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German Pages 572 Year 2017
Otto Kirchheimer – Gesammelte Schriften Herausgegeben von Prof. Dr. Hubertus Buchstein, Universität Greifswald
Otto Kirchheimer, ca. 1928
Kirchheimer-Edition
Otto Kirchheimer – Gesammelte Schriften Band 1: Recht und Politik in der Weimarer Republik Herausgegeben von Hubertus Buchstein unter Mitarbeit von Henning Hochstein, Lisa Klingsporn, Moritz Langfeldt, Merete Peetz und Eike Christian Schmieder
Nomos
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG; BU 1035/8-1).
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-3928-8 (Print) ISBN 978-3-8452-8253-4 (ePDF)
1. Auflage 2017 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt Vorwort des Herausgebers zur Edition der Gesammelten Schriften von Otto Kirchheimer Einleitung zu diesem Band
9 15
[1.] Die Lehre von Stettin [1928]
127
[2.] Zuchthaus Untermaßfeld und moderne Preßberichterstattung [1928]
129
[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928]
132
[4.] Panzerkreuzer und Staatsrecht [1928]
152
[5.] Bedeutungswandel des Parlamentarismus [1928]
157
[6.] Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie Bemerkungen zu der Schrift Paul Levis [1928]
163
[7.] Wahlrechtsreform [1929]
167
[8.] Die Demokratie der Bequemlichkeit. Ein Nachwort zum Parteitag [1929]
171
[9.] Das Problem der Verfassung [1929]
175
[10.] Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse. Zum Verfassungstag [1929]
179
[11.] 50 Jahre Deutsches Reichsgericht [1929]
187
[12.] Die Englische Arbeiterbewegung [1929]
192
[13.] [Rezension:] Carl Tannert: Die Fehlgestalt des Volksentscheids [1930]
196
[14.] Das neue Strafrecht. Nach der ersten Lesung [1930]
199
[15.] Artikel 48 – der falsche Weg [1930]
202
[16.] Privatbesitz gegen Volksinteresse! Wann kommt das neue Bauland-Gesetz? Reichsgericht und Artikel 155 der Weimarer Verfassung [1930]
206
[17.] Weimar … und was dann? Entstehung und Gegenwart der Weimarer Verfassung [1930]
209
[18.] Reichsgericht und Enteignung. Reichsverfassungswidrigkeit des Preußischen Fluchtliniengesetzes? [1930]
251
6
[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
264
[20.] [Rezension:] Eugene A. Korovine: Das Völkerrecht der Übergangszeit [1930]
323
[21.] Bürgertum am Scheideweg [1930]
328
[22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930]
333
[23.] Artikel 48 und die Wandlungen des Verfassungssystems. Auch ein Beitrag zum Verfassungstag [1930]
349
[24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930]
354
[25.] [Rezension:] Justus W. Hedemann: Die Fortschritte des Zivilrechts im 19. Jahrhundert [1931]
365
[26.] [Rezension:] Curzio Malaparte: Der Staatsstreich [1932]
369
[27.] [Rezension:] Georg Schwarzenberger: Die Kreuger-Anleihen [1932]
373
[28.] Legalität und Legitimität [1932]
376
[29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932]
396
[30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932]
408
[31.] Nazis, Auslandsdeutsche und Proleten [1932]
425
[32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932]
429
[33.] Die Verfassungsreform [1932]
443
[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]
458
[35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933]
495
[36.] [Rezension:] Adolf Grabowsky: Politik [1933]
511
[37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933]
515
[38.] The Growth and the Decay of the Weimar Constitution [1933]
527
[39.] [Rezension:] Otto Geßler: Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit [1959]
535
[40.] [Rezension:] Friedrich Karl Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz Ein staatsrechtlichpolitischer Vergleich [1960]
539
7
[41.] [Rezension:] Walter Z. Laqueur: Young Germany [1963]
542
[42.] [Rezension:] Gotthard Jasper: Der Schutz der Republik Die Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik [1963]
543
[43.] [Rezension:] Gerhard Schulz: Zwischen Demokratie und Diktatur [1965]
547
[44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968]
549
Abkürzungen
559
Personenregister
561
Sachregister
567
9
Vorwort des Herausgebers zur Edition der Gesammelten Schriften von Otto Kirchheimer 1. Otto Kirchheimer (1905-1965) gehört zu einer Gruppe junger deutsch-jüdischer Juristen, die aufgrund ihrer politischen Erlebnisse während der Weimarer Republik in der Emigration zu Politikwissenschaftlern wurden und nach 1945 die amerikanische wie auch die westdeutsche Politikwissenschaft prägten. In Kirchheimers facettenreichem wissenschaftlichen Werk spiegeln sich in nahezu einzigartiger Weise die politischen und wissenschaftlichen Erfahrungen und Konflikte der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus, des französischen und amerikanischen Exils sowie der Gründungs- und Etablierungsphase der beiden nach 1945 neu entstehenden deutschen Teilstaaten wider. Das Werk von Kirchheimer erweist sich bis heute als Bezugsrahmen und Anregung für vielfältige aktuelle Fragestellungen – besonders in Hinblick auf die Begründung und Ausgestaltung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Einige der Untersuchungen Kirchheimers, wie die Beschreibung der sozialen Kompromissstruktur des nationalsozialistischen Regimes, die Untersuchungen zur Krise der Weimarer Republik, seine Analysen der Politischen Justiz oder seine Thesen zur Entwicklung des Parteiensystems in modernen westlichen Demokratien sind mittlerweile selbst zu zeitgeschichtlichen Dokumenten geworden. 2. Otto Kirchheimer wurde am 11. November 1905 in Heilbronn geboren. Er stammte aus einem wohlhabenden Elternhaus und war das mit großem Abstand jüngste von sechs Kindern. Nach dem frühen Tod seiner Eltern verbrachte er den größten Teil seiner Schulzeit in Internaten in Heidelberg. Schon als Jugendlicher wurde Kirchheimer zum Anhänger sozialistischer Ideen und engagierte sich in der jüdisch-deutschen Wandervogelbewegung. Nach dem Abitur begann er im Sommersemester 1924 sein Studium in den Fächern Philosophie, Geschichte und Soziologie in Münster. Zum Wintersemester 1924/25 wechselte Kirchheimer für das Studium der Staats- und Rechtswissenschaften an die Universität Köln. Sein rechtswissenschaftliches Studium setzte er auf Empfehlung von Max Scheler ein Jahr später an der Berliner Universität fort. Rudolf Smend empfahl Kirchheimer zu Carl Schmitt in Bonn, wo er im Wintersemester 1926/27 in den Kreis der Doktoranden Schmitts aufgenommen wurde. In diesen Jahren war er in der SPD und
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Vorwort des Herausgebers
bei den Jungsozialisten politisch aktiv. Mit dem Ersten Juristischen Staatsexamen und der Promotion beendete Kirchheimer sein Jurastudium im Frühjahr 1928 bei Carl Schmitt. Von 1928 bis 1931 absolvierte er in Erfurt und Berlin das Referendariat und machte sich in verschiedenen sozialistischen Publikationen einen Namen als scharfzüngiger Autor des linken Flügels der SPD. Nachdem sein Versuch, beruflich in der Wissenschaft Fuß zu fassen, zunächst fehlschlug, ließ Kirchheimer sich 1932 als Rechtsanwalt in Berlin nieder. Bereits kurz nach der Machtübergabe an die Hitlerregierung wurde Kirchheimer die Anwaltszulassung entzogen. Im Mai 1933 wurde er kurzzeitig inhaftiert. Nach seiner Freilassung flüchtete er nach Paris und schlug sich dort unter anderem finanziell mit Arbeiten für Pressedienste der sozialistischen Emigration und kleineren Aufträgen für die Pariser Zweigstelle des ehemaligen Frankfurter Instituts für Sozialforschung durch. Im November 1937 reiste er in die USA ein, wo er eine Anstellung am Institute for Social Research in New York fand. 1943 wurde er Mitarbeiter in der Forschungsabteilung des Office for Strategic Services (OSS) in Washington D.C. und war hier noch während des Krieges unter anderem an der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse beteiligt. Die Forschungsabteilung des OSS wurde 1946 in das State Department eingegliedert, wo Kirchheimer weitere acht Jahre die politische Entwicklung in Nachkriegseuropa analysierte. Zusätzlich lehrte er als Lecturer an verschiedenen amerikanischen Universitäten. 1955 übernahm Kirchheimer dann eine Professur für Political Science an der New School for Social Research in New York. Neben dieser Tätigkeit hatte er ab 1960 einen Lehrauftrag als Visiting Professor an der New Yorker Columbia University, wo er ein Jahr später die Professur für Public Law and Government übernahm. Otto Kirchheimer starb am 22. Juli 1965 in Washington. Auf seinen Wunsch wurde er neben seinen Eltern auf dem jüdischen Friedhof in Heilbronn beerdigt. Kirchheimers Schriften sind zumeist aus konkreten Anlässen entstanden und stellten häufig Versuche dar, politische Entscheidungen oder verfassungsrechtliche Weichenstellungen zu beeinflussen. Seiner betont interdisziplinären Ausrichtung mit dem Einbezug soziologischer, juristischer, philosophischer und historischer Argumente und Argumentationsweisen liegt das Programm einer Politikwissenschaft zugrunde, die immer wieder neu ihre Anschlussfähigkeit an ihre Nachbardisziplinen und die dort diskutierten Probleme sucht. Überblickt man die Rezeption von Kirchheimers Arbeiten, so ist vor allem ihre Vielgestaltigkeit bemerkenswert. Denn die Aufnahme seiner
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Schriften verläuft nicht nur quer zu bestimmten ›Schulen‹ und Richtungen innerhalb der Politikwissenschaft, sondern beeinflusst empirisch arbeitende Politikwissenschaftler, Vertreter einer normativen Politikwissenschaft, Rechtswissenschaftler, Soziologen und Zeithistoriker gleichermaßen. 3. Vor diesem Hintergrund entstand das Vorhaben, die mannigfaltigen Arbeiten von Otto Kirchheimer zusammenzutragen und als Gesammelte Schriften herauszugeben. Auch wenn von Kirchheimer eigenständige Bücher vorliegen, so bevorzugte er doch die ›kleine Form‹ des Aufsatzes. Wesentliche Beiträge wurden an unterschiedlichen Stellen (manchmal unter Pseudonym) veröffentlicht und sind oft nur noch schwer zugänglich. Auch die weltweit verstreuten Nachlassmaterialien und Dokumente zu seinem Leben und seinen Schriften waren bisher noch nicht systematisch gesichtet und ausgewertet worden. Als Ergebnis intensiver Recherchen wird in der vorliegenden Ausgabe eine umfassende Auswahl von Abhandlungen aus allen Arbeitsgebieten Kirchheimers – zusammen mit einem Wiederabdruck der mittlerweile vergriffenen Hauptwerke – vorgelegt. Auf diese Weise ist es erstmals ohne größeren Aufwand möglich, die Entwicklung der theoretischen Überlegungen Kirchheimers nachzuvollziehen und die Wandlungen in seinen politischen Beurteilungen zu verfolgen. Die Herausgabe der Texte erfolgt nicht streng chronologisch. Stattdessen ist eine Aufteilung der Ausgabe in mehrere thematische Abteilungen vorgenommen worden, denen in der Publikationsform jeweils ein Band der Ausgabe entspricht. Die Gesammelten Schriften umfassen voraussichtlich die folgenden sechs Bände. Band 1, Recht und Politik in der Weimarer Republik, versammelt alle Artikel Kirchheimers aus der Weimarer Republik sowie Beiträge aus seinem späteren Werk, die sich primär auf die Jahre bis 1933 beziehen. Band 2, Faschismus, Demokratie und Kapitalismus, hat die Schriften zum Inhalt, die Kirchheimer während des französischen und amerikanischen Exils im Rahmen seiner Arbeit am Institut für Sozialforschung über den Nationalsozialismus und über westliche Demokratien verfasste. Band 3, Kriminologische Schriften, beinhaltet ebenfalls Schriften, die zu seiner Zeit am Institut für Sozialforschung entstanden sind. Dazu gehören das gemeinsam mit Georg Rusche veröffentlichte Buch Sozial-
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Vorwort des Herausgebers
struktur und Strafvollzug sowie weitere Aufsätze zu zeitgenössischen Straftheorien und Strafpraktiken. Band 4, Politische Justiz und Wandel der Rechtsstaatlichkeit, setzt sich zusammen aus rechtshistorischen und rechtsvergleichenden Aufsätzen Kirchheimers, konzeptionellen Beiträgen zum Begriff der politischen Justiz sowie seiner Monographie Politische Justiz. Band 5, Politische Systeme im Nachkriegseuropa, führt Kirchheimers politikwissenschaftliche Studien zum Wandel von politischen Ordnungen und speziell der Parteiensysteme in Westeuropa nach dem zweiten Weltkrieg zusammen und beinhaltet zudem seine Studien zur Rechtswirklichkeit in der DDR. Der Band enthält zudem eine vollständige Bibliografie der veröffentlichen Schriften von Otto Kirchheimer. Band 6, Politische Analysen für das OSS und Department of State, enthält Kirchheimers Analysen zum Nationalsozialismus, seine vorbereitenden Arbeiten zur strafrechtlichen Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen sowie Pläne zum Neuaufbau der Demokratie in Deutschland, die er zwischen 1943 und 1955 verfasste. Diesem Band ist zudem eine Auflistung aller ermittelten Texte von Kirchheimer beigefügt, die im Rahmen seiner Arbeit beim OSS und State Department entstanden sind. 4. Die Ausgabe der Gesammelten Schriften Kirchheimers ist keine historisch-kritische Gesamtausgabe. Sie wählt bewusst aus und verzichtet auf Vollständigkeit. In die Gesammelten Schriften sind all jene veröffentlichten und unveröffentlichten Texte aufgenommen, denen eine eigenständige wissenschaftliche Bedeutung zukommt. Von den nachgelassenen Arbeiten sind nur solche Texte abgedruckt, die eine mit den zu Lebzeiten Kirchheimers veröffentlichten Schriften vergleichbare inhaltliche Relevanz aufweisen. Schriften, die zu unterschiedlichen Anlässen in Forschung und Lehre, im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit als Anwalt, als amerikanischer Regierungsberater oder in der Instituts- und Universitätsverwaltung entstanden sind, wurden nur bei besonderer politischer oder biographischer Bedeutung aufgenommen. Nicht in die Ausgabe aufgenommen wurden insbesondere: Notizen für Seminare und Lehrveranstaltungen; Notizen, die für Vorträge gemacht wurden und nicht als abgeschlossene und ausformulierte Texte anzusehen sind; Exzerpte und Materialsammlungen zu veröffentlichten Schriften; kleinere Gelegenheitsarbeiten wie Danksagungen oder Begrüßungsansprachen; abgeschlossene Texte, die in später veröffentlichten Arbeiten von ihm
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aufgenommen wurden; sowie eine Vielzahl kleinerer und größerer Rezensionen. Briefe Kirchheimers werden in dieser Edition nicht dokumentiert. Um sämtliche Schriften Kirchheimers für die speziell interessierte Forschung auffindbar zu machen, wird der fünfte Band eine vollständige Bibliographie seiner publizierten Arbeiten enthalten. 5. Der Abdruck der Texte erfolgt nach der Fassung im Erstdruck, soweit nicht eine von Otto Kirchheimer autorisierte spätere Version des Textes vorliegt. Ausnahmen von dieser Regel wurden nur in Fällen gemacht, in denen statt des französischen oder englischen Originals eine deutsche Übersetzung in die Ausgabe aufgenommen wurde. Die Rechtschreibung wurde den heute gültigen Regeln angepasst. Offensichtliche Druckfehler in bisherigen Ausgaben wurden ohne Nachweis korrigiert. Hervorhebungen und Zitationen in den Texten von Kirchheimer wurden vereinheitlicht. Die Präsentation der Texte geschieht mit nur einem Nachweisapparat. Er dient dem Beleg der Zitate Kirchheimers und enthält seine Literaturhinweise; an diesen Stellen werden auch die bei Kirchheimer fehlenden Zitatnachweise in eckigen Klammern ergänzt. Der Text Kirchheimers und die Angaben des Nachweisapparats erscheinen auf derselben Druckseite, um auch eine digitale Nutzung der Ausgabe zu erleichtern. Die einzelnen Bände werden jeweils mit einem Abkürzungsverzeichnis sowie Personen- und Sachregister versehen. Das Personenregister verzeichnet sämtliche von Kirchheimer in dem jeweiligen Band erwähnten Personen einschließlich der Autoren der zitierten Literatur. Das Sachregister enthält wichtige Begriffe und Sachbezeichnungen. Ist ein Begriff für einen ganzen Text thematisch, werden nur zentrale Stellen und besondere Bedeutungen verzeichnet. Jeder der sechs Bände wird mit einer Einleitung der jeweiligen Bandherausgeber eröffnet. Diese Einleitungen enthalten ausführliche biographische und inhaltliche Erläuterungen zu allen in den jeweiligen Band aufgenommenen Texten. Sie erläutern auch die Anordnung, die thematischen Schwerpunkte sowie den wissenschaftsgeschichtlichen und zeitgeschichtlichen Hintergrund der abgedruckten Schriften. Bemerkungen zur Rezeptionsgeschichte erfolgen lediglich in knapper Form. Editorische Hinweise, welche einzelne Probleme der Textüberlieferung, der Quellen, der Datierung oder der Textgestaltung betreffen, enthalten die Anmerkungen des jeweiligen Herausgebers. Sie sind am Beginn
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jedes Textes von Kircheimer abgedruckt. Alle von Herausgeberseite stammenden Hinweise oder Zusätze sind in eckige Klammern gesetzt. 6. Die Erarbeitung dieser Edition ist in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) von 2016 bis 2019 geförderten Forschungsprojekt erfolgt (BU 1035/7-1). Wissenschaftliche Mitarbeiter im Projekt sind Henning Hochstein und Lisa Klingsporn. Weitere inhaltliche Hilfestellungen gaben Frank Schale, Alfons Söllner und Christiane Wilke. Der Herausgeber dankt der DFG für die Finanzierung des Forschungsprojekts und den Mitarbeitern für ihr großes Engagement. Für die Abdruckgenehmigung und die umfassende Unterstützung bei der Vorbereitung dieser Edition dankt der Herausgeber den Erben von Otto Kirchheimer, Hanna Kirchheimer-Grossman und Peter Kirchheimer. Greifswald, im Herbst 2017 Hubertus Buchstein
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Einleitung zu diesem Band von Hubertus Buchstein 1. Kindheit, Jugend und Studium 2. Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus 3. Journalistische Interventionen 4. Arbeiterbewegung und Parlamentarismus 5. Die Eigentumsordnung der Weimarer Verfassung 6. Weimar … und was dann? 7. Legalität und Legitimität 8. Kampfaufrufe zur Verteidigung der Republik 9. Rückblicke auf die Weimarer Republik 10. Editorische Anmerkungen zu diesem Band
16 23 34 48 57 66 80 93 110 115
Der erste Band der Gesammelten Schriften von Otto Kirchheimer (1905-1965) enthält seine Texte zum Thema Recht und Politik in der Weimarer Republik. Dabei handelt es sich vornehmlich um selbständige Abhandlungen, Aufsätze, Diskussionsbeiträge und Rezensionen, die zwischen 1927 und dem Beginn des nationalsozialistischen Terrorregimes, das ihn zu Flucht und Exil zwang, entstanden sind. Ergänzt werden diese Beiträge um spätere Rückblicke in Aufsätzen und Rezensionen, soweit sie sich überwiegend auf das Thema Weimarer Republik beziehen. Otto Kirchheimer gilt als einer der originellsten politik- und rechtstheoretischen Autoren der jüngeren Generation in der Weimarer Republik. Mit seinen gleichzeitigen Bezugnahmen auf Karl Marx und Carl Schmitt, mit Begriffsprägungen wie ›Verfassung ohne Entscheidung‹, ›Verrechtlichung‹, ›Strukturwandel des politischen Kompromisses‹ oder ›Direktions- und Distributionssphäre‹ und mit seiner Sensibilität für die tektonischen Veränderungen im Verfassungsgefüge der Weimarer Republik hat er mit seinen Texten immer wieder neue Generationen von Leserinnen und Lesern fasziniert. Bis heute gibt es eine lebhafte
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Einleitung zu diesem Band
und über den deutschsprachigen Raum weit hinausgehende Rezeption der Weimarer Schriften Kirchheimers.1 Das Themenspektrum dieser Arbeiten Kirchheimers aus den letzten sechs Jahren der Weimarer Republik ist breit. Es umfasst Beiträge zur Staats- und Verfassungstheorie, Studien zum Parlamentarismus, zu politischen Parteien und Wahlrechtsfragen, Analysen zu konkreten verfassungspolitischen Konstellationen der Weimarer Republik, Erörterungen zur Eigentumstheorie, kritische Diagnosen über den schrittweisen Verfall der demokratischen Ordnung, Analysen des aufkommenden Faschismus, Appelle zur Verteidigung der Republik sowie einer Reihe von kleineren Beiträgen zu Fragen der politischen Justiz, des Strafrechts, der Geschichte der Arbeiterbewegung, des Völkerrechts und ersten Versuchen, in Deutschland eine neue wissenschaftliche Disziplin mit dem Namen ›Politik als Wissenschaft‹ zu etablieren. Die meisten dieser Themen hat Kirchheimer auch in späteren Phasen seines Lebens weiterverfolgt, zum Teil in bemerkenswerter Kontinuität, zum Teil aber auch mit deutlichen Revisionen früherer Ansichten (vgl. Söllner 1982 und Schale 2006). Die in diesem Band versammelten 44 Texte von Kirchheimer werden chronologisch in der Reihenfolge ihres Entstehens abgedruckt. Die folgenden Erläuterungen in der Einleitung des Herausgebers zu den biografischen, wissenschaftlichen und politischen Hintergründen der Texte sind nach deren thematischen Schwerpunkten sortiert und folgen der Chronologie nur in groben Zügen. Am Beginn findet sich eine biografische Skizze der Kindheits- und Jugendjahre Kirchheimers, über die bislang trotz der vielfältigen wissenschaftlichen Literatur zu seinem Werk kaum etwas bekannt war.
1. Kindheit, Jugend und Studium Otto Kirchheimer2 wurde am 11. November 1905 in Heilbronn am Neckar geboren. Die Genealogie der Familie Kirchheimer lässt sich bis 1 Überblicke über die vielfältigen Rezeptionen der Weimarer Schriften Kirchheimers finden sich bei Ooyen/Schale (2011) und Buchstein/Klingsporn/Schale (2018). 2 Zur Biografie von Otto Kirchheimer vgl. Herz (1989) und Herz/Hula (1969). Die biografischen Angaben stützen sich des Weiteren auf zwei im Privatdruck erschienene Familienerinnerungen (Anschel 1990; Kirchheimer-Grossman 2010) sowie auf ungedruckte Quellen aus den Nachlässen von Otto Kirchheimer und John H. Herz, die sich in der Sammlung der German Intellectual Émigré Collec-
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ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen.3 Die männliche Linie lebte seit 1720 in Berwangen, einem badischen Dorf, das heute dem Kreis Heilbronn zugeschlagen ist, und verdingte sich im prekären Status als ›Schutzjuden‹4 mit der Fleischerei und dem Fleischhandel. Otto Kirchheimers Vater, Israel Emil Kirchheimer, kam 1856 in Berwangen als erstes Kind des Fleischers Moses Kirchheimer und seiner Frau Fanny Würzburger zur Welt. Er blieb zwar Mitglied der Jüdischen Gemeinde, war aber nicht besonders religiös und bestand darauf, mit dem Rufnamen Julius angeredet zu werden. Auch verweigerte er sich der beruflichen Familientradition und zog, anstatt die Fleischerei und den Fleischhandel seines Vaters zu übernehmen, gleich nach seiner Hochzeit im Jahre 1881 mit seiner Frau in die Stadt nach Heilbronn, um dort einen ihm lukrativ erscheinenden Getreidehandel zu eröffnen. Seine Frau, Frederike Baer, geboren 1862, stammte aus dem nahe gelegenen Neckarbischofsheim und war ebenfalls jüdischer Herkunft. Nach wenigen Jahren war Julius Kirchheimer mit seiner Firma geschäftlich so erfolgreich, dass er es zu einem der wohlhabendsten Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Heilbronn gebracht hatte. In kurzer Folge wurden dem Paar zwischen 1882 und 1888 drei Söhne und zwei Töchter geboren (Max 1882, Fanny 1883, Anna 1885, Leo 1887, Friedrich 1888) und die Familie konnte es sich aufgrund des geschäftlichen Erfolgs leisten, eines der größten Häuser der Innenstadt von Heilbronn zu beziehen.5 Julius Kirchheimer gehörte zu den anerkannten Honoratioren der Stadt und war stolz auf die von Otto von Bismarck trickreich und mit starker Hand durchgesetzte politische Vereinigung der Separatstaaten zum Deutschen Kaiserreich. Otto Kirchheimer kam 1905 als sechstes Kind des Ehepaares zur Welt, 17 Jahre nach der Geburt seines nächstjüngsten Bruders. Über seine Kindheit ist heute nur noch wenig bekannt, nur dass er als ›Spätling‹ tion der State University of New York in Albany befinden. In Kirchheimers Nachlass findet sich allerdings kaum Material aus der Zeit vor seiner Ankunft in den USA im November 1937. Weitere biografische Detailangaben beruhen auf Notizen des Verfassers aus Gesprächen, von denen einige schon längere Zeit zurückliegen: mit John H. Herz (am 15. November 1985), mit Ossip K. Flechtheim (am 13. Februar 1988), mit Henry W. Ehrmann (am 7. Juni 1988), mit Leo Löwenthal (am 5. Oktober 1988) und mit Wilhelm Hennis (am 26. September 2009). Besonderer Dank gebührt Peter Kirchheimer (am 12. März 2015 und am 16. März 2016) und Hanna Kirchheimer-Grossman (am 11. März 2016) für ihre Bereitschaft, ihre Familiengeschichte und die Erinnerungen an ihren Vater mit mir zu teilen. 3 Zum Folgenden vgl. Kirchheimer-Grossman (2010). 4 Zum prekären Status der tributpflichtigen Schutzjuden in der Region Heilbronn vgl. Angerbauer/Frank (1986). 5 Das Haus ist 1944 bei Bombardements restlos zerstört worden.
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Einleitung zu diesem Band
die volle Aufmerksamkeit seiner Eltern und Haushaltsangestellten genoss. Doch diese glückliche Phase währte nur wenige Jahre. Noch vor seiner Einschulung starb seine Mutter 1911 im Alter von 49 Jahren und die Erziehung übernahmen seine nicht so geduldigen großen Schwestern. Nach der Grundschule besuchte Otto Kirchheimer das städtische Gymnasium in Heilbronn. Wegen der Erkrankung seines Vaters wechselte er im April 1918 als 12-Jähriger auf die gymnasiale Stufe einer Privatschule in Heidelberg, das Pädagogium NeuenheimHeidelberg.6 Sein Vater starb nur ein Jahr später und hinterließ den sechs Kindern ein beträchtliches Vermögen. Während die älteren Brüder ihren Anteil für eigene Geschäfte und Unternehmen verwendeten, wurde das Erbe Otto Kirchheimers treuhänderisch für die Kosten seiner weiteren Ausbildung angelegt. Formal war Otto Kirchheimer der Vormundschaft seines Onkels Ludwig Rosenthal aus Nürnberg unterstellt, tatsächlich aber übten seine älteren Brüder diese Rechte bis zu seiner formellen Mündigkeit Ende 1926 aus. Vor allem sein 17 Jahre älterer Bruder Friedrich (Fritz), der in Heilbronn bei der dortigen Filiale der Dresdner Bank Karriere machte, sah sich diesbezüglich in der Verantwortung. Otto Kirchheimer hat später rückblickend beklagt, wie sehr er unter der Bevormundung und den Drangsalierungen seiner Brüder gelitten habe und damit die wachsende Entfremdung von ihnen erklärt. Kirchheimer besuchte das Pädagogium Heidelberg-Neuenheim fünf Jahre bis zum Sommer 1923.7 Er war als Untermieter in verschiedenen Wohnungen untergebracht. Dort erfuhr er die Fürsorge der Zimmer vermietenden Witwen, genoss im Alltag ansonsten aber viel Selbständigkeit. Als Schüler begann er früh, sich vor allem für Politik, Literatur und Geschichte zu interessieren. Nach der Revolution kam er 1919 als Jugendlicher in Kontakt mit älteren Mitschülern, die mit den Kommunisten und den linken Sozialisten sympathisierten. In diese Zeit fällt auch der Beginn seiner Beteiligung bei ›Die Kameraden‹, dem deutschjüdischen Ableger der Wandervogelbewegung. Der Wanderbund war 1919 als überregionale Organisation gegründet worden, weil viele der anderen Wandervogelgruppierungen Juden diskriminierten oder gar nicht erst in ihren Reihen haben wollten. Der Bund hatte über mehrere Standorte in Deutschland verteilt einige Tausend aktive Mitglieder. Er war offen für jüdische und nicht-jüdische Jugendliche und Studenten 6 Damals begann ein neues Schuljahr nicht nach den Sommerferien, sondern gemäß christlicher Tradition nach dem Osterfest. 7 Die nachfolgenden Angaben zur Schulkarriere Kirchheimers basieren auf den Rechercheergebnissen von Reinhard Mehring (vgl. Mehring 2014: 39-41).
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und war strikt antizionistisch. Zu den Prinzipien der ›Kameraden‹ gehörten die Gleichberechtigung aller Mitglieder, die Koedukation, die Förderung von besonderen Gemeinschaftserlebnissen und die Liebe zur Natur (vgl. Trefz 1997). Kirchheimer nahm regelmäßig an Veranstaltungen und Wandertouren der ›Kameraden‹ teil und wurde in ihren Reihen zu einem beredten Fürsprecher sozialistischer Ideen. Um das Abitur ablegen zu können, musste er 1923 erneut die Schule wechseln. Nach der bestandenen Aufnahmeprüfung verbrachte er das Schuljahr 1923/24 am Städtischen Realgymnasium Ettenheim bei Lahr (Baden). Dort legte er im März 1924 das Abitur ab. Das überlieferte Notenstammbuch dokumentiert ein abwechslungsreiches Zensurenbild mit Schwächen in den Naturwissenschaften und besonderen Stärken in den literarischen Fächern. Nachdem er von seinen Brüdern die Zustimmung zum Studium der Rechtswissenschaften eingeholt hatte, nahm Otto Kirchheimer zum Sommersemester 1924 das Studium an der Universität in Münster auf.8 Er studierte allerdings nicht die Rechtswissenschaft, sondern schrieb sich in der Philosophischen Fakultät der Universität ein, denn er war nach Münster gegangen, weil er die Vorlesungen des Neukantianers und Professors für Philosophiegeschichte Karl Vorländer hören wollte, dessen Schriften zum Sozialismus und Marxismus er als Schüler bereits gelesen hatte. Seine Brüder ließ er über diese leichte Abweichung von den vereinbarten Studienzielen im Unklaren, über Vorländer fand er aber dann doch schnell den Weg zum Fach Rechtswissenschaft. Finanziert wurde sein Studium aus dem ererbten Vermögen. Politisch betätigte Kirchheimer sich im örtlichen Sozialistischen Studentenverband. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits Mitglied der SPD.9 Auch als Student blieb er weiterhin bei den ›Kameraden‹ aktiv. Eugene Anschel, sein engster Freund während der Studienjahre, berichtet in seinen Memoiren, dass sich Kirchheimer zu Beginn seines Studiums als 18Jähriger stolz als Marxist bezeichnete, der seine Mitkameraden und -kameradinnen auf den langen Wanderungen für die Erörterung von philosophischen Problemen zu begeistern versuchte. Er schildert darin auch, dass sich Kirchheimer in den politischen Diskussionen zum linken Flügel der SPD bekannte und sich mit diversen zeitgenössischen 8 Die Angaben zum Studium Kirchheimers basieren auf: Otto Kirchheimer, Lebenslauf (27. Dezember 1927), in: Universität Bonn, Archiv der Juristischen Fakultät, Prüfungsakte Otto Kirchheimer, Promotionen 521/28, Nr. 500-524, sowie den Angaben bei Mehring (2014). 9 So die Auskunft seiner Tochter Hanna Kirchheimer-Grossman. Das genaue Datum seines Parteieintritts ist nicht bekannt.
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sozialistischen und kommunistischen Theorien wie denen von Max Adler, Rosa Luxemburg, Paul Levi oder Lenin vertraut gab. Permanent habe er Zeitung gelesen oder auf Zugfahrten aus philosophischen Texten von Platon und anderen Klassikern vorgelesen.10 In Münster blieb Kirchheimer nur ein Semester. Neben den Lehrveranstaltungen von Vorländer belegte er auch Vorlesungen beim Althistoriker Friedrich Münzer. Vorländer arbeitete zu diesem Zeitpunkt an einer umfassenden Ideengeschichte der Staatstheorie, die von der Renaissance bis Lenin reichte (vgl. Vorländer 1926), und las bereits darüber – ein Thema, für das sich Kirchheimer brennend zu interessieren begann. Zum Wintersemester 1924/25 wechselte er für das zweite und dritte Semester nach Köln, wo er sich für das Studium der Staats- und Rechtswissenschaften einschrieb. Die Kölner Universität war eine katholische Reformuniversität, an der Kirchheimer dann jedoch weniger juristische Fachvorlesungen besuchte, sondern hauptsächlich beim Soziologen Max Scheler studierte. Kirchheimer fand in Köln über seine Mitgliedschaft in der Sozialistischen Studentenvereinigung schnell Anschluss an gleichgesinnte Kommilitonen. Anschel berichtet, dass er bei einem Besuch in Kirchheimers Kölner Wohnung ein kleines, im Bücherregal aufgestelltes Bild von Lenin fand. Auf die Frage nach der politischen Bedeutung dieses Bildes habe Kirchheimer geantwortet, dass er Lenin als einen mit einem starken Willen beseelten Politiker bewundere, dass er jedoch dessen Weltanschauung und die Ideologie der russischen Kommunisten ablehne (vgl. Anschel 1990: 83). In das Kölner Jahr fällt auch der Beginn der Beziehung mit seiner späteren Ehefrau Hilde Rosenfeld. Kirchheimer hatte sie während einer Reise mit Anschel zufällig im Zug kennengelernt. Hilde Rosenfeld studierte ebenfalls Jura an der nahen Universität Bonn. Doch das sofort Verbindende war weniger die Rechtswissenschaft, sondern ihre politischen Diskussionen. Hilde Rosenfeld hatte starke Sympathien für die Kommunistische Partei und pendelte in ihren parteipolitischen Präferenzen zwischen der SPD und der KPD. Otto Kirchheimer rechnete es sich stolz an, sie nach nächtelangen Diskussionen für die politische Arbeit in der SPD zurückgewonnen zu haben. Für Kirchheimer bedeutete die Beziehung zu Hilde Rosenfeld auch den direkten Zugang zu 10 Anschel berichtet in seinen Memoiren auch Anekdotisches aus der gemeinsamen Zeit im deutsch-jüdischen Wanderbund: So schlug Kirchheimer 1924 bei einer Wanderreise der ›Kameraden‹ vor, sämtliche privat mitgebrachten Nahrungsmittel auf einen großen Tisch zu legen und nach der kommunistischen Formel »Jeder nach seinen Bedürfnissen« zu verteilen – was nach der Schilderung von Anschel allerdings gründlich schief ging (vgl. Anschel 1990: 79 f.).
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den Führungsfiguren des linken Parteiflügels der SPD. Sie war die Tochter von Kurt Rosenfeld, von November 1918 bis Januar 1919 preußischer Justizminister und seit 1920 Mitglied in der sozialdemokratischen Fraktion des Reichstages. Rosenfeld hatte eine schillernde politische Vergangenheit und war eine Berühmtheit in der linkssozialistischen Szene.11 Zusammen mit Paul Levi war er der langjährige Rechtsanwalt von Rosa Luxemburg und einer ihrer engsten Vertrauten gewesen. Als erfolgreicher Verteidiger für die Rote Hilfe und für Autoren der ›Weltbühne‹ wie Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky genoss Rosenfeld einen legendären Ruf. Auf Empfehlung von Max Scheler wechselte Kirchheimer zum Wintersemester 1925/26 für das vierte und fünfte Semester nach Berlin, wo ihm die Rosenfelds eine Wohnung im Westen der Stadt vermittelten. An der Berliner Universität schrieb er sich für Rechtswissenschaften ein und besuchte dort Vorlesungen und Seminare bei den beiden Öffentlichrechtlern Rudolf Smend und Heinrich Triepel sowie beim Strafrechtler Eduard Kohlrausch.12 Er nutzte Berlin auch zum Besuch von Vorträgen und Diskussionsabenden an der direkt gegenüber der Universität gelegenen Deutschen Hochschule für Politik (DHfP). Zu Smend entwickelte sich während seiner Berliner Zeit ein engeres Verhältnis.13 Smend arbeitete damals am Abschluss seines Hauptwerkes Verfassung und Verfassungsrecht, das 1928 erscheinen konnte und in dem er die bis heute mit seinem Namen verbundene ›Integrationslehre‹ darlegte. Smend war es auch, der dem aufstrebenden jungen Studenten den Tipp gab, seinen staatstheoretischen Interessen in Bonn bei Carl Schmitt nachzugehen und verband dies mit einer persönlichen Empfehlung bei Schmitt,14 mit dem Smend zu dieser Zeit auf fast freundschaftlichem Fuße zu stehen glaubte.15 Zum Wintersemester 1926/27 wechselte Kirchheimer an die Universität Bonn. Dieser erneute Studienortwechsel kam ihm auch aus privaten Gründen zupass, denn Hilde Rosenfeld, mit der sich eine feste Beziehung entwickelt hatte, wollte ihr Studium ebenfalls in Bonn beenden.
