Schriften : Beiheft 1
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Ludwig Wittgenstein Schriften

Beiheft 1

Mit Beiträgen von Ingeborg Bachmann Maurice Cranston · Jose Ferrater Mora Paul Feyerabend · Erich Heller Bertrand Russell · George H.vonWright Suhrkamp

WITTGENSTEIN / SCHRIFTEN · BEIHEFT 1

Ludwig Wittgenstein / Schriften

Beiheft 1 Mit Beiträgen von Ingeborg Bachmann · Maurice Cranston Jose Ferrater Mora · Paul Feyerabend Erich Heller · Bertrand Russell George H. von Wright

Suhrkamp Verlag

Unveränderter Nachdruck der ersten Ausgabe von 1960

Zweite Auflage 1972 © dieser Ausgabe: Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1960. Alle Rechte vorbehalten. Drude: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden. Printed in Germany.

Inhalt

Ingeborg Bachmann

Zu einem Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte

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Maurice Cranston Bildnis eines Philosophen

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Josi Ferrater Mora Wittgenstein oder die Destruktion

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Paul Feyerabend Ludwig Wittgenstein

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Erich Heller Unphilosophisdie Betrachtungen

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Bertrand Russell

Vorwort zum Tractatus logico-philosophicus

68

George Henrik von Wright

Biographische Betrachtung

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Ingeborg Bachmann Ludwig Wittgenstein · Zu einem Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte Als vor zwei Jahren Ludwig Wittgenstein in Cambridge starb, erschien in einigen Wiener Blättern eine kurze Notiz: »Im Alter von ... verschied in ... der bekannte Philosoph . . .« Nun, er war keineswegs bekannt; er war eigentlich der unbekannteste Philosoph unserer Zeit, ein Mann, auf den ein Wort seines Landsmannes Karl Kraus zutriffi, der von sich einmal sagte: »Ich bin berühmt, aber es hat sich noch nicht herumgesprochen.« Daß es sich nicht herumspreche, dafür hat Wittgenstein selbst gesorgt. Auch trägt das einzige Buch, das er zu seinen LebZeiten herausgab, einen Titel so ohne »appeal«, daß sich, mit Ausnahme eines kleinen Kreises von Fachgelehrten, niemand dran vergriff. War er in seinem Werk nur wenigen erreichbar, so in seinem Leben keinem; er mied nach Abschluß des Tractatus logico-philosophicus* die Welt und den Ruhm, verwischte seine Spuren, zog für Jahre als Dorfschullehrer auf das Land, und von seinen letzten Jahren in Cambridge, wo er als Nachfolger von G. E. Moore den Lehrstuhl für Philosophie innehatte, erzählte man, daß er eine Hütte bewohnt habe und darin nur einen einfachen Stuhl als Ausstattung duldete. So hat die Legende sein Leben abgelöst noch zur Zeit, als er lebte, eine Legende von freiwilliger Entbehrung, vom Versuch eines heiligmäßigen Lebens, vom Versuch, dem Satz zu gehorchen, der den Tractatus beschließt: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.« Und es war — um es vorwegzunehmen — der Versuch, die Philosophie schweigend zu vollziehen, ein absurder Versuch, wie es scheint, aber der einzig legitime für ihn, nachdem er alles Sagbare klar dargestellt hatte (wie er es von der Philosophie forderte) alles Denkbare, das das Undenkbare von innen begrenzt und so auf das Unsagbare deutet.

Dem Namen Wittgenstein begegnet man in der philosophischen Literatur durchwegs im Zusammenhang mit dem »Wiener Kreis«, der einzig originalen Neuschöpfung der empiristischen Philosophie in der Gegenwart, der einst angefeindeten und gefürchteten »Vienna Dynasty« der logischen Positivisten, die, zu einem Teil wenigstens, von diesem eigen1 Zuerst erschienen als »Logisch-philosophische Abhandlung« in den »Annalen der Naturphilosophie«, 1911.

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artigen Denker angeregt, eine neue Schule begründeten. Doch wäre es falsch, Wittgenstein — was fortwährend geschieht — mit dieser Schule zu identifizieren und neben seinem fundamentalen Beitrag zur symbolischen Logik und zu einer mathesis universalis (neu formuliert als »Einheitssystem der wissenschaftlichen Erkenntnis«) zu übersehen, was seinem Werk den höchsten Rang sichert. Nicht die klärenden, negativen Sätze, die die Philosophie auf eine logische Analyse der naturwissenschaftlichen Sprache beschränken und die Erforschung der Wirklichkeit an die naturwissenschaftlichen Spezialgebiete preisgeben, sondern seine verzweifelte Bemühung um das Unaussprechliche, die den Tractatus mit einer Spannung auflädt, in der er sich selbst aufhebt, — sein Scheitern also an der positiven Bestimmung der Philosophie, die bei den anderen Neopositivisten zur fruchtbaren Ignoranz wird, ist ein erneutes, stets zu erneuerndes Mitdenken wert.

Als im Jahre 1929 der Wiener Arbeitskreis um Moritz Schlick mit der Broschüre »Der Wiener Kreis — Wissenschaftliche Weltauffassung« an die Öffentlichkeit trat und mit seinem kühlen, sachlichen Programm eine Protestwelle in der deutschen Philosophie auslöste, lag WittgensteÄnsTractatus schon acht Jahre vor. Im selben Jahr erschien die zweite Auflage von Heideggers Sein und Zeit, die der Arbeitsgemeinschaft in ihrem Kampf gegen den von Deutschland aus, dem Land der Depression.um sich greifenden Irrationalismus Recht zu geben schien. Im Land, und dies war vonnöten, kam die erbitterte Gegnerschaft der Gruppe zum österreichischen Klerikalismus, etwa in Form der Doktrinen des Staatsphilosophen Othmar Spann, hinzu. Es braucht nicht verschwiegen zu werden, daß die Aggressivität, die scharfen Polemiken gegen alle metaphysischen Richtungen, vor allem von Seiten Neuraths, manchmal zu engstirnig waren oder zum Selbstzweck wurden. Doch rechtfertigten die aus echter Leidenschaft nach Genauigkeit und Richtigkeit gewönnenen Erkenntnisse der meisten Mitarbeiter den Anspruch, den der Kreis als internationale Schule von hohem Niveau geltend machte. Für die Entstehung des Neopositivismus war Wien ein günstiger Boden. Seit für Ernst Mach Ende des neunzehnten Jahrhunderts an der Wiener Universität eine Lehrkanzel für »Philosophie der induktiven Wissenschaften« errichtet worden war, gab es in Österreich eine langjährige Tradition empiristischer Wissenschaft, die sich nahezu ausschließlieh mit den Grundlagenproblemen der Naturwissenschaften beschäftigte. 1922 wurde Moritz Schlick auf diesen Lehrstuhl berufen; er hatte bei Planck studiert und stand mit Einstein und Hilbert in persönlichem Verkehr. Ähnlich seinen Vorgängern Boltzmann und Mach kam er also

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von der Physik her zur Philosophie, doch hatte er ihnen eine eingehende Kenntnis der Philosophie voraus. Um ihn bildete sich bald ein Kreis von Schülern und philosophisch interessierten Gelehrten: Rudolf Carnap, der puristische Logistiker, und die berühmten Mathematiker Menger und Hahn zählten zu ihnen. Schlick war überdies der einzige Gelehrte der Arbeitsgemeinschaft, den Wittgenstein hin und wieder bei sich sah und am stärksten beeinflußte. Die Stellung des Kreises Wittgenstein gegenüber war jedoch nicht einhellig. Es konnte nicht übersehen werden, daß der führende positivistische Logistiker, der dem Durchschnittsdenken das Recht auf jedes »Rätsel« absprach, von einem mystischen Erlebnis des Unsagbaren erschüttert, seine Skepsis nur gegen dessen Gewicht hielt. Der »unio mystica« des Forschers, der die unsagbare Gegenwart des Realen in wenigen Augenblicken der Gnade empfindet, galten auch die letzten Worte Schlicks, dessen Ermordung im Jahre 1934 für den Kreis einen unersetzlichen Verlust bedeutete. Nach seinem Tod wurde ein immer strengerer, »physikalistischer« Kurs eingeschlagen, und Carnap und Neurath verbanden sich zu einer Absage an Schlicks und Wittgensteins »Urerlebnisse«. Die Hauptthesen des Neopositivismus finden wir im Tractatus logicophilosophicus vorgebildet, der, formal gesehen, eine Kuriosität ist. Er besteht aus losen, brillant geschriebenen, numerierten Aphorismen und beginnt mit dem lapidaren Satz: »Die Welt ist alles, was der Fall ist« (1). Wittgenstein geht von der Grundthese Bertrand Russells aus, wonach die Welt sich aus voneinander völlig unabhängigen Tatsachen zusammensetzt. Uber die Gesamtheit der Tatsachen hinaus, in die sie zerfällt, ist sie nichts. Als Abbild dieser voneinander unabhängigen Tatsachen muß unsere Erkenntnis immer vereinzelt sein. Nun bilden wir aber allgemeine Sätze, die dies zu widerlegen scheinen. Etwa: »Alle Menschen sind sterblich.« Doch die Wahrheit einer solchen allgemeinen Aussage, auf deren Zuverlässigkeit wir uns stützen, wird bestimmt durch die Wahrheit etwa der Einzelaussagen »Peter ist sterblich« und »Hans ist sterblich«, wobei das verbindende »Und« die Funktion hat, die Wahrheit des allgemeinen Satzes zu gewährleisten. Ein neuer Sinn, eine neue, allgemeine Wahrheit, über die Wahrheit der Einzelaussagen hinaus, entsteht jedoch bei einem allgemeinen Satz nicht. Dieses harmlose Beispiel aus der Logik hat nun weniger harmlose Folgen. Denn es demonstriert, daß die Logik — dies ist wörtlich und banal zu verstehen — gar nichts besagt. Sie hat — um mit Wittgenstein zu sprechen — rein tautologischen Charakter. Somit kann die Logik die Wirklichkeit nicht erforschen und nichts über sie lehren. Da die Philo-

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Sophie nun als logische Analyse der Sprache definiert wird, kann auch sie nichts über die Wirklichkeit aussagen; sie ist nur eine Tätigkeit und übt eine Art Kontrolle aus. Ihr analytisches Werkzeug, die Logik, erfuhr schon gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts eine tiefgreifende Umgestaltung durch die Verwendung von Symbolen nach Analogie der Mathematik. Russell und Whitehead hatten in ihren Principia mathematica gezeigt, daß die mathematischen Grundbegriffe (die natürlichen und erweiterten Zahlen, die Begriffe der Analysis und der Mengenlehre) mit logischen Grundbegriffen, aufgrund logischer Grundsätze, konstituiert werden können, wenn man zwei neue Axiome — das Unendlichkeits- und das Auswahl-Axiom — hinzunimmt. Die Mathematik war als Zweig der Logik entdeckt. »Die Logik der Welt, die die Sätze der Logik in den Tautologien zeigen, zeigt die Mathematik in den Gleichungen« (6. 22), formuliert Wittgenstein. Verstehen wir es richtig: Wie die Zahlen in der Mathematik nicht Gegenstände unserer Erfahrungswelt bedeuten und die Geometrie nicht den wirklichen Raum beschreibt, so beschreiben die Symbole der Logik nicht die Gegenstände und deren Beziehungen. Wir ordnen sie, wenn wir denken, ihnen nur zu. Der Neopositivismus nimmt also einerseits am Empirismus, anderseits an Kant eine empfindliche Korrektur vor: Die Gesetze der Logik sind zwar a priori, aber ihre Aussagen sind zugleich leer und nichtssagend; das heißt also, daß auch Kants These, sie seien synthetisch, unhaltbar ist. Die einzigen Sätze, die sinnvoll sind und etwas besagen, sind Erfahrungssätze, — Sätze also, die sich auf die Sachverhalte der Wirklichkeit beziehen. Diese Sätze treten in den empirischen EinzelWissenschaften auf. Spezifisch philosophische Sätze aber, wie sie die Metaphysik aufstellt, müssen, da sie der empirischen Wissenschft und ihren Methoden unzugänglich sind und dennoch mehr sein wollen als Tautologien, als Scheinsätze bezeichnet werden.

Wie im Wiener Kreis Scheinsätze »entlarvt« wurden, soll an der Heidegger-Kritik von Rudolf Carnap gezeigt werden. In seinem Aufsatz »Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache«* gibt Carnap einige Proben aus Martin Heideggers Schrift »Was ist Metaphysik«8, um zu zeigen, daß derartige Satzbildungen auf einer Verletzung der logischen Syntax beruhen. »Erforscht werden soll das Seiende nur und sonst nichts; das Seiende allein und weiter — nichts; das

1 »Erkenntnis·, Band 2, Leipzig 1931. > Bonn 1929.

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Seiende einzig und darüber hinaus — nichts. Wie steht es um dieses Nichts? — Gibt es das Nichts nur, weil es das Nicht, d. h. die Verneinung gibt? Oder liegt es umgekehrt? Gibt es die Verneinung und das Nicht nur, weil es das Nichts gibt? — Wir behaupten: Das Nichts ist ursprünglicher als das Nicht und die Verneinung. — Wo suchen wir das Nichts? Wie finden wir das Nichts? — Wir kennen das Nichts. — Die Angst offenbart das Nichts. — Wovor und warum wir uns ängsteten, war ,eigentlich‘ — nichts. In der Tat: das Nichts selbst — als solches — war da. — Wie steht es um das Nichts? — Das Nichts selbst nichtet.« Carnap versucht nun, in einem Schema die einzelnen sinnlosen Bildüngen herauszustellen, indem er ihnen unter »I« Sätze in grammatischer Analogie zur Seite gibt und unter »III« die Schreibweise der Logistik beifügt:

I. Sinnvolle Sätze der üblichen Sprache

II. Entstehung von Sinn- III. Logisch korrekte losem aus Sinnvollem Sprache in der üblichen Sprache

A. Es gibt nicht (existiert A. Was ist draußen? A. Was ist draußen? nicht, ist nicht vordr (?) . dr (?) handen) etwas, das Draußen ist nichts. Draußen ist Regen. draußen ist. dr (Re) dr (Ni) ~(qx). dr (x) B. Wie steht es um diesen B. »Wie steht es um die- B. Alle diese Formen Regen? (d. h.: was läßt ses Nichts?« können überhaupt ? (Ni) sich über diesen Regen nicht gebildet werden. sonst noch aussagen?) ? (Re) 1. »Wir suchen das 1. Wir kennen den Regen Nichts«, k (Re) »Wir finden das 2. Der Regen regnet Nichts«, re (Re) »Wir kennen das Nichts«. k (Ni) 2. »Das Nichts nichtet«. ni (Ni) 3. »Es gibt das Nichts nur, weil...« ex (Ni) Carnap argumentiert nun: Schon die Satzform II A als Frage und Antwort entspricht nicht den Forderungen, die an eine logisch korrekte Sprache zu stellen sind, aber sie ist noch sinnvoll, weil man sie in die

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logisch korrekte Sprache übersetzen kann (III A). Ihre Unzweckmäßigkeit zeigt sich aber, wenn wir zu den Sätzen II B weitergehen, die sich in der logisch korrekten Sprache überhaupt nicht bilden lassen. Denn in II B i wird das Wort »nichts«, mit dem man in der üblichen Sprache einen negativen Existenzialsatz formulierte, als Gegenstandsname verwendet. Im Satz IIB 2 kommt das bedeutungslose Wort »nichten« hinzu und macht diesen Satz doppelt sinnlos. Der Satz II B 3, der als einziger Satz nicht in grammatischer Analogie zu I B steht, stimmt mit den vorhergehenden Sätzen in dem Fehler überein, das Wort »nichts« als Gegenstandsnamen zu benutzen, und selbst wenn es zulässig wäre, »nichts« zur Kennzeichnung eines Gegenstandes einzuführen, enthielte er einen Widerspruch, weil in demselben Satz diesem Gegenstand wieder die Existenz zugeschrieben wird, die ihm in seiner Definition abgesprochen wurde. Dieser Argumentation freilich — dessen ist Carnap sich bewußt — entzieht Heidegger sich. »Im Wirbel eines ursprünglicheren Fragens« glaubt er die Idee der Logik sich auflösen zu sehen und fühlt sich ihr darum nicht mehr verpflichtet. Aber der Neopositivist muß daran festhalten, daß eine zweite größere, »wahre« Wirklichkeit, in der auch das »Nichts« beheimatet sein soll, nur behauptet werden kann; doch von vornherein ist gewiß, daß sie sich nicht verifizieren lassen wird. Wittgenstein geht somit von der Erforschung der Logik aus, die gleichbedeutend mit der Erforschung aller Gesetzmäßigkeit ist: »Und außerhalb der Logik ist alles Zufall« (6.3). Die Gesetzmäßigkeiten, die erforscht werden, sind aber keine Erklärung. »Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, daß die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien «(6.371). Geschieht doch in der Welt alles, wie es geschieht, und ist doch alles, wie es eben ist : »Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist« (6.44)*. »Sinn«, der aus einer Erklärung kommen müßte, ist nicht in der Welt. Von der Welt als der Gesamtheit aller Tatsachen machen wir uns Bilder, die wiederum den Tatsachen zuzurechnen sind. Zwischen dem Bild nun und der Wirklichkeit, dieesabbildet, ist etwas Gemeinsames, das die Abbildung ermöglicht: die Form (räumliche Form bei Abbildung von Räumlichem, farbige Form bei Abbildung von Farbigem und so weiter). Zudem ist jede Form, unter allen Umständen, logische Form, und jedes 4 Ewald Wasmuth macht, mit Recht, darauf aufmerksam, daß das »Mystisehe« in diesem Satz an Platons »Staunen« und an Heideggers Frage: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts?« erinnere. Doch wäre es Wittgenstein unmöglich, eine solche Frage zu stellen, da er verneint, was Heidegger voraussetzt: daß im Denken das Sein zur Sprache komme.

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Bild ist daher auch ein logisches Bild. »Das logische Bild kann die "Welt abbilden« (2. 19). Mit anderen Worten: Da das logische Bild der Gedanke ist, ist alles, was denkbar ist, auch möglich, und da die Sprache die Gesamtheit der Sätze ist, muß Philosophie notwendig Sprachkritik — logische Analyse der Sprache — sein. Denn: »Die Gesamtheit der wahren Sätze ist die gesamte Naturwissenschaft« (4. 11). »Die Philosophie ist keine der Naturwissenschaften« (4. in). »Das Resultat der Philosophie sind nicht )philosophische Sätze«, sondern das Klarwerden von Sätzen« (4. 112). Von der klaren Darstellung des Sagbaren ausgehend, verweist Wittgenstein unvermutet darauf, daß die Philosophie damit das Unsagbare bedeute. Was ist nun dieses Unsagbare? Zuerst begegnet es uns als Unmöglichkeit, die logische Form selbst darzustellen. Diese zeigt sich. Sie spiegelt sich im Satz. Der Satz weist sie auf. Was sich zeigt, kann nicht gesagt werden; es ist das Mystische. Hier erfährt die Logik ihre Grenze, und da sie die Welt erfüllt, da die Welt in die Struktur der logischen Form eintritt, ist ihre Grenze die Grenze unserer Welt. So verstehen wir den Satz: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« (5.6). Diesseits der »Grenzen« stehen wir, denken wir, sprechen wir. Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes entsteht, weil wir selbst, als metaphysisches Subjekt, nicht mehr Teil der Welt, sondern »Grenze« sind. Der Weg über die Grenze ist uns jedoch verstellt. Es ist uns nicht möglieh, uns außerhalb der Welt aufzustellen und Sätze über die Sätze der Welt zu sagen. Darum kann es auch keinen Wert geben, — »und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert« (6. 41). Es kann keine Sätze der Ethik geben, da ein Satz nichts Höheres ausdrücken kann. Es kann auch der Wille nicht Träger des Ethischen sein, denn die Welt ist unabhängig von unserem Willen. Nichts, was die Sprache auszudrücken vermag — also die Tatsachen der Welt —, ist durch den Willen veränderbar. Veränderbar sind nur die Grenzen der Welt, und darüber müssen wir schweigen. Keine der Fragen, die wir an die Philosophie zu richten gewohnt sind, kann sie uns also beantworten. Mit der Frage nach dem »Sinn von Sein« werden wir auf uns selbst verwiesen. Die Bewegung, die hinter diesem Philosophieren steht, das nicht zur Lösung unserer Lebensprobleme beitragen kann, das in seiner Leidenschäft nach der ganzen Wahrheit nur die dürre, formelhafte, »ewige« Wahrheit der Logik zu bieten hat — Sätze, die wir überwinden müssen, um die Welt richtig zu sehen —, ist die gleiche, von der Baudelaire in seinem Gedicht »Le gouffre« spricht. Wie Pascal bewegt sich

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Wittgenstein in und mit seinem Abgrund; von allen Grenzen strömt, was er nidit nennen darf, auf ihn ein und setzt ihn dem »drame cardinal« aus. »Ah, jamais sortir des nombres et des etres!«

Im Wiener Kreis hat man sich allerdings darauf beschränkt, sich an das augenfällige Motto des Tractatus zu halten: »... und alles, was man weiß, nicht bloß rauschen und brausen gehört hat, läßt sich in drei Worten sagen.«11 Die logische Analyse der Sprache wurde vervollkommnet, einem »Einheitssystem der wissenschaftlichen Erkenntnis« vorgearbeitet, einer Universalsprache, wie sie schon Leibniz anstrebte, in die alle wissenschaftlichen Teilsprachen übersetzbar sein sollen. Durch eine enge Zusammenarbeit mit der modernen Mathematik und Physik wurde eine Lücke im philosophischen Denken unserer Zeit geschlossen. Auf glänzenden internationalen Kongressen konnte die Wiener Schule ihren Einfluß auf die angelsächsischen und skandinavischen Länder ausdehnen. Deutschland, Frankreich und Italien standen dem Neopositivismus jedoch immer ablehnend gegenüber. In Wien selbst ist es um den Wiener Kreis still geworden. Zwischen 1933 und 1939 wurden seine hervorragendsten Vertreter an ausländische Universitäten berufen; einige gingen in die Emigration, andere wurden Opfer des Nationalsozialismus. Das Publikationsorgan des Kreises, die »Erkenntnis«, wurde als »zersetzend« verboten und mußte in England durch das »Journal of Unified Science« ersetzt werden. Wohin eine Entwichlung der Ideen unter günstigeren Umständen geführt hätte, läßt sich freilich schwer sagen. Die logistische Spezialliteratur, die uns heute von den ehemaligen Angehörigen der Arbeitsgemeinschaft erreicht — Rudolf Carnap, v. Mises, Popper und Reichenbach führen mit verwandten Denkern in den Vereinigten Staaten und England die Arbeit weiter —, läßt erkennen, daß die große Zeit des Neopositivismus vorbei ist, daß man sich in der Behandlung von Details erschöpft. Aber die Zeit für die Entdeckung Wittgensteins dürfte gekommen sein. Aus England erfahren wir, daß eben ein zweites, bisher unbekanntes Werk, »Philosophische Untersuchungen«, erschienen ist; auch von der Existenz eines »Blaubuches«, das Wittgenstein erst nach seinem Tod veröffentlicht wissen wollte, weiß man zu berichten.

i Ferdinand Kürnberger, Wiener Publizist (1821—1879), im Jahre 1848 zur Flucht aus Österreich gezwungen, schrieb Romane und Erzählungen, vor allem jedoch kulturpolitische und gesellschaftskritische Arbeiten. Seine hervorragenden sprachkritischen Aufsätze und Verurteilungen der zeitgenössisehen Presse lassen ihn als einen Vorläufer von Karl Kraus erscheinen.

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Ob er sein Schweigen aufgehoben und den Schritt zu einem Bekenntnis getan hat, ist ungewiß und wenig wahrscheinlich. »Gott offenbart sich nicht in der Welt« (6. 432) ist einer der bittersten Sätze des Tractatus. Aber läßt Wittgenstein uns nicht wissen, daß die sittliche Form, die wie die logische nicht darstellbar ist, sich zeigt und Wirklichkeit ist? »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen«, sagt er am Ende und meint eben diese Wirklichkeit, von der wir uns kein Bild machen können und dürfen. Oder folgerte er auch, daß wir mit unserer Sprache verspielt haben, weil sie kein Wort enthält, auf das es ankäme?

Maurice Cranston Bildnis eines Philosophen

An den englischen Universitäten wird Ludwig Wittgenstein als der größte Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts betrachtet, obwohl er in weiten Kreisen überhaupt unbekannt ist. Er wollte auch unbekannt bleiben. Er veröffentlichte zu seinen Lebzeiten ein einziges Buch, den Tractatus logico-philosophicus, das er vor dreißig Jahren, und einen einzigen Artikel, den er vor zwanzig Jahren schrieb. Er ging der Geseilschaff der meisten anderen Philosophen aus dem Wege, und während seiner Lehrtätigkeit in Cambridge durften sich nur wenige Auserwählte seine Schüler nennen, wobei es nicht selten vorkam, daß Wittgenstein die von ihm selbst getroffene Wahl später verwarf und die Erwählten (ebenso wie seine anderen Freunde) ein für allemal abschüttelte. Etwas Geheimnisvolles umwitterte seine Persönlichkeit, und die wenigen, die überhaupt mit ihm diskutieren durften^ waren meistens klug genug, darüber Schweigen zu bewahren. Doch obwohl Wittgenstein nichts veröffentlichte, schrieb er weiter. An das Geschriebene freilich legte er so strenge kritische Maßstäbe an, daß er fast nichts als drudereif erachtete. Obwohl er das Englische beherrschte und es beim Diktieren von Notizen und Anmerkungen verwandte, faßte er seine Manuskripte lieber in deutscher Sprache ab. Stilistisch genügte ihm von seinen Schriften lediglieh der Tractatus logico-philosophicus. Bertrand Russell, der Wittgenstein sozusagen »entdeckt« hat, schrieb über ihn nach seinem Tode: »Ganz zu Anfang war ich im Zweifel, ob ich ein Genie oder einen Narren vor mir hatte. Doch sehr bald entschied ich mich für das erstere.« Ludwig Wittgenstein war von Geburt Österreicher. Sein Vater war Protestant, seine Mutter Katholikin, doch seine Vorfahren mosaischen Glaubens. Er wurde im Jahre 1889 geboren, als das achte Kind seiner Eltern. Der bekannte Pianist Paul Wittgenstein war sein Bruder; seine Elternverbanden freundschaftlicheBeziehungen mitBrahms.DieWittgenSteins waren eine liberalgesinnte, kultivierte und wohlhabende Familie. Als Zwanzigjähriger kam Ludwig Wittgenstein nach England, um in Manchester Maschinenbau zu studieren. Die Probleme der Technik führten ihn zu den Problemen der Mathematik und diese wiederum zum Studium der Logik. Auf seine Frage, bei wem er sich eingehender

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über die logischen Grundlagen der Mathematik unterrichten könne, verwies man ihn nach Cambridge und an Bertrand Russell, der dort an seinen Principia Mathematica arbeitete. Zunächst wunderte sich Russell. Er berichtet, daß Wittgenstein ihm eines Tages erklärte, alle die Existenz von Wesen und Dingen betreffenden Behauptungen seien sinnleer. »Er sagte mir das in einem Hörsaal, und ich forderte ihn auf, zu der Behauptung >In diesem Saal befindet sich gegenwärtig kein Nilpferd< Stellung zu nehmen. Er wollte nicht an die Richtigkeit meiner Behauptung glauben, woraufhin ich unter allen Tischen und Sitzgelegenheiten vergeblich nach einem Nilpferd suchte. Aber Wittgenstein ließ sich von diesem negativen Resultat nicht überzeugen.« Russell läßt jedoch nicht unerwähnt, daß Ludwig Wittgenstein »rapide Fortschritte in der mathematischen Logik« machte und »sehr bald alles lernte, was ich zu lehren hatte«. Wittgenstein verließ Cambridge nach geraumer Zeit und ging nach Jena, wo Gottlob Frege den Lehrstuhl für Mathematik innehatte, ein Mann, der für die meisten seiner Zeitgenossen noch eine unbekannte Größe war, jetzt aber allgemein als der größte Logiker des neunzehnten Jahrhunderts gefeiert wird. Und wieder einige Zeit später schrieb Ludwig Wittgenstein in einem abgelegenen norwegischen Blockhaus seinen Tractatus logico-philosophicus. Im Vorwort zu dieser Abhandlung sagt er: »Ich verdanke die Anregung zu meinen Ideen den großen Schriften Freges und dem Werk meines Freundes Bertrand Russell.« Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, war die Abhandlung noch unvollendet. Wittgenstein trat in die österreichische Armee ein und schrieb in Abständen an seinem Werk weiter. Im Jahre 1918 wurde er auf dem italienischen Kriegsschauplatz gefangengenommen. Aus der Gefangenschaft schrieb er einen Brief an Russell und deutete an, sein Manuskript sei jetzt so weit gediehen, daß es gedruckt werden könne. Russell verwandte sich für ihn bei der italienischen Regierung und erreichte seine Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft. Die beiden Männer trafen sich in Den Haag und sprachen den Tractatus, wie Russell sagt, »Zeile für Zeile« durch. Der Tractatus ist ein schwieriges Buch. Wittgenstein selbst sagt in seinem Vorwort: »Dieses Buch wird wahrscheinlich nur von denen verstanden werden, die die darin zum Ausdruck gebrachten oder ähnliche Gedanken auch schon gedacht haben.« Die Lehre des Tractatus faßt er mit den folgenden Worten zusammen: »Was sich überhaupt sagen läßt, kann man klar und deutlich sagen, und über die Dinge, über die man nicht sprechen kann, muß man schweigen.«

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Russell hatte bereits die mit zwei Begriffen — richtigen und falschen Behauptungen — operierende alte Logik durch eine neue ersetzt, die zwischen richtigen, falschen und sinnleeren Behauptungen unterschied. Wittgenstein übernahm dieses Rüstzeug, mit dem Russell auf dem begrenzten Felde der mathematischen Logik arbeitete, für seine viel weiter und höher reichenden Forschungen. Die Unterscheidung zwischen dem Sinnvollen (das heißt, dem Richtigen oder Falschen) und dem Sinnleeren erschien ihm von allergrößter Wichtigkeit, und das in seinem Traktat behandelte Thema lautete: Wodurch werden die Dinge, die wir sagen, sinnvoll beziehungsweise sinnleer? Es schien nur zwei Schlußfolgerungen zuzulassen, erstens: die Philosophie kann als Betätigung nützlich sein, obwohl sie keine Tatsachen enthüllt, und zweitens: alle philosophischen Feststellungen müssen, da sie weder richtig noch falsch sind, sinnleer sein In den zwanziger Jahren sagte sich Wittgenstein eine Zeitlang völlig von der Philosophie los. Während des Krieges nämlich hatte sich Entscheidendes ereignet: er hatte zufällig ein Buch von Tolstoi in die Hand bekommen, dessen Lehren starken Einfluß auf ihn gewannen. Er bekehrte sich nicht sofort zum Christentum — das kam später; aber er bekannte sich zum Glauben an die Armut. Der Tod seines Vaters im Jahre 1912 hatte ihn zu einem sehr reichen Manne gemacht. Jetzt faßte er den Entschluß, sein ganzes Vermögen wegzugeben. Aber nicht die Armen sollten es haben — denn Armut war ja etwas Gutes —, sondern die Reichen, denen das Geld ohnehin nicht schaden konnte. Also gab er sein Erbteil an seine Familie zurüdc. Gleichzeitig entschloß er sich, Volksschullehrer zu werden, und gab in der Zeit zwischen 1919 und 1926 Unterricht an verschiedenen österreichischen Dorfschulen. Im Jahre 1926 ginger nach Wien, wo er ein von ihm selbst entworfenes Haus bezog. Er war ein talentierter Architekt und verstand nebenbei auch viel von Musik. Wttgensteins Übersiedlung in die österreichische Hauptstadt bedeutete gleichzeitig seine Rückkehr zur Philosophie, denn in Wien konnte er sich nicht hermetisch von der Außenwelt abschließen. Verschiedene Philosophieprofessoren der Universität suchten ihn auf, namentlich der inzwisdien verstorbene Moritz Schlick, der sich durch Wittgensteins abweisendes Verhalten nicht entmutigen ließ und den Widerstrebenden immer wieder drängte, sich mit ihm über seinen »Tractatus* zu unterhalten. Schlick war sieben Jahre älter als Wittgenstein und entstammte einer anderen wissenschaftlichen Tradition. Er war aus der alten deutsehen Schule hervorgegangen, der die Metaphysik nicht allein als W5ssensdiaft, sondern als »Königinder Wissenschaften« galt — eine Majestät, der alle andern Wissenschaften untertan zu sein hatten. Schlick selbst

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lehnte sich heftig gegen diese Tradition auf. Er wollte die Metaphysik entthront sehen und sympathisierte deshalb besonders mit einer der Schlußfolgerungen von Wittgensteins 7ractatus, daß alle philosophischen Behauptungen sinnleer seien. Audi Schlicks Kollegen — Carnap, Waismann, Goedel, Neurath, Feigl, Frank, Hohn und Bergmann — waren sehr daran interessiert, die Methoden einer Philosophie auszuarbeiten, die nicht mehr die Königin, sondern eher die Magd der Wissenschaften war. Sie erklärten die meisten der überlieferten metaphysischen und ethischen Problemstellungen für sinnleer. Ihrer Auffassung nach sollten sich Philosophen nur mit Problemen der logischen oder der semantischen Analyse abgeben. Von diesen Denkern, die den sogenannten »Wiener Kreis« bildeten, stammt die allgemein als »Logischer Positivismus« bekannte Lehre. Die Anschauungen dieser Männer waren nicht mit denen Wittgensteins identisch. Er gehörte auch nicht zu ihrem Kreis, obwohl viele ihrer Arbeiten seinem geistigen Einfluß zuzuschreiben sind. Übrigens spiegelt auch der mit Recht berühmte Essay Language, 7ruth and Logic, den der englische Philosoph A. J. Ayer mit dreiundzwanzig Jahren schrieb, nicht Wittgensteins Lehren wider, sondern die des Wiener Kreises.

Im Jahre 1929 kehrte Ludwig Wittgenstein nach Cambridge zurück. Aus dem einst so elegant gekleideten jungen Mathematiker und Freigeist, der im Jahre 1911 auf Bertrand Russell einen so guten Eindruck gemacht hatte, war inzwischen ein schäbig aussehender Asket geworden, der weder mit Russells Freidenkertum noch mit seiner gemäßigt rationalistischen Philosophie sympathisierte. Er wurde vom Trinity College honoris causa zum Fellow ernannt. Nachdem er seine Unterkunft mit einem einfachen Strohlager und einem billigen Stuhl ausgestattet hatte, begann er zu unterrichten, obwohl er zu Zeiten das Empfinden hatte, als sei sein Geist vollkommen eingetrocknet. Er arbeitete auch einen ziemlich langweiligen Vortrag für die Aristotelian Society aus, um dann aber bei deren Tagung über ein ganz anderes Thema zu sprechen. Die Gedankengänge G. E. Moores lagen Wittgenstein jetzt näher als die Russells. Er hielt sich jetzt mehr an die erste der beiden Schlußfolgerungen des Tractatus, nämlich »daß Philosophie als Betätigung nützlich sein kann«, als an die zweite, derzufolge »alle philosophischen Feststellungen sinnleer« sind. Wittgenstein demonstrierte seine »Philosophie als nützliche Betätigung« an den Notizen, die er einigen seiner Cambridger Schüler diktierte. Gegen seinen Willen wurden diese mit der Schreibmaschine geschriebenen und lose gebundenen Anmerkungen unter der Hand

20 verbreitet. Ich weiß von drei solchen Sammlungen. Die erste — die früheste und primitivste — ist das Blaubuch; die zweite nennt sich Die Grundlagen der Arithmetik; in der als Braunbuch bezeichneten dritten Sammlung sind die im Blaubuch flüchtig skizzierten Gedanken schärfer profiliert. Den Inhalt dieser Bände hier kurz zusammengefaßt wiederzugeben, ist unmöglidi. Das Braunbuch stellte in gewissem Sinne den Entwurf zu dem Werk dar, das Ludwig Wittgenstein bei seinem Tode abgeschlossen hinterließ und das in England im Verlag Basil Blackwell unter dem Titel Untersuchung im Jahre 1952 veröffentlicht werden soll. (Inzwischen erschienen — Anm. d. Verl.) In den dreißiger Jahren begegnete Wittgenstein Gilbert Ryle, der jetzt Professor der Philosophie in Oxford und Herausgeber der führenden philosophischen Zeitschrift Englands, Mind, ist. Das Zusammentreffen dieser beiden großen Geister bewirkte eine Revolution in den philosophischen Anschauungen Oxfords: die einstige Heimstätte der Metaphysik verwandelte sich in eine Hochburg der »Philosophie als Betätigung«. Auf dem Wege über die aus dem »Wiener Kreis« stammenden Emigranten und dessen Berliner und Warschauer Anhänger erreichte Wittgensteins Einfluß die amerikanischen Universitäten. Zu den führenden, in Amerika geborenen Philosophen, deren Methoden auf Ludwig Wittgenstein zurückgehen, gehören Professor W. V. Quine von der Harvard-Universität, Professor Ernest Nagel von der ColumbiaUniversität und Professor Charles L. Stevenson, Michigan. Wittgenstein wurde im Jahre 1938 britischer Untertan und trat ein Jahr darauf G. E. Moores Nachfolge auf dem Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Cambridge an. Bei Beginn des Krieges suchte er sich eine Beschäftigung als Krankenträger im Guy’s Hospital, später arbeitete er in einem medizinischen Laboratorium in Newcastle-on-Tyne. Die Jahre 1945 bis 1947 waren wieder der Lehrtätigkeit gewidmet. Dann gab er seinen Lehrstuhl auf, um sich ganz und gar auf seine schriftstellerischen Arbeiten zu konzentrieren. Ruhelos zwischen Irland, Amerika, Österreich und England umherreisend, führte Wittgenstein die Untersuchung zu Ende. 1949 erkannte er, daß er nur noch kurze Zeit zu leben hatte. Er verbrachte seine letzten Lebensjahre in Oxford und starb am 29. April 1951 in Cambridge. Er war römisch-katholisch getauft, und ich glaube sagen zu dürfen, daß er sich vor seinem Tode auch innerlich wieder dem römisch-katholisdien Glauben zugewandt hat. Vielleicht klingt das überraschend. Aber im Grunde ist es gar nicht so sehr überraschend. Die Metaphysik war von der Analyse zerschlagen worden, und Ludwig Wittgenstein übernahm, was übrigblieb — zuerst die Wissenschaft und dann die Religion.

Jose Ferrater Mora Wittgenstein oder die Destruktion

Wenn die Welt eines Tages ihre Ruhe wiederfindet und einsieht, daß die Größe eines Menschen nicht nach der Anzahl der ihm gewidmeten Aufsätze zu bemessen ist, wird sie die Entdeckung machen, daß eines der Genies unserer Zeit ein in Wien geborener Professor der Universitat Cambridge war: Ludwig Wittgenstein. Wittgenstein ist immerhin kein völlig Unbekannter: sein Name erscheint seit dreißig Jahren häufig in den Fußnoten vieler philosophischer Schriften, namentlich solcher über mathematische Logik. Aber selbst wenn man gegen alle Wahrscheinlichkeit diese Tatsache als hinreichenden Grund betrachtet, jemanden vor der Vergessenheit zu bewahren: es bleibt nichtsdestoweniger dabei, daß Wittgenstein in der chaotischen Hierarchie unserer Gegenwart längst nicht den ihm gebührenden Platz einnimmt. Selbst die »Analytiker« unter den Philosophen — von denen einige, wie etwa John Wisdom, zu seinen Schülern gerechnet werden können und in deren Augen unsere herkömmliche Philosophie eine Art Götzendienst ist — scheinen nicht zu ahnen, daß der Beitrag, den Wittgenstein zur Logik und Sprachanalyse lieferte, nur eine der vielen Facetten seines einzigartigen Genies war. Wittgenstein könnte seinen Zeitgenossen die Unkenntnis seines Werkes nicht gut zum Vorwurf machen, und zwar aus einem entscheidenden Grund: er hat nicht das geschaffen, was man ein ceuvre zu nennen pflegt. Dieser seltsame Analytiker hat sich bis zu seinem Tode davon ferngehalten, philosophische Abhandlungen, Essays oder gar Romane zu schreiben. Tatsächlich hat er bis heute nur ein einziges Buch veröffentlieht: den Tractatus logico-philosophicus. Dieser erschien erstmals im Jahre 1921, in der letzten Nummer von Ostwalds Annalen der Naturphilosophie. In englischer Übersetzung wurde er im Jahre 1922 mit parallel laufendem Originaltext veröffentlicht. Eine gewisse Anzahl von Auflagen beweist, daß das Werk keineswegs unverkäuflich war. Mag dieses Buch auch, wie schon erwähnt, einen nachhaltigen Einfluß auf die zeitgenössische Logik und Semantik ausgeübt haben, es war nur ein erster, wenn auch durchaus hinreichender Versuch, uns das Genie seines Urhebers zu offenbaren: seine wundersame Fähigkeit, die tragische Größe unserer Epoche widerzuspiegeln. Und in diesem Sinne, so wage idi zu behaupten, hat das Buch wenig Glück gehabt. Man hat

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in ihm einen »Traktat« gesehen, aber niemals das, was es in Wahrheit ist: einen Spiegel. Sicherlich, der Tractatus hat Bertrand Russell genötigt, seine Theorie der Typenhierarchie über Bord zu werfen. Er hat, gleichsam als Kompaß, der Orientierung des »Wiener Kreises« gedient. Er ist eines der Banner gewesen, um die sich der Cambridger Analytiker-Kreis sammelte. Als Ganzes ist er philosophisch beachtlich, oft erregend, beinahe immer bemerkenswert. Aber das scheint uns nicht entscheidend. Der Tractatus war der erste Schliff eines Spiegels, der uns das Bildnis unserer selbst vergrößert und deformiert zurückzuwerfen vermochte. Und insofern hat er eine entscheidende Rolle gespielt; denn er diente Wittgenstein als Sprungbrett zum schwindelerregenden Sprung in den Abgrund. Wegen dieses Sprunges, und zwar einzig und allein wegen dieses Sprunges, werten wir Wittgenstein heute als Genie und wagen hier die Behauptung, daß Wittgenstein und Destruktion zwei fast identische Begriffe sind. Es gibt — oder es gab doch einmal — Genies der Liebe. Es gibt noch heute Genies des Instinktes. Das Genie, mit dem wir es hier zu tun haben, ist ein Genie der Desintegration, der Destruktion, des Bruches. Einige Philosophen, wie Heidegger, haben uns eine Welt voll des Nichts erschauen lassen. Andere, wie Sartre, haben uns eine Welt übervoll des Ekels präsentiert. Kafka und Camus haben uns ein absurdes Universum dargeboten. Aber unsere Epoche ist noch sehr viel schrecklicher; sie bedurfte, sollte sie widergespiegelt werden, eines fast erschreckenden Genies. Heidegger, Sartre, Kafka und Camus lassen uns noch mit dem Vertrauen in die Existenz einer Welt leben. Der Bruch, den sie verkünden, mag er auch furchtbar sein, ist doch nicht radikal. Der Grund, auf dem wir ruhen, hält noch. Das Erdbeben, das uns erschüttert, legt unsere alten Behausungen in Trümmer, aber auch zwischen den Ruinen kann man noch leben, man kann sie wieder aufbauen. Wittgenstein aber läßt uns nach diesen traurigen Verlusten völlig verwaist zurück. Denn wenn mit den Trümmern der Grund und mit dem gefällten Baum das Wurzelwerk verschwindet, werden wir nichts mehr haben, worauf wir uns stützen könnten, wir werden uns auch nicht mehr an das Nichts anlehnen oder mit geistiger Klarheit dem Absurden die Stirn bieten können, wir werden ganz und gar verschwinden müssen. Der Horror, den Wittgenstein vor der Publizität empfand, die Tatsache, daß er sich dafür entschied, seine Gedankenwelt — in den Grenzen, in denen man dieses Wort überhaupt verwenden kann — auf dem offiziellen und äußerlich harmlosen Wege des philosophischen Semi­

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nars mit beschränkter Teilnehmerzahl zu übermitteln, können auf mehrere Motive zurückzuführen sein. Eines von ihnen ist vielleicht die ständige Selbstkorrektur, die den Philosophen, je nach dem Maße seiner Vertiefung in ein Problem, dazu verpflichtet, dieses als noch nicht vollständig ausgereift zu betrachten. Ein anderes Motiv kann, in einer Epoehe der Unruhe, die wieder aufgenommene Maxime »Lebe im Verborgenen« sein, in der sich gewisse Elitegeister am Ende der antiken Welt gefielen. Noch ein anderes ist vielleicht die Treue zu seinem eigenen Wahlspruch? »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.« Es ist sehr wohl möglich, daß alle diese Faktoren mitgespielt haben in diesem seltsamen »Willen zum Geheimnis«. Aber unseres Erachtens trieb ihn ein noch wesentlicherer, seinem Urheber selber nicht bewußter Faktor zum Verzicht auf eine schriftliche Fixierung seiner Gedankenweit, und zwar der folgende. In dem Maße, in dem Wittgenstein seine Gedanken mitteilt, sieht er sich gezwungen, sie zu eliminieren. In dem Maße, in dem sie Form annehmen, sieht er sich vor die Notwendigkeit gestellt, sie zu zerstören. Und das nicht von ungefähr, auch nicht aus extremer gedanklicher Skrupelhaftigkeit. Der Grund ist ein ganz anderer und zugleich viel radikalerer: daß die endgültige und unvermeidliehe Tendenz dieses Denkmodus seine eigene Aufhebung ist. Das Denken ist der große Unruhestifter, fast möchten wir sagen: der große VerSucher. Die Tathandlung selber, das Denken, wird zur großen Schuld, zur wesentlichen Sünde des Menschen. Woraus wir jetzt schließen dürfen, daß die Intention Wittgensteins in ihrer Tiefe die Ausmerzung jeder allgemeinen Idee ist. Er behauptet, daß nichts von dem, was man sage, Sinn haben könne, daß folglich alles, was man sage, Sinn haben könne, woraus wiederum folge, daß alles und der Gedanke an alles in der vollständigen Indifferenz versinke. Der endgültige Ausdruck für die Entwicklung dieses Denkens, das sich selbst vernichtet, würde nur die absolute Stummheit sein. Aber wir wollen uns nicht überhasten. Die »Konklusionen« Wittgensteins müssen, wenn sie verstanden werden sollen, im Zusammenhang mit seiner Methode studiert sein. Es bedarf also einiger Worte über diese Methode.

Zunächst müssen wir betonen, daß wir diese Methode nicht werden »erklären« können. Denn könnten wir das, so wäre sie nur eine philosophische Methode unter anderen. Nun errichtet aber die Methode Wittgensteins kein philosophisches Gebäude, sondern ist eine HeilWissenschaft, sie ist, im präzisesten Sinn dieses Ausdrucks, therapeuti­

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scher Natur. Es handelt sich bei ihm auch nicht um einen logischen, geschweige denn um einen systematischen, sondern — wie man ihn auch gelegentlich genannt hat — einen therapeutischen Positivismus, um eine intellektuelle Psychoanalyse, um medizinische Analytik. Man begreife also, in welchem Grade eine solche »Methode« unaussprechlich ist. Ihre »Explikation« würde nicht mehr und nicht weniger als ihre Anwendung sein. Ihr Inhalt wäre, wie es schon die Philosophie des Tractatus war, eine Tätigkeit, eine Reihe von Operationen. Wittgenstein erklären würde also im Grunde gleichbedeutend sein damit, Wittgenstein zu folgen. Seine Philosophie — das vage Echo, das uns davon erreicht — ist nicht eine Theorie, sondern ein »Appell«, ein Appell an das eigene, von Vorurteilen hin und her gerissene, von Angst zerrüttete, von Unruhe unterminierte Bewußtsein. Dieses »Bewußtsein« ist das für den Menschen typische Bewußtsein: das, was ihn als menschliches Wesen konstituiert. Es wurde entdeckt durch Sokrates, als dieser erkannte, daß die Eigenart des Menschen darin liegt, sich Probleme zu stellen. Besser noch: als Sokrates erkannte, daß der Mensch selber ein Problem ist. Probleme haben und ein Problem sein war seitdem kein Manko. Ganz im Gegenteil, es war unser höchster Adel. Aber die Probleme, die den Menschen zum Menschen gemacht haben, haben ihn auch als solchen vernichtet. Der Mensch war schließlich derart mit Problematik gesättigt, daß er sich am Ende nicht mehr mit der Realität selbst, sondern mit den von der Realität aufgegebenen Problemen befaßte. Schon hat er nicht mehr sich selber, sondern seine eigene Problematik im Auge. Das Heil scheint also einmal mehr das Wissen übertroffen zu haben. Aber im Gegensatz zu dem Heil, das ihm einst widerfuhr, ist das Heil für den Menschen nicht mehr jenseits, sondern diesseits seiner selbst zu erblicken; es liegt nicht mehr darin, sich zu verinnerlichen, um voranzukommen, sondern sich zu veräußerlichen, um zurückzugehen. Wir rühren hier an einen wesentlichen Punkt der Aktion, die uns Wittgenstein vorschlägt. Aber vor der Aktion gab es die Insinuation, da wir hier — das ist evident — weder von Theorie noch von Programm sprechen können. Es war das eine Insinuation von besonderem Charakter, ohne expliziten Zusammenhang mit den Schlüssen, die wir hier daraus ziehen. In der Tat, folgt man einigen der Wege, welche die einzige Schrift Wittgensteins vorzeichnet, so sieht man, daß das zentrale Thema seiner Meditation oder, besser gesagt, seiner Exerzitien Jahre hindurch die Sprache gewesen ist. Kann man einen harmloseren Gegenstand wählen? Die Analyse der Sprache, ihrer Abwegigkeit, ihrer logisehen Implikationen, ihrer Hindernisse und ihrer Fallen hat auf den

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ersten Blick nichts mit der bisher radikalsten Anstrengung zur Enthumanisierung des Menschen gemein. Andererseits ist aber die Sprache natürlich ein zentrales, ja geradezu »das« fundamentale Thema, ist doch Philosophie nichts weiter als eine Analyse der Sprache. Diese Analyse jedoch enthüllt uns die Sprache als mangelhaft, als unzureichend. Das erkannten bereits die Extremisten unter den Logikern. Das erkannten auf ihre Art auch die Mystiker. Jene, weil sprachliehe Sauberkeit nur den Gebrauch tautologischer, folglich unnützer Ausdrücke gestattet. Diese, weil die Sprache eine gewisse Erfahrung auszudrücken unfähig und somit nicht weniger unnütz ist. Bis hier liegt noch nichts besonders Alarmierendes vor. Ganz im Gegenteil. Diese Sprachanalyse hat uns den Aufbau einer ganz neuen Logik und Semiotik ermöglicht. Aber für eine letzte Beurteilung beruht dieser Aufbau noch auf alten Voraussetzungen, so etwa der, daß unser Ausdrucksmedium gereinigt werden muß, wenn wir die uns gestellten Fragen wirklich lösen wollen. So sehr sich die logischen Positivisten, die extremistischen Analytiker und die »Einheitswissenschaftler« voneinander abheben mögen, sie haben ungefähr dieselben Ziele, die sich die Philosophie seit ihren ersten Anfängen gesteckt hat: sie suchen unser Begriffs- und Ausdrucksinstrument zu verfeinern. Wenn wir, so sagt das Haupt des »Wiener Kreises«, Rudolf Carnap, von einer »Formel« auf eine »materielle« Weise sprechen, werden wir betrogen sein. Und das wird uns lehren, über jede Sache in der ihr eigenen Sprache zu sprechen. Durch alle diese Analysen hindurch aber bleibt die traditionelle Lehre vom Menschen fast unverändert. Vielleicht wird der Mensch eines Tages mit der Realität operieren, statt über sie zu kontemplieren. Möglieh auch, daß, was Bewußtsein war, Verhalten wird. Aber das errungene Wissen wird niemals steril sein. Dieses Wissen wird zumindest einen wesentlichen Zweck erfüllen: nämlich zur Lösung von Fragen beitragen. Man wird also nicht einen Augenblick in Zweifel ziehen, daß der Mensch sich Fragen vorlegt. Sicherlich weniger als früher. Eine stattliche Zahl von alten Fragen wird als sinnlos disqualifiziert werden. Der Mensch, wird man sagen, hatte Vorurteile, die nur einem schiechten Sprachgebrauch entsprangen. Eine Sprachbereinigung wird also nicht nur intellektuelle, sondern auch psychologische und soziale Effekte haben. Aber selbst unter diesen Bedingungen wird dieTatsache, daß der Mensch Probleme hat, sich Probleme stellt und sie versuchsweise löst, nicht als eine pure Absurdität erscheinen. Es wird einfach genügen, daß die gestellten Probleme irgendeine Bedeutung besitzen. Wir bleiben damit also noch auf dem Boden des »Humanismus«. Mag der Mensch sich auch auf ihm in einer unvergleichlich reduzierten Bahn bewegen, es gibt

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doch noch etwas, was wir das Menschliche nennen können. Der Mensch manipuliert mit den Dingen und schmiedet deduktive Systeme. Er spielt Schach mit dem Universum. Das ist nicht viel, aber wenn wir genau hinsehen, entdecken wir darin noch ein Fünkchen von dem, was Leibniz einen »kleinen Gott« nannte. Diese Haltung ähnelt bisweilen stark der Wittgensteins, der nicht umsonst einer der Vater des Positivismus gewesen ist. Aber in diesem Fall sind die »Söhne« weniger radikal als der Vater. So leisten sich die Söhne noch manchen unerhörten Luxus: zum Beispiel den Luxus, allgemeine Ideen zu haben, ihren Positivismus als Logik oder als Systematik zu betrachten, oder auch den Luxus, Fragen zu beantworten, wenn nur die eine Vorbedingung erfüllt ist, daß diese Fragen einen Sinn haben. Die Söhne sind im Grunde voller Vorurteile. Eben deshalb diskutieren sie. Eben deshalb erstreben sie die Aufstellung allgemeiner Regeln. Nun aber gibt es für Wittgenstein nichts, was sinnloser wäre, als Fragen zu beantworten. Denn — und damit betreten wir die innerste Herzkammer dieser Haltung — die Fragen müssen nicht beantwortet, sondern aufgelöst werden. Das, was in Frage steht, ist also die Frage selber, die Existenz des Problems. Wittgenstein verneint aber die Möglichkeit, Fragen zu stellen, verneint die Möglichkeit, ein System von Sprachen oder Übersprachen in den Einschuß einer »Idealsprache« oder, wenn man jedes »metaphysische« Problem vermeiden will, einer Syntax zu weben. So etwas ist für Wittgenstein eine Fata Morgana. Es ist — uns, die wir nicht zu seiner Schule gehören, sei eine Interpretation gestattet — ein Rest von »Humanismus«. Denn wenn Menschen fortgesetzt diskutieren, so deshalb, weil es in ihnen eine geheime Wunde gibt. Eine Diskussion über einen beliebigen Gegenstand kann aber für Wittgenstein nur auf zweierlei Weise zu einem guten Ende geführt werden: sei es durch Beibringung eines neuen Elementes, das uns offenbart, daß »die Sache sich so und nicht anders verhält«, sei es durch eine Wortbereinigung, die uns dann auf eine Tautologie führt. Was übrigbleibt, ist nur ein Auf-der-Stelle-Treten, wobei das Wort Stelle den Menschen selbst bezeichnet, der sich dahin entschieden hat, eine Frage zu stellen und zu beantworten, für die keine empirische Gegebenheit eine Antwort zu liefern vermag. Bei diesem Spiel wird der Mensch nur wieder an seine eigene Wunde rühren und ein sträfliches Gefallen an seinem eigenen Krebsgeschwür finden, statt sich dazu zu entschließen, zum Messer zu greifen und das Geschwür zu exstirpieren. Dieses Messer entspricht genau der »Methode« von Wittgenstein. Es

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wird kaum nötig sein, hervorzuheben, daß es sich nicht um ein allgemeines, von Fall zu Fall variierbares Messer handelt, das geeignet wäre, die Geschwüre und Vorurteile jedes X-beliebigen zu exstirpieren. Wenn es sich so verhielte, wäre die Methode wieder einmal zu einem System geworden und die Frage würde am Ende gelöst. Aber die Frage — darauf müssen wir hier bestehen — kann nicht gelöst werden, weil gar keine Frage, sondern vielmehr ein Vorurteil, eine Krankheit, ein Krebsgeschwür und eine Wunde vorliegt. Wittgenstein wird also, exakt gesprochen, keine philosophischen Vorlesungen halten und grundsätzlich niemals etwas schreiben können. Er wird niemals eine Gegebenheit auf einen allgemeinen Satz »reduzieren« können; der allgemeine Satz sagt — exakt gesprochen — nichts aus, da er eine Satzfunktion ist. Vielmehr wird er sich darauf beschränken — um eine mysteriöse Redewendüng unserer Philosophie zu gebrauchen — »die Welt aufzufüllen«. Er wird auch nicht die Fragen auf eine logisch-grammatikalische Analyse reduzieren können, da man von einer Sprache niemals etwas in dieser Sprache selber aussagen kann. Und wenn wir zu einer Übersprache greifen, um von einem »Objekt Sprache« etwas zu sagen, so erreicht man damit nur, daß man die Frage etwas weiter zurüdcschiebt. Am Ende findet man sich, wie der logische Positivist Hans Reichenbach weise warnte, vor den Sachverhalt geführt, daß jede Übersprache im Grunde eine empirische Sprache ist. Und abermals wird konsequenterweise das »Allgemeine« »beseitigt* sein. Daher kommt es, daß die primäre Einteilung der Fragen in »empirische« Fragen und »verbale«, die der Kulminationspunkt der ganzen Wittgensteinschen Analytik zu sein schien, nur eine Etappe zur Annäherung an seine wahre Methode und zur Ausübung seiner unbeschreiblichen Aktivität ist. Denn haben wir einmal jede verbale Frage auf eine syntaktische reduziert, so werden wir die Entdeckung machen, daß eine Vielheit von Syntaxen und nicht etwa, wie die traditionelle Logik glaubte, eine invariante Syntax existiert, die fähig wäre, alle partikulären Satzfunktionen zu binden. So werden wir in Ermangelung einer letzten und einzigen Stütze — eines relativ einheitlichen linguistischen Systems — zu dem schon oben erwähnten Messer greifen müssen. Wir werden diese Methode gebrauchen müssen, die dann aufhören wird, eine Methode, und noch mehr, eine Theorie zu sein, um eine seltsame Psychotherapie, eine destruktive Aktivität zu werden.

Denn wenn es grundsätzlich keine Fragen allgemeiner Ordnung geben kann, wird jede allgemeine Methode erfolglos, elendiglich impotent bleiben. Es wird also eine individuelle, streng personelle Methode not­

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wendig werden. Der Philosophie-Professor wird sich in einen Psychoanalytiker sui generis verwandeln. Der Schüler wird, im strengsten Sinn des Wortes, ein Patient sein. Vielleidit wird der Schüler, im Feuer der Logik und Semantik zusammengeschlagen, zu Boden gedrückt durch das Bleigewicht der Unauflösbarkeit der Antinomien, sich noch eine Illusion erhalten. Er wird zum Beispiel glauben können, daß man, wenn es mehrere Ausdrucksarten gibt, von Analogien zwischen ihnen wird sprechen dürfen. Das Phantom der »allgemeinen Frage« und des »philosophischen Problems« wird sich von neuem vor ihm erheben und den Hilflosen durch die Androhung der Unruhe verwirren, auf der seine menschliche Grundverfassung ruht. Aber seine Illusion wird von kurzer Dauer sein. Wittgenstein wird ihm zeigen, daß es keine Analogie zwischen zwei Ausdrucksarten gibt. Wenn sie existierte, würde sie sich ipso facto als unnütz erweisen. Eine einzige Ausdrucksart würde sie ersetzen. Die Vermutung, daß eine derartige Analogie und das »allgemeine Problem«, das daraus fließt, existieren, wird einzig den Ungenauigkeiten, den Mängeln, den Unbeholfenheiten der Alltagssprache zu verdanken sein, den Fallen, die ein vertrauter und gefährlicher Dämon stellt: unsere Umgangssprache. Sobald ein wenig Ordnunginseine Ausdrucksweise gebracht wird, ergreift der Dämon erschrocken die Flucht. Das Messer wird weiter seine Arbeit tun. Allmählich wird es in das wahre Übel eindringen und an Stelle der bloßen Konservation in einer bereits von dem Echo der Philosophie, von Reminiszenzen an alte menschliche Mythen durchdrungenen Sprache eine wirkliche und wahre Aktivität fordern: die Tat, das Geschwür herauszuschneiden. Wir werden auf diesem Wege nicht zu einem weiteren Problem gelangen, sondern, was für unsere Ruhe wichtiger ist, zum Ursprung des Problems. Der Psychoanalytiker des Intellekts, der therapeutische Positivist, wird nach und nach die verschiedenen Schichten der Sprachen und Untersprachen abtragen, die in die vorausgesetzte Seele des Patienten hineingewachsen sind, lauter durch Illusion miteinander verbundene und durch dunkle emotionale Verwirrungen genährte Schichten. Dazu wird er sich nicht nur des Messers, sondern auch des Mörsers bedienen. Seine destruktive Aktivität wird nicht ermüden. Völlig evident, daß also das erste, was angesichts einer Frage zu tun sein wird, dies ist: sie zu pulverisieren. Und einzig dann, wenn wir die aufgelöste zerstückelte Frage in Händen haben, werden wir ihr auf gleichem Fuße Widerstand entgegensetzen können. Die geistigen »Krämpfe« 'des Patienten — um uns einer Formel von Max Black zu bedienen — werden mit dem Augenblick beginnen, da er die Absurdität nicht nur seiner, sondern jedweder möglichen Frage erkennt. Und nur so wird er wahrhaft befreit, wird

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sein Herz still werden, wird er sich ruhig dem Umgang mit den Dingen widmen. Der Patient wird seinen geistigen Komplex beheben und sich ruhig der »Aktivität« und dem »Leben« weihen können. Ich weiß nicht, wie Wittgenstein und seine Schüler diesen Komplex benennen, noch ob sie — was wenig wahrscheinlich ist — ihm überhaupt einen Namen geben. Ich habe dafür den einzig möglichen entdeckt: ich nenne ihn den »Sokrates-Komplex«. Es ist bereits 2$ Jahrhunderte her, daß in Griechenland ein Mann die der Wittgensteinschen genau entgegengesetzte Operation ausführte. Dieser Mann, Sokrates, wollte auch die Menschen von einem Komplex befreien. Aber diese Befreiung vollzog sich gerade in der Entdeckung, daß der Mensch ein Problem sei. Aus diesem Grunde ist Wittgenstein der »Anti-Sokrates«. Aus diesem Grunde bediente er sich, ebenso wie Sokrates, einer individuellen Methode von Mensch zu Mensch, und schrieb er, ebenso wie Sokrates, nichts oder fast nichts. Dank einer mysteriösen Harmonie sollte das Genie der Destruktion dem Genie der Konstruktion ähneln.

In der durch die Verzweiflung unserer Zeit gefärbten Welt hat sich die Realität selber verfraglicht. Das hat uns zu einer Philosophie geführt, deren Zentrum die radikale Verlassenheit, das Absurde ohne Abschwächung, die Angst, ist. Das hat uns auch zu einer Welt geführt, in der jeder beliebige Glaube kaum noch zu einem transparenten Häutchen taugt, durch das hindurch mit jedem Tag stärker die Verzweiflung des Menschen quillt. In der Welt aber, die uns Wittgenstein dank seiner persönlichen Analysen »beschreibt«, hat sich die Frage selber verfraglicht. Ich kenne keine furchtbarere Weise, die Wurzel selber der gegenwärtigen menschliehen Situation aufzudecken. Ich will, wohlgemerkt, nicht behaupten, daß diese Situation unabänderlich sei; persönlich neige ich eher zu Hoffnung als zu Angst. Aber es handelt sich zumindest um eine Situation, in die sich viele, fast alle Menschen gestellt fühlen. Wenn das Genie eines Denkers, in einer Krisenepoche, darin besteht, die erlebte Krise mit maximaler Intensität zu reflektieren, so kenne ich keine exaktere, schrecklichere und bedrohlichere Spiegelung als die von Wittgenstein dargebotene. Eben deshalb ist Wittgenstein ein Genie, eben deshalb behaupte ich, daß die Welt, wenn sie wieder einmal Ruhe findet, ihre Vergangenheit in diesem Manne exakt gespiegelt finden wird.

Paul Feyerabend Ludwig Wittgenstein I

Der Positivismus des 20. Jahrhunderts ist auf zweifache Weise in der Tradition verankert: hinsichtlich der Methode durch seine Beziehung zu den analytischen Richtungen in der Philosophie, hinsichtlich seiner wichtigsten inhaltlichen Behauptungen durch seine Beziehung zum Empirismus, vor allem dem englischen. Die analytischen Richtungen haben in der Philosophie eine lange Vorgeschidite. Mit Staunen sehen wir, daß die Weise, in der Platon seine philosophischen Vorgänger unter die Lupe nimmt, manches mit der Kritik der logischen Empiristen an der >Metaphysik< gemeinsam hat. »Mir scheint es«, so lesen wir im Sophistes über die ionischen Naturphilosophen, »wie eine Art Märchen, was jeder von ihnen vorträgt; als wären wir Kinder,... ohne sich darum zu kümmern, ob wir ihren Ausführungen auch folgen können oder nicht, führt jeder seine Sache zu Ende ... Kannst du, mein Theaitetos, bei den Göttern da den jedesmaligen Sinn der Worte auch verstehen?« Die analytische Methode ist auch die Untersuchungsmethode des (frühen) Descartes, die von Locke, Berkeley, Hume. Im 19. Jahrhundert ist die Analyse aus der Philosphie fast völlig verschwunden. Fichte, Schelling, Hegel stehen im Vordergrund und beeinflussen die Philosophie in Deutschland, Frankreich, England, Italien. Was in der Philosophie als »mechanisches Denken«, als schlechte Kinderstube gilt, führt in dieser Zeit in der Mathematik und Logik zu einer Revolution. Weierstraß* Aufbau des Infinitesimalkalküls, Dedekinds »Was sind und was sollen die Zahlen?«, die Schriften Cantors, Großmanns, Freges zeigen die Fruchtbarkeit der analytischen Methode auf dem Gebiete der Mathematik und der Philosophie der Mathematik. Die Nachwirkungen dieser Denker geben die eine unmittelbare Grundläge des modernen Positivismus. Die andere ist Ernst Mach. Er formuliert das Leibseeleproblem auf eigenartige Weise. Nicht so sehr die Antwort ist ihm wichtig, als vielmehr die Weise, in der die Frage gestellt wird. Was ist Körper? Was ist Seele? Und nimmt nicht das Leibseeleproblem eine ganz andere Form an, wenn man in beiden Gebieten auf einfache und neutrale Bestandteile zurüdcgeht? Das führt zu einer neuen Einstellung den philosophischen Problemen gegenüber. Man geht nicht mehr geradewegs aufs Ziel los, sondern man betrachtet die Frage aufmerksam, und sucht aus ihrer Reformulierung zu gewinnen.

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Die Entdeckung der logisch-mathematischen Paradoxien und die Lösung, die Bertrand Russell ursprünglich vorschlug, hat diese Tendenz verstärkt und mit einem theoretischen Fundament versehen. Die Situation war etwa diese: Es zeigte sich, daß intuitiv einsichtiges (harmloses) Raisonieren zu Widersprüchen führt, die nicht einfach auf einen WiderSpruch angenommener Prämissen zurückverlegt werden können (reductio ad absurdum), sondern die einen Konstruktionsfehler der gesamten Sprache aufdecken, in der sie auftreten. Es ist hier nicht Raum, um auf diese Paradoxien selbst genauer einzugehen. Es sei nur auf zweierlei verwiesen: 1. In gewisser Hinsicht sind diese Paradoxien eine antike Angelegenheit. Die Geschichte vom Lügner ist eine einfache Form. Irgendwie hat sich die Legende herumgesprochen, daß bereits Aristoteles diese Paradoxien gelöst habe (vor allem Rüstows Buch >Der Lügner« enthält diese Behauptung auf Grund sehr spärlicher Quellen). Das ist nicht der Fall. Die Paradoxien wurden gefährlicher, als sie nunmehr nicht isoliert, sondern innerhalb mathematischer Systeme auftraten und damit die Grundlagen der Mathematik gefährdeten. Das zeigt: 2. daß sie nicht, wie dies oft geschieht, als triviale Mißverständnisse aufgefaßt werden dürfen, deren Lösung denkbar einfach ist. Denn viele der vorgeschlagenen >naheliegenden< oder >intuitiv einsichtigen( Lösungen schalten mit den Paradoxien auch weite Gebiete der Mathematik aus. Die Paradoxien sind also etwas, das die ganze Sprache betriffl, nicht nur ein oder zwei Sätze in ihr. Russells Lösung der Paradoxien bestand nun darin, daß er die Verwendung gewisser Sätze verbot. Diese Lösung stellte er so dar, als seien die fraglichen Sätze von Natur aus sinnleer und als hätten wir sie nur irrtümlich mit einem Sinn versehen. Das ließ den Verdacht entstehen, daß wir auch an anderen Stellen unserer Sprache Gebilde mitschleppen, die wir für Sätze halten, die aber tatsächlich ohne Sinn sind. Liegt es da nicht nahe, anzunehmen, daß die Untersuchung des Sinnes einer Frage die primäre Aufgabe ist und die Lösung etwas, das sich geben wird? Daß die Frage nach dem Fundament des Sinnes wichtiger ist als die Frage nach dem Fundament der Wahrheit? In der Tat hatte man bis jetzt in der philosophischen Tradition (mit gelegentlichen Ausnahmen, etwa bei Locke) nur die Wahrheit von Behauptungen bezweifelt, nicht ihren Sinn. Descartes nahm sich vor, alle Sätze für falsch anzusehen, deren Wahrheit ihm nicht absolut sicher stand. Daß sie sinnlos sein könnten, ist ihm nicht eingefallen. In neopositivistischen Kreisen, im Wiener Kreis vor allem, trifft alles das zusammen: 1. Das analytische Verfahren, dessen Anwendungsbereich wieder auf die ganze Philosophie ausgedehnt wird; 2. das Wis-

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sen um die Anwesenheit von verborgenem Unsinn überall und der Verdacht, daß in der Philosophie ein Häufungspunkt von Unsinn vorliegt (»Der Hinweis... daß der Mensch schließlich die hartnäckigsten Probleme gelöst habe, gibt dem Kenner keinen Trost; denn was er fürchtet, ist gerade, daß die Philosophie es nie zu einem echten Problem bringen werde«, sagt Schlick, der Leiter des Wiener Kreises); und 3. eine Reihe von Annahmen über die Umstände, unter denen ein Satz als sinnvoll bezeichnet werden kann. Diese Annahmen waren das eigentliehe Werkzeug, die eigentliche Leistung. Sie stammen aus der empirisehen Tradition (von Hume vor allem), mit dem Unterschied allerdings, daß sie nunmehr schärfer formuliert sind und daß das Wesen der Mathematik und der Logik mehr klargestellt wird, als dies bei den Empiristen allgemein geschah. In den sog. »Thesen des logischen Empirismus« zusammengefaßt, gaben sie den modernen Positivisten die Zuversicht, daß nunmehr erst das philosophische Zeitalter angebrochen sei. »Es scheint«, so rief Schlick am Philosophenkongreß in Oxford 1930 aus, »daß wir, sobald wir die natürlichen Grenzen der Philosophie festsetzen, unerwartet einen tiefen Einblick in ihre Probleme tun: Wir sehen sie aus einem neuen Gesichtswinkel und erhalten dadurch die Möglichkeit, alle sog. Streitigkeiten auf eine absolut eindeutige und unerschütterliche Weise aufzuklären. Es ist meine feste Überzeugung, daß wir Zeugen einer Ära der Philosophie sind, daß ihre Zukunft von ihrer Vergangenheit sehr verschieden sein wird, von einer Vergangenheit, die so voll ist von erbärmlichen Fehlern, müßigen Kämpfen und fruchtlosen Streitigkeiten.« — Der Hintergrund dieser ganzen Bewegung aber, die »Bibel des modernen Posivitismus«, wie dieses Buch auch genannt wurde, war das Erstlingswerk Wittgensteins, der Tractatus logico-philosophicus. 2

Es ist unmöglich, dem Inhalt dieses Buches, das auf knappen 90 Seiten in einer Reihe von im Dezimalsystem numerierten Sätzen eine Lehre von der Welt, der Sprache im allgemeinen, der Logik, der Mathematik, der Naturwissenschaft, des Mystischen und der Philosophie entwickelt, im Rahmen eines kurzen Aufsatzes nur annähernd Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der ursprüngliche Titel des Buches lautete >LogischPhilosophische Abhandlung< und, wie Waismann mitteilt, war das Wort »Abhandlung« im juridischen Sinn gemeint: Eine Sdilußverhandlung sollte hier über die Philosophie geführt werden. »Das Buch behandelt die philosophischen Probleme«, so schreibt der Verfasser im

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Vorwort, »und zeigt, wie ich glaube, daß die Fragestellung dieser Probleme auf einem Mißverständnis der Logik der Sprache beruht.. . Die Sprache verkleidet den Gedanken, und zwar so, daß man nach der äußeren Form des Kleides nicht auf die Form des bekleideten Gedankens schließen kann.« Die Auffindung der sinnvollen Bestandteile einer Rede, die seit Mach und Russell so wichtig geworden war, ist die Hauptaufgabe des Werkes. Diese Aufgabe wird durch eine Theorie der Welt und der Sprache gelöst. Nach dieser Theorie besteht einerseits die Welt aus beziehungslosen Elementen, sog. Sachverhalten, anderseits sind unsere Beschreibungen Bilder vonSachverhalten und Sach Verhaltskomplexen und müssen sich daher in einfache, logisch voneinander unabhängige, also gleichfalls beziehungslose Sätze, sog. Elementarsätze, auflösen lassen. Diese Elementarsätze sind die Bedeutungselemente, die )logischen Atome* der sinnvollen Rede. Wittgenstein war sich über den Inhalt dieser Sätze (ob sie etwa Beobachtungsaussagen sind) nicht völlig im klaren, aber eines stand ihm fest: »Der einfachste Satz, der Eiementarsatz, behauptet das Bestehen eines Sachverhaltes« und »die Angabe aller wahren Elementarsätze beschreibt die Welt vollständig.« Diese Angabe hat die Naturwissenschaft zu leisten. Die NaturwissenSchaft bezieht sich also ausschließlich auf die Welt. Da nun die Beziehung einer Beschreibung zu einem Sachverhalt oder einem Komplex von Sachverhalten selbst kein Sachverhalt ist (sie steht mit nur einem Bein in der Welt), gibt es auch keine Beschreibung dieser Beziehung mit Hilfe sinnvoller Sätze. Da der Tractatus selbst aber gerade diese Beziehungen zum Gegenstand seiner Untersuchung macht, sind seine Ausführungen sinnlos: »Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie — auf ihnen — über sie hinausgestiegen ist.. . Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.« Die Welt richtig sehen, heißt aber: Über Dinge, Sachverhalte, kurz, naturwissenschaftlich sprechen. Die Rede eines anderen, der nicht so spricht (der metaphysisch spricht), kritisieren und ihn dadurch veranlassen, in die eine Sprache einzutreten und über die Welt zu sprechen. Diese Kritik ist kein Argument (denn sinnvolle Sätze kann sie nicht enthalten), sondern eine Behandlung, eine Tätigkeit. Diese Tätigkeit heißt Philosophie. Diese Lehren und die des Wiener Kreises im allgemeinen implizieren das folgende Verfahren: Es wird von einem unreflektierten Zustand ausgegangen. Der Physiker macht sich keine Gedanken darüber, was seine Hypothesen )eigentlich* bedeuten, er geht daran, sie zu überprüfen und, wenn möglich, zu verbessern. Der Kaufmann, aber auch der Mathematiker, rechnet ganz unbefangen mit den Zahlen oder mit

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komplizierten Ausdrücken. Was an seinen Kalkulationen richtig ist oder falsch, läßt sich bald feststellen, und sonst scheint es hier keine Geheimnisse zu geben. Wir verwenden beim Sprechen Phrasen, die durchaus nicht einfach sind, deren Aufbau auf der Grundlage einer Sprachtheorie, wie der des Traktats, erst auf schwierige Weise ermittelt werden müßte, ohne von dieser Schwierigkeit in unserer Verständigung, im praktischen Gebrauch also, im mindesten behindert zu sein. Dieser paradiesische Zustand philosophischer Unschuld (wenn auch fach wissenschaftlicher Ernsthaftigkeit) ist nach den angeführten Ideen eine Illusion. Jeder Satz kann eine Fallgrube sein, jedes Argument eine gefährliche Schlinge, und Unsinn lauert überall. Es ist nicht ausreichend, daß wir die Probleme so behandeln, wie sie sich uns prima facie bieten. Die Sätze, in denen sich ein bestimmtes Problem darstellt, bedürfen der Analyse. Die Analyse zeigt, ob sie (a) sinnvoll sind oder nicht, (b) inwieweit sie sinnvoll sind (welche überflüssigen Verzierungen des sprachlichen »Kleides« wir abzustreifen haben), und (c) was ihr Sinn ist. Sie führt uns damit zum Kern unserer Behauptungen — und dieser ist etwas völlig Scharfes, fest Umrissenes, eine einfache Empfindung, eine Definition, ein Axiom, ein elementarer Sachverhalt. Das Ergebnis der Analyse ist dann eine Definition komplexer Ausdrücke auf Grund von Ausdrücken, die derartige einfache Elemente benennen. Diese Definition zeigt die sinnvollen Elemente auf. Außerdem erklärt sie das Verhalten von komplexen Dingen und Sachverhalten durch Hinweis auf eben diese Elemente und ihre Beziehung. So modern diese Lehren auch anmuten — im Grunde sind sie in der philosophischen Tradition schon sehr früh anzutreffen, ja, man kann sagen, daß sie für lange Zeit der Kern des Philosophierens überhaupt waren (und noch sind). Es wird davon ausgegangen, daß die Philosophie mehr zu leisten habe als die einzelnen Wissenschaften. Die Wissenschaften geben darüber Auskunft, wie sich die Dinge erfahrungsgemäß in verschiedenen Umständen verhalten, sie behandeln die Oberfläche der Dinge. Die Philosophie gibt darüber Auskunft, was die Dinge sind, sie behandelt das Wesen der Dinge. Der Unterschied zwischen dieser Ansicht und der des modernen Positivismus besteht einzig darin, daß (a) von Dingen und ihrer Natur, nicht von Sätzen und ihrem Sinn (ihrer Wahrheit) gesprochen wird und daß (b) der Gegensatz zwischen dem Erstaspekt und der wirklichen Natur der Dinge so allgemein als möglich gefaßt wird. Damit entsteht auf dem Gebiet des Empirischen der Unterschied zwischen dem auf die Erkenntnis des Wesens der Dinge gegründeten Wissen (das vom Verstände allein, ohne alle sinnliche Verunreinigung gewonnen werden muß) und der auf

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sinnlicher Beobachtung beruhenden Meinung. Die Wissenslehre des Platon, Aristoteles, St. Thomas geht durchweg von diesem Gegensatz zwischen der veränderlichen Welt der Sinne und der gleichbleibenden Welt der Ideen aus. Und sie meint, daß wir dieselben Dinge, die wir durch unsere Sinne nur sehr unvollkommen erfassen, mit Hilfe des reinen Verstandes weit besser erforschen können. Inzwischen hat sich nun gezeigt, daß die Wesenslehre auf dem Gebiete der empirischen Wissenschaften nicht nur unbrauchbare, sondern auch falsche Resultate in großer Zahl zustandegebracht hat. IhreUnzulänglichkeit auf dem Gebiet des Empirischen (zunächst vor allem auf dem Gebiet der Physik) ist eine feststehende Tatsache. So einer wichtigen Position beraubt, vermag sie sich um so erfolgreicher in denjenigen Gebieten zu verschanzen, in denen tatsächlich der Verstand allein zuständig zu sein scheint: auf dem Gebiet der Logik, der Mathematik, der Philosophie (wenn wir diese, wie es im neuen Positivismus geschieht, als eine Disziplin auffassen, die es mit der Analyse von Bedeutungen zu tun hat). Das Wissen der Logik ist tatsächlich frei von aller empirisehen Beimengung, und die Lehrsätze dieser Disziplin beanspruchen absolute und unveränderliche Gültigkeit. Die Bedeutung eines Wortes, eines Satzes ist wieder ein Gegenstand, der nicht empirisch, nur dem Verstände erfaßbar und daher von kristallklarer Reinheit sein muß. Aber dieser Gegenstand liegt ebenfalls nicht offen vor unseren Augen. Die Begriffe, die wir verwenden, sind mit zufälligen Bestimmungen geladen, daher nicht zur Darstellung der festen, klaren Bedeutungen geeignet, die ihnen scheinbar zugrunde liegen. Unter welch verschiedenen Umständen sagen wir etwa, daß ein Spiel gespielt wird (Tennis, Tarock, Fußball, Verstecken Erraten usw.). Eine Einheit läßt sich da nicht leicht entdecken. Aber eine solche Einheit muß es geben. Denn das Wort >Spiel< hat eine Bedeutung. Sie liegt unter der Mannigfaltigkeit der empirischen Manifestationen verborgen. Die Akzidentien des Begriffs sind die Schalen, die uns das Wiesen der Dinge verbergen. Wir lösen diese Schalen, eine nach der anderen, ab und kommen so zu einem festen, einfachen Kern. Nur wenn wir diesen Kern mit unserem Verstande erfassen, nur dann haben wir den Ausdruck, der ihn bezeichnet, verstanden. Das Denken ist also das Medium, durch das wir mit den Bedeutungen in Beziehung kommen, durdi das wir sie >meinen< können. Es »ist... von einem Nimbus umgeben. Sein Wesen, die Logik, stellt eine Ordnung dar und zwar die Ordnung apriori der Welt, das ist die Ordnung der Möglichkeiten, die Welt und Denken gemeinsam sein müssen. Diese Ordnung aber, so scheint es, muß höchst einfach sein... ihr... darf keine erfahrungsgemäße Trübe anhaften. Sie muß viel­

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mehr von reinstem Kristall sein. Dieser Kristall aber erscheint nicht als Abstraktion, sondern als etwas Konkretes, ja das Konkreteste, gleichsam Härteste«, so kennzeichnet Wittgenstein in seinem neuen Buche, den posthum herausgegebenen Philosophischen Untersuchungen, diese Lehre.1 3

Man kann sagen, daß die »Untersuchungen« der Wesenslehre nicht nur auf dem empirischen, sondern auch auf dem Gebiet des nicht-empirisehen Wissens die Berechtigung absprechen. Sie wenden sich damit in gleicher Weise, wenn auch nicht explizit, gegen die Tradition wie gegen den modernen Positivismus selbst. Sie sind in mehrfacher Weise ein Kuriosum. Sie sind nicht das Werk eines Scholaren. Quellenangaben

1 Zum philosophischen Werdegang Wittgensteins folgende Bemerkungen: Schüler von Russell einerseits, Frege andererseits. Der Traktat kommt im Jahre 1919 zum erstenmal heraus, hierauf im Jahre 1922 ein Aufsatz in der Zeitschrift Mind. Das ist bis auf die Philosophischen Untersuchungen alles, was Wittgenstein veröffentlicht hat. Zur Zeit des Wiener Kreises befindet er sich in Wien (ein Haus in Wien — Kundmanngasse 19 — ist von ihm erbaut. Wittgenstein hatte Ingenieurwesen studiert). Er nimmt an den Diskussionen dieses Kreises nicht teil. Die Verbindung zwischen ihm und dem Kreis stellen Schlidc und Waismann her. Später wird er Professor in Cambridge, gibt aber die Professur wieder auf. Was er in Cambridge lehrte, wurde durch einige seiner Schüler bekannt gemacht. Notizbücher, die den Inhalt der Vorlesungen enthielten und von Wittgenstein selbst verfaßt waren, zirkulierten in diesem Kreise. Sie waren nicht jedermann zugänglich. Somit bildeten sich Legenden über Wittgensteins Persönlichkeit, wie auch über den Inhalt seiner Lehren. Dies war mit einer der Anlässe zur Veröffentlichung der Philosophischen Untersuchungen. »Bis vor kurzem hatte ich den Gedanken an eine Veröffentlichung meiner Arbeit bei meinen Lebzeiten eigentlich aufgegeben«, schreibt er im Vorwort dieses Werkes. »Er wurde allerdings von Zeit zu Zeit rege gemacht, und zwar hauptsächlich dadurch, daß ich erfahren mußte, daß meine Ergebnisse, die ich in Vorlesungen, Skripten, Diskussionen weitergegeben hatte, vielfach mißverstanden, mehr oder weniger verwässert oder verstümmelt im Umlauf waren. Hierdurch wurde meine Eitelkeit aufgestachelt und ich hatte Mühe, sie zu beruhigen.« Ein weiterer Grund zur Veröffentlichung dieses Werkes ist die Einsicht Wittgensteins in die Fehlerhaftigkeit seiner Erstschrift, des Traktats. Das neue Werk befindet sich in einer so engen Beziehung zum Traktat, daß es nach der Aussage des Verfassers selbst »nur durch den Gegensatz und auf dem Hintergrund« seiner älteren Denkweise voll verständlich wird. In der deutschen Ausgabe des Werkes sollen daher auch beide Bücher in einem Band gebunden erscheinen. — Die Herausgabe der Philosophischen Untersuchungen hat Wittgenstein nicht mehr erlebt. In seinem Nachlaß findet sich eine Fülle von Untersuchungen über die verschiedensten Gegenstände. Als Nächstes sollen die Untersuchungen über die Grundlagen der Mathematik veröffentlicht werden.

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sind nicht anzutreffen, Fachausdrücke fehlen. Philosophie ist mitten unter uns, nicht eine Angelegenheit von Professoren. Von anderen Autoren werden Augustin, Platon, G. E. Moore, B. Russell, F. P. Ramsey, G. Frege, William James erwähnt. Es kommt zu keiner systematischen Erläuterung ihrer Lehren, sie werden vielmehr gleichsam ins Gespräch gezogen, eine Äußerung, eine Bemerkung von ihnen wird aufgegriffen und diskutiert. Eine durchgehende Entwicklung von Problem über Bearbeitung zur Lösung ist nicht vorhanden. Der Leser wird unmittelbar mit einem Abschnitt aus Augustins »Bekenntnissen« konfrontiert und in eine Diskussion von Fragen verwickelt, die sich daran anschließen. Scheinbar absichtslos tritt bald dieses, bald jenes ins Gesichtsfeld, wird besprochen und wieder verlassen. »Die philosophischen Bemerkungen dieses Buches sind gleichsam eine Menge von Landschaftsskizzen, die auf ... langen und verwickelten Fahrten entstanden sind.« Die Sprache ist einfach, plastisch, ästhetisch höchst wirkungsvoll. Nichts wird abstrakt diskutiert, immer dienen Beispiele zur Erläuterung — und zwar mögliehst verschiedene Beispiele: »Eine Hauptursache philosophischer Erkrankungen: Einseitige Diät. Man nährt sein Denken mit nur einer Art von Beispielen.« Eine Darlegung wie die vorliegende muß also auf jeden Fall auf einer forcierten Interpretation beruhen. Unter dieser Einschränkung lassen sich folgende Angriffspunkte der Kritik WittgenSteins feststellen: 1. Jedes Wort hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung ist der Gegenstand, für den das Wort steht. Die Beziehung des Wortes zum Gegenstand macht es bedeutungsvoll und gibt den vielfältigen Anwendungen die innere Einheit. Die ganze komplizierte Verwendungsweise des Wortes wird klar, sobald man weiß, was es bezeichnet. Der bezeichnete Gegenstand, die Bedeutung, ist wohlbegrenzt, einfach und klar. 2. Bedeutungen und ähnliche, nicht-empirische Gegenstände (Zahlen, logische Formen usw.) können mit dem Verstände erfaßt werden. Wie mit dem Auge in der Welt der empirischen Gegenstände, so halten wir mit dem Verstände in der Welt der Bedeutungen, Zahlen usw. Umschau und erforschen sie.2 3. Die Gegenwart eines bestimmten Bildes im Verstände beseelt das Zeichen und macht es bedeutungsvoll für den, der es ausspricht (der es 2 Das Ergebnis der Darstellung vorwegnehmend könnte man sagen, daß Wittgenstein das Reich der Ideen schärfer von dem empirischen Gegenstände trennt, als dies in den klassischen Lehren der Fall ist. Nicht so allerdings, daß er den Ideen eine besondere Qualität zuschreibt — und sie so rein verbal von den empirischen Gegenständen scheidet —, sondern indem er ihnen die Gegenständlidikeit abspricht.

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in bestimmter Weise meint), und für den, der es empfängt (der es in bestimmter Weise versteht). Das Meinen und das Verstehen sind also seelische Vorgänge. Ein Satz, den A an B weitergibt, hat überhaupt nur die Funktion, in B ein bestimmtes Verstehenserlebnis hervorzurufen. »Wenn er auch noch etwas damit anfängt, so gehört das nicht mehr zum unmittelbaren Zweck der Sprache. Man möchte sagen: Die Mitteilung bewirkt, daß er weiß, daß ich Schmerz habe (z. B.); sie bewirkt dieses geistige Phänomen. Alles andere ist der Mitteilung unwesentlich.« 4. Noch radikaler ist die positivistische Sprachtheorie. Ihr scheint es möglich, auf einfache Bestandteile der sinnlichen Wahrnehmung, die bereits vorgegeben sind (Empfindungen wie Schmerz, roter Eindruck usw.), durch eine Art Kopplung mit Worten eine Sprache aufzubauen, die dann durchweg Wirklichkeitsbezug hat. Das Kopplungsverfahren heißt )hinweisende Definition«. Es wird angenommen, daß sie etwa so funktioniert: A wünscht B eine Sprache beizubringen. Er verschafft B eine Reihe einfacher Empfindungen, zeigt auf sie und sagt den entsprechenden Namen, B weiß von nun an, wie diese bestimmten Dinge heißen, und kann durch Definitionen zu komplexen Gegenständen weitergeführt werden.

4 Die Erörterung der eben angeführten Lehren (und zahlreicher anderer, die mit ihnen verbunden sind) geschieht in zwei verschiedenen Schichten: 1. durch direkte Analyse der Lehren selbst, 2. durch eine Untersuchung des Sinnes einer solchen Analyse oder direkter gesagt: erstens durch Philosophieren und zweitens durch eine Theorie der Philosophie. Wittgenstein führt diese Untersuchungen in minutiösem Detail aus. Er kommt zum Ergebnis, daß der Sprachgebrauch die Annahme jener scharfen, einfachen Bedeutungen, die als Elemente des Sinnes fungieren sollen, in keiner Weise rechtfertigt: Der Sprachgebrauch kennt eine Fülle von Verwendungsweisefi eines bestimmten Wortes, die keinen Zusammenhang erkennen lassen, obgleich es abwegig wäre, das so verwendete Wort sinnlos zu nennen. Offenkundig ist das Wort >Spiel< sinnvoll, wenn es auch keinen einfachen, idealen Gegenstand zu geben scheint, den es bezeichnet. Es wird in einer anderen Form die These des Traktats wiederholt, daß wir nur dann sinnvoll sprechen, wenn wir über Tatsachen sprechen. Nur heißt es nun, daß allein den Sprechweisen des Alltags Sinn zukommt (und diese sind nicht nur Beschreibungen von Tatsachen. Auch Befehle, Fragen, vage Ausdrücke usw. kommen hier vor!). Wieder finden wir die Behauptung, daß sich die philosophi-

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sehen Probleme nicht in der so ausgezeichneten Sprache, also überhaupt nicht ausdrücken lassen. Sie sind gleichsam gegenstandslose Schwierigkeiten, die entstehen, wenn die Sprache leerläuft, »wenn sie nicht arbeitet«. Diese Schwierigkeiten können nicht gelöst werden( etwa so, daß man die Frage beantwortet, die ein sog. philosophisches Problem enthält); man kann sie nur beseitigen, indem man die Sprache wieder in Gang bringt: »Der Philosoph behandelt eine Frage wie eine Krankheit« (Der Philosoph, so wie ihn Wittgenstein versteht!). Das sei nun im einzelnen ausgeführt. Die Grundlage der Analysen bildet der Hinweis, daß wir von der Sprache, die wir sprechen, nicht so leicht loskommen können. Die kritisierten Lehren nehmen an, daß die Bedeutungen schon da sind und daß eine Sprache geschaffen wird, indem man bestimmte Zeichen mit ihnen in Beziehung setzt. Sie nehmen weiterhin an, daß die Elemente, die die Zeichen bedeutungsvoll machen, von uns erfaßt werden können unabhängig davon, ob wir eine Sprache besitzen oder nicht. Indem wir sie erfassen, meinen wir etwas Bestimmtes; mit diesem Meinen beseelen wir einen bisher bedeutungslosen Ausdruck und machen ihn zu einem bedeutungsvollen Symbol. Ein anderer, den wir zu unterweisen trachten, sucht dieselbe Bedeutung zu erfassen wie wir, d. h. er sucht dasselbe innere Bild vor sein geistiges Auge zu bekommen, und dann versteht er, was wir gemeint haben. Dieser Lehre stellt Wittgenstein die einfachen Tatsachen des gewohnlichen Sprachgebrauchs gegenüber (»Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück« — ein Verfahren, das vor ihm vor allem G. F. Moore in Cambridge geübt hatte und das heute, dank Wittgensteins und Moores Einfluß, von zahlreichen Philosophen in England und Amerika praktiziert wird). Wenn das Wesentliche am Meinen darin besteht, daß ich ein bestimmtes Bild vor meinem geistigen Auge habe, wenn die Zeichen, die ich ausspreche, erst dadurch ihre Bedeutung erhalten, dann müßte es doch möglich sein, mit >abc< zu meinen >ich liebe dich« — wenn ich nur mein Herz mit Liebe erfülle. Aber man sieht hier sofort, daß die ganze Anstrengung nichts hilft, denn >abc< bleibt all dem zum Trotz bedeutungslos. Auch ist es nicht möglich, mit dem Satz >Es ist kalt« zu meinen >Es ist warm« — denn >Es ist kalt« hat bereits eine Bedeutung — also brauchen wir ihm weder durch eine innere Anstrengung eine zu verleihen, noch ist es möglich, durch eine entgegengesetzte Anstrengung die Bedeutung zu verkehren. Das gilt auch dann noch, wenn wir annehmen, daß das fragliche Bild nicht durch uns selbst, sondern durch die Einwirkung eines abstrakten Gegenstandes auf unseren Verstand

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hervorgerufen wurde — dadurch also, daß wir die Bedeutung »mit unserem Geiste erfassen«. Wie erfahren wir, welche Bedeutung der Satz hat? Wenn die Bedeutung nicht durch einen geistigen Akt des Sprechenden gegeben werden kann, dann kann sie offenkundig auch nicht durch einen geistigen Akt des Hörenden (oder Lesenden) empfangen werden, d. h. dann kann auch das Verstehen nicht darin bestehen, daß blitzartig ein Bild vor meinem geistigen Auge auftaucht. Tatsächlich beurteilt man ja das Sprachverständnis eines Menschen nicht darnach, ob er bestimmte Erlebnisse hat — das Innenleben spielt in diesem Fall gar keine Rolle —, sondern darnach, in welcher Weise er die Worte zur Bezeichnung von Gegenständen einerseits und zur Bildung von Sätzen zur Beschreibung von komplexen Situationen anderseits verwendet. Das heißt: Jemand versteht eine Sprache, wenn er sie »■richtig« spricht, und eine Sprache »richtig« sprechen heißt, sie nach den Regeln sprechen, die ihr zugrunde liegen. Damit kommen wir zur Annahme, daß »wer einen Satz ausspricht und ihn meint, oder versteht, damit einen Kalkül betreibt nach bestimmten Regeln«. Hier ergibt sich nun sogleich eine merkwürdige Situation. Denn es scheint, daß eine Regel schon festlegt, was bei jeder zukünftigen Anwendung des Satzes zu geschehen hat. Andrerseits können wir von einem solchen Zwange nichts entdecken, wenn wir eine bestimmte Sprache richtig, d. h. den Regeln gemäß sprechen. Wie bestimmt also die Regel ihre Ausführung? Oder, um ein viel einfacheres Beispiel zu verwenden, wie macht es der Pfeil an der Wegkreuzung daß er uns zwingt, in eine bestimmte Richtung zu gehen? Denn zunächst ist er ein Stück Holz, tot und bedeutungslos (ebenso sind die Buchstaben und Sätze der Grammatik Flecken von Druckerschwärze, tot und bedeutungslos). Wie kommt es, daß er als eine Anweisung Bedeutung bekommt? Nicht dadurch, daß jemand ihn in seinem Geiste mit etwas Seelischem, einem Bedeutungsbild umgibt — denn wir haben ja eben gesehen, daß das Meinen kein seelischer Vorgang ist, sondern sich seinerseits auf das Bestehen eines Regelsystems gründet. Wie nun, wenn alle Menschen den Pfeil als eine Anweisung auffassen, in die Richtung «- zu gehen? Das wäre keine Fehlinterpretaion — denn das Holzgerüst, so wie es hier steht, ist ja bedeutungslos. Aber diese Auffassung — die sich nun nicht in einem Erlebnis äußert, sondern in einer bestimmten Weise des Handelns in der Gegenwart des Holzes, erteilt diesem eine bestimmte Funktion — und durch diese Funktion erst wird es zu einer Regel, nämlich zur Regel, in die Richtung «- zu gehen. Man kann also von einer Regel nur insoferne sprechen, als ein Zeichen (die Darstel­

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lung der Regel) in einer Praxis, einer bestimmten Lebensform eine Rolle spielt. »Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten«, und einer Regel folgen oder von ihr abweichen heißt also:* an dieser Gepflogenheit teilnehmen oder nicht. Diese Gepflogenheit bestimmt den Sinn der Ausdrücke, die in ihr als wesentliche Bestandteile auf bestimmte Weise verwendet werden, und sie ist das Bezugssystem, nach dem wir entscheiden, was mit einem Ausdruck gemeint ist, ob etwas verstanden, ob einer Regel gemäß vorgegangen wurde. »Das Hinzunehmende, Gegebene — könnte man sagen — seien Lebensformen.« 5

Dieser Schluß stellt die zuvor in 4 Punkten dargestellten Lehren völlig auf den Kopf. Die Bedeutungen sind gegeben, so war die Annahme, entweder als ideale Gegenstände, wie bei Platon, oder als einfache Empfindungen, wie bei den Positivisten. Die Sprache, die wir sprechen, vermag diese Bedeutungen nur ungenau zu erfassen, sie »verkleidet den Gedanken«. Aus ihr können wir also die Form des Gedankens, die Bedeutung nicht erkennen. Umgekehrt — wir müssen sie umbauen, präzisieren, so daß sie am Ende reiner Ausdruck der Gedanken wird. Und im Traktat hat Wittgenstein angegeben, wie dieser Umbau zu geschehen hat. Nunmehr ist aber die Weise, in der wir die Sprachzeichen verwenden, das Primäre — nicht deshalb, weil der Gedanke weniger wichtig ist, sondern weil erst das Bestehen dieser Praxis den Gedanken ermöglicht. »Jedes Zeichen allein scheint tot. Was gibt ihm Leben? — Im Gebrauch lebt es. Hat es da den lebenden Atem in sich? Oder ist der Gebrauch sein Atem?« Die Sprache verkleidet nicht den Gedanken, sondern das Kleid ist schon der Gedanke. Wenn wir aber von Bedeutungen erst dort sprechen können, wo eine bestimmte Praxis der VerWendung der Zeichen besteht, dann ist diese Praxis das Primäre und es ist nicht mehr möglich, sie als ungenau, als verschwommen, als sinnlos zu bezeichnen. Dann müssen wir uns auch mit der Tatsache vertraut machen, daß es unzählige Sprachformen gibt, Fragen, Beschreibungen, Befehle, ungefähre Andeutungen usw., die alle gleich wichtig sind und, zu einem bestimmten Zweck erdacht und in einem bestimmten Zusammenhang verwendet, ihren guten Sinn haben. An die Stelle der einen Sprache des Traktats treten verschiedene Sprachspiele, die, als Ganzes genommen, ihren Elementen einen bestimmten Sinn verleihen und die zueinander in mehr oder weniger deutlichen Beziehungen stehen. Die Frage >was bedeutet der Ausdruck X