Die guten Sitten in der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung nach dem Kriege [Reprint 2020 ed.] 9783112382103, 9783112382097


214 68 6MB

German Pages 83 [95] Year 1931

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Die guten Sitten in der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung nach dem Kriege [Reprint 2020 ed.]
 9783112382103, 9783112382097

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Die „Hamburger Rechtsstudien" erscheinen in zwangloser Folge und sind rinreln käuflich

Bisher sind erschienen: Heft 1: Der Begriff'de* Yersjcherangsfalles in der Seeversicherung. Von Dr. F. Alexander Bene. Groß-Oktav. 75 Seiten. 1928. BM 4.50 Heft 2: Die Bedeutung des Interesses für die Veräußerung der versicherten' Sache. Von Dr. Hermann Heinrich Kllcnn. Groß-Oktav. 58 Seiten. 1928. RM 4.— Heft 3: Aktiensonderdepot und Legitimationsübertragung. Von Dr. Günther Frohner. Groß-Oktav. 121 Seiten. 1929. RM 7.— GroßHeft 4: Die Gewinnversicherung. Von Dr. Helmut Winkler. Oktav. 31 Seiten. 1930. RM 2.— Heft 5: Der Konnossement-Teilschein. Von Dr. Heinz Behielt. GroßOktav. 79 Seiten. 1930. RM 5.— Heft 6: Die Order-Polize. Von Dr. Alexander N. Tsirintanis. GroßOktav. 95 Seiten. 1930. RM 6.— Heft 7: Reine Konnossemente gegen Revers. Von Dr. Robert Lion. Groß-Oktav. 78 Seiten. 1930. RM 5.— Heft 8: Versicherung für Rechnung, wen es angeht. Von Dr. Helmuth Embden. Groß-Oktav. 39 Seiten. 1930. RM 3.—

Die guten Sitten

in der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung nach dem Kriege von

Dr. iur. Fritz Oettinger

Hamburg Friederichsen, de Gruyter & Co. m. b. EL 1931

Diese Arbeit ist als Doktordissertation von der Rechts- and Staatswesens«:haftlichen Fakultät der Hambnrgigchen Universität angenommen worden.

Druck ron I. J. AofaMio in ClflckvUdl and Hivbnrg

Inhalt. Einleitung Die I. II. III.

Erster Teil. Verwendung des Begriffs „die guten Sitten" im BGB Bedeutung und Entstehung des § 826 BGB Die Auslegung des § 826 BGB. durch die Gerichte Die Auslegung des § 826 BGB. durch die Rechtslehre

Zweiter Teil. § 826 BGB. in arbeitsrechtlichen Urteilen I. Streitigkeiten innerhalb der Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberschaft A. Die Verdrängung aus der Arbeit als Verstoß gegen die guten Sitten B. Die erlaubte Verdrängung aus der Arbeit Zusammenfassung II. Streitigkeiten von Arbeitnehmern mit Arbeitgebern A. Der Arbeitskampf 1. Der Streik a) Die Zulässigkeit des Streiks b) Der Sympathiestreik c) Die passive Resistenz d) Die Durchführung des Streiks a) Notstandsarbeiten ß) Streikpostenstehen und Streikterror 2. Die Aussperrung 3. Der Boykott, die Sperre und die Verrufserklärung a) Maßnahmen der Arbeitnehmer a) Verrufserklärungen an andere Arbeitnehmer ß) Verrufserklärungen an unbeteiligte Dritte b) Maßnahmen der Arbeitgeber a) Maßnahmen im Interesse der ganzenArbeitgeberschaft ß) Maßnahmen im Interesse des einzelnen Arbeitgebers Zusammenfassung B. Die Beendigung des Arbeitskampfes: Das Friedensabkommen mit Maßregelungsverbot oder Wiedereinstellungsklausel.... III. Anhang Einzelfälle

10 12 12 13 14 19 19 20 28 36 37 37 37 37 42 43 44 44 46 47 48 49 49 59 60 60 63 65 65 74

6

Inhalt

Dritter Teil. Folgerungen I. Die Grundlage der Rechtsprechung II. Rechtssicherheit III. Wandlung des SittenbegrifFs IV. Die Vernichtung der Existenz des Gegners V. Das Ziel des Arbeitskampfes Schluß

77 77 78 80 81 83 84

Schrifttum. 1. Abhandlungen. Acker, Zur Soziologie des Koalition»recht«, Kaskel, Seminarvorträge I. Anschfitz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Kommentar 7. Aufl. Baum, KA. Karte „Tarifvertrag, Organisationsklausel III" vom 28. X. 1922. Baumbach, Wettbewerbsrecht. Corpus iuris civilis, herausgegeben von Mommsen und Krftger. Dernburg, Pandekten Bd. 2. — Das bürgerliche Recht: Die Schuldverhaltnisse nach dem Recht des Deutschen Reiches und Preußens, 4. Aufl. bearbeitet von Raape. Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts. Endemann, Lehrbuch des bfirgerlichen Rechts, 8/9. Aufl. Enneccerus, Lehrbuch des bürgerlichen Rechts. Erdel, Maßregelungsverbot bei Streikbeendigung, J . W. 1925, S. 1844. Erdmann, Zivilrechtliche Haftung bei Streik und Boykott, Arbeitgeber 1921, S. 221. E t t i n g e r , Zivilrechtliche Folgen von Verrufserklärungen, Verhandlungen des 28. deutschen Juristentages Bd. 2, S. 185. Fehr, Recht und Wirklichkeit. Frey er, Soziologie ab Wirklichkeitswissenschaft, von Gierke, Otto, Deutsches Privatrecht, Bd. 3. — Die Wurzeln des Dienstvertrages, Festschrift für Brunner, S. 37. Göppert, Staat und Wirtschaft. Goerrig, KA. Karte „Tarifvertrag, Organisationsklausel I" vom 4. VII. 1922. Groh, Koalitionsrecht. Hagen, Die guten Sitten als Rechtsbegriff, Gruchot Beiträge, Bd. 42, S. 497. Hamburger, Treu und Glauben im Verkehr. Hedemann, Lohnzahlung bei Arbeit»Verhinderung, Festschrift für Rosenthal S. 169. Heimann, Eduard, Soziale Theorie des Kapitalismus. Hoeniger, H., Grundformen des Arbeitsvertrages, Einleitung zur 7. Aufl. der Gesetzessammlung „Arbeitsrecht". Hueck, Handbuch des Arbeitsrechts, Bd. 2, Das Arbeitsvertragsrecht. — Handbuch des Arbeitsrechts, Bd. 3, Das Tarifrecht. — KA. Karte „Lohnwucher" vom 9. X. 1922. — Hueck Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts. J a c o b i , Grundlehren des Arbeitsrechts. Kahn-Freund, Tarifvertrag und WiedereinstellungsklauseL — Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts. Kallee, KA. Karte „Maßregelungsverbot" vom 24. XII. 1923. K a s k e l , Das neue Arbeitsrecht 1920. — Arbeitsrecht 3. Aufl. — Koalitionen und Koalitionskampfmittel, Seminarvorträge I. Krfickmann, Der Boykott im Lohnkampf. Kurlbaum, Die Organisationsklausel, Kaskel, Seminarvorträge I, S. 78. Liepmann, Kommunistenprozesse. Lobe, Die zivilrechtlichen Folgen der Verrufserkl&rung in den modernen Lohnkämpfen, D. J . Z. 1908, S. 934. — Verhandlungen des 29. deutschen Juristentages, Bd. 4. S. 175. Lotmar, Der unmoralische Vertrag. — Der Arbeitsvertrag. Maschke, Boykott, Sperre und Aussperrung. M a t t h a e i , Die zivilrechtlichen Wirkungen von Arbeitskämpfen, Festschrift der Hamburger Juristen fQr den 24. deutschen Juristentag, S. 137. — Grundriß des Arbeitsrechts.

8

Schrifttum

M e l s b a c h , Deutsches Arbeitsrecht. Menger, Das bürgerliche Recht and die besitzlosen Volksklassen, 5. Aufl. M e y e r o w i t z , Streik, Aussperrung, Boykott und Verruf in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, J . W. 1912, S. 839. Molitor, Das Wesen des Arbeitsvertrages. M u g d a n , Die gesamten Materialien zum BGB. N i p p e r d e y , Tarifrecht. — Vertragstreue und Nichtsumutbarkeit der Leistung. — Haftung der Berufsvereine für unzulässige Kampfhandlungen, Verhandlungen des 34. deutschen Juristentages, Bd. 1, S. 395. — Die Grundrechte und Grundpfüchten der Reichsverfassung, Bd. 3, S. 385, Art. 159, Koalitionsrecht. — Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag. — Hueck Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts. O e r t m a n n , Deutsches Arbeitsvertragsrecht. — Recht der SchuldverhAhnisse, 5. Aufl. — Der politische Boykott. — Rechtsordnung und Verkehrssitte. — Sittenwidrige Handlungen, D. J . Z. 1903, S. 325. — Zivilrechtliche Folgen der VerrufserklArung, Verhandlungen des 28. deutschen Juristentages, Bd. 2, S. 33. — Zulässigkeit der Satzungen des Zechenverbandes in Eissen (Ruhr), Archiv für bürgerliches Recht, Bd. 33, S. 221. — KA. Karte „Boykott 1. Allgemeines" vom 15. X I I . 1923; „Boykott 2. im Arbeitsrecht" vom 15. XII. 1923; „Schwarze Listen" vom 15. I. 1926. P a p e , Folgen der Verrufserklärung, Verhandlungen des 28. deutschen Juristentages, Bd. 2, S. 246. P l a n c k , Kommentar zum BGB., 4. Aufl. P o t t h o f f , Gute Sitte im Arbeitskampf, Zentralblatt für Handelsrecht 1928, S. 232. R a d b r u c h , Arbeitskraft, Art. 157, Abs. 1 RV. in Nipperdey, die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 3, S. 349. Reichsgerichtsräte-Kommentar zum BGB., 1928. R o s e n t h a l , Wettbewerbsgesetz, 8. Aufl. R ü m e l i n , Rechtssicherheit. S i n z h e i m e r , Grundzüge des Arbeitsrechts, 2. Aufl. — Die Absperrungsklausel in Tarifverträgen und ihre Wirkung auf die abgesperrten Arbeiter, J . W. 1921, S. 304. S t a m m l e r , Lehre vom richtigen Recht, 2. Aufl. S t a u b , Kommentar zum HGB., 12./13. Aufl. S t a u d i n g e r , Kommentar zum BGB. , 9. Aufl. S t r a u s s , Der Boykott im Arbeitsrecht, Kaskel, Seminarvorträge I. T s c h i e r s c h k y , Kartellzwang und Tarifzwang, Arb. R. 1925, S. 655. von T u h r , Der allgemeine Teil des deutschen bürgerlichen Rechts. W a g e m a n n , Arbeitsgesetze. W a r n c k e , Auskunftserteilung und Meldungspflicht des Arbeitgebers über ausgeschiedene und entlassene Arbeitnehmer, N. Z. f. A. 1925, S. 345. W i m p f h e i m e r , Kontrahierungszwang für Monopole. W i n d s c h e i d , Pandekten, 9. Aufl. Z s c h i m m e r , Das Problem des Arbeitskampfes und das geltende Recht, Dissertation, Rostock.

2. Anmerkungen zu Urteilen Abel. Baum. Dersch. Erdel. Feig. Flatow,

Görres. Goerrig. Hoeniger. Hueck. Jaerisch. Kailee.

Molitor. Nipperdey, Noerpel. Oechßler. Oertmann. Potthoff.

L u t z Richter. Schmaltz. Silberschmidt. Sinzheinier. Titze.

Schrifttum

9

3. Entscheidungen. Der Arbeitgeber; Zeitschrift, herausgegeben von der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbande (Arbeitgeber.). Arbeitsrecht; Zeitschrift, herausgegeben von Potthoff (Arb.R.). Arbeitsrecht, Beilage Rechtsprechung; Herausgegeben von Potthoff, Jadesohn, Meissinger (Arb.R. Rechtsprechung). Arbeitsrechtspraxis; Zeitschrift, herausgegeben vom Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (Arbeitsrechtspraxis). Das Arbeitsgericht; früher: Das Gewerbe- und Kaufmannsgericht; Zeitschrift, herausgegeben von B a u m (Arb.G. f r ü h e r : GKG.). Die Rechtsprechung in Arbeitssachen; Zeitschrift, herausgegeben von Volkmar, Feig, Wagemann und Harmening (Arb.Rspr.). Die Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte; Sammlung, herausgegeben von Flatow, Gerstel, Hueck und Nipperdey (Bensh.Samml.). Hanseatische Gerichtszeitung, Beilage Arbeitsrecht (HansGZ. A.). Hanseatische Rechts- und Gerichtszeitschrift (HansRGZ.). Juristische Wochenschrift (JW.). Kartenauskunftei des Arbeitsrechts; Herausgegeben von Kailee (KA.). Leipziger Zeitschrift für deutsches Recht (LZ.). Neue Arbeitsrecht-Kartei; Herausgegeben von H u t h und Graeffner (NAK.). Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht; Herausgegeben von Dersch, Kaskel, Sitzler und Syrup (NZfA.). Reichsarbeitsblatt (RABL). Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts; Amtliche Sammlung (RAG.). Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen; Amtliche Sammlung (RGZ.). Rechtsprechung des Reichsgerichts; Herausgegeben von Warneyer. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Arbeitsrecht; Sammlung, herausgegeben von Dersch, Flatow, Hueck, Nipperdey (Rechtsprechung des Reichsgerichts.) Seufferts Archiv für Entscheidungen der obersten Gerichte (Seuff. Arch.).

Einleitung. Das gegenwärtige Arbeitsrecht ist junges Recht. Seine wichtigsten Gesetze sind — abgesehen vom Sozialversicherungsrecht — erst nach der Umwälzung von 1918 entstanden. Seit der Tarifvertragsverordnung vom Dezember 1918 ist der Kollektivgedanke großen Umfangs in Erscheinung getreten. Das Betriebsrätegesetz von 1920 ist der erste Schritt zur Anerkennung der Verbundenheit von Arbeitnehmer und Betrieb. Auch die Wissenschaft des Arbeitsrechts ist jung. Die Erkenntnis der Sonderstellung der Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern hat sich mit Begründung und Erstarken der sozialistischen Lehre langsam durchgesetzt. Juristisch ist sie in breiter, Widerhall findender Weise zuerst von Lotmar 1 ) ausgesprochen worden. Bei den Vorarbeiten zum BGB. hat Menger*) erneut auf diese Sonderstellung*) hingewiesen. Ihm vor allem sind die im BGB. enthaltenen Ansätze zur Bildung eines Arbeitsrechts zu danken. Nach 1918 trat die Stellung des Arbeiters und der Arbeiterschaft zum Staat als wichtige, Lösung heischende Frage in den Vordergrund. E s schien sicher, daß den Anforderungen der neuen Zeit mit den alten, überkommenen Rechtssätzen nicht Genüge getan werden konnte. Das Recht, das ist, — das Recht, nach dem die Einzelwesen leben, ergibt sich weder aus den geschriebenen Gesetzen allein, noch aus den Lehren der Wissenschaft. Das Recht, das der Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer tatsächlich innewohnt, ist aus der soziologischen Erforschung wirtschaftlicher Vorgänge, aus der Verwaltungsübung, aus typischen Vertragsformen und vor allem aus den wirkliches, angewandtes Recht wiedergebenden Urteilen der Gerichte4) zu entnehmen. Die Kenntnis des geltenden Arbeitsrechts ist gerade wegen seiner Jugend nicht nur aus der abstrakten Erörterung der R e c h t s g e d a n k e n zu schöpfen. Erst die Untersuchung, was die R e c h t s p r e c h u n g billigt, was sie verwirft, zeigt das geltende Recht. Der erwähnte Erlaß des Betriebsrätegesetzes und der Tarifvertragsordnung schien eine neue Zeit heraufzuführen: beide verwirklichten Gedanken, die außerhalb des Arbeitsrechts nur in sehr abgeschwächter und veränderter Form zu finden sind. Die E i n h e i t des Arbeitsrechts5) legt es nahe, auch den nicht ausdrücklich umgeformten Rechtssätzen heute — ') Lotmar, Der Arbeitsvertrag. *) Menger, Dag bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen. 3 ) Otto von Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. 3, S. 590 ff. insbesondere S. 599 und Die Wurzeln des Dienstvertrags, Festschrift fQrBrunner 1914 S. 44 f. leitet die Sonderstellung des Rechts abhangiger Arbeit aus dem germanischen Recht her. ') Sinzheimer, Crundzüge des Arbeitsrechts, 2. Aufl. S. 52. ') Sinzheimer, Crundzüge des Arbeitsrechts, 2. Aufl., S. 3, 45.

Einleitung

11

nach Erlaß jener grundlegend neuen Bestimmungen — eine neue, geänderte Bedeutung beizumessen. Die Gerichte stehen vor Gesetzen, die verschiedenen Auffassungen entsprungen sind: das alte Individualrecht des BGB. gilt neben neuen kollektivistisch orientierten Normen.1) Sie sind vor die Aufgabe gestellt, das scheinbar Widersprechende zu verbinden. Ein Mittel dieser Vereinigung und Verschmelzung ist die Anwendung des Grundsatzes, ein Verstoß gegen die guten Sitten verpflichte zum Schadensersatz. Dort, wo das Gesetz schweigt oder sich zu widersprechen scheint, gibt der Begriff der guten Sitten dem Richter die Möglichkeit, der Auffassung der Allgemeinheit geltendes Recht zu entnehmen. In dieser Arbeit wird die Verwendung des Begriffs der guten Sitten in der Rechtsprechung zum Arbeitsrecht geschildert. Im Bericht über Entwicklung und Stand dieser Rechtsprechung muß eine Stellungnahme zu der Frage unterbleiben, woher der Richter die Auffassung, das Ethos zu nehmen hat, auf das er seine Urteile gründet. Die streitenden Meinungen, ob er die Auffassungen der Allgemeinheit oder einer Klasse zu Grunde zu legen hat, und die Bedeutung von Herkunft und Auswahl der Richterpersönlichkeit für diese Fragen sind hier nur zu erwähnen, nicht kritisch zu erörtern. x)

Hueck Nipperdey, Lehrbach des Arbeitsrechts, Bd. 1 S. 27.

Erster Teil. Die Verwendung des Begriffs „die guten Sitten" im BGB. I. Bedeutung und Entstehung des § 826 BGB. Bei der Kodifikation des Privatrechts lehnte man es ab, die exceptio doli generalis in dem weiten Umfang, den sie im römischen und gemeinen Recht hatte, 1 ) in das neue Gesetz zu übernehmen. Man beschränkte sie auf eine Reihe engerer — aber darum noch nicht enger — Bestimmungen. Zu erwähnen sind § 138 BGB., der unsittliche Rechtsgeschäfte für nichtig erklärt, ferner die §§ 157 und 242 BGB., die für die Auslegung von Verträgen und den Umfang der Leistungspflicht eines Schuldners auf Treu und Glauben und die Verkehrssitte verweisen. Von anderer Seite nimmt § 226 BGB. den gleichen Grundgedanken auf, wenn er Handlungen, die nur Schädigungen sind, verbietet. Während § 226 BGB. sich im Verbot erschöpft, und die §§ 138, 157 und 242 BGB. den Inhalt von Rechtsbeziehungen umschreiben, dient § 826 BGB. dazu, Schäden wieder gut zu machen. Diese Verschiedenheit des Ziels erklärt, warum für das Arbeitsrecht die Bedeutung des § 826 BGB. augenfälliger ist als beispielsweise die des § 242 BGB. Während des Bestehens eines Arbeitsverhältnisses sind beide Parteien wenig geneigt, ihre Streitigkeiten vor Gericht zu bringen.2) Nach seiner Beendigung kommt nur eine Ausgleichung angetaner Unbill, kaum eine Neuformulierung der vertraglichen Pflichten in Betracht. Die Worte „gute Sitten" finden sich in den §§ 138 und 826 BGB. § 138 Abs. 1 BGB. lautet: „Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig." § 826 BGB. sagt: „Wer in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem Andern vorsätzlich Schaden zufügt, ist dem Andern zum Ersätze des Schadens verpflichtet." Diese Worte sind nichts als eine Verdeutschung der „boni mores" des römischen Rechts. Die Entwicklungsgeschichte des BGB. läßt kaum er') Windscheid, Pandekten, 9. Aufl., Bd. 2, § 451. Dernburg, Pandekten, Bd. 2, § 136. Vgl. auch die Stelle aus dem praetorischen Edikt Dig. IV, 3, 1,1: Quae dolo malo facta esse dicentur, si de bis rebus alia actio non erit et iusta causa esse videbitur, iudicium dabo. 2 ) Die Gründe sind die gleichen, die stillschweigende Annahme untertariflicher Bezahlung nicht als Verzicht erscheinen lassen. Vgl. Jacobi, Grnndlehren S. 223.

II. Die Auslegung des § 826 BGB. durch die Gerichte

13

kennen, was der Gesetzgeber unter „guten Sitten" verstand.1) Die Motive geben nur eine ganz kurze Erläuterung. Es heißt dort 1 ): „Wer nur Kraft seiner natürlichen Freiheit handelt, darf diese nicht zum Schaden Anderer mißbrauchen; ein Mißbrauch ist es aber, wenn seine Handlungsweise den in den guten Sitten sich ausprägenden Auffassungen und dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden widerspricht."

II. Die Auslegung des § 826 BGB. durch die Gerichte. Das Reichsgericht hat sich bereits im Jahre 1901 für die in den Motiven enthaltene Erklärung des Sittenbegriffs ausgesprochen. In seiner Entscheidung, die den Konkurrenzkampf zweier Transportunternehmungen betraf, heißt die für unsern Zusammenhang wichtige Stelle 3 ): „Rechtlich kommt insbesondere die Zweckbestimmung des § 826 BGB. in Frage, den illoyalen Schädigungen im Verkehrsleben wirksam entgegenzutreten, wobei es auf die Natur des verletzten Rechtsguts nicht ankommt. Selbst die Ausübung eines formalen Rechts wird von dem § 826 BGB. betroffen, wenn dadurch vorsätzlich in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise dem Andern Schade zugefügt wird. Den Maßstab für den Begriff der guten Sitten (Vergleiche § 138 BGB.) hat der Richter aus dem herrschenden Volksbewußtsein zu entnehmen, „dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden." Hierbei ist es nicht ausgeschlossen, daß auf die Sittenanschauung eines bestimmten Volkskreises, wenn sich in ihr die herrschende Sitte ausprägt, Rücksicht genommen wird." Die Ausführungen dieses Urteils, vor allem die Formel vom Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden, beherrschen die Rechtsprechung bis heute. Das Reichsgericht hat eine Einteilung geschaffen, an Hand derer im Einzelfall zu prüfen ist, ob ein Verstoß gegen die guten Sitten vorliegt. Die Der erste Entwurf sagte im § 705: „Als widerrechtlich gilt auch die Kraft der allgemeinen Freiheit an sich erlaubte Handlung, wenn sie einem Andern zum Schaden gereicht und ihre Vornahme gegen die guten Sitten verstöflt." Bereits der zweite Entwurf formte — der Neufassung des Abschnitts über unerlaubte Handlungen entsprechend — diese Bestimmung vollkommen um. Er enthielt folgenden f 749: „Wer durch eine Handlung, die er nicht in Ausübung eines ihm zustehenden Rechts vornimmt, in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem Andern vorsätzlich Schaden zufügt, ist dem Andern zum Ersätze des Schadens verpflichtet." Die Bundesratsvorlage übernahm diese Regelung als § 811, die Reichstagsvorlage als § 810. Die Reichstagskommission strich die Worte „durch eine Handlung, die er nicht in Ausübung eines ihm zustehenden Rechts vornimmt." Es war für sie bestimmend, „daß es nicht gebilligt werden kann, wenn jemand, selbst in Ausübung formalen Rechts, einem Andern vorsätzlich in einer gegeD die guten Sitten verstoßenden Weise Schaden zufügt." (Kommissionsbericht S. 104.) ») Motive S. 727. 3) RGZ. Bd. 48, S. 114.

II. Die Auslegung des § 826 BGB. durch die Gerichte

13

kennen, was der Gesetzgeber unter „guten Sitten" verstand.1) Die Motive geben nur eine ganz kurze Erläuterung. Es heißt dort 1 ): „Wer nur Kraft seiner natürlichen Freiheit handelt, darf diese nicht zum Schaden Anderer mißbrauchen; ein Mißbrauch ist es aber, wenn seine Handlungsweise den in den guten Sitten sich ausprägenden Auffassungen und dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden widerspricht."

II. Die Auslegung des § 826 BGB. durch die Gerichte. Das Reichsgericht hat sich bereits im Jahre 1901 für die in den Motiven enthaltene Erklärung des Sittenbegriffs ausgesprochen. In seiner Entscheidung, die den Konkurrenzkampf zweier Transportunternehmungen betraf, heißt die für unsern Zusammenhang wichtige Stelle 3 ): „Rechtlich kommt insbesondere die Zweckbestimmung des § 826 BGB. in Frage, den illoyalen Schädigungen im Verkehrsleben wirksam entgegenzutreten, wobei es auf die Natur des verletzten Rechtsguts nicht ankommt. Selbst die Ausübung eines formalen Rechts wird von dem § 826 BGB. betroffen, wenn dadurch vorsätzlich in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise dem Andern Schade zugefügt wird. Den Maßstab für den Begriff der guten Sitten (Vergleiche § 138 BGB.) hat der Richter aus dem herrschenden Volksbewußtsein zu entnehmen, „dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden." Hierbei ist es nicht ausgeschlossen, daß auf die Sittenanschauung eines bestimmten Volkskreises, wenn sich in ihr die herrschende Sitte ausprägt, Rücksicht genommen wird." Die Ausführungen dieses Urteils, vor allem die Formel vom Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden, beherrschen die Rechtsprechung bis heute. Das Reichsgericht hat eine Einteilung geschaffen, an Hand derer im Einzelfall zu prüfen ist, ob ein Verstoß gegen die guten Sitten vorliegt. Die Der erste Entwurf sagte im § 705: „Als widerrechtlich gilt auch die Kraft der allgemeinen Freiheit an sich erlaubte Handlung, wenn sie einem Andern zum Schaden gereicht und ihre Vornahme gegen die guten Sitten verstöflt." Bereits der zweite Entwurf formte — der Neufassung des Abschnitts über unerlaubte Handlungen entsprechend — diese Bestimmung vollkommen um. Er enthielt folgenden f 749: „Wer durch eine Handlung, die er nicht in Ausübung eines ihm zustehenden Rechts vornimmt, in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem Andern vorsätzlich Schaden zufügt, ist dem Andern zum Ersätze des Schadens verpflichtet." Die Bundesratsvorlage übernahm diese Regelung als § 811, die Reichstagsvorlage als § 810. Die Reichstagskommission strich die Worte „durch eine Handlung, die er nicht in Ausübung eines ihm zustehenden Rechts vornimmt." Es war für sie bestimmend, „daß es nicht gebilligt werden kann, wenn jemand, selbst in Ausübung formalen Rechts, einem Andern vorsätzlich in einer gegeD die guten Sitten verstoßenden Weise Schaden zufügt." (Kommissionsbericht S. 104.) ») Motive S. 727. 3) RGZ. Bd. 48, S. 114.

14

Die Verwendung des Begriffs „die guten Sitten" im BGB.

oft wiederholte Formel besagt, daß eine Handlung gegen die guten Sitten verstößt: 1. wenn sie an sich unsittlich ist; 2. wenn das erstrebte Ziel unsittlich ist; 3. wenn die Verknüpfung von diesem (an sich erlaubten) Mittel mit diesem (ebenfalls an sich erlaubten) Ziel unsittlich ist oder wenn zwischen Mittel und Ziel kein angemessenes Verhältnis besteht; und schließlich 4. wenn sie zum Ruin des Gegners führt. Die ersten drei Tatbestände dieser Einteilung geben zu Bemerkungen kaum Anlaß. Sie sind nichts, als die logische Unterscheidung der Möglichkeiten, wo in einer Kette von Geschehnissen, die aus Handlung und Ziel besteht, der Verstoß gegen die guten Sitten in Erscheinung treten kann. Was ein solcher Verstoß ist, was unter guten Sitten zu verstehen ist, wird durch diese Einteilung nicht klargestellt.1) Der vierte Satz — den die Gerichte nur in Boykottsachen zur Anwendung gebracht haben — enthält ein tatsächliches Merkmal dessen, was als unsittlich zu verdammen ist: Die Herbeiführung des Ruins eines Andern verstößt, so sagen die Gerichte, gegen die guten Sitten. Erst die Anwendung dieses Satzes im Einzelfall wird ergeben, ob in ihm mehr ausgesprochen ist, als die Anerkennung des Rechtes des Bürgers auf sein Dasein, das den Vorschriften der Reichsverfassung zum Schutz der Persönlichkeit, der Freiheit, der wirtschaftlichen Existenz zu Grunde liegt. III. Die Auslegung des § 826 BGB. durch die Rechtslehre. Eine Untersuchung des Begriffs „gute Sitten" ist in „systematischer Durchdringung des Gedankens", wie Stammler1) sagt, noch nicht geleistet. In der Theorie herrscht Einigkeit darüber, daß „gute Sitten" nicht im Sinne gewohnheitsmäßiger Übung — Sitte — zu verstehen ist. Vorwiegend wird die Auffassung vertreten, Sitte sei hier im Sinne von Sittlichkeit, Moral gemeint. Streit herrscht darüber, ob die Anschauungen der beteiligten Kreise zu berücksichtigen sind, oder ob der Einheit der Rechtsordnung eine Einheit der Sittlichkeit entspricht.3) Von Tuhr4) versteht unter guten Sitten die Vorschriften der Sittlichkeit, der Moral; ihm stimmt Enneccerus') zu. Planck') stellt auf das Gesamtbewußtsein des Volkes über das, was die Sittlichkeit erfordert, ab. Die Anschauungen der beteiligten Kreise können und müssen Berücksichtigung finden, soweit sie denen der Allgemeinheit nicht widersprechen. Dernburg7) verweist auf die geläuterte nationale Anschauung; er nennt8) die mit einem ') VgL Nipperdey, Verhandlungen des 34. Deutschen Juristentages, Bd. 1, S. 405. Lehre vom richtigen Recht, 2. Aufl., S. 295. Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, S. 257. *) Der allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, Bd. 2, Teil 2, S. 22. 6 ) Lehrbuch des bürgerlichen Rechts § 178, Anm. 3. *) Kommentar, 4. Aufl. Anm. I l a zu § 138. ') SchuldverhBltnisse, Bd. 2 § 393 Z. 3. ») Schuldverhaltnisse, Bd. 1 § 125 II. f) 3)

14

Die Verwendung des Begriffs „die guten Sitten" im BGB.

oft wiederholte Formel besagt, daß eine Handlung gegen die guten Sitten verstößt: 1. wenn sie an sich unsittlich ist; 2. wenn das erstrebte Ziel unsittlich ist; 3. wenn die Verknüpfung von diesem (an sich erlaubten) Mittel mit diesem (ebenfalls an sich erlaubten) Ziel unsittlich ist oder wenn zwischen Mittel und Ziel kein angemessenes Verhältnis besteht; und schließlich 4. wenn sie zum Ruin des Gegners führt. Die ersten drei Tatbestände dieser Einteilung geben zu Bemerkungen kaum Anlaß. Sie sind nichts, als die logische Unterscheidung der Möglichkeiten, wo in einer Kette von Geschehnissen, die aus Handlung und Ziel besteht, der Verstoß gegen die guten Sitten in Erscheinung treten kann. Was ein solcher Verstoß ist, was unter guten Sitten zu verstehen ist, wird durch diese Einteilung nicht klargestellt.1) Der vierte Satz — den die Gerichte nur in Boykottsachen zur Anwendung gebracht haben — enthält ein tatsächliches Merkmal dessen, was als unsittlich zu verdammen ist: Die Herbeiführung des Ruins eines Andern verstößt, so sagen die Gerichte, gegen die guten Sitten. Erst die Anwendung dieses Satzes im Einzelfall wird ergeben, ob in ihm mehr ausgesprochen ist, als die Anerkennung des Rechtes des Bürgers auf sein Dasein, das den Vorschriften der Reichsverfassung zum Schutz der Persönlichkeit, der Freiheit, der wirtschaftlichen Existenz zu Grunde liegt. III. Die Auslegung des § 826 BGB. durch die Rechtslehre. Eine Untersuchung des Begriffs „gute Sitten" ist in „systematischer Durchdringung des Gedankens", wie Stammler1) sagt, noch nicht geleistet. In der Theorie herrscht Einigkeit darüber, daß „gute Sitten" nicht im Sinne gewohnheitsmäßiger Übung — Sitte — zu verstehen ist. Vorwiegend wird die Auffassung vertreten, Sitte sei hier im Sinne von Sittlichkeit, Moral gemeint. Streit herrscht darüber, ob die Anschauungen der beteiligten Kreise zu berücksichtigen sind, oder ob der Einheit der Rechtsordnung eine Einheit der Sittlichkeit entspricht.3) Von Tuhr4) versteht unter guten Sitten die Vorschriften der Sittlichkeit, der Moral; ihm stimmt Enneccerus') zu. Planck') stellt auf das Gesamtbewußtsein des Volkes über das, was die Sittlichkeit erfordert, ab. Die Anschauungen der beteiligten Kreise können und müssen Berücksichtigung finden, soweit sie denen der Allgemeinheit nicht widersprechen. Dernburg7) verweist auf die geläuterte nationale Anschauung; er nennt8) die mit einem ') VgL Nipperdey, Verhandlungen des 34. Deutschen Juristentages, Bd. 1, S. 405. Lehre vom richtigen Recht, 2. Aufl., S. 295. Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, S. 257. *) Der allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, Bd. 2, Teil 2, S. 22. 6 ) Lehrbuch des bürgerlichen Rechts § 178, Anm. 3. *) Kommentar, 4. Aufl. Anm. I l a zu § 138. ') SchuldverhBltnisse, Bd. 2 § 393 Z. 3. ») Schuldverhaltnisse, Bd. 1 § 125 II. f) 3)

I I I . Die Auslegung des § 826 BGB. durch die Rechtslehre

15

„guten sozialen Z u s t a n d " unvereinbaren Handlungen sittenwidrig. Endemann 1 ) spricht von den im Volk als allgemeingültig anerkannten u n d durch die Übung rechtlich bestätigten Sittenanschauungen. Hamburger*) verwendet f ü r den gleichen Gedanken den Ausdruck: „Sittlichkeitsgefühl der billig u n d gerecht denkenden Volksgenossen." Staudinger 3 ) e n t n i m m t den Sittenbegriff der jetzigen Anschauung des sozialen Kreises, innerhalb dessen das Handeln vor sich geht. Nipperdey 4 ) stellt auf die Nichterfüllung der sittlichen Mindestforderungen der heute geübten Moral des deutschen Volkes f ü r das Handeln der Rechtsgenossen ab. Es handelt sich seiner Ansicht nach u m einen Begriff aus dem Grenzgebiet zwischen Recht und Moral. Oertmann*) versteht unter guten Sitten die Vorschriften der Moral. Seine Ausführungen stimmen mit den Überlegungen, die von T u h r anstellte, überein. Lotmar') wendet sich gegen die Berücksichtigung v e r s c h i e d e n e r Anschauungen, weil sie gegen die Gleichheit der Rechtsuchenden vor dem Gesetz verstieße. Daraus, daß das Wort „ S i t t e " im § 826 BGB. im Sinne von Sittlichkeit gebraucht ist, darf noch nicht geschlossen werden, daß j e d e Handlung, die mit der Sittlichkeit nicht im Einklang steht, ohne Weiteres rechtswidrig sei. § 826 BGB. enthalt einen Rechtssatz. Unsere Rechtsordnung ist auf unserer Moral aufgebaut, sie ist ohne unsere Vorstellung von Sittlichkeit nicht zu verstehen. Aber Recht ist nicht das Gleiche wie Moral, wie Sittlichkeit. Eine Handlung, die mit der Moral nicht vereinbar ist, wird erst dann rechtswidrig, verstößt erst dann gegen die guten Sitten, wenn sie von den billig und gerecht Denkenden getadelt wird. E s genügt demnach nicht schon der objektive Verstoß gegen die Sittlichkeit, sondern es muß die Mißbilligung dieses Verstoßes hinzukommen, um eine Handlung rechtswidrig erscheinen zu lassen. 7 ) Ich glaube, daß der Versuch, zu umschreiben, was den guten Sitten entspricht und was nicht, nur dann Erfolg haben kann, wenn er dem Ziel dieser Abgrenzung Rechnung trägt. Es handelt sich u m den Rechtsbegriff der guten Sitten, einen technisch juristischen Begriff, der Teil der Rechtsordnung ist. Seine Definition ist nur möglich unter Berücksichtigung der Funktion, die ihm im Rechtssystem zugewiesen ist. Es k o m m t daher nicht auf die philosophische Abgrenzung von Recht, Moral, Sitte und Anstand an. Es ist vielmehr darauf abzustellen, daß die Worte „gute Sitten" eine absichtlich gewählte u n s c h a r f e Formulierung sind. Sie sind verwandt, um f ü r Unvorhersehbares Vorsorge zu treffen.') >) Lehrbuch des bürgerlichen Rechts, § 200 Z. 4. >) Treu und Glauben im Verkehr, S. 17. 3 ) Neunte Aufl. zu § 138, Anm. I 2a und b. ') Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag, S. 61. ') Recht der Schuldverhfiltnisse, 5. Aufl., Anm. B l a zu § 138; Archiv f ü r bürgerliches Recht, Bd. 33, S. 221 ff. insbesondere S. 231. ') Der unmoralische Vertrag, S. 96. 7 ) Von Tuhr, (a. a. O. Bd. 2, Teil 2, S. 21) bezeichnet die Sittenordnung als sekundäre Rechtsquelle. •) Diese Anschauung liegt dem Beschluß des 29. Deutschen Juristentages zu Grunde, der „eine Änderung des BGB. nicht für geboten hielt, weil er das Vertrauen zur Deutschen Rechtsprechung hatte, daß sie wie bisher so auch ferner auf der Grundlage des § 826 die Interessen der individuellen Erwerbs- und ArbeitsbetStigung mit denen der freien gesellschaftlichen Selbsthilfe zu einer gerechten und sittlichen Ordnung vereinigen werde."

16

Die Verwendung des Begriffs „die guten Sitten" im BGB.

Sie dienen der Regelung der Fälle, die nicht ausdrücklich geregelt werden konnten. Lotmar1) nennt sie daher eine Waffe in der Hand des Richters zur Bekämpfung des Unmoralischen. Nipperdey*) betont, daß die Rechtsmoral des Volkes der entscheidende Faktor sei. Die Frage, ob die Aufnahme derart weiter Begriffe in die geschriebene Rechtsordnung Anerkennung eines umfassenden allgemeinen Rechts, des Naturrechts, oder Ausdruck dessen sein soll, daß das geltende Recht allen Gestaltungen des Lebens angepaßt ist, gehört nicht mehr in unseren Zusammenhang. Der Zweck des § 826 BGB. schließt es aus, eine starre Abgrenzung zu geben, was in seinem Sinne sittlich oder unsittlich ist. Die Rechtsprechung hat sich daher mit der erwähnten allgemeinen Wendung begnügt, die guten Sitten entsprächen dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden. Hier hat sich eine Streitfrage angeschlossen3.) Sind die guten Sitten ein einheitlicher Begriff, oder sind sie nachständen, Berufsklassen verschieden ? Oertmann4) meint, daß es neben der nicht wegzuleugnenden allgemeinen Volksmoral eine besondere Berufsmoral gibt. Diese Berufs- oder Standesmoral sei neben der allgemeinen zu beachten. Allerdings kann nichts, was von der Allgemeinheit mißbilligt wird, durch die Billigung eines engeren Kreises den Charakter der Unsittlichkeit verlieren. Aber ein Verhalten, gegen das vom Standpunkte der Allgemeinheit aus keine Einwendungen zu erheben sind, kann durch die Auffassung der Beteiligten zum Verstoß gegen die guten Sitten werden. Die Moral des engeren Kreises soll nach Oertmanns Meinung in Bezug auf die allgemeine Auffassung nur „praeter", nicht „contra" gelten.') Von Tuhr") teilt diese Ansicht. Maßgebend müsse sein, „was nach allgemeiner Anschauung von Angehörigen eines bestimmten Kreises als Minimum sittlicher Betätigung erwartet und verlangt wird."' Dersch7) nennt die Berücksichtigung der Anschauungen der beteiligten Kreise — die er für einen begrüßenswerten Fortschritt der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts erklärt — „einen weniger scharfen Maßstab." Das halte ich nicht für richtig. Allerdings sind z. B. die Sittenanschauungen der beteiligten Kreise des Arbeitskampfes von denen der Kaufleute verschieden. Beide 'bleiben aber Untergruppen der allgemeinen Sittenanschauung, die in unserer Rechtsordnung zum Ausdruck gekommen ist. Es kann zwar ein „anderer" Maßstab angelegt werden als bei Berücksichtigung fremder Standesanschauungen. Aber daß dieser Maßstab weniger scharf sein muß, leuchtet mir nicht ein. Dernburg8) wendet sich gegen die Berücksichtigung einer Berufs- oder Standesmoral. Er verwehrt dem Richter die Anpassung „an die vielleicht 1 ) Der unmoralische Vertrag S. 102. *) Kontrahierung» zwang und diktierter Vertrag, S. 60. 3 ) Vgl. oben S. 14. 4 ) Zivilrechtliche Folgen der Verrufserklärung, Verhandlungen des 28. Deutschen Juristentages, Bd. 2, S. 33ff. 6 ) A. a. O. S. 71. «) Allgemeiner Teil, Bd. 2, Teil 2, S. 24. 7 ) Bensh. Samml. Bd. 2 RAG. S. 217; Bd. 4 RAG., S. 223 und fortlaufend in dieser Sammlung in Anmerkungen zu Urteilen, die § 826 BGB. anwenden. 8 ) Schuldverhältnisse, Bd. 2, § 393, Z. 3.

III. Die Auslegung des § 826 BGB. durch die Rechtslehre

17

rohen Auffassungen der Bevölkerungsklassen, denen der Schädiger angehört." Im Ergebnis enthält dieser Satz keine Abweichung von der geschilderten herrschenden Meinung. Rohe Auffassungen fallen aus dem Rahmen des Zulässigen. Sie widersprechen den allgemein gebilligten Grundsätzen. Auch die weiteren Bedenken gegen die Berücksichtigung der Anschauungen der beteiligten Kreise scheinen mir nicht stichhaltig. Formal kann der Schluß „ein Recht, eine Moral4' zwingend sein.1) Aber das, was die Verwendung des Sittenbegriffs ermöglichen soll, die Anpassung des im Richterspruch erscheinenden Rechts an die Vielgestaltigkeit des Lebens, hat mit dieser Folgerung nichts zu tun. Der Logik eines abgeschlossenen Systems steht die Weite der Tatsachen gegenüber. Gerade im Arbeitsrecht ergaben sich Fälle, in denen eine Berücksichtigung allgemeiner Anschauungen unmöglich erschien, weil sich die Allgemeinheit über diese speziellen, nur die Parteien von Arbeitsverhältnissen betreffenden Fragen noch keine Meinung gebildet haben konnte.2) Der Richter mußte sich in diesen Fällen mit noch größerem Aufwand von Phantasie als sonst bei Anwendung jener Formel vorzustellen suchen, was die „billig und gerecht Denkenden" sagen würden. Es hieße ihm eine unmögliche Aufgabe stellen, wollte man erwarten, daß er die Anschauungen gänzlich Unbeteiligter erfinden könnte. Es ist schwer genug, sich unter den Beteiligten Einzelne vorzustellen, die „billig und gerecht'4 denken, und ihre Meinung nachzuempfinden. Hier taucht eine weitere Frage auf: Gibt es das überhaupt, billig und gerecht denken ? Ist es nicht so, wie Baumbach3) in prägnanter Kürze meint: Wer billig denkt, denkt nicht gerecht, und wer gerecht denkt, kann nicht billig denken ? Die Römer nannten das Recht „ars boni et aequi44, die Kunst des Guten und Billigen. Sie sprachen von einer Kunst, nicht von einer Wissenschaft, weil sie nicht an die Möglichkeit glaubten, Recht und Billigkeit reibungslos, gleichsam mathematisch, in Einklang zu bringen. Sie hielten vielmehr den Ausgleich beider für ein wahres Kunstwerk.4) Und da die „billig und gerecht Denkenden44 jedenfalls nicht in der Weise wirklich anzutreffen sind, daß man sie nach ihrer Meinung fragen kann, bleiben sie Schemen, die dem Geiste der Gerichte entspringen. Der Richter bedient sich ihrer als Maske. Er sagt nicht nur: „Ich, der Richter, finde dies unbillig!44, er sagt darüber hinaus: „Die billig und gerecht Denkenden, deren Stimme ich bin, mißbilligen dies!44 Es liegt in der menschlichen Natur, daß der Richter zwischen seiner Auffassung und der der billig und gerecht Denkenden keinen Unterschied sieht. Was er für unsittlich hält, müssen auch die Kinder seiner Phantasie, die billig und gerecht Denkenden, verwerfen. Auch wenn er auf die Anschauungen der beteiligten Kreise abstellt, kann er nicht weitergehen, als daß er sich selbst in die Lage eines ') Lotmar, Der unmoralische Vertrag, S. 96 ff. Vgl. Kurlbaum, Die Organisationsklausel, bei Kaskel, Seminarvorträge, Bd. 1, S. 87. Wettbewerbsrecht, S. 175. Rosenthal, Wettbewerbsgesetz, Vorwort zur 5. Auflage.

2) 3) 4) 2

Oeltinger

18

Die Verwendung des Begriffs „die guten Sitten" im BGB.

Beteiligten hineinzudenken sucht. Auch dann bleibt das im Namen der billig und gerecht Denkenden gesprochene Urteil s e i n Urteil. Baumbach 1 ) f a ß t diese Erkenntnis dahin zusammen, daß letzten Endes das Anstandsgefühl „älterer Herren in gehobener Richterstellung" entscheide. E r wirft der Rechtsprechung, die vom Anstandsgefühl der billig und gerecht Denkenden spricht, vor, daß sie „man möchte sagen in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise in das Prokrustesbett der Sittlichkeit Dinge zwängt, die mit Moral nichts zu t u n h a b e n . " Diesen Schluß halte ich nicht für richtig. Die Rechtsprechung zwängt nämlich n i c h t s in das „Prokrustesbett der Sittlichkeit". Der Rechtsbegriff der guten Sitten läßt der Entscheidung des Richters weiten Spielraum. E r ermöglicht es, die Grundgedanken der Rechtsordnung auch dort zur Anwendung zu bringen, wo es Fragen zu beantworten gilt, deren Entscheidung nicht ausdrücklich im Gesetz enthalten ist. 2 ) Streitigkeiten, die nur durch Anwendung der Grundgedanken unserer Rechtsordnung entschieden werden können, haben aber — und darin liegt meines Erachtens Baumbachs Fehler — mit den Grundlagen dieser Rechtsordnung, mit Sittlichkeit und Moral „zu t u n " . Ihre Entscheidung wäre nicht möglich, ginge man nicht auf diese zurück. ') Wettbewerbsrecht, S. 174. ") Oben S. 16.

Zweiter Teil. § 826 BGB. in arbeitsrechtlichen Urteilen. Die Hauptanwendungsfälle des § 826 BGB. im Arbeitsrecht sind in zwei Gruppen zu trennen. Streitigkeiten, die auf Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Arbeitnehmerschaft oder der Arbeitgeberschaft zurückzuführen sind, müssen von Kämpfen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern unterschieden werden. I. Streitigkeiten innerhalb der Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberschaft. Die Organisationen der Arbeitnehmer, die bis zum Erlaß der neuen Reichsverfassung durch § 152 GO. beengt und unter Sonderrecht gestellt waren,1) erstarkten mit ihrer Anerkennung2) durch Art. 159 RV. Die Gewährleistung der Koalitionsfreiheit,3) das heißt der Freiheit, sich einer Organisation anzuschließen, ließ die Frage auftauchen, ob in ihr auch die Freiheit, sich keiner Organisation anzuschließen, enthalten sei. Hier ist nicht zu erörtern, ob es eine solche „negative Koalitionsfreiheit" gibt; es gilt nur die Folgen des Erstarkens der Koalitionen und die Einwirkung ihrer Anerkennung auf das Verhältnis zwischen ihren Mitgliedern und den nicht organisierten Arbeitnehmern zu betrachten. In den ersten Jahren nach der Revolution lehnten Belegschaften häufig die Zusammenarbeit mit nicht oder anders organisierten Arbeitern ab. Diese Weigerung wurde bald deutlich erklärt, bald ließ eine Kündigung der Belegschaft den Arbeitgeber den Grund ahnen, ohne daß die Arbeiter sich ausdrücklich gegen den mißliebigen Mitarbeiter gewandt hätten. Wenn der Arbeitgeber die von der Belegschaft gewünschte Konsequenz zog und den Angegriffenen entließ, wurde das Gericht mit dessen Schadensersatzklage gegen die Belegschaft, den Betriebsrat oder einzelne Arbeiter, die sich bei der Aktion besonders hervorgetan hatten, befaßt. Die Entscheidung ist dem Gesetz nicht unmittelbar zu entnehmen. Die Arbeitskraft steht zwar nach Art. 157 Abs. 1 RV. unter dem besonderen Schutz des Reichs, aber dieser programmatische Satz macht sie noch nicht zum geschützten Recht im Sinne des § 823 BGB.4) Eine Vertragsbeziehung, •) Nach herrschender Meinung ist § 152 GO. durch Art. 159 RV. aufgehoben, v g l RGZ., Bd. 111, S. 199. Nipperdey (Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 3, S. 404 in § 5 zu Art. 159) gibt eine Gegenüberstellung der Ansichten. *) Vgl. auch Ziffer 1 der Vereinbarung zwischen Arbeitgeber- und ArbeitnehmerVerbänden vom 15. XI. 1918, RAB1. 1918, S. 874. 3 ) Über den Umfang der Koalitionsfreiheit im Sinne der Reichsverfassung vgl. Nipperdey a. a. O. §§ 6 und 7. 4 ) VgL Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reichs, zu Art. 157 Abs. 1. 2*

20

I. Streitigkeiten innerhalb der Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberschaft

die durch die Verdrängung verletzt sein könnte, besteht zwischen den verschiedenen Arbeitnehmern eines Unternehmers nicht. Die Klage kann mithin nur auf § 826 BGB. gestützt werden: n u r dann sind die Arbeitskollegen zum Schadensersatz verpflichtet, wenn ihr Verhalten gegen die guten Sitten verstößt. Die Entscheidung, was hier sittlich erlaubt, was zu verwerfen ist, muß die widerstreitenden Grundideen berücksichtigen, die beim Kampf um den Ausbau der Organisationen um Verwirklichung ringen. Der Gegensatz ist so bekannt, d a ß es genügen wird, ihn hier durch die Gegenüberstellung der Schlagwörter Individualismus und Kollektivismus zu kennzeichnen. A. Die Verdrängung aus der als Verstoß gegen die guten

Arbeit Sitten.

Die Rechtsprechung hat in der Mehrzahl der veröffentlichten Fälle im Verhalten der Belegschaft einen Verstoß gegen die guten Sitten gesehen. Das LG. F r a n k f u r t hatte sich am 29. V. 19221) mit einer Klage von Angehörigen der Christlichen Gewerkschaft gegen in einer freien Gewerkschaft organisierte Arbeiterausschußmitglieder zu befassen. Die Kläger waren lediglich wegen ihrer Nichtzugehörigkeit zu den freien Gewerkschaften durch Streik aus der Arbeit verdrängt worden. Das Gericht sagt: „Das Verhalten der Arbeiterschaft verstößt im Hinblick auf die Gewaltanwendung und die entfalteten Terrorakte gegen die guten Sitten." Das OLG. F r a n k f u r t bestätigte am 3. X I . 19222) diese Entscheidung. Es f ü h r t e aus: „ E s widerspricht den Anschauungen aller billig und gerecht Denkenden, wenn Arbeitnehmer wegen ihrer durch den Anschluß an einen bestimmten Verband bekundeten politischen und wirtschaftlichen Stellungnahme aus ihrer Arbeitsstelle herausgedrängt und dadurch brotlos gemacht werden,' ganz abgesehen davon, daß die angewandten Mittel, Bedrohung mit Zwang und Gewalt, gegen die guten Sitten verstoßen." Dieses Urteil ist bemerkenswert, weil es die Verdrängung um der Verbandszugehörigkeit willen für sittenwidrig erklärt, während dasLandgericht diese Frage umging. Eine Begründung, inwiefern die Verdrängung gegen die guten Sitten Verstößt, gibt das Oberlandesgericht nicht. Das OLG. J e n a meint im Urteil vom 6. X I . 1922 3 ), die Einwirkung auf Arbeiter, einer Organisation beizutreten, könne an sich erlaubt sein. Doch dürfe sie nicht mit Mitteln geschehen, die die Freiheit des E n t schlusses aufheben. „ E i n solches sittenwidriges Mittel ist es aber auch, wenn durch Streik der ganzen Arbeiterschaft eines größeren Betriebes es einem Arbeiter, weil er einer bestimmten Gewerkschaft nicht beitreten will, unmöglich gemacht werden soll, im Betrieb zu bleiben, seine Arbeits') KA. K a r t e „Organisationszwang" vom 14. VI. 1923. J ) KA. K a r t e „Organisationszwang" vom 14. VI. 1923. 3 ) NZ£A. 1924, S. 501.

A. Die Verdrängung aas der Arbeit als Verstoß gegen die guten Sitten

21

kraft in diesem Berufszweig zu verwerten. Die gänzliche Stillegung eines größeren Betriebes und die gänzliche Verdrängung eines Arbeiters aus gleichartigen Betrieben stehen in keinem angemessenen Verhältnis zu den erstrebten Vorteilen." Die Besonderheit des Falles lag darin, daß der Ausschluß aus dem einen Betrieb dem Ausschluß aus dem ganzen Berufszweig gleichkam. Das Gericht stellt sein Urteil dementsprechend darauf ab, daß die Existenz des Betroffenen durch die Verdrängung gefährdet wurde.1) Das Urteil besagt weiter, die Stillegung eines Betriebes um eines Einzelnen willen sei sittlich nicht gerechtfertigt. Darin liegt die stillschweigende Anerkennung der Verbundenheit von Belegschaft, Betrieb und Volksgesamtheit. Interessen des Staates wurden nach Auffassung des OLG. Jena im Jahre 1922 gefährdet, wenn die Arbeit ruhte. Das ist nichts weniger als die Aufstellung einer allgemeinen Friedenspflicht. Diese Entscheidung wird nicht allein von Erwägungen getragen, die die Beziehungen zwischen Belegschaft und Einzelarbeiter betreffen, sondern von der wirtschafts- und staatspolitischen Auffassung der Richter. Das LG. Altona erklärte im Jahre 19222) jede Verdrängung für unsittlich, weil durch sie in die Rechtsbeziehungen zwischen dem Verdrängten und dem Arbeitgeber eingegriffen werde. Dieses Vertragsverhältnis ginge nur die Parteien an, die Einmischung Dritter widerspreche dem Gefühl aller billig und gerecht Denkenden. Das Urteil übersieht, daß jene außenstehenden Beurteiler nicht allein diese „Einmischung", sondern auch die Bedeutung der Organisationen und des Anschlusses der einzelnen Arbeiter an die Organisationen würdigen müssen. Im Jahre 1922 wurde das Reichsgericht zum ersten Mal mit der Frage des Organisationszwanges befaßt. Sein Urteil vom 8. XI. 19223) erklärt die Auffassung des OLG. Dresden, die Streikdrohung zur Erzwingung der Entlassung eines nicht organisationsangehörigen Arbeiters sei im wirtschaftlichen Kampfe üblich und verdiene keine Mißbilligung, weil die Erfüllung der nicht unbilligen Forderung dem Gegner — dem Arbeitgeber — keine schweren wirtschaftlichen Nachteile bringe, für irrtümlich. Nach Ansicht des Reichsgerichts handelt es sich hier um einen „Kampf um die Macht." „Der Druck auf die Betriebsleitung, um sie zu einer ungesetzlichen Handlung zu bringen, verstößt gegen die guten Sitten." 4 ) Mit den Worten „Kampf um die Macht" ist in Wahrheit nichts Erhebliches gesagt. Kämpfe gehen letztlich immer um eine „Macht", etwa um die Macht, über eine größere Geldsumme verfügen zu können. Selbst wenn man in diesem Ausdruck hier den Gedanken sehen will, die Belegschaft habe gekämpft, um den Willen Anderer zu beugen, muß man die Fest') Die Parallele zu der ExiBtenzgefährdung in Kartellverträgen zieht Tschierschky, Kartellzwang und Tarifzwang, Arb. R. 1925, S. 655. *) Urteil ohne Datum, JW. 1922, S. 1733 Nr. 1; NZfA. 1923, S. 321. Zustimmend Baum JW. a. a. 0. Seine Ausfahrungen betreffen nicht die hier interessierenden Fragen. 3 ) JW. 1923, S. 293; NZfA. 1923, S. 321; LZ. 1923, S. 107; Rechtsprechung des Reichsgerichts, Bd. 2, S. 107. *) Dazu LZ. a. a. O. zustimmende Anmerkung der Schriftleitung, die die Auffassung des Oberlandesgerichts für „unverständlich" erklärt.

22

I. Streitigkeiten innerhalb der Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberschaft

Stellung der Unsittlichkeit durch einen Satz ohne jede Erklärung, warum dieser Versuch einer Willensbeeinflussung den guten Sitten widerstreitet, bedauern. Das Urteil läßt nicht erkennen, was eigentlich den „Kampf um die Macht" sittenwidrig erscheinen läßt.1) Es gibt keinen Aufschluß darüber, wo das Reichsgericht die Grenze zwischen erlaubter und verbotener Willensbeeinflussung zu ziehen beabsichtigt. Das Urteil des LG. Torgau vom 8. I. 19232) sieht in der Verdrängung Verstöße gegen die §§ 823 und 826 BGB. Der Abdruck läßt leider nicht erkennen, in welcher Weise das Gericht die Anwendung des § 826 BGB. begründete. Das AG. Hamburg erklärt am 28. I. 19243), daß die Hinderung an der Verwertung der Arbeitskraft gegen die guten Sitten verstieße. E s sagt: „Der Staat hat die Freiheit der Arbeitskraftverweitung mit einem besonderen Schutz umkleidet, indem die Reichsverfassung sie in den Artikeln 157 und 163 unter den Grundrechten eines jeden Deutschen aufzählt. Dadurch, daß die Beklagten den Kläger arbeitslos machten, haben sie dem Gefühl aller billig und gerecht Denkenden, wie es in den Artikeln 157 und 163 RV. seinen Ausdruck findet, entgegengehandelt." Das LG. Hamburg hat dies Urteil am 29. V. 19254) bestätigt. Der Gedanke des Amtsgerichts besticht. Das, was die Allgemeinheit wünscht, was die unfaßbaren „billig und gerecht Denkenden" wollen, wird am ehesten im Staatsgrundgesetz, in der Verfassung zum Ausdruck kommen. Es ist unsittlich, anzugreifen, was die Verfassung schützt. Paßt diese Überlegung aber auch auf den den Gerichten zur Entscheidung vorgelegten Fall ? Es mag unsittlich sein, die Betätigung derArbeitskraft zu behindern.Ist deshalb die Verdrängung aus gerade dieser Arbeitsstelle schon ein Angriff auf die Arbeitskraft ? Hier erhielt doch ein anderer Arbeiter die Stelle des Klägers. Die Summe der Beschäftigten blieb unverändert. Wird der Einzelne in der Verwertung seiner Arbeitskraft geschützt, oder wird die Arbeitskraft der Gesamtheit unter den Schutz der Verfassung gestellt ? Diese zweite Annahme würde dem Sinn der Grundrechte nicht entsprechen. Schutz der Arbeitskraft meint Schutz des Einzelnen, meint Sicherung der Arbeitsmöglichkeit für alle einzelnen Bürger, aber nicht bloß Erhaltung einer gleichbleibenden Zahl von Arbeitsstellen. Das Kammergericht fand im Urteil vom 5. VII. 19245) in der Verdrängung aus der Arbeit selbst da einen Verstoß gegen die guten Sitten, wo die Einstellung des Verdrängten die Bestimmungen des Tarifvertrages verletzt hatte. Mit Recht wendet sich Nipperdey 6 ) gegen diese Auffassung. Von einem Verstoß gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden könne keine Rede sein, denn Millionen von Volksgenossen seien mit einem derartigen Vorgehen einverstanden. Es gäbe keine allgemeine Volksüberzeugung, daß solches Verhalten den guten Sitten widerstreite. Gegenüber dem Urteil des Kammergerichts verdient Hervorhebung, daß die Belegschaft sich in einer Abwehrstellung befand. Der Arbeitgeber Vgl. das Urteil des RG. vom 30. V. 1929, unten S. 42. *) GKG. X X V I I I S. 141; Vgl. auch KA. Karte „Organisationszwang" vom 14. VI. 1923. 3 ) Hans. GZ. A. 1926 S. 41; zustimmende Anmerkung von Silberschmidt a. a. O. 4) Hans.GZ. A. 1926, S. 41. *) JW. 1925 S. 269. •) JW. 1925 S. 270.

A. Die Verdrängung aus der Arbeit als Verstoß gegen die guten Sitten

23

h a t t e durch die Einstellung des Klägers gegen den Tarifvertrag verstoßen, der die ausschließliche Benutzung des Arbeitsnachweises der Organisation vorschrieb. Während die Gerichte dem sich Verteidigenden sonst eine Überschreitung seiner Befugnisse aus Erregung und Bestürzung nachsehen, macht das Urteil hier der Belegschaft, die den zu ihren Gunsten geschlossenen Tarifvertrag gewahrt wissen wollte, den schweren Vorwurf der Unsittlichkeit. Nipperdeys Anmerkung trifft das Grundproblem der Anwendung des Sittenbegriffs im Arbeitsrecht: Es fehlt an einer allgemein gültigen Volksüberzeugung darüber, was sittlich ist und was nicht. Das Urteil des AG. H a m b u r g vom 3. I. 19251) und das Berufungsurteil des LG. H a m b u r g vom 29. V. 19252) gehen an diesem Problem vorbei. Während das Amtsgericht aus besonderen tatsächlichen Gründen, weil es nämlich den Kläger f ü r unverträglich ansah, das Verhalten der Belegschaft f ü r berechtigt hielt, verurteilte das Landgericht die Beklagten. Es sieht den Grund zur Verdrängung in der Verbandszugehörigkeit des Klägers. Es sagt, dieses Hinausdrängen sei sittenwidrig, ohne daß es noch darauf ankäme, ob die wirtschaftliche Existenz des Klägers bedroht wird. 3 ) W a r u m dieses Verhalten unsittlich ist, worin das Kennzeichen der Unsittlichkeit liegt, sagt das Urteil nicht. Das LG. Stettin f ü h r t e am 8. VII. 19254) aus, daß „der den Klägern durch ihre Entlassung aus der Arbeit drohende Schaden in keinem Verhältnis stand zu dem Vorteil, den die übrigen Arbeiter oder der Deutsche Bauarbeiterverband durch den Anschluß von nur zwei Arbeitern zu diesem großen Verband erlangten." Darum, und weil eine Streikandrohung lediglich zum Kampf um die politische Macht vorgenommen sei, sieht das Gericht einen Verstoß gegen die guten Sitten als gegeben an. Dem stimmt Oertmann 5 ) zu. E r meint: „Das Verhalten der Beklagten kann nach sozialethischen wie nach positivrechtlichen Gesichtspunkten, insbesondere auch gemäß RV. Art. 159, 163 nicht geduldet werden." Das Urteil scheint mir die maßgebliche Erwägung zu enthalten, was Prüfstein f ü r die Beurteilung der Verdrängung aus der Arbeit zu sein h a t : Welche Vorteile genießen die Täter, welche Nachteile treffen die Verdrängten ? Das vom Reichsgericht als Kennzeichen der Unsittlichkeit angesprochene Mißverhältnis zwischen Ziel und Schaden wird in anderen Urteilen fast n u r nach der Schadensseite hin erörtert. Dort findet sich dann häufig der Satz, die Vernichtung einer Existenz sei stets unsittlich — offenbar, weil ein wirtschaftliches Ziel zu ihrer nicht auf das Wirtschaftliche beschränkten Wirkung begrifflich in keinem erträglichen Verhältnis stehen könne. Das LG. Stettin beginnt hier, daß Ziel genauer zu betrachten. Das bringt die Frage, was Maßstab der Sittlichkeit sein kann, der Lösung näher. Der Bewertung des Ziels durch das LG. ist jedoch nicht zuzustimmen. Den !) *) 3 ) 4 ) 5 )

HansGZ. A. 1925 S. 186. HansGZ. A. 1925, S. 186; J W . 1927, S. 298; NZfA. 1925, S. 611. Grundsätzlich zustimmend: Oertmann HansGZ. A. 1925, S. 188. J W . 1925, S. 2821. J W . 1925, S. 2821.

24

I. Streitigkeiten innerhalb der Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberschaft

Beklagten k a m es nicht n u r darauf an, die Kläger der Gewerkschaft als neue Mitglieder zuzuführen. Sie waren vielmehr bestrebt, ihre Organisation zur allumfassenden auszubauen. Und das war ihnen n u r möglich, wenn sie die e i n z e l n e n Berufsgenossen zum Beitritt bewegten. Der Beitritt der Kläger sollte ein Mittel zur Erreichung dieses weiteren Ziels sein, f ü r sich allein war er keineswegs Selbstzweck. Als Ziel, das dem angerichteten Schaden gegenObersteht, h ä t t e daher nicht die Stärkung des Verbandes u m zwei — obendrein unwillige! — Mitglieder, sondern die umfassendere Verwirklichung des Prinzips gewerkschaftlicher Organisation in Rechnung gestellt werden müssen. F ü r seine Bewertung h ä t t e Art. 159 RV., die Anerkennung der Organisationen, einen Anhalt gegeben. Das AG. Braunschweig erklärt im Urteil vom 10. X I . 19251) den Boykott nicht verbandsangehöriger Musiker durch die organisierte Mehrheit einer Kapelle f ü r sittenwidrig, weil durch ihn die individuelle Freiheit beschränkt werde. Seine Entscheidung wurde vom LG. Braunschweig 2 ) aufgehoben. Ahnlich verlief ein Rechtsstreit, der am 4. X I I . 1925 3 ) vom AG. H a m b u r g und auf die Berufung hin am 15. IV. 19263) vom LG. H a m b u r g entgegengesetzt entschieden wurde. Der Fall war etwas anders gelagert als die bisher erwähnten. Der Kläger wurde nicht aus der Arbeitstelle verdrängt, sondern er wurde im Hinblick darauf, daß er nicht zur Organisation gehörte, auf einen ungünstigeren Platz der Liste der Anwärter f ü r Staatsarbeiter gestellt. Das Amtsgericht sah darin „die offenbar sittenwidrige Gesinnung, daß die Mehrheit das Recht habe, die Minderheit zu terrorisieren." Wenn m a n das Verhalten der Arbeiterschaft hier tatsächlich als Versuch, die Minderheit zu terrorisieren, werten könnte, wäre der Verstoß gegen die guten Sitten allerdings offenbar. Mit Recht sagt jedoch das LG., daß nicht mehr vorliegt, als der Ausdruck der Meinung der Beklagten, der Kläger eigne sich f ü r eine feste Anstellung im Staatsdienst weniger als andere Anwärter. Diese geringere Eignung folgt daraus, „ d a ß er nicht gewerkschaftlich organisiert ist und daß dadurch Unruhe in die übrige Arbeiterschaft getragen, Streik und Lohnausfälle entstehen können. Ein solcher Gedankengang läuft nicht der Denkart aller billig und gerecht Denkenden der b e t r e f f e n d e n V o l k s k r e i s e entgegen, wenn er auch von einem über dem Wirtschaftskampf stehenden höheren und die Freiheit des Einzelnen richtig wertenden Standp u n k t aus nicht zu billigen ist." Dieses Urteil h a t nur geringen Widerhall gefunden. Dabei bringt es schon den Übergang von dem allzu umfassenden „Anstandsgefühl a l l e r billig und gerecht Denkenden" zur „Auffassung der beteiligten Kreise"; einen Übergang, den Flatow 4 ) im Urteil des Reichsarbeitsgerichts vom 21. I I I . 19286) als bahnbrechend und neu begrüßt. Das LG. H a m b u r g f ü h r t hier den Gedanken des LG. Stettin 8 ) fort. Es stellt das Ziel des Verhaltens der 1 ) KA. K a r t e „Boykott, 2. im Arbeitsrecht, Einzelfälle I " vom 1. X. 1927 mit zustimmender Anmerkung von Erdel. 2 ) Urteil vom 3. VI. 1926, unten S. 32. 3 ) Beide: Hans GZ. A. 1926, S. 150. *) Benäh. Samml. Bd. 2, RAG., S. 217. ') Unten S. 57. ') Urteil vom 8. VII. 1925, oben S. 23.

A. Die Verdrängung aus der Arbeit als Verstoß gegen die guten Sitten

25

Beklagten richtig dar. Es kam ihnen nicht darauf an, ihrer Gewerkschaft ein Mitglied zuzuführen, sondern darauf, die Interessen der gesamten organisierten Arbeiterschaft, hier besonders das Interesse an der Erhaltung des Arbeitsfriedens, zu wahren. Das LC. Bremen bestätigt am 6. II. 19261) ein Urteil des AG. Bremen, das die Schadensersatzklage eines Entlassenen gegen die Belegschaft für berechtigt erklärt hatte, weil das Druckmittel — Erzwingung der Entlassung — nicht in angemessenem Verhältnis zum Ziel — Verhinderung von Überstundenarbeit — gestanden hätte. Das Landgericht führt aus, daß die Handlung hier „unter Zugrundelegung der Anschauungen des sozialen Kreises, innerhalb dessen das Handeln vor sich ging," gegen die guten Sitten verstieß. Ebenso wie das zuvor erwähnte Urteil des LG. Hamburg fand dieses Urteil mit seiner Neuformulierung des Kreises, aus dessen Anschauungen die Regeln der guten Sitten zu entnehmen seien, kein Echo. Das Hanseatische OLG. hat sich mit der Frage der Verdrängung aus der Arbeitsstelle in seinem umfangreichen Urteil vom 1. VI. 19262) auseinandergesetzt. Es geht davon aus, daß die negative Koalitionsfreiheit durch Art. 159 RV. gesichert sei. Es sieht in dieser Bestimmung auch ein Schutzgesetz, sodaß die Schadensersatzklage schon auf Grund von § 823 Abs. 2 BGB. berechtigt sei. Darüber hinaus erörtert das Gericht auch die Frage der Sittenwidrigkeit. „Erwägt man, daß jeder Arbeiter grundsätzlich die Freiheit hat, sich einer Organisation anzuschließen oder nicht, so will es scheinen, daß schon jeder Versuch eines noch so leichten Druckes, weil völlig unsachlich, als gegen die guten Sitten verstoßend empfunden werden müßte. Allein es gehört zur Kehrseite der sozialen Bindung, in der der einzelne Arbeitnehmer heute steht, daß jene Freiheit nicht die volle Beachtung finden kann, die ihr vom rein individualistischen Standpunkt aus gebührte." Die Bindung, von der das Gericht hier spricht, bedingt noch nicht die Anerkennung der „Belegschaft" als rechtliche Zusammenfassung, als Gesamtkörperschaft, als Rechtssubjekt. Sie ist zunächst nur Ausdruck dessen, daß der Einzelne, der die Vorteile der kollektiven Zusammenfassung genießt, auch zur Rücksichtnahme auf die Interessen eben dieser Zusammenfassung gehalten ist. 3 ) Die Sittenwidrigkeit liegt nach Ansicht des Gerichts im Mißverhältnis zwischen dem Ziel, daß alle Arbeiter des Betriebs organisiert seien, und dem Mittel zu seiner Verwirklichung, der Schädigung des Klägers. Wichtig ist, daß dieses Urteil, das die Verdrängung als unsittlich brandmarkt, die bloße Einwirkung auf die Entschlußfreiheit noch nicht für unerlaubt ansieht. Das könnte der Beginn einer Abkehr vom Freiheitsgedanken liberalistischer und individualistischer Prägung sein. Die folgende Erwägung des Urteils, daß der Vorteil für die Belegschaft in keinem er') JW. 1927, S. 289; mit zustimmender Anmerkung von Molitor. 2 ) HansGZ. A. 1926, S. 145; Arb.R. 1927, S. 320. 3) Vgl. Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, 2. Aufl., S. 82; unten S. 30.

26

I. Streitigkeiten innerhalb der Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberschaft

träglichen Verhältnis zu dem Schaden steht, den der Verlust der Arbeitsstelle für den Betroffenen mit sich bringt, ist mit diesem Schluß kaum vereinbar. Sie ist völlig auf individualrechtliche Wertungen gegründet. Es fehlt die Stellungnahme dazu, ob der Anschluß an die Organisation — a b g e s e h e n von der Willensbeeinflussung, die jedenfalls wenig erfreulich bleibt — den Klägern einen Nachteil gebracht hätte, oder ob all die Gedanken, die zum Beispiel zur Schaffung von Zwangsinnungen geführt haben, nicht auch hier auf einen ähnlichen Fall anzuwenden sind. Diese Lücke im Urteil — die dem Urteilsfasser vermutlich garnicht bewußt wurde — bestärkt den Eindruck, den die angeführte Urteilsreihe macht: daß die Gerichte dem Organisationsprinzip keineswegs freundlich gegenüberstehen, und daß sie mit der Freiheit des einzelnen Arbeiters die Freiheit des Arbeitsmarktes gegen die Gewerkschaften zu verteidigen suchen. In diesem Zusammenhang ist es gleichgültig, ob die Abneigung der Gerichte gegen die Gewerkschaften berechtigt oder unberechtigt ist. Wichtig ist, daß die Vorstellung der Richter von dem, was die guten Sitten erfordern, durch ihre Einstellung zu "den Gewerkschaften beeinflußt erscheint. Darin ist kein bewußter Mangel an Objektivität zu sehen. Die Urteile sind nicht „auf Grund" von Sympathien und Antipathien gesprochen. Aber die Vorstellung der Richter vom Anstandsgefühl der billig und gerecht Denkenden spiegelt notgedrungen ihre persönlichen Werturteile wieder. Das LG. Magdeburg sagt im Urteil vom 3. VI. 19261), das AG. Rudolstadt am 17. X I I . 19262), das LAG. Dresden am 29. I X . 19273) und ebenso das LG. Dresden am 12. X I . 19274), daß die Verdrängung gegen die guten Sitten verstößt, wenn sie aus politischen Gründen oder wegen der Organisationszugehörigkeit erfolgt. Da nur kurze Zusammenfassungen der Urteile veröffentlicht sind, ist nicht festzustellen, wie sie den Begriff der guten Sitten abgrenzen. Das LAG. Altona schließt sich am 15. X I I . 19275) eng an das erwähnte Urteil des Hanseatischen OLG. vom 1. VI. 19266) an. Es erklärt, daß ein gewisser Druck auf Nichtorganisierte, um sie zum Beitritt zu bewegen, erlaubt sei, daß aber das Hinausdrängen aus einer Stellung sittenwidrig sei. Worin die Sittenwidrigkeit liegt, bleibt ungesagt. Auch die Urteile des LAG. Elberfeld vom 30. V. 1928') und des LAG. Frankfurt/Main vom 13. IX. 19288) sagen, daß die Verdrängung eines Nichtorganisierten durch Druck auf den Arbeitgeber gegen die guten Sitten verstoße. Aus besonderen Gründen hielt das LAG. Frankfurt hier das Verhalten der Belegschaft für berechtigt. 2 ) Arb.R. 1927, S. 836, Nr. 751 (Meissinger). ) Arbeitsrecht 1926, S. 74. ) ArbR. Rechtsprechung 1928, Nr. 1862; NAK. Karte „Grundsätze" vom 1. I. 1928. ') ArbR. Rechtsprechung 1928 Nr. 2653; Arb. Prax. 1928, S. 95. ') Bensh. Sanunl. Bd. 4 LAG., S. 126. •) Oben S. 25. 7 ) ArbR. Rechtsprechung 1928, Nr. 3515; NAK. Karte „Grundsätze" IV vom 1. VIII. 1928. ') Bensh. Samml. Bd. 4 LAG., S. 120; ArbRspr. 1928, S. 435. Vgl. unten S. 33. l

3

A. Die Verdrängung aus der Arbeit als Verstoß gegen die guten Sitten

27

Das Reichsarbeitsgericht hat zu der Frage, ob die Verdrängung anders organisierter Arbeiter einen Verstoß gegen die guten Sitten darstelle, zuerst im Urteil vom 23. I. 19291) Stellung genommen. Die Vorinstanz, das LAC. Leipzig, h a t t e die Klage abgewiesen, weil der Boykott, die Verweigerung der Zusammenarbeit, hier das einzig mögliche Kampfmittel f ü r die Beklagten gewesen sei und weil daher seine Anwendung vom Standpunkt der Moral aus noch als zulässig anzusehen sei. Das Reichsarbeitsgericht sagt: „Es muß jedem freistehen, für seine eigene Überzeugung einzutreten und eine andere zu mißbilligen und ihr entgegenzutreten. E r verfolgt damit nur sein gutes Recht. Aber damit sind diesem Kampf gewisse Grenzen gezogen, die nicht überschritten werden dürfen. Gerade weil es ein K a m p f u m Meinungen und Anschauungen ist, in dem im Gegner immer noch der Mensch zu achten ist, darf er nicht so weit gehen, daß er mit unsachlichen rein äußerlichen Machtmitteln geführt wird. Es geht nicht an, daß eine jeweilige Mehrheit einfach K r a f t ihrer größeren Macht und Zahl die Minderheit lediglich mit Gewalt zu ihrer eigenen Überzeugung zu zwingen sucht. Eine solche Unterdrückung der fremden Überzeugung ist stets verwerflich. Ein solches Verhalten widerspricht dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden um so mehr, als es für das Gesamtleben des Volkes und den Bestand seiner Wirtschaft unerträglich ist." Die gleiche Frage wurde dem Reichsarbeitsgericht ein Vierteljahr später erneut vorgelegt. I m Urteil vom 24. IV. 19292) hält es die eben angef ü h r t e Entscheidung aufrecht. Es komme eben nicht darauf an, ob es dem Verdrängten zuzumuten ist, der fraglichen Organisation beizutreten. „Die Zumutbarkeit spielt dem Willensdruck gegenüber keine entscheidende Rolle." Das Reichsarbeitsgericht sagt, daß die Organisationen einen gewissen Druck ausüben dürfen, um Arbeiter zum Eintritt zu bewegen. „Die Druckbefugnis findet ihre natürlich Grenze da, wo das angewandte Druckmittel der Rechtsordnung nach allgemeinen Grundsätzen widerstreitet, oder zu einer Schädigung des Widerstrebenden f ü h r t , die mit dem zu erreichenden Ziel in keinem Verhältnis steht und unsoziale H ä r t e n und Ungerechtigkeiten zur Folge h a t . Das wird immer der Fall sein, wenn die wirtschaftliche Existenz in erheblichem Maße bedroht u n d gefährdet wird." Auch das Urteil des Reichsarbeitsgerichts vom 25. VI. 1930 3 ) bestätigt die in den angeführten Entscheidungen enthaltenen Grundsätze. Eine freigewerkschaftliche Belegschaft h a t t e auf Veranlassung des Beklagten die Entlassung des Klägers durch Arbeitsniederlegung erwirkt, weil er, der ehemalige Stahlhelmangehörige, nach seinem Beitritt zur freien Gewerkschaft mit seinen Beiträgen trotz Fristsetzung rückständig blieb. Das Gericht sagt, „daß die Ahndung solcher Versäumung, selbst wenn man einen nach der Sachlage begründeten Verdacht der Lauheit des Klägers mit in >) RAG. Bd. 3, S. 125; Bensh. Samml. Bd. 5 RAG., S. 253. 2) RAG. Bd. 4, S. 19; Bensh. Samml. Bd. 6 RAG., S. 427. 3 ) JW. 1931, S. 1286.

28

I. Streitigkeiten innerhalb der Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberschaft

Rechnung zieht, unter keinen Umständen ausreichen kann, einem Arbeitsgenossen Stellung und Brot zu nehmen." Oertmann 1 ) betont, daß dieses Urteil nur dann Beifall verdient, wenn tatsächlich feststeht, daß der Kläger nicht vorsätzlich aus Schikane mit seinen Beiträgen in Verzug geriet. Andernfalls wäre dem Verband ein schneidiges, rigoroses Abwehrvorgehen nicht zu verargen. B. Die

erlaubte

Verdrängung

aus

der

Arbeit.

Dieser Entscheidungsreihe, die die Verdrängung als Verstoß gegen die guten Sitten mißbilligt, steht eine Gruppe von Erkenntnissen gegenüber, in denen die Berechtigung einer Belegschaft, sich gegen einzelne Arbeiter zu wenden, anerkannt wird. Es handelt sich dabei allerdings vielfach um Fälle, in denen dieser Einzelne besonderen Anlaß zum Kampf gegeben hatte. Schon der erste Tatbestand weicht erheblich von den bisher angeführten Streitigkeiten über die Zugehörigkeit zu einer Organisation ab. Das AG. Reinbeck entschied am 19. X . 1921 2 ) über die Ersatzansprüche eines Entlassenen gegen den Arbeiterrat. Der Kläger hatte einen Lehrling angehalten, die Dauer der „Arbeitspausen" zweier Kollegen aufzuschreiben. Darauf hatte der Arbeiterrat dem Unternehmer nahegelegt, den Kläger zu entlassen. Das Gericht mißbilligt das Verhalten des Klägers und erkennt an, daß die Beklagten in berechtigter Entrüstung handelten. In der Bitte, den Kläger zu entlassen, sieht es keine versteckte Streikdrohung und keine „gewollt widerrechtliche Einwirkung" auf den Entschluß des Arbeitgebers. Das OLG. Dresden läßt es im Urteil vom 20. IV. 1922 3 ) dahingestellt, ob der Beschluß einer Belegschaft, auf die Entlassung eines Meisters zu dringen, mit dem sie Streitigkeiten hat, überhaupt einen Sittenverstoß enthalten kann. Die auf § 826 BGB. gestützte Schadensersatzklage weist es unter anderm deshalb ab, weil die Beklagten nicht vorsätzlich gehandelt hätten, da sie garnicht auf den Gedanken gekommen seien, daß die Entlassung nicht durch das Verhalten des Meisters gerechtfertigt wäre. Von besonderer Bedeutung ist das Urteil des Reichsgerichts vom 3. V. 1924 4 ). Bei einem dresdner Bäcker hatten Arbeiter, die der freien Gewerkschaft angehörten, durch einen zweistündigen Streik die Entlassung anderer Arbeiter, die von der Gewerkschaft zur kommunistischen „Allgemeinen Arbeiterunion" übergegangen waren, erwirkt. Die Entlassenen hatten keine Arbeit gefunden und verlangten Schadensersatz. Das Oberlandesgericht stellte fest, daß diese schweren Folgen des Streikbeschlusses weder vorhergesehen noch gewollt seien.5) „Nur der Selbsterhaltungstrieb hat die Beklagten veranlaßt, auf Entlassung der Kläger hinzuwirken. Denn die Allgemeine Arbeiterunion ») Anm. J W . a. a. O. NZfA. 1922, S. 452. 3 ) NZfA. 1922, S. 748; RAB1. A. 1922, S. 429. *) J W . 1924, S. 1041; NZfA. 1924, S. 635; Rechtsprechung des Reichsgerichts, Bd. I. S. 236. 5 ) Der Inhalt des Urteils des Oberlandesgerichts ist hier nach 9einer Wiedergabe im Urteil des Reichsgerichts angeführt. 2)

B . Die erlaubte Verdrängung aus der Arbeit

29

hat die Gewerkschaften auf's schärfste bekämpft, sich ihre Zertrümmerung zur Hauptaufgabe gemacht. Bei den Beklagten ist die Besorgnis entstanden gewesen, daß ihre wirtschaftliche Stellung gefährdet sei, wenn die Unionisten im Betriebe verblieben und ihre Zahl sich vermehrte." Das Reichsgericht sagt weiter, dieser Sachverhalt sei ein ganz anderer als der des sog. Schauspielerprozesses. Hier hätten die Beklagten nicht unsittlich gehandelt, weU sie nur dem zuvorkamen, daß die Kläger zur Mehrheit erstarkten und nun die Beklagten aus dem Betriebe verdrängten. Zum besseren Verständnis ist dieses Urteil dem eben genannten Schauspielerurteil gegenüberzustellen. Dort hatte das Reichsgericht am 6. IV. 19221) übereinstimmend mit dem LG. Berlin und dem Kammergericht ausgeführt, daß der Tarifvertrag zwischen dem Deutschen Bühnenverein — der Organisation aller bedeutenden Bühnen Deutschlands und Deutschösterreichs — und der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger durch die Bestimmung, daß nur Mitglieder der Genossenschaft bei den Vereinsbühnen beschäftigt werden dürften, gegen die guten Sitten verstieße. Das Reichsgericht erörtert eingehend das Organisationsproblem. Es stellt fest, daß auch die Gegenwart keinen Zwang zum Anschluß an eine Organisation kenne. Es ist daher nach seiner Ansicht gleichgültig, ob auch die negative Koalitionsfreiheit ausdrücklich gewährleistet ist. Es erkennt andererseits an, daß die Organisationen ein berechtigtes Interesse an der Ausdehnung ihrer Mitgliederzahl haben. Es betont, daß sie zu diesem Ziel auch einen Druck auf die noch abseits Stehenden ausüben dürfen. Hier verweist das Gericht auf den Grundsatz, daß Ziel und Mittel in angemessenem Verhältnis stehen müssen. Es fährt fort: „An dieser Anschauung hält der Senat auch für die Jetztzeit fest. Insbesondere kann er nicht anerkennen, daß der Begriff der guten Sitten, für den das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden bestimmend ist, oder das Durchschnittsmaß von Anforderungen, die der Verkehr an die Wahrung von Redlichkeit und Anstand stellt, auf irgend einem Gebiet, insbesondere auf dem des wirtschaftlichen Lohnkampfs, andere geworden sind." Die Organisationsklausel ist hier nach Ansicht des Reichsgerichts und der Vorinstanzen unsittlich, weil sie dem Nichtorganisierten jede Tätgkeit in seinem Beruf unmöglich macht 2 .) Baum 3 ) wendet sich gegen dieses Urteil. Er meint, ein Verstoß gegen die guten Sitten könne nicht vorliegen, wenn jemand i n n e r h a l b seiner Machtund Interessensphäre Beschlüsse faßt, die sich nicht gegen die einzelne Person richten und mit denen der wirtschaftliche Gegenspieler nur dann in Konflikt gerät, wenn er einen entgegenstehenden Willen betätigt. Zur Stützung dieser Ansicht bildet Baum das Beispiel, daß ein Wagnersänger den Schutz des Reichsgerichts nach dieser Entscheidung erhalten würde, wenn alle Bühnen übereinkämen, keine Wagneropern aufzuführen. ')~RGZ. Bd. 104, S. 237; J W . 1924, S. 1044; NZfA. 1922, S. 514; Rechtsprechung des Reichsgerichts Bd. 1, S. 213. ! ) Im Ergebnis — aus hier nicht interessierender Begründung — zustimmend: Goerrig, H.A. Karte „Tarifvertrag, Organisationsklausel I " vom 4. VII. 1922. ') KA. Karte „Tarifvertrag, Organisationsklausel I I " vom 28. X . 1922.

30

I. Streitigkeiten innerhalb der Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberschaft

Das Beispiel scheint mir unzutreffend. Der Entschluß einer Spielplanänderung trifft die Schauspieler nicht mit Notwendigkeit. Die Organisationsabrede dagegen ist nicht etwa nur ein Zwang, b e s t i m m t e Formen der Arbeit zu leisten, sondern eine Nötigung, die nicht unmittelbar auf die Arbeit Bezug hat, und die jeden Arbeitnehmer treffen muß. Sinzheimer1) sagt, daß die Frage, „ob die Organisationsklausel einen Verstoß gegen die guten Sitten enthält, nicht schon deswegen bejaht werden kann, weil sie den Einzelnen in seiner Freiheit behindert. Freiheit an sich ist eine Form, die über die konkrete Freiheit nichts besagt. Mit der Freiheit als Form kann wirtschaftliche Unfreiheit verbunden sein. Wenn daher auch die Organisation den Einzelnen in seiner freien Selbstbestimmung bindet, so entbindet sie ihn auch von Schranken, die sonst ihrem Gebrauch entgegenstehen. Daraus folgt, daß bei der Entscheidung über die Sittenmäßigkeit der Klausel stets auch der Wert der Organisation ins Auge gefaßt werden muß. Es kommt dazu: ist es sittlich, daß in vielen Fällen nicht organisierte Einzelne die Vorteile der Organisation für sich in Anspruch nehmen, ihr aber fernbleiben, und damit Vorteile genießen ohne Opfer zu bringen?" Geht man vom Grundsatz des Reichsgerichts aus, daß die Herbeiführung des Ruins eines Boykottierten den Boykott unsittlich macht, dann ist das Schauspielerurteil unangreifbar. Liegt aber der Kampf zwischen Gewerkschaft und Allgemeiner Arbeiterunion wirklich vollkommen anders ? Die tatsächlichen Feststellungen des OLG. Dresden2) waren für das Reichsgericht allerdings bindend. Da die Frage, was Ruin eines Arbeiters ist, wann die Abdrängung von einer Arbeitstelle zur Verhinderung jeglicher Arbeit wird, aber sehr wohl als Rechtsfrage angesehen werden kann, war das Reichsgericht nicht gehindert, von der Aufassung des Vorderrichters abzuweichen. Der tatsächliche Verlauf der Dinge spricht dafür, daß die Unionisten praktisch aller Existenzmittel beraubt waren. Sie wurden in einer Zeit der ärgsten Arbeitslosigkeit erwerbslos. Die Frage ist nun, wieso das Reichsgericht hier nicht dem im Schauspielerurteil vorgeschriebenen Weg folgte; wieso es sich nicht auf den Standpunkt stellte, Maßnahmen gegen anders Organisierte seien unzulässige Willensbeeinflussungen; warum es hier nicht wie im Urteil vom 8. XI. 19223) von einem Kampf „um die Macht" sprach, der Mißbilligung verdient. Bei Beantwortung dieser Frage hat man sich vor mehr oder minder demagogischen Betrachtungen darüber, daß auf der einen Seite ein angesehener bürgerlicher Schauspieler sein Recht suchte, während im andern Fall kommunistische Arbeiter auf zweifelhafter Grundlage Ansprüche erhoben, zu hüten. Es ist davon auszugehen, daß dem Gericht der Vorwurf, es habe anders als nach bestem Wissen entschieden, weder gemacht werden soll noch überhaupt gemacht werden kann. Das, was hier gefragt wird, ist, ob dies „beste Wissen" des Gerichts „objektiv richtig" war, ob es dem entsprach, was „die billig und gerecht Denkenden", um diese Formel zu gebrauchen, entschieden und gewollt haben würden. J) a)

Grundzüge des Arbeitsrechts, 2. A u f l , S. 82. 3 ) Oben S. 21. Oben S. 28.

B. Die erlaubte Verdrängung aus der Arbeit

31

Die Erklärung dafür, daß die Entscheidung über die Ansprüche der Unionisten anders ausfiel, als die übrige Rechtsprechung, anders, als das Schauspielerurteil erwarten ließ, diese Erklärung ist wohl in der Person, der H e r k u n f t , der Stellung der Richter zu suchen. Sie mußten durch ihr Urteil einer Partei des Organisationskampfes helfen. Entweder stärkten sie der kommunistischen Union den Rücken, indem sie am Verbot der Beeinflussung des freien Willens weiter festhielten, oder sie erkannten eine Art Notlage als gegeben an und traten den Gewerkschaftern zur Seite. Die Richter wußten, daß die Unionisten, zu deren Gunsten der Schutz der Willensfreiheit vor Beeinflussungen zu berücksichtigen wäre, f ü r diese individualistische Auffassung von Freiheit keinerlei Sympathien hatten. Ihre Entscheidung fiel zu Gunsten der Weltanschauung, die Richtern eines nicht kommunistischenStaates die nähere, verständlichere ist. Nicht so sehr die tatsächlichen Feststellungen des Oberlandesgerichts tragen das Urteil, als vielmehr die Erwägung, daß es sich in diesem Kampf darum handelte, wer zuerst seinen Gegner vertrieb. Das Reichsgericht sah eine Notlage vor sich, die andere Beurteilung verdiente als sonst der K a m p f zwischen verschieden organisierten Arbeitern. Einen unüberbrückbaren Gegensatz zum Schauspielerurteil enthält diese Entscheidung: Dort hieß es, der Sittenbegriff sei der gleiche geblieben, hier wird eine Handlungsweise f ü r sittlich einwandfrei erklärt, die mit den früheren Formulierungen nicht zu decken ist. Das Urteil über den Kampf zwischen gewerkschaftlich organisierten Arbeitern und kommunistischen Unionisten sagt nicht, daß die Verdrängung um der Organisationszugehörigkeit willen unsittlich sei; es hütet sich aber auch, sie ausdrücklich f ü r zulässig zu erklären. Es stellt den Sachverhalt als Notlage, als Verteidigungskampf dar. Eine solche Notlage kann man — ohne den Tatsachen Gewalt anzutun — recht häufig in Kämpfen zwischen organisierten und nicht organisierten Arbeitern sehen. Geht hier der Streit um den Vorrang der gewerkschaftlichen oder der kommunistischen Auffassung, so kann es sich anderwärts um den Zusammenstoß gewerkschaftlicher, d. h . kollektiver, und organisationsfeindlicher, individualistischer Einstellungen handeln. Die Gefahr der künftigen Verdrängung der Gewerkschaften durch die Unionisten mag dringender und deutlicher erkennbar sein als die Gefahr ihrer Verdrängung durch organisationsfeindliche oder in „wirtschaftsfriedlichen" Vereinigungen zusammengeschlossene Arbeiter. Aber auch diese Gefahr besteht. Trotzdem wird der Notstandsgedanke, auf dem das Reichsgerichtsurteil fußt, in anderen Fällen nicht leicht anerkannt werden. Seine Anwendung gegen die Unionisten scheint mir einer Art Schreckreaktion auf die Radikalisierung der Arbeiterschaft, einer Unfähigkeit, ihre Einstellung zu verstehen, zu verdanken zu sein. Der letzte Kern der Entscheidung ist etwas wie der Satz, es müsse der Anschauung billig und gerecht denkender S t a a t s b ü r g e r entsprechen, den staatsbejahenden Gewerkschaftern gegenüber den staatsfeindlichen Unionisten Schutz zu bieten. 1 ) ') Darüber, daß das Reichsgericht kommunistische Organisationen als staatsfeindlich ansah, vgl. Liepmann, Kommunistenprozesse.

32

I. Streitigkeiten innerhalb der Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberechaft

Es wäre m. E. falsch, diese Entscheidung als „Willensentscheidung" zu tadeln und zu behaupten, das Reichsgericht habe von zwei juristisch möglichen Wegen den gewählt, der dem Wollen der Richter entsprach. Das Reichsgericht hat sich vielmehr im Zweifel zwischen mehreren formal möglichen Entscheidungen für die entschieden, die seiner Vorstellung von der Auffassung der Wertgemeinschaft, der Rechtsgemeinschaft gerecht wurde. Dieses Reichsgerichtsurteil blieb ohne Nachfolge. Das nächste veröffentlichte Urteil, das eine Verdrängung billigte, ist erst mehr als anderthalb Jahre später erlassen. Das AG. Hamburg sagte am 29. I. 19261), daß ein nichtorganisierter Arbeiter, der seine Kollegen durch Reden wie „Wer im Verband bleibt, ist ein Idiot" reizt, keine Ansprüche daraus herleiten kann, daß er aus seiner Arbeit vertrieben wird. Das Urteil enthält auch die weitere Erwägung, daß die Verdrängung als Druckmittel im Organisationskampf wie jeder Boykott so lange erlaubt sei, wie sie nicht zum Ruin des Betroffenen führe. Dagegen wendet sich Molitor2), ohne zur Begründung seiner Ansicht etwas Neues vorzubringen. Das LG. Braunschweig entschied als Berufungsgericht am 3. VI. 19263) den oben erwähnten4) Rechtsstreit umgekehrt wie das Amtsgericht. Seine Gründe stimmen mit den eben angeführten allgemeinen Erwägungen des Amtsgerichts Hamburg überein. Auch dieses Urteil wird von der Kritik abgelehnt5), ohne daß dabei ein Gedanke zu Tage träte, der nicht schon in den hier aufgeführten Entscheidungen, die die Verdrängung ganz allgemein als unsittlich ansahen, enthalten wäre. Das OLG. Dresden erklärt am 3. VI. 19276) die Streikdrohung als Druckmittel zur Erzwingung der Entlassung eines Arbeiters, der unter Umgehung des tariflichen Organisationsarbeitsnachweises eingestellt ist, für zulässig. Das Kammergericht hatte am 5. VII. 1924') einen gleich gelagerten Fall entgegengesetzt entschieden. Die Wiedergabe des Urteils des OLG. Dresden läßt leider nicht erkennen, ob es sich mit jenem Erkenntnis auseinandergesetzt hat. Das ArbG. Hamburg sieht am 29. XI. 19278) die Verdrängung für berechtigt an, wenn die Arbeiter sich gegen Kollegen wenden, die den Erfolg eines früheren Streiks erschwert haben. Eine der Erwägungen, auf denen sonst die Feststellung der Unsittlichkeit einer Verdrängung beruht, trifft hier nicht zu. Es handelt sich hier nicht um eine Willensbeeinfiussung, sondern um eine als Strafe wirkende Boykottmaßnahme. Wie sich das Gericht mit der Vernichtungsgrenze für dieZulässigkeit einer Verdrängungshandlung auseinandergesetzt hat, ist aus dem kurzen Abdruck leider nicht zu ersehen. Vielleicht hielt es den Boykott trotz seines Strafcharakters ») HansGZ. A. 1926, S. 70. HansGZ. A. 1926, S. 72. 3 ) KA. Karte „Boykott. 2. im Arbeitsrecht. Einzelfälle I" vom 1. X. 1927. 4 ) Urteil vom 10. XI. 1925, oben S. 24. 6 ) Erdel, KA. a. a. O. «) ArbR. Rechtsprechung 1928. Nr. 645. ' ) Vgl. oben S. 22. 8 ) ArbR. Rechtsprechung 1928. Nr. 2658. !)

B. Die erlaubte Verdrängung ans der Arbeit

33

deshalb für berechtigt, weil der Verzicht auf ihn, das heißt die Zusammenarbeit mit den Boykottierten, den Beklagten nicht zuzumuten war. Drei weitere Urteile erklären einzelne mit der Verdrängung zusammenhängende Maßnahmen für sittlich einwandfrei: Das Hanseatische OLG. sagt am 4. I. 19281) einem Organisatiousvertreter, daß er nicht gehalten sei, auf die Belegschaft einzuwirken, sie solle ihre Weigerung, mit Nichtorganisierten zusammenzuarbeiten, aufgeben. Das ArbG. Hamburg hält es am 13. I. 19282) für zulässig, daß Arbeiter ihren Arbeitgeber, der sonst um des Friedens willen nur organisierte Stellungsuchende einstellt, darauf hinweisen, daß ein Neuer, den er anzunehmen beabsichtigt, nicht organisiert ist. Das ArbG. Elberfeld erklärt am 28. III. 19283) einen Belegschaftsbeschluß, nicht mit Nichtorganisierten zusammen arbeiten zu wollen, für zulässig. Das bereits erwäihnte4) Urteil des LAG. Frankfurt/Main vom 13. I X . 1928 hatte gesagt, daß die Verdrängung im allgemeinen gegen die guten Sitten verstieße. Diesen Satz schränkt es dann folgendermaßen ein: „Wenn sich ein Mitarbeiter in gehässiger Weise gegenüber organisierten Arbeitern gegen die Organisationen und deren Organe ausläßt, kann es ihnen nicht verübelt werden, wenn sie die weitere Arbeitsgemeinschaft mit ihm ablehnen. In diesem Ausnahmefall liegt daher im Verhalten der organisierten Arbeiter nichts, was gegen das Billigkeitsund Anstandsgefühl der gerecht und billig denkenden Arbeiterkreise verstößt." Bemerkenswert ist, daß dieses Urteil nicht auf das Empfinden der Allgemeinheit, sondern auf den Gedankengang der beteiligten Kreise abstellen will. Im übrigen gleicht es im Tatbestand und im Ergebnis der oben5) angeführten Entscheidung des AG. Hamburg vom 29.1. 1926. Das ArbG. Hamburg macht in einem im Wesentlichen nicht veröffentlichten Urteil vom 22. X . 19288) folgende Unterscheidung: Wenn eine Belegschaft die Zusammenarbeit mit einem Nichtorganisierten im Gruppenakkord ablehnt, um damit auf ihn einen Druck zum Beitritt zur Organisation auszuüben, so verstößt sie gegen die guten Sitten. Wenn sie sie jedoch ablehnt, weil zwischen Organisierten und Außenseitern das für die Zusammenarbeit im Gruppenakkord erforderliche Vertrauen nicht gegeben ist, so ist ihr Verhalten berechtigt. Das Urteil zeigt, wie sehr die Entscheidung der Frage, ob die Verdrängung sittenwidrig ist, von der Bewertung des Ziels, dem sie dienen soll, abhängt. Es geht nicht an, das Umtreten des Betroffenen als einziges Ziel anzusprechen. Neben dem früher erörterten weiteren Ziel der Einigung der Arbeiterschaft und Stärkung der Organisationen kann, wie dieser Fall zeigt, auch ein w i r t s c h a f t l i c h e s Interesse an p o l i t i s c h e r Übereinstimmung aus der Natur des Betriebes folgen. >) HansRGZ. B. 1928, S. 139; Arb.Prax. 1928, S. 168. ) Arb.Prax. 1928, S. 95. ) ArbR. Rechtsprechung 1928, Nr. 2656. s ) S. 32. *) Oben S. 26. ') ArbR. Rechtsprechung 1929, Nr. 663; Urteil in Sachen Hus gegen Thieme und Genossen, Arb. 5307/28. !

3

3

Oettioger

34

I. Streitigkeiten innerhalb der Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberschaft

Das Reichsarbeitsgericht hält im Urteil vom 24. IV. 1929 1 ) daran fest, daß die Existenzgefährdung eine Verdrängungshandlung stets unsittlich mache. Lutz Richter 2 ) weist darauf hin, daß offenbar erhebliche Teile des deutschen Volkes und der Arbeitsrechtler nicht zu den „billig und gerecht Denkenden" gehören. Die gleiche Betrachtung h a t Nipperdey zum Urteil des Kammergerichts vom 5. VII. 1924 3 ) angestellt. I m Urteil vom 21. V. 19304) führt das Reichsarbeitsgericht aus, die Weigerung, nach einem Streik mit Streikbrechern zusammen zu bleiben, sei nicht sittenwidrig. Das Urteil unterscheidet zwischen Auffassungen der Berufsgenossen und allgemeinen Anschauungen u n d sagt, d a ß das Verhalten der Belegschaft von beiden Gesichtspunkten aus nicht zu mißbilligen sei. Diese doppelte Feststellung ist Folge des Übergangs vom allgemeinen Maßstab zu dem engeren, was in den beteiligten Kreisen f ü r zulässig angesehen wird. 5 ) Dieses Urteil billigt die vom Arbeitsgericht Hamburg im Urteil vom 29. X I . 1927') begründete Rechtsprechung, daß es einer Belegschaft nicht zuzumuten sei, mit Berufsgenossen, die ihr im Kampf in den Rücken gefallen sind, zusammen zu arbeiten. Görres 7 ) wirfit dem Reichsarbeitsgericht vor, es gebe hier der Sittenanschauung des beteiligten Kreises gegenüber einer widersprechenden Auffassung der Allgemeinheit den Vorzug, während die Meinung der Berufsgenossen n u r d a Berücksichtigung verdiene, wo sie den Ansichten der Rechtsgemeinschaft nicht widerstreite. Das ist richtig, der Vorwurf jedoch unberechtigt: Görres mißversteht die Ausführungen des Reichsarbeitsgerichts. Dort heißt es nämlich nicht, daß die Anschauung der Allgemeinheit neben der abweichenden Auffassung der Beteiligten hier keine Beachtung verdiene, sondern daß „weitere unbeteiligte Kreise, die f ü r ihren eigenen Kreis jene Unduldsamkeit nicht mitmachen und nicht billigen würden, doch ihre Mißbilligung zurücktreten lassen gegenüber dem Arbeiterstande, der auf die Zusammengehörigkeit (Solidarität) seiner Angehörigen ganz besonders angewiesen ist und dieser Eigenschaft auch viele Errungenschaften v e r d a n k t . " Der Sinn dieser Ausführungen ist, daß a l l e billig und gerecht Denkenden sich hier die Auffassung des beteiligten Kreises zu eigen machen. Ein ungewöhnlicher Tatbestand lag der Entscheidung des Reichsarbeitsgerichts vom 6. X I . 19298) zu Grunde. Bauarbeiter der Baufirma B., die Kläger, h a t t e n im Akkord gearbeitet. Der f ü r verbindlich erklärte Bauarbeitertarifvertrag verbot die Akkordarbeit. Der beklagte Bauarbeiterverband — der die Akkordarbeit aufs schärfste bekämpft — wandte sich an die Firma und erreichte nicht nur, daß die fragliche Arbeit ») RAG. Bd. 4, S. 19; JW. 1929, S. 2779. ) JW. 1929, S. 2779. ) Oben S. 22. *) RAG. Bd. 6, S. 49; DJZ. 1930, S. 1126; JW. 1931, S. 1284. б ) Vgl. unten S. 58. 6 ) Oben S. 32. ') JW. 1931, S. 1284. 8 ) RAG. Bd. 4, S. 253; Bensh. Samml. Bd. 7 RAG., S. 404. а 3

B. Die erlaubte Verdrängung aus der Arbeit

35

im Zeitlohn beendet wurde, sondern darüber hinaus, daß die Kläger entlassen wurden. Ihre Schadensersatzklage hatte keinen Erfolg. Das Reichsarbeitsgericht nimmt in seinem Urteil zunächst die Boykottrechtsprechung des Reichsgerichts und seine eigenen einschlägigen Erkenntnisse in Bezug. Es wiederholt, daß ein unangemessen scharfes Mittel der Abwehr oder eine zu weit gehende Schädigung des Gegners den Boykott sittenwidrig erscheinen lassen würde. Es kommt aber zu dem Ergebnis, daß das Ziel des Beklagten, die von ihm für gefahrlich und schädlich angesehene Akkordarbeit im Bauhandwerk zu bekämpfen, unter Berücksichtigung der Neigung der Firma B., verbotene Akkordarbeit ausführen zu lassen, nur dadurch zu erreichen war, daß auf die Entlassung der Kläger hingewirkt wurde. Diese Entlassung sah das Reichsarbeitsgericht als einzig sicheres und angemessenes Mittel an. Daher verstieß das Vorgehen des Beklagten nicht gegen die guten Sitten. Das Gericht sagt: „In dieser Beurteilung ist besonderer Wert auf die Anschauungen der den Verhältnissen nahestehenden und in gleichen Lagen erfahrenen Berufsgenossen zu legen. Damit ist nicht gesagt, daß nicht auch im einzelnen Fall die Anschauung einer sozialen Interessen- oder Arbeitsgemeinschaft gegen die über ihr stehende Wertung durch die Volksgesamtheit verstoßen kann. 1 ) Gerade bei der hier zur Entscheidung stehenden Frage der Abwehr gegenüber Interessenverletzungen, die aus dem eigenen Lager drohen, gesteht auch die ruhig denkende öffentliche Meinung auf beiden Seiten der Arbeit und darüber hinaus dem gefährdeten Verband ein kräftiges, wenn auch besonnenes Vorgehen zu. E s bedarf indes der Betonung, daß diese Gesichtspunkte da nicht in gleichem Maße gelten können, wo es sich um den Widerstreit von Verbänden der gleichen Arbeitsseite oder von Verbänden bzw. Verbandsangehörigen gegenüber Unorganisierten handelt, und ein grundsätzlicher Gegensatz in der Stellungnahme zu Fragen der Arbeit zwischen den Gruppen der gleichen Arbeitsseite besteht." Ein derartiger Gegensatz lag hier nicht vor, weil auch die Kläger wußten, daß die Akkordarbeit unerlaubt war. Mit Dersch2) ist auf diese Schlußausführungen besonderes Gewicht zu legen. Das Reichsarbeitsgericht stellt hier noch einmal klar, daß die Berücksichtigung der Sonderanschauungen der beteiligten Kreise keinen Gegensatz zur Auffassung der Allgemeinheit ergeben darf und soll. Der Einschränkung, die es zum Schluß für Fälle des Zwangs, einer Organisation beizutreten, macht, stimmt Dersch nicht zu. Soweit sie nämlich die Beeinflussung einzelner Arbeiter betrifft, ist nach seiner Meinung die Ansicht der Beteiligten maßgebend, weil sie mit der Auffassung der Allgemeinheit übereinstimmt. Anhangsweise ist hier ein Urteil anzuführen, das nicht den Kampf verschieden organisierter Arbeiter gegeneinander, sondern den Streit zwischen einem Arbeitgeber, der seinen Arbeitern Nachteile androhte, falls sie in der Gewerkschaft verblieben, und der Gewerkschaft selbst ') Vgl. hierzu oben S. 16; insbesondere die Ausführungen von Oertmann. ) Bensh. Samml., Bd. 7 RAG., S. 410.

2

3*

36

I. Streitigkeiten innerhalb der Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberschaft

betrifft. Hier hat das Reichsgericht am 11. II. 19261) das Vorliegen eines Verstoßes gegen die guten Sitten verneint.2) Diese Machtprobe sei eine Auswirkung gegensätzlicher sozialer Kräfte und Anschauungen. Nach dem Begriff der guten Sitten, der auch in neuester Zeit kein anderer geworden sei, sei dem Arbeitgeber kein Vorwurf zu machen. Es ist bedauerlich, daß dieser Fall nicht in der Weise vor das Reichsgericht gebracht wurde, daß ein Arbeitnehmer, der von diesem Arbeitgeber entlassen war, weil er nicht aus seiner Gewerkschaft ausscheiden wollte, Schadensersatz verlangte. Wäre die Klage zugesprochen, wenn es dem Arbeiter nicht geglückt wäre, anderweit Arbeit zu finden, so daß die Maßnahme des Arbeitgebers seine Existenz vernichtet hätte ? Den Streitigkeiten innerhalb der Arbeiterschaft stehen Kämpfe der Arbeitgeber miteinander gleich. Sie werden, selbst wenn sie arbeitsrechtliche Fragen zum Gegenstand haben, vor Gericht zumeist mit Hilfe der Vorschriften des Reichsgesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb ausgetragen. Hier ist zu erwähnen, daß in solchen Wettbewerbsprozessen die Nichtbeachtung eines für verbindlich erklärten Tarifvertrags als Verstoß gegen die guten Sitten angesehen wurde, wenn sie dazu dienen sollte, die Konkurrenz zu unterbieten.3) Zusammenfassung. Zur Abgrenzung des sittlich Zulässigen vom Unsittlichen sind den Urteilen folgende Sätze zu entnehmen: I.

Die Ausübung eines gewissen Drucks, um Arbeiter zum Anschluß an eine Organisation zu bewegen, ist den Organisierten erlaubt. II. Die Freiheit des Willens darf nicht ernstlich angegriffen werden. III. Eine Maßnahme wird stets unsittlich, sobald sie zur Existenzgefährdung führt. Maßgebend für die Beurteilung ist der Mehrzahl der Gerichte die Anschauung der Allgemeinheit. Nur vier Urteile4) stellen auf die Ansicht der beteiligten Kreise ab. In einem wird erkannt, daß diese beiden Betrachtungen einen Gegensatz ergeben könnten.5) !) RCZ. Bd. 113, S. 33; JW. 1927, S. 256, Rechtsprechung des Reichsgerichts, Bd. 2. S. 122; NZfA. 1926, S. 556; ArbR. 1927, S. 400. 2 ) Gegen dies Urteil wendet sich Sinzheimer in einer Anmerkung JW. 1927, S. 256. Er lehnt die rechtliche Konstraktion der Entscheidung ab, ohne die Stellungnahme des Reichsgerichts zu § 826 BGB. einer besonderen Untersuchung zu unterziehen. 3 ) Urteil des LG. II Berlin vom 22. IV. 1926, NZfA. 1927 S. 52; Urteil des Reichsgerichte vom 12. IV. 1927, RGZ. Bd. 117, S. 16; J W . 1927, S. 1636; Urteil des LG. Frankfurt/Main vom 30. VI. 1927, ArbR. Rechtsprechung 1928 Nr. 551. «) LG. Hamburg, 15. IV. 1926, oben S. 24; LG. Bremen, 6. II. 1926, oben S. 25; LAG. Frankfurt/Main, 13. IX. 1928, oben S. 26; RAG. 21. V. 1930, oben S. 34. ') Urteil des RAG. vom 21. V. 1930, oben S. 34.

II. Streitigkeiten von Arbeitnehmer!] mit Arbeitgebern

37

II. Streitigkeiten von Arbeitnehmern mit Arbeitgebern. Die Kämpfe zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern sind einzuteilen in Streitigkeiten einer größeren Zahl von Arbeitern mit einer Reihe von Unternehmern — Streik und Aussperrung —, und Kampfmaßnahmen gegen einzelne Gegner, nämlich Sperre eines Betriebes, Boykott eines Arbeiters. Der Kollektivkampf unterliegt einer Anzahl von Regeln, die Gewohnheit und Rechtsprechung entwickelt haben. Mangels anderer gesetzlicher Grundlagen haben sich die Gerichte nur auf das Verbot sittenwidrigen Handelns stützen können, soweit nicht, wie zur Frage des Streikpostenstehens, das Strafrecht einen Anhaltspunkt bot. Ähnlich wie im Wettbewerbsrecht1) sind Rechtsinstitute, zum Beispiel die Wiedereinstellungsklausei und teilweise auch die Friedenspflicht, soweit sie überhaupt Anerkennung gefunden haben, aus dem Sittenbegriff entwickelt worden. A. Der Arbeit skampf. Die Untersuchung, was für die Rechtsprechung zum Arbeitskampf Maßstab der guten Sitten war, ist folgendermaßen gegliedert: Das Hauptbeispiel des Arbeitskampfes, der Streik, ist vorangestellt. Dann wird sein Gegenstück, die vom Arbeitgeber beschlossene Aussperrung, untersucht. Nach diesen Kampfmaßnahmen, bei denen das Verhalten der einen Partei unmittelbar auf die Stellung der anderen einwirkt, wird der mittelbar über Dritte wirkende Boykott, die Sperre und die Verrufserklärung betrachtet. 1. Der Streik. a. Die Z u l ä s s i g k e i t des S t r e i k s . Schon vor dem Kriege wurde allgemein anerkannt, daß das Streiken an sich weder verboten noch unsittlich, verwerflich sei. Besondere Umstände des Einzelfalles ließen den Streik nach damaliger Auffassung verhältnismäßig häufig sittenwidrig, j a gesetzwidrig erscheinen. Das Reichsgericht sagt 2 ), der Begriff der guten Sitten habe sich nicht durch die Staatsumwälzung gewandelt, aber in anderen Urteilen führt es aus, daß das Arbeitsrecht auf neue Grundlagen gestellt worden ist. Und auf diesen neuen Grundlagen verwendet es den alten Sittenbegriff. Das nimmt den Vorkriegserkeniitnissen für unsere Betrachtung jede Bedeutung. Es ist herrschende, kaum bestrittene Meinung, daß das Schweigen der Verfassung, die weder Streikverbot noch Streikrecht kennt, keine Verurteilung und keine Billigung des Streiks darstellt. Soweit die Mittel des Arbeitskampfes nicht unsittlich sind, ist er zunächst zugelassen. Besondere Umstände können hier wie überall ein an sich erlaubtes Verhalten zum verwerflichen Angriff auf dem Schutz der Rechtsordnung unterstellte Güter werden lassen. Eine Aufzählung der vielen Urteile, die ausdrücklich *) Vgl. die Ausführungen zum französischen und deutschen Wettbewerbsrecht bei Baumbach, Wettbewerbsrecht S. 172 f.; Rosenthal, Wettbewerbsgesetz, Begriffsbestimmungen S. 1 ff. und Vorworte zur 5. und 7. Auflage. •) Urteil vom 6. IV. 1922, oben S. 29.

38

! ! • Streitigkeiten von Arbeitnehmern mit Arbeitgebern

oder stillschweigend diese Auffassung anerkennen, erscheint überflüssig. Eine Abgrenzung dessen, was als Sittenverstoß zu gelten hat, wäre ihnen nicht zu entnehmen. Die Wiedergabe von Erkenntnissen, die die Zulässigkeit eines Streiks betreffen, ist daher auf die zu beschränken, die besondere Zweifelsgründe enthalten. Das Hanseatische OLG. entschied am 3. X. 19231) über die Klage einer Straßenbahngesellschaft gegen Betriebsratsmitglieder des Elektrizitätswerks, von dem die Bahn ihren Strom bezog. Auf Verlangen der Beklagten war der Betrieb der Klägerin von der Stromlieferung abgeschlossen und dadurch stillgelegt worden. Die Beklagten drohten nämlich während der halbtägigen Arbeitsruhe anläßlich der Ermordung Rathenaus mit Verweigerung der Notstandsarbeiten, falls die Straßenbahn durch weitere Stromlieferung in der Lage bliebe, zu fahren. Das Gericht läßt es dahingestellt, ob die Drohung, die Stromlieferung an lebenswichtige Betriebe zu unterbinden, hier ein gegen die guten Sitten verstoßendes Kampfmittel war. Die Beklagten hätten den Schaden nicht verursacht. Die Arbeiterschaft würde die Belieferung der Klägerin auf jeden Fall verhindert haben, ganz gleichgültig, wie sich der Betriebsrat verhielt. Die Bedeutung dieser Klagabweisung wird klar, wenn man bedenkt, daß das Gericht ebenso gut, wie es von einer Unterbrechung des Kausalzusammenhangs sprach, von einem Zusammenwirken des Betriebsrats mit der Belegschaft hätte ausgehen können. Deutlich erkennbar steht hinter den — angreifbaren — geschriebenen Urteilsgründen die Überzeugung des Gerichts, daß das Verhalten der Betriebsratsmitglieder hier keine Mißbilligung verdient. Das Urteil erkennt damit an, daß auch ein Streik, der kein m a t e r i e l l e s Ziel verfolgt, berechtigt sein kann. Die Arbeitsruhe war eine Demonstration, eine große feierliche Geste. Sie wurde — ihre Durchführung bewies das — vom Willen weitester Volkskreise getragen. Sie entsprach daher dem Anstandsgefühl der billig und gerecht Denkenden. Das Urteil gibt keine Antwort auf die Frage, ob die Verweigerung von Notstandsarbeiten berechtigt war. Sein Aufbau läßt aber erkennen, daß das Gericht erhebliche Gründe sah, die sie rechtfertigen würden. Die Feststellung, daß es unter Umständen sittlich sein kann, um eines nicht greifbaren Zieles willen lebenswichtige Arbeiten, wie die Versorgung von Krankenhäusern mit Elektrizität, zurückzustellen, diese Feststellung entstammt einer anderen Art von Gerechtigkeits- und Billigkeitsgefühl, als es den Urteilen des Reichsgerichts zu Grunde liegt. Das Reichsgericht entnimmt den Sittenmaßstab den summierten Anschauungen einzelner billig und gerecht Denkender. Das ist — dem Aufbau unseres Privatrechts entsprechend — ein individualistisch wertender Maßstab. Sittlich ist, was dem Einzelnen sittlich erscheint. Die Erwägung, die das Hanseatische OLG. hier für möglich hielt, ist nicht ein Gedanke des isolierten Einzelwesens, sondern Ausdruck des Empfindens der Masse. Nur die Vielheit spricht durch eine Massendemonstration. Nur das nicht bloß übereinstimmende, sondern wahrhaft verbundene Denken vermag den Ausdruck des Kollektivwillens zu billigen. NZfA. 1924, S. 119.

A. Der Arbeitskampf

39

Das Reichsgericht h a t t e sich am 10. I. 19251) mit der Frage zu befassen, ob ein Streik am ersten Mai gegen die guten Sitten verstieße. Auch hier handelt es sich u m eine Demonstration. Während das eben angeführte Urteil des Hanseatischen OLG. den Demonstrationsstreik billigte, vermeidet es das Reichsgericht, auf die Frage einzugehen, ob der Maistreik erlaubt oder sittenwidrig ist. Es dreht den Rechtsstreit auf Grund der tatsächlichen Feststellungen des Instanzgerichts a b : „Der Täter muß sich der Tatumstände bewußt sein, die sein Handeln verwerflich machen. Dazu gehört hier das Bewußtsein, die Arbeitsverträge zu verletzen. Waren die Beklagten der (irrigen) Überzeugung von der Vertragsmäßigkeit der Arbeitsruhe am ersten Mai 1923, so liegt in ihrem Verhalten keine sittlich verwerfliche Handlung." 2 ) Ungewöhnlich war der Tatbestand, Ober den das Reichsgericht am 30. I I I . 19263) zu entscheiden hatte. Der Lohntarif zwischen dem Arbeitgeberverband f ü r die Binnenschiffahrt und dem Deutschen Verkehrsbund war abgelaufen. Es bestand nur noch ein Manteltarif. Die Parteien konnten sich über neue Lohnsätze nicht einigen. Darauf empfahl der Verkehrsbund den Arbeitnehmern, nur ihre vertraglichen acht Stunden zu arbeiten und jede Sonntagsarbeit, alle Überstunden zu verweigern. Das Reichsgericht sah hierin keine passive Resistenz und keine unsittliche Kampfesart. Auch dem Reichsgerichtsurteil vom 17. V. 19264) lag ein außergewöhnlicher Tatbestand zu Grunde. Der klagende Arbeitgeber wollte nach Ablauf des Tarifvertrags die 54 Stundenwoche einführen und verlangte die Zustimmung der Einzelnen mit dem Bemerken, daß die, die nicht einwilligten, sich als gekündigt betrachten sollten. Die Belegschaft antwortete darauf mit Arbeitsniederlegung. Das Reichsgericht hielt die Art der Befragung durch den Arbeitgeber f ü r sittenwidrig, weil die an sich zulässige Vereinbarung einer längeren Arbeitszeit durch die Entlassungsdrohung erzwungen werden sollte. Aber auch die Gegenmaßnahme der Beklagten war nach seiner Ansicht kaum zulässig, weil die Arbeiter nicht erst den an sich gebotenen Versuch, eine Einigung herbeizuführen, unternommen h a t t e n . Doch das Gericht schließt, daß die Beklagten sich im guten Glauben befanden, der Streik sei die gebotene Abwehrmaßnahme. Daher verstießen sie nicht gegen die guten Sitten. I n dieser Begründung liegt eine Wendung vom objektiven Maßstab dessen, was den guten Sitten entspricht, zur subjektiven Auffassung des Täters. Dabei wird allerdings nicht der objektive durch den subjektiven Maßstab verdrängt. Der Sinn des Urteils ist nur, daß subjektive Momente, wie etwa die Not, schnell einen Entschluß fassen zu müssen, es hier entschuldigen, daß die Beklagten sich zu einem Verhalten entschlossen, das unberechtigt war. Das OLG. Dresden entschied am 12. I. 19275) folgenden Streit: Ein Tarifvertrag, der Mehrarbeit vorsah, war f ü r verbindlich erklärt worden. ') JW. 1925, S. 1874. >) Zustimmend: Abel JW. 1925, S. 1874. ) RGZ. Bd. 113, S. 197; JW. 1927, S. 246; Rechtsprechung de» Reichsgerichts, Bd. 1, S. 63; NZfA. 1926, S. 551. 4 ) JW. 1927, S. 253; ArbR. 1927, S. 73. 5 ) ArbR. 1927, S. 309; S. 752; RAB1. A. 1927, S. 66. ArbG. X X X I I , S. 98. 3

40

II. Streitigkeiten von Arbeitnehmern mit Arbeitgebern

Die Arbeiter verweigerten die Mehrarbeit. Die Arbeitgeber wollten keine kürzeren Zeiten festsetzen. Es kam zum Streik. Die Arbeitgeber verklagten darauf die Gewerkschaftssekretäre, die den Streik geleitet und unterstützt hatten, auf Schadensersatz. Die Klage wurde abgewiesen. Das Gericht lehnte es ab, die Streikunterstützung als sittenwidrig anzusehen, weil im Interesse der Allgemeinheit Streiks zu vermeiden seien.1) Auch in der Verletzung tarifvertraglicher Pflichten sah das Gericht keinen Verstoß gegen die guten Sitten. Die Nichterfüllung einer Vertragspflicht habe nur die gesetzlich vorgesehenen Folgen. Die Tarifverträge dienen, so führt das Gericht aus, nicht dem allgemeinen Wirtschaftsfrieden, sondern den Interessen der Beteiligten. 2 ) Auch die Klägerin nimmt mit der Schadensersatzklage eigene Interessen, nicht die der Allgemeinheit wahr. Das Gericht hebt hervor, daß die Beklagten keine vertragliche, sondern eine zwangsweise auferlegte Friedenspflicht verletzt haben. Sei auch die rechtliche Bindung in beiden Fällen gleich, „vom sittlichen Standpunkt aus ist das Aufbegehren gegen ein auferlegtes Diktat ganz anders zu beurteilen, als die Untreue gegenüber dem freiwillig gegebenen Wort." Das Reichsgericht schloß sich am 20. XII. 19273) diesen Ausführungen im Wesentlichen an. 4 ) Es betont, daß die Beklagten nicht im Sinn und Geist der Schlichtungsordnung gehandelt hätten, als sie die Arbeiterschaft bei ihrem tariffeindlichen Tun unterstützten. Da sie aber von der wirtschaftlichen Berechtigung des Ziels der Arbeiter überzeugt waren, könne kein Verstoß gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden darin liegen, daß sie den einmal ausgebrochenen Streik unterstützten. Auf die Frage, ob der Widerstand gegen einen durch Vertrag zu Stande gekommenen Tarifvertrag verwerflicher sei, als die Auflehnung gegen einen Zwangstarif, ist das Reichsgericht nicht eingegangen. Die Bedeutung dieser beiden Entscheidungen wird klar, wenn man sie der Rechtsprechung zur Wirksamkeit von Friedensabkommen mit Wiedereinstellungsklauseln gegenüberstellt.5) Mit einem Streit um die Arbeitsruhe am 1. Mai hatte sich das Reichsarbeitsgericht am 5. II. 19306) zu befassen. Die Belegschaft der Klägerin hatte trotz Warnung am 1. Mai, der nicht gesetzlicher Feiertag war, nicht gearbeitet. An die fristlose Entlassung der ganzen Belegschaft schloß sich die Ankündigung an, ein Teil werde wieder eingestellt werden. Darauf antworteten die Arbeiter mit Streik und Sperre. Die Klage gegen den die Sperre unterstützenden Verband wurde vom Reichsarbeitsgericht zugesprochen. Es prüft, ob zwischen dem Mittel, J ) Vgl. hierzu das Urteil des Oberlandesgerichts Jena vom 6. XI. 1922, oben S. 20, das den gegenteiligen Standpunkt einnimmt. *) Vgl. Kahn-Freunds Ausführungen über die „wirtschaftsfriedliche" Einstellung des Reichsarbeitsgerichts (Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts, passim, insbesondere S. 20 ff.). 3 ) RGZ. Bd. 119, S. 291; JW. 1928, S. 789; NZfA. 1928, S. 190; Rechtsprechung des Reichsgerichts, Bd. 2, S. 143; Arb.Prax. 1928, S. 39. 4 ) Zustimmend: Sinzheimer JW. 1928. S. 789. 6 ) Vgl. unten, S. 67 f. «) Bensh. Samml., Bd. 8 RAG.. S. 266.

A. Der Arbeitskampf

41

dem Streik, der der Klägerin außerordentlichen Schaden zufügte, und dem Ziel, der Anerkennung der Arbeitsruhe am 1. Mai, ein angemessenes Verhältnis bestfinde. Es verneint das, weil es ziemlich bedeutungslos sei, ob in einem Betrieb an diesem Tage die Arbeit ruhe, so lange in allen übrigen gearbeitet werde. Das Mittel sei weiterhin unangemessen, weil der Streik sich sofort an den 1. Mai anschloß, während die Frage, die durch ihn entschieden werden sollte, erst in einem J a h r wieder praktisch werden wfirde. Es hätten daher zunächst einfachere Maßnahmen, Verhandlungen etwa, zur Verfügung gestanden. Mit Recht sieht das Reichsarbeitsgericht als Ziel des Streiks den Abschluß einer Vereinbarung über die Arbeitsruhe am 1. Mai an. Das nähere Ziel, die Wiedereinstellung der zu Recht Entlassenen zu erzwingen, war im übrigen nach Ansicht des Gerichts ebenfalls sittenwidrig, weil es n u r Ausdruck des Machtwillens der Beklagten war. Dersch 1 ) hebt hervor, daß dies Urteil den Gegenschluß rechtfertigt, daß Streik und Sperre zulässig seien, u m die Wiedereinstellung zu U n r e c h t Entlassener zu erzwingen. Das LG. Berlin I I erklärte am 8. X I . 19232) den Streik der Eisenbahner f ü r sittenwidrig. Das bedeutet keine Einengung der Streikfreiheit. Das Urteil baut darauf auf, daß die Eisenbahner als Reichsbeamte nicht berechtigt waren, zu streiken, daß sie auf diesen Umstand hingewiesen worden waren und daß sie die Folgen ihres Streiks f ü r das Wirtschaftsleben voraussahen. „Der E i n t r i t t der wirtschaftlichen Schäden war für die Beklagten zur Durchführung des Streiks geradezu bestimmend, um die Regierung zum Nachgeben zu zwingen. Ein solches rücksichtsloses Vorgehen gegen die Volksgesamtheit zur Interessenvertretung einer Beamtengruppe ist als unsittlich zu bezeichnen." Diese Begründung trägt das Zeichen ihrer Zeit: der Inflation. Damals fühlte man die Schicksalsverbundenheit von Staat und Wirtschaft besonders deutlich. Die Auffassung, daß vor allem die Wirtschaft zu stützen sei, f a n d überall Ausdruck. Es wurden Pläne erwogen, das Reich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten neu einzuteilen. Das Unternehmertum machte den Versuch, die Betriebe des Staates der freien Wirtschaft zuzuführen. 3 ) Der Glaube an den Primat der Wirtschaft beherrschte auch die Gerichte. 4 ) Das Fehlen eines Streikrechts der Beamten wäre, wie das Gericht selbst andeutet, aus dem Beamteneid und der das Beamtenverhältnis kennzeichnenden besonderen Treupflicht herzuleiten gewesen. Es h ä t t e der gewöhnlichen Art, ein Urteil zu begründen, entsprochen, Bensh. Samml., Bd. 8 RAG., S. 271. ) NZfA. 1924, S. 501; ArbR. 1924, S. 271. ) Göppert, Staat und Wirtschaft, gibt einen kurzen Überblick über die Wandlung der Vorstellung vom wünschenswerten Verhältnis zwischen diesen beiden Faktoren. Er schildert die Überbewertung der wirtschaftlichen Momente in der Inflationszeit. Der hier besprochenen Auffassung des Gerichts standen Stinnes Versuche, die Reichsbahn unter seine Kontrolle zu bringen, stand der Gedanke der „wirtschaftlichen Herzogtümer" gegenüber. Vgl. insbesondere a. a. O. S. 30f. 4 ) V g l die Urteile des OLG. Jena vom 6. X I . 1922, oben S. 20; des OLG. Dresden vom 12. I. 1927, oben S. 39 und des OLG. Kiel vom 6. V. 1921, unten S. 49. J

3

42

II. Streitigkeiten von Arbeitnehmern mit Arbeitgebern

hierauf, und nicht auf die Schädigung der Allgemeinheit abzustellen. Die Urteilsbegründung ist nicht unrichtig. Aber sie ist ungewöhnlich. Endlich ist noch das Urteil des Reichsgerichts vom 30. V. 1929 1 ) zu erwähnen, in dem festgestellt wurde, daß ein Streik gegen § 826 BGB. verstoßen kann. I n jenem Fall war die Belegschaft einer Brauerei nach Überreichung eines „ U l t i m a t u m s " in Streik getreten, u m die Entlassung eines mißliebigen Betriebskontrolleurs zu erzwingen. Die Vorwürfe gegen den Kontrolleur waren im Wesentlichen unberechtigt. Das Gericht nimmt an, daß ein Kampf um die Macht vorgelegen habe. Hier ist — im Gegensatz zur Entscheidung des Reichsgerichts vom 8. X I . 1922 2 ) — zu erkennen, was mit „ K a m p f u m die Macht" gemeint ist. Die Belegschaft h a t t e hier gestreikt, um dem Arbeitgeber ihren Willen aufzuzwingen u n d ihm zu zeigen, daß er gegenüber ihrer Weigerung, sich neuartigen Betriebsmethoden anzupassen, auch durch Einstellung eines Kontrolleurs nichts auszurichten vermöchte. Sie hat mit dem Ultimatum und dem Streikbeschluß Prestigepolitik 3 ) getrieben. Damit h a t der beklagte Betriebsrat seine Pflicht, den Betrieb vor Erschütterungen zu bewahren, verletzt. Diese Pflichtverletzung sieht das Reichsgericht wie das Oberlandesgericht als Kennzeichen dafür an, daß sein Verhalten gegen die guten Sitten verstieß. Dersch 4 ) stimmt dem Urteil zu. Die Milderung des Sittenbegriffs, die er in neueren Urteilen sehen zu können glaubt, habe hier mit Recht nicht Platz gegriffen. Hervorhebung verdient, daß aus der Pflichtverletzung die Sittenwidrigkeit gefolgert worden ist. Das leuchtet ein, da die Rechtsordnung die Verletzung der von ihr auferlegten Verpflichtungen zu mißbilligen hat. Auch Oertmann 5 ) schließt sich dem Urteil an. Die Sittenwidrigkeit des Verhaltens der Beklagten ist nach seiner Ansicht auch deshalb festzustellen, weil der Belegschaft zur Erreichung ihres Ziels weit weniger einschneidende Maßnahmen (z. B. Verhandlungen mit dem Arbeitgeber), als der von ihr gewählte Streikbeschluß zur Verfügung ständen. b. D e r

Sympathiestreik.

Der Sympathiestreik wird von den Gerichten grundsätzlich f ü r zulässig erklärt. Bereits vor Erlaß der Tarifvertragsverordnung hat das Reichsgericht im Urteil vom 29. I. 19156) erkannt, daß durch einen Tarifvertrag nicht ohne Weiteres ein Sympathiestreik ausgeschlossen wird. Da er außerhalb der tariflichen Regelung liegende Ziele verfolgt, macht ihn das Vorhandensein des Tarifvertrags nicht unzulässig. Unter Berufung auf dieses Urteil sagt das OLG. H a m m am 4. I I I . 19257), daß ein Sympathiestreik an sich nicht unsittlich sei. ') Bensh. Samml. Bd. 9 RAG. S. 179; irrtümlich als Urteil des Reichsarbeitsgerichts bezeichnet; JW. 1930, S. 410. s ) Oben S. 21. 3 ) Kahn-Freund, Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts, S. 22. 4 ) Bensh. Samml., Bd. 9 RAG., S. 185. 5 ) JW. 1930, S. 410. «) RGZ. Bd. 86, S. 152. ') JW. 1925, S. 1886; NZfA. 1925. S. 556.

A. Der Arbeitskampf

43

Das LG. Leipzig hat sich im J a h r e 19271) ausführlich mit dieser Frage befaßt. Es geht davon aus, daß „Arbeitskämpfe gewohnheitsrechtlich anerkannt und grundsätzlich zulässig sind. Die Anstiftung zum Streik und seine Unterstützung k a n n aber unter bestimmten Voraussetzungen als unerlaubte Handlungen im Sinne von § 826 BGB. erscheinen. Es verstößt gegen die guten Sitten, ohne triftigen Grund Arbeitnehmer, die unter den Bedingungen eines ungekündigten Tarifvertrags arbeiten, unter Tarifbruch zum Streik aufzufordern und anzuhalten, insbesondere ohne vorher dem Arbeitgeber Gelegenheit zu geben, auf etwa vorliegende Wünsche sich entschließen zu können. Sittenwidrig erscheint es, einen solchen Streik ohne erkennbaren Zweck und Ziel zu veranlassen.' 4 Das Gericht k o m m t dann zu der tatsächlichen Feststellung, daß es sich in dem ihm vorgelegten Fall nicht u m solch einen ohne Ankündigung ziellos begonnenen Streik handle. Der klagende Betrieb gehörte mit einem andern, mit gutem Grund bestreikten Betrieb zum gleichen Konzern. Die Unterstützung jenes Streiks war gerade durch die Stillegung dieses Betriebs zu erreichen. Sie verstößt daher nach Ansicht des Gerichts nicht gegen die guten Sitten. Auch die Unterlassung der Ankündigung macht den Streik hier nicht unsittlich, denn entweder würde der Arbeitgeber seinen Betrieb nicht freiwillig stillgelegt haben, — und dann wäre die Situation gegenwärtig die gleiche, weil doch der Streik begonnen worden wäre, — oder er h ä t t e freiwillig geschlossen, und dann wäre ihm dadurch, daß dieser sein Wille ohne sein Zutun verwirklicht wurde, auch kein Unrecht geschehen. Das Reichsgericht ist in seinem Urteil vom 30. X . 19292) auf die Revision hin zum gleichen Ergebnis gekommen. Zwei Gedanken dieses Urteils verdienen Hervorhebung: Ein Arbeitskampf ist unsittlich, wenn er ohne Grund und ohne Ankündigung vom Zaun gebrochen wird. Diese Unsittlichkeit folgt aus der Verletzung des Allgemeininteresses an Erhaltung des Wirtschaftsfriedens. Die Unterstützung eines andern Streiks ist, — dies der zweite Gedanke, — ein erlaubter Streikgrund. c. D i e p a s s i v e

Resistenz.

Nur wenige Urteile befassen sich mit der sittlichen Wertung der passiven Resistenz. Vermutlich hängt das mit ihrer Seltenheit und damit zusammen, daß der f ü r einen Ersatzanspruch notwendige Nachweis jenes Verhaltens recht schwierig zu erbringen ist. Man vergegenwärtige sich, was die passive Resistenz b e d e u t e t : Die Arbeitnehmer sind an ihren Plätzen, aber sie führen ihre Arbeit entweder garnicht, oder absichtlich schlecht oder mit einer an Zeitlupenaufnahmen erinnernden Langsamkeit aus. Es ist leicht zu beweisen, daß ein Streik stattgefunden hat. Keiner der Beteiligten wird es daher ableugnen. Aber wie einer feindlich gesonnenen Menge nachweisen, daß sie langsamer, schlechter gearbeitet hat als sonst ? 3 ) ') Ürteil ohne Datum 4 CAr. 7/27; NZfA. 1927, S. 640. ) Bensh. Samml., Bd. 2 RAG., S. 217. 3 ) Arbeitsrechtspraxis 1928, S. 140. *) Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts, S. 22. 6 ) Vgl. unten S. 81. •) Das Urteil des Reichsarbeitsgericht vom 6. XI. 1929, oben S. 34, setzt auseinander, in welchem Umfang die Sonderanschauungen der Beteiligten zu berücksichtigen sind. ') Unten S. 68.

A. Der Arbeitskampf

59

Ansicht der beteiligten Kreise" abgestellt. Das Gewerbegericht Hamburg hat am 18. III. 19241) hervorgehoben, daß es nur auf das Urteil derer ankommen könnte, die die Verhältnisse kennen. Das LG. I Berlin spricht am 1. V. 19242) von der „allgemeinen Meinung der Arbeiter- und Unternehmerkreise." Das LG. Bremen sagt am 6. II. 19263), daß auch die Anschauungen des sozialen Kreises, innerhalb dessen das Handeln vor sich ging, sein Urteil bestätigten; und das LG. Hamburg hat am 15. IV. 19264) die Anschauung der billig und gerecht Denkenden der betreffenden Volkskreise für maßgebend erklärt. Die Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts verwendet jedoch erst seit dem Urteil vom 21. III. 19285) fortlaufend die Formel von den „unbeteiligten Berufsgenossen" und stellt nicht mehr auf allgemeine Anschauungen ab6). ß. Verrufserklärungen an unbeteiligte Dritte. Adressat der von Arbeitnehmern ausgehenden Boykotterklärung gegen einen Arbeitgeber können, wie erwähnt7), auch Dritte sein. Die Gerichte legen an derartige Verrufserklärungen den gleichen Maßstab wie an die eben erörterten Handlungen an. Die Pflicht, eine wahrheitsgemäße Darstellung des Sachverhalts zu geben, tritt hier mehr in Erscheinung. Das ist damit zu erklären, daß die Adressaten der Verrufserklärung in den bisher betrachteten Fällen als Arbeitnehmer den Verrufern nahe standen, so daß eine gewisse Kenntnis der Sachlage bei ihnen vorausgesetzt werden konnte8), während unbeteiligte Dritte erst durch den Verruf vom Kampf erfahren. Diese Aufklärungspflicht wurde vom Reichsgericht bereits vor dem Kriege betont. Drei Urteile, nämlich das Urteil im Kieler Bäckerstreik vom 12. VII. 19069), ein Urteil vom 14. X. 190710) über die Sperre einer Wirtschaft in Hamburg und endlich das Urteil vom 13. II. 191111) über die Sperre des Lokals „Fürstenhof" bei Berlin, sagen übereinstimmend, auch die Aufforderung an Dritte, ein Lokal zu meiden, sei nicht unsittlich, wenn ihr eine wahrheitsgemäße Erklärung des Sachverhalts beigefügt wird, die keine Beschimpfungen des Gegners enthält. Zwei Urteile aus der Nachkriegszeit sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Das AG. Hamburg hatte am 20. V. 192412) über die Klage eines Kinobesitzers gegen den Zentralverband der Film- und Kinoangehörigen zu entscheiden. Während eines Streiks der Kinoangestellten wurde im Unternehmen des Klägers weitergearbeitet, obwohl er die Streikforderungen nicht bewilligt hatte. Der Beklagte ließ darauf Zettel vor dem Lichtspieltheater verteilen: „Die Angestellten dieses Kinos befinden sich wegen tariflicher Differenzen im Streik". Das Gericht läßt es dahingestellt, ob hier nicht schon jede Kampfmaßnahme gegen den Unternehmer unsittlich 2 ) Unten S. 69. ') Unten S. 68. Oben S. 25. *) Oben S. 24. 5) Oben S. 57. «) Vgl. oben S. 16. ') Oben S. 49. ») Vgl. das Urteil des ArbG. Hamburg vom 19. III. 1928, oben S. 57. l 0 ) RGZ. Bd. 66, S. 379. ») RGZ. Bd. 64, S. 52. » ) RGZ. Bd. 76, S. 35. l s ) HansGZ. A. 1924, S. 90. 3)

60

II. Streitigkeiten von Arbeitnehmern mit Arbeitgebern

sei, weil seine Belegschaft offenbar am Kampfe kein Interesse nähme. Jedenfalls verstieße die Verteilung der Zettel gegen die guten Sitten, denn die in ihnen enthaltene Behauptung, die Angestellten des Kinos streikten, war unrichtig. Das Reichsgericht entschied am 22. XI. 19221) folgenden Streit: Der Kläger, ein Schlachtermeister in Hamburg, hatte seinen Gesellen mehrfach Ober die gesetzlich zulässige Arbeitszeit beschäftigt. Nachdem der Geselle gekündigt hatte, verweigerte er ihm die Bezahlung der Überstunden. Darauf ließ der beklagte Verband in der Nähe des Schlachterladens Zettel verteilen, auf denen es hieß: „Die Schlachtergesellen kämpfen einen harten Kampf um die Einhaltung der gesetzlichen Arbeitszeit; um die Einstellung der arbeitslosen Kollegen. . . . Meidet dieses Geschäft, solange bis der Notlage der arbeitslosen Gesellen Rechnung getragen". Die Folge dieser Maßnahmen war, daß das Geschäft des Klägers einging. Das Reichsgericht sagt: „Es mag ulierörtert bleiben, ob eine Bekanntmachung nur des Inhalts, der Kläger habe seinen Gesellen über die gesetzlich gestattete Arbeitszeit hinaus beschäftigt, als zulässig und mit der Vorschrift des § 826 BGB. vereinbar anzusehen sein möchte, zumal sie zu einer Zeit erfolgte, als der Geselle aus seiner Stellung ausgeschieden war. Denn die vom Beklagten veranlaßte Bekanntmachung enthielt weiter die Aufforderung an das Publikum, das Geschäft des Klägers zu meiden. Diese eine Boykottierung des Geschäfts bezweckende Kampfmaßnahme steht zum mindesten außer allem Verhältnis zu dem vom Beklagten angeblich verfolgten Ziel, den Kläger für die Zukunft zur Innehaltung der Vorschriften über die Arbeitszeit zu veranlassen, und beabsichtigt den wirtschaftlichen Ruin des Klägers." Titze2) stimmt der Entscheidung zu. Er sieht in ihr eine „erfreuliche Warnungstafel gegenüber der im Zuge der Zeit liegenden Verwilderung der wirtschaftlichen Kampfsitten." b. Maßnahmen der Arbeitgeber. Der Arbeitgeber kann mit Sperrmaßnahmen gegen einzelne Arbeitnehmer zweierlei verschiedene Ziele verfolgen3). Er bemüht sich entweder, sich selbst davor zu schützen, daß die Kenntnisse, die der Arbeiter sich bei ihm angeeignet hat, andern Konkurrenten zu Gute kommen. Er erstrebt damit das gleiche Ziel wie mit einer Konkurrenzklausel. Oder er will seine Berufsgenossen vor einem unangenehmen Arbeitnehmer bewahren, also den Interessen der ganzen Arbeitgeberschaft dienen. a. Maßnahmen im Interesse der ganzen Arbeitgeberschaft. Bereits am 29. V. 19024) nahm das Reichsgericht Gelegenheit, sich für die allgemeine Zulässigkeit der Aufforderung auszusprechen, eine Reihe von Arbeitern, die der auffordernde Arbeitgeber ausgesperrt habe, nicht ') JW. 1929, S. 580. Vgl. oben S. 49.

3)

*) JW. 1929, S. 1295. RGZ. Bd. 51, S. 369.

4)

A. Der Arbeitskampf

61

einzustellen. Erst wenn dies Verhalten die Existenz der Betroffenen bedrohe, werde es unsittlich. Das Urteil des Reichsgericht vom 17. I I I . 1904 1 ) wandte diesen Gedanken an, indem es den Ausschluß vom Arbeitsnachweis der Berliner Metallindustriellen, durch den nahezu alle Berliner Betriebe ihre Arbeiter bezogen, als unsittlich brandmarkte, weil er die Existenz des Ausgeschlossenen vernichte. Das Urteil des Reichsgericht vom 4. IV. 1907 2 ) stellt sich in bewußten Gegensatz zu dieser Entscheidung. Es erklärt die Versagung der Arbeitsvermittlung einem wegen seiner geistigen Anormalität ungeeigneten Arbeitnehmer gegenüber f ü r berechtigt. Der Unterschied der beiden Fälle war, daß im ersten ein Arbeiter wegen seiner politischen Betätigung ausgeschlossen wurde, während es sich im zweiten um die Warnung vor einem Mann handelte, der immer wieder unter dem Schutz des § 51 StGB, excedierte. Nur eine spitze Überlegung ergibt, daß der zweite Fall in der T a t keinen die Existenz bedrohenden Boykott enthält. Der Arbeitnehmer war nicht verwendbar. Deshalb wurde seine Existenz nicht mehr durch die Verweigerung der Vermittlung gefährdet: auch ohne sie wäre er nicht in dauernde Arbeit gekommen. Der politisch hervortretende Arbeiter dagegen konnte vielleicht manchem Arbeitgeber wenig willkommen sein, er war jedenfalls zur Arbeit fähig. I h m wurde durch den Ausschluß von der Vermittlung die Verwertung seiner — vorhandenen — Arbeitskraft unmöglich gemacht. Das LG. I Berlin schloß sich am 14. I. 19273) dieser Rechtsprechung an. Es f ü h r t aus, daß ein Verband es sich zum Ziel setzen dürfe, seine Mitglieder vor Arbeitnehmern, mit denen schlechte Erfahrungen gemacht worden seien, zu schützen. Das entspricht etwa der Warnung einer Arbeitnehmerorganisation „Vorsicht bei folgenden Firmen", wie sie z. B. nur aus besonderen Gründen in dem Urteil des Reichsgericht vom 16. I I . 19224) als unsittlich angesehen wurde. Das Urteil des LG. Dresden vom 13. IV. 19275) betrifft eine von einer Zwangsinnung gegen eine Reihe von Arbeitern verhängte Sperre. Das Gericht f ü h r t aus, daß möglicherweise diese Sperre hier schon um ihres Grundes willen unsittlich sei, weil sie vielleicht aus Rachsucht wegen des Übergangs der Arbeiter zu einer B a u h ü t t e verhängt wäre. Darauf käme es aber nicht an, weil die überlange Dauer der Sperre ein derartiges Mißverhältnis zwischen dem — leider nicht näher erörterten — Zweck und dem angerichteten Schaden bedinge, daß schon deshalb ein Verstoß gegen die guten Sitten anzunehmen sei. Bemerkenswert an diesem Urteil ist die Hervorhebung, daß jede Schädigung des Gegners aus Rachsucht die guten Sitten verletzt*). RGZ. Bd. 57, S. 418. 2) RGZ. Bd. 65, S. 423. 3 ) ArbR. Rechtsprechung 1928, Nr. 724. «) Oben S. 50. >) NZfA. 1927, S. 712. 6 ) Ebenso Strauss in Kaskel, Seminarvorträge I, S. 143 über die Unzullssigkeit des Repressivboykotts und die dort angeführte Rechtsprechung; Oertmann KA. Karte „Boykott 1. Allgemeines" vom 15. X I I . 1923; Nipperdey, Verhandlungen des 34. Deutschen

62

II. Streitigkeiten von Arbeitnehmern mit Arbeitgebern

Das L A G . Görlitz stellte im Urteil v o m 1. X I I . 1927 1 ) d a r a u f ab, d a ß der b o y k o t t i e r e n d e Arbeitgeber den a n d e r n Arbeitgebern gegenüber n u r wahre Mitteilungen machen darf. Die Verletzung dieser W a h r h e i t s p f l i c h t b e g r ü n d e t einen Schadensersatzanspruch. Das A r b G . F r a n k f u r t a m Main h a t t e sich am 21. X I I . 1927 2 ) m i t „schwarzen L i s t e n " zu befassen. I m J a h r e 1921 h a t t e die B e k l a g t e ein Verzeichnis der Arbeiter aufgestellt, die sich an einem wilden Streik beteiligt h a t t e n . I m J a h r e 1927 f ü h r t e sie die E n t l a s s u n g des bei einer d r i t t e n F i r m a beschäftigten Klägers herbei. I n ihrer Liste w a r der Kläger als „ f a u l " bezeichnet. Das Gericht erklärt, d a ß H a n d l u n g e n a u s der I n flationszeit m i t andern Augen b e t r a c h t e t werden müssen, als Vorgänge in ruhigen Zeiten 3 ). Es müsse einmal eine Zeit der Verzeihung e i n t r e t e n . Das V e r h a l t e n der Beklagten wird daher als Verstoß gegen die guten Sitten gewertet. Das Reichsarbeitsgericht h a t t e a m 10. I V . 1929 4 ) ü b e r die Schadensersatzklage eines Lehrlings zu befinden, der seinen auf zwei J a h r e geschlossenen L e h r v e r t r a g vorzeitig gekündigt h a t t e . Der A r b e i t g e b e r h a t t e sich z u n ä c h s t mit der — vertraglich ausgeschlossenen — K ü n d i g u n g zufrieden gegeben. Später h a t t e er andere Arbeitgeber gewarnt, die Klägerin einzustellen. D a s Reichsarbeitsgericht s a g t : „ H a t t e die Beklagte der K ü n d i g u n g einmal z u g e s t i m m t , so h a n d e l t e es sich bei ihrer Aufforderung a n fremde Firmen, die K l ä g e r i n nicht einzustellen, nicht mehr u m ein berechtigtes K a m p f m i t t e l zur E r zwingung vertraglichen Verhaltens, sondern u m einen Rache- oder S t r a f a k t . E s war also kein lauterer Beweggrund, der die B e k l a g t e leitete, kein lauterer Zweck, den sie verfolgte. Ein solches V e r h a l t e n v e r s t ö ß t gegen das Anstands-, Billigkeits- und Gerechtigkeitsgefühl sowohl derjenigen Kreise, denen die Beklagte, als a u c h d e i j e n i g e n , denen die Klägerin a n g e h ö r t . " D a ß R a c h e kein Ziel ist, das die Rechtsordnung, die eine F r i e d e n s o r d n u n g sein soll, billigt, leuchtet ein. D a s Urteil stellt das sittliche E m p f i n d e n der Arbeitgeber- u n d Arbeitnehmerkreise gegenüber. Darin ist t r o t z der f ü r den Einzelfall getroffenen Feststellung, d a ß beide ü b e r e i n s t i m m t e n , der Satz e n t h a l t e n , es gäbe nicht eine einheitliche Sittlichkeit, sondern unsere R e c h t s o r d n u n g sei Ausdruck verschiedener, nebeneinander existierender Sittenanschauungen 5 ). Juristentages, Bd. 1, S. 406. Vgl. auch auf dieser Seite das Urteil des Reichsarbeitsgerichts vom 10. IV. 1929. Im allgemeinen wird dagegen der Standpunkt vertreten, daß das Motiv allein eine Handlung nicht unsittlich machen könne — soweit nicht der Tatbestand des § 226 B G B . gegeben ist. So Staudinger 9. Aufl. zu § 826, Anm. 3 b Abs. 3 und die dort angeführte Rechtsprechung; ferner das Reichsgericht im Urteil vom 3. VII. 1919 ( J W . 1919, S. 993) wo es heißt, daß eine Handlung erlaubt bleibe, so lange die Rache nur Nebenzweck sei. ») ArbR. Rechtsprechung 1928, Nr. 2752. ! ) JW. 1928, S. 309. 3 ) Daß auch Urteile aus der Inflationszeit anders zu werten sind als Urteile aus ruhigen Zeiten, ist oben S. 41 ausgeführt. 4 ) Bensh. Samml., Bd. 5 RAG. S. 529. 5 ) Siehe oben S. 16.

A. Der Arbeitskampf

63

ß. Maßnahmen im Interesse des einzelnen Arbeitgebers. Neben dem Boykott eines Arbeitnehmers im Interesse der Gesamtheit der Arbeitgeber steht, wie erwähnt, die aus Konkurrenzgründen vereinbarte Einstellungssperre, das Solidaritätsabkommen. Das ist die Abrede verschiedener Arbeitgeber — meist des gleichen Berufszweigs — gegenseitig ehemalige Angestellte und Arbeiter nur mit Genehmigung des früheren Arbeitgebers zu beschäftigen. Das GG. Berlin erließ im Jahre 19251) eine Entscheidung, die eine solche Abrede mit dem Ziel, die Abwanderung der Arbeiter zur Erlangung höherer Löhne zu hindern, für zulässig erklärte. Da nach Lage des Falles von einer Existenzgefährdung durch die Sperre keine Rede sein konnte, steht dieses Urteil mit der bisher wiedergegebenen Rechtsprechung im Einklang. Das LG. III Berlin führte am 24. VI. 19262) im Gegensatz zu dieser Entscheidung aus, daß die Einstellungssperre gegen die guten Sitten verstieße. Die Gründe dieser Entscheidung sind dem kurzen Abdruck leider nicht zu entnehmen. Das LAG. Chemnitz erklärte am 19. II. 19273) die Einstellungssperre für eine Unterart des Boykotts. Als Kennzeichen der Sittenwidrigkeit nennt es die Verwendung an sich unsittlicher Mittel, die Verletzung der Wahrheitspflicht und die Verhetzung, das Mißverhältnis zwischen Ziel und Druckmittel und natürlich auch die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz des Gegners. Während diese Urteile sich mit der Anwendung der in der Rechtsprechung über Boykottfälle entwickelten Anschauungen begnügten, ging das ArbG. Berlin am 24. I. 19284) weiter. Es erklärte die Einstellungssperre für unzulässig, wenn mit ihr nicht eine angemessene Entschädigung für den Fall der Nichtanstellung gewährleistet ist. Eine Einstellungssperre, die diesen Anforderungen nicht entspricht, verpflichtet nach Ansicht des Gerichts gemäß § 826 BGB. zum Schadensersatz. Diese Entscheidimg fußt auf der Ähnlichkeit des mit der Einstellungssperre erstrebten Erfolgs mit dem Ziel der Konkurrenzklausel nach §§ 74ff. HGB. Die allgemeine Rechtsüberzeugung hat im HGB. Ausdruck gefunden. Für Freiheitsbeschränkungen im Interesse des Arbeitgebers wird der Angestellte entschädigt. Die Auffassung des ArbG. Berlin geht nun dahin, daß eine Umgehung dieser Entschädigungspflicht gegen die guten Sitten verstieße. Die Entscheidung hat wenig Beachtung gefunden. Sie ist offenbar abwegig. Die analoge Anwendung der Rechtssätze des HGB. über Vereinbarungen des Arbeitgebers mit seinen Angestellten auf Verträge mehrerer Arbeitgeber erscheint bedenklich. Der Grundsatz der bezahlten Karenz ist nicht ganz allgemein Inhalt unserer Rechtsordnung geworden. Die Gewerbeordnung läßt beispielsweise Konkurrenzklauseln ohne Vergütung in weitem Umfang zu5). ') Urteil ohne Datum NZfA. 1925, S. 677; GKG. XXXI., S. 38. ArbR. 1927, S. 404, Nr. 518 (Jadesohn). ArbR. Rechtsprechung 1928, Nr. 1865—1867. «J ArbR. Rechtsprechung 1928, Nr. 2744; NAK. Karte „Grundsätze IV" vom 1. IV. 1928. 5 ) § 133 f GO. 3)

64

II. Streitigkeiten von Arbeitnehmern mit Arbeitgebern

Das Reichsarbeitsgericht hat im Urteil vom 13. VI. 19281) eine Einstellungssperre, die dem Arbeitnehmer nicht bekanntgegeben wurde, f ü r nicht sittenwidrig angesehen. Es kommt nach seiner Ansicht darauf an, „ob der Arbeitgeber bei Verweigerung der Zustimmung zur Einstellung seines ehemaligen Arbeitnehmers in Wahrnehmung berechtigter geschäftlicher Interessen handelte, die er dessen Interessen an dem gegenteiligen Verhalten voranstellen durfte. Traf dies nicht zu, so verstieß er gegen die Anforderungen des Anstands und der Ehrbarkeit im Verkehrsleben und verletzte damit die guten Sitten" 2 ). Das Urteil des Reichsarbeitsgerichts geht stillschweigend davon aus, daß der hier fragliche Fall einer Einstellungssperre keine Existenzgefährdung enthielt. E s soll nicht ernstlich bezweifelt werden, daß die dem Reichsarbeitsgericht vorgelegte Vereinbarung verschiedener Firmen der Bekleidungsbranche den Kläger nicht von jeder Betätigung ausschloß. Bei der Bereitwilligkeit, mit der die Gerichte in Prozessen verschieden organisierter Arbeitnehmer auf diese Frage eingingen, wäre aber auch hier ihre Erörterung angebracht gewesen. Der Sittenbegriff findet im Urteil eine neue Umschreibung. „Anstand und Ehrbarkeit im Verkehrsleben' 1 ist eine auf kaufmännische Verhältnisse zugeschnittene Formel. Das, was mit ihr gemeint ist, weicht nicht vom Inhalt der üblichen Ausdrucksweise ab. Das LAG. Chemnitz erklärte am 1 0 . VII. 19283) ein Solidaritätsabkommen, dessen Zweck nicht klar umrissen war, f ü r unsittlich, weil es eine Knebelung des Einzelnen zu Gunsten seiner früheren Arbeitgeber enthielte u n d mit der Möglichkeit freier Betätigung der Arbeitskraft nicht vereinbar sei. Das Urteil des Reichsarbeitsgericht vom 9. I I . 19294) bringt die im Urteil vom 13. V I . 19286) vermißte Erörterung der Existenzgefährdung. Die Klage des Arbeitnehmers wird zugesprochen, weil die Beklagte, seine frühere Arbeitgeberin, ihm die Verwertung seiner Arbeitskraft in seinem Berufszweig durch das Solidaritätsabkommen unmöglich macht. Zum gleichen Ergebnis f ü h r t e das Urteil des Reichsarbeitsgerichts vom 3. X . 1929 6 ). Der Kläger fürchtete seine Entlassung, da die Beklagte, seine Arbeitgeberin, ihren Betrieb stark einschränkte. Eine andere Firma war zunächst bereit, ihn einzustellen; nahm ihn dann aber doch nicht auf, weil die Beklagte auf Grund ihres Solidaritätsabkommens mit jener Firma widersprach. Kurze Zeit später stimmte die Beklagte zu. Die Klage auf den entgangenen Lohn f ü r die Zwischenzeit hatte Erfolg. Das Reichsarbeitsgericht sagt, daß unter heutigen Verhältnissen das Streben des Klägers nach ununterbrochener Beschäftigung besonders schutzwürdig ist. RAG. Bd. 2, S. 64; Bensh. Samml. Bd. 3 RAG., S. 16; NZfA. 1928. S. 633; ArbR. 1928, S. 515; KA. Karte „Einetellungssperre, EinzelläUe I " vom 15. VIII. 1928. s ) Zustimmend Kallee KA. a. a. O. ArbG. X X X I I I , S. 470. 4 ) RAG. Bd. 3, S. 174; Bensh. Samml.. Bd. 5 RAG., S. 123; J W . 1929, S. 1312 mit zustimmender Anmerkung von Oertmann. 6 ) Oben auf dieser Seite. 4 ) Bensh. Samml., Bd. 7 RAG., S. 153.

B. Friedensabkommen mit Maßregelungsverbot oder Wiedereinstellungsklausel 6 5

„Die Beklagte ließ, indem sie trotz dieser auch für sie erkennbaren Interessenlage dem anderweitigen Unterkommen des Klägers Hindernisse bereitete, ihm gegenüber die Rücksichtnahme vermissen, die sie ihm vom Standpunkt einer gerechten und billigen Denkungsweise aus schuldete. Ihr Verhalten war daher sittenwidrig." Zusammenfassung. Eine Zusammenfassung der in den Sperre- und Boykottentscheidungen entwickelten Regeln ergibt folgende Sätze: I. Der Boykott und die Sperre sind an sich erlaubt. II. Ihre Verhängung ist aber erst zulässig, wenn alle andern Mittel erschöpft sind.1) III. Bei ihrer Durchführung ist dem Empfänger der Vemifserklärung der wahre Sachverhalt bekannt zu geben.2) IV. Die Gefährdung der Existenz des Gegners ist stets unsittlich.*) V. Boykott als Rache oder Strafe ist unsittlich.4) B. Die Beendigung des Arbeitskampfes: Das Friedensabkommen mit Maßregelungsverbot oder Wiedereinstellungsklausel. Verhandlungen, durch die ein Arbeitskampf beendet wird, spielen sich in der Regel entweder zwischen den Vertretern der beiderseitigen Organisationen oder zwischen Vertretern der Arbeitnehmerorganisation und dem einzelnen Arbeitgeber ab. Die so getroffenen Abreden — die „Friedensabkommen" — sind Vereinbarungen tariffähiger Parteien. Ihr Inhalt ist hier, soweit er die Arbeitsbedingungen, den Zeitpunkt der Wiederaufnahme der Arbeit und Ahnliches betrifft, ohne Bedeutung. Stellt sich nachträglich heraus, daß die Parteien in diesen Punkten zu keiner Übereinstimmung gekommen waren, so werden sie entweder den Kampf fortsetzen oder einander auf Grund der Vereinbarung in Anspruch nehmen. Zu Erörterungen darüber, was gegen die guten Sitten verstößt, geben derartige Meinungsverschiedenheiten kaum Anlaß. Die Friedensabkommen enthalten jedoch häufig Bestimmungen, die nicht nur den I n h a l t der neu zu schließenden oder fortzusetzenden ') Vgl. >) Vgl. 3 ) Vgl. und 4, S. *) Vgl. 0

oben S . 4 9 zu Anm. 1, S. 57 zu Anm. 3 und 4. oben S.' 59 zu Anm. 9 bis 12, S. 62 zu Anm. 1, S. 63 zu Anm. 3. oben S. 53 zu Anm. 1, S. 54 zu Anm. 2, S. 57 zu Anm. 2, S. 60 zu Anm. 1 61 zu Anm. 1, S. 63 zu Anm. 3, S. 64 zu Anm. 4, sowie unten S. 81 ff. oben S. 61 zu Anm. 5, S. 62 zu Anm. 2 und 4.

Oettingcr

66

I I . Streitigkeiten von Arbeitnehmern mit Arbeitgebern

Arbeitsverträge betreffen. Um wahrhaft F r i e d e n zu schaffen, wollen sie die Fortsetzung des Kampfes mit andern Mitteln verhindern. Diesem Zweck dienen zwei formularmäßig wiederkehrende Abreden: die Wiedereinstellungsklausel und das Maßregelungsverbot 1 ). Zu besonderen rechtlichen Erörterungen gibt der Abschluß eines solchen Friedensabkommens k e i n e n Anlaß, wenn es zwischen der Organisation der Arbeitnehmer und einem einzelnen Arbeitgeber vereinbart ist. Dann liegt ein Vertrag vor, der den Arbeitgeber unmittelbar zur Wiedereinstellung und zur Unterlassung von Maßregelungen verpflichtet. Der einzelne Arbeiter ist berechtigt, aus diesem Vertrage Ansprüche herzuleiten: es ist ein Vertrag zu seinen Gunsten. Die Rechtslage kompliziert sich, sobald das Friedensabkommen von den beiderseitigen Organisationen getroffen ist. Als Vertrag zu Gunsten eines Dritten, des Arbeiters, mag es anzusehen sein. Aber unser Recht kennt keine Verträge zu Lasten des Vierten, des einzelnen Arbeitgebers. Eine eingehende Erörterung aller rechtlichen Konstruktionen zur Begründung einer Verpflichtung des Einzelarbeitgebers würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen 2 ). Bei der Betrachtung der Urteile über Friedensabkommen mit Wiedereinstellungsklauseln kommt es hier vor allem auf die Frage an, was die Gerichte als sittenwidrige Schädigung angesehen haben. Dabei interessiert die rechtliche Natur des Friedensabkommens hier nur in soweit, als zu prüfen ist, ob die Anwendung des § 826 B G B . überhaupt nötig war, ob nicht auch ohne ihn die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der Wiedereinstellungsklausel zu begründen wäre. Die neuere Rechtsprechung neigt dazu, von einer Arbeitgeberorganisation abgeschlossenen Friedensabkommen mit Wiedereinstellungsklausel und Maßregelungsverbot jede Wirkung zu Lasten des einzelnen Arbeitgebers abzusprechen. Urteile, die eine Verpflichtung des einzelnen Arbeitgebers bejahten, versuchten das mit folgenden Begründungen: 1. Arbeitgeberschaft und Arbeitnehmerschaft bilden eine Einheit. Aus ihrer Gemeinschaft folgt die Rechtswirksamkeit der Organisationsabreden für und gegen den Einzelnen 3 ). 2. Die Organisation tritt beim Abschluß des Friedensabkommens als Vertreter oder wenigstens als Repräsentant des Einzelnen auf. Er ist dadurch unmittelbar an den Vertrag gebunden 4 ). 1 ) D a s typische Friedensabkommen mit Maßregelungsverbot und Wiedereinstellungsklausel lautet: „ D i e Arbeit wird a m . . . wieder aufgenommen. Maßregelungen aus Anlaß des Arbeitskampfes finden nicht statt. Die Streikenden werden wieder eingestellt." Erdel (HansGZ. A. 1926, S. 7) empfiehlt folgende Sätze: „ D i e Arbeit wird am . . . wieder aufgenommen. Die Arbeitsverträge der sich zur Wiederaufnahme meldenden Arbeiter gelten als nicht unterbrochen. Streiktage werden nicht bezahlt. Maßregelungen sind unwirksam." 2 ) Vgl. die Monographie von Kahn-Freund, Tarifvertrag und Wiedereinstellungsklausel. 3 ) Urteil des L G . Dortmund vom 26. II. 1925 (NZfA. 1926, S. 181). Dagegen: Nipperdey HansGZ. A. 1925, S. 298; Rechtsprechung des Reichsgerichts, Bd. 1, S. 77; Kahn-Freund Tarifvertrag und Wiedereinstellungsklausel S. 89. 4 ) Urteil des GG. H a m b u r g vom 18. III. 1924, HansGZ. A. 1924, S. 85, unten S. 68. Dagegen: Hueck, Tarifvertrag, S. 6 7 f f . ; Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, S. 255; Nipperdey, Hans GZ. A. 1925, S. 298 und vor allem Rechtsprechung des Reichsgerichts, Bd. 1, S. 74ff.; Wagemann, Arbeitsgesetze, Anm. 23 zu § 1 TVO. Hierher gehört auch die Erörterung, daß es keine Verträge zu L a s t e n Dritter gibt. Vgl. Kaskel, Arbeitsrecht, 3. Aufl., S. 47.

B. Friedensabkommen mit Maßregelungsverbot oder Wiedereinstellungsklausel 6 7

3. Das Friedensabkommen ist ein Tarifvertrag mit normativem Inhalt. Es geht daher in die Einzelarbeitsverträge ein. 1 ) 4. Das Friedensabkommen ist nicht unmittelbar wirksam. Seine Verletzung verstößt jedoch gegen die guten Sitten und verpflichtet zum Schadensersatz. 2 ) Eine allgemeine Untersuchung über Friedensabkommen wäre dieser Einteilung entsprechend zu gliedern 3 ). Hier soll jedoch nicht die Rechtsn a t u r des Friedensabkommens, sondern die E n t w i c k l u n g der Rechtsprechung betrachtet werden. Diese Entwicklung zeigt die Auffassung der Gerichte vom Begriff der guten Sitten. Unmittelbar nach Erlaß der Tarifvertragsverordnung vom Dezember 1918 ging m a n allgemein davon aus, daß Tarifverträge einen Zwang zur Wiedereinstellung auferlegen könnten. Kennzeichnend für diese Auffassung ist, daß im Jahre 1920 Nipperdey in seinem Buch „Kontrahierungszwang und diktierter V e r t r a g " sowohl die im Tarifvertrag als auch die im Schiedsspruch enthaltenen Wiedereinstellungsklauseln als Fälle des Kontrahierungszwangs a n f ü h r t e , ohne an ihrer Verbindlichkeit Zweifel zu äußern. 4 ) Die erste veröffentlichte Entscheidung, die dieser Annahme widersprach, war das Urteil des LG. I I I Berlin vom 4. IV. 19226). Das Gericht erklärte, die Wiedereinstellungsklausel habe keine unmittelbare rechtliche Wirkung. „Fehlt es an einem privaten oder öffentlich-rechtlichen Titel für eine Leistung, so kann die Unterlassung dieser Leistung niemals eine unerlaubte Handlung darstellen. Das wäre ein Widerspruch in sich selbst. Es kann nicht die Rechtspflicht zu einer Leistung verneint und gleichzeitig die Unterlassung zu einem Verstoß gegen die Rechtsordnung erklärt werden." Dieser Gedanke erscheint abwegig. Ein „Widerspruch in sich selbst" läge nur vor, wenn Rechtsordnung und Rechtspflicht dasselbe • wäre. Die Verneinung der Rechtspflicht zu einer Handlung bedeutet, daß die Handlung nicht e r z w u n g e n werden kann. Ist trotzdem die Unterlassung sittenwidrig, so kann die Handlung — was das Landgericht übersieht — immer noch nicht erzwungen werden, aber es kann wenigstens Schadensersatz verlangt werden. Mir ist unverständlich, wie das Gericht den Grundgedanken seiner Entscheidung mit dem Schikaneverbot des § 226 BGB. in Erdel. HansGZ. A. 1926, S. 7. Nipperdey (Hueck Nipperdey, Lehrbuch deä Arbeitsrechts, Bd. 2, S. 80 ff.) weist nach, daß eine solche Normativwirkving nur eintreten kann, wenn die Arbeitsverhältnisse noch bestehen. Die Klausel wirkt dann etwa wie eine Verpflichtung zur Zurücknahme einer Kündigung. Wenn dagegen die Arbeitsverhältnisse bereits beendet sind, kann auch die normativ gefaßte Wiedereinstellungsklausel keine Wirkung äußern. Es fehlt dann nämlich der Einzelvertrag, in den sie „eingehen" könnte. 2) Kallee; KA. Karte „Maßreglungsverbot" vom 24. X I I . 1923. Dagegen Nipperdey, Hueck Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Bd. 2 S. 83. Vgl. auch Kahn-Freund, Tarifvertrag und Wiedereinstellungsklausel, S. 84, unten S. 77. 3 ) Nipperdey gibt (Hueck Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Bd. 2, S. 80ff.) einen ausführlichen Überbhck Ober den Streitstand und das Schrifttum (a. a. O. Anm. 116.). ') A. a. O. S. 11. Anm. 2 und 3. s ) J W . 1922, S. 1733; KA. K a r t e „Streik, Maßregelungsverbot I " . 6

Oettingrr

68

II- Streitigkeiten von Arbeitnehmern mit Arbeitgebern

Einklang bringen will. Dort ist die Handlung an sich erlaubt, es fehlt also eine Rechtspflicht zur Unterlassung. Trotzdem verpflichtet die Handlung als Versuch gegen das von der Sittenordnung auferlegte Unterlassungsgebot zum Schadensersatz. Das LG. I Berlin wendet sich am 14. VI. 19231) gegen diese Entscheidung. E s hält ihr entgegen, daß zum Tatbestand des § 826 BGB. keineswegs die Verletzung bestimmter Rechtsnormen gehöre. Das Urteil rechtfertigt die Anwendung des § 826 B G B . folgendermaßen: „In Auswirkung der bei Kriegsende begründeten Arbeitsgemeinschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bedeutet die Nichtinnehaltung derartiger von den Organisationen getroffener Abmachungen durch die Einzelmitglieder nach allgemein herrschender Ansicht der beteiligten Kreise eine Handlung, welche, weil sie den sozialen Frieden und die Fortfuhrung der Wirtschaft gefährdet, als gegen die guten Sitten verstoßend angesehen werden muß." Das Gericht kommt trotzdem zur Klagabweisung, weil die Beschäftigungslage des Betriebs der Wiedereinstellung entgegenstand, sodaß ihre Ablehnung nicht als Maßregelung aufzufassen war. Dieses Urteil ist das erste, das nicht auf die allgemeinen Sittenanschauungen, sondern auf die Auffassung der beteiligten Kreise abstellt. 2 ) Seine Feststellung, die Gefährdung des Arbeitsfriedens verstoße gegen die guten Sitten und werde von den beteiligten Kreisen mißbilligt, ist wohl nicht einmal für die Inflationszeit richtig gewesen. Sie entspringt jener Gleichstellung von Staat und Wirtschaft, der wir bereits im Urteil des LG. Berlin vom 8. X I . 19233) begegneten. Gegenüber der späteren Entwicklung der Rechtsprechung ist jedoch daran festzuhalten, daß noch im Jahre 1923 ein Gericht die Uberzeugung hatte, die beteiligten Kreise mißbilligten den Verstoß gegen ein Friedensabkommen. Das hamburgische Gewerbegericht und das LG. Hamburg als Berufungsinstanz fällten in den Jahren 1924 und 1925 eine Reihe von Urteilen, die der Wiedereinstellungsklausel auf Grund der Vertretungs- oder Repräsentationstheorie Wirkung beilegten. Von den veröffentlichten Urteilen sind die Entscheidungen des GG. Hamburg vom 29. II. 19244) und das Berufungsurteil des LG. Hamburg vom 9. V. 19254) zu nennen. Das Urteil des GG. Hamburg vom 18. III. 19245) erörtert die Frage auch in Hinblick auf § 826 BGB. Es erklärt den Verstoß gegen ein Friedensabkommen für „einen Akt schwerster Illoyalität". „Ein solches Verhalten muß die größte Erbitterung auslösen und verstößt gegen die Anstandsbegriffe aller derer billig und gerecht Denkenden, die die Verhältnisse kennen, und nur darauf kann es ankommen." Auf diese Entscheidung nimmt das GG. Hamburg in seinem Urteil GKG. XXVIII, S. 197; KA. Karte „Streik, Maßregelungsverbot I". >) Siehe oben S. 58 f. 3 ) Oben S. 41.