11 Zur Biografie Kurt Rosenfelds vgl. Ladwig-Winters (2007: 247 f.). 12 Otto Kirchheimer, Lebenslauf (27. Dezember 1927). In: Universität Bonn, Archiv der Juristischen Fakultät, Prüfungsakte Otto Kirchheimer, Promotion 1927/28, Nr. 500-524. 13 So der Bericht von Wilhelm Hennis in einem Gespräch am 26. September 2009. 14 So der Bericht von Wilhelm Hennis in einem Gespräch am 26. September 2009. 15 Das wechselhafte persönliche Verhältnis zwischen Schmitt und Smend ist dokumentiert in ihrem Briefwechsel (vgl. Schmitt/Smend 2011).
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Carl Schmitt war nach seinem Wechsel aus Greifswald seit dem Sommersemester 1922 an der Bonner Universität. Schmitts insgesamt fast sechs Bonner Jahre gelten als eine besonders produktive Phase seines Schaffens. Zum einen fällt in diese Zeit die Publikation mehrerer seiner bis heute als am wichtigsten angesehenen kleineren Schriften sowie die Fertigstellung seiner Verfassungslehre. Des Weiteren gelang es Schmitt in dieser Phase seines Lebens, ein umfangreiches Netzwerk zu wissenschaftlich und politisch wichtigen und zu kulturell interessanten Personen aufzubauen. Drittens schließlich konnte er in Bonn einen Kreis von Schülern um sich scharen, zu denen Ernst Forsthoff, Ernst Rudolf Huber, Werner Weber und Ernst Friesenhahn gehörten.16 Kirchheimer kam im September 1926 in Bonn an. Er hatte in der Zwischenzeit den Rat von Smend befolgt und Schmitts Schriften gelesen und nahm bald nach seiner Ankunft Kontakt zu Schmitt auf. Für den 11. Oktober erwähnt Schmitt den Antrittsbesuch des neuen Studenten: »Der Student Kirchheimer kam und meldete sich fürs Seminar an«.17 Kirchheimer studierte in Bonn zwei Semester. Schmitt hielt im Wintersemester 1926/27 ein Seminar mit dem Titel »Staatstheorien« ab, las über »Völkerrecht« und führte zudem »Verwaltungsrechtliche Übungen« durch. Der Teilnehmerkreis an Schmitts Seminaren war eng begrenzt, in der Regel waren es nicht mehr als zehn Studierende. Den Kern dieser kleinen Gruppe bildeten seine Doktoranden. Kirchheimer war in diesem Kreis der einzige politisch deutlich auf der Linken Stehende. Schnell wusste der neu aus Berlin hinzugekommene Kirchheimer in der Gruppe durch kluge und zugespitzte Redebeiträge zu imponieren und wurde zu einem der unbestrittenen »Sterne des Seminars« (Mehring 2009: 203). Schmitt führte zu dieser Zeit regelmäßig Tagebuch und Kirchheimer findet darin mehrere Male lobende Erwähnung. Am 2. Februar 1927 hielt Schmitt dort beispielsweise fest: »Schönes Seminar [...], Oberheid und Kirchheimer sprechen sehr gut«.18 Im Sommersemester 1927 bot Schmitt ein Seminar über »Einheit und Undurchdringlichkeit des Staates« an und las über »Politik (Allgemeine Staatslehre)« und »Deutsches Rechts- und Landesstaatsrecht«. Im Wintersemester 1927/28, seinem letzten Bonner Semester vor seinem Wechsel an die 16 Zur Bonner Zeit von Schmitt, den erwähnten Lehrveranstaltungen und zu seiner Schülerschaft vgl. Mehring (2009: 140-185). 17 Carl Schmitt, Tagebucheintrag vom 11. Oktober 1926. Ich danke Gerd Giesler, dem Mitherausgeber der für 2017 zur Veröffentlichung geplanten Tagebücher von Carl Schmitt aus den Jahren 1925-1929 dafür, dass er mir die Transkriptionen der von Schmitt notierten Einträge zur Verfügung gestellt hat. 18 Carl Schmitt, Tagebucheintrag vom 2. Februar 1927.
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Handelshochschule in Berlin, bot er ein »Staatphilosophisches Seminar« sowie erneut Vorlesungen zum Völkerrecht und zur Allgemeinen Staatslehre an. Gern ließ er sich nach seinen Lehrveranstaltungen von Seminarteilnehmern begleiten. In seinem Tagebuch äußert er sich wiederholt positiv über Kirchheimer: »nett, besonders Kirchheimer« (23. Juni 1927), »Kirchheimer war klug und nett« (30. Juni 1927). Ausweislich dieser Notizen schätzte Schmitt ihn als jugendlich-anregenden Gesprächspartner, wenn auch von der politischen Gegenseite. Aber dies schien für Schmitt den Reiz und das Interesse, mit Kirchheimer zu debattieren, eher noch zu erhöhen. Folgt man der Auswertung dieser Tagebucheinträge von Reinhard Mehring, dann war kein anderer Doktorand am Ende der Bonner Phase bei Schmitt so präsent wie Otto Kirchheimer (vgl. Mehring 2014: 34). Doch eine wirklich persönlichere Verbindung zwischen Schmitt und Kirchheimer wollte nicht gelingen. Mit Kirchheimer entwickelte Schmitt keinen solch ähnlich engen, fast freundschaftlichen Umgang wie zu seinen anderen Doktoranden. Schmitt verließ Bonn im Sommer 1927 in Richtung Berlin, um dort seine Professur an der Handelshochschule anzutreten. Kirchheimer blieb mit seiner Freundin in Bonn. Beide wollten so schnell wie möglich ihr Studium mit dem Ersten Juristischen Staatsexamen abschließen und Kirchheimer arbeitete zudem unter Hochdruck an der Fertigstellung seiner Promotionsschrift.
2. Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus Bei Carl Schmitt war es Usus, dass er seinen Doktoranden das Thema ihrer Promotionsschrift vorgab. Die anregenden Gespräche während der ambulanten Sprechstunden bei den Spaziergängen veranlassten Schmitt, als Thema der Dissertation Kirchheimers einen Vergleich zwischen den Staatstheorien des russischen Kommunismus und des Sozialismus auszugeben. Schmitts Themenwahl stieß beim Promovenden auf begeisterte Zustimmung.19 Kirchheimer sah darin eine Chance, seine eigene politiktheoretische Position zwischen Kommunisten, Sozialdemokraten und Linkssozialisten genauer zu finden; Schmitt wiederum erhoffte sich von der Arbeit eine Kritik des Bolschewismus (vgl. Mehring 2014: 38). Kirchheimer begann mit der Niederschrift der Dissertation in den Sommersemesterferien 1927. Sechs Monate später reichte er die Arbeit am 19 So der Bericht von Ossip K. Flechtheim in einem Gespräch am 13. Februar 1988.
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27. Dezember 1927 ein. Der genaue Titel der Schrift lautete Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus.20 Auch nach seinem Wechsel nach Berlin blieb Schmitt in das Bonner Prüfungsgeschehen involviert und nahm die Prüfungen der von ihm zuvor in Bonn betreuten Studierenden im Rahmen von Staatsexamina und Promotionsverfahren ab. Als Prüfungsgebiete seiner mündlichen Staatsexamensprüfung hatte Kirchheimer die Allgemeine Staatslehre im Hauptfach sowie das Völkerrecht und das Strafprozessrecht als Nebenfächer ausgewählt. Für den 14. Februar 1928 findet sich in Schmitts Tagebuch der Hinweis, dass er Kirchheimer im Ersten Juristischen Staatsexamen geprüft und mit der Prädikatsnote »gut« bewertet habe (vgl. Mehring 2014: 38). Die Dissertation von Kirchheimer las er am 19. Februar 1928 und gab sein Gutachten am folgenden Tag bei der Bonner Fakultät ab. Schmitt formulierte an diesem Tag noch zwei weitere Promotionsgutachten. Für heutige Verhältnisse ist das Gutachten vergleichsweise knapp. Schmitt lobte darin die »ausgezeichnete[n] begriffliche[n] Ausführungen« der Arbeit. Kritisch notierte er, dass die Arbeit »zu viele Thesen und unausgeführte Gedanken« enthalte, die jede für sich Stoff einer genaueren Betrachtung gewesen wären. Er sah darin aber kein Manko, sondern einen »typische[n] Fall jugendlicher Produktivität«. Schmitt attestiert Kirchheimer eine »zweifellos sehr große wissenschaftliche Begabung«.21 Ein Zweitgutachten findet sich in den Akten nicht; häufig zeichneten die Zweitgutachter in dieser Zeit die vom Erstgutachter vor20 Schreiben Otto Kirchheimer an Dekan Heinrich Göppert vom 27. Dezember 1927. Universität Bonn, Archiv der Juristischen Fakultät, Prüfungsakte Otto Kirchheimer, Promotionen 1927/28, Nr. 500-524. 21 Der vollständige Text des Gutachtens lautet: »Die Arbeit enthält zu viele Thesen und unausgeführte Gedanken. Als besonders interessant und wissenschaft[lich] wertvoll sind zu nennen: die Thesen von der sozialen Gleichgewichtstruktur des modernen Industriestaates (S. 11 ff.) und die Feststellung, daß im heutigen Sozialismus ein doppelter Fortschrittsbegriff enthalten ist (die »Lehre vom doppelten Fortschritt« S. 35 ff.). Dazu kommen ausgezeichnete begriffliche Ausführungen, wie die Unterscheidung von Utopie und Mythus, die Integrierungsfunktion der Justiz usw. Fast jede einzelne dieser Thesen und Meinungen hätte – in Ruhe systematisch ausgeführt und dargelegt – für eine Dissertation genügt, während jetzt der Gesamteindruck unter dem Übermaß nicht ausgeführter Einfälle leidet. Damit soll nicht gesagt sein, daß es sich um oberflächliche oder dilettantische Apercus handle; vielmehr liegt hier nur ein typischer Fall jugendlicher Produktivität vor. Ich möchte dem Verfasser die Menge seiner Ideen also nicht zum Vorwurf machen und statt dessen die zweifellos sehr große wissenschaftliche Begabung und die selbständige und wertvolle Erörterung von besonders aktuellen und wichtigen Begriffen (wie Demokratie, Liberalismus, Parlamentarismus, Sozialismus) hervorheben, die es m. E. rechtfertigen, die Arbeit als sehr gut zu bezeichnen.« Dissertationsgutachten Carl Schmitt vom 19. Februar 1928. Universität Bonn, Archiv der Juristischen Fakultät, Prüfungsakte Otto Kirchheimer, Promotionen 1927/28, Nr. 500-524.
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genommene Bewertung mit »einverstanden« ab. Die zweistündige Disputation erfolgte zusammen mit der Prüfung von Werner Weber, der ebenfalls von Schmitt promoviert wurde. Kirchheimer reiste als frisch gebackener Dr. des. nach Nürnberg zu seinem ehemaligen Vormund Ludwig Rosenthal und dessen Familie. Von dort aus stellte er den Antrag an die Fakultät, an Stelle der gedruckten Fassung der vollständigen Dissertation 120 Exemplare eines Aufsatzes einreichen zu dürfen, der in der ›Zeitschrift für Politik‹ erscheinen werde. »Der Aufsatz«, so Kirchheimer in dem Schreiben, »stellt eine Zusammenfassung der Ergebnisse meiner Dissertation dar«.22 Schmitt hatte diesem Verfahren bereits vorab seine Zustimmung erteilt: »Der beil.[iegende] Aufsatz enthält eine gedrängte Zusammenfassung der Dissertation und ist von besonderem wissenschaftlichen Interesse«.23 Die Verleihung des Doktortitels erfolgte am 15. Mai 1928,24 nachdem Kirchheimer wie angekündigt die 120 Sonderdrucke des Aufsatzes als Belegexemplare an die Bonner Fakultät geschickt hatte.25 22 Schreiben Otto Kirchheimer an den Dekan der Juristischen Fakultät der Universität Bonn, Heinrich Göppert, vom 2. März 1928. In: Universität Bonn, Archiv der Juristischen Fakultät, Prüfungsakte Otto Kirchheimer, Promotionen 1927/28, Nr. 500-524. 23 Schreiben Carl Schmitt an den Dekan der Juristischen Fakultät der Universität Bonn vom 1. März 1928. In: Universität Bonn, Archiv der Juristischen Fakultät, Prüfungsakte Otto Kirchheimer, Promotionen 1927/28, Nr. 500-524. 24 Abweichend von den Schriftwechseln, dem Gutachten und der als Aufsatz publizierten Fassung nennt die Promotionsurkunde als Titel der Arbeit »Zur Staatstheorie […]« und nicht »Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus«. Als Benotung ist »sehr gut« eingetragen. (Promotionsurkunde Otto Kirchheimer; Original im Besitz von Hanna Kirchheimer-Grossman). 25 Reinhard Mehring hat in seinem erstmals 2011 publizierten Artikel über Kirchheimers Promotionsakte zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Kirchheimers Schrift Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus von allen bisherigen Interpreten in der Fassung zur Kenntnis genommen worden ist, wie sie sich in der ›Zeitschrift für Politik‹ findet (vgl. Mehring 2014: 43). Bei den Vorbereitungen dieser Ausgabe der Gesammelten Schriften von Otto Kirchheimer wurde intensiv nach dieser Originalfassung der Promotionsschrift Kirchheimers gesucht. Doch bislang ohne Erfolg. Die Schrift findet sich weder in seiner Promotionsakte in Bonn noch in irgendeinem der von uns durchsuchten Nachlässe und auch in keinem anderen der von uns durchsuchten Archiv- oder Bibliotheksbestände. Reinhard Mehring erinnert sich daran, sie in den Altbeständen der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin vor dem Umzug der Bestände in andere Gebäude in der Hand gehabt zu haben. Doch auch hier blieben alle Recherchen und alles Suchen ohne positives Ergebnis. Möglicherweise trügt Reinhard Mehring die Erinnerung. Denn der von ihm nach seinen Angaben in der Abgabefassung zu findende Danksagungsvermerk ist zwar nicht in der im regulären Heft der ›Zeitschrift für Politik‹ gedruckten Fassung der Schrift zu lesen, er findet sich jedoch als ein vom Verlag besorgter Aufdruck auf der Rückseite der Sonderdrucke. Die den Lebenslauf ergänzende gedruckte
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Kirchheimer beginnt seinen Aufsatz Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus mit einer Kritik am »geringe[n] politische[n] Eigengehalt des Liberalismus« (S. 132). Er wirft dem Liberalismus vor, im Kampf gegen die feudalen Mächte im frühen 19. Jahrhundert zu naiv auf den Rechtsstaatsgedanken und den Konstitutionalismus vertraut zu haben. Zwischenzeitlich habe sich die Arbeiterklasse zu einem relevanten politischen Faktor gemausert. Aufgrund ihrer »gemeinsame[n] Frontstellung gegen den feudalen Halbabsolutismus« (S. 132) gerieten der bürgerliche Liberalismus und die Arbeiterklasse im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in eine nähere Beziehung, was Kirchheimer zufolge bis auf den heutigen Tag die politische Identität der westeuropäischen Sozialisten geprägt habe. Dieses historische Bündnis sei erst von dem Zeitpunkt an zerbrochen, an dem das allgemeine und gleiche Wahlrecht durchgesetzt worden sei. Denn nun würden die demokratischen Prinzipien gegen die sozialen Trägerschichten des Liberalismus selbst angewendet. Prägnant würden diese Differenzen bei den unterschiedlichen begrifflichen Auslegungen des Demokratiebegriffs. Demokratie bedeute zunächst ganz allgemein die politische »Teilnahme jedes Einzelnen« (S. 133). Für seine weiteren von Schmitt gelobten begrifflichen Unterscheidungen nimmt Kirchheimer Anleihen an der Terminologie des linken Austromarxisten Max Adler. Solche Anleihen an Adler nimmt er auch in methodischer Hinsicht. Adler hatte sein Buch Die Staatsauffassung des Marxismus mit dem Untertitel versehen Ein Beitrag zum Unterschied von juristischer und soziologischer Methode (Adler 1922). Auch für Kirchheimer sind alle juristischen Formen Ausdruck gesellschaftlicher Klassenverhältnisse. Adler unterschied zwischen der »politischen« und der »sozialen« Demokratie.26 Während die »bloß politische Demokratie« allen Bürgern prinzipiell gleiche politische Beteiligungsrechte einDanksagung lautet: »Insbesondere aber bin ich meinem verehrten Lehrer Herrn Professor Dr. Schmitt in Bonn für die vielfältigen Anregungen, die ich von ihm empfing, zu Dank verpflichtet.« (Otto Kirchheimer, Sonderdruck von Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus der ›Zeitschrift für Politik‹ unter dem Titel Zur Staatstheorie des Sozialismus und Bolschewismus. In: Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Mappensignatur Fi 566-1928,2). Sollte die Abgabefassung der Dissertation im Zuge der weiteren Arbeit an dieser Edition doch noch irgendwo entdeckt werden, und sollte sie tatsächlich von dem in der ›Zeitschrift für Politik‹ erschienen Text abweichen, wird sie in den sechsten und letzten Band der Schriften von Otto Kirchheimer aufgenommen werden. – Ich danke Reinhard Mehring für seine unterstützenden Hinweise bei der Fahndung nach der Abgabefassung und Lisa Klingsporn für ihre unermüdliche Hilfe bei der Suche in Archiven. 26 Vgl. Adler (1922: 116-132) und Adler (1926).
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räume, aber ansonsten auf der sozialen Heterogenität einer kapitalistischen Klassengesellschaft basiere, sei erst die »soziale Demokratie« der solidarischen Vergesellschaftung im Sozialismus die »wirkliche Demokratie«. Aus diesem Grund gehe man Adler zufolge nicht fehl, wenn man die gegenwärtige bürgerliche Demokratie aufgrund ihres gesellschaftlichen Klassencharakters als eine Diktatur der Bourgeoisie bezeichne. Adler plädierte für eine Wiederaufnahme der Marx‘schen Formel von der »Diktatur des Proletariats« in die Theoriesprache der österreichischen und deutschen Sozialdemokratie. Er berief sich dabei neben Marx und Luxemburg auch auf Schmitts Buch über die Diktatur.27 Max Adlers Schriften und insbesondere seine terminologische Unterscheidung zwischen den beiden Formen der Demokratie stießen in den linken Kreisen der Weimarer Jungsozialisten in den ›Jungsozialistischen Blättern‹ sowie im Umfeld der Zeitschrift ›Klassenkampf – Sozialistische Politik und Wirtschaft‹ auf breite Resonanz und Zustimmung.28 Auch Kirchheimer greift diese Unterscheidung auf, findet für sie aber auch die eigene Bezeichnung von »Formal- und Wertdemokratie« (S. 133). Im Sinne Adlers versteht er unter der formalen Demokratie des Liberalismus den Zustand einer allgemeinen politischen Gleichberechtigung, die in der »Freiheit von Werten selbst einen Wert« (S. 134) erblickt. Die Formaldemokratie sei die politische Form, in der sich in einer bestimmten Phase des Klassenkampfes die gegensätzlichen sozialen Kräfte solange gruppierten, bis eine historische Entscheidung zwischen ihnen ausgetragen worden sei. Die Wertdemokratie hingegen basiere auf der Anerkennung eines allen Bürgern »gemeinsamen Wert[es] « (S. 133), auf »bestimmte[n] Vorstellungen sozialer Homogenität« (S. 135), die über die bloße politische Gleichberechtigung hinausgingen. Kirchheimer folgt Adler auch im Hinblick auf dessen unter Rückgriff auf die Darlegungen von Marx in seiner Schrift Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte entwickelte These, dass die formale Demokratie nicht stabil sei (vgl. Adler 1926: 112-131). Sie funktioniere nur so lange, wie ein annäherndes Gleichgewicht der sich bekämpfenden sozialen Klassen herrscht und eine daraus resultierende »stillschweigende Abmachung« (S. 135) zwischen ihnen existiert, dass durch Wahlen und ihr »zufälliges Mehrheitsergebnis« (S. 135) entschieden wird, wer jeweils die Regierung stellen soll. Da formale Demokratie auf 27 Vgl. Adler (1922: 193-197). Zu dieser Schmitt-Rezeption vgl. Ananiadis (1999). 28 Zu Adlers Demokratietheorie und seinem großen Einfluss auf die damalige linkssozialistische Theoriebildung vgl. Walter (1980: 80-90), Pfabigan (1982) und Bavaj (2005: 201-218).
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einem Kompromiss basiert, versuchen alle sozialen Gruppen, ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen in die Verfassung hineinzuschreiben, um sie dadurch abzusichern. Kirchheimer nimmt an dieser Stelle Überlegungen der zeitgenössischen Reformsozialisten Heinrich Cunow und Karl Renner auf, die für eng umschriebene rechtliche Begrenzungen der Regierungsgewalt eintraten, um einer bürgerlichen Regierung einen möglichst geringen Spielraum zu geben, gegen die Interessen der Arbeiterklasse zu agieren. Aufgrund dieser Gefahr hatten sich diese sozialistischen Theoretiker auch gegen die juristische Freirechtschule und für eine strikte Bindung der Justiz an den Rechtspositivismus ausgesprochen. Kirchheimer verwendet im Zusammenhang mit der rechtspolitischen Strategie von Cunow und Renner den Ausdruck »Verrechtlichung« (S. 136), worunter er die Ausweitung der rechtlichen Kodifizierung des staatlichen Verwaltungshandelns versteht und die er als Versuch bewertet, »jeder Machtentscheidung […] auszuweichen« (S. 136). Der Begriff ›Verrechtlichung‹ war 1919 von Hugo Sinzheimer im Zusammenhang mit der Räteverfassung geprägt worden und wird von Kirchheimer auf sämtliche Rechtsgebiete ausgeweitet.29 Erst wenn es zu umfassenden Verrechtlichungen der sozialen Beziehungen gekommen ist, sei die »wahre Epoche des Rechtsstaats« (S. 136) angebrochen. Nun liege der Wert einer Entscheidung nicht mehr in ihrer sachlichen Begründung, sondern sei ausschließlich darin zu finden, dass sie eine rechtliche Entscheidung sei. Ein solcher Staat, so wendet Kirchheimer diese Entwicklung kritisch, »lebt vom Recht, aber es ist kein Recht mehr, es ist ein Rechtsmechanismus, und jeder, der die Führung der Staatsgeschäfte zu bekommen glaubt, bekommt stattdessen eine Rechtsmaschinerie in die Hand, die ihn in Anspruch nimmt wie einen Maschinisten seine sechs Hebel, die er zu bedienen hat« (S. 136). Vor dem Hintergrund dieser generellen rechtspolitischen Charakterisierung der zeitgenössischen rechtsstaatlichen Massendemokratie präsentiert Kirchheimer die beiden Staatstheorien des Sozialismus und des Bolschewismus. Deren Darstellung ist nicht systematisch organisiert, sondern mäandert zwischen den beiden Theorien und verschiedenen Topoi. Auch nimmt Kirchheimer keine Trennung zwischen Darstellung und Kritik der jeweiligen Theorien vor, sondern rekonstruiert sie von vornherein aus kritischer Perspektive. Zur Charakterisierung der russischen und sowjetischen Doktrinen und Verhältnisse stützt sich Kirch29 Zur Rezeption des Begriffs ›Verrechtlichung‹ in Anschluss an Kirchheimer seitens der rechtssoziologischen Justizkritik von Rüdiger Voigt, Spiros Simitis, Jürgen Habermas, Rudolf Wiethölter und weiteren Autoren vgl. Teubner (1998).
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heimer auf die (soweit sie damals bekannt waren) einschlägigen Bemerkungen von Marx und Engels über Russland, auf Aussagen von Lenin und Stalin sowie auf ältere und übersetzte menschewistische Literatur. Für die Darstellung der sozialistischen Staatstheorie der Zweiten Internationale zieht er vor allem die Schriften des russischen Sozialdemokraten Plechanow, des französischen Sozialisten Jean Jaurès und des zu seiner Zeit wichtigsten Theoretikers der deutschen Sozialdemokratie, Karl Kautsky, heran. Kirchheimer wirft den Sozialisten vor, einer naiven »Theorie vom Doppelten Fortschritt« (S. 139) zu huldigen, wonach mit dem Fortschritt der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung quasi automatisch auch ein Fortschritt zum Humanismus in der Entwicklung der Menschheit einhergehe, weswegen die politische Konfliktaustragung zivilisierter erfolgen könne. Kirchheimer zufolge schürt diese Theorie die Illusion einer friedlichen Mehrheit der sozialistischen Kräfte in der bestehenden Formaldemokratie und münde konsequenterweise in der Preisgabe des Diktaturbegriffs für die sozialistische Sache. Marx, so Kirchheimer, habe eine solche humanistische Theorie nie verfochten und in Russland sei es Lenin gewesen, der solche Ideen wirkungsvoll verworfen und sie mit einer Lehre vom rücksichtslosen Klassenkampf ersetzt habe, welche keine über den Klassen stehende Moral anerkenne. Kirchheimer sieht in diesen Thesen von Lenin Parallelen sowohl zu Nikolai Berdjajews russisch-orthodoxer Religionsphilosophie mit ihrer Zuspitzung des unerbittlichen Kampfes zwischen Christ und Antichrist wie auch zu Georges Sorels Zelebrierung der politischen Gewalt und des Mythos.30 Ähnlich wie Carl Schmitt in seinem Kapitel über die irrationalistischen Theorien unmittelbarer Gewaltanwendung in seiner Schrift über die Geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (vgl. Schmitt 1926: 77-90) referiert Kirchheimer die Thesen von Sorel und Lenin in einer Art und Weise, die seine Faszination für diese beiden Propagandisten eines rücksichtslosen politischen Handelns erkennen lassen. Besondere Aufmerksamkeit widmet Kirchheimer dem bolschewistischen Diktaturbegriff. In Anlehnung an die terminologische Unterscheidung seines Doktorvaters zwischen kommissarischer und souveräner Diktatur (vgl. Schmitt 1921: 130-152) rechnet er Lenins Diktaturverständnis der zweitgenannten Variante zu, da sie mit allen sich bietenden Mitteln zielgerichtet den Boden für den Aufbau eines sozialistischen Staates der sozialen Gleichheit schaffen will. Auffällig ist, wie kreativ Kirchheimer in diesem Zusammenhang auch auf Überlegungen 30 Vgl. Berdjajew (1924) und Sorel (1906).
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zurückgreift, die er aus Rudolf Smends »Integrationslehre« kennt.31 Mit der souveränen Diktatur der Bolschewiki ändert sich der Status des Rechts im Inneren des Staates, der mit der liberalen Auffassung der Justiz als einem über den Streitenden stehenden neutralen Dritten bricht, und stattdessen Urteile ausschließlich nach der Gebotenheit bolschewistischer Wertvorstellungen spricht und auf diese Weise die unteren Bevölkerungsschichten in den neuen Staat zu integrieren versucht. Mit dem neuen Staat ändert sich auch der Status von Wahlen, indem mit der liberalen Geheimhaltung der Stimmabgabe gebrochen wird und öffentliche Abstimmungen zu einem staatlichen Integrationsfaktor umgeformt werden – die alltägliche Praxis des Rechtssystems und die Abhaltung von Wahlen sind auch in der Verfassungslehre von Smend zwei zentrale Mechanismen staatlicher Integration (vgl. Smend 1928: 154 ff. und 207 ff.). Die bolschewistische Theorie ändert auch die Völkerrechtsdoktrin, mit der die souveräne Diktatur ihre Beziehungen zu anderen Staaten definiert. Ausgehend von der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze versteht die bolschewistische Machtelite das Völkerrecht nicht als ein Friedens-, sondern als ein Waffenstillstandsrecht und ist aus diesem Grund ein prinzipieller Feind des Genfer Völkerbundes. Das hat Implikationen für den Souveränitätsbegriff. Während Kirchheimer zufolge in Westeuropa ein Abbau der Souveränitätsvorstellungen betrieben werde – in der politischen Theorie von Autoren wie Harold Laski (vgl. Laski 1917), in der politischen Praxis durch vielfältige internationale Vertragsbindungen –, hat »Sowjetrußland […] in einer für die Verschleierungstendenzen der heutigen Zeit fast unfaßbaren Weise« (S. 150) mit der proletarischen Klasse einen neuartigen Träger der Souveränität bezeichnet. Mit der Inanspruchnahme des internationalen Proletariats als offiziellem Träger der Souveränität nimmt die bolschewistische Staatslehre »erstmalig [… die] bewußte […] Trennung von Staat und Souveränität« (S. 150) vor. Diese Souveränität sei an keine nationalstaatlichen Grenzen gebunden, sondern in ihrer politischen Tendenz universal. Abschließend wirft Kirchheimer noch einmal die Frage auf, ob Sowjetrussland tatsächlich als ein Staat zu bezeichnen ist. Er bejaht die selbstgestellte Frage, denn anders als die bürgerliche Demokratie, von der die Mehrheit der Sozialdemokraten hofft, eines Tages friedlich den 31 Auch wenn Smend seine umfassende Integrationslehre erst im Herbst 1928 in seinem Buch Verfassung und Verfassungsrecht publizierte, so finden sich Vorüberlegungen dazu bereits in früheren Publikationen (vgl. Smend 1923: 84 f.) und kannte Kirchheimer die Grundzüge dieser Lehre aus dessen Lehrveranstaltungen in Berlin.
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Übergang in Richtung Sozialismus antreten zu können, habe das von Lenin gegründete politische System »dem Recht und der Wahl ihren integralen Charakter zurückgewonnen« (S. 150). Der Sowjetunion sei es gelungen, mit dem politischen Mythos von der Weltrevolution die politischen Kräfte zu beleben. Anders ergehe es momentan den Formaldemokratien des Westens. In ihnen sei zwar noch die Form des Staates vorhanden, aus dem Staat selbst sei aber »ein Weniger, ein Rechtsmechanismus« (S. 150) geworden, für den die Anteilnahme und Begeisterung seiner Bürger gerade noch für die ›Theorie des Doppelten Fortschritts‹, die ihrerseits auch wieder eine Ausstiegsoption aus dem bürgerlichen Rechtssaat sei, reiche. Ein solcher Staat, »der keiner mehr ist«, so Kirchheimer am Ende seines Aufsatzes, »kann auch keinen Feind haben; denn er besitzt keine politische Ausdrucksform mehr« (S. 150). In der Sekundärliteratur ist diese Abhandlung des jungen Kirchheimers von einigen Interpreten als Plädoyer für den Bolschewismus oder zumindest doch als Beleg für gewisse Sympathien mit der sowjetrussischen Entwicklung gelesen worden.32 Doch wenn Kirchheimer die Kraft und Stärke des Bolschewismus hervorhebt, so darf diese Bewertung nicht mit einer Parteinahme für ihn verwechselt werden. Denn dem Kommunismus sowjetrussischer Prägung räumt Kirchheimer unter Berufung auf Briefe von Marx an seine russische Übersetzerin Vera Sassulitsch aus dem Jahre 1881 über die Besonderheiten des russischen Zarenreichs, die 1924 erstmals publiziert worden waren33 und aufgeregte Diskussionen unter damaligen Linken auslösten, für Deutschland keine realistische politische Chance ein. Auch macht er keinen Hehl daraus, dass ihn die politische Kraft des von Sorel gepredigten Mythos vom Klassenkampf zwar beeindruckt, dass er im mythischen Bewusstsein jedoch mit dem französischen Ethnologen Lucien Lévy-Bruhl einen prä-logischen Irrationalismus aus der emotionalen und geistigen Welt von »primitiven Völkern« (S. 4; vgl. Lévy-Bruhl 1922: 94 ff.) sieht und keine mit dem Marxismus in irgendeiner Art und Weise vereinbare rationale Bewusstseinsform erkennen kann. Nicht untypisch für die Sekundärliteratur zu Kirchheimer ist die in die andere politische Richtung zielende Aussage, dass er in seiner Dissertation »in enger Anlehnung an Schmitt‘sche Theoreme«34 argumentiert habe. Das wirft die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis der 32 Vgl. Scheuerman (1994: 24-26) und Breuer (2012: 114). 33 Vgl. MEW, Bd. 19 (1979: 242-243 und 384-406). 34 Kohlmann (1992: 505 f.). Ähnliche Einschätzungen finden sich bei Kennedy (1987), Scheuerman (1994), Jones (1999) und Scheuerman/Caldwell (2000).
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Schriften Kirchheimers aus den Jahren 1927 bis 1933 zu denen seines Doktorvaters auf. In der Sekundärliteratur hat es unterschiedliche Antworten darauf gegeben, die Gegenstand von zum Teil polemisch geführten Kontroversen geworden sind. Unbestritten ist geblieben, dass Kirchheimer und Schmitt ihre Analysen zur Weimarer Republik mit konträren politischen Stoßrichtungen verfassten. Umso umstrittener aber ist, inwieweit es in wichtigen Punkten Übereinstimmungen und damit einen prägenden Einfluss von Denkmotiven Schmitts auf das Werk von Otto Kirchheimer gegeben hat. Die Skala der Kirchheimer-Interpretationen reicht von der vorwurfsvoll vorgetragenen Lesart eines ›Links-Schmittianismus‹ bis zur Einzeichnung von klaren Trennungslinien.35 Zu Recht hat Volker Neumann bereits zu Beginn dieser Debatte darauf hingewiesen, dass es zwischen den Schriften der beiden auf der formalen Ebene einige Ähnlichkeiten gibt (vgl. Neumann 1981: 237). Beide bevorzugten die Form kleinteiligerer Abhandlungen, die von aktuellen politischen Ereignissen angeregt sind und eine politisch intervenierende Intention verraten; beide hinterließen vielleicht auch aus diesem Grund kein Werk im Sinne einer systematisch entfalteten Theorie; beide betonten in ihren Arbeiten den Aspekt des Stils und der Rhetorik; beide schätzten zuspitzende Begriffsbildungen und fanden starke Worte; und beide argumentierten zuweilen offen agitatorisch. An Kirchheimers Dissertation lässt sich besonders gut erkennen, wie sich für ihn Theoreme und Formulierungen Schmitts auf eine geradezu ideale Weise in seinen bislang vom Linkssozialismus Max Adler‘scher Provenienz geprägten Denkhorizont einfügen ließen. Diesen Einbauten war sein marxistischer Ansatz allerdings vorgelagert und aus diesem Grund blieb in seinem Denken auch Platz für weitere Einbauten. Das gilt im Hinblick auf die Dissertation insbesondere für Gedankengänge aus der Integrationslehre von Rudolf Smend. Vor diesem Hintergrund hat das Etikett des ›Links-Schmittianismus‹ nicht mehr und auch nicht weniger Berechtigung wie Etikettierungen als ›Links-Smendianismus‹ oder ›staatsrechtlicher Adlerismus‹. Gleichzeitig sollte bei dieser Diskussion nicht unterschlagen werden, wie sehr auch Schmitt von seinem jungen Promovenden profitiert hat. Über Kirchheimer erhielt er Einblick in marxistische Diskussionen und 35 Die Literatur über dieses Thema ist mittlerweile Legion. Vgl. Neumann (1981), Neumann (1983), Söllner (1983), Kennedy (1986), Söllner (1986), Jay (1987), Kennedy (1987), Preuß (1987), Tribe (1987), Schäffer (1987), Perels (1989), Kohlmann (1992), Scheuerman (1994), Scheuerman (1996), Scheuerman/Caldwell (2000), Schale (2006), Mehring (2007), Bavaj (2007), Kemmerer (2008), Llanque (2011), Breuer (2012), Mehring (2014) und Neumann (2015).
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die Ideenwelt radikaler linker Gruppen, die ihm ansonsten verschlossen geblieben wären.36 Kirchheimer vermittelte ihm nicht nur Wissenswertes aus den sozialistischen Debattierzirkeln, sondern auch den persönlichen Kontakt zu Kurt Rosenfeld und den beiden linken Gewerkschaftsjuristen Franz L. Neumann und Ernst Fraenkel.37 Schmitt zitierte Kirchheimer in mehreren seiner Schriften voller Respekt38 und hob dabei auch die Dissertation als »beachtenswert[en]« (Schmitt 1931 a:142) Beitrag aus der marxistischen Staatsdiskussion hervor.39 Weitaus häufiger allerdings zitierte Kirchheimer aus Schriften Schmitts. Auch ohne eine präzise quantitative Zitationsanalyse lässt sich bei der Lektüre der Arbeiten Kirchheimers zwischen 1928 bis 1933 unschwer erkennen, dass er keinen anderen Autor aus der Gruppe der Weimarer Staatsrechtslehre so häufig zitiert wie Schmitt. Doch der nur quantitative Blick kann optische Täuschungen erzeugen. Denn nicht selten hatte die Zitation von Schmitt strategische Absichten. Dies geschah bis 1930 in erster Linie, um sich die Autorität des über alle politischen Lager anerkannten Staatsrechtslehrers für die eigenen argumentativen Zwecke auszuborgen. Je offener Schmitt sich dann aber ab 1930 für die Präsidialdiktatur verwendete, desto häufiger wurden die Schmitt-Zitierungen zu einer Art des direkten Ansprechens von Schmitt. Kirchheimer legte es nun zunehmend darauf an, Schmitt anhand älterer Äußerungen regelrecht vorzuführen. In den letzten Monaten der Republik und nach der Machtübergabe an die Regierung Hitler erreichte diese Art von Schmitt-Zitation einen Grad intensiver Anspannung, der sich vermutlich ohne die emotionale Komponente seines Verhältnisses zu Schmitt kaum erklären lässt.40
36 Vgl. Neumann (1981: 239) und Breuer (2012: 111-140). 37 So der Bericht von Henry (Heinrich) W. Ehrmann, der zusammen mit Kirchheimer, Neumann und Fraenkel in Berlin Seminare bei Carl Schmitt besuchte (Gespräch mit Henry W. Ehrmann am 7. Juni 1988). 38 Diese Zitationen sind zusammengestellt in Mehring (2007) und Breuer (2012: 112-141). 39 Schmitt schickte den Aufsatz von Kirchheimer auch an seinen liberalen Kollegen Gerhard Anschütz. Der reagierte darauf allerdings eher ratlos und schrieb nach der Lektüre an Schmitt: »Ich hatte, wie so oft bei solchen Schriften aus dem Lager der jüngsten Generation den unbehaglichen Eindruck: alles wankt heutzutage, alles. Wohin geht die Reise?« Der Brief von Anschütz an Schmitt ist zitiert in: Briefwechsel Schmitt/Smend (2011: 85). 40 John H. Herz sprach in diesem Zusammenhang davon, dass Schmitt für Kirchheimer eine Art »Vaterersatz« (Herz 1989: 12) gewesen sei. Die geradezu besessene Art und Weise, mit der Kirchheimer ab 1930 die Auseinandersetzung mit Schmitt betrieb, bezeichnete er mit der Freud‘schen Formulierung des »Vatermordes« (Gespräch mit John H. Herz am 15. November 1985).
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3. Journalistische Interventionen Beim geselligen Beisammensein am Abend nach der Verteidigung der Dissertation am 25. Februar 1928 war es zu politischen Unstimmigkeiten zwischen Schmitt und Kirchheimer gekommen, auf die Schmitt nicht mehr verständnisvoll väterlich reagierte. Sei es, dass Kirchheimer offener als zuvor seine Kritik an den zumeist rechten und rechtsradikalen Kommilitonen aus dem Bonner Kreis um Schmitt äußerte, oder dass er Schmitts politische Position direkter als zuvor angegriffen hatte. Für Schmitt endete der gemeinsame Umtrunk jedenfalls verdrießlich und er notierte am Abend in sein Tagebuch: »Kirchheimer mangelt jedes Nationalgefühl, grauenhaft«.41 Kirchheimer seinerseits war nach dem erfolgreichen Abschluss seines Jurastudiums in Bonn mit dem Ersten Staatsexamen und der Promotion zunächst erst einmal fest entschlossen, sich beruflich zukünftig vor allem politisch zu betätigen (vgl. Herz 1989: 13). Doch auch die akademische Welt lockte ihn. Angesichts der schwierigen beruflichen Aussichten auf dem akademischen Arbeitsmarkt entschied er sich, auf jeden Fall das Zweite Juristische Staatsexamen zu absolvieren, um danach bessere Chancen zu haben. Er bewarb sich um das juristische Referendariat und wurde am 29. März 1928 zum Referendar im Kammergerichtsbezirk des Landes Preußen ernannt.42 Er war damit für die nächsten drei Jahre ein preußischer »Beamter auf Zeit« mit zwar geringen, aber erst einmal gesicherten Einkünften.43 Auch Hilde Rosenfeld hatte ihr Jurastudium in Bonn erfolgreich abgeschlossen und sich um das Referendariat beworben. Am 31. März 1928 heirateten beide in Berlin,44 wo Kirchheimers Schwiegervater, der Reichstagsabgeordnete Kurt Rosenfeld, mit seiner Familie ein Haus im Stadtteil Grunewald bewohnte. Kurt Rosenfeld war es auch, der seiner Tochter und Otto Kirchheimer den Einstieg in das Juristische Referendariat ermöglichte und beiden die Kontakte zu den entsprechenden Stellen in seinem heimatlichen Wahlbezirk Erfurt (damals zur Provinz Sachsen in Preußen gehörig, heute zu Thüringen) herstellte. 41 Carl Schmitt, Tagebucheintrag vom 25. Februar 1928. 42 Diese Angabe findet sich in einem Schreiben des Präsidenten des Oberlandesgerichts an den Preußischen Justizminister vom 14. Oktober 1929. In: Bundesarchiv Berlin, R 3001/6322, Akte des Justizministeriums betreffend Dr. Otto Kirchheimer, Bl. 5. 43 Zur seit 1923 in Preußen geltenden neuen Ausbildungsordnung für Rechtsreferendare vgl. Jescheck (1939: 82-125). 44 Eine Kopie der Heiratsurkunde findet sich in Kirchheimer-Grossman (2010: 60).
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Berlin blieb dennoch die Stadt, zu der beide die stärksten Bezüge behielten. Waren es bei Kirchheimers Frau die familiären Bindungen, so wollte Otto Kirchheimer seine Kontakte zum akademischen Betrieb in der Hauptstadt nicht abbrechen lassen.45 In Erfurt begann Kirchheimer sein Referendariat46 am 14. April 1928 bei der Staatsanwaltschaft, wechselte nach drei Monaten an das Arbeitsgericht Erfurt und arbeitete dann vom 14. Dezember 1928 bis zum 3. September 1929 am Landgericht Erfurt. Im September 1929 zogen er und seine Frau wieder nach Berlin, von wo aus er zunächst vom 17. September 1929 bis zum 16. April 1930 seinen Dienst am Arbeitsgericht Spandau versah, um vom 17. April bis zum 16. Mai 1930 für vier Wochen zum Arbeitsgericht Berlin eingeteilt zu werden, dessen Vorsitz seit 1929 Otto KahnFreund führte. Kahn-Freund hatte wie Fraenkel und Neumann zum Schülerkreis Hugo Sinzheimers in Frankfurt gehört und zählte auch in Berlin wieder zum engen Freundeskreis der beiden.47 Kirchheimers Wechsel nach Berlin war weit im Voraus geplant. Kirchheimers fanden Aufnahme für die bei Rechtsanwälten zu absolvierenden Stationen im politischen Milieu des linken Sozialismus. Nach der Station in Spandau bei Kahn-Freund setzte Otto Kirchheimer seine Ausbildung vom 18. Mai 1930 an zunächst bei Rechtsanwalt und Notar Heinrich Riegner fort, der in der Joachimsthaler Straße 41 in Berlin-Charlottenburg48 zusammen mit Kurt Rosenfeld seine Kanzlei betrieb. Vom 17. Oktober 1930 an arbeitete er dann in der Kanzlei von Wilhelm Liebknecht, dem drittältesten Sohn des Londoner Marx-Vertrauten und Parteigründers der SPD.49 Die letzten Stationen seiner Referendarzeit absolvierte Otto Kirchheimer am Berliner Kammergericht (15. Zivilsenat sowie 4. Straf45 In Carl Schmitts Tagebüchern finden sich Einträge über Seminarbesuche Kirchheimers aus dessen Erfurter Zeit, sowie auch über einen gemeinsamen Sonntagnachmittag zusammen mit dessen Frau (»[…] traf Kirchheimer und seine Frau, wir plauderten über eine Stunde zusammen im Café Venezia, über Sozialismus, den Staat usw.« Carl Schmitt: Tagebucheintrag vom 14. April 1929). 46 Zu den Angaben über die einzelnen Stationen seines Referendariats vgl. die Nachweise in den Akten des Bundesarchivs (Bundesarchiv Berlin, R 3001/63222, Akte des Justizministeriums betreffend Dr. Otto Kirchheimer, Bl. 5, 10). – Ich danke Simone Ladwig-Winters für den Hinweis auf diese Aktenbestände. 47 Vgl. Kahn-Freund (1981: 186). Zu Biografie und Werk Kahn-Freunds vgl. Däubler (1988). 48 Zu biografischen Angaben über Heinrich Riegner vgl. Ladwig-Winters (2007: 245). 49 Wie sein Bruder Theodor hatte auch Wilhelm Liebknecht jun. erst nach der Ermordung des Bruders Karl Liebknecht begonnen, sich politisch zu engagieren: Beide Liebknecht-Brüder waren zentrale Figuren im Umfeld des linken Flügels der SPD bzw. des verbliebenen Teils der USPD, als deren letzter Vorsitzender Theodor Liebknecht fungierte, vgl. Trotnow (1980: 41-45).
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senat). Am 2. Juni 1931 legte er die Große Staatsprüfung erfolgreich ab.50 Bereits in Erfurt betätigte sich Kirchheimer neben seiner täglichen Arbeit im Referendariat als gelegentlicher justizpolitischer Kommentator für die dortige sozialdemokratische Tagespresse. Es gab während der Weimarer Republik knapp über 150 sozialistische bzw. sozialdemokratische Tageszeitungen, die auf Artikelbeiträge von freien Mitarbeitern angewiesen waren. In der Kirchheimer-Forschung ist über diese Seite seines Werkes bislang nichts bekannt gewesen.51 Im Zuge der Recherchen bei der Vorbereitung dieser Ausgabe wurden insgesamt neun von Kirchheimer verfasste Zeitungsartikel aus seiner Zeit als Referendar gefunden.52 Der erste, mit seinem Pseudonym »A.Z.« gezeichnete, Artikel erschien zwei Wochen nach seinem Umzug nach Erfurt am 27. April 1928 in der Tageszeitung ›Die Tribüne‹, dem »sozialdemokratische[n] Presseorgan für das Land Thüringen und den preußischen Regierungsbezirk Erfurt«. Der Artikel trägt die Überschrift Die Lehre von Stettin und ist ein justizpolitischer Kommentar. Kirchheimer bezieht sich darin auf einen im Frühjahr 1928 im gesamten Reich viel beachteten Fememordprozess vor dem Stettiner Schwurgericht. Im Prozess wurde ein acht Jahre zurückliegender Fememord verhandelt. Angeklagt war Edmund Heines wegen der Ermordung des 20-jährigen pommerschen Landarbeiters Willi Schmidt im Juli 1920, die aus Rache dafür erfolgte, dass Schmidt Waffenverstecke eines in Vorpommern getarnt untergebrachten Freikorps verraten haben soll, das sich zuvor im März 1920 am Kapp-Putsch beteiligt hatte (vgl. Nagel 2004: 275 ff.). 50 Bundesarchiv Berlin, R 3001/6322, Akte des Justizministeriums betreffend Dr. Otto Kirchheimer, Bl. 14. 51 Obwohl John H. Herz schon 1989 in seinem biografischen Abriss den Hinweis darauf gegeben hatte, dass es lohnenswert sein könnte, die Erfurter sozialdemokratische Presse systematisch nach Beiträgen von Kirchheimer zu durchsuchen (vgl. Herz 1989: 13). 52 Die Recherchen blieben zunächst ergebnislos, bis es schließlich über Umwege gelang, Kirchheimer zumindest ein Pseudonym zweifelsfrei zuzuordnen: Im Nachlass Kirchheimers in Albany findet sich das Typoskript eines Textfragmentes von einer ganzen und einer halben Seite, das mit »Die Lehre von Stettin« überschrieben ist und in das Korrekturen in der Handschrift von Otto Kirchheimer eingefügt sind (Otto Kirchheimer Papers, Series 4: Writings 1937 - 1964, Box 2, Folder 86, Special Collections & Archives, University at Albany, State University of New York). Dieser Beitrag konnte schließlich bei der weiteren Suche als Kommentarartikel in einer der sozialdemokratischen Zeitungen aus der Erfurter Region aufgefunden werden, gezeichnet mit dem Pseudonym »A.Z.«. Mit dieser Information ließen sich dann weitere von Kirchheimer verfasste Zeitungsartikel auffinden bzw. identifizieren. – Ich danke Henning Hochstein für die Durchsicht der Zeitungen.
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Der Angeklagte Heines war kein unbeschriebenes Blatt. 1919 war er an den Kämpfen der Freikorps im Baltikum und beim Kapp-Putsch beteiligt, hatte im November 1923 am Hitler-Putsch teilgenommen und war zusammen mit Adolf Hitler in Landsberg inhaftiert gewesen, bis er 1924 vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden war. Seitdem übte er verschiedene Funktionen in der NSDAP aus. Der Fememord an Willi Schmidt war erst 1927 durch einen Erpressungsversuch bekannt geworden, worauf der Prozess gegen Heines im April in Stettin eröffnet wurde. Kirchheimer nahm den gerade eröffneten Strafprozess zum Anlass, die in der Vergangenheit vor dem Leipziger Reichsgericht geführten Hochverratsprozesse – diese Delikte fielen in die alleinige Zuständigkeit des Reichgerichts – gegen putschende Freikorpsmitglieder und Reichswehrangehörige kritisch aufs Korn zu nehmen. Vor dem Reichsgericht, so kritisiert er, sei in den bisherigen Hochverratsprozessen ein »geheimnisvolle[r] Schleier […] sorgfältig über alle Arten und Abarten der deutschen Reichswehr gebreitet« (S. 127) worden. Denn die »geschickte Prozessleitung« der Richter am Reichsgericht habe es bislang immer verstanden, »politische Geschehnisse zu Fragen juristischer Tatsachenbestandsfeststellung zu vereinfachen« (S. 127). Kirchheimer hat keine große Hoffnung, dass in dem Prozess die politischen Hintergründe der Freikorpsaktivitäten und ihre Verwicklungen mit der Reichswehr sowie die konkreten politischen Motive des Fememörders gerichtlich untersucht werden. Die Richter, so vermutete er noch vor dem Prozessende, »werden von außergewöhnlichen Zeiten und Umständen sprechen, die diese Tat bedingten und verstehen, wenn auch verurteilen lassen« (S. 128). Geschützt von der Justiz, würden die »leitenden Reichswehrkreise […] mit ihren natürlichen Verbündeten, den ostelbischen Junkern« (S. 128) solange sie nicht daran gehindert werden, nie damit aufhören, sei es heimlich oder offen, die Weimarer Demokratie zu untergraben. Kirchheimer zufolge würden große Teile der deutschen Bevölkerung diese Bedrohung verkennen und er schließt seinen Kommentar mit der Forderung an die Reichstagsfraktion der eigenen Partei, einen Untersuchungsausschuss einzurichten, der sich mit den Fememorden und der Verwicklung der Reichswehr beschäftigt. Kirchheimers Erwartung an die Stettiner Richter war richtig. Nach einer ersten Verurteilung wurde Heines schließlich nach einem neu aufgerollten Prozess vom Stettiner Gericht wegen seiner hehren vaterländischen Motive bei der Mordtat aus der Haft entlassen.53 53 Die Anklage hatte die Todesstrafe für das Morddelikt verlangt, das Gericht erkannte aber auf Totschlag und verurteilte Heines im Mai 1928 zu 15 Jahren Zuchthaus. Mit der Begründung, dass ein Verfahrensfehler vorgelegen habe,
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Der zweite in diese Ausgabe aufgenommene Artikel befasst sich mit dem Thema Strafvollzug. Er erschien unter der Überschrift Zuchthaus Untermaßfeld und moderne Preßberichterstattung ebenfalls in der ›Tribüne‹ am 2. Juli desselben Jahres und war ebenfalls mit »A.Z.« gezeichnet.54 Kirchheimer reagiert mit seinem Artikel auf einen Bericht aus der zum Hugenberg-Konzern gehörenden ›Mitteldeutschen Zeitung‹ über die Haftbedingungen im Zuchthaus Untermaßfeld, das von den beiden sozialdemokratischen Anstaltsdirektoren Alfred und Otto Krebs zu einem im gesamten Reich viel beachteten Reformgefängnis umgewandelt worden war und das besonderen Wert auf die Vermittlung von Selbstverwaltungsfähigkeiten an die Insassen legte (vgl. Krebs 1928). In dem Artikel in der ›Mitteldeutschen Zeitung‹ waren die Haftbedingungen im Zuchthaus als zu kommod und die Ernährung als luxuriös bemängelt worden. Vor allem aber stieß sich ihr Verfasser an den in Untermaßfeld durchgeführten Resozialisierungsmaßnahmen. Kirchheimer hält dagegen. Er macht darauf aufmerksam, dass die Ernährung aus gesundheitlicher Sicht immer noch zu wünschen übrig ließe und macht sich vor allem für die in der Haftanstalt durchgeführten Resozialisierungsprogramme stark. Es sei ein »Akt sozialer Gerechtigkeit größten Ausmaßes« (S. 130), wenn straffällig Gewordenen eine neue Chance im Leben gegeben werde. Unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen würden vor allem Menschen aus den unteren sozialen Schichten in die Strafgewalt des Staates gelangen. Demgegenüber würden im modernen Kapitalismus viele soziale Missetaten der höheren Schichten vom Strafrecht gar nicht erfasst. Auch aus diesem Grund sei der Vergeltungsanspruch des Staates »zweifelhaft« (S. 131). Kirchheimer sieht in der Reformhaftanstalt Untermaßfeld den erfolgreichen Versuch einer »Wiederherstellung der menschlichen Würde« (S. 131). Im Übrigen sieht er in diesem Zusammenhang von »politischen Delikten« (S. 130) explizit ab. Diese würden nur nominell zur Strafjustiz wurde der Prozess im März 1929 wiederholt. Diesmal erhielt Heines eine Verurteilung zu fünf Jahren Zuchthaus. Aufgrund der Bewertung des Stettiner Gerichts, dass Heine bei seiner Tat »von der vaterländischen Wichtigkeit seiner Aufgabe durchdrungen gewesen« sei, wurde er im Mai 1929 gegen die Zahlung einer Kaution von 5.000 Reichsmark aus der Haft entlassen, für die Hitler das Geld einsammelte. Nach den Wahlen 1930 wurde Heines Abgeordneter der NSDAP im Reichstag und gehörte zu den Rädelsführern von mehreren Prügelattacken auf Abgeordnete anderer Parteien im Parlament (vgl. Nagel 2004: 276 f.). 54 Auch für diesen Artikel findet sich im Nachlass von Kirchheimer ein undatiertes, von ihm namentlich gezeichnetes Typoskript mit Ergänzungen und Korrekturen in seiner Handschrift (Otto Kirchheimer Papers, Series 4: Writings 1937 1964, Box 2, Folder 86, Special Collections & Archives, University at Albany, State University of New York).
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gehören, hätten tatsächlich aber mit dem Begriff der Strafe schlechterdings nichts zu tun, denn bei ihrer Bestrafung handele es sich, genaugenommen, um nichts anderes als »ein[en] Akt der Unschädlichmachung des politischen Feindes« (S. 130). Ebenfalls in der Erfurter ›Tribüne‹ erschien am 15. Dezember 1928 der Artikel Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie, den Kirchheimer namentlich zeichnete. Unter gleicher Überschrift war einige Wochen zuvor eine Broschüre von Paul Levi, der 1922 den Weg zurück in die SPD gefunden hatte und zu den wichtigsten Persönlichkeiten des linken und marxistischen Flügels zählte, zum Thema Militärpolitik erschienen. Auf knappen 28 Seiten hatte er darin seine scharfe Kritik an dem Kurs der Fraktionsführung formuliert (vgl. Levi 1928). Levi hatte zu den aktivsten Abgeordneten im Reichstag gehört, die ihre Regierungsvertreter im Herbst 1928 in der heftig diskutierten Frage über den Bau des Panzerkreuzers A wieder auf Parteikurs bringen wollten, nachdem sie sich im Wahlkampf vehement für einen Stopp des Baus ausgesprochen hatten, sich nun aber aus Koalitionsräson dafür ausgesprochen hatten (vgl. Beradt 1969: 132-144). Der Pazifist Levi hatte in seiner Broschüre nicht nur erneut seine Argumente gegen den Bau des Panzerkreuzers versammelt, sondern auch grundlegende Überlegungen über die veränderten Anforderungen, dessen sich eine sozialistische Militärpolitik ausgesetzt sah, angestellt. Kirchheimers Zeitungskommentar erschien während des Höhepunktes der innerparteilichen Debatte über den Panzerkreuzerbau. Er leitete ihn mit der Bemerkung ein, dass sich ein ernsthafter politischer Wille von politischen Lippenbekenntnissen dadurch unterscheide, dass man bereit ist, auch der »kundgetanen Meinung entsprechend in den kritischen Momenten zu handeln« (S. 163). Kirchheimer folgt Levis grundlegender Diagnose, dass der Krieg der Jahre 1914-18 einen »Strukturwandel […] in der Wehrform« (S. 163) erkennen lassen habe. Die Größe der stehenden Heere habe sich für den Ausgang des Krieges als ebenso unwichtig erwiesen wie die Menge an zuvor angehäuften Kriegs- und Nahrungsmitteln. Nicht die alte Vorratswirtschaft, sondern das »potentiel de guerre« (S. 164), also die Fähigkeit, den gesamten gesellschaftlichen Produktionsprozess schnell und reibungslos für den Krieg mobilisieren zu können, habe den Krieg entschieden. Aus diesem Grund sei ein großes stehendes Heer unnötig für die Zwecke der Landesverteidigung geworden. Kirchheimer widerspricht Levi dann aber, wenn es um die politischen Folgerungen aus dieser Diagnose geht. Levi zufolge stehen die Sozialisten in den industriell am weitesten fortgeschrittenen
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Ländern vor einer politischen Weggabelung. Entweder sie schließen sich den Beschlüssen der Brüsseler Internationale an und verweigern in ihren nationalen Parlamenten jeder neuen Rüstungsausgabe rigoros ihre Zustimmung. Dies ist der Weg des Pazifismus, den Levi empfiehlt. Auf ihm könne die SPD den Aufbau einer machtvollen Internationale forcieren und auf diese Weise den Ausbruch eines neuen imperialistischen Krieges schon im Ansatz verhindern. Nur für den Fall, dass sich dieser Weg aufgrund mangelnder internationaler Kooperation als unbegehbar erwiese, plädierte Levi für den zweiten Weg, der in einer Art Übernahme des Heeres durch das Proletariat besteht. Anders als Levi hält Kirchheimer beide Wege für durchaus gleichzeitig begehbar. Vor allem aber lehnt er die These Levis ab, dass sozialistischen Politikern beide Wege »gewissermaßen zur Wahl stehen« (S. 165). Tatsächlich gäbe es eine solche freie Wahlmöglichkeit gar nicht. Wer, so fragt er, möchte die Frage entscheiden, ob das Proletariat im Verein mit der Internationale bereits stark genug sei, um einen imperialistischen Krieg zu verhindern? Wer, so fragt er weiter, möchte im Falle eines neuen Krieges entscheiden, ob es sich dabei um einen imperialistischen Krieg handele oder ob er proletarischen Interessen diene? »Der August 1914«, so Kirchheimer, »sollte uns über die Unzuverlässigkeit solcher Unterscheidungsmerkmale (Angriffs- und Verteidigungskrieg) hinreichend belehrt haben« (S. 165). Angesichts solcher Entscheidungsunschärfen plädiert Kirchheimer für einen »doppelte[n] Weg« (S. 166). Die SPD solle sowohl ihre gesamte Kraft auf internationaler Ebene für den Frieden einsetzen als auch gleichzeitig die Reichswehr den Händen des reaktionären Bürgertums entreißen. Am 2. Februar 1929 erschien im ›Mühlhäuser Volksblatt‹, einer ebenfalls in der Region von Erfurt erscheinenden sozialdemokratischen Zeitung, ein weiterer namentlich gezeichneter Artikel Kirchheimers. Er trägt den Titel Wahlrechtsreform und setzt sich mit der seit dem Sommer 1928 in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften begonnenen Debatte über eine grundlegende Reform des Wahlrechts der Weimarer Republik auseinander. Kirchheimer entzündet seine Kommentierung dieser Debatte an dem damals geäußerten Wunsch des Vorsitzenden der DVP, Reichsaußenminister Gustav Stresemann, das Verhältniswahlrecht zugunsten eines reinen Persönlichkeitswahlrechts mit kleinen Wahlkreisen zu ersetzen. Kirchheimer bezeichnet Stresemann als »hervorragende[n] Führer der deutschen Bourgeoisie« (S. 167) und hält dessen politischem Wunsch die Interessen der organisierten Arbeiterbewegung entgegen. Jedes Wahlrecht sei das unmittelbare Produkt der konkreten Klassenverhältnisse. Solange es eine Klassengesellschaft gäbe,
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gäbe es auch kein perfektes Wahlrecht. Die Güte eines Wahlrechts lasse sich nur nach dem damit zu erreichenden klassenpolitischen Ziel bewerten. Das habe in der Vergangenheit für das Zensuswahlrecht und für das Dreiklassenwahlrecht als Herrschaftsinstrumente des Bürgertums gegolten und gelte in industriell zurückgebliebenen Ländern wie Italien auch für den Faschismus. Mit dem »Einmarsch« (S. 168) des Proletariats in die »Kampfbahn der Demokratie« (S. 168) habe sich die Situation insofern grundlegend verändert, als dass der Ausgang von Wahlen nun nicht mehr nur das Mittel zur Bestimmung des jeweiligen Regierungs- und Oppositionsspielers innerhalb einer Klasse bedeute, sondern sich in einen »Kräftemaßstab der Klassenverhältnisse« (S. 169) verwandelt habe. Diese Klassenfronten möglichst genau wiederzugeben sei die Ratio des gegenwärtigen listengebundenen Verhältniswahlrechts. Dadurch habe sich auch die Funktion von Parlamenten grundlegend geändert. Waren sie Mitte des 19. Jahrhunderts Orte der politischen Diskussion ohne tatsächliche Entscheidungskompetenz, so sind sie heute zu Stätten zum Austragen des Klassenkampfes geworden. Kirchheimer lehnt jede Änderung im Sinne Stresemanns ab. Das gegenwärtige listengebundene Verhältniswahlrecht habe den Vorteil, dass es die »nackten Tatsachen des Klassenkampfes« (S. 169) offen darlege, anstatt sie zu verschleiern. Momentan herrsche im Deutschen Reich ein »labile[s] Gleichgewichtsverhältnis der Klassenkräfte« (S. 168), was ein weiterer Grund dafür sei, an dem bestehenden Wahlrecht nicht rütteln zu lassen. Ebenfalls im ›Mühlhäuser Volksblatt‹ erschien am 25. Juni 1929 ein Kommentar Otto Kirchheimers zum Magdeburger Parteitag der SPD, dessen kritischer Tenor bereits die Überschrift Die Demokratie der Bequemlichkeit verrät. Der Parteitag, der vom 25. bis zum 31. Mai unter großer öffentlicher Beachtung in der Magdeburger Stadthalle abgehalten wurde, war als eine Art sozialdemokratische Heerschau nach der Wiedererlangung der Regierungsmacht im Reich inszeniert. Er war einerseits geprägt vom Stolz der SPD, den Reichskanzler und wichtige Ministerien zu stellen sowie andererseits von der durch Reichsfinanzminister Rudolf Hilferding genährten Zuversicht, vom derzeitigen ›Organisierten Kapitalismus‹ allmählich in den Sozialismus hinüberzuwachsen. Andererseits war der Parteitag überschattet von innerparteilichen Auseinandersetzungen über die Militär-, Außen-, Wirtschaftsund Finanzpolitik der Partei sowie über die nächsten Schritte, die in Richtung Sozialismus führen sollten und in Verbindung damit auch die Bündnispolitik der SPD. Von den Vertretern des linken Parteiflügels und den Jungsozialisten, die zusammen ein Drittel der Delegierten
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stellten, wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, wie krisenfest der Kapitalismus tatsächlich geworden sei. Kirchheimer setzt sich in seiner Parteitagsnachlese von den Rednern der »offiziellen Richtung« (S. 171) der SPD und ihrem »sozialdemokratischen Ministerialismus« (S. 173) ab. Er diagnostiziert ein widerspruchsvolles Changieren der Parteiführung zwischen ihrem Willen zur Demokratie und einer eher instinktiven Skepsis. Im Unterschied zu Hilferding, der bereits auf dem Kieler Parteitag von 1927 verkündet hatte, dass sich der ›Organisierte Kapitalismus‹ in Richtung Sozialismus zu transformieren begonnen habe, schloss sich Kirchheimer der Einschätzung von Hilferdings linken Kritikern aus Kreisen der Jungsozialisten an,55 wonach »der organisierte Kapitalismus heute kraft seiner ökonomischen Machtposition in normalen Situationen die Arbeiterklasse vorläufig in die Defensive gedrängt hat« (S. 171). Auch deutet Kirchheimer in dem Artikel an, dass er von der ökonomischen Stabilität des Kapitalismus nicht wirklich überzeugt ist – der sogenannte ›Schwarze Freitag‹ an der New Yorker Börse nur vier Monate später, am 24. Oktober 1929, und das Ausmaß der in der Folge daraus ausbrechenden Weltwirtschaftskrise sollten seine Skepsis und die anderer Weimarer Linkssozialisten noch bei Weitem übertreffen. Wenn die Partei in der gegenwärtigen Situation wieder in die politische Offensive gelangen wolle, müsse sie sich Kirchheimer zufolge von der »parteiamtlichen Dogmatisierung der Demokratie […] lösen« (S. 172) und sich von ihrer »Opfertheorie der Demokratie« (S. 172) verabschieden. Die Linie der Parteiführung, den Erhalt der Koalition mit ihren vielen Misserfolgen als das zu erbringende Opfer für die Demokratie zu rechtfertigen, werde auf längere Sicht von der Arbeiterschaft nicht goutiert. Der durchschnittlich abhängig Beschäftigte verteidige die Demokratie nicht aus irgendwelchen ideellen Motiven, sondern nur, wenn er sehe, dass sie ihm sozial auch nütze: »Er wird aufhören, Anhänger demokratischer Staatsformen zu sein, wenn er sieht, dass in der demokratischen Staatsform seine Wünsche nicht den notwendigen Widerhall finden, und er wird sich auch mit der Diktatur abfinden« (S. 172). Wenn man nicht in diese Falle geraten wolle, dann müsse sich die Partei dem Kurs des linken Flügels anschließen und mit ihrem sozialistischen Forderungskatalog gegebenenfalls auch den Bruch der Koalition mit den bürgerlichen Parteien forcieren. Kirchheimer nennt in diesem Zusammenhang den Namen von Paul Levi, doch er hätte 55 Zur Kritik an Hilferdings Thesen aus jungsozialistischer Sicht vgl. Lüpke (1985: 188-201).
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ebenso gut den seines Schwiegervaters Kurt Rosenfeld oder die von Heinrich Riegner und Wilhelm Liebknecht jun. nennen können, in deren Rechtsanwaltskanzleien er als Referendar vorgesehen war. Den Vorwurf des Jakobinertums seitens des Parteiestablishments an die Adresse von Levi kontert Kirchheimer mit dem Hinweis, dass es nicht die Gironde, sondern die Jakobiner gewesen seien, die Frankreich im Jahre 1793 im ersten Koalitionskrieg mit ihren Maßnahmen gerettet hätten. Der sechste in diese Ausgabe aufgenommene journalistische Beitrag Kirchheimers stammt aus der Zeit nach seiner Rückkehr nach Berlin und der Aufnahme seiner Tätigkeit am Arbeitsgericht in Spandau. Der namentlich gezeichnete Artikel mit der Überschrift 50 Jahre Deutsches Reichsgericht erschien am 1. Oktober 1929 sowohl in der Erfurter ›Tribüne‹ als auch im ›Mühlhäuser Volksblatt‹. Das runde Jubiläum des Reichstagsbeschlusses von 1879, in Leipzig ein Reichsgericht zu errichten, war bereits zuvor in der juristischen Fachpresse vielfältig gefeiert und gewürdigt worden. Kirchheimer nutzte seinen Jubiläumsbeitrag zu einer ebenso knappen wie vehementen Kritik an der Tätigkeit der Richter des Reichsgerichts. Kirchheimer zufolge liefere die Rechtsprechung des Reichsgerichts »ein getreues Spiegelbild der Anschauungen und Vorstellungen der in Deutschland herrschenden Klassen« (S. 187). Das Reichsgericht hätte nie versucht, aus dieser Vorstellungswelt auszubrechen und hätte es auch niemals für seine Aufgabe erachtet, zu einer Weiterentwicklung des Rechts in Richtung eines Sozialrechts beizutragen. Als besonders verlogen erachtet Kirchheimer die Positionierung des Leipziger Gerichtshofs im Hinblick auf die Frage der richterlichen Nachprüfbarkeit von Gesetzen. Während der Kaiserzeit habe sich das Gericht strikt geweigert, unsoziale Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu wollen. Auch habe es tätig dabei geholfen, mit seiner Strafrechtsprechung das Koalitionsrecht der Arbeiterbewegung zu unterdrücken, und habe die verfassungswidrigen Sozialistengesetze passieren lassen. Unter der Ordnung der Weimarer Verfassung hingegen torpediere das Reichsgericht soziale Gesetzgebungsvorhaben, indem es nun auf einmal das Recht auf die richterliche Nachprüfbarkeit von Gesetzen für sich in Anspruch nehme und sich damit zu einem »höchst zweifelhaften Hüter der Verfassung« (S. 187) aufwerte.56 56 Auf einer Veranstaltung der Vereinigung Sozialdemokratischer Juristen in Berlin erklärte Kirchheimer den Anspruch auf ein richterliches Prüfungsrecht mit dem »Sicherheitsbedürfnis des Bürgertums« (Vorwärts vom 18. Oktober 1929).
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Aus dieser Perspektive unterzieht Kirchheimer die Rechtsprechung des Reichsgerichts einer scharfen Kritik. Zuständig für Hochverratsdelikte, hat es eine große Zahl sozialistischer Aktivisten in den Arbeiter- und Soldatenräten zu ausgedehnter zivil- und strafrechtlicher Haftung verurteilt. Später seien Anhänger der KPD zu unverhältnismäßig hohen Strafen verurteilt worden, während Angehörige von rechten Terrorgruppen aus der ›Schwarzen Reichswehr‹ wie die ›Organisation Consul‹57 von Richtern des Reichsgerichts geradezu hofiert worden seien. »Der Staatsfeind von rechts«, so Kirchheimer, »wird vom Reichsgericht, da er ja kein Feind der bürgerlichen Ordnung ist, […] als ein anständiger Mensch angesehen« (S. 190). Kirchheimers zusammenfassendes Urteil über diese Art der Rechtsprechung lässt an kritischer Schärfe wenig vermissen: »Die am Reichsgericht in politischen Prozessen geübte Technik ist derjenigen Sowjetrusslands in dieser Materie ebenbürtig. Die Bestrafung auf Grund aktiver Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei, die mittelalterliche Bestrafung von Druckern für Zeitungsartikel, die Bestrafung des Vortragens revolutionärer Gedichte stehen auf der selben Linie wie die dort mit so viel Erfolg vorgenommene Hilfsarbeit zur Tarnung der Schwarzen Reichswehr« (S. 190). Gleichzeitig sei es dem Reichsgericht »mit einem vom bürgerlichen Standpunkt aus bewundernswerten Aufwand von Mut und Entschlossenheit« (S. 189) gelungen, die neuen Landesgesetze, die im Sinne des Artikels 153 der Weimarer Verfassung das Privateigentum beschränken wollten, kurzerhand für verfassungswidrig zu erklären. Das Gericht habe das Privateigentum in seiner Rechtsprechung vor allen Eingriffen der Gesetzgebung in einem Umfang geschützt, wie es dies in der Ära des Kaiserreiches nie getan hatte. Als Resümee der vergangenen zehn Jahre Rechtsprechung durch das Gericht formuliert Kirchheimer lakonisch: »Der ›Hüter der Verfassung‹ hütet nach eigenen Maßstäben« (S. 190). Um Abhilfe zu schaffen, fordert Kirchheimer die sozialistischen Politiker in den Ländern des Reiches auf, Personalreformen am Reichsgericht vorzunehmen und bei der Neubestellung von Richtern das Vorschlagsrecht des Reichsrates, in dem das sozialdemokratisch
57 Als ›Schwarze Reichswehr‹ wurden die illegalen paramilitärischen Verbände bezeichnet, die unter Bruch des Versailler Friedensvertrages von der deutschen Reichswehr gefördert wurden. Zu ihnen gehörte auch der antisemitische und rechtsextremistische Geheimbund ›Organisation Consul‹, durch dessen Anschläge unter anderem der frühere Reichsfinanzminister Matthias Erzberger (1921) und der Reichsaußenminister Walther Rathenau (1922) ermordet wurden. Vgl. Sabrow (1998).
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regierte Preußen maßgeblichen Einfluss hat, mit klarem politischen Blick wahrzunehmen. Dieser Artikel hätte das Ende von Otto Kirchheimers beruflicher Karriere als Jurist bedeuten können und es ist wohl nur der sozialdemokratischen Dominanz im Preußischen Justizministerium zu verdanken, dass er sein Referendariat fortsetzen konnte. Denn zwei Wochen nach Veröffentlichung dieses Beitrages verlangte der Präsident des Preußischen Oberlandesgerichts in Naumburg an der Saale in einem empörten Schreiben an den Preußischen Justizminister, disziplinarische Maßnahmen gegen Kirchheimer zu ergreifen.58 Die »höchst befremdliche, oberflächliche und einseitige Kritik des höchsten Gerichtshofs« Kirchheimers stehe »im Widerstreit mit seiner Beamtenpflicht« und sei geeignet, »die Autorität innerhalb seines Berufskreises zu untergraben«. Angesichts der Tragweite dieses Verstoßes gegen die gebotene politische Zurückhaltung eines Referendars sei »ein Einschreiten gegen den Verfasser« unabdingbar. Der am 22. Oktober vom Justizministerium um eine gutachterliche Stellungnahme gebetene Präsident des Preußischen Kammergerichts legte bereits zwei Tage später seine vierseitige Analyse des Zeitungsartikels vor.59 Das Gutachten ist in der erkennbaren Absicht geschrieben, eine schützende Hand über Otto Kirchheimer zu halten. So findet sein Verfasser ebenfalls eine Reihe an zu beanstandenden Formulierungen in dem Artikel Kirchheimers und stößt sich insbesondere an dem Vergleich der Rechtsprechung des Reichsgerichts in politischen Prozessen mit der sowjetischen Gerichtsbarkeit. Diese und andere Wendungen würden einen »bedauerlichen Mangel an Zurückhaltung und Sachlichkeit« beweisen. Aus pragmatischen Gründen rät das Gutachten aber dennoch von weitergehenden disziplinarischen Maßnahmen gegen Otto Kirchheimer ab. Zum einen sei er erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit Beamter und habe sich somit noch nicht genügend in den Geist der Beamtenschaft einleben können. Zum anderen sei der Artikel in einem entlegenen Presseorgan erschienen und die Beamteneigenschaft des Verfassers darin nicht erkennbar. Vor allem aber spreche gegen disziplinarische Maßnahmen, dass dann zu befürchten sei, dass der belangte Referendar »sachlich auf seine 58 Die folgenden Zitate stammen aus dem Schreiben des Präsidenten des Oberlandesgerichts an den Preußischen Justizminister vom 14. Oktober 1929. In. Bundesarchiv Berlin, R 3001/6322, Akte des Justizministeriums betreffend Dr. Otto Kirchheimer, Bl. 3. 59 Die folgenden Zitate stammen aus dem Gutachten des Preußischen Kammergerichtspräsidenten für den Preußischen Justizminister vom 24. Oktober 1929. In: Bundesarchiv Berlin, R 3001/6322 Akte des Justizministeriums betreffend Dr. Otto Kirchheimer, Bl. 5.
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Ausführungen eingehen, Wahrheitsbeweise zu führen versuchen würde, sich dadurch noch mehr in jene Anschauungen hineinsteigern würde, und sich in der Rolle eines politischen Märtyrertums hineinspielen könnte.« Damit war der Fall für Kirchheimer allerdings noch nicht gänzlich glimpflich überstanden. Für den 2. Dezember 1929 wurde er zu seinem vorgesetzten Richter am Arbeitsgericht Spandau zitiert und musste sich zu dem Artikel erklären. Kirchheimer entschied sich in dieser Situation, auf Distanz zu seinen polemischen Kommentarformulierungen zu gehen. Laut Akten erhielt er von seinem Dienstvorgesetzen die Empfehlung, seine »allgemein staatsbürgerl.[lichen] Befugnisse« zukünftig mit »größere[r] Zurückhaltung« auszuüben.60 Von weiteren disziplinarischen Maßnahmen wurde abgesehen und Kirchheimer konnte sein Referendariat nach dieser Affäre in den folgenden 18 Monaten fortsetzen. Den gut gemeinten Rat, als Beamter auf Zeit politische Zurückhaltung zu üben, schlug Kirchheimer allerdings in den Wind. Am 6. März 1930 erschien ein namentlich gezeichneter Kommentar zur anstehenden Reform des Strafgesetzbuches in der ›Tribüne‹. Er führte mit diesem Kommentar eine Diskussion weiter, die zuvor auch von seiner Frau publizistisch begleitet worden war (vgl. Kirchheimer-Rosenfeld 1929). Eine grundlegende Novellierung des noch aus der Zeit des Norddeutschen Bundes stammenden Strafgesetzbuches stand seit Gründung der Republik weit oben auf der Agenda liberaler und linker Reformpolitiker, verzögerte sich aber immer wieder aufgrund des Widerstands der rechten Parteien. Auch wenn die SPD in der Großen Koalition das Justizministerium der Leitung von Politikern von bürgerlichen Koalitionspartnern überlassen musste,61 nahm die Partei über ihre Länderjustizminister vielfach Einfluss auf die überfällige Novellierung des Strafgesetzbuches. Nach den jahrelangen Vorarbeiten und Vorbereitungen kam es Ende Februar 1930 zu einer ersten Lesung im Strafrechtsaus60 »Vermerk. Ich habe mit dem Rfar. [Referendar] über die Sache Rücksprache genommen. Er erklärte sofort, daß er bei dem – eilig abgesonderten – Artikel in der Eile wohl in der Form zu weit gegangen sei. Ich habe ihm vorgehalten, daß der Referendar auch bei der Ausübung allgemein staatsbürgerl. Befugnisse in der Form seiner Äußerungen Rücksicht darauf zu nehmen habe, daß er Justizbeamter sei u. ihm in dieser Beziehung größere Zurückhaltung empfohlen«. Schreiben des Preußischen Justizministers an den Präsidenten des Kammergerichts vom 2. Dezember 1929. Bundesarchiv Berlin, R 3001/6322, Akte des Justizministeriums betreffend Dr. Otto Kirchheimer, Bl. 4. 61 Vom 26. Juni 1928 bis zum 12. April 1929 wurde das Reichsjustizministerium von einem Politiker der DDP (Erich Koch-Weser) geleitet, danach bis zum Ende der Koalition im März 1930 von einem Zentrumspolitiker (Theodor von Guérard).
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schuss des Reichtages. Kirchheimers Kommentar des vorgelegten Entwurfes fällt moderat aus. Grundsätzlich begrüßt er die Reform, gibt aber gleichzeitig zu bedenken, dass der Wert eines Strafgesetzbuches von diversen Umständen abhängig sei, die nicht in der Hand des Gesetzgebers liegen: »Richterpersonal, Strafvollzug, wirtschaftliche Verhältnisse und öffentliche Meinung bestimmen das Bild der Strafjustiz wesentlicher als das geschriebene Gesetz« (S. 199). Und in dieser Hinsicht habe es in den vergangenen sechs Jahrzehnten ungeachtet der Gültigkeit des alten Strafgesetzbuches durchaus positive Veränderungen gegeben. Während in der Kaiserzeit jedes Delikt als Ausfluss einer direkt gegen die Macht des Staates gerichteten verbrecherischen Gesinnung betrachtet wurde, habe die Rechtsprechung allmählich gelernt, dass »auch das Verbrechen nichts Außergewöhnliches ist, dass ein guter Teil seiner Ursachen, Voraussetzungen und Bekämpfungsmöglichkeiten im gesellschaftlichen Prozess selbst beschlossen sind« (S. 199). Kirchheimer nennt diesen Wandel in der Betrachtungsweise des Verbrechens den Übergang von der absoluten zur relativen Wertung. Dem Entwurf für das neue Strafgesetzbuch hält er zugute, dass er diesen Wandel vielfach konzediert. Als eine solche »relativistische Auflockerung« (S. 200) rechnet er beispielsweise die im allgemeinen Teil des Gesetzbuches neu geschaffene Möglichkeit, auch nichtjugendliche Rechtsbrecher unter besonderen Umständen straffrei ausgehen zu lassen. Hingegen sei die von ihm als sinnlos erachtete Zweiteilung der Freiheitsstrafe in Gefängnis- und Zuchthausstrafe weiterhin im Gesetzentwurf zu finden. Negativ vermerkt Kirchheimer aus dem Strafregister im besonderen Teil des Gesetzbuches, dass Abtreibung weiterhin unter Strafe stehe, dass das Delikt der Gotteslästerung immer noch nicht verschwunden sei und dass es den Sozialdemokraten nicht gelungen sei, die Koalitionspartner zur Abschaffung der Todesstrafe zu bewegen. Für Kirchheimer weist der unter der Ägide der bürgerlichen Parteien erarbeitete Entwurf insgesamt eine klar erkennbare »Grenze jenes strafrechtlichen Relativismus« (S. 200) auf, die im »Sicherungsstreben des kapitalistischen Gesellschaftssystems« (S. 200) beschlossen liege. In einem von kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung beherrschten Land müsse einem jeden Rechtsbrecher zwangsläufig ein notwendiges Maß von gesellschaftlicher Disqualifikation zuteilwerden. Die Unterscheidung zwischen denen, die im bestehenden System erfolgreich vorankommen, und denen, die in diesem System unter die Räder geraten, müsse durch das Mittel des Strafrechts gebührend gekennzeichnet werden: »Das
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Strafrecht (Strafregister) ist ein Mittel von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die moralische Disqualifikation« (S. 200). Es gehörte zur Tragik der Strafrechtsreformer und Strafrechtspolitiker der Weimarer Republik, dass ihre aus heutiger Sicht modernen kriminalpolitischen Forderungen zu dem Zeitpunkt nicht verwirklicht werden konnten, als die politischen Mehrheiten dafür noch bestanden hatten. Die Abfolge der Reformentwürfe seit dem ersten Entwurf von Gustav Radbruch aus dem Jahre 1922 ließ über die Entwürfe von 1925, 1927 und 1930 mit der Zuchthausstrafe und der Wiederaufnahme der Todesstrafe zentrale Reformpunkte aufgeben, bis jegliche Anstöße zur Reform des Strafrechts bei den konservativen und rechten Justizpolitikern in den letzten Jahren der Republik vollständig blockiert wurden.62 Alle Zeitungsartikel Kirchheimers waren im politischen Handgemenge entstanden. Sie decken ein breites Spektrum an Themen ab und geben einen näheren Einblick in die politischen Konstellationen in dieser Phase seines Lebens. Zugleich geben sie einen Vorgeschmack auf die großen Thematiken seines späteren Werkes – Verfassungstheorie, Parlamentarismus, Faschismus, Strafjustiz und Politische Justiz.
4. Arbeiterbewegung und Parlamentarismus Die Zeitungsartikel waren die ersten Fingerübungen Kirchheimers als politischer Autor nach seiner Promotion. Bald wagte der 24-Jährige sich während seiner Referendarzeit auch an längere Artikel und Abhandlungen heran. Ihr Kontext ist die sozialdemokratische Theoriebildung der Nachkriegszeit.63 Thematisch kreisen sie um das Verhältnis der Arbeiterbewegung zum Parlamentarismus, zu den politischen Parteien und zur Verfassung der Weimarer Republik. Geprägt sind sie von seinen Wahrnehmungen der Politik der Großen Koalition aus SPD, Zentrum, BVP, DDP und DVP, die unter Führung des sozialdemokratischen Reichskanzlers Hermann Müller von Juni 1928 bis Ende März 1930 regierte. Die bis zum Mai 1928 amtierende Mitte-Rechts-Regierung hatte noch kurz vor ihrem Ende beschlossen, mit dem Bau des Panzerkreuzers A ein neues deutsches Rüstungsprogramm der Marine auf den Weg zu 62 Vgl. Radbruch (1932). 63 Zur Theoriediskussion der SPD während der Weimarer Republik vgl. im Überblick Fischer (1987).
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bringen. Die SPD hatte diese Pläne im Wahlkampf mit dem Slogan »Für Kinderspeisung – gegen den Panzerkreuzer!« heftig attackiert und dabei immer wieder die militaristischen und unsozialen politischen Ziele des Bürgerblocks angeprangert. Nun, nachdem die SPD am 20. Mai 1928 mit 29,8 Prozent als Hauptgewinner der Reichstagswahl galt, sah sich die Parteiführung vor einer schwierigen Situation. Denn ihre Koalitionspartner aus dem bürgerlichen Parteilager bestanden auf der Weiterführung des einmal beschlossenen Kriegsflottenplans. Angesichts dieser Lage entschlossen sich der neue sozialdemokratische Kanzler Hermann Müller und seine drei SPD-Minister, ein Signal für eine kompromissbereite Zusammenarbeit in der Großen Koalition zu geben und zusammen mit ihren bürgerlichen Kabinettskollegen für den Bau des Panzerkreuzers zu stimmen. Die Empörung in der SPD und in der linken Öffentlichkeit zu dieser Zustimmung war groß und elektrisierte die Jungsozialisten in der SPD und den linken Flügel der Partei im Sommer 1928 geradezu (vgl. Lüpke 1985: 201-207). Gleichzeitig begann die KPD im Zuge ihrer neuerlichen Linkswendung ab Mitte August 1928, die Gegner des Panzerkreuzerbaus für ein Volksbegehren zu mobilisieren. Kirchheimers Beitrag zu diesem Thema erschien unter der Überschrift Panzerkreuzer und Staatsrecht im ersten Septemberheft im Jahr 1928 in der Zeitschrift ›Klassenkampf – Sozialistische Politik und Wirtschaft‹. Die Zeitschrift hatte seit 1928 einem zweiwöchentlichen Erscheinungsrhythmus. Sie war aus einer Fusion der seit 1923 von Paul Levi herausgegebenen Korrespondenz ›Sozialistische Politik und Wirtschaft‹ und der 1927 von Max Seydewitz ins Leben gerufenen Zeitschrift ›Klassenkampf‹ entstanden. Zu ihren Autoren gehörte neben Paul Levi, Max Seydewitz, Max Adler und Kurt Rosenfeld die gesamte Riege der linkssozialistischen Opposition. Mit dem ›Klassenkampf‹ verfügte die sozialdemokratische Linke trotz der geringen Auflage von knapp über 1.000 Exemplaren über ein wirkungsvolles publizistisches Mittel und sofort etablierte sich die neue Zeitschrift auch parteiübergreifend als anerkanntes Theorieorgan für die nichtkommunistische Linke. Auch von vielen Jungsozialisten in der SPD wurde der ›Klassenkampf‹ als ›ihre‹ Zeitschrift angesehen (vgl. Rengstorf 1976). Kirchheimer machte in seinem Artikel von vornherein deutlich, dass auch er den Stopp der Panzerkreuzerbaupläne für richtig hielt. Ihm ging es in seinem Beitrag allerdings nicht um ein neuerliches Pro und Contra zu dieser militärpolitischen Frage, sondern um verfassungstheoretische Aspekte des Vorgehens der SPD-Minister in der Großen
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Koalition. Er unterschied dabei zwischen einer »liberal-konstitutionelle[n]« (S. 155) und einer »demokratische[n]« (S. 156) Theorie des parlamentarischen Budgetrechts. Die liberal-konstitutionelle Theorie des monarchischen Deutschlands verlangte eine Zustimmung des Parlaments für alle Mehrausgaben, sie unterwarf die Regierung aber keinerlei Beschränkung auf der Ersparnisseite. Kirchheimer erläuterte, wie sich diese Theorie in Deutschland in der Konfliktzeit in den 1860er Jahren durchsetzen konnte und warum ihre Befürworter die sich aus der Möglichkeit, dass vom Parlament ausdrücklich ins Budget eingesetzte Posten nicht der beabsichtigten Verwendung zugeführt werden, ergebenden Probleme nicht im Blick hatten. Die »eminent[e] politische Bedeutung« (S. 155) dieser Doktrin sah Kirchheimer darin, dass sie auf der »anscheinend immer noch nicht vollständig veralteten Ansicht [beruht], dass eine Regierung zwar auf das Vertrauen oder doch mindestens auf die ›Billigung‹ des Parlaments angewiesen ist, im Übrigen aber aus ebenso unabhängigen wie verantwortungsbewussten Männern bestehen müsse« (S. 155). Kirchheimer warf den Regierungsmitgliedern seiner Partei vor, dass sie bei ihrem Beschluss für den Panzerkreuzerbau dieser veralteten Doktrin angehangen hätten. Demgegenüber plädierte Kirchheimer für die »demokratische« (S. 156) Theorie des parlamentarischen Budgetrechts. Ihr zufolge ist das Parlament nichts weiter als ein Ausschuss des Volkes und die Regierung nichts weiter als ein Ausschuss des Parlaments. In Anlehnung an Formulierungen bei Rousseau, Adler wie auch Schmitt schreibt Kirchheimer: »Die in der Demokratie mit allen Mitteln erstrebte Identität von Regierung und Regierten, ihre Deckungsgleichheit, wird am besten durch intensive Erforschung des Volkswillens erreicht« (S. 156). Diesbezüglich sei das Wählervotum vom 20. Mai eindeutig und die sozialdemokratische Parteiführung habe die demokratische Pflicht, sich daran zu orientieren. Auch in den Folgemonaten setzte die Kritik am Panzerkreuzerbau die SPD-Führung heftig unter Druck. Schließlich sah sich die sozialdemokratische Fraktion im Reichstag veranlasst, gegen ihre eigenen Minister einen Antrag einzubringen, dem zufolge auf den Bau des Panzerkreuzers verzichtet und die dafür vorgesehenen Gelder für die Speisung von Kindern verwendet werden sollten. Die SPD-Fraktion zwang damit am 16. November 1928 ihren Kanzler und ihre Minister, gegen den zuvor einstimmig getroffenen Kabinettsbeschluss zu votieren, ohne damit aber die Mehrheit der Abgeordnetenstimmen im Reichstag zu erlangen. Die politische Glaubwürdigkeit der sozialdemokratischen
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Regierungsmitglieder war mit diesen Manövern schon in der Anfangsphase der Großen Koalition beschädigt. Im Theorieorgan des linken Flügels der Jungsozialisten in der SPD, den ›Jungsozialistischen Blättern‹, erschien einen Monat später im Oktoberheft Kirchheimers Aufsatz Bedeutungswandel des Parlamentarismus. Die Jungsozialisten waren in verschiedene Flügelgruppen, die sich mehrheitlich als links von der Parteiführung verorteten, aufgespalten. Kirchheimer lieferte in diesem Aufsatz auf wenigen Seiten eine historische Stufenfolge der Entwicklung zur modernen parlamentarischen Demokratie. Gleich eingangs verwehrte er sich gegen die verbreitete Lobrede, erst die Verfassung der Weimarer Republik hätte die demokratische Staatsform geschaffen und das parlamentarische System in Deutschland eingeführt. In einer solchen Rede werden die Termini ›parlamentarisch‹ und ›demokratisch‹ mit- und nebeneinander gebraucht, sodass unwillkürlich der Eindruck erweckt werde, als würden die beiden untrennbar zusammengehören und hätten die beiden Ausdrücke im Verlauf der Geschichte immer dasselbe bedeutet. Das aber sei ein »weittragender theoretischer Irrtum« (S. 157), über den sich nicht nur bereits Karl Marx und Friedrich Engels in verschiedenen ihrer Schriften mokiert hätten, sondern der auch in der politischen Praxis immer wieder zu verhängnisvollen Fehlern führe. Kirchheimer beschreibt den Parlamentarismus als historisches Phänomen. In seiner klassischen Form war er eine politische Institution, mit der das Bürgertum seine Herrschaft gegenüber anderen Gesellschaftsklassen ausübte und intern regulierte. Der klassische Parlamentarismus ist durch drei Komponenten gekennzeichnet: erstens der politische Machtanspruch der bürgerlichen Schichten von Besitz und Bildung, zweitens der Glaube daran, dass sich das für die Nation Sinnvolle durch öffentliche Parlamentsdiskussionen finden lasse sowie drittens das Festhalten am Prinzip des Rechtsstaates; wobei Kirchheimer zusätzlich hervorhebt, dass sich mit den gesellschaftlichen Veränderungen seit dem 19. Jahrhundert auch der Kerngehalt des Rechtsstaatsprinzips verändert habe. Dem klassischen Parlamentarismus stellt Kirchheimer ein Verständnis von Demokratie, wie er es Marx und Engels zuschreibt, gegenüber: »Unter ›Demokratie‹ verstanden sie die Herrschaft des gesamten, des arbeitenden Volkes, im Gegensatz zur Herrschaft eines durch ein Zensuswahlrecht zustande gekommenen Parlaments« (S. 159). Kirchheimer skizzierte dann, wie sich im Verlauf der gesellschaftlichen Veränderungen während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und
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im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts die drei Komponenten des klassischen Parlamentarismus sukzessive auflösten. Der politische Zugang zum Parlament ist mit den Wahlrechtsreformen allen gesellschaftlichen Schichten ermöglicht worden; die schöpferische öffentliche Diskussion im Parlament ist abgelöst worden von der Repräsentation von Klasseninteressen und das Parlament hat zudem gegenüber der Exekutive an politischer Macht verloren; und das Rechtsstaatsprinzip diene nicht mehr allein den Interessen des Bürgertums, sondern stehe heute »zwischen Proletariat und Bürgertum« (S. 161). Dem Rechtsstaat in der modernen parlamentarischen Demokratie weist er die aktive Funktion zu, zwischen Proletariat und Bürgertum einen »Gleichgewichtszustand zu schaffen« (S. 162) und auf diese Weise die sozialen Kämpfe zwischen den Klassen auf rechtlichem Wege auszutragen, mithin »soziale Machtfragen in Probleme der Rechtsfindung zu neutralisieren« (S. 162). Kirchheimers Ausführungen in diesem Artikel lassen sich als eine Art materialistisch begründete historische Semantik von politischen Schlüsselbegriffen charakterisieren. Seine Überlegungen sind erneut deutlich von Max Adlers Schriften geprägt, suchen nach Anleihen in Werken von Marx und Engels, weisen in ihrer Wortwahl zuweilen aber auch Parallelen zu Carl Schmitts Theorie des Parlamentarismus auf. Doch anders als Schmitt, der in dem von ihm beschriebenen Bedeutungswandel des Parlamentarismus einen Abfall von einem einstmals heroischen Urbild sah (vgl. Schmitt 1926), begrüßte Kirchheimer den von ihm beschriebenen Wandel als einen gesellschaftspolitischen Emanzipationsschub und räumt – ebenfalls im Gegensatz zu Schmitt und dessen 1927 erstmals formulierten neuen Politikbegriff (vgl. Schmitt 1927) – der rechtlichen Neutralisierung sozialer Konflikte grundsätzlich durchaus Erfolgschancen ein. Im August 1929 erschien ein dritter Beitrag von Kirchheimer in ›Klassenkampf‹. Er ist Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse betitelt und nimmt den öffentlichen »Tanz um die Verfassung« (S. 185) anlässlich des 10-jährigen Jubiläums der Verabschiedung der Weimarer Verfassung am 11. August 1919 zum Anlass für einen verfassungspolitischen Rückblick und eine Gegenwartdiagnose. Kirchheimer zufolge habe die Masse der kriegsmüden Soldaten nach der Novemberrevolution 1918 die ihnen zugefallene politische Macht ohne große Umstände den Mehrheitssozialdemokraten anvertraut. Als diese dann darangehen wollten, die den Arbeitern gegebenen sozialen Versprechungen umzusetzen, »war das Bürgertum bereits wieder aus seinen Löchern hervorgekommen« (S. 180). Beide Seiten schlossen einen Vernunftfrieden miteinander und schufen im folgenden Jahr die Verfas-
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sung für einen neuen Staat, die durch »kein Prinzip, das […] das Volk dauerhaft zu einer politischen Willensgemeinschaft formiert hätte« (S. 180), zusammengehalten wurde. Kirchheimer meint damit, dass die Weimarer Verfassung keine Entscheidung im Hinblick auf die Frage, ob die zukünftige deutsche Republik eine kapitalistische oder eine sozialistische Demokratie sein sollte, getroffen habe. Die Aufgabe einer Verfassung aber sei es idealerweise, »eine einmal gefallene Entscheidung kundzutun und in ihrer ganzen Bedeutung herauszustellen« (S. 181). Das Fehlen dieser grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Entscheidung sieht Kirchheimer als Ursache dafür an, dass sich im zweiten Teil der Verfassung ein derart umfangreicher und facettenreicher Katalog an Grundrechten und Grundpflichten findet. Als Gegenbeispiele zum Weimarer Verfassungswerk führte er die französische Konventsverfassung von 1793 und die sowjetische Verfassung von 1918 an, welche ihre Prinzipien »förmlich in die Welt hinausschrien und beide damit große propagandistische Erfolge erzielten« (S. 180). Kirchheimer bemängelte die Entscheidungslosigkeit der Weimarer Verfassung nicht aus einer Vorliebe für den Dezisionismus, sondern er erklärte sie zunächst in den Termini einer materialistischen Gesellschaftsanalyse: Die Grundfrage Sozialismus oder Kapitalismus sei zum Zeitpunkt der Verfassungsgebung angesichts der ausgeglichenen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse auf der Ebene des Klassenkampfes nicht entschieden gewesen. Die gesellschaftspolitische Offenheit der Weimarer Verfassung sah Kirchheimer als Manko, denn sie macht sie angreifbar und verletzlich. Der zum Zeitpunkt der Verfassungsgebung nicht bis zur Entscheidung ausgetragene Konflikt zwischen pro-kapitalistischen und pro-sozialistischen Kräften mutet dem Weimarer Verfassungswerk etwas zu, das über das, was eine Verfassung leisten kann, hinausgeht. Kirchheimer legte dann dar, wie sich aus seiner Sicht in den zehn Jahren seit Verabschiedung der Verfassung das Bild der gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnisse erneut gewandelt hat. Die Sorgen des Bürgertums vor einer Ausbreitung des Sozialismus in den westlichen Industriegesellschaften sind verschwunden. Somit ist nun auch die »Bourgeoisie Europas der Notwendigkeit enthoben, ihr wahres Gesicht hinter einer sozialen und demokratischen Maske zu verbergen« (S. 182). In Deutschland ist die Bourgeoisie sehr bald nach Verabschiedung der Verfassung zum Gegenangriff übergegangen und hat damit begonnen, die sozialen Errungenschaften der Weimarer Verfassung schrittweise zu demontieren. Kirchheimer nannte in diesem Zusammenhang als
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Beispiele die Beseitigung des in der Verfassung garantierten Achtstundentages, das Bildungswesen, das desolate Betriebsrätegesetz und die Rechtsprechung des Leipziger Reichsgerichts zur Auslegung des Enteignungsartikels. Nur »Traumsozialisten« (S. 183) könnten angesichts dieser Entwicklungen die Hoffnung haben, dass sich der gegenwärtige bürgerliche Staat legal aus den Angeln heben ließe. Angesichts dieser generellen Entwicklungstendenzen bezeichnete Kirchheimer die Regierungsbeteiligung von Sozialisten als »Anteil an der Ämterpatronage« (S. 183), die politisch kaum etwas gegen die gewachsene Macht der Staatsbürokratie ausrichten könne. Auch der Eintritt von Sozialisten in diese Staatsbürokratie habe daran aufgrund der dort herrschenden Anpassungszwänge nichts geändert. Das Experiment der Eingliederung des Sozialismus in den Staatsapparat könne »vom Standpunkt der Bourgeoisie aus als gelöst betrachtet« (S. 184) werden. Große Teile des Bürgertums wollten sich selbst damit nicht zufriedengeben. Sie wollten noch einen Schritt weiter gehen und den gegenwärtigen Verfassungszustand zugunsten einer bürgerlichen Diktatur nach dem Muster der faschistischen Herrschaft Mussolinis in Italien abschaffen. Das Bürgertum kämpfe momentan darum, dass die 1919 nicht getroffene Entscheidung nicht länger vertagt werde, während die Mehrheit der SPD dieser Entscheidung ausweichen möchte. Ein solches Ausweichen sei jedoch unmöglich: »[E]s gibt nur ein Vorwärts oder ein Rückwärts« (S. 185). Vor dem Hintergrund seiner insgesamt wenig hoffnungsvoll anmutenden Diagnose plädierte Kirchheimer für einen sozialistischen Politikansatz, bei dem »planmäßig von unten« (S. 184) für die »Ersetzung eines alten Funktionärskörpers durch einen geistig neuen« (S. 184) in der Partei gekämpft werden müsse. Die bisherige sozialdemokratische Realpolitik habe den Weg in den Sozialismus mehr verbaut als ermöglicht. Die Verfassung bleibe weiterhin »das Buch der Möglichkeiten« (S. 186), dafür müsse man aber den Mut zur Utopie haben. Kirchheimer appelliert an seine Leserschaft: »wir müssen wieder lernen wollen« (S. 185) und »uns bereitfinden für das große Morgen, das wir in diesen Jahren gewinnen oder auch unwiederbringlich verlieren können« (S. 186). Der Artikel Kirchheimers ist mit merklicher Verve und polemischer Kraft geschrieben. Inhaltlich und stilistisch passte er sich bruchlos in die generelle publizistische Linie der Zeitschrift ›Klassenkampf‹ ein: vorgetragen im Duktus einer nüchternen Klassenkampfanalyse, versehen mit heftiger Kritik am sozialdemokratischen Parteiestablishment, mit seiner Betonung des Sozialismus als einer umfassenden Kulturbe-
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wegung sowie mit den abschließenden Appellen in einem zuspitzenden und voluntaristischen Vokabular im Stil von Rosa Luxemburg. Passagenweise lesen sich dieser und andere der bereits erwähnten Artikel Kirchheimers wie Paraphrasen aus den zahlreichen Aufsätzen und Vorträgen, mit denen Max Adler und Paul Levi ihre Leser des ›Klassenkampfs‹ und auf ihren Vortragsreisen zu begeisterter Zustimmung veranlassten.64 Ebenfalls im August 1929 publizierte Kirchheimer einen weiteren Beitrag zum Verfassungsjubiläum. Unter der Überschrift Das Problem der Verfassung erschien dieser Artikel in den ›Jungsozialistischen Blättern‹. Im Vergleich zu seinem Aufsatz im ›Klassenkampf‹ ist dieser Artikel deutlich sachlicher gehalten und in einem Stil geschrieben, der mit seinen seins-philosophischen Formulierungen passagenweise eher an Rudolf Smend als an Max Adler oder Karl Marx erinnert. Auch in inhaltlicher Hinsicht finden sich unterschiedliche Akzentsetzungen zwischen den beiden Artikeln. Verfassungen geben Aufschluss, »ob und in welchem Maße die Menschen die Seins-Struktur« (S. 175) ihrer Gegenwart erkannt haben. Sofern Menschen diese Seinsstruktur erkennen, sind sie befähigt, den Formungsprozess ihres eigenen Bewusstseins zu durchleuchten und die Reife ihres Klassenbewusstseins zu erkennen. Von dieser Erkenntnis ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zum politischen Wollen. Als Gruppe schlägt sich dieses Wollen in dem Bemühen um eine in die Zukunft gerichtete Verfassung nieder, in welcher dann die »objektive Bewusstseinslage und subjektive Bewertung dieser Bewusstseinsstruktur« (S. 175) zusammentreffen. Vor dem Hintergrund dieses Kriteriums nennt Kirchheimer die durch die Erklärung der Menschenrechte von 1789 geprägten französischen Revolutionsverfassungen »vollendete Verfassung[en]« (S. 176). Aber auch am Text der sowjetischen Verfassung von 1918 imponiert ihm, dass zum ersten Mal der Versuch unternommen wurde, sich von den beiden Grundprinzipien bürgerlicher Verfassungen, dem Privateigentum und der Vertragsfreiheit, loszusagen und sie klar und deutlich das Bekenntnis eines sozialistischen Willens verkündet habe. Allerdings sei dann eine tiefe »Kluft zwischen der wirklichen Verfassung des russischen Bauernstaates und der Willensverfassung seiner politischen Herrscher« (S. 176) aufgerissen, die den Text zu Makulatur werden ließ. Vor dem Hintergrund des russischen Experiments sei die Weimarer 64 Vermutlich handelt es sich um diesen »Aufsatz von Kirchheimer über die Verfassung«, dessen Lektüre Schmitt in seinem Tagebuch festhielt (Carl Schmitt: Tagebucheintrag vom 3. August 1929).
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Verfassung von führenden bürgerlichen Politikern wie Friedrich Naumann als Konkurrenzunternehmen zur sowjetischen Verfassung gedacht gewesen. Die im zweiten Teil der Verfassung aufgelisteten Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen müssten verfassungsgeschichtlich als das Gegenstück zu den Rechten des arbeitenden und ausgebeuteten Volkes in der Sowjetunion verstanden werden. Im letzten Teil seines Artikels wirft Kirchheimer die Frage auf, was aus dem Weimarer Experiment der Vereinigung von bürgerlich-demokratischen mit kollektivistisch-sozialistischen Verfassungsprinzipien geworden sei. Seines Erachtens habe man mit dem Grundrechtsteil den erfolglosen Versuch unternommen, »Unvereinbares zu vereinbaren« (S. 177). In den Grundrechten fände sich ein Sammelbecken vieler Möglichkeiten, denen kein politischer Wille verholfen habe, Wirklichkeit zu werden. Kirchheimer wirft den sozialdemokratischen und sozialistischen Beteiligten an der damaligen Verfassungsgebung vor, sträflich unterschätzt zu haben, welch ungeheuren gesellschaftspolitischen Vorsprung jene sozialen Gruppen genossen hätten, die ihren bisherigen sozialen Besitzstand 1919 garantiert bekommen hätten. Deshalb sei es keine Überraschung, wenn man heute feststellen müsse, dass die Weimarer Verfassung, die eine Mittlerin zwischen Bürgertum und Sozialismus werden sollte, sich in kurzer Zeit zum demokratischen Verfassungstyp bürgerlicher Art zurückentwickelt habe. Aus dieser Entwicklung gelte es für Sozialisten eine Lehre für die Zukunft zu ziehen: »Wir waren damals […] in den entgegengesetzten Fehler verfallen wie die Russen. Sie haben die Bedeutung des Willens als verfassungsbildenden Faktor überschätzt, wir aber haben ihn damals in Weimar unterschätzt« (S. 178). Kirchheimer beschließt auch diesen Artikel mit einem Appell an seine Leserschaft: Allein unser Wollen sei es, was zukünftig den Raum schaffe für die Verfassung einer sozialistischen Wirklichkeit. Im Dezemberheft der ›Jungsozialistischen Blätter‹ findet sich ein Beitrag von Kirchheimer über Die Englische Arbeiterbewegung. Kirchheimer nimmt seine Lektüre der beiden Bücher von Theodor(e) Rothstein und von Egon Wertheimer über die Geschichte der Arbeiterbewegung in England65 zum Anlass für zwei vergleichende Blicke: zum einen zwischen der englischen und der deutschen Arbeiterbewegung und zum anderen zwischen einer bolschewistischen (Rothstein) und einer sozialdemokratischen (Wertheim) Historiografie der Arbeiterbewegung. An Rothsteins Darstellung lobt er, dass sie zu erklären vermag, wie die besonderen ökonomischen Verhältnisse des Landes die politische Hal65 Vgl. Rothstein (1929) und Wertheimer (1929).
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tung der englischen Arbeiterschaft mit ihren Sympathien für die Liberale Partei und ihrer primär gewerkschaftlichen Orientierung geprägt hätten. An der Darstellung Wertheimers hebt er positiv hervor, dass sie den Unterschied zwischen der deutschen und der englischen Arbeiterbewegung auch noch in einer anderen Hinsicht deutlich werden lasse: Während die deutsche und auch die österreichische Organisationsform der Arbeiterklasse von einer politischen und geistigen Elite ausgeht und die Massen um ihr Parteiprogramm sammelt, ist die englische Labour Party ein geistig und kulturell heterogenes Gebilde, das keinen Exklusivitätsanspruch stellt und vielfach dem Liberalismus verhaftet bleibt. Kirchheimer beschließt seine Lektüreeindrücke mit der ernüchterten Feststellung, dass die englische Arbeiterbewegung in ihrer »jetzigen Gestalt kaum zu besonderen Erwartungen berechtigt« (S. 195). Im Januarheft des Jahres 1930 publizierte Kirchheimer in der Zeitschrift ›Die Gesellschaft‹ eine Auseinandersetzung mit einer Broschüre des Preußischen Regierungsrats Carl Tannert zur Reform des Volksentscheids (vgl. Tannert 1929). Tannert kritisierte mehrere rechtliche Bestimmungen für die Durchführung von Volksentscheiden als Fehlkonstruktionen. Seine Kritik entzündete sich vor allem an der während der Weimarer Republik wiederholt geäußerten Klage, dass die bestehenden Regelungen gegen das Stimmengeheimnis verstießen, weil Bürger auch durch das bloße Fernbleiben das Ergebnis der Abstimmung mitentschieden. Dem hielt Kirchheimer entgegen, dass es abwegig sei, das Wahlgeheimnis und das Stimmengeheimnis beim Volksentscheid gleichzustellen; von Carl Schmitt ließe sich lernen, dass »technisch gleichartige Institutionen […] oft von sehr verschiedenen verfassungstheoretischen Prinzipen beherrscht sein können« (S. 198). Er stimmte Tannert jedoch in einem anderen Kritikpunkt zu: Die gegenwärtigen Regelungen machten keinen Unterschied zwischen einem etwaigen Zustandekommen von einfachen und verfassungsändernden Gesetzen. Aus diesem Grund konnte Kirchheimer sich auch Tannerts Reformvorschlag anschließen, nach Art der Gesetze gestufte und gegenüber dem geltenden Zustand erheblich herabgesetzte Beteiligungsquoren festzusetzen.
5. Die Eigentumsordnung der Weimarer Verfassung Im Verlauf des Jahres 1929 war die Große Koalition immer stärker ins Trudeln geraten. Die Regierungsmitglieder hatten aufgrund der not-
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wendigen Rücksichtnahme auf ihre Parteien von vornherein nur geringen Spielraum für politische Kompromisse gehabt. Nun rückten die bürgerlichen Parteien, inklusive der Zentrumspartei, immer weiter nach rechts und machten Kompromisse mit der SPD noch schwieriger. Als direkte Folge der nach dem New Yorker Börsencrash in der letzten Oktoberwoche 1929 ausbrechenden Weltwirtschaftskrise spitzte sich im Winter 1929/30 die Wirtschafts- und Finanzkrise in Deutschland im Eiltempo zu. Die zuvor regierenden bürgerlichen Regierungen hatten bereits 1926/27 alle Finanzreserven verbraucht, ein nur notdürftig verschleiertes Haushaltsdefizit hinterlassen und somit eine grundlegende Sanierung des Reichsetats notwendig werden lassen. Bereits im Januar 1929 informierte Finanzminister Rudolf Hilferding seine Kabinettskollegen, dass in einigen Wochen das Geld für die Überweisungen an die Länder und die fälligen Gehaltszahlungen nicht mehr aufzubringen sei. Dennoch widersprach die DVP kategorisch jeder Erhöhung der Steuern. Mit der Wirtschaftskrise verschärften sich diese Konflikte und Hilferding musste am 20. Dezember 1929 nach dem Scheitern eines neuen Finanzplans von seinem Amt zurücktreten. Sein Nachfolger wurde Paul Moldenhauer von der DVP und der Konflikt zwischen den beiden Flügelparteien in der Großen Koalition spitzte sich immer weiter zu. Der zentrale Konflikt fokussierte sich auf die Frage der Finanzierung der erst vor wenigen Jahren eingerichteten Arbeitslosenversicherung, die noch keine Rücklagen hatte bilden können. Während die DVP unter dem Einfluss industrieller und agrarischer Interessenverbände darauf insistierte, keine höheren Kostenbelastungen der Betriebe zuzulassen, forderte die SPD die Deckung des nötigen Finanzbedarfs durch Beitragserhöhungen. Führende Politiker der DVP und des nach rechts gerückten Zentrums wussten zu diesem Zeitpunkt bereits, dass Präsident Paul Hindenburg und seine Berater beabsichtigten, die SPD nach der Annahme des Gesetzes zum Young-Plan im Reichstag am 12. März 1930 aus der Regierung zu entfernen. In dieser Situation gab es für die SPD keine Möglichkeiten mehr bei der Suche nach weiteren Kompromissen für die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung. Die während ihrer Regierungszeit von den Linken in der SPD so scharf kritisierte Große Koalition zerfiel am 27. März 1930 und wurde durch das Präsidialkabinett von Heinrich Brüning ersetzt. Die Themenbereiche, die zwischen den Flügelparteien der Großen Koalition für immer heftigere Konflikte gesorgt hatten, waren die Wirtschafts- und die Sozialpolitik. Alle Kombattanten bezogen sich in ihren Argumenten auf Bestimmungen der Verfassung. Aber dieser Bezug schuf mehr Probleme als dadurch gelöst wurden. Zu den in diesem
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Zusammenhang am heftigsten umstrittenen Bestimmungen gehörten die Artikel 151 bis 155 im Fünften Abschnitt der Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen aus der Verfassung. In ihnen waren die Eigentumsordnung der Republik – und damit auch die Möglichkeiten und Grenzen der in Artikel 153 kodifizierten Möglichkeit der Enteignung – festgelegt worden. Auf diese Weise hatte die Verfassung festgelegt, dass Eigentum keine vor- oder überpositive Größe an sich ist, sondern nach Inhalt und Umfang zur Disposition des Gesetzgebers steht (vgl. Ridder 1977: 477 f.). Gegen den sich daraus ergebenden Handlungsspielraum des Gesetzgebers und den sozialstaatlichen Sinn der Enteignungsformel wurde in der Staatsrechtslehre mit der erstmals 1923 von Martin Wolff vorgetragenen Ansicht argumentiert, dass es sich beim Eigentum um eine ›Institution‹ handele, deren Garantie gegebenenfalls auch gegen den Gesetzgeber Bestand haben müsste. Diese Proklamation einer unantastbaren Institutsgarantie wurde in nur wenigen Monaten zur herrschenden Lehre der Weimarer Republik. Und dies wurde der SPD von den bürgerlichen Koalitionspartnern genüsslich vorgehalten. Sie wurde auch von der Rechtsprechung extensiv aufgegriffen, die daraus ein materielles richterliches Prüfungsrecht für sämtliche Eigentumsfragen berührenden Gesetze ableitete.66 Aus sozialistischer Sicht handelte es sich bei der Erhebung des Eigentums zu einem Rechtsinstitut um eine Aushöhlung der sozialen Grundrechte und um eine Amputation der Kompetenzen des Gesetzgebers. Otto Kirchheimer beteiligte sich an der juristischen Debatte über die Enteignungsfrage mit insgesamt vier 1930 erschienenen Beiträgen, die er während seiner Zeit als Gerichtsreferendar in Spandau und Berlin verfasste. Die Beiträge richten sich an unterschiedliche Zielgruppen. Ihnen gemeinsam ist die ideologiekritische Stoßrichtung. Juristische Formeln wie Eigentum oder Enteignung waren in den Augen von Kirchheimer keine neutralen Begriffe, sondern in Traditionen eingebettet. Ein unkritischer juristischer Sprachgebrauch transportiert mit den Begriffen auch die gesellschaftspolitischen Werte der Vergangenheit. Kirchheimer zielt mit seinen drei Beiträgen zum Eigentum und zur Enteignung darauf ab, die Beharrungskraft dieser Rechtsbegriffe aufzulösen.67
66 Zu den Weimarer Debatten über Artikel 153 vgl. im Überblick mit weiteren Literaturhinweisen Perels (1973: 39-45), Huber (1993: 113-116) und Gusy (1997: 343-352). 67 Zu Kirchheimers eigentumstheoretischen Positionen im Kontext der Weimarer Debatten vgl. Bumke (2002: 189-203) und Meinel (2011: 196-200).
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Die gewichtigste Publikation in dieser Reihe ist die im Frühjahr 1930 bei Walter de Gruyter & Co, einem damals bereits etablierten juristischen Fachverlag, erschienene monografische Abhandlung im Umfang von 75 Druckseiten mit dem Titel Die Grenzen der Enteignung. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Enteignungsinstituts und zur Auslegung des Art. 153 der Weimarer Verfassung. Kirchheimer bedankt sich im Vorwort bei zwei Mentoren seiner Schrift: bei Carl Schmitt »für die Fragestellung selbst wie für die Einzelausgestaltung« (S. 254) und bei Hermann Heller für das »der Arbeit entgegengebrachte Interesse« (S. 264). Die Positionen von Schmitt und Heller bilden auch die beiden Referenzpunkte, von denen aus Kirchheimer den Aufbau und Argumentationsgang seiner Abhandlung komponiert. Schmitt hatte sich mehrfach und zuletzt 1929 in besonders scharfer Weise gegen die in der Staatsrechtslehre herrschende Mehrheitsmeinung zu Artikel 153 geäußert.68 Heller, der prominenteste sozialdemokratische Staatsrechtslehrer in Deutschland, war zum Oktober 1928 auf eine außerordentliche Professur für Öffentliches Recht an der Berliner Universität berufen worden; in seiner Interpretation des Weimarer Grundrechtekatalogs hatte er die dem Gesetzgeber gegebene Kompetenz von Enteignungen zur Schaffung einer sozialen Demokratie ausdrücklich für notwendig erachtet.69 Kirchheimer argumentiert rechtshistorisch und rechtssoziologisch, indem er zunächst im ersten Abschnitt seiner Abhandlung den Bedeutungswandel des Eigentumsbegriffs von John Locke bis zum Ende des Deutschen Kaiserreichs skizziert. Während Locke als erster Theoretiker des bürgerlichen Rechtsstaates das Eigentum als unveräußerliches Menschenrecht ausgerufen habe, habe die bürgerliche Überwindung des Feudalismus in der Französischen Revolution nur durch eine Eigentumstheorie erfolgen können, die dem Gesetzgeber unter bestimmten Umständen Enteignungsmaßnahmen zugestehe. Ausführlich referiert Kirchheimer drei Antworten, die im 19. Jahrhundert auf die damit verbundene Entschädigungsfrage gegeben wurden: die liberale Antwort Lorenz von Steins, der eine Unterscheidung zwischen entschädigungslosen Enteignungen öffentlicher Rechtstitel und entschädigungspflichtiger Enteignung privater Rechtstitel vornimmt; die erzkonservative Antwort von Friedrich Julius Stahl, der alle tradierten Eigentumsrechte für voll entschädigungspflichtig erklärt; sowie die sozialisti68 Vgl. Schmitt (1928: 166 f.) und Schmitt (1929). Zu den Ähnlichkeiten und den Differenzen der eigentumstheoretischen Argumentationen von Schmitt und Kirchheimer vgl. Neumann (2015: 146-149). 69 Vgl. Heller (1924: 310-316) und Heller (1926: 375-409). Zu Hellers Konzeption eines demokratischen Sozialismus vgl. Henkel (2012: 454-482).
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sche Antwort Ferdinand Lassalles, demzufolge es dem jeweils gegenwärtigen Zeitbewusstsein vorbehalten bleiben müsse, darüber Gericht zu halten und sein Urteil zu fällen, welche Rechte der Vergangenheit auch unter veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen noch zu Recht bestehen. Damit eröffnet er die Möglichkeit für entschädigungslose Enteignungen auch von privaten Rechtstiteln. Kirchheimer bezeichnet die Überlegungen von Lassalle als »richtig und zeitlos gültig« (S. 277), denn sie basierten methodisch auf einer »rechtssoziologische[n] Formulierung von Entwicklungstendenzen« (S. 279). Kirchheimer folgt dem von Lassalle ausgelegten methodologischen Pfad in seiner detaillierten Übersicht über die rechtliche Gestaltung des Enteignungsinstituts im Kaiserreich und zeigt dabei auf, inwiefern die Bedürfnisse der Infrastrukturentwicklung des deutschen Kapitalismus das Enteignungsrecht prägten. Im zweiten Abschnitt seiner Abhandlung präsentiert Kirchheimer seine Interpretation der Eigentumsordnung der Weimarer Verfassung. Deutlicher als alle anderen Nachkriegskonstitutionen habe das Weimarer Verfassungswerk das ›laissez-faire, laissez-passer‹ der bürgerlichen Verfassungen des 19. Jahrhunderts beseitigt. Die Verfassung habe den Willen gezeigt, aktiv Verantwortung für die wirtschaftliche Lage ihrer Bürger zu übernehmen. Die Stützen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, Privateigentum, Erbrecht und Vertragsfreiheit, hätten ihre bisherige Unnahbarkeit aufgeben müssen. Die liberalen Grundrechte seien zwar noch vorhanden, aber das Maß ihrer Wirkungskraft sei laut Verfassung eingespannt in den Willen des Gesetzgebers. Zusätzlich habe die Verfassung Satzungen aufgestellt, die der Gesetzgeber positiv und ohne Ermessensklausel berücksichtigen müsse, wie beispielsweise den Schutz der Arbeitskraft, die Koalitionsfreiheit oder die Räteorganisation. Es fällt auf, dass Kirchheimer die von ihm zuvor in seinen Aufsätzen zum Verfassungstag herausgestellte Widersprüchlichkeit der Weimarer Verfassungsbestimmungen an dieser Stelle nicht wiederholt. Ganz im Gegenteil. Ohne sie namentlich zu nennen, schließt er sich der auf sozialdemokratischer Seite unter anderem von Hermann Heller, Hugo Sinzheimer, Franz L. Neumann und Ernst Fraenkel gewählten Interpretationsstrategie der Weimarer Verfassung an, wonach die Verfassungsurkunde das eindeutige Versprechen für weitreichende sozialistische Veränderungen beinhalte. Denn Kirchheimer postuliert, dass alle von ihm aufgelisteten Bestimmungen »nicht als Stückwerk, sondern als Gesamtkomplex« (S. 288) verstanden werden müssten. »Das«, so Kirchheimer weiter, »war der Wille der Reichsverfassung, und diesen Willen gilt es zu respektieren und zu erforschen« (S. 287). In seiner
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weiteren Argumentation stellt er sich auf den Standpunkt einer Verfassungsauslegungsdoktrin, wonach ein als originär erkannter Wille eines Verfassungsgebers absolute Bindungskraft haben müsse. Den Einwand von Günther Holstein und anderen Verfassungstheoretikern (vgl. Holstein 1930), dass sich die Auslegung von Verfassungsbestimmungen mit der Zeit ändern könne und müsse, weist er zurück: »Aufgabe der Wissenschaft und Rechtsprechung muss es sein, diesem Willen zur Geltung zu verhelfen, anstatt durch Berücksichtigung angeblicher Entwicklungstendenzen den objektiven Willen der Verfassung zu durchkreuzen« (S. 187). Die weitere Kritik Kirchheimers entzündet sich daran, dass sich im Verlauf der vergangenen zehn Jahre rückläufige Tendenzen entwickelt hätten, die aus der Weimarer Verfassung wieder ein Bollwerk des alten überkommenen bürgerlichen Rechtsstaates gemacht hätten. Im Zentrum dieser Rückentwicklung stünden die staatrechtliche Dogmatik und die Rechtsprechung zu den Artikeln 109 (Gleichheit vor dem Gesetz) und Artikel 153. Die Art, wie der Satz der Gleichheit vor dem Gesetz materiell ausgelegt werde, bedeute in der Konsequenz, dass jede Gesetzgebung zugunsten der arbeitenden Klasse für unwirksam erklärt werden könne und somit der gegenwärtige ökonomische Status quo garantiert bliebe. Kirchheimer zufolge werde damit »der Satz der Gleichheit in sein Gegenteil verkehrt« (S. 292). Die weitere Aufmerksamkeit Kirchheimers gilt im dritten Abschnitt seiner Abhandlung der Debatte über die Auslegung des Artikels 153. Er räumt ein, dass man im Hinblick auf das Eigentum tatsächlich von einer institutionellen Garantie sprechen könne. Unter Berufung auf Ausführungen in Schmitts Verfassungslehre (vgl. Schmitt 1928: 171 f.) argumentiert er dann, dass die Bedeutung einer solchen institutionellen Garantie im Unterschied zur institutionellen Garantie des Beamtentums nur gering sei, da der mögliche Inhalt des Eigentums letztendlich immer der Festlegung durch den Gesetzgeber unterliege. Auf dieser Basis kritisiert Kirchheimer im Weiteren die von Wolff, Gerhard Anschütz, Heinrich Triepel und Walter Schelcher vertretenen Lehren als Versuche, die eigentumsrechtlichen Intentionen des Verfassungsgebers in ihr Gegenteil zu verwandeln. Diese Rechtswissenschaftler erweiterten in ihrer Dogmatik den Enteignungsbereich und schafften dadurch »die bequeme Möglichkeit, jeden Eingriff als Enteignung zu bezeichnen« (S. 300). Ihre Umdeutung von Artikel 153 negiert den fundamentalen Wesenszug der Gesetzgebung im demokratischen Staat und schwächt den Gesetzgeber mit der Einführung eines materiellen richterlichen Prüfungsrechts zusätzlich. Angetrieben wird diese Dogmatik von offen geäußerten antisozialistischen und antiparlamentari-
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schen Ressentiments. Für Kirchheimer ist diese Dogmatik der Ausdruck eines veränderten gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses. Da das Bürgertum heute fürchten muss, dass im Parlament eine Eigentumsgesetzgebung zustande kommt, die seinen Privatinteressen widerspricht, soll die diesbezügliche Gesetzgebung einer neuen Instanz unterworfen werden, die dem Bürgertum günstiger erscheint, den Gerichten. Erneut führt Kirchheimer als Kronzeugen seiner Thesen Carl Schmitt an. Schmitt hatte im Jahr zuvor eine aus seiner Sicht groteske Ausweitung des Eigentumsbegriffs und die damit einhergehende faktische Auflösung des Enteignungsbegriffs scharf kritisiert. Es gäbe in der Verfassung keinen Anhaltspunkt dafür, dass in der Weimarer Nationalversammlung beabsichtigt gewesen wäre, den Rechtsschutz für Eigentum soweit auszudehnen, wie dies mittlerweile seitens der juristischen Zunft und in der Zivilrechtsprechung betrieben werde (vgl. Schmitt 1929 a). Schmitt gesteht dem demokratischen Gesetzgeber ausdrücklich zu, Enteignungen vorzunehmen; diese Gesetze müssten allerdings die für liberale Rechtsstaaten charakteristische Beschränkung des Gesetzes auf generelle Tatbestände einhalten. An diesem Punkt setzt Kirchheimer seine weitergehende Kritik an Schmitt an. Die Auffassung von Schmitt erkläre sich aus seiner generellen Betrachtungsweise, den gegenwärtigen Verfassungszustand aus dem Zusammenspiel von bürgerlichem Rechtsstaat und Demokratie zu verstehen. Ein solches Zusammenspiel hält Kirchheimer auf längere Sicht für problematisch und stellt die rhetorische Frage, »wieweit die Massendemokratie des 20. Jahrhunderts bürgerlich rechtsstaatliche Elemente beibehalten kann, ohne auf die Dauer entscheidende Einbuße an ihrem demokratischen Grundcharakter zu erleiden« (S. 302). Einen eigenen Abschnitt widmet Kirchheimer zum Abschluss seiner Abhandlung der Enteignungsrechtsprechung des Leipziger Reichsgerichts. Sie sei für die heutige Entwicklung des Enteignungsbegriffs von entscheidendem Einfluss gewesen. Kirchheimer analysiert mehrere Urteile des Reichsgerichts, unter anderem zur zwangsweisen Ablieferung ausländischer Vermögensgegenstände, zum Denkmalschutz und zum Bergrecht. Er lässt kein gutes Haar an den Urteilen des Reichsgerichts, denn es weise die sich immer mehr verstärkende Tendenz auf, den konkreten Enteignungsbegriff aufzulösen und jede Art der Entziehung von Privatrechten als rechtswidrige Enteignung zu bewerten. Die negativen Folgen dieser Rechtsprechung schildert er an Beispielen aus der Stadt- und Regionalplanung, bei der kommunalen Instanzen immer weiter die Möglichkeit der Einflussnahme auf die Entwicklung des Städtebaus und der Infrastruktur genommen wird. Kirchheimers
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zusammenfassendes Resümee zum Schicksal des Artikels 153 ist eindeutig: »Diese Entwicklung hat die Weimarer Verfassung nicht gewollt und mindestens nicht bewusst gefördert« (S. 322). In seinem Artikel Reichsgericht und Enteignung. Reichsverfassungswidrigkeit des Preußischen Fluchtliniengesetzes? führt Kirchheimer seine kritische Auseinandersetzung mit den Leipziger Richtern anhand eines konkreten Fallbeispiels fort. Der Artikel erschien in der Juni-Ausgabe des Jahres 1930 in der Zeitschrift ›Die Justiz‹. Die Zeitschrift wurde seit 1925 vom Republikanischen Richterbund herausgegeben, einem überparteilichen Sammelbecken von Richtern, Anwälten, Beamten und Universitätsprofessoren, die sich im Gegensatz zur Mehrzahl der Weimarer Juristen für die Stärkung der Weimarer Demokratie einsetzten. Die Mitgliederzahl des Republikanischen Richterbundes blieb mit knapp 400 allerdings im Vergleich zu den anderen Standesorganisationen sehr bescheiden. Kirchheimer legt in dem Artikel anhand der Reichsgerichtsentscheidung vom Februar 1930 bezüglich der Verfassungswidrigkeit des Preußischen Fluchtliniengesetzes zum einen noch einmal dar, dass dem Rechtsinstitut der Enteignung von dem Gericht mittlerweile ein ungleich umfassender Anwendungsbereich gegeben werde, als es sogar noch vor der Entstehung der Weimarer Verfassung besessen habe. Zum anderen skizziert er die politischen Folgen dieser Rechtsprechung und prognostiziert, dass sie der notwendigen Vereinheitlichung des preußischen Städtebaurechts und der städtischen Baupolitik immense Hürden in den Weg legt. An den Gesetzgeber appelliert er, mittels eines Sondergesetzes diese Durchkreuzung von gesetzlichen Bestimmungen durch die höchstrichterliche Rechtsprechung zu verhindern. Parallel dazu war einige Tage vorher am 30. Mai 1930 ein kurzer Artikel Kirchheimers in der Berliner Stadtbeilage der sozialdemokratischen Tageszeitung ›Vorwärts‹ erschienen.70 Er trug die Überschrift Privatbesitz gegen Volksinteresse! und fasst Kirchheimers rechtliche und rechtspolitische Argumentation in scharfen Worten zusammen, verbunden mit der Warnung vor »amerikanische[n] Zustände[n]« (S. 206).71 Einen vierten Artikel zu dieser Thematik veröffentlichte Kirchheimer in der August-Ausgabe der Zeitschrift ›Die Gesellschaft‹. Der Titel des Aufsatzes lautet Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung. Kirchheimer leitet seine Ausführungen diesmal mit einem Ver70 Ich danke Detlef Lehnert für den Hinweis auf diesen Artikel. 71 Laut einem Bericht des ›Vorwärts‹ vom 25. März 1931 trug Kirchheimer diese Thesen 1931 auch auf der März-Versammlung der Vereinigung Sozialdemokratischer Juristen in Berlin vor.
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weis auf Karl Renners in Kreisen der Leserschaft von ›Die Gesellschaft‹ wohlbekanntem Buch über den Funktionswandel der Rechtsinstitute des Privatrechts ein, dessen erweiterte Neuauflage gerade erschienen war.72 Inhaltlich ergänzt der Artikel seine bisherigen Ausführungen mit einer Zusammenstellung von eigentumskritischen Stimmen aus dem Katholizismus und einer Diskussion über die eigentumsrechtliche Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs in den USA. Erneut wiederholt er seinen Vorwurf an Schmitt, dieser übersähe den »demokratischen Ursprung« (S. 343) der Enteignungsgesetzgebung und mache aus diesem Grund fälschlicherweise zu große Konzessionen an die liberale Theorie. Eine zeitgenössische Reaktion auf Kirchheimers Arbeiten zum Eigentumsbegriff stammte aus der Feder von Ernst Rudolf Huber, der ebenfalls in Bonn bei Schmitt promoviert hatte. Huber schrieb unter dem Pseudonym Friedrich Schreyer regelmäßig Artikel in der Zeitschrift des Deutschen Herrenklubs ›Der Ring‹, in der Autoren der Konservativen Revolution die politische Lage sondierten. Huber warf Kirchheimer vor, mit seinen Überlegungen die Begleitideologie für eine »schleichende und kalte Sozialisierung«73 zu liefern. Kirchheimer kam auf das Thema Eigentumsrecht ein Jahr später in einer Rezension für ›Die Gesellschaft‹ erneut zu sprechen. In seiner Kritik an dem Buch Die Fortschritte des Zivilrechtsrechts im 19. Jahrhundert von Justus W. Hedemann warf er dem Verfasser vor, zwar wichtige rechtshistorische Detailarbeit über die Wandelungen des Eigentumsverständnisses geleistet, in methodischer Hinsicht dabei jedoch vollständig versagt zu haben. Hedemann war ein in Jena lehrender Wirtschaftsjurist, der aus seiner konservativen Ablehnung der Weimarer Republik keinen Hehl machte und sich in seinem rechtshistorischen Werk gegen erwerbswirtschaftliche Betätigungen der öffentlichen Hand und gegen den Sozialisierungsartikel der Verfassung aussprach.74 Kirchheimer hielt Hedemann vor allem vor, dass er die Zusammenhänge zwischen juristischen Bestimmungen mit ökonomischen Faktoren ausblende.
72 Vgl. Renner (1929); die erste Auflage des Buches erschien 1904. 73 Huber (1931:163). Der Hinweis auf Huber findet sich in Breuer (2012: 182 f.). 74 Vgl. Hedemann (1930). Zu seinen rechtshistorischen Arbeiten und seiner späteren Karriere im Nationalsozialismus in Zusammenarbeit mit seinem Schüler Roland Freisler vgl. Wegerich (2004).
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6. Weimar … und was dann? In der zweiten Maihälfte 1930 war Kirchheimer vom Berliner Arbeitsgericht zu seiner ersten Rechtsanwaltsstation, der Kanzlei von Heinrich Riegner und Kurt Rosenfeld in der Joachimsthaler Straße 41 in BerlinCharlottenburg, gewechselt. Ab Mitte Oktober 1930 arbeitete er in der Rechtsanwaltskanzlei Liebknecht. Anschließend setzte er seinen Dienst ab Juni 1931 in einem Zivilsenat und einem Strafsenat des Berliner Kammergerichts fort. Kirchheimer fühlte sich wohl in Berlin. Er hatte nach seiner Rückkehr nicht nur wieder schnellen Anschluss an seine alten sozialistischen Freunde und Bekannten gefunden, sondern wurde auch bald in neue politische Kreise hineingezogen. Parteipolitisch beteiligte er sich in Kreisverbänden der SPD in Spandau und Berlin und organisierte Weiterbildungsvorträge.75 Von besonderer Bedeutung für seinen weiteren beruflichen Weg wurde sein Kontakt zur Zeitschrift ›Die Gesellschaft‹. Sie war 1924 im Auftrage des Parteivorstandes der SPD gegründet worden und wurde zunächst von Rudolf Hilferding herausgegeben. Nach der Ernennung von Hilferding zum Finanzminister übernahm Albert Salomon 1928 die Chefredaktion. Er gab der Zeitschrift ein neues Gesicht, indem er eine Reihe junger, zumeist der SPD angehörender oder ihr zumindest nahestehender Intellektueller für die Mitarbeit gewann.76 Zu ihnen gehörten unter anderem Otto KahnFreund, Hajo Holborn, Herbert Marcuse, Franz L. Neumann, Ernst Fraenkel, Alfred Vagst, Hannah Arendt und Walter Benjamin. Einige der Berliner Mitarbeiter der ›Gesellschaft‹ bildeten einen engeren Diskussionskreis, der sich regelmäßig traf. Kirchheimer nahm seit dem Herbst 1930 an den Treffen dieser Gruppe teil. In diesem Zirkel knüpfte er auch seine engere Verbindung zu Franz L. Neumann und Ernst Fraenkel. Die politischen Diskussionen im Kreis der ›Gesellschaft‹ waren nach dem Ende der Großen Koalition von wenig Optimismus geprägt. Es sprach sich bald herum, dass Hermann Müllers Sturz von Hindenburgs Kamarilla von langer Hand vorbereitet und der Zentrumspolitiker Heinrich Brüning vorab als Nachfolger auserkoren worden war. Am 30. März 1930 übernahm Brüning sein Regierungsamt und die SPD sah sich auf der Reichsebene zurück auf die Oppositionsbänke verbannt. 75 Dies geht aus einem Briefwechsel Kirchheimers mit Dora Fabian aus dem Januar 1930 hervor. (Otto Kirchheimer Papers, Series 2: Letters, Box 1, Folder 52, Special Collections & Archives, University at Albany, State University of New York). 76 Zum Folgenden vgl. Inselmann (1964) und Fraenkel (1968: 655-657).
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Nach Lage der parlamentarischen Dinge konnten Brüning und sein Kabinett sich auf keine Mehrheit im Reichstag stützen, sondern waren auf die Unterstützung des Reichspräsidenten angewiesen. Die findigen Berater aus dem Umkreis von Hindenburg waren aber bereits zuvor der Idee verfallen, die Gesetzesvorschläge der neuen Regierung bei einer Ablehnung durch das Parlament als unabdingbare Notfallmaßnahmen zu deklarieren, um sie mit Hilfe des Artikels 48 der Reichsverfassung in Form von Notverordnungen in Kraft setzen zu können. Die Aussicht auf ein solches Vorgehen war politisch nicht wenig umstritten und auch Thema in der zeitgenössischen Staatsrechtslehre.77 Fünf Tage nach dem Amtsantritt Brünings reagierte Otto Kirchheimer am 4. April in einem Zeitungskommentar auf den Regierungswechsel. Brüning hatte in seiner Regierungeerklärung angekündigt, dass er dem Parlament ein Maßnahmenpaket vorlegen werde und dies der einzige Versuch von seiner Seite sein werde, gemeinsam mit dem Reichstag zu einer Lösung der anstehenden Probleme zu gelangen. Das konnte als öffentlich erklärte Drohung der Errichtung eines Präsidialkabinetts verstanden werden. Kirchheimers Kommentar erschien in der ›Tribüne‹ und trägt die Überschrift Artikel 48 – der falsche Weg. Im Fokus seiner Kommentierung steht die Frage der Verfassungskonformität des von Brüning angekündigten zukünftigen Weges der Gesetzgebung. Inhaltlich qualifizierte Kirchheimer die in der Regierungserklärung proklamierten wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Maßnahmen als eine konsequente Umsetzung von Programmen der Unternehmerverbände, um im »Kampf um die innere Lastenverteilung« (S. 202) bei der Krisenbewältigung möglichst viele Kosten einseitig auf die Arbeiterschaft und die Arbeitslosen abzuwälzen. Die Anwendung des Artikels 48 zu ihrer Durchsetzung lehnt er auch aus prozeduralen Gründen vehement ab. Wie bereits in der Eigentumsfrage insistiert Kirchheimer bei seiner Argumentation auf dem Wortlaut des Verfassungstextes. Demzufolge könne Artikel 48 nur in solchen Fällen Anwendung finden, in denen eine »erhebliche Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung« vorliege. Eine solche »unmittelbare Gefährdung« liege aber ersichtlich nicht vor. Kirchheimer beruft sich hierbei gleichermaßen auf liberale, konservative und auch deutschnationale Staatsrechtslehrer und stellt den Unterschied zwischen den zeitlich kurz befristeten Anwendungen des Artikels 48 durch den vormaligen Reichspräsidenten Friedrich Ebert und den dauerhaften Plänen des Brüning‘schen Prä77 Zur zeitgenössischen Debatte in der Weimarer Staatsrechtwissenschaft über die Anwendbarkeit des Artikels 48 vor der Ära Brüning vgl. im Überblick Gusy (1997: 107-109) und Stolleis (1999: 114-116).
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sidialkabinetts dar. Auch weist er die sozialdemokratische Leserschaft der Zeitung auf Ausführungen des »bekannte[n] deutsche[n] Staatsrechtslehrer[s] Carl Schmitt« (S. 204) aus dem Jahre 1924 hin, in denen er die wichtige Unterscheidung zwischen einer Maßnahme, die temporär bleibe und von Artikel 48 gedeckt sein kann, sowie einem Gesetzgebungsverfahren, für das dies nicht gelte, getroffen hatte. Schmitt sprach in diesem Zusammenhang von einem »Missbrauch« des Artikels 48, wenn er angewendet werde, um die Befugnis des Reichspräsidenten auf die Inkraftsetzung eines Haushaltsplanes auszuweiten (vgl. Schmitt 1924: 248-250). Für Kirchheimer ist evident, dass sich Kanzler Brüning und Reichpräsident Hindenburg mit dem angedrohten Vorgehen eindeutig außerhalb der Verfassung bewegten. Zugleich räumt er ein, dass es kaum Chancen gäbe, ein solches verfassungswidriges Agieren des Präsidialkabinetts zu verhindern. Es gäbe bis dato keine rechtliche Handhabe, um in einem geordneten juristischen Verfahren überprüfen zu lassen, ob die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Artikels 48 vorliegen oder nicht. Juristisch setzt er gewisse Hoffnungen auf Winkelzüge der Finanz- und Steuergerichtsbarkeit, die der Regierung Brüning möglicherweise in die Parade fahren könnten. Grundsätzlich aber bleibe nur der Protest und die politische Mobilisierung gegen die Diktatur der Regierung und ihrer »Unternehmerideologie« (S. 202). Einige Wochen nach diesem Zeitungsartikel und damit nahezu zeitgleich zum Veröffentlichungstermin seines Buches über die Enteignungsproblematik erschien im Mai 1930 eine zweite selbständige Schrift Kirchheimers auf dem Buchmarkt. Sie trug den Titel Weimar … und was dann? Entstehung und Gegenwart der Weimarer Verfassung und sollte Kirchheimer schlagartig über seine bisherigen Kreise hinaus bekannt machen. Die Abhandlung erschien in der ›Jungsozialistischen Schriftenreihe‹, die von Max Adler in Zusammenarbeit mit Engelbert Graf und Anna Siemsen in der Laubschen Verlagsbuchhandlung in Berlin herausgegeben wurde. Die Schriftenreihe hatte eine Auflage von 4.000 Startexemplaren; weitere in der Schriftenreihe publizierte Autoren waren neben ihren drei Herausgebern so prominente Namen wie Ernst Toller und Leo Trotzki als auch Autoren der jüngeren Generation wie Ernst Fraenkel, Franz L. Neumann und Arkadij Gurland. Kirchheimer leitete seine Abhandlung im Pathos kühler Nüchternheit ein. Er werde sich »in der Hauptsache auf die Darstellung dessen beschränken, was ist« (S. 209). Programmatisch bezeichnet er sein Vorhaben im nächsten Satz als eine »sozialistische Verfassungsbetrachtung« (S. 209), die er strikt von den Fehlern einer liberalen Verfassungs-
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betrachtung abgrenzt. Während die liberale Verfassungsbetrachtung, die häufig auch unter einem demokratischen Deckmantel aufträte, eine nicht vorhandene gesellschaftliche Einheit vortäusche, »muss eine sozialistische Verfassungsbetrachtung all jene Widersprüche aufdecken, die der heutigen Gesellschaftsorganisation und ihrer politischen Form anhaften« (S. 209). Als weiteres Präludium zu der Abhandlung stellte er ihr ein längeres Zitat von Rosa Luxemburg aus ihrer Kampfschrift Sozialreform oder Revolution? aus dem Jahre 1899 voran, in dem es apodiktisch heißt: »Und zwar ist die jeweilige gesetzliche Verfassung bloß ein Produkt der Revolution. Während die Revolution der politische Schöpfungsakt der Klassengeschichte ist, ist die Gesetzgebung das politische Fortvegetieren der Gesellschaft« (S. 209). Die Schrift ist in neun Abschnitte unterteilt, in denen Kirchheimer nacheinander die Entstehung der Republik, das Verhältnis von Demokratie und Diktatur, das Wahlrecht, den Parlamentarismus, die Grundrechte, die Regierungsbildung und Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit und Beamtentum, die Stellung des Reichspräsidenten und schließlich seine generelle Charakterisierung der Weimarer Verfassung abhandelte. Seine Analyse gipfelte in der von ihm bereits zuvor in mehreren Artikeln geäußerten These, die Weimarer Verfassung sei eine »Verfassung ohne Entscheidung« (S. 246). In der Sache spitzte er seine bisherigen Äußerungen allerdings insofern noch einmal zu, als er im Sinne des oben angeführten Zitats von Rosa Luxemburg kategorisch erklärte, dass es der Sinn einer jeden Verfassung sein müsse, »ein bestimmtes Aktionsprogramm zu verkünden, in dessen Namen die Organisation einer neuen Gesellschaftsordnung stattfinden soll« (S. 248). Mit diesem schöpferischen und gesellschaftsverändernden Anspruch an eine neue Verfassung ging Kirchheimer sogar noch über Carl Schmitts Verfassungsverständnis hinaus, der von einer Verfassung verlangte, dass sie eine Gesamtentscheidung über die Art und Form der politischen Einheit treffen soll (vgl. Schmitt 1928: 20-36). Dass im Zuge der Revolution keine klare Entscheidung für eine sozialistische Gesellschaft habe getroffen werden können, bezeichnete Kirchheimer als den »prinzipielle[n] und nie wiedergutzumachende[n] Fehler dieser Verfassung« (S. 248). In seiner Genealogie der Weimarer Republik zeichnet die Schrift zunächst die politischen Kompromisslinien nach, die schon vor dem Beginn des Verfassungsgebungsprozesses zwischen den verschiedenen sozialen Kräften vereinbart worden waren. Der Mehrheitssozialdemokratie wirft er vor, in den letzten Wochen vor Ende des Krieges die
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Lehre der französischen Revolutionszeit, insbesondere des Jahres 1793, »dass gerade Zeiten der äußersten Not Zeiten der politischen Erneuerung zu sein berufen sind« (S. 210), vergessen zu haben. Kirchheimer orientiert sich bei seiner Version der neueren deutschen Geschichte am Narrativ aus dem zwei Jahre zuvor erschienenen Buch Die Entstehung der deutschen Republik des linkssozialistischen Historikers Arthur Rosenberg (vgl. Rosenberg 1928). Demnach ist das Kaiserreich nicht durch revolutionäre Kräfte der Arbeiterbewegung, sondern durch die Selbstaufgabe der Militärdiktatur Ludendorffs zerstört worden. Die Ausgangslage der Weimarer Republik kennzeichnet Kirchheimer durch die Zusammenarbeit zwischen der Führung der Arbeiterbewegung, die sich nach links gegen den Rätekommunismus, und dem Bürgertum, das sich nach rechts gegen Monarchie und Adel abgrenzte. Dem Militär und der Bürokratie kam in dieser Konstellation die Rolle von vermittelnden Ordnungsmächten zu, worin die Quelle zu ihrer späteren Verselbstständigung lag. Die in Weimar erarbeitete Verfassung ist für Kirchheimer bis ins Detail die rechtliche Widerspiegelung der Kräftekonstellation zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum. Kirchheimer kritisiert im Folgenden erneut, dass der Begriff der ›Demokratie‹ jede konkrete Bedeutung verloren habe. Er wiederholt sein Plädoyer für ein engeres Begriffsverständnis im Sinne der sozialen Demokratie Max Adlers. Eine solche soziale Demokratie könne es in einer klassengespaltenen Gesellschaft allerdings nicht geben. Zudem trage die Demokratie im Kapitalismus ein »beträchtliches Stück bürgerlicher Diktatur« (S. 217) in sich. Kirchheimer sieht den Artikel 48 der Reichsverfassung als das Instrument, mit dem es in Deutschland den herrschen Klassen gelingen kann, »mit Mitteln der Diktatur das auszuführen, was auf legalem Wege der Wille großer Teile des Volks verwehrt« (S. 218) habe. Er weist in diesem Zusammenhang erneut auf die Unterscheidung zwischen kommissarischer und souveräner Diktatur von Schmitt (vgl. Schmitt 1921) hin und wendet diese Terminologie auf zwei unterschiedliche Formen der Ausübung bürgerlicher Diktaturen an: auf die temporären Unterdrückungsmaßnahmen gegen die linke Opposition in Sachsen und Thüringen 1923 sowie den dauerhaft etablierten Faschismus in Italien. Den Punkt, an dem die politische Demokratie des Bürgertums in eine der bürgerlichen Diktaturformen umschlage, hält er im Voraus für nicht präzise bestimmbar, denn ein solcher Regimewechsel werde vom Bürgertum als eine Frage der reinen Zweckmäßigkeit und der dafür gegebenen Chancen betrachtet.
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Vor dem Hintergrund seiner These einer von vornherein systematisch angelegten Zerstörung der in der Verfassung niedergelegten Legalitätsordnung präsentiert Kirchheimer im Folgenden eine Diagnose und Strukturanalyse der politischen Institutionen der Republik. Dazu gehört das mit der Republik eingeführte demokratische Wahlrecht, wobei Kirchheimer an seine Leser appelliert, das auch das freieste Wahlrecht einen intensiven politischen Willen immer nur unterstützen, ihn aber nicht ersetzen könne. Dazu gehört mit dem Reichstag ein Parlament, das sich von einer Versammlung der gemeinsamen Diskussion zu einer Stätte des Austragens von Klassenkämpfen gewandelt habe, und des Weiteren der umfangreiche Katalog des Weimarer Grundrechtesystems. Kirchheimer spricht sich an dieser Stelle explizit dagegen aus, diesen Katalog als einen »Kompromiss« zu bezeichnen; auch Schmitts Rede vom »dilatorischen Formelkompromiss« (vgl. Schmitt 1928: 32) erklärt er aus Gründen der begrifflichen und politischen Klarheit für wenig hilfreich. Die Weimarer Grundrechte seien »in ihren entscheidenden Punkten kein Kompromiss, sondern eine in der Verfassungsgeschichte bisher unbekannte, einzigartige Nebeneinanderordnung und Anerkennung der verschiedensten Wertsysteme« (S. 230). Zu den von Kirchheimer analysierten Institutionen zählen auch die Regierung und der Prozess ihrer Bildung. Kirchheimer unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen einer »Direktionssphäre« und einer »Verteilungssphäre« (S. 238) der Regierungstätigkeit in modernen kapitalistischen Gesellschaften.78 In der Direktionssphäre haben sich Regierungen der Eigengesetzlichkeit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung immer weiter anzupassen; als Aktivitätsbereich bleibt ihnen die Verteilungssphäre, in der sie zu einem Clearing-House der verschiedenen an sie herangetragenen Ansprüche werden. Selbst dieser Handlungsbereich werde aber zunehmend eingeengt. Zu den von Kirchheimer in den Blick genommenen Institutionen gehört auch das Beamtentum. Erneut nutzt er für seine Diagnose seine Unterscheidung zwischen den beiden Sphären. Soweit das Beamtentum in Aufgaben der Direktionssphäre involviert ist, befinde es sich »ausschließlich im Einflussbereich des Bürgertums und seiner großen wirtschaftlichen Organisationen« (S. 242). Soweit es Aufgaben in der Verteilungssphäre wahrnehme, fungiere es als ausgleichende Instanz zwischen den Ansprüchen der unterschiedlichen Sozialgruppen. Die politische Form, in der dieser Ausgleich vonstattengehe, sei der Rechtsstaat. Seit seinen ersten Tagen habe 78 Diese Unterscheidung stieß in der linken Theorie der Bundesrepublik Anfang der 1970er Jahre auf reges Interesse. Vgl. als Überblick zu dieser Diskussion Luthardt (1976: 8-19).
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der Rechtsstaat einen »tiefgreifenden Funktionswechsel« (S. 235) erfahren. Ursprünglich war er das Kampfmittel des Bürgertums gegen die monarchistische Exekutive. Heute sei der Rechtsstaat die Form, in der ein großer Teil der Verteilungssphäre »in einer scheinbar juristischen Form, umgeben von einem Haufen prozesstechnischer Vorschriften, getätigt werde[n]« (S. 241). Kirchheimer schließt seine Strukturanalyse der politischen Institutionen mit dem Reichspräsidentenamt ab. Der gesamte Abschnitt richtet sich gegen die – zu diesem Zeitpunkt auch bereits von Schmitt prominent vertretene79 – »irrige Auffassung« (S. 243), dass der Reichspräsident den Partei- und Sonderinteressen entrückt und somit der einzige wahre Repräsentant der Nation sei. Auch die Wahl des Reichspräsidenten werde von den politischen Parteien beherrscht. Die Vorstellung der Klassenjenseitigkeit seines Amtes sei eine in die politische Irre führende »Fiktion« (S. 246). Indirekt wendet er sich in diesem Zusammenhang auch gegen Smends Auffassung vom Präsidentenamt, wenn er erklärt, dass ein Präsident keinen integrierenden ideellen Gesamtwillen erzeugen könne, wenn die gesellschaftspolitischen Voraussetzungen dafür nicht vorlägen. Kirchheimers skeptisch-radikale Schrift Weimar ... und was dann? stieß nach ihrem Erscheinen auf lebhafte Kritik und regen Zuspruch. Auch in seinem engeren Umfeld fiel die Bewertung sehr unterschiedlich aus. Bis heute gehört sie zu den am häufigsten zitierten Schriften von Kirchheimer.80 Die umgehende Replik von Franz L. Neumann auf Kirchheimers im Buchtitel gestellte Frage war der Imperativ: »Erst einmal Weimar!« (Neumann 1930: 582) Er hielt Kirchheimer vor, die Bedeutung der Grundrechte zu bagatellisieren und dabei stehen zu bleiben, sie als Sammelsurium unvereinbarer Wertentscheidungen zu denunzieren, anstatt beherzt das Handwerk des Juristen zu ergreifen und sich um eine vereinheitlichende rechtswissenschaftliche Systematisierung zu bemühen. Die damit verbundene generelle Gegenthese zu Kirchheimer lautete, dass die Verfassung nicht als widersprüchlich, sondern als offen und damit für die Arbeiterbewegung in ihrem Sinne gestaltbar verstanden werden müsse (vgl. Neumann 1930: 569-571).81 Auch Hermann Heller reagierte ablehnend auf die Schrift. Sie gehörte für ihn zur billigen Kritik »unser[er] ästhetisch-heroischen Revolutionsromantiker 79 Vgl. Schmitt (1928: 350-352) und (1929 b). 80 Zu den späteren Rezeptionen und Debatten über diese Schrift vgl. Schale (2006: 42-46). Seitens des parteioffiziösen Marxismus der DDR wurde eine positiver klingende Würdigung erst kurz vor dem Ende der DDR publiziert (vgl. Stephani 1988). 81 Zur Kritik Neumanns an Kirchheimer vgl. Rückert (1993: 446 f.).
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von links und rechts« (Heller 1930: 376), die »in merkwürdiger Übereinstimmung« die Verfassung in Grund und Boden kritisierten, anstatt sie – »wenn es sein muss mit der Waffe in der Hand« (Heller 1930: 377) – gegen alle Gewaltideologien zu verteidigen. Noch ablehnender fiel die Kritik von Arkadij Gurland aus. In seiner Rezension für die linkssozialistische ›Bücherwarte‹ lobte er zwar Kirchheimers Hinweis darauf, dass es sich bei allen Verfassungsfragen letztlich um Machtfragen handele, bemängelte dann aber umso schärfer, dass Kirchheimer seine Überlegungen »leider mehr auf summarische Feststellungen« beschränke, statt solche rechtssoziologischen Zusammenhänge konkret aufzuzeigen. Gurland identifizierte Schmitt als den schlechten Lehrmeister Kirchheimers für derartige Abstraktionen, die im Ergebnis dazu führten, den Weimarer Parlamentarismus für die Arbeiterbewegung zu sehr geringzuschätzen. In dieser politischen Konsequenz sah Gurland auch das »Bedenkliche dieser Schrift«, die seiner Meinung nach »nicht in eine Schulungsbibliothek hineingehört, wie es die Jungsozialistische Schriftenreihe sein soll« (Gurland 1930 b: 136). Weitaus positiver fiel demgegenüber das Urteil über die Schrift von Carl Schmitt aus. Er lobte die Abhandlung als eine »hochinteressante Schrift« und bezog sich dabei vor allem auf Kirchheimers These einer Verfassung ohne Entscheidung (vgl. Schmitt 1932 b: 195). Dieses Schmitt’sche Lob griff wiederum der ansonsten so zurückhaltende Rudolf Smend in seiner öffentlichen Kritik an Schmitt bei einem Festvortrag am 18. Januar 1933 auf. Er attestierte Kirchheimer eine »folgenrichtige Durchführung« (Smend 1933: 319) des Schmitt’schen Dezisionismus. Gegen beide gerichtet fuhr er dann aber fort: »Es ist aber nicht Sinn einer Verfassung, ›Entscheidung‹ im Sinne irgendeines sachlich folgerichtigen politischen Denksystems zu sein, sondern lebendige Menschen zu einem politischen Gemeinwesen zusammenzuordnen« (Smend 1933: 320). In einer Fußnote von Weimar ... und was dann? hatte Kirchheimer erklärt, dass er gern auch noch einen Abschnitt über Parteien und Abgeordnete in die Abhandlung aufgenommen hätte, dass dieser Abschnitt jedoch zu seinem Bedauern »dem Raumzwang zum Opfer« (S. 223) gefallen sei. Einen gewissen Ersatz dafür bietet der Text Die Problematik der Parteidemokratie. Kirchheimer befasst sich in diesem Beitrag mit den Thesen des deutsch-russischen Journalisten und SPD-Parteifunktionärs Alexander Schifrin über den Parteiapparat der SPD und die Parteidemokratie, die im Juni-Heft der ›Gesellschaft‹ erschienen waren (vgl. Schifrin 1930). Kirchheimer verfasste eine umfassende Erwiderung für die ›Gesellschaft‹ zu Schifrins Aufsatz, die dort allerdings nicht
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publiziert wurde. Warum sich der leitende Redakteur Albert Salomon gegen den Abdruck entschied, ließ sich nicht in Erfahrung bringen; bezüglich Form und Inhalt weist das Manuskript, das nach seinem Auffinden im Bundesarchiv im Jahre 1994 von Karsten Linne erstmals (in einer von unserer Edition nur geringfügig abweichenden Fassung) publiziert wurde, keine gravierenden Qualitätsunterschiede zu anderen Texten von Kirchheimer auf.82 Schifrin hatte in seinem Artikel geradezu erbost auf die neuerliche breite Rezeption reagiert, die Robert Michels mit seinem Gesetz der zwangsläufigen Oligarchiebildung auf Seiten der Parteilinken erfuhr. Gegen deren Kritik verteidigte er die bestehende Arbeiterbürokratie. Sie erfülle eine positive Funktion im Klassenkampf und die Parteifunktionäre fungierten im Alltag als »lebendige Ströme« zwischen Arbeiterschaft und Parteispitze. Kirchheimer hält in seinem Artikel nicht viel von dieser Apologie des innerparteilichen Status quo. Er schließt sich der Kritik der zu politischen Aktionen drängenden Gruppen in seiner Partei am linken Flügel an, die einen Mangel an innerparteilicher Demokratie beklagten und den Führungsstil in der SPD für die »Entpolitisierung« (S. 356) der Arbeiterschaft verantwortlich machen.83 Den von Michels verfochtenen parteisoziologischen Ansatz verfolgt Kirchheimer insofern weiter, als er einen generellen Konzentrationsprozess der ökonomischen und sozialen Kräfte in hochkapitalistischen Gesellschaften als tiefere Ursache dieses Verlustes an innerparteilicher Demokratie ausmacht. Wenn man die Demokratie in der Partei wieder stärken wolle, sei mit entsprechenden Appellen wenig auszurichten. Stattdessen bedürfe es institutioneller Reformen, wobei sich Kirchheimer für Rotationsverfahren, Unvereinbarkeitsregelungen und offener gestaltete Wahlen zu den Führungsgremien ausspricht. Als Maxime seiner Vorschläge formuliert er: »Oberster Grundsatz für eine sozialistische Partei muss es sein, den Willen ihrer Glieder zu erkunden und ihn entscheiden zu lassen« (S. 362). Die von Kirchheimer Anfang April geäußerte Prognose, dass die neue Regierung von Reichskanzler Brüning für die Durchsetzung ihrer Ziele auf den Diktaturartikel der Verfassung zurückgreifen würde, erwies sich ein Vierteljahr später als zutreffend. Brünings Kanzlerschaft war von Beginn an von der weltweiten Wirtschaftskrise und deren katastrophalen sozialen Folgen, die sie speziell in Deutschland mit seiner finan82 Kirchheimers Manuskript wurde an die Zeitschrift ›Die Arbeit‹ weitergereicht, in deren Archiv es aufgefunden wurde. Zur ersten Edition des Manuskripts vgl. Linne (1994). 83 Zur zeitgenössischen Debatte über die innerparteiliche Demokratie in der SPD vgl. Lösche (1982).
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ziellen und wirtschaftlichen Abhängigkeit von den USA hatte, überschattet. Angesichts der immer weiter eskalierenden Krise erwies sich Brünings im April verkündeter Haushaltskonsolidierungsplan bereits nach wenigen Wochen als Makulatur. Nach mehreren vergeblichen Konsolidierungsversuchen schlug er im Juni 1930 ein neues Maßnahmenpaket vor, das die Einführung eines ›Notopfers‹ aller Festbesoldeten und eine ungestaffelte Kopfgeldabgabe (›Bürgersteuer‹ genannt) als staatliche Einnahmequelle beinhaltete. Doch auch für diesen Vorschlag ließ sich im Reichstag keine Mehrheit gewinnen, denn die SPD lehnte die Kopfgeldabgabe als sozial ungerecht ab. Noch während der parlamentarischen Debatte über das Maßnahmenpaket im Reichstag am 16. Juli 1930 kündigte Hindenburg für den Fall ihrer Ablehnung die Anwendung des Artikels 48 und die Auflösung des Reichstags an. Dennoch erhielt die Regierungsvorlage keine Mehrheit im Parlament. Noch am selben Tag wurden Teile des Maßnahmenpaketes als Notverordnung dekretiert und für den 14. September Neuwahlen angesetzt. Am 26. Juli wurde die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten für die Durchsetzung eines noch umfangreicheren Maßnahmenpaketes genutzt, bei dem das Budgetrecht aus den Händen des Parlaments in die der Regierung gelegt wurde. Die SPD empörte sich nicht weniger über die Inhalte dieser Notverordnungen als über das Vorgehen von Präsident und Regierung. Aus ihrer Sicht handelte es sich bei diesem Rückgriff auf Artikel 48 um einen offensichtlichen Verfassungsbruch.84 Vier Tage nach der Verkündung des großen Notverordnungspaketes veröffentlichte Otto Kirchheimer am 30. Juli 1930 in der ›Tribüne‹ einen Kommentar zur neuen politischen Lage. Unter der Überschrift Bürgertum am Scheideweg skizzierte er in groben Strichen seine Sicht der veränderten politischen Konstellationen im bürgerlichen Lager. Die Wirtschaftskrise habe die Parteienlandschaft des bürgerlichen Lagers vollständig umgewühlt. Viele proletarisierte Angestellte und Kleinbeamte würden nun die unsozialen Auswirkungen der Brüning‘schen Politik am eigenen Leibe zu spüren bekommen, wollten aber ihr bürgerliches Bewusstsein nicht aufgeben und wendeten sich den Nationalsozialisten zu. Kirchheimer bezeichnete die NSDAP als eine neue »dritte Front« (S. 330) neben den traditionellen bürgerlichen Parteien und denen der Arbeiterbewegung. Die Rechtsparteien im bürgerlichen Lager, und hier vor allem die DNVP, sah er vor die Entscheidung zwischen zwei politischen Handlungsoptionen gestellt. In diesem »Methodenstreit im Bür84 Zur zeitgenössischen staatsrechtlichen Debatte über diese Notverordnungen vgl. die zitierte Literatur in Huber (1984: 765-770).
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gertum auf dem Weg zur vollen Bürgerherrschaft« (S. 332) können sie sich entweder von ihren putschistischen Wurzeln aus den ersten Nachkriegsjahren lösen und loyale republikanische Parteien werden. Die andere Option ist, dass sie dem strategischen Kurs von Alfred Hugenberg folgen und das Bündnis mit den zunehmend erstarkenden Nationalsozialisten suchen, verbunden mit der Hoffnung, anstelle der antikapitalistischen Programmteile dieser Partei das einigende Moment eines militanten Nationalismus in den Vordergrund schieben zu können. Kirchheimer beurteilte Hugenbergs bisheriges Vorgehen als ebenso erfolgreich wie gefährlich. Ihm sei es mit seinem in der DNVP verfolgten rigiden Obstruktionskurs gelungen, die Partei von der parlamentarischen Zusammenarbeit mit Brüning abzuhalten und damit »den entscheidenden Stoß gegen den Parlamentarismus« (S. 331) geführt zu haben. Von den anstehenden Wahlen am 14. September erwartete Kirchheimer keine Besserung der Situation, sondern eine Stärkung des extrem rechten Lagers. Für die Arbeiterbewegung werde es unter solchen Umständen um das schiere politische Überleben gehen und er prophezeite: »Siegt Hugenberg im Bürgerlager, so geht es um Leben und Existenz der proletarischen Partei selbst« (S. 332). Im August 1930 veröffentlichte Kirchheimer im ›Klassenkampf‹ unter der Überschrift Artikel 48 und die Wandlungen des Verfassungssystems einen weiteren, kürzeren Beitrag zu den aktuellen politischen Geschehnissen. Viele sozialdemokratische Parteigenossen stünden auch jetzt noch ratlos vor der Veränderung, die mit der Amtsübernahme Brünings eingetreten sei. »Sie wollen nicht glauben, dass das liebgewordene Bündnis der Weimarer Verfassungsparteien auf immer gelöst« (S. 349) sei und hoffen auf eine Wiederherstellung der proletarisch-bürgerlichen Arbeitsgemeinschaft. Kirchheimer zufolge hätten sich jedoch aufgrund der veränderten weltwirtschaftlichen Interessen des Bürgertums die sozialen Grundlagen des bisherigen Verfassungssystems grundlegend verändert. Die Regierung sei zu einer selbständigen Vertretung des Bürgertums avanciert, ohne dass es aus dessen Sicht noch eines Parlaments bedürfe. Bei sämtlichen vorherigen Anwendungsfällen des Artikels 48 habe es eine unausgesprochene Akzeptanz der Notverordnungen durch die Sozialdemokratie und die bürgerlichen Parteien gegeben und damit eine stillschweigende Mehrheit unter den im Reichstag vertretenen Parteien. Jetzt geschahen die Anwendungen jedoch erstmals explizit gegen den Willen der Sozialdemokratie und auch einer breiten protestierenden Mehrheit im Parlament. Kirchheimer sieht in den Anwendungen des Artikels 48 durch Brünings Regierung eine neue Qualität in der stufenweisen Auflösung des Weimarer
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Legalitätssystems. Für den begonnenen Wahlkampf gab er seiner Partei den so kämpferischen wie hilflosen Appell auf den Weg, »ihren Anhängern gegenüber keinen Zweifel darüber aufkommen [zu] lassen, dass die Zeit der Kompromisse vorüber ist und die Zeit der staatserhaltenden Selbsterhaltung begonnen hat« (S. 353).85 Bei den Wahlen am 14. September 1930 konnte die SPD ihren Stimmenanteil nicht erhöhen, sondern musste leichte Verluste hinnehmen. Einen erdrutschartigen Stimmengewinn verzeichnete die NSDAP. Die politischen Parteien, die Brünings Politik unterstützt hatten, mussten zum Teil massive Verluste hinnehmen. Dennoch war es nach der Wahl rein rechnerisch möglich, einer Großen Koalition im Reichstag die entsprechende Mehrheit zu verschaffen. Der sozialdemokratische Ministerpräsident von Preußen, Otto Braun, sprach sich unmittelbar nach der Wahl für eine solche »Koalition der Vernünftigen« aus. Brüning berief sich jedoch auf den »Auftrag« Hindenburgs, es zu keiner neuerlichen Regierungsbeteiligung der SPD kommen zu lassen und lehnte den Vorschlag ab. Obwohl der Partei dadurch eine vermutlich quälende innerparteiliche Diskussion erspart blieb, geriet die SPD dadurch in eine prekäre Situation. Zum einen wollte sie mit allen Mitteln die NSDAP von der politischen Macht fernhalten und zum anderen war sie auf eine gewisse Kooperation der Zentrumspartei Brünings angewiesen, um ihre Regierung im ›Roten Preußen‹ politisch an der Macht zu halten. Vor diesem Hintergrund verständigte sich die Parteiführung der SPD Ende September 1930 in vertraulichen Gesprächen mit Brüning, seine Regierung zu tolerieren, was bedeutete, dass die SPD im Reichstag kein Misstrauensvotum gegen die Regierung unterstützen würde. Im Gegenzug erwartete sie gewisse informelle Rücksichtsnahmen auf ihre politischen Ziele. Brünings Präsidialkabinett konnte sich bis zum 30. Mai 1932 halten. Aus der Zeit zwischen Juni 1930 und Februar 1932 stammen drei weitere Buchbesprechungen, die Kirchheimer für ›Die Gesellschaft‹ verfasste und in denen er sich mit völkerrechtlichen Fragen und dem Thema Faschismus beschäftigte. Die erste Besprechung galt dem Buch Das Völkerrecht der Übergangszeit des Moskauer Rechtswissenschaftlers Eugene Korovine, das als offiziöse Darlegung der neuen sowjetischen
85 Innerhalb der SPD stellte Kirchheimer seine Überlegungen über »Die politischen Parteien und die Wahlen« am 12. August 1930 im Bezirk Neukölln und am 4. September bei den Berliner Jungsozialisten zur Diskussion (vgl. Veranstaltungshinweise in: ›Vorwärts‹ vom 12. August und vom 4. September 1930).
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Völkerrechtsdoktrin galt.86 Korovine verwarf die Auffassung eines universell gültigen Völkerrechts und begründete seine These eines Völkerrechtspluralismus mit dem Argument, dass es zwischen der Sowjetunion und der übrigen kapitalistischen Welt an dem für eine Völkerrechtsgemeinschaft notwendigen Minimum an Homogenität fehle. Kirchheimer kritisierte Korovines Position als »voluntaristische Völkerrechtsauffassung« (S. 324) und warf ihm zudem vor, dass er angesichts des Imperialismus der führenden Industriestaaten irre, wenn er die kapitalistische Welt als wert- und interessenhomogen bezeichne. Kirchheimer sprach sich im Namen einer »Völkerrechtslehre, die wahrhaft realistisch sein will« (S. 327), dennoch für die universelle Geltungsdoktrin aus. Als Quelle eines solchen Rechts sah er aber keine geteilten Wertüberzeugungen, sondern das Interesse in allen Staaten der Welt – auch der Sowjetunion – an gemeinsamen wirtschaftlichen und technischen Vereinbarungen. Korovines Buch wurde vier Jahre später auch von Carl Schmitt rezipiert. Er versah seine an Kirchheimer angelehnte Interpretation der Schrift jedoch mit einer diametral anderen politischen Stoßrichtung: Für ihn diente es als ein weiterer Beleg eines unvereinbaren völkerrechtlichen Rechtspluralismus und die Berechtigung der neuen nationalsozialistischen Außenpolitik des Jahres 1934 (vgl. Schmitt 1934: 399). In einer weiteren völkerrechtlichen Miszelle setzte Kirchheimer sich mit dem Buch von Georg Schwarzenberger Die Kreuger-Anleihen auseinander (vgl. Schwarzenberger 1932). Wie Kirchheimer stammte Schwarzenberger aus Heilbronn. Als Schüler von Carlo Schmid und Gustav Radbruch gehörte er zu einer Generation junger sozialdemokratischer Juristen, die sich auf völkerrechtliche Fragen spezialisierten (vgl. Steinle 2004). Der schwedische Konzern Ivar Kreuger hatte seit Mitte der 1920er Jahre einer Reihe finanziell unter Druck stehenden Regierungen in Europa Kredite gewährt und sich dafür im Gegenzug das Zündholzmonopol garantieren lassen. Im Januar 1930 stimmte auch in Deutschland der Reichstag mit den Stimmen der Großen Koalition einer solchen Monopolgarantie zu, die bis 1983 Gültigkeit hatte. Der Unmut über Kreugers Monopol und die auf sie folgenden Preiserhöhungen für Streichhölzer waren fortan ein ständiges Thema in der Weimarer Öffentlichkeit. Kirchheimer nimmt Schwarzenbergers Analyse des Vertragswerks zum Anlass, das Augenmerk der Völkerrechtwissenschaft grundsätzlicher auf das Verhältnis von Vertragsbindung und 86 Vgl. Korovine (1930). Zur Bedeutung dieses Buches für die zeitgenössische Völkerrechtsdebatte vgl. Flechtheim (1936).
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staatlicher Souveränität zu lenken. Er spricht sich gegen Versuche amerikanischer Organisationen aus, als »eine Art kapitalistisches Zivilisationsminimum« (S. 374) die Eigentumsrechte von Ausländern im Namen eines angeblich allgemeinen Völkerrechts dem Zugriff von Nationalstaaten zu entziehen. Zwar plädiert auch er erneut dafür, von einem allgemein gültigen Völkerrecht auszugehen. Er möchte aber in »weiser Selbstbeschränkung der Grenzen jeder Jurisprudenz […] als Völkerrechtsgrundsätze nur diejenigen [ansehen], die alle irgendwie in Betracht kommenden Staaten der Erde ohne Gefährdung ihres sozialen Status anzuerkennen in der Lage sind« (S. 375). Das unbeschränkte Recht auf Privateigentum gehöre eindeutig nicht zu einem solchen Minimalkatalog. In der Konsequenz spricht Kirchheimer damit die völkerrechtliche Unbedenklichkeit für eine einseitige Auflösung des Monopolvertrages der Reichsregierung mit dem Kreuger-Konzern aus. Eine dritte Buchbesprechung erschien 1932 im Februar-Heft von ›Die Gesellschaft‹. Kirchheimer rezensiert in ihr das Buch Der Staatsstreich von Curzio Malaparte,87 einer in breiten Kreisen mehrerer Länder Europas gelesenen Rechtfertigung des Staatsstreichs. Der deutschstämmige Schriftsteller und ehemalige italienische Diplomat war ein Veteran des italienischen Faschismus. Zur Zeit des Erscheinens seines Buches auf dem deutschen Buchmarkt war er Chefredakteur der Turiner Tageszeitung ›La Stampa‹. Kirchheimer empfahl aus dem aus seiner Sicht fesselnd geschriebenen Buch zwei historische Kapitel der besonderen Aufmerksamkeit. Einmal Malapartes Beschreibung des faschistischen Staatsstreichs 1922 in Italien, in dem der Zeitzeuge schildert, wie sang- und klanglos die Republik nach dem Marsch auf Rom zusammenbrach. Zum anderen als Gegenbeispiel die Schilderung des Endes des sowjetisch-polnischen Krieges 1920. Kirchheimer zufolge hätte das Warschauer Proletariat im Frühjahr 1920 »lediglich einen kleinen Trupp entschlossener Männer« (S. 371) gebraucht, um die politische Macht zu ergreifen. Malapartes Vorwurf an die Nationalsozialisten, dass sie wüste Hetzjagden auf Arbeiter veranstalten, erfuhr besondere Hervorhebung. Noch mehr aber empfahl Kirchheimer seinen Lesern das von Malaparte gezeichnete Bild Hitlers als einer bloßen Mussolini-Karikatur, der in Deutschland niemals an die Macht gelangen werde, weil er sich in seinem politischen Opportunismus auf parla-
87 Vgl. Malaparte (1932). Zu seiner Biographie und seinem Werk vgl. Liesegang (2011).
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mentarische Methoden festgelegt habe. Eine Einschätzung, die auch von führenden Kreisen der Weimarer SPD geteilt wurde.88
7. Legalität und Legitimität Kirchheimer hatte mit seiner Rückkehr nach Berlin die Verbindungen zum akademischen Betrieb sogleich wieder aufgenommen und dabei insbesondere den erneuten Kontakt zu Smend und Schmitt gesucht. Sein Interesse war auf positive Resonanz gestoßen. Smend lud Kirchheimer ein und machte seinen Aufsatz über die Staatstheorien des Sozialismus und Bolschewismus in Verbindung mit Texten von Schmitt und Trotzki zur Seminarlektüre an der Berliner Universität (vgl. Briefwechsel Schmitt/Smend 2011: 80). Auch mit Schmitt verkehrte Kirchheimer weiter regelmäßig und nahm als Externer an dessen semesterübergreifendem Seminar »Staatstheorien der Gegenwart« an der Handelshochschule teil. Kirchheimer brachte mit Franz L. Neumann und Ernst Fraenkel zwei weitere Externe in das Seminar und weckte Schmitts Interesse auch an deren Arbeiten.89 In den Tagebüchern von Schmitt finden sich ab November 1930 insgesamt 18 Tagebucheintragungen über Kirchheimer. Darin sind Notizen über Kirchheimers Anwesenheit bei den regelmäßigen Gaststättenbesuchen im Anschluss an das Seminar, gemeinsame Spaziergänge und Fahrten mit der S-Bahn, kurze Besuche in Schmitts Haus sowie ein Gegenbesuch von Schmitt bei Kirchheimer und seiner Frau und deren Baby festgehalten. Die Eintragungen dieser Zeit lesen sich fast wortgleich mit denen aus der Bonner Zeit. Die Gespräche mit Kirchheimer seien »ganz nett« (6. November 1930), er habe ihn »gern« (14. März 1931), seine Thesen im Seminar seien »klug« (30. Juli 1931).90 Das sollte sich aber bald ändern. Verglichen mit der ausgesprochen publikationsfreudigen Phase vom Frühjahr 1928 bis zum Sommer 1930 ist die Zahl der Publikationen Kirchheimers in den folgenden zwei Jahren bis zum Sommer 1932 auffallend gering. Für dieses nahezu vollständige publizistische Verstum88 Im Rückblick hat Franz L. Neumann den Glauben führender SPD-Politiker an die Voraussage Malapartes für deren Fehleinschätzungen in den letzten Monaten der Weimarer Republik verantwortlich gemacht (vgl. Neumann 1944: 58 und 68 f.). 89 Zum Austausch zwischen Fraenkel, Neumann und Schmitt vgl. Breuer (2012: 111-142). 90 Die Zitate stammen aus den bereits veröffentlichten Tagebüchern von Schmitt aus den Jahren 1930-34 (Schmitt 2010).
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men gibt es ein Bündel von persönlichen Gründen. Zum einen waren Hilde und Otto Kirchheimer am 16. Dezember 1930 Eltern einer Tochter Hanna geworden und Otto Kirchheimer hatte große Probleme, sich auf die dadurch entstandene Lebenssituation und Verantwortung einzustellen. Auch politisch gab es zwischen den Eheleuten immer häufiger Streit. Hilde Kirchheimer-Rosenfeld wendete sich von der SPD ab und der KPD zu. Die heftigen politischen Debatten zwischen den Ehepartnern trugen erheblich dazu bei, dass sie sich im Laufe des Jahres 1931 trennten, aber aus Sorgerechtsgründen keine Scheidung einreichten. Hilde Kirchheimer zog mit der Tochter zurück zu ihrem Vater, um die nötige Ruhe für die Vorbereitungen auf ihr Assessorexamen zu haben. Nachdem sie es bestanden hatte, trat sie 1932 als Rechtsanwältin in die Kanzlei ihres Vaters ein. Sie arbeitete für die Rote Hilfe und verteidigte unter anderem Georgi Dimitroff und Ernst Thälmann (vgl. Ladwig-Winters 2007: 195). Otto Kirchheimer legte am 2. Juni 1931 zum Abschluss des Referendariats die Große Staatsprüfung erfolgreich ab; der erste Prüfungstag ergab die Bewertung »ausreichend«, der zweite die Note »gut« und die Gesamtnote lautete »voll befriedigend«.91 Nach dem Bestehen des Examens wusste Kirchheimer nicht so recht, welchen beruflichen Weg er einschlagen sollte. Seine Leidenschaft schlug für eine wissenschaftliche Karriere, er sah dafür in der gegenwärtigen Situation an den deutschen Universitäten aber kaum realistische Chancen. Gewisse Erfahrungen in der Lehre erwarb er in seiner gelegentlichen Dozententätigkeit an der Gewerkschaftsschule Berlin. Sie war eine Gründung der Rätebewegung von 1919 und hatte sich von einem revolutionären Bildungsinstitut zu einer Einrichtung fachbezogener Funktionärsausbildung für Betriebsräte entwickelt.92 Kirchheimer gab an der Berliner Gewerkschaftsschule Kurse über Arbeitsrecht und über moderne europäische Geschichte.93 Eine im Dezember 1930 bei der Rockefeller-Foundation eingereichte Bewerbung für ein einjähriges Forschungsstipendium in den USA, die von Schmitt gutachterlich unterstützt worden war,94 hatte anders als die ebenfalls von Schmitt protegierte Bewerbung von Leo Strauss keinen Erfolg. Auch seine der puren 91 Bundesarchiv Berlin, R 3001, 6322, Akte des Justizministeriums betreffend Dr. Otto Kirchheimer, Bl. 9. 92 Zur Geschichte und Entwicklung der Berliner Gewerkschaftsschule vgl. FeidelMertz (1972: 70-86) und Olbrich (2001: 185-192). 93 Otto Kirchheimer, Curriculum Vitae (undatiert, ca. 1939). Emergency Committee in Aid of Displaced German/Foreign Scholars, Public Library, New York. I, A Grantees 1933-46, Box 18, Folder 13 (Kirchheimer, Otto). 94 Schmitt lobte in dem Gutachten folgende »besonderen Vorzüge von Kirchheimers Arbeits- und Produktionsweise«: einen »guten Blick für die soziologischen und geschichtlichen Verhältnisse und Entwicklungen, aus denen sowohl die
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beruflichen Verzweiflung geschuldete Bewerbung für Tätigkeiten im preußischen Verwaltungsdienst Ende 1931 blieb erfolglos.95 Es musste Geld verdient werden. Von dem Ererbten war ihm nichts geblieben, was auch einigen Fehlschlägen bei Spekulationen an der Börse geschuldet war. Finanziell sah er sich der Erwartung ausgesetzt, einen Beitrag zum Lebensunterhalt der Familie zu leisten. Carl Schmitt notierte dazu in seinem Tagebuch: »Kirchheimer war bedrückt, weil er kein Geld verdient« (Schmitt 2010: 146). Kurt Rosenfeld, zu dem Kirchheimer trotz der Trennung von dessen Tochter weiterhin ein gutes Verhältnis hatte, riet, eine Anwaltspraxis zu eröffnen. Kirchheimer folgte diesem Rat und entschloss sich, sein berufliches Glück als einer von mehr als 3.000 Rechtsanwälten in Berlin zu versuchen. Seine gesamte persönliche Situation und unklaren beruflichen Aussichten stürzten ihn nach dem Bericht seines Jugendfreundes Eugene Anschel in eine tiefe persönliche Krise, woraus sich erklären mag, warum es zu der beschriebenen Veröffentlichungspause kam. Kirchheimers Zulassung als Rechtsanwalt bei der Berliner Anwaltskammer erfolgte im Januar 1932. Er betrieb – wie viele Anwälte in der damaligen Zeit – seine Rechtsanwaltspraxis in seiner Privatwohnung. Nach der Trennung von seiner Frau war er in eine kleine Wohnung im Zikadenweg 78, im Wohngebiet Eichkamp im Westen Berlins zwischen Halensee und Westend gelegen, gezogen. Da er als rechtsanwaltlicher Novize noch keine eigene Klientel hatte, übernahm er einige Fälle aus der Anwaltspraxis seines Schwiegervaters. Auch von Ernst Fraenkel und Franz Neumann, die sich im Sommer 1931 zu einer gemeinsamen Praxis im neugebauten Haus des Metallarbeiterverbandes in der Alten Jacobstraße in Berlin-Kreuzberg zusammengeschlossen hatten, konnte er Fälle übernehmen und hielt sich häufiger in deren Kanzlei auf. Zusätzlich wurde er von den beiden und von Otto Kahn-Freund als Lehrer an Gewerkschaftsschulen auf Honorarbasis vermittelt. Auch wenn er publizistisch eine Weile nicht in Erscheinung trat, beteiligte er sich in verschiedenen Kreisen an den Gesprächen und Diskussionen über aktuelle politische und staatsrechtliche Fragen. Er hielt den Austausch mit den zur SAP abgewanderten Genossen der Zeitschrift ›Klasjuristischen Begriffe wie die theoretischen Argumente entstanden sind«. Kirchheimers Eigentumsschrift bezeichnet er als »eine der besten deutschen Arbeiten über den Enteignungsbegriff«. Gutachten Carl Schmitt für die Rockefeller Foundation über den Antrag von Otto Kirchheimer vom 4. Dezember 1930. In: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-13422/1-2. 95 Vgl. Bundesarchiv R 3001, 6322, Akte des Justizministeriums betreffend Dr. Otto Kirchheimer, Bl. 14.
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senkampf‹ aufrecht und beteiligte sich an Veranstaltungen des Republikanischen Richterbundes in Berlin. Er hatte auch Kontakt zu Wolfgang Abendroth, der in der KPD-Opposition aktiv war, einer Gruppe ehemaliger KPD-Mitglieder, die sich dem Vorhaben einer Einheitsfront der beiden Arbeiterparteien im Kampf gegen den Nationalsozialismus verschrieben hatten (vgl. Abendroth 1976: 145 f.). Und weiterhin erschien er regelmäßig zu den Treffen des Kreises der gemäßigten Sozialdemokraten um ›Die Gesellschaft‹ im Café Dümichen in der Linkstraße in Berlin-Mitte. Susanne Suhr, die über ihren Mann Anfang der dreißiger Jahre zum engen Freundeskreis von Fraenkel und Neumann gehörte und in deren Haus auch Kirchheimer häufiger zu Gast war, beschrieb den diskussionsfreudigen Kirchheimer rückblickend in einem Gespräch mit Alfons Söllner folgendermaßen: »Das war ein ganz brillanter, aber letztlich an praktischer Politik desinteressierter junger Intellektueller« (vgl. Erd 1985: 42). Die Rückkehr von Kirchheimer auf die Publikationsbühne erfolgte fast gleichzeitig mit dem schrittweisen Abgang Heinrich Brünings von der politischen Bühne. Im Verlauf des Jahres 1931 hatte der Reichskanzler zusehends an Unterstützung für seine Politik im Reichspräsidialamt verloren. Von einer wirtschaftlichen Wende in Richtung Aufschwung war nichts zu erkennen und die Bilanz seiner Politik waren Massenelend und das Erstarken der Rechtsextremisten. Ihre fortgesetzte Tolerierungspolitik wurde für die SPD zu einer immer größeren Zerreißprobe. Die Parteilinken hatten diesen Kurs von Beginn an mit dem Argument abgelehnt, dass sich die Gefahr des Faschismus nicht durch immer weitergehende Kompromisse mit den Exponenten des Kapitalismus, sondern nur durch dessen Beseitigung bannen lasse. Der SPDParteivorstand reagierte auf die zu jedem Anlass erneut vorgetragene Kritik der Linken mit nervöser Härte. Die Jungsozialisten wurden vom Parteivorstand als Organisation innerhalb der SPD für aufgelöst erklärt und im Herbst 1931 schloss die SPD den Wortführer der linken Opposition Kurt Rosenfeld zusammen mit Max Seydewitz aus der Partei und der Reichstagsfraktion aus. Zusammen mit Gesinnungsgenossen des linken Parteiflügels, Jungsozialisten und anderen Linkssozialisten wie Theodor Liebknecht gründeten die Ausgeschlossenen im Oktober 1931 eine neue Partei unter dem Namen Sozialistische Arbeiterpartei (SAP). Rosenfeld erhob mit seiner neuen Partei vollmundig den Anspruch, dass sich daraus die neue Einheitspartei von SPD und KPD entwickeln werde. Das Vorhaben missglückte kläglich, die neue Partei kam über den Status einer politischen Sekte nicht hinaus. Zwar hatte die SAP vielfältigen Zuzug linkssozialistischer Intellektueller. Der erhoffte
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Erfolg bei den Wählermassen blieb aber aus; die beiden Reichstagswahlen 1932 endeten für sie katastrophal. Aufgrund dieser Niederlagen brach die SAP Anfang 1933 in inneren Kämpfen auseinander. Otto Kirchheimer hatte es abgelehnt, sich dem neuen Parteiprojekt seines Schwiegervaters anzuschließen. Die SPD besaß aus seiner Sicht zumindest den Vorzug einer tatsächlichen Verankerung in der Arbeiterschaft. Kirchheimers Artikel Legalität und Legitimität war seine erste längere Abhandlung nach nahezu zwei Jahren Pause. Der Text erschien im JuliHeft 1932 von ›Die Gesellschaft‹. Kirchheimer hatte seit Ende 1931 an diesem Artikel gearbeitet. Die Anregung dazu stammte aus Seminardiskussionen bei Carl Schmitt. Schmitt hatte im Januar 1932 in seinem Seminar die Begriffe ›Legalität und Illegalität‹ behandelt (vgl. Mehring 2009: 283) und hielt im Februar den Rundfunkvortrag Was ist legal?, ohne darin aber schon auf den Gegenbegriff ›Legitimität‹ zu rekurrieren.96 Aus dem Kreis um Schmitt beschäftigte sich auch Ernst Forsthoff mit der Thematik. In einem Brief an Schmitt vom Januar nahm er dessen verfassungspolitisches Credo vorweg »Es kommt demnach für mich nicht auf die Legalität, sondern nur auf die Legitimität, die politische Einstellung zur Fundamentalverfassung an«.97 An dieser auch von Schmitt verfochtenen Idee einer Art Superlegalität bestimmter Elemente der Verfassung arbeitete sich auch Kirchheimers Artikel ab, wenngleich mit einem soziologischen Ansatz und mit einer anderen politischen Stoßrichtung. Eine erste Textfassung hatte Kirchheimer Anfang April 1932 fertiggestellt und auch Schmitt zur Verfügung gestellt, der das Manuskript einige Tage darauf an Forsthoff weiterleitete. Die veröffentlichte Fassung des Artikels nimmt noch einige Detailinformationen und Literaturhinweise auf, die darauf schließen lassen, dass das Manuskript der Redaktion von ›Die Gesellschaft‹ Ende Mai 1932 abgeschlossen vorlag.98 96 Vgl. Schmitt (1932 d) und Brief Ernst Forsthoff an Carl Schmitt vom 8. April 1932. In: Briefwechsel Schmitt/Forsthoff (2007: 41). 97 Vgl. Brief Ernst Forsthoff an Carl Schmitt vom 23. Januar 1932, In: Briefwechsel Schmitt/Forsthoff (2007: 40). 98 Schmitt schickte das Typoskript am 14. April 1932 weiter nach Freiburg an Forsthoff. Vgl. die Erläuterungen der Herausgeber in: Briefwechsel Schmitt/ Forsthoff (2007: 359). Ein Textvergleich zwischen dieser Manuskriptversion mit seinen in der Handschrift von Kirchheimer eingetragenen Überarbeitungen und der publizierten Druckfassung ergibt insgesamt 34 Formulierungsabweichungen, die aber alle ohne größere inhaltliche Bedeutung sind. Die einzige signifikante Veränderung findet sich in den Literaturverweisen in den Fußnoten. Von den vier Literaturhinweisen, die auf Texte von Carl Schmitt verweisen, findet sich im Typoskript der Erstfassung nur ein einziger (die Fußnote 5 im abgedruckten Text). Ein weiterer Verweis auf Schmitt (Fußnote 3) ist von Kirchhei-
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Kirchheimer wusste während der Abfassung seines Artikels noch nichts von der klandestin vorbereiteten Ablösung Brünings, die am 30. Mai 1932 zu dessen Rücktritt führen sollte. Gleichwohl liest sich der Artikel wie eine abschließende Bilanz der während der Ära Brüning erfolgten Veränderungen in der Republik. Die zentrale These der verfassungspolitischen Momentaufnahme Kirchheimers lautet, dass es in Deutschland ohne formelle Änderungen der Verfassung zu einem »Strukturwandel des Legalitätsbegriffs« (S. 381) und damit zu einem tiefgreifenden Verfassungswandel gekommen ist. Die Periode der parlamentarisch-demokratischen Legalordnung der Republik ist von einer neuen Legitimitätsordnung abgelöst worden. Die »neue legitime Macht« (S. 377) im Staate ist das Berufsbeamtentum in Verbund mit der sie stützenden Reichswehr und Justiz. Um seine Transformationsthese zu belegen, zieht Kirchheimer Texte von drei Autoren heran, die er als wichtige rechtswissenschaftliche Unterstützer dieses Wandels identifiziert: Carl Schmitt, Ernst Rudolf Huber und den schon seit 1930 offen mit der NSDAP sympathisierenden Otto Koellreutter. Das zentrale Merkmal von rational gewordenen Rechtsordnungen besteht darin, dass sie das Recht gleichermaßen ohne Ansehen der Person anwenden. Auch den Gegnern des jeweils geltenden Sozialsystems räumen sie die formale Gleichbehandlung ein. Und um diese Chance praktisch zu gewährleisten, bedarf es der Trennung von legislativer und exekutiver Gewalt. Wird diese Trennung von einer »gewaltenvereinende[n] Regierung« (S. 376), wie Kirchheimer es für das Notverordnungsregime Brünings konstatiert, aufgehoben, so schwindet die formale Gleichheitschance. Ein solches Regime muss sich dann darum bemühen, die Einbuße der unzweifelhaften Rechtsgrundlage seines Handelns durch Parlamentsbeschluss dadurch zu kompensieren, dass es nach einer darüber hinausgehenden Legitimierungsinstanz sucht. Dieser Ersatzfunktion dient die Berufung auf die Amtsautorität des Reichspräsidenten. Faktisch aber, so führt Kirchheimer weiter aus, hat die Vielzahl an präsidentiellen Ermächtigungen des Regierungshandelns unter Zuhilfenahme des Artikels 48 eine Situation erzeugt, in der das Berufsbeamtentum in die Position der neuen legitimen Macht der Republik schlüpfen konnte. Die Notverordnungspraxis der Regierung Brüning ist durch Unbestimmtheit ihrer Normierungen, durch unklare mer handschriftlich nachgetragen, zwei weitere Verweise auf ihn (Fußnoten 15 und 25) finden sich noch nicht, sondern müssen erst kurz vor der Drucklegung von Kirchheimer nachträglich eingefügt worden sein. (Ich danke Jürgen Tröger für die großzügige Überlassung einer Kopie dieses Typoskriptes aus dem Nachlass von Ernst Forsthoff).
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Formulierungen, durch häufig wechselnde Regelungen und durch Blankovollmachten an die Behörden geprägt. Dadurch hat die Bürokratie die Möglichkeit erhalten, die Verordnungen in ihrem Sinne auszuführen und alle von ihr getroffenen Maßnahmen als legitimiert auszuweisen. Kirchheimers analytischer Schlüsselbegriff für diese Konstellation ist die »zweistufige Legalität« (S. 379).99 Die Idee zu dem Begriff geht zurück auf den französischen Rechtstheoretiker Maurice Hauriou, der in der französischen Verfassung eine »superlégalité constitutionelle« eingeschrieben sah (vgl. Hauriou 1923: 297). In Deutschland käme diese Problematik Kirchheimer zufolge deshalb besonders zum Tragen, weil eine Vielzahl an materiell-rechtlichen Bestimmungen im zweiten Teil der Verfassung geradezu als Einladung verstanden werden müsste, den Gesetzgeber bei einer jeden nicht genehmen Entscheidung mit der Behauptung zu konfrontieren, sie verstoße gegen die Verfassung. Doch anders als Carl Schmitt in seinem Der Hüter der Verfassung behauptet (vgl. Schmitt 1931: 91), sei in Deutschland aufgrund der Vielzahl der Bestimmungen des zweiten Hauptteils die konsequente Formalisierung und Technisierung des Gesetzesbegriffs zwar erschwert, aber nicht prinzipiell unmöglich gemacht. Der von Schmitt zur Verteidigung des Präsidialregimes behauptete Pluralismus der Legalitätsbegriffe habe in Deutschland »noch nicht Platz gegriffen« (S. 379). Schon vor der Installierung des Brüning‘schen Notverordnungsregimes konnte die Bürokratie in Deutschland deshalb zwar gelegentlich zur »Siegelbewahrerin« (S. 379) dieser zweistufigen Legalität werden, wurde aber durch den funktionierenden Parlamentarismus zumeist in Schach gehalten. In seinem Artikel legt Kirchheimer für vier Bereiche dar, wie sich die Legitimitätsbasis der Republik sukzessive verschoben hat: Bei der Reichsregierung, bei den Länderregierungen, bei den politischen Parteien und bei der Arbeitsgerichtsbarkeit. Die Ausweitung der Handhabung des Artikels 48 für Notverordnungen mit unbestimmter oder unbegrenzter Geltungsdauer hat die Möglichkeiten der Überprüfung der Verwaltung an Maßstäben des Gesetzes zerstört. Jede Kritik an der offensichtlichen Illegalität einer per Notverordnung dekretierten Maßnahme oder ihre Auslegung durch die Bürokratie prallt an der Berufung auf die Legitimität der Regierung und der undiskutablen Richtigkeit ihrer Ziele und Handlungen ab. Dadurch sind sämtliche legalen Schranken für das Regierungshandeln verschwunden, die Regierung 99 Zur Rezeption dieser Argumentationsfigur in den rechtstheoretischen Debatten der Bundesrepublik der 1970er Jahre vgl. Preuß (1973) und Blanke (1984).
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legitimiert sich selbst. Einen parallel verlaufenden Wandel erkennt Kirchheimer in der zahlenmäßig zunehmenden Einrichtung von geschäftsführenden Regierungen auf Ebene der Länder. Sollte es zu der von Ernst Rudolf Huber im Frühjahr 1932 empfohlenen Ersetzung der Geschäftsregierungen durch Reichskommissare (vgl. Huber 1932) kommen, wäre dies ein weiterer Schritt in dem von ihm diagnostizierten Transformationsprozess. Eine gleichlaufende Entwicklung sieht Kirchheimer im Umgang mit den politischen Parteien. Grundsätzlich müssen nach dem Wortlaut der Weimarer Verfassung alle politischen Parteien gleich behandelt werden. Zu Recht hat es der Reichstag auch immer abgelehnt, einzelne politische Parteien und Gruppierungen unter besondere Strafgesetze zu stellen. Die Sozialvorstellungen in der Zielsetzung einer Partei sind ohne Belang für deren Legalitätsstatus; Einschränkungen ergeben sich höchstens aus den beiden Republikschutzgesetzen von 1921 und 1930, deren Bestimmungen sich jedoch auf konkrete strafbare Handlungen beziehen, die mit dem Ziel begangen werden, die Republik zu untergraben. Die dadurch nicht berührte grundsätzliche politische Gleichbehandlung der politischen Parteien sieht Kirchheimer durch die Konstruktion des Rechtsbegriffs einer »revolutionären Partei« durch Otto Koellreutter unterminiert. Kirchheimer erläutert den dadurch eintretenden legitimationspolitischen Wandel im Zuge einer Auseinandersetzung mit einem aktuellen Aufsatz von Koellreutter, in dem dieser im Ergebnis für ein Ende aller rechtlichen Beschränkungen der NSDAP und ihrer Kampfverbände und ein Verbot der KPD argumentierte (vgl. Koellreutter 1932). Kirchheimer führt gegen das Konstrukt des Rechtsbegriffs einer »revolutionären Partei« zum einen inhaltliche Einwände gegen die positive Bewertung der NSDAP ins Feld und spricht die Vermutung aus, dass es Koellreutter bei seinem Verdikt des Revolutionären »in erster Linie um die Umwandlung der Eigentumsordnung zu tun« (S. 387) sei. Er erhebt zum anderen grundsätzliche Einwände gegen eine solche Rechtsfortbildung, die zwischen legitimen und illegitimen Parteien unterscheidet. Die Weimarer Verfassung kenne keine Superlegalität ausgewählter Elemente ihres Normensystems. Damit aber sei es ausgeschlossen, dass es neben dem Begriff der Legalität ein zusätzliches materielles Kriterium für die rechtliche Bewertung einer politischen Partei geben kann. Genau dies aber sei in Deutschland bereits geschehen. Als Beispiel für diese Praxis nennt er einen Erlass des Reichswehrministers Wilhelm Groener aus dem Januar 1932, mit dem Stellenbewerber für die Reichwehr aus den Reihen der Mitglieder
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der NSDAP und ihrer Kampfverbände zugelassen wurden, die Einstellung Anhängern der KPD aber weiterhin versagt blieb. In einem kürzeren Abschnitt geht Kirchheimer auf Veränderungen im Arbeitsrecht ein. Er folgt hier im Wesentlichen der Kritik von Otto Kahn-Freund und Ernst Fraenkel an der jüngeren Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts.100 Zum einen hat sich das Reichsarbeitsgericht in seinen Urteilen zur Nichtanerkennung von Betriebsräten und gewerkschaftlichen Organisationen angemaßt, die Legitimität von potentiellen Tarifparteien einzuschränken. Zum anderen hat das Gericht die Freiheit der gewerkschaftlichen Betätigung in inhaltlicher Hinsicht eingeschränkt, als es für sich das Definitionsmonopol beanspruchte, was aus seiner Sicht eine legitime wirtschaftliche Zielsetzung und illegitime politische Zielsetzung eines Arbeitskampfes sei. Im Ergebnis seiner vierteiligen Analyse gelangt Kirchheimer zu dem Befund, dass der Begriff der Legalität in der Ära Brüning »einem sinnentleerenden Auflösungsprozess unterworfen« (S. 378) worden ist. Das parlamentarisch-demokratische System der Republik von 1919 bis 1930 habe sich im Rückblick als ein Zwischenstadium auf dem Weg zur Herrschaft des Berufsbeamtentums im Verbund mit Reichswehr und Justiz erwiesen. Die Bürokratie legitimiert sich als Regierung selbst, beschränkt mit der legitimen Partei die Freiheit ihrer Feinde und beherrscht das Arbeitsrecht mit der legitimen Tarifpartei und dem legitimen Arbeitskampf. Kirchheimer hatte mit dieser Diagnose Überlegungen aus den vorhergehenden drei Jahren weiterentwickelt und radikalisiert. 1929 hatte er im Aufsatz Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse die Verselbständigungstendenz der Bürokratie bemängelt und in Weimar … und was dann? 1930 die legitimierende Funktion des Reichspräsidenten und der Justiz kritisiert. Mit seiner Formel der »zweistufigen Legalität« fasst er diese Einzeltendenzen nun zu einer grundlegenden Transformationstendenz zusammen. So fundamental diese angelegt ist, so sehr bezweifelt er, dass sich die gegenwärtige Herrschaft der bürokratischen Aristokratie auf lange Sicht halten kann. Er sieht auch im gegenwärtigen Zustand nur ein weiteres verfassungspolitisches »Zwischenstadium« (S. 378). In Abgrenzung zum Plädoyer von Huber für einen autoritären Wirtschaftsstaat (vgl. Huber 1931) hält er die »soziale Basis« der Bürokratie für »zu schwach, als dass sie als überlegener Dritter zwischen den sich befehdenden Wirtschaftsgruppen 100 Vgl. Fraenkel (1932) und Kahn-Freund (1932).
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einen Ausgleich« (S. 394) zu schaffen vermöchte. Die Bürokratie wird sich nur dann noch eine Weile an der Macht halten können, wenn sie sich an extrem konservative gesellschaftliche Gruppen aus Kreisen der Agrarier, im kleinen Unternehmertum und im Militär, die den gegenwärtigen kapitalistischen Entwicklungsprozess zurückzudrehen versuchen, anlehnt. Noch aber gibt es eine gesellschaftliche Gegenkraft. Er sieht sie in dem »vorwärtsstrebende[n] Wille[n] der demokratischen Bevölkerungsmassen« (S. 394), ohne aber eine Prognose über den Ausgang dieser Konfliktlage zu geben.101 Der rechtsstaatliche Gesetzesbegriff stand auch im Zentrum der Auseinandersetzung Carl Schmitts mit dem bürgerlichen Rechtsstaat. Im Hüter der Verfassung hatte er sich grundsätzlich noch für die Gewaltenteilung zwischen Parlament, Regierung und Justiz ausgesprochen, sie allerdings für die Praxis als bereits weitgehend erodiert angesehen. In mehreren Vorträgen und kleineren schriftlichen Beiträgen aus der ersten Hälfte des Jahres 1932 kündigte er dann seine grundsätzliche Befürwortung des Gewaltenteilungsprinzips auf. Mit dem Aufstieg des Reichspräsidenten zu einem neuen Gesetzgeber und mit der Preisgabe der Unterscheidung von Gesetz und Maßnahme sei eine grundsätzliche Wandlung vom Gesetzgebungsstaat zum Verwaltungsstaat eingetreten. Bereits wenige Tage nach dem Amtsantritt Papens konnte er seinem Verleger das Manuskript einer aus den Vorträgen der vergangenen Wochen kompilierten Abhandlung mit dem Titel Legalität und Legitimität anbieten. Für Schmitt sollte der Titel der Broschüre den Übergang zu einer neuen politischen Ordnung signalisieren, den Übergang von der Ordnung der bisherigen Legalität zu einer höheren Legitimität. War für Kirchheimer die Verselbstständigung des Staates gegenüber der Gesellschaft das Problem, so war für Schmitt genau umgekehrt das Übergreifen der pluralistischen Gesellschaft auf den Staat die Ursache der Krise. Schmitts Abhandlung erschien Mitte August. Der Autor legte Wert auf den Eintrag in der Frontispiz-Seite, dass er die Abhandlung bereits am 10. Juli, also vor dem Staatsstreich in Preußen, abgeschlossen hatte. Schmitt bezog sich darin ausdrücklich auf Kirchheimers Analyse und erklärte zustimmend, dass er dessen zugespitzte Formulierung, die Legitimität der parlamentarischen Demokratie bestehe nur noch in ihrer Legalität, »für richtig« (Schmitt 1932 a: 14) erachte. Bei dieser Gelegenheit änderte Schmitt allerdings den Wortlaut von Kirchheimers Befund für seine eigenen argumentativen Zwecke. Denn während 101 Laut Veranstaltungsnotiz des ›Vorwärts‹ stellte Kirchheimer seine Thesen über Legalität und Legitimität am 2. Oktober 1932 bei der Zusammenkunft der Vereinigung Sozialdemokratischer Juristen in Berlin zur Diskussion.
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es bei Kirchheimer hieß, dass die Legitimität des Gesetzgebungsstaates »allein in ihrer Legalität« (S. 382) bestehe,102 so gab Schmitt das Zitat wieder als »nur noch in ihrer Legalität« (vgl. Schmitt 1932 a: 14). Er reicherte damit Kirchheimers noch korrigierbare Tendenzaussage mit einer generellen verfallstheoretischen Diagnostik an, die sich bei Kirchheimer im Text nicht findet, sich aber gut in Schmitts eigene Rechtstheorie einfügte.103 So eindeutig Schmitt in seiner Dekonstruktion des Weimarer Verfassungssystems war, so vage blieb er in der von ihm präferierten Alternative. Rückblickend hat Schmitt seine Schrift als Teil seines geradezu verzweifelten Versuchs bezeichnet, die Weimarer Verfassung zu retten. Es gibt indes auch Anhaltspunkte in der Abhandlung, die dafür sprechen, dass Schmitt bereits zu diesem Zeitpunkt im Namen der »Anerkennung der substanzhaften Inhalte und Kräfte des deutschen Volkes«104 auf eine grundlegende Systemalternative zur Weimarer Republik zielte. Nach der Veröffentlichung der Broschüre von Schmitt, die von nicht wenigen ihrer zeitgenössischen Leser als eine Rechtfertigung des Staatsstreiches in Preußen und als Begründungfolie für die Einrichtung einer dauerhaften Diktatur gelesen wurde (vgl. Fraenkel 1932 c: 489 f.), kam es in den Gesprächen zwischen Schmitt und Kirchheimer zu heftigen politischen Auseinandersetzungen. Schmitt, der auf Kritik beleidigt zu reagieren pflegte, änderte nun auch seine persönliche Haltung zu Kirchheimer. Statt ihn weiterhin »nett« und »klug« zu finden, heißt es Ende August 1932 nach einem gemeinsamen Spaziergang im Tiergarten, Kirchheimer sei ein »scheußlicher Kerl«.105 Für Kirchheimer wurde Schmitts Schrift zum Auslöser, seine bislang nur verstreut öffentlich geäußerte Kritik an Schmitt ausführlicher und zusammenhängender darzulegen. Er tat sich dafür mit dem erst 21-jährigen Nathan Leites zusammen, einem aus Sankt Petersburg stammenden Studenten der Soziologie an der Berliner Universität.106 Dem Text ist anzumerken, dass der überwiegende Teil aus der Schreibmaschine von Kirchheimer stammt. Nach zwei Wochen war das Manuskript fer102 Die Formulierung ist identisch mit der vorab von Kirchheimer an Schmitt geschickten Manuskriptfassung seines Aufsatzes. 103 Zu diesem »zusätzlichen Dreh« (Andreas Anter) von Schmitt bei seiner Kirchheimer-Zitation vgl. Neumann (2015: 236-239) und Anter (2016: 106). 104 Vgl. Schmitt (1932 a: 97). Zur politischen Mehrdeutigkeit dieser Schrift vgl. Hofmann (1995: 99 f.) und Mehring (2009: 285-288). 105 Tagebucheintrag Carl Schmitt vom 25. August 1932. In: Schmitt (2010: 210). 106 Zur Biografie von Leites vgl. die Erinnerungsessays in Rand-Corporation (1988).
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tig, von dem er Rudolf Smend schon Anfang September berichten konnte, dass es im Januar 1933 in der Zeitschrift ›Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik‹ erscheinen werde.107 Für Kirchheimer war dies seit seinem Dissertations-Aufsatz die erste Veröffentlichung in einer sozialwissenschaftlichen Fachzeitschrift. Alle vorherigen Publikationsorte hatten deutlich ausgeprägte politische Zielrichtungen. Das seinerzeit von Max Weber, Werner Sombart und Edgar Jaffé gegründete ›Archiv‹ wurde von Emil Lederer in Verbindung mit Joseph Schumpeter und Alfred Weber herausgegeben. Es galt als prominentester Publikationsort im damaligen sozialwissenschaftlichen Fächerspektrum. Schmitts Begriff des Politischen war hier 1927 in einer ersten Version erschienen; ebenfalls Leo Strauss‘ kritische Anmerkungen zu Schmitts Politikbegriff (vgl. Strauss 1932). Der Aufsatz trägt den Titel Bemerkungen zu Carl Schmitts ›Legalität und Legitimität‹. Gleich zu Beginn benennen Kirchheimer und Leites den Kern ihrer grundsätzlichen Einwände gegen Schmitt. Sein grundsätzlicher Irrtum liege in dem Gedanken, gesellschaftliche Homogenität müsse ebenso sehr die Voraussetzung wie das Ergebnis der Demokratie sein. Implizit vertrete Schmitt die Annahme, dass der Widerspruchshaftigkeit eines politischen Normensystems eine nicht funktionierende Realität bei der Anwendung dieses Normensystems entsprechen müsse. Dies sei das »begriffsrealistische […] Element seiner Theorie« (S. 458) – ein methodologischer Vorwurf gegen Schmitt, den bereits Smend im Zusammenhang mit seiner Kritik an dessen Parlamentarismusschrift einige Jahre zuvor erhoben hatte (vgl. Smend 1928: 152 f.). Kirchheimer und Leites versuchen in ihrem Artikel im Detail nachzuweisen, wie Schmitts begriffsrealistischer Ansatz seine suggestive Kraft aus der selektiven Verbindung von theoretischen Postulaten und empirischen Beispielen gewinnt. Im Zentrum ihrer kritischen Auseinandersetzung steht der Demokratiebegriff Schmitts. Erst aus der Übersteigerung des Gleichheitspostulats folge die von ihm behauptete völlige Funktionsunfähigkeit in der politischen Praxis des modernen Verfassungsstaates. Gegen Schmitts einseitige Ableitung der Demokratie aus dem Gleichheitspostulat und der sich daraus ergebenden begrifflichen Strategie, Demokratie und Freiheit gegeneinander auszuspielen, argumentieren Kirchheimer und Leites mit der normativen Gleichursprünglichkeit von politischen Gleichheits- und Freiheitsnormen. Gegen Schmitts Homogenitätspostulat wenden sie ideengeschichtlich ein, dass 107 Brief Otto Kirchheimer an Rudolf Smend vom 7. November 1932. In: Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen, Nachlass Rudolf Smend, Cod. Ms. R. Smend A 441.
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selbst Rousseau erkannt habe, dass Sonderinteressen mit dem Tatbestand der Gesellschaft immer gegeben sind. »Eine völlige Aufhebung der Meinungsverschiedenheiten ist […] nur als Utopie denkbar, weil hier die Aufhebung des Tatbestands der Individualität impliziert wäre« (S. 462). Vor allem aber verlangen Kirchheimer und Leites von Schmitt den Mut zum empirischen Blick auf real existierende moderne Demokratien. Seine These, dass die Demokratie in einer heterogenen Gesellschaft nicht nur nicht zu rechtfertigen sei, sondern auch nicht funktionsfähig sein könne, konfrontieren Kirchheimer und Leites mit einem vergleichenden Blick auf Frankreich, Belgien, Großbritannien und die USA. In all diesen Ländern sei festzustellen, dass »der Trend zur Heterogenität im Allgemeinen eine Tendenz zum Ansteigen hat« (S. 465), die Demokratie dadurch aber keine Funktionsverluste erlitte. Schmitts Schwanengesang auf die moderne Demokratie basiere somit auf einer viel zu »schmalen Induktionsbasis« (S. 467), um wissenschaftlich ernst genommen werden zu können. Doch nicht nur ist Schmitts empirische Diagnostik falsch, seine Sehnsucht nach der Autorität lässt ihn auch blind für »die neue[n] Möglichkeiten in der Realität« (S. 467) werden, mit denen moderne parlamentarische Demokratien auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren können. Kirchheimer und Leites kritisieren in diesem Zusammenhang Schmitts kategorische Unterscheidung der Staatsarten und weisen darauf hin, dass gerade die USA ein Beispiel für die stabile Verbindung eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaates mit einem Jurisdiktionsstaat böten. Über weite Strecken liefert der Artikel dann eine exegetische Auseinandersetzung zu juristischen Normtypen und der Auslegung von Grundrechten und einzelnen Artikeln der Verfassung in Schmitts Buch. Die von ihm als unauflösbare Widersprüche der Weimarer Verfassungskonstruktion beschriebenen Elemente deuten Kirchheimer und Leites als potentiell integrative Brückenprinzipien, mit deren Hilfe sich die soziale Kompromissbildung und damit die parlamentarische Demokratie stabilisieren lasse. Auch wenn in der gegenwärtigen parlamentarischen Demokratie keine wirkliche Chancengleichheit herrsche, so sei sie doch wenigstens »die einzige Staatsform, die eine institutionelle Garantie eines noch so einschneidenden Machtwechsels bei völliger Kontinuität der Rechtsordnung« (S. 485) vorsehe, wie Kirchheimer und Leites unter Berufung auf Hermann Heller erklären. Kirchheimer hatte das vom ›Archiv‹ bereits angenommene Manuskript vor der Veröffentlichung nicht nur Smend, sondern auch Schmitt zur
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Kenntnis gegeben. Die sich daraus entspinnende Diskussion mit Kirchheimer fiel allerdings nicht zur Zufriedenheit von Schmitt aus. In seinem Tagebuch notierte er über das Gespräch mit Kirchheimer über den Text am 6. November 1932 in seinem Hause: »es hat keinen Zweck mit ihm zu sprechen, er will einfach nichts sehen.« Und fügte als nächsten Eintrag hinzu: »Scheußlich, dieser Jude.«108
8. Kampfaufrufe zur Verteidigung der Republik Otto Kirchheimer konnte nach Abschluss seiner Arbeiten am Aufsatz Legalität und Legitimität in Berlin aus nächster Nähe beobachten, wie sich die politischen Ereignisse immer schneller überschlugen. Brüning bekam für seine Politik und für seine Abgrenzung gegen die NSDAP zunehmend weniger Unterstützung aus dem Präsidialamt und musste schließlich am 30. Mai 1932 seinen Rücktritt einreichen. Zuvor hatte im Präsidialamt General Kurt von Schleicher vertrauliche Gespräche mit Adolf Hitler geführt und ihn für die Tolerierung eines anderen Präsidialkabinetts durch die NSDAP gewinnen können. Auf diese Weise war das Präsidialkabinett nicht mehr auf die Tolerierung der SPD angewiesen, was eine ultimative Forderung von Hindenburg an seine Mitarbeiter gewesen war. Im Gegenzug für seinen Tolerierungskurs wurde Hitler unter anderem zugesagt, dass der Reichspräsident nach der Ernennung der neuen Regierung den Reichstag auflösen und damit Neuwahlen herbeiführen werde. Das Kalkül Hitlers bei diesen vertraulichen Abmachungen war, dass seine Partei nach diesen Wahlen auf legalem Wege an die Regierung gelangen werde. Das neue Präsidialkabinett mit Franz von Papen an der Spitze war in seiner personellen Zusammensetzung noch weiter nach rechts gerückt. Am 1. Juni 1932 übernahm der neue Kanzler die Regierungsgeschäfte und am 4. Juni erfüllte der Präsident eine der Bedingungen, die Hitler an die Duldung der neuen Regierung geknüpft hatte und löste den Reichstag auf. Als Termin für die Neuwahlen setzte er den 31. Juli fest. Kirchheimer reagierte auf diese Wendung der politischen Ereignisse mit dem Artikel Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung im August-Heft der ›Gesellschaft‹. Mit Papen und seinem Kabinett sei der letzte Anschein einer formalen Neutralität des Reichspräsidenten dahingegangen. Damit habe sich auch die verfassungspolitische Situation in Deutschland so weit geändert, dass Kirchheimer der Regierung 108 Tagebucheintrag von Schmitt am 6. November 1932. In: Schmitt (2010: 231).
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grundsätzlich ihre politische Legitimation abspricht. In der neuen Situation »muss jede Gruppe selbst unter ihrer eigenen Verantwortung prüfen, welche Handlungen der Regierung den verfassungsmäßigen Gehorsam verdienen« (S. 396). Solange das Parlament als Stätte der politischen Entscheidung erhalten blieb, war die Gehorsamspflicht gegeben. Für die »Bekenner des demokratischen Sozialismus« (S. 396) erlischt sie aber dann, wenn von einer Regierung versucht wird, mit Hilfe von verfassungswidrigen Auslegungen des Artikels 25 der Reichsverfassung, der das Auflösungsrecht des Präsidenten regelt, die Institution des Parlaments selbst »zu vernichten« (S. 397). Genau diesen Fall sieht Kirchheimer mit dem Auflösungsbeschluss vom 4. Juni gegeben. Er unterscheidet in seinem Argumentationsgang zwischen dem Auflösungsrecht in konstitutionellen Monarchien und dem in parlamentarischen Demokratien. In der englischen Verfassungspraxis habe sich in kontinuierlicher Entwicklung die konstitutionelle Praxis der Parlamentsauflösung herausgebildet. Kirchheimer unterscheidet unter Verweis auf Carl Schmitts Verfassungslehre verschiedene Formen und Fälle, die das parlamentarische Auflösungsrecht bietet (vgl. Schmitt 1928: 353-359). Keinen dieser zulässigen Fälle sieht er in der Reichstagsauflösung gegeben, die auf der Zusage von Hindenburg und Papen gegenüber Hitler beruht. Sie sei weder in der Form noch mit der angeführten Begründung verfassungsrechtlich zulässig. Denn die Tatsache, dass ein Reichspräsident bestimmte Parteien nicht an einer Regierungskoalition beteiligt wissen möchte und er bestimmten Parteien im Parlament »zu einer besseren Stellung verhelfen« (S. 406) möchte, sei als Auflösungsgrund nicht durch Artikel 25 der Verfassung gedeckt. Noch vor den Neuwahlen am 31. Juli erfolgte durch die Präsidialregierung ein weiterer Schlag gegen die demokratische Linke in der Republik. Bei den Wahlen Ende April 1932 hatte die in Preußen regierende ›Weimarer Koalition‹ von SPD, Zentrum und DDP ihre Regierungsmehrheit im Landtag verloren und blieb, wie einige andere Landesregierungen auch, nur noch geschäftsführend im Amt. Das Kabinett Papen bereitete seit Anfang Juli die in der Öffentlichkeit von verschiedenen deutschnationalen Politikern und Publizisten geforderte Beseitigung der preußischen Regierung konkret vor. Es fehlte lediglich an einer ausreichenden Begründung für einen derartigen massiven Eingriff in die von der Verfassung garantierten Länderrechte. Eine solche bot sich nach einer Straßenschlacht zwischen SA-Kolonnen und Kommunisten, bei der am ›Altonaer Blutsonntag‹ am 17. Juli 1932 eine völlig überforderte Polizei für den Tod von mehreren unbeteiligten Zivilisten verantwortlich war. Mit der Begründung, dass nach der Altonaer
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Katastrophe eine Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Gebiet des Landes Preußen nur von der Reichsregierung geleistet werden könne, wurde am 20. Juli 1932 die preußische Regierung abgesetzt. Formaljuristisch unter Anwendung von Artikel 48 als Reichsexekution tituliert, war diese Aktion ein »kaum getarnter Staatsstreich« (Karl Dietrich Bracher). An Stelle der preußischen Regierung übernahm ein von der Reichsregierung installierter Reichskommissar die politische Macht im größten und wichtigsten Land des Reiches. Die SPD schätzte die Chancen für einen erfolgreichen Widerstand gegen diesen Putsch vermutlich realistisch als nicht Erfolg versprechend ein. Sie entschloss sich stattdessen für einen strikten Legalitätskurs und vertraute auf einen Sieg des Rechts bei einer Klage gegen den Verfassungsbruch vor der Staatsgerichtshofkammer des Leipziger Reichsgerichts. Bei diesem Prozess, der vom 10. bis zum 17. Oktober stattfand, waren die Exponenten der konträren Positionen Carl Schmitt als der von der Reichsregierung und Hermann Heller als der vom preußischen Landtag beauftragte Prozessvertreter. In seinem Artikel Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts, der in der September-Ausgabe der ›Gesellschaft‹ erschien, mischte Kirchheimer sich mit einer eindeutigen Stellungnahme in die vor dem Leipziger Staatsgerichtshof anstehenden staatsrechtlichen Gefechtsvorbereitungen ein. Er bezeichnete den ›Preußenschlag‹ als einen offensichtlichen Verfassungsbruch von zugleich eminenter politischer Bedeutung. Erneut bettete er seine Argumentation in ein historisches Verlaufsschema ein, dessen Entwicklungsdynamik auf sozialökonomischen Veränderungen basiert. Die sukzessive Auflösung des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates der Weimarer Republik lasse sich retrospektiv in drei Phasen unterteilen: In einer ersten Phase von 1919 bis 1922 basierte die deutsche Republik auf einem freien Bündnis zwischen den gesellschaftlichen Kräften, die politisch von der Sozialdemokratie, dem katholischen Zentrum und den liberalen bürgerlichen Parteien repräsentiert wurden. Die Ära Stresemanns hatte eine erste Reduzierung der bürgerlichen Bewusstseinshaltung auf ihre wirtschaftlichen Kerninteressen gebracht, was sich politisch darin abbildete, dass an die Stelle der rein parlamentarischen Regierung ein sich nach der jeweiligen sozialen Machtposition vollziehender Ausgleich der sozialen Kräfte getreten war. Dadurch wurde es der staatlichen Bürokratie in dieser zweiten Phase ermöglicht, in eine schiedsrichterliche Stellung aufzusteigen. Seit der Ära Brüning sei die Republik zu einer autoritären Regierungsform mutiert, die wesentliche materielle Bestimmungen aus dem zweiten Teil der Verfassung außer Kraft gesetzt hat. Mit dem
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»Staatsstreich des 20. Juli« (S. 423) sind nun auch Teile des ersten, organisatorischen Teils der Verfassung ins Visier der treibenden gesellschaftlichen Kräfte der schleichenden Verfassungserosion geraten. Kirchheimer wirft den Unterstützern dieses »Schrumpfungsprozess[es] der Weimarer Verfassung« (S. 410) aus der deutschen Staatsrechtswissenschaft vor, sich bei der Beantwortung positiver Rechtsfragen längst nicht mehr an der Weimarer Verfassung zu orientieren, sondern eine verfassungsjenseitige »Wissenschaft der konkreten Umstände« (S. 410) zu betreiben. Die zitierte Formulierung macht deutlich, dass Kirchheimer sich in seinem Artikel direkt an Schmitt wendet. Er beharrt darauf, dass jede staatsrechtliche Frage ausschließlich auf Basis der Weimarer Verfassung entschieden werden dürfe und erinnert Schmitt in diesem Zusammenhang an ein Diktum aus dessen Verfassungslehre, demzufolge es grundlegende Institutionen des geltenden Verfassungsrechts gibt, die gegen verfassungsändernde Beschlüsse des Parlaments und damit auch gegenüber Eingriffen des Reichspräsidenten immun sind (vgl. Schmitt 1928: 25-27). Zu diesen grundlegenden Institutionen zählt Kirchheimer den Föderalismus. Die hohe verfassungsrechtliche Bedeutung des Föderalismus lasse sich nicht zuletzt daran erkennen, dass die Weimarer Verfassung im Gegensatz zur kaiserlichen Reichsverfassung als Entscheidungsinstanz für Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern extra den Staatsgerichtshof eingesetzt habe. Erneut richtet Kirchheimer sein Wort direkt an Schmitt. Grundsätzlich habe er natürlich Recht, wenn er bei Entscheidungen über Konflikte zwischen Reich und Ländern zur Zurückhaltung gemahnt habe (vgl. Schmitt 1931: 4). In diesem besonderen Fall jedoch ist das Gericht als Streit entscheidende Instanz »in vollem Bewusstsein des hochpolitischen Charakters solcher Differenzen« (S. 413) eingeschaltet worden. Deshalb ist es »nicht zulässig, hier von ihm eine Abstinenz zu verlangen, die in Wirklichkeit die innere Organisation des Reiches zur freien Disposition des Reichspräsidenten stellen würde« (S. 413). Kirchheimer zeigte mit dieser Bemerkung ein feines Gespür für die Strategie, mit der Schmitt im Oktober vor dem Staatsgerichtshof für die Sache des Reiches argumentieren sollte. In seiner dann im Einzelnen entfalteten verfassungsrechtlichen Argumentation hält sich Kirchheimer eng an den Wortlaut des Verfassungstextes, zieht einschlägige staatsrechtliche Kommentierungen heran und geht auf polizeirechtliche Details ein, die bei der Beweisaufnahme vor dem Staatsgerichtshof ebenfalls herangezogen werden müssten. Er führt Rudolf Smend als Kronzeugen für den rechtsstaatlichen Grundsatz ins Feld,
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wonach auch bei einzelnen Regierungsakten die Ermessensgrenzen einer Überprüfung durch den Staatsgerichtshof unterliegen (vgl. Smend 1931). Kirchheimer gelangt abschließend zu dem Urteil, dass bei dem Vorgehen am 20. Juli »ein so schwerer Fall des Ermessensmissbrauchs vor[liegt], dass demgegenüber eine Vermutung der subjektiven Gutgläubigkeit der Reichsregierung nicht mehr Platz greifen kann« (S. 421). Der Konflikt zwischen Preußen und dem Reich zeige, dass die Reichsregierung gar keinen Wert mehr auf die Aufrechterhaltung der Rechtsgemeinschaft in Deutschland legt. Nicht nur die wesentlichen sozialen Grundrechtspositionen der Verfassung, sondern nun auch die grundlegenden innerorganisatorischen Bestimmungen der Verfassung unterliegen einem »planmäßigen Vernichtungsprozess durch die derzeitige Reichsregierung« (S. 421). Der damit geschaffene »nachdemokratische Staat« (S. 423) sei ein »autoritärer Staat« (S. 423). Für Kirchheimer resultiert aus dieser Diagnose keine nur pessimistische Aussicht. Die neue Situation hat zumindest den Vorzug unmissverständlicher Klarheit und »zwingt der Arbeiterklasse neue Kampfformen auf« (S. 423). Mit dem ›Preußenschlag‹ haben sich die nun herrschenden Schichten auf einen politischen Weg begeben, dessen Ausgang sie so wenig beeinflussen können wie ein Kapitän auf dem offenen Meer den Bau seines Schiffes, die Winde und die ihm entgegenstürmenden Wellen. Im November 1932 meldete Kirchheimer sich erneut publizistisch zu Wort. Mittlerweile waren seine schlimmsten Befürchtungen Realität geworden. Bei den Wahlen am 31. Juli war die SPD weiter zurückgefallen, während die KPD Zugewinne verzeichnen konnte. Der große Wahlsieger jedoch war die NSDAP, die ihren Stimmenanteil mit jetzt über 37 Prozent mehr als verdoppelt hatte. Der Prozess vor dem Leipziger Staatsgerichtshof endete ebenfalls mit einer Niederlage der SPD, indem er zwar beiden Seiten in einigen Punkten Recht gab, die abgesetzte Regierung aber nicht wieder voll in ihre Rechte einsetzte. In einem Feuilleton für die zweiwöchentlich erscheinende Zeitschrift ›Das freie Wort‹ nahm Kirchheimer in dem Artikel Nazis, Auslandsdeutsche und Proleten die Publikation des Buches Was wir vom Nationalsozialismus erwarten zum Anlass einer Polemik gegen die nationalsozialistische Ideologie. Das Buch war herausgegeben von Albrecht Erich Günther, einem Publizisten aus dem Autorenkreis der Konservativen Revolution (vgl. Günther 1932). Kirchheimer spießt in dem kurzen Beitrag zwei Topoi des Buches auf, die widersprüchliche Haltung der Nationalsozialisten zu den Auslandsdeutschen sowie die biologistischen Grundlagen
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der nationalsozialistischen Untermenschenlehre und ihre sozialpolitischen und eugenischen Konsequenzen. Franz von Papen hatte in seiner Regierungserklärung die Notwendigkeit eines »Neuen Staates« proklamiert. Die politische Existenz seines Präsidialkabinettes hing ab vom Gelingen einer Verfassungsreform. Aber auch viele seiner politischen Gegner aus dem Lager der Republiktreuen erhofften sich von einer Verfassungsreform den Ausweg aus der gegenwärtigen krisenhaften politischen Lage. Bereits Mitte der 1920er Jahre hatte es eine erste Verfassungsreformdebatte gegeben, die dann aber bald wieder versandete. Bei den Zielen der Verfassungsreform bestand 1932 richtungsübergreifend eine prinzipielle Übereinstimmung: Das gemeinsame primäre Anliegen war eine Stärkung der Exekutive.109 Gravierende Differenzen brachen aber an der Stelle auf, an der es um das grundsätzliche Verhältnis von Parlament und Exekutive ging. Papen und die ihn unterstützenden Richtungen in der Staatsrechtslehre wollte die Regierung durch eine Überwindung des parlamentarischen Regierungssystems stärken. Die Überlegungen der Reformer von rechts gingen vom Aufbau eines Ständestaates über die Wiedereinrichtung der Monarchie bis zur Militärdiktatur. Vertreter anderer Richtungen strebten eine Lösung innerhalb des parlamentarischen Regierungssystems an und suchten nach einer besseren Austarierung zwischen Reichstag und Reichsregierung. Ebenso umstritten wie das Festhalten am Parlamentarismus waren die denkbaren Mittel zur Realisierung einer Verfassungsrevision. Aufgrund der bestehenden politischen Mehrheitsverhältnisse im Reichstag und im Bundesrat hatte eine parlamentarisch zustande kommende Richtung von vornherein keine Chance. Es bedurfte anderer Mittel, wobei in der Öffentlichkeit und in der Staatsrechtslehre von einem Volksentscheid über eine neuerliche Parlamentsauflösung bei gleichzeitiger Aussetzung des Neuwahltermins bis hin zu einem offenen Bruch mit dem Weimarer Legalsystem verschiedene Varianten im Gespräch waren. Carl Schmitt hatte seit August 1932 im Zentrum der Staatsstreichvorbereitungen gestanden, die mit dem Ziel einer Reichsreform von oben seitens der Regierung Papen erwogen wurden.110 Kirchheimer wurde wenig überraschend in derartige Pläne nicht eingeweiht. Ernst Rudolf Huber, den Schmitt als Adlatus für die Formulierung der vorsorglichen Notstandsdekrete mit heranzog, berichtet in seinen Erinnerungen von 109 Zur Verfassungsreformdebatte des Jahres 1932 vgl. im Überblick Huber (1984: 1005-1009) und Gusy (1997: 447-455). 110 Zu diesen Aktivitäten Schmitts vgl. Mehring (2009: 288-302).
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einem abendlichen Spaziergang zu dritt: »Im Beisein von Kirchheimer wurde vom Staatsnotstand nicht gesprochen« (Huber 1988: 46). In dieser Zeit äußerte sich Schmitt auch noch einmal öffentlich ablehnend zur von Kirchheimer bereits in seiner Promotionsschrift behaupteten und an Smend anknüpfenden »Integrationsfunktion der Justiz« (vgl. Schmitt 1932 b: 192). Die Debatten über den Sinn, die Richtung und die Möglichkeit einer Verfassungsrevision und die Staatsstreichpläne wurden überlagert von den Turbulenzen der politischen Ereignisse nach dem Amtsantritt Franz von Papens. Für den 6. November 1932 waren erneut Reichstagswahlen angesetzt worden. Dabei konnten die Papens Präsidialkabinett offen unterstützenden Parteien nur leicht zulegen. Aber auch für die SPD hatte sich ihr Oppositionskurs gegen Papen nicht ausgezahlt, sie verlor leicht an Stimmen, während die KPD erneut hinzugewann. Als bemerkenswertestes Ergebnis der Wahl wurde wahrgenommen, dass der scheinbar unaufhaltsame Siegeszug der NSDAP der vergangenen beiden Jahre gebrochen zu sein schien, denn Hitlers Partei verlor mehr als vier Prozentpunkte. Am 17. November trat Papen zurück. Seinen Platz als Kanzler nahm am 3. Dezember Kurt von Schleicher ein, ohne dass es ansonsten zu größeren personellen Änderungen im Präsidialkabinett kam. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament und des Unwillens des Präsidialamtes, wieder auf die SPD zuzugehen, schien ein Staatsstreich von oben über den von Schmitt gegenüber Papen vorgeschlagenen Weg einer unbefristeten Reichstagsauflösung das aussichtsreichere Vorhaben zu sein. Schleicher wollte jedoch versuchen, auf dem Kompromisswege eine Tolerierungsmehrheit für seine Politik quer durch die Parteien zu suchen und setzte dabei auf eine Spaltung der NSDAP. Beruflich fuhr Kirchheimer in diesen politisch turbulenten Wochen weiterhin mehrgleisig. Zum einen bemühte er sich unverdrossen als Rechtsanwalt Fuß zu fassen. Gewisse Einnahmen hatte er zudem aus den – wenn auch geringen – Honoraren für seine Aufsätze in ›Die Gesellschaft‹. Auch seine akademischen Ambitionen verfolgte er unbeirrt weiter. Sein Ziel war, an der juristischen Fakultät der Berliner Universität im Bereich des Verfassungsrechts zu habilitieren.111 Im November 1932 stellte er einen Antrag bei der Notgemeinschaft der deutschen 111 Aktenvermerk Academic Assistance Council (AAC) vom 4. März 1934. Die Akte des AAC aus London findet sich in: Emergency Committee in Aid of Displaced German/Foreign Scholars, Public Library, New York. I, A Grantees 1933-46, Box 18, Folder 13 (Kirchheimer, Otto).
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Wissenschaft, der Vorgängerorganisation der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), um, wie er an Rudolf Smend in seiner Bitte um eine Referenz schrieb, die finanzielle Förderung für »eine Arbeit über einige Fragenkomplexe der Demokratie«112 zu erhalten. Parallel wandte er sich an gutachterliche Unterstützung von Carl Schmitt und benannte ihm gegenüber sein Forschungsinteresse an der amerikanischen Rechtstheorie und Rechtssoziologie von Oliver Wendell Holmes, Felix Frankfurter und Charles Beard.113 Kirchheimers Antrag wurde von der Notgemeinschaft nicht bewilligt. Zusammen mit Neumann nahm er privat Stunden in englischer Konversation, um sich die Option offen zu halten, im Ausland arbeiten zu können.114 Carl Schmitt versorgte er währenddessen mit Literaturhinweisen aus dem linken amerikanischen Schrifttum.115 An der zu den politischen Ereignissen zeitlich parallel stattfindenden Verfassungsreformdebatte beteiligte sich Otto Kirchheimer mit drei Beiträgen.116 Im Novemberheft von ›Die Gesellschaft‹ publizierte er einen Artikel mit der Überschrift Verfassungsreaktion 1932, aus dessen Titel bereits hervorgeht, dass er sich darin in erster Linie mit Reformvorschlägen aus dem politischen Lager der Rechten auseinandersetzt. Dem Präsidialamt und der zu diesem Zeitpunkt noch amtierenden PapenRegierung hält er vor, dass sie auf die Legalität bei der Einführung der von ihnen präferierten Verfassungsreform vermutlich gar keinen Wert mehr legen. Erneut nimmt er dann Schmitts Schrift Legalität und Legitimität zur Hand, diesmal um die markante Veränderung der im Präsidialamt und seinen Beraterkreisen kursierenden Reformpläne aufzuzeigen. Hatte es sich nach der Wahl Hindenburgs 1925 um Überlegungen
112 Brief Otto Kirchheimer an Rudolf Smend vom 7. November 1932. In: Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen, Nachlass Rudolf Smend, Cod. Ms. R. Smend A 441. 113 Brief Otto Kirchheimer an Carl Schmitt vom 7. November 1932. In: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-7595. 114 Vgl. den Bericht von Neumanns späterer Partnerin Helge Pross in Erd (1985: 59). 115 Vgl. Brief beziehungsweise Postkarte von Otto Kirchheimer an Carl Schmitt vom 24. Dezember 1931 (mit der Leseempfehlung des Buches American Foreign Policies des linken amerikanischen Politikwissenschaftlers James W. Garner aus dem Jahr 1928) und vom 16. November 1932 (mit der Empfehlung des Buches Government by Judiciary des amerikanischen Marxisten Louis Boudin von 1932). In: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-7596 und RW 265-7597. 116 Außerdem trug er am 15. November 1932 bei der Sozialistischen Studentenschaft in Berlin zu diesem Thema vor (vgl. die Ankündigung im ›Vorwärts‹ vom 13. November 1932).
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im Rahmen der Weimarer Verfassungsordnung gehandelt, so handele es sich heute um eine »Verfassungsrevolution« (S. 431). Kirchheimer nimmt in seiner Kritik zwei Autoren aus unterschiedlichen politischen Richtungen aufs Korn. Zunächst richtet er sich erneut gegen Schmitt und dessen Sympathien für eine per Staatsstreich zu errichtende Präsidialdiktatur. Schmitts Versuch, die plebiszitäre Legitimität des Reichspräsidenten hervorzuheben, um ein verfassungsrevolutionäres Vorgehen von seiner Seite mit dem Odium einer herausgehobenen demokratischen Legitimität auszustatten, weist er als widersprüchlich zurück. Denn Schmitts Plädoyer für eine im Kern »nachdemokratische Verfassung« (S. 432) beruhe auf einer »vordemokratischen« (S. 433) politischen Anthropologie; Kirchheimer spielt in diesem Zusammenhang auf die von Schmitt wiederholt beschriebene passive Rolle des Volkes bei der Abhaltung von Plebisziten an (vgl. Schmitt 1932 c: 93 f.). Der Option Schmitts für die Präsidialdiktatur hält Kirchheimer das politische Selbstverständnis der »westeuropäische[n] Demokratie« (S. 432) entgegen. Sie war möglich, weil sich in einem langen und schmerzhaften Prozess im Zuge der Industrialisierung die Masse der Bevölkerung von einem rein passiven Träger des politischen Geschehens zu in Organisationen aktiv Beteiligten entwickelt hat. Diesen soziologischen Tatbestand gilt es bei allen Reformüberlegungen im Auge zu behalten, weil er die von Schmitt verfolgte Option grundsätzlich in Frage stellt. Der autoritäre Staat verschiebt das Problem der politischen Willensvereinheitlichung in einer heterogenen Gesellschaft nur, er bewältigt es nicht. Die Verfechter einer dauerhaften Präsidialdiktatur müssen die Frage beantworten können, wie sie mit dem Problem der »verfassungsrechtlichen Dynamik« (S. 433) umgehen wollen, das sich aus der sich immer wieder verändernden sozialen Basis der Politik zwangsläufig ergebe. Bei aller Kritik an der modernen Demokratie könne man ihr eines nicht absprechen: Sie ist »die einzige Staatsform, die in einer Zeit wachsender sozialer und mitunter auch nationaler Heterogenität das Zusammenwirken bzw. den Wechsel verschiedener Gruppen verfassungsmäßig ermöglicht« (S. 433). Kirchheimer zitiert Argumente aus Smends Integrationslehre herbei, wenn er gegen Schmitts Vorstellungen ins Feld führt, dass in der heutigen Zeit die sozialen Bedingungen für eine fixierbare Institutionalisierung des persönlichen Charismas einer politischen Führerfigur nicht mehr gegeben sind.117 Eine neuerliche wirtschaftliche Krise, verlorene Schlachten oder der plötzliche Tod des Amtsinhabers setzen ein solches Regime auf117 Vgl. Smend (1928: 142-148).
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grund der permanenten sozialen Dynamik notorisch der Gefahr von politischer Instabilität aus. Das zweite Ziel seiner Kritik sind die Vorschläge für eine umfassende Verfassungsreform von Eugen Schiffer (vgl. Schiffer 1932). Schiffer war ein liberaler Politiker aus der DDP, der nach der Revolution den Kabinetten von Philipp Scheidemann und Gustav Bauer als Vizekanzler, Finanz- und schließlich Justizminister angehört hatte. Er verstand sich weniger als ein Theoretiker denn als ein Praktiker der Verfassungsrevision. Sein im Sommer 1932 veröffentlichtes, aus 38 Einzelpunkten bestehendes Programm war der Versuch, eine mit den Grundprinzipien des Parlamentarismus vereinbare Reform der Verfassung zu bewerkstelligen. Es enthielt unter anderem Vorschläge zur Reform der Länderkammer, zu den legislativen Kompetenzen von Präsident und Parlament, zur Regierungsbildung und zu Unabänderlichkeitsklauseln. Doch auch dieses Reformprogramm findet vor Kirchheimers Augen keine Gnade. Er geht es in mehreren Punkten detailliert durch und konzentriert sich dabei in erster Linie auf die Kompetenzen des Reichspräsidenten. Im Ergebnis hält er Schiffer vor, dass seine Vorschläge im Wesentlichen »nur eine Kodifizierung des heutigen Verfassungszustandes« (S. 435) seien, woraus sich erklärt, warum er Schiffer ebenfalls unter die Überschrift Verfassungsreaktion rubriziert. Kirchheimer wiederholt seine These, dass auch einem nach der Maßgabe von Schiffer organisierten politischen System aufgrund der sozialen Dynamiken im Kapitalismus keine Stabilität vergönnt sei und setzt zum Endpunkt ein Zitat aus einer Marx‘schen Frühschrift, dem zufolge erst von einer klassenlosen Gesellschaft das Ende von politischen Revolutionen zu erwarten sei. Einen Monat später veröffentlichte Kirchheimer als zweiten Beitrag in dieser Debatte den Artikel Die Verfassungsreform im Dezember-Heft der Monatszeitschrift ›Die Arbeit‹, die vom Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsverband herausgegeben wurde. Er wiederholt darin zunächst seine Kritik an den Plänen zu einer »autoritäre[n] Verfassungsreform« (S. 443) der Papen-Regierung und stellt sie in einen Zusammenhang mit ähnlich gelagerten Plänen in Österreich. Und erneut zielt sein Angriff auf Carl Schmitt. Diesmal, indem er sich der von Hermann Heller an die Adresse Schmitts gerichteten Kritik anschließt, wonach es unzutreffend sei, dass die Probleme der gegenwärtigen Staatsordnung ihren Ursprung allein oder auch nur in erster Linie in den der Weimarer Verfassung eigentümlichen Verfassungsnormen hätten (vgl. Heller 1932: 413).
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Größere Aufmerksamkeit widmet Kirchheimer in diesem Aufsatz den Vorschlägen aus Kreisen der Sozialdemokratie. Deren möglichen Spielraum hält er allerdings für sehr begrenzt, wenn man die großen Grundlinien einer demokratischen Verfassung – er listet Volkssouveränität, Parlament, persönliche Freiheitsrechte und soziale Grundrechte auf – aufrechterhalten will. Es bleibt nur der Versuch übrig, mit Hilfe von veränderten verfassungsrechtlichen Bestimmungen die Zusammenarbeit der politischen Parteien und der sozialen Verbände untereinander zu fördern. Kirchheimer diskutiert in diesem Zusammenhang verschiedene ins Spiel gebrachte Ideen: den Vorschlag, nur einmal jährlich im Zuge der Budgetberatungen Misstrauensvoten mit einfacher Mehrheit des Parlaments zuzulassen, die Einrichtung einer neuen Wirtschaftskammer, die Änderung des Wahlrechts zugunsten des in England praktizierten Modells und eine Einschränkung der Möglichkeit von Volksbegehren und Volksentscheiden. Besonders ausführlich widmet er sich den Vorschlägen von Ernst Fraenkel aus dessen Aufsatz Verfassungsreform und Sozialdemokratie (vgl. Fraenkel 1932 b), der im selben Monat veröffentlicht wurde. Fraenkel wollte mit seinem aus drei Teilen bestehenden Vorschlag ein neues Gleichgewicht zwischen Reichstag, Reichsregierung und Reichspräsident schaffen. Dazu gehörte zum einen die Einführung eines konstruktiven Misstrauensvotums, die Erschwernis der Reichstagsauflösung durch den Reichspräsidenten sowie die Möglichkeit, dass der Reichspräsident bei einer Ablehnung einer Notverordnung durch das Parlament sich über den Weg des Plebiszits direkt an die Bürger wenden kann. Kirchheimer wägt die einzelnen Komponenten von Fraenkels Vorschlägen nacheinander ab. Zu seiner letztlich ablehnenden Skepsis gelangt er nicht, weil er die einzelnen Vorschläge für falsch erachtet, sondern aus einer grundsätzlichen Erwägung. Die Vorschläge Fraenkels würden an den »politischen und sozialen Strukturverhältnissen« (S. 452) der Republik nichts Entscheidendes ändern. Eine Verfassungsordnung, die auf Schritt und Tritt Gefahr läuft, dass ihre jetzigen oder zukünftigen organisatorischen Positionen dazu missbraucht werden, die Demokratie selbst zu zerstören, leidet nicht an Problemen, die eine Verfassungsreform beheben kann, sondern an strukturellen Problemen im Bereich ihrer sozialen Basis. Bei dem von Fraenkel propagierten Weg handelt es sich um einen »aussichtlosen Wettlauf« (S. 452) mit den Befürwortern der Diktatur. Am Ende seines Artikels wiederholte Kirchheimer sein Bekenntnis zur Verteidigung der Grundinstitutionen der Weimarer Demokratie, der
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Artikel wiederholt aber auch seine Ratlosigkeit und Skepsis. Um die Gesellschaft wieder mit der Demokratie passförmig zu machen, bedarf es keiner gut gemeinten Verfassungspolitik, sondern einer »Annäherung der beiden Arbeiterparteien« (S. 454), einer »Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst« (S. 457), eines »Durchbruch[s] zu neuen sozialen Formen« (S. 457). Offensichtlich war Kirchheimer der Ansicht, als bestünde in dieser Situation der Weimarer Republik nur die Wahl zwischen einer Präsidialdiktatur und einer sozialistischen Demokratie.118 Für einen Beitrag im Januar-Heft 1933 von ›Die Gesellschaft‹ griff Kirchheimer über die Weihnachtstage 1932 zum dritten Mal in die Tastatur seiner Schreibmaschine, um sich zur Verfassungsreformdebatte zu äußern. Mittlerweile hatte Kurt von Schleicher die Kanzlerschaft übernommen und die Gerüchte um eine bevorstehende Reichsreform mittels Staatsstreich seitens der Regierung wollten in der Hauptstadt nicht mehr verstummen. Kirchheimers Aufsatz trägt den gleichen Titel wie derjenige Fraenkels aus dem Monat zuvor in derselben Zeitschrift, Verfassungsreform und Sozialdemokratie. Kirchheimer erteilt darin allen Vorschlägen aus der Sozialdemokratie eine Abfuhr und setzt sich wieder besonders ausführlich mit Fraenkels Vorschlägen auseinander. Diesmal ist seine Kritik im Ton wie in der Sache aber deutlich schärfer. Zwar nimmt er ihn gegenüber dem Vorwurf eines anonymen Autors im Dezemberheft des KPD-Organs ›Roter Aufbau‹, der »theoretische Querverbindungen« zwischen Fraenkel und dem »faschistischen Staatstheoretiker« Carl Schmitt zu erkennen glaubte, in Schutz.119 Ansonsten jedoch fehlt seiner Auseinandersetzung mit dem Vorschlagsbündel von Fraenkel die wohlwollende Tonlage vom Dezember. Kirchheimer wirft Fraenkel vor, den Frageansatz nicht richtig gewählt zu haben, den Wert des Funktionierens einer Verfassung zum Fetisch zu machen, die Verfassungsnormen an die Verfassungswirklichkeit anzupassen und letztlich dadurch die Herrschaft des bürokratischen und militärischen Machtapparates zu legalisieren. Fraenkel verbleibe in der »staatsrechtliche[n] Deduktion« (S. 499), die zwar juristisch haltbar, aber »soziologisch im entscheidenden Punkt irrelevant« (S. 500) sei. Er lasse außer Acht, dass die heute zum eisernen Bestand des Staatsrechts 118 Am 18. Dezember trug Kirchheimer dazu auch im Arbeitskreis Abraham, einem Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokraten, in Berlin vor (vgl. ›Vorwärts‹ vom 17. Dezember 1932). 119 Im Februar 1933 wurde dann auch Kirchheimer in der kommunistischen Zeitung ›Unsere Zeit‹ mit dem Verdikt des »Schmittianismus« belegt, vgl. Schale (2006: 71).
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gehörende Notstands- oder Lückentheorie »soziologisch gesehen durchaus eine Machtusurpation durch eine sonst nicht zum Zuge gelangende gesellschaftliche Klasse darstellen kann« (S. 500). Kirchheimer betont in diesem Zusammenhang, dass man den Staatsstreich vom 20. Juli gegen die preußische Regierung nur richtig verstehe, wenn man darin nicht nur einseitig den Willen ihrer Initiatoren zur Abschüttlung der SPD, sondern ebenso sehr den Willen zur Sicherung der Republik gegen die Machtübernahme der NSDAP erkennt. Das marxistische Vokabular der ins Methodische gewendeten Skepsis, mit dem Kirchheimer gegen die ausschließlich staatsrechtlich argumentierenden Positionen anschreibt, charakterisiert seinen gesamten Artikel. Eingangs zitiert er aus der für damalige marxistische Juristen Klassikerstatus genießenden Polemik von Friedrich Engels und Karl Kautsky gegen den »Juristen-Sozialismus« (vgl. Engels/Kautsky 1887). Die Möglichkeit einer Aufhebung der gegenwärtigen Spannungslage zwischen der Weimarer Verfassung und den gesellschaftlichen Machtverhältnissen sieht er nicht durch eine Änderung der Staatsordnung, sondern nur durch eine »Neuordnung der ökonomischen Machtverteilung« (S. 499) im Lande gegeben. In diesem Sinne handele es sich beim gegenwärtigen Deutschland um einen Fall, in dem der ideologische Überbau der Rechtsordnung den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen »vorhinkt« (S. 499). Kirchheimer zufolge muss bei der Erörterung von Vorschlägen zur Verfassungsrevision in erster Linie geprüft werden, welche Wirkungen sie in der konkreten gesellschaftlichen Situation auslösen werden. Und diesbezüglich spricht seiner Überzeugung nach alles für eine Bewahrung des verfassungsrechtlichen Status quo. Momentan würde jegliche durchsetzbare Reform, und sei sie noch so gut gemeint, angesichts der gegenwärtig bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse gegen die Arbeiterbewegung instrumentalisiert werden. Kirchheimer lieferte damit eine gleichsam materialistische Begründung für einen Verfassungskonservatismus. Er sah es folgerichtig auch als müßig an, sich mit der Frage einer zukünftigen Verfassung des demokratischen Sozialismus zu beschäftigen. Kanzler Schleicher scheiterte mit seinem Versuch, eine Tolerierung seiner Politik quer durch alle Reichstagsfraktionen zu erreichen und die NSDAP zu spalten. Nachdem Hindenburg Schleichers Alternativvorschlag zur Errichtung einer befristeten Diktatur ablehnte, trat dieser am 28. Januar 1933 zurück. Hindenburg ließ sich von von Papen überzeugen, Hitler als Kanzler einer Koalitionsregierung von NSDAP und DNVP zu akzeptieren. Am 30. Januar 1933 wurde die neue Regierung
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vom Reichspräsidenten berufen und vereidigt. Am 1. Februar folgte eine neuerliche Reichstagsauflösung. Die Wahlen am 5. März waren dann bereits durch vielfältige staatliche Repressionen und terroristische Aktionen der NSDAP und ihrer Kampfverbände geprägt. Auch wenn die Weimarer Verfassung formell weiter in Kraft blieb, besiegelte das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 die Absicherung des NSRegimes. Eine Woche vor dem Inkrafttreten des Ermächtigungsgesetzes erschien der letzte Artikel Kirchheimers vor seiner Flucht aus Deutschland. Es handelt sich um den Aufsatz Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats im März-Heft von ›Die Gesellschaft‹. Formulierungen im ersten Satz und in den Fußnoten lassen erkennen, dass er den Beitrag erst nach dem Regierungsantritt des Kabinetts Hitler abgeschlossen hat. Die Adressaten seines Artikels sind Leserinnen und Leser aus dem zeitgenössischen linken Spektrum, die nach der Machtübergabe an Hitler nach politischer Orientierung zwischen der reformistischen Sozialdemokratie und den Kommunisten suchen. Kirchheimers Text trägt weitgehend exegetische Züge und bettet die Argumentation in sozialistische und kommunistische Klassikerauslegungen ein. Zu Beginn erläutert er den marxistischen Diktaturbegriff, wie er sich auch bei Rosa Luxemburg und Paul Levi findet: Diktatur bedeute das Moment der tatsächlichen sozialen Herrschaft einer Klasse oder Gruppe über die anderen, unabhängig von den Rechtsformen, in denen sie sich vollzieht. Kirchheimer diskutiert als Nächstes das Demokratieverständnis der marxistischen Tradition. An keiner Stelle in den Werken von Marx und Engels fänden sich Hinweise darauf, dass die Staatsform der Demokratie die notwendige Vorform der proletarischen Diktatur bilden müsse. Selbstredend ergebe sich dort, wo eine unter Mitwirkung des Proletariats erkämpfte Demokratie besteht, die maximale Chance für die friedliche Umwandlung des bürgerlichen in einen proletarischen Staat. Solche Chancen sind jedoch mit dem Aufkommen von »Erscheinungen, die wir gemeinhin unter dem Schlagwort Faschismus zusammenfassen« (S. 517) außer Kraft gesetzt. Die Faschisten rekