen Volkskraft geht für die Förderung der Kultur dadurch verloren, daß die Menschen in einen Beruf hineinkommen, für den sie nicht geschaffen sind. An der richtigen Stelle würden manche von ihnen vielleicht Großartiges leisten. Damm muß der regellosen Berufswahl ein Ende bereitet werden. Und dazu können auch die höheren Schulen, insbesondere die Realanstalten, sehr viel beitragen. An denjenigen Orten, an denen noch keine BerufsberatungsDas neue Deutschland in Erziehung und Unterricht. Heft 7

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besteht in der großen Zahl von Männem im arbeitskräftigsten Alter, die aus dem Schlachtfelde entweder ihr Leben oder ihre Gesundheit eingebüßt haben. Um diesen Verlust wieder einigermaßen auszugleichen, wozu auch bei größter Anspannung längere Zeit erforderlich sein wird, werden wir unsere Heran­ wachsende Jugend auf das Gründlichste ausbilden müssen, uhb zwar jeden Knaben und jedes Mädchen nach seiner besonderen Befähigung. Muß dieser Umstand schon zu einer Vermehrung der Realanstalten führen, so wird er insbesondere uns zwingen, solche Anstalten zu gründen, auf denen die technisch hervorragend befähigten Knaben zu ihrem vollen Rechte kommen, d. h. zur Gründung von mathematisch-naturwissenschaftlichen oder technischen Gym­ nasien. Auf diese Weise werden wir auch eine genügende Zahl von Kräften für Gewerbe und Industrie erhalten und ganz besonders für die Ausbildung solcher Männer Sorge tragen, die geeignet sind, in der Industrie eine führende Stellung einzunehmen.

8. Die Berufsberatung Es wird nicht möglich sein, im Rahmen dieser Schrift das große Gebiet der Berufsberatung und Berufsvermittlung einigermaßen erschöpfend zu be­ handeln. Es wird aber auch deshalb nicht nötig sein, weil über diese Frage bereits besondere Schriften erschienen sind, vor allem das lesenswerte Buch von Kuckhoff über „Höhere Schulen und Wirtschaftsleben". Über die Frage der Berufsberatung hat ferner Stadtschulrat Professor Dr. ThümmlerDresden am 18. Mai 1918 in Dresden auf der Versammlung der Stadtschul­ räte der großen deutschen Städte einen ausgezeichneten Vortrag gehalten, der demnächst im Druck erscheinen wird. Ich muß mich damit begnügen, hier nur einige wenige Gesichtspunkte zu dieser Frage zu erörtern. Die regellose Berufswahl, die wir bisher allenthalben beobachten, stellt eine ungeheure Arbeitsverschwendung und dadurch eine riesige Schädigung des nationalen Einkommens dar. Stände jeder Mann und jede Frau an der richtigen Stelle, so würde es möglich sein, die Menge der jährlich zu erzeugenden Güter und damit das Volkseinkommen gewaltig zu steigern. Auf diese Weise könnte die furchtbare Wunde, die der Krieg durch den Verlust des Lebens oder der Arbeitskraft so vieler Männer geschlagen hat, wenigstens zum Teil geheilt werden. Diese Erwägung mag genügen, um die große Bedeutung der Be­ rufsberatung und Berufsvermittlung für den Volkswohlstand zu zeigen. Und nicht nur für den Wohlstand, sondern auch für die Kultur des deutschen Volkes ist diese Frage von großer Tragweite. Denn ein Teil der deutschen Volkskraft geht für die Förderung der Kultur dadurch verloren, daß die Menschen in einen Beruf hineinkommen, für den sie nicht geschaffen sind. An der richtigen Stelle würden manche von ihnen vielleicht Großartiges leisten. Damm muß der regellosen Berufswahl ein Ende bereitet werden. Und dazu können auch die höheren Schulen, insbesondere die Realanstalten, sehr viel beitragen. An denjenigen Orten, an denen noch keine BerufsberatungsDas neue Deutschland in Erziehung und Unterricht. Heft 7

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und Berufsvermittelungsstelle besteht, kann sie an die Schule unmittelbar an­ gegliedert werden. Vor allem aber kann die Schule selbst sehr viel dazu tun, daß die Schüler ihre Berufseignung erkennen. Für diesen Zweck sind zunächst die Werkstätten von großer Bedeutung. Darum müssen nicht nur an das noch zu errichtende mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasium, sondern an jede Realanstalt Werkstätten angegliedert werden. Hier werden die Schüler Ge­ legenheit haben, zu erkennen, ob sie für einen technischen Beruf geeignet sind. Es ist eine wichtige Aufgabe der Realanstalten, den Gewerben geeignete Kräfte in genügender Zahl zuzuführen. Es ist dies insbesondere auch eine dankbare Ausgabe für die sechsklassigen Realschulen. Die Schulen dürfen sich aber nicht damit begnügen, ihre Schüler über den einzuschlagenden Beruf zu beraten, sie müssen ihnen vielmehr auch passende Stellen vermitteln. Der Direktor und das Lehrerkollegium müssen sich zu diesem Zwecke mit den Vertretern des Gewerbes und der Industrie in Verbindung setzen. Es wird dies nicht nur dem Gewerbe, sondern auch der Schule selbst zum größten Vorteile gereichen. Auch an den Orten, an welchen eine zentrale Berufsberatungsstelle besteht, muß sich die Schule an ihren. Aufgaben lebhaft beteiligen. Die Schule kann und muß aber auch Einrichtungen schaffen, um ihren Schülern die Möglichkeit zu geben, ihre Befähigung für das juristische, medizi­ nische, philologisch-historische und mathematisch-naturwissenschaftliche Studium zu erkennen. Gegenwärtig hat der Schüler feilte Gelegenheit, schon auf der Schule seine besondere Begabung für das juristische Studium und die juristische Praxis zu erkennen. Die Wahl des juristischen Studiums erfolgt daher in der Regel, ohne daß der Schüler weiß, ob er zum Juristen auch tauglich ist. Hier kann dadurch geholfen werden, daß Gesetzeskunde und Volkswirtschaftslehre einen besonderen Unterrichtsgegenstand in den beiden oberen Klassen bilden. Uber die Notwendigkeit des volkswirtschaftlichen Unterrichts haben wir uns eingehend ausgesprochen. Aber auch ein gewisses Maß von Gesetzeskunde ist für jeden Menschen unbedingt notwendig. Der Gesetzeskunde und der Volks­ wirtschaftslehre müßten in den beiden Primen zwei wöchentliche Stunden ge­ widmet werden. Diese Forderung wäre vielleicht nicht gerechtfertigt, wenn nicht die Be­ kanntschaft mit den wichtigsten. Gesetzen und mit den Grundbegriffen der Volks­ wirtschaftslehre für jeden gebildeten Menschen notwendig wäre. Daß dem in der Tat so ist, wird wohl niemand bestreiten. Ähnlich wie für die künfügen Juristen steht die Sache gegenwärtig für den künftigen Oberlehrer. Der Primaner, der sich für das Studium der sprachlich­ geschichtlichen oder mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer entscheiden soll, hat jetzt keine Gelegenheit, seine Befähigung für den Oberlehrerberuf zu er­ kennen. Wohl kann er wissen, ob er die wissenschaftliche Befähigung für das Studium in der philosophischen Fakultät besitzt. Ob er aber über diejenigen Eigenschaften verfügt, welche der künftige Lehrer braucht, darüber weiß er nichts. Um dies zu erkennen, müßte ihm schort auf der Schule Gelegenheit gegeben werden, Klassenunterricht zu erteilen. So gut es möglich ist, den Schü-

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lern der Lehrerseminare Gelegenheit zu eigenen Unterrichtsversuchen zu geben, so gut muß dies auch für die Schüler der höheren Lehranstalten möglich sein. Wenn der Studienreferendar erst während seines Seminar- oder Probejahres erkennt, daß er für den Lehrerberuf nicht geeignet ist, so hat er viel kostbare Zeit verloren. Und dann besteht gegenwärtig die große Gefahr, daß den An­ wärtern des höheren Lehramts das Zeugnis der Anstellungsfähigkeit manch­ mal auch in solchen Fällen gegeben wird, in denen sie für den Lehrerberuf nicht geeignet sind. Man frage unsere Direktoren, ob es ihnen leicht wird, einem Studienreferendar den Eintritt in den Oberlehrerberuf zu verweigern. Darum ist es dringend wünschenswert, und zwar nicht nur für die angehenden Oberlehrer, sondern auch ganz besonders für die Schule, daß die jungen Leute, die sich dem Oberlehrerberufe widmen wollen, schon vor Beginn des Stu­ diums über ihre Eignung zu diesem Berufe mit sich ins Reine kommen. Der Berufswechsel bedeutet außerdem einen großen Arbeitsverlust, also eine volks­ wirtschaftliche Verschwendung. Das gilt selbstverständlich nicht nur für die angehenden Philologen, sondern auch für die Juristen und für alle anderen akademischen Berufe. Das jetzt so häufige „Umsatteln" ist allemal ein volkswirtschaftlicher Verlust, der nach Mög­ lichkeit vermieden werden sollte. Auch der angehende Mediziner sollte schon aus der Schule Gelegenheit haben, sich mehr mit dem menschlichen Körper zu beschäftigen, als es jetzt der Fall ist. Das Studium des menschlichen Körpers wird jetzt an der höheren Schule, ja an allen Schulen mit einer ganz unglaublichen Gleichgültigkeit be­ handelt. Als ob es des Menschen nicht würdig wäre, sich mit dem eigenen Körper zu beschäftigen! Gründliche Kenntnis des menschlichen Körpers und der Ge­ sundheitslehre ist doch nicht tiur für den künftigen Mediziner, sondern für jeden Menschen dringend notwendig. Es ist unbegreiflich, daß man zwei Stunden während eines halben oder eines ganzen 'Jahres für diesen wichtigen Gegenstand für ausreichend hält. Welch ungeheurer Gewinn für die Volksgesundheit, welche Bessemng der gesundheitlichen und Sterblich­ keitsverhältnisse könnte durch eine gründliche Unterweisung in der Gesund­ heitslehre auf allen Schulen herbeigeführt werden. Nach dem Rückgang der Bevölkerungszahl infolge des Krieges ist diese Frage von noch größerer Bedeutung. Diese Bemerkungen mögen genügen, um zu zeigen, eine wie wichtige Aufgabe den Realanstalten auf dem Gebiete der Berufswahl erwachsen wird.

9. Die einzelnen Unterrichtsfächer Es kann nicht meine Aufgabe sein, die Gestaltung der einzelnen Unter­ richtsfächer nach dem Kriege zu erörtern. In dieser Beziehung gibt es ja auch schon eine überreiche Literatur. Eine solche Aufgabe würde auch die Kraft eines einzelnen Menschen weit übersteigen. Ich will mich daher damit be­ gnügen, hier über einzelne Unterrichtsgegenstände einige Bemerkmigen zu machen, die mir nicht unwichtig zu sein scheinen. 5*

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lern der Lehrerseminare Gelegenheit zu eigenen Unterrichtsversuchen zu geben, so gut muß dies auch für die Schüler der höheren Lehranstalten möglich sein. Wenn der Studienreferendar erst während seines Seminar- oder Probejahres erkennt, daß er für den Lehrerberuf nicht geeignet ist, so hat er viel kostbare Zeit verloren. Und dann besteht gegenwärtig die große Gefahr, daß den An­ wärtern des höheren Lehramts das Zeugnis der Anstellungsfähigkeit manch­ mal auch in solchen Fällen gegeben wird, in denen sie für den Lehrerberuf nicht geeignet sind. Man frage unsere Direktoren, ob es ihnen leicht wird, einem Studienreferendar den Eintritt in den Oberlehrerberuf zu verweigern. Darum ist es dringend wünschenswert, und zwar nicht nur für die angehenden Oberlehrer, sondern auch ganz besonders für die Schule, daß die jungen Leute, die sich dem Oberlehrerberufe widmen wollen, schon vor Beginn des Stu­ diums über ihre Eignung zu diesem Berufe mit sich ins Reine kommen. Der Berufswechsel bedeutet außerdem einen großen Arbeitsverlust, also eine volks­ wirtschaftliche Verschwendung. Das gilt selbstverständlich nicht nur für die angehenden Philologen, sondern auch für die Juristen und für alle anderen akademischen Berufe. Das jetzt so häufige „Umsatteln" ist allemal ein volkswirtschaftlicher Verlust, der nach Mög­ lichkeit vermieden werden sollte. Auch der angehende Mediziner sollte schon aus der Schule Gelegenheit haben, sich mehr mit dem menschlichen Körper zu beschäftigen, als es jetzt der Fall ist. Das Studium des menschlichen Körpers wird jetzt an der höheren Schule, ja an allen Schulen mit einer ganz unglaublichen Gleichgültigkeit be­ handelt. Als ob es des Menschen nicht würdig wäre, sich mit dem eigenen Körper zu beschäftigen! Gründliche Kenntnis des menschlichen Körpers und der Ge­ sundheitslehre ist doch nicht tiur für den künftigen Mediziner, sondern für jeden Menschen dringend notwendig. Es ist unbegreiflich, daß man zwei Stunden während eines halben oder eines ganzen 'Jahres für diesen wichtigen Gegenstand für ausreichend hält. Welch ungeheurer Gewinn für die Volksgesundheit, welche Bessemng der gesundheitlichen und Sterblich­ keitsverhältnisse könnte durch eine gründliche Unterweisung in der Gesund­ heitslehre auf allen Schulen herbeigeführt werden. Nach dem Rückgang der Bevölkerungszahl infolge des Krieges ist diese Frage von noch größerer Bedeutung. Diese Bemerkungen mögen genügen, um zu zeigen, eine wie wichtige Aufgabe den Realanstalten auf dem Gebiete der Berufswahl erwachsen wird.

9. Die einzelnen Unterrichtsfächer Es kann nicht meine Aufgabe sein, die Gestaltung der einzelnen Unter­ richtsfächer nach dem Kriege zu erörtern. In dieser Beziehung gibt es ja auch schon eine überreiche Literatur. Eine solche Aufgabe würde auch die Kraft eines einzelnen Menschen weit übersteigen. Ich will mich daher damit be­ gnügen, hier über einzelne Unterrichtsgegenstände einige Bemerkmigen zu machen, die mir nicht unwichtig zu sein scheinen. 5*

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a) Deutsch. Wir verlangen von unseren Primanern, daß sie imstande sind, über jedes beliebige Thema einen anständigen Aufsatz zu schreiben. Das ist mir immer als eine große Unbilligkeit vorgekommen. Wie viele akademisch Gebildete ver­ mögen denn über alles zu reden oder zu schreiben? Einige Menschen mögen es können, das will ich nicht bestreiten, aber weitaus die meisten können es nicht. Ich kann nur über Dinge schreiben, von denen ich etwas verstehe, und einigermaßen leidlich schreiben kann ich nur über Dinge, die ich wirklich gut verstehe. Wenn ich einmal, wie es mein Amt so mit sich bringt, über eine Sache schreiben oder sprechen soll, die ich nicht beherrsche oder die mir nicht liegt, so gehe ich unter Umständen einige Tage mit „einem dicken Kopf" herum. Uiib wie oft müssen unsere Primaner so mit einem dicken Kopf herumgehen! Man sage nicht, daß man ja von ihnen keinen Aufsatz verlange über Dinge, die sie nicht verstehen. Denn das stimmt einfach nicht. Mag der Gegenstand auch noch so oft in der Klasse durchgesprochen sein, so ist damit noch nicht gesagt, daß er nun wirklich von allen Primanern verstanden ist. Das ist ja bei der Natur der im deutschen Unterricht behandelten Stoffe auch gar nicht möglich. Dinge, die von einem Teil der Schüler leicht begriffen werden, dringen in die Köpfe der anderen oft gar nicht ein. Und so werden die Schüler gezwungen, über Dinge zu schreiben, von denen sie oft so gut wie gar nichts verstehen. Wie oft kommt es vor, daß ein Schüler selbst das Thema mißversteht! Wie ist es mög­ lich, von einem Menschen einen Aufsatz über ein Thema Ju verlangen, das er überhaupt mißverstehen kann? Wie würden wir denn darüber denken, wenn man uns etwas derartiges zumuten sollte? Das Verlangen, über eine Sache zu schreiben, die man nicht versteht, ist aber nicht nur unbillig, sondern, was noch schlimmer ist, es macht unehrlich und untergräbt die intellektuelle Rechtschaffenheit. Was bleibt dem armen Schüler in einem solchen Falle anders übrig, als Redensarten zu drechseln? Eine der schwierigsten Aufgaben der Schule ist die Erziehung zum richtigen Urteilen. Hier aber zwingt man den Schüler, über solche Dinge zu urteilen, in denen ihm gar kein Urteil zusteht, da er sie nicht beherrscht. Vielleicht kommt der Schüler auf diese Weise auch zu der Einbildung, als ob er über solche Dinge ein Urteil hätte. Solche Aufsätze befördern die Einbildung, aber nicht die Bildung. Deshalb wenden sich viele Lehrer des Deutschen gerade gegen die all­ gemeinen Themen, und in der Tat mag bei ihnen die Gefahr der gedanken­ losen Redensarten am größten sein. Aber manche Schüler sind einem all­ gemeinen Thema immer noch eher gewachsen, als einem literarischen. Zur Bearbeitung der literarischen Themen gehört nämlich noch etwas anderes als Verständnis, nämlich Gedächtnis! Und der unglückliche Schüler, den das Gedächtnis dabei im Stich läßt, ist übel dran. Manche Schüler können weder über ein allgemeines noch über ein litera­ risches Thema einen genügenden Aufsatz schreiben. Verdienen sie nun unter allen Umständen im Deutschen das Prädikat „nicht genügend"? Unter diesen Schülern gibt es welche (ich habe einige gekannt), die über eine physikalische

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oder chemische Aufgabe einen wirklich guten, ja druckreifen Aufsatz schreiben können. Wenn ein solcher Schüler im deutschen Unterricht auch sonst einiges Verständnis zeigt, leistet er dann nicht im Deutschen alles, was das Leben später von ihm verlangen wird? Derselbe Schüler, der einem deutschen Aufsatz­ thema gegenüber vollkommen hilflos ist, schwimmt wie ein munterer Fisch in seinem Element, wenn man von ihm die Bearbeitung einer naturwissen­ schaftlichen Aufgabe verlangt. Da ordnet er den Stoff in vorzüglicher Weise an und hat sogar einen guten Stil! Uber allgemeine oder literarische Themen wird ein solcher Schüler in seinem späteren Leben gewiß nicht schreiben. Aber als Naturwissenschaftler, als Techniker wird er seinen Mann stehen und auch die Feder gebrauchen können. Warum soll er nun auf der Schule etwas leisten, was man in seinem ganzen Leben nicht von ihm verlangen wird? Non scholae, sed vitae! — Man sage nicht, daß Männer in leitenden Stellungen gelegentlich über alles und noch etwa mehr sprechen müssen. Denn einmal gibt es für die leitenden Stellungen weit wichtigere Forderungen als die Rednergabe. Und dann kommt es doch nicht sehr darauf an, ob eine solche Rede (wie Begrüßung eines Ge­ sangvereins) wirklich gut ist. Gegen die literarischen Themen habe ich noch eine Einwendung. Ich halte sie in einer Art noch für schlimmer als die allgemeinen Themen. Haben denn alle Schüler über die Frage, deren Beantwortung ihnen zugemutet tottbr wirklich ein eigenes Urteil? Ich gebe zu, daß viele Schüler ein sehr gesundes literarisches Urteil haben, und für solche Schüler sind auch die Themen aus der Literatur durchaus angebracht. Man hat nicht selten Gelegenheit, hier geradezu wunderbare Aufsätze zu lesen. Aber die meisten Schüler haben ein solches Urteil nicht und können es auch noch nicht haben. Das literarische Urteil muß auch Zeit haben, um auszureifen. Und mancher lernt es eben nie. Soll nun der Schüler über ein Thema aus der Literatur schreiben, ohne ein eigenes Urteil zu haben, so kann er doch nur entweder das nachschwatzen, was er vom Lehrer gehört hat, oder Unsinn schreiben. Weder das eine noch das andere scheint mir irgendeinen Nutzen zu bringen. Man stelle daher den Schülern der oberen Klassen mehrere Themen aus verschiedenen Gebieten zur Auswahl und gebe sich auch zufrieden, wenn der Schüler ein Thema nach eigener Wahl bearbeiten will. Dann wird es nicht mehr vorkommen, daß wirklich begabte Schüler mit dem Deutschen ihre liebe Not haben oder gar daran scheitern. Eine zweite Ausstellung betrifft gleichfalls die deutschen Aufsätze. Der Schüler ist gezwungen, dem Aufsatz einen Plan voranzuschicken. Stimmt dann die Ausführung mit dem Plan nicht überein, so gilt dies als grober Fehler. Und kommen solche Abweichungen einige Male vor, so kann allein deshalb der Aufsatz als mangelhaft oder nicht genügend bezeichnet werden. Nun will ich gegen die Notwendigkeit eines Planes gewiß nichts.einwenden. Aber da­ gegen wende ich mich, daß die Abweichung des Aufsatzes vom Plan als Fehler gewertet wird. Wie spielt sich denn die Sache im Leben ab? Es geht wahr­ scheinlich den meisten Menschen wie mir: Ich kann ohne einen Plan überhaupt

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nicht arbeiten. Wenn ich eine längere Arbeit schreiben will, so mache ich mir einen ausführlichen Plan. Bei der Ausführung aber stellt sich fast immer die Notwendigkeit heraus, von dem Plane abzuweichen. Und wenn die Arbeit fertig ist, so stimmt der Plan meist in wesentlichen Punkten nicht mehr, oft ist kein Stein auf dem anderen geblieben. So geht es auch dem Schüler. Er kann in der Regel bei der Ausführung den Plan gar nicht genau innehalten. Er kommt im Verlaufe der Ausführung sehr oft zu dem Ergebnis, daß die genaue Innehaltung seines Planes ein grober Fehler wäre und weicht daher not­ gedrungen von ihm ab. Nun könnte man sagen: in einem solchen Falle muß der Schüler eben den Plan nachträglich ändern. Aber erstens hat er dazu oft (bei Klassenaufsätzen) nicht die Zeit, dann aber ist die nachträgliche Änderung eine Forderung, die mit dem Leben nichts zu tun hat. Wo wird denn im wirk­ lichen Leben jemand daran denken, wenn er seine Arbeit abgeschlossen hat, den Plan nachträglich zu ändern? Das wäre ja die reinste Arbeitsverschwendung. Der Plan hat seine Schuldigkeit getan und ist vollkommen erledigt. Für den Schüler liegt ja die Sache insofern anders, als er auch den Plan ins Reine schreiben muß, damit der Lehrer ihn beurteilen kann. Aber es scheint mir voll­ kommen sinnlos zu sein, den Schüler zur nachträglichen Änderung des Planes zu zwingen. Man entbinde also den Schüler von dieser Verpflichtung. Das geht aber nur dann, wenn man ihm eine Abweichung des Aufsatzes vom Plane dann nicht als Fehler anrechnet, wenn in der Tat die Ausführung gegen den ursprünglichen Plan einen Fortschritt, eine Verbesserung enthält.

b) Französisch und Englisch. Über die mangelhaften Ergebnisse des neusprachlichen Unterrichts an den Realanstalten wird von allen Seiten geklagt (mindestens ebenso sehr aller­ dings auch über die Ergebnisse des lateinischen und griechischen Unterrichts am Gymnasium). Und niemand, dem unsere Realanstalten bekannt sind, wird behaupten können, daß diese Klagen unberechtigt sind. Mit dem Erfolge des Unterrichts im Französischen und Englischen ist kein Mensch so recht zufrieden. Der Hauptgrund hierfür liegt meiner Überzeugung nach darin, daß die Ziele des neusprachlichen Unterrichts zu mannigfaltig sind. Die Schüler sollen zu­ nächst soweit kommen, daß sie einen nicht zu schwierigen französischen und eng­ lischen Schriftsteller mit vollem Verständnis lesen können. Sie sollen durch die Lektüre in die Gedankenwelt der fremden Schriftsteller eindringen. Sie sollen ferner in der Übersetzung aus dem Deutschen in die fremde Sprache eine ziemliche Gewandtheit besitzen. Sie sollen sogar imstande sein, über ein Thema, welches keine sachlichen Schwierigkeiten bietet, einen französischen oder englischen Aufsatz zu schreiben. Endlich sollen sie auch im mündlichen Ge­ brauche der französischen und englischen Sprache einigermaßen bewandert sein. Es ist in der Tat nicht wenig, was von dem Abiturienten eines Real­ gymnasiums oder einer Oberrealschule in den neueren Sprachen verlangt wird. Daß es in den meisten Fällen nicht geleistet wird, ist danach kein Wunder.

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Wir wollen zunächst die Berechtigung dieser Ziele nut wenigen Worten er­ örtern. Ein Ziel wird sicherlich Vorhallen Seiten als vollkommen berechtigt allerkannt werden, nämlich die Fähigkeit, einen französischen und englischen Schriftsteller von nicht allzu großer Schwierigkeit mit vollem Verständnis zu lesen. Ich meine, wenn dieses Ziel nicht erreicht wird, so ist der ganze, jahre­ lang fortgesetzte neusprachliche Unterricht vergeblich gewesen. Wird es aber erreicht, so hat der Schüler wirklich etwas mitbekommen, was für das Leben dauernden Wert hat. Dieses Ziel muß daher unter allen Umständen festgehalten und unbedingt erreicht werden, wenn es nicht anders geht, unter Preisgabe der übrigen weniger wichtigen Ziele. Ein Schüler, der ein fremdsprachliches Buch flott lesen kann, wird in der Regel auch in das Verständnis der fremden Kultur so weit eingedrungen sein, als man dies von einem Schüler verlangen kann. Der Abiturient eines Realgymnasiums oder einer Oberrealschule muß imstande sein, Schriftsteller wie Taine oder Zola, Macaulay oder Seeley fließend zu lesen. Me steht es aber in Wirklichkeit damit? Man frage nur die Mitglieder der Prüfungskommissionen und man wird erfahren, daß viele Schüler von einem wirklichen Verständnis solcher Schriftsteller sehr weit entfernt sind. Der Auswahl der neusprachlichen Lektüre wird in den letzten Jahren immer mehr Sorgfalt gewidmet. Die inhaltlich völlig wertlose neusprachliche Lektüre, die man vor einigen 20 Jahren noch vielfach antraf, ist verschwunden und hat gehaltvollen Schriftstellem Platz gemacht. Heute schon kann man sagen, daß wenigstens auf der Oberstufe die französische und englische Lektüre an Inhalt und Wert hinter der „klassischen" Lektüre des Gymnasiums in keiner Weise zurücksteht. So urteilt z. B. Matthias, der sich bei einer Revision der Oberrealschule in Kattowitz mit rückhaltloser Anerkennung über die Wahl der neusprachlichen Lektüre äußerte. Vielleicht könnten noch häufiger Schriften philosophischen und volkswirtschaftlichen Inhalts genommen werden, von denen bereits eine Anzahl für den Schulgebrauch herausgegeben ist. Wie steht es nun mit den übrigen Zielen des neusprachlichen Unterrichts? Ist die Forderung der Übersetzung aus dem Deutschen in die fremde Sprache in gleicher Weise berechtigt? Ist das auch etwas, was für das wirkliche Leben von Wert ist? Ich habe mich mit den neueren Sprachen ziemlich viel beschäftigt und habe auch von meinen Kenntnissen auf diesem Gebiete oft Gebrauch machen können. Aber nur ganz selten, im ganzen vielleicht drei oder viermal, bin ich in die Lage gekommen, einen deutschen Text in eine fremde Sprache, näm­ lich ins Italienische, übersetzen zu müssen. Ein Bekannter wandte sich an mich mit der Bitte, von ihm geschriebene Briefe ins Italienische zu übertragen, da derjenige, für den der Brief bestimmt war, kein Deutsch verstand. Ich habe die Briefe ins Italienische übersetzen können, ohne jemals Übersetzungen aus dem Deutschen ins Italienische getrieben zu haben. Ich habe das Italienische in Mailand gelernt, wo ich drei Semester studiert habe. Die Fälle, in denen jemand aus dem Deutschen in eine fremde Sprache übersetzen muß, sind so selten, daß sich ihretwegen die ungeheure Arbeit, die auf die Übersetzungen aus dem Deutschen in die Fremdsprache verwandt wird, wirklich nicht lohnen

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würde. Und tritt dieser Fall einmal ein, so kann man es, ohne es überhaupt gelernt zu haben. Wer eine Sprache soweit beherrscht, daß er einen fremd­ sprachlichen Schriftsteller flott lesen kann, der ist auch imstande, einen deutschen Text in die Fremdsprache so zu übertragen, daß er vom Ausländer verstanden wird. Frei von Fehlern braucht eine solche Übersetzung nicht zu sein, sie muß nur durchaus verständlich sein. Zu einer fehlerfreien Übersetzung bringt es ja auch der Lehrer nicht, und wenn er sich sein ganzes Leben laug damit plaget: sollte. Wie steht es nun mit dem Ergebnis dieser Übersetzungsübungen? Ich spreche jetzt nur von den Übungen in den oberen Klassen. Sie zeichnen sich meist dadurch aus, daß große Verschiedenheiten in den Ergebnisse" nicht Vor­ kommen. Sehr selten sind einmal zwei oder drei Schüler dabei, die auf diesem Gebiete tvirklich Gutes leisten, selten sind aber auch ganz schlechte Leistungen. Die meisten Schüler machen die Arbeiten so, daß sie mit größerer oder ge­ ringerer Nachsicht als genügend bezeichnet werden können. Wenigstens kommen im Laufe der Zeit fast alle dazu. Das gilt namentlich dann, wenn sie denselben Lehrer zwei oder drei Jahre behalten. Dann kommen immer dieselben Regeln vor, und es müßte schon ein für Sprachen gänzlich unbegabter Schüler sein, der nicht schließlich eine genügende Arbeit zuwege brächte. Aber rechte Freude hat an diesen Arbeiten keiner, weder der Lehrer noch der Schüler, der Lehrer deshalb nicht, weil er das Gefühl hat, daß bei dieser ganzen Arbeit im Grunde genommen doch nichts Gescheites herauskommt, und der Schüler deshalb nicht, weil er niemals das Gefühl des sicheren Gelingens hat. Auf anderen Gebieten, so beim deutschen Aufsatz oder bei den mathematischen Arbeiten oder auch bei der Übersetzung aus der Fremdsprache in die deutsche, hat der Schüler oft das Bewußtsein, daß seiner Anstrengung auch ein wirklich gutes Ergebnis entspricht. Dieses Gefühl hat er aber bei der Übersetzung aus dem Deutschen in die fremde Sprache so gut wie nie. Alles in allem bieten diese Übersetzungen ein höchst unerfreuliches Bild. Ein geeignetes Mittel für die Auswahl der Begabten, wie Professor Hillebrandt in seiner letzten Herrenhausrede meinte, sind diese „Extemporalien" wahrhaftig nicht. Nimmt man hierzu noch die Tatsache, daß diese Übersetzungen mit dem wirklichen Leben nichts zu tun haben, so erhebt sich von selbst die Forderung nach ihrer Beseitigung. Nur soweit haben sie noch ein Anrecht auf Beibehaltung, als sie für die Einübung der grammatischen Sicherheit unbedingt notwendig sind. Das ist eine Frage, über die ich mir kein Urteil erlaube. Aber als Zielforderung sind die Über­ setzunge i aus dem Deutschen zu beseitigen. Wir kommen jetzt zu den französischen und englischen Aufsätzen. Nachdem man den lateinischen Aufsatz an den Gymnasien bereits im Jahre 1882 abgeschafft hatte, führte man den französischen und englischen Aufsatz an den Realanstalten wieder ein! Es gibt ja auch jetzt noch Leute, die dem lateinischen Aufsatz nachtrauem. Im großen und ganzen aber ist man in den beteiligten Kreisen sehr froh darüber, daß man ihn los ist Viel Freude hat man am lateini­ schen Aufsatz niemals gehabt. Da ich Ostern 1882 die Reifeprüfung abgelegt habe, so habe ich ihn noch mitgeschrieben. Ich kann nicht einmal sagen, daß er zu

meinen unangenehmsten Schnlerinnerungen gehört (viel unangenehmer ist mir die Erinnerung au die Stunden, in denen die lateinischen und griechischen Schriftsteller lediglich vom grammatischen Standpunkte aus behandelt wurden), aber jedenfalls habe ich auch keine Veranlassung, auf meine lateinischen Auf­ sätze stolz zu sein. Ich schrieb nämlich meine lateinischen Aufsätze so, als ob es sich um deutsche Aufsätze gehandelt hätte, d. h. ich suchte eigene Gedanken hinein­ zubringen. Wie weit mir das gelungen ist, weiß ich heute nicht mehr. Das aber weiß ich noch genau, daß meine lateinischen Aufsätze in der überwiegenden Mehrzahl „mangelhaft" waren. Während es mir bei den deutschen Aufsätzen wenigstens daun und wann einmal gelang, ein „gut" zu erlangen, glückte mir dies bei den lateinischen Aufsätzen niemals; ja nur selten erhielt ich ein „ge­ nügend". Denn das Latein, das ich schrieb, mag darnach gewesen sein. Und durch meinen Versuch, eigene Gedanken in die Aufsätze hineinzubringen, wurde es sicherlich nicht verbessert. Um einen „guten" lateinischen Aufsatz zu schreiben, mußte man Redewendungen und dergleichen auswendig lernen und sich an die Muster der lateinischen Schriftsteller möglichst getreu anschließen. Da ich das nicht konnte, waren die Aufsätze meist mangelhaft. In den französischen und englischen Aufsätzen (ich habe allerdings nie einen geschrieben, aber sehr viele gelesen), ist es ganz ähnlich. Von eigenen Gedanken ist wenig darin zu finden. Wenn aber ein Schüler es versuchen wollte, selbständige Gedanken hineinzubringen, so würde es ihm wahrschein­ lich so gehen, wie es mir mit den lateinischen Aufsätzen erging. Darum bin ich der Ansicht, daß die fremdsprachlichen Aussätze nur einett sehr geringen Wert haben. Wirkliches Französisch oder Englisch zu schreiben, wird ja nur ganz selten einmal einem Schüler gelingen. Auch werden nur sehr wenige unter unseren Schülern in die Lage kommen, in ihrem späteren Leben französisch oder englisch schreiben zu müssen. Sollte es aber doch der Fall sein, so werden sie es auch leisten, ohne es auf der Schule gelernt zu haben, voraus­ gesetzt, daß sie die fremde Sprache genügend beherrschen. Darum fort mit den fremdsprachlichen Aufsätzen! Die Sprechübungen haben, wie ich glaube, für die geistige Ausbildung der Schüler einen nicht geringen Wert. Werden sie in der richtigen Weise ab­ gehalten, so verlangen sie von dem Schüler eine erhebliche geistige Anstrengung Sie sollten nach meiner Ansicht so gehalten werden, wie der Lehrer sich etwa, auf Deutsch mit seinen Schülern unterhalten würde. Sie verlangen also einen Lehrer, der zu den Schülern in einem guten Verhältnis steht und der vor allem sich überh upt mit seinen Schülern unterhalten kann. Handelt es sich um ein ganz freies Gespräch, so wird auch bei den Sprechübungen etwas herauskomnren. Daß es trotzdem nicht allzu viel sein wird, und daß auf keinen Fall die Sprechübungen die Hauptsache bilden, darüber ist ja jetzt wohl alle Welt einig. Die vielen Ziele des neusprachlichen Unterrichts haben nicht nur den Fehler, daß oft keines von ihnen wirklich erreicht wird, sondern sie bringen noch einen ganz besonderen Schaden mit sich. Bei der Behandlung der sehr wertvollen französischen und englischen Lektüre wird häufig viel zu wenig auf

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den Inhalt eingegangen. Denn das Ziel der mündlichen und schriftlichen Sprachfertigkeit muß doch erreicht werden, und darüber kommt oft der Inhalt zu kurz. Das ist überaus bedauerlich, und man kann heute manchen Real­ anstalten (ich bin allerdings nicht in der Lage anzugeben, wieviele es sind) den Vorwurf nicht ersparen, den man früher den Gymnasien machte, daß sie über der Form der Schriftsteller den Inhalt vergessen und die Schüler in die Ge­ dankenwelt der großen fremdsprachlichen Schriftsteller nicht genügend einführen. Es ist das ein erheblicher Mangel, dem unbedingt abgeholfen werden muß. Darum soll das Ziel des neusprachlichen Unterrichts kein anderes sein, als gründliche Fertigkeit im Übersetzen aus dem Französischen und Englischen in die deutsche Sprache und genaue Bekanntschaft mit den wertvollen Ge­ danken der fremden Schriftsteller. Die Übersetzungen aus dem Deutschen in die Fremdsprache dürfen ebensowenig ein Ziel des Unterrichts sein wie die fremdsprachlichen Aufsätze. Diese sind ganz zu beseitigen, jene auf das zur Erreichung des Hauptzieles unumgänglich nötige Maß zu beschränken. Dann wird der fremdsprachliche Unterricht wirklich gute Früchte zeitigen, und alle Beteiligten werden Freude an ihm haben. c) Geschichte. Die Geschichte ist von allen Schulfächern für denjenigen Schüler, der ein schlechtes Gedächtnis hat, das unangenehmste. Denn er kann bei der Art, wie der Geschichtsunterricht meist erteilt wird, darin nichts leisten. Er kann es beim besten Willen nicht. Diese Tatsache führt dann leicht dazu, daß ein solcher Schüler als faul verschrieen ist, namentlich dann, wenn es sich um einen be­ gabten Schüler handelt. „Der müßte das spielend lernen", so sagen dann häufig seine Lehrer. Dies ist aber oft ein Irrtum, denn manch ein begabter Kopf hat ein sehr schlechtes Gedächtnis und kann daher in der Geschichte das nicht leisten, was von ihm verlangt wird, und wenn er auch noch so fleißig lernen wollte; er behält es nicht, oder höchstens für kurze Zeit.

Ich kenne Menschen, die vor der Reifeprüfung einige Monate hindurch täglich zwei bis drei Stunden Geschichte wiederholt haben und es schließlich auch dahin brachten, daß sie in der Prüfung gut Bescheid wußten. Aber wenige Monate nachher war alles wieder weg. Da muß man sich doch einmal fragen, ob dieses „Pauken" wirklich einen Zweck hat. Wir müssen uns überhaupt einnml die Frage vorlegen, ob die Art, wie der Geschichtsunterricht vielfach auch heute noch betrieben wird, den Forderungen des Lebens entspricht. Ich beginne mit den Jahreszahlen. Ist schon jemals ein Mensch dadurch in Verlegenheit gekommen, daß er eine Jahreszahl nicht gewußt hat? Aller­ dings ist wohl schon einmal ein Schüler in der Reifeprüfung durchgefallen, weil er einige Jahreszahlen nicht wußte. Aber wenn wir diesen Fall außer Betracht lassen, so ist es doch wohl ausgeschlossen, daß jemand zu irgendeiner Zeit die Kenntnisse von Jahreszahlen wirklich gebraucht hat. Man frage doch einmal unsere Soldaten, ob ihnen während des Krieges schon einmal eine Geschichtszahl gefehlt hat, man frage unsere Kaufleute, unsere Gelehrten, ob

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sie jemals durch das Nichtwissen einer Geschichtszahl in Verlegenheit gekommen sind. Sollte einem Gelehrten einmal eine Zahl fehlen, so kann er sie ja in Büchern nachschlagen. Die Historiker, die einzigen, welche die Jahreszahlen brauchen, werden sie auch wissen, ohne sie jemals gelernt zu haben. Denn bei ihnen wird der Sinn für Geschichtszahlen im nötigen Maße entwickelt sein. Wenn ihnen trotzdem einmal eine Zahl fehlen sollte, so können auch sie die Bücher zu Rate ziehen. Darum scheint mir das Auswendiglernen tiott Geschichtszahlen überhaupt zwecklos zu sein. Es könnte vielmehr aus den Forderungen der Schule ohne jeden Schaden gestrichen werden. Welch eine Erleichterung wäre das für Lehrer und Schüler! Wie nützlich könnte die so gewonnene Zeit auf Dinge verwendet werden, die für die Ausbildung des Geistes wirklich Wert haben! Was ich hier von den Geschichtszahlen gesagt habe, gilt allerdings auch von vielen Anderen Dingen. Die einen, nämlich diejenigen, die ein gutes Ge­ dächtnis haben und denen die Dinge Freude machen, lernen sie fast spielend, die anderen nur mit großer Not. Zweck hat dieses Auswendiglernen nur in den seltensten Fällen. Vielfach glaubt man, daß es nötig ist, um das Gedächtnis zu stärken. Aber es ist noch in keiner Weise erwiesen, daß das Ge­ dächtnis durch das Auswendiglernen tatsächlich gestärkt wird. Damit will ich nicht leugnen, daß es Dinge gibt, die der Schüler unbedingt auswendig lernen muß, so in den Fremdsprachen die Vokabeln und die wich­ tigsten grammatischen Regeln, im Rechnen das „kleine Einmaleins". Ganz überflüssig erscheint es mir dagegen, von den Schülern deutsche oder fremdsprachliche Gedichte auswendig lernen zu lassen. Diejenigen, für welche diese Kenntnis Wert hat, lernen sie fast von selbst, wenn sie dazu angeregt werden, und für die anderen hat es keinen Zweck. Ich höre schon den Einwand, daß doch auch in der Mathematik Formeln auswendig gelernt werden. Ich begnüge mich damit, diesen Einwand hier zu verzeichnen, im Abschnitt über Mathematik werden wir ihn erörtern. Der Geschichtsunterricht kann, wenn er nicht in der Hauptsache Kriegs­ und Regentengeschichte ist und wenn das Auswendiglernen stark eingeschränkt wird, den Schülern ungeheuer viel bieten. Zur Geschichte gehört nach meiner Auffassung auch die Geschichte der Künste und der Wissenschaften, die der Reli­ gionen, die Geschichte des menschlichen Denkens, der Volkswirtschaft, ins­ besondere der wirtschaftlichen Kämpfe sowie die Verfassungsgeschichte. Das alles sind Gebiete, die gerade dem denkenden Schüler außerordentlich viel geben können. Bemüht sich der Geschichtslehrer, alle vorkommenden Begriffe scharf zu definieren, so hat er einen vorzüglichen Stoff für die Ausbildung des Geistes. Richtig betrieben, würde die Geschichte aufhören, ein reines Ge­ dächtnisfach zu sein. Ich weiß wohl, daß viele Geschichtslehrer den Unterricht in diesem Sinne erteilen, und manche anderen würden es gerne tun, wenn nicht die Prüfungsforderungen hinderlich im Wege ständen. Solange es Provin-* zialschulräte gibt, denen es wichtiger erscheint, daß die Schüler wissen, wann der Kreis Schwiebus an Preußen gekommen ist, als baß sie etwas von der preußischen Verfassung und von den Grundbegriffen der Volkswirtschaftslehre

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wissen, solange bleibt dem armen Geschichtslehrer nichts übrig, als Jahres­ zahlen zu pauken. Ich habe es erlebt, daß ein Prüfungskommissar den Ge­ schichtslehrer, der die Schüler in der preußischen Verfassung prüfte, mit den Worten auf den rechten Weg zurückführte: „Ich will Positives hören." Das „Positive" waren die Jahreszahlen! Weit verbreitet ist die Anschauung, der Geschichtslehrer könne, ja er dürfe im Unterricht nicht objektiv sein, er müsse vielmehr leidenschaftlich Partei er­ greifen. Der Unterricht verliere sein Bestes, wenn der Lehrer objektiv und unparteiisch sei. Nach meinen Begriffen bedeutet die Forderung, der Geschichts­ lehrer solle die Geschichte nicht objektiv vortragen, eine unerhörte Zumutung. Me kann man von einem wissenschaftlichen Menschen so etwas verlangen! Freilich darf und soll der Lehrer an den von ihm vorgetragenen Dingen leiden­ schaftlichen Anteil nehmen. Aber diese Anteilnahme soll nicht in Mangel an Objektivität ausarten, sie soll vielmehr der Wahrheit gelten. Intellektuelle Redlichkeit ist eine Forderung, die gerade der Geschichtslehrer unbedingt er­ füllen muß. Mit der Notwendigkeit der Parteilichkeit des Geschichtsunterrichts hat man sogar die Forderung nach der konfessionellen Schule zu begründen versucht. Man hat gesagt, der Lehrer müsse die Möglichkeit haben, z. B. bei der Durch­ nahme der Geschichte der Reformation sein volles Herz auszuschütten. In einer paritätischen Schule aber könne er das nicht, denn da müsse er jeden Augenblick fürchten, die seiner Konfession nicht angehörenden Schüler zu ver­ letzen ! Ich bin der Meinung, daß der Lehrer auch die Geschichte der Reformation so vortragen muß, daß kein anderskonfessioneller Schüler sich daran stoßen kann. Auch wenn alle Schüler seiner Konfession angehören, muß er den Stoff ohne jede auf die anderen (nicht anwesenden) Konfessionen abgezielte Schärfe vortragen. Denn nur so kann er seine Schüler zur religiösen Duldsamkeit er­ ziehen, über deren Bedeutung wir uns an anderer Stelle ausgesprochen haben. Damit ist nicht gesagt, daß der Lehrer Tatsachen verschweigen oder nicht wahr­ heitsgemäß darstellen soll, nur um niemanden zu kränken. Die Wahrheit muß unter allen Umständen gesagt werden. Es ist auch nicht die Wahrheit, welche verletzt, es ist nur die Art und Weise, wie sie vorgetragen wird. Das Ver­ schweigen wichtiger Tatsachen, wie es vielfach geübt wird, ist eine Fälschung der Geschichte. Wenn der Geschichtsunterricht unparteiisch erteilt werden soll, so ist damit nicht gesagt, daß er trocken und ledern werden muß. Er kann im Gegenteil äußerst lebendig gestaltet werden. Dazu gehört nur ein Lehrer, der bei aller Objektivität für sein Fach begeistert ist. Man kann doch auch für die Wissen­ schaft selbst, für die Wahrheit und Objektivität begeistert sein. Oder fängt die Begeisterung erst mit der Parteinahme an? Gibt es nicht auch begeisterte Lehrer der Mathematik? Es ist sehr wohl möglich, daß nach dem Weltkriege die Darstellung der Kriege noch einen größeren Raum einnehmen wird, als vorher. Vor dieser Gefahr möchte ich ausdrücklich warnen. Die Kriege sind keineswegs das wichtigste aus der Weltgeschichte. Der Krieg ist doch nicht der Zweck und

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der Sinn des menschlichen Lebens! Freilich wurde in den ersten Monaten des Krieges gesagt, wir hätten früher nicht gewußt, wofür wir denn eigent­ lich lebten. Der Krieg habe dem Leben wieder Ziel und Sinn gegeben! Ist der Krieg der Sinn des Lebens, so hat das Leben überhaupt keinen Sinn. Alle Kriege zusammen genommen haben das Leben nicht so um­ gestaltet, wie die einzige Erfindung der Dampfmaschine! Gewiß haben die Kriege gewaltige Folgen gehabt, aber sie sind bei weitem nicht so bedeutend, wie die Errungenschaften der Kultur. Aristoteles, Kant und Nietzsche, Descartes, Newton und Gauß sind größere Ereignisse in der Menschengeschichte als der dreißigjährige Krieg! Sokrates bedeutet in der Geschichte mehr als Alexander der Große! Die Geschichte des menschlichen Denkens ist unendlich wichtiger als die Geschichte der Kriege! Darum gebührt der Kriegsgeschichte im Unterricht nur ein bescheidener Platz.

d) Mathematik und Naturwissenschaften. Wir haben uns im vorigen Abschnitt gegen das unnötige Auswendiglernen ausgesprochen und bei dieser Gelegenheit erwähnt, daß doch auch im mathe­ matischen Unterrichte Formeln auswendig gelernt werden. Manche Lehrer der Mathematik lassen in der Tat ihre Schüler zahlreiche Formeln lernen, darunter auch solche, die gar nicht leicht zu behalten sind. Ich halte ein solches Verfahren für einen großen Fehler. Es sind nur ganz wenige und ganz ein­ fache mathematische Formeln, die der Schüler auswendig kennen muß. Der Ingenieur, der Landmesser, der Markscheider, der die Formeln anwendet, wird zwar im Laufe der Zeit ganz von selbst viele Formeln behalten. Kann er sie aber nicht, so wird er sie eben nachschlagen. Ja, er wird sie, wenn es sich nicht um ganz einfache und geläufige Formeln handelt, selbst dann nachschlagen, wenn er sie auswendig zu wissen glaubt. (Genau wie der Richter oder Rechts­ anwalt jeden Gesetzesparagraphen, den er anwenden muß, nachschlägt, wenn er ihn auch noch so sicher dem Wortlaute nach zu kennen glaubt.) Warum soll nun der Schüler die Formeln auswendig lernen, die er im Leben selbst dann nicht auswendig zu können braucht, wenn er Mathematiker oder Ingenieur wird ? Der Lehrer würde niemals dazu kommen, das Auswendiglernen der Formeln von seinen Schülern zu verlangen, wenn er sie nicht selbst auswendig wüßte. Wer jahraus jahrein denselben Unterricht erteilt, kommt in den meisten Fällen ganz von selbst zu einer vollständigen gedächtnismäßigen Beherrschung des Stoffes. Und nun glaubt er, das, was er selbst kann, könne er auch dem Schüler zumuten. Das Unglück vieler Schüler ist das gute Gedächtnis ihrer Lehrer. Das gilt nicht bloß von der Mathematik, sondern auch von anderen Fächern. Es gibt aber Lehrer, und auch unter den Mathematikern sind sie nicht selten, die ein sehr schlechtes Gedächtnis haben. Sie werden von ihren Schülern nicht verlangen, daß sie die Formeln auswendig lernen, die sie selber nicht können. Es ist in der Tat ganz überflüssig, viele Formeln auswendig zu lernen. In der Trigonometrie z. B. sind es außer den Desinitionsformeln für die trigonometrischen Funktionen, die der Schüler leicht behalten kann,

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Jakob Hacks

nur die vier Formeln für Sinus und Cosinus der Summe und der Differenz zweier Winkel. Alle anderen kann sich der Schüler, wenn er sie braucht, leicht und schnell ableiten. In der Ableitung der Formeln erlangen die Schüler, wenn der Unterricht nicht ein gutes, sondern ein schlechtes Gedächtnis vor­ aussetzt, bald eine große Gewandtheit und Sicherheit. Im ganzen Rechnen braucht der Schüler nur das kleine Einmaleins auswendig zu lernen. Das Gedächtnis mit dem großen Einmaleins zu belasten ist ein grober Unfug. In der Algebra genügen ganz wenige Formeln, und auch sie kann der Schüler sich meist schnell selbst ableiten. Kommen in einer Aufgabe schwierige Formeln vor (z. B. die Kardanische Formel), so sollen sie vom Lehrer angegeben oder dem Schüler das Nachschlagen gestattet werden. Non scholae sed vitae! Die Anwendungen sollen im mathematischen Unterricht einen breiten Raum einnehmen. Der eine Grund hierfür ist so klar, daß er kaum erwähnt zu werden braucht. Die Anwendungen der Mathematik spielen im wissen­ schaftlichen und wirtschaftlichen Leben eine große Rolle. Diese Tatsache wird auch dadurch nicht anders, daß es Universitätsprofessoren gibt, die von der ungeheuren Bedeutung der Mathematik für die Wissenschaft, auch für manche „Geisteswissenschaften" keine Ahnung haben. So meint Hillebrandt in seiner Schrift „Das Gymnasium, seine Berechtigung und sein Kampf in der Gegenwart" (Berlin 1914): „Wenige von uns haben der Mathematik be­ durft." — Von der großen Bedeutung der Mathemaük für die Philosophie weiß Hillebrandt offenbar nichts. Aber es gibt noch einen anderen Grund dafür, daß die Anwendungen der Mathematik auf die verschiedenen Gebiete der Wissenschaft noch mehr gepflegt werden sollten: Sie erfordern ganz andere Schlüsse als die Mathematik selbst. Die eigenartige Verbindung der Mathemaük mit einer anderen Wissenschaft erfordert ganz eigentümliche Denkoperationen, die nur der für solche Dinge von vornherein besonders begabte Mensch ohne weiteres voll­ ziehen kann. Die anderen müssen sie lernen. Bei diesen Anwendungen der Mathemaük ist eine ganz besondere Behutsamkeit im Schließen erforderlich, da die Gefahr der Fehlschlüsse außerordentlich groß ist. Seitdem die angewandte Mathematik ein besonderes Prüfungsfach ist, werden die Anwendungen auch im Unterricht der höhreen Lehranstalten mehr berücksichügt als früher. Dies gilt namentlich für die Realanstalten. Daß die Grundzüge der Differenüal- und Integralrechnung an den Real­ anstalten durchgenommen werden müssen, darüber besteht heute wohl keine Meinungsverschiedenheit mehr. Vor 12 bis 15 Jahren war dies noch anders. Noch im Jahre 1904 wurde ich von einem Provinzialschulrate, der selbst Mathemaüker war, getadelt, weil ich an der Oberrealschule ut Kattowitz die Diffe­ renüal- und Integralrechnung durchnahm. Bei meinen Vorstellungen von der Wichtigkeit dieses Unterrichts erwiderte er: „Mr sind dazu da, dafür zu sorgen, daß genau das durchgenommen wird, was in den Lehrplänen steht, nicht weniger und nicht mehr." Auch diese Auffassung von der Be­ deutung der Lehrpläne und den Aufgaben eines Provinzialschulrats dürfte heute überwunden sein..

Die Aufgaben der Realanstalten nach dem Kriege

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Daß man während des Krieges im Großherzogtum Baden den Unterricht im Deutschen und in der Geschichte auf Kosten der Mathematik und der Natur­ wissenschaften verstärkt hat, haben wir schon erwähnt. Und doch haben in keinem Kriege Mathematik und Naturwissenschaften solche ungeheuere Bedeutung gehabt, wie im Weltkriege. Darum ist das Verfahren der badischen Unter­ richtsverwaltung einfach unverständlich. Aber nicht nur für den Krieg, sondern auch für die Entwickelung der Kultur, gewinnen Mathematik und Naturwissen­ schaften von Tag zu Tag an Bedeutung. Es wird nicht nötig sein, dies im einzelnen nachzuweisen, nachdem es Bastian Schmid für die Naturwissen­ schaften in seiner soeben in dieser Sammlung erschienenen Schrift: „Die Naturwissenschaften in Erziehung und Unterricht" (Leipzig 1918) eingehend dargelegt hat. Ich habe die starke Vermutung, daß wir diese Verminderung der Stundenzahl für Mathematik und Naturwissenschaften solchen Männern verdanken, die von der Bedeutung dieser Wissenschaften für Leben und Kultur so gut wie nichts verstehen.

10. Zchlutzbemerkung Wir sind am Schlüsse unserer Ausführungen angelangt. Es war nicht unsere Absicht, die Aufgaben, welche den Realanstalten nach dem Kriege er­ wachsen werden, erschöpfend darzustellen. Es handelte sich nur darum, Richt­ linien für die Weiterentwicklung des realistischen Schulwesens aufzusteUen. Ich weiß wohl, daß ich manche wichtige Frage gar nicht einmal berührt habe, so die Frage nach der Zukunft der sechsklassigen Realschule, über die mauche schon heute das Todesurteil verhängen zu können glauben. Ich habe diese schwierige Frage hier deshalb nicht erörtert, weil ich darüber noch nicht zu einem abschließenden Urteil gekommen bin. Doch glaube ich, daß sich Real­ schulen und Mittelschulen einstweilen kräftig neben einander entwickeln und einen jetzt noch ungeahnten Aufschwung nehmen werden. Die großen volks­ wirtschaftlichen Aufgaben der allemächsten Zukunft werden, wie ich vermute, eine große Zahl von Menschen mit guter realistischer Schulbildung erfordern. Auch viele andere Fragen, die sehr wohl in den Rahmen der vorliegenden Abhandlung gepaßt hätten, habe ich nicht berührt. Es ist auch manches von dem, was ich ausgeführt habe, schon von anderer Seite und viel besser erörtert worden. Nichtsdestoweniger hoffe ich, daß diese kleine Arbeit etwas zur Blüte unserer Realanstalten. und damit zur Entwicklung unseres volkswirtschaft­ lichen, nationalen uni) kulturellen Lebens beitragen wird.

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Daß man während des Krieges im Großherzogtum Baden den Unterricht im Deutschen und in der Geschichte auf Kosten der Mathematik und der Natur­ wissenschaften verstärkt hat, haben wir schon erwähnt. Und doch haben in keinem Kriege Mathematik und Naturwissenschaften solche ungeheuere Bedeutung gehabt, wie im Weltkriege. Darum ist das Verfahren der badischen Unter­ richtsverwaltung einfach unverständlich. Aber nicht nur für den Krieg, sondern auch für die Entwickelung der Kultur, gewinnen Mathematik und Naturwissen­ schaften von Tag zu Tag an Bedeutung. Es wird nicht nötig sein, dies im einzelnen nachzuweisen, nachdem es Bastian Schmid für die Naturwissen­ schaften in seiner soeben in dieser Sammlung erschienenen Schrift: „Die Naturwissenschaften in Erziehung und Unterricht" (Leipzig 1918) eingehend dargelegt hat. Ich habe die starke Vermutung, daß wir diese Verminderung der Stundenzahl für Mathematik und Naturwissenschaften solchen Männern verdanken, die von der Bedeutung dieser Wissenschaften für Leben und Kultur so gut wie nichts verstehen.

10. Zchlutzbemerkung Wir sind am Schlüsse unserer Ausführungen angelangt. Es war nicht unsere Absicht, die Aufgaben, welche den Realanstalten nach dem Kriege er­ wachsen werden, erschöpfend darzustellen. Es handelte sich nur darum, Richt­ linien für die Weiterentwicklung des realistischen Schulwesens aufzusteUen. Ich weiß wohl, daß ich manche wichtige Frage gar nicht einmal berührt habe, so die Frage nach der Zukunft der sechsklassigen Realschule, über die mauche schon heute das Todesurteil verhängen zu können glauben. Ich habe diese schwierige Frage hier deshalb nicht erörtert, weil ich darüber noch nicht zu einem abschließenden Urteil gekommen bin. Doch glaube ich, daß sich Real­ schulen und Mittelschulen einstweilen kräftig neben einander entwickeln und einen jetzt noch ungeahnten Aufschwung nehmen werden. Die großen volks­ wirtschaftlichen Aufgaben der allemächsten Zukunft werden, wie ich vermute, eine große Zahl von Menschen mit guter realistischer Schulbildung erfordern. Auch viele andere Fragen, die sehr wohl in den Rahmen der vorliegenden Abhandlung gepaßt hätten, habe ich nicht berührt. Es ist auch manches von dem, was ich ausgeführt habe, schon von anderer Seite und viel besser erörtert worden. Nichtsdestoweniger hoffe ich, daß diese kleine Arbeit etwas zur Blüte unserer Realanstalten. und damit zur Entwicklung unseres volkswirtschaft­ lichen, nationalen uni) kulturellen Lebens beitragen wird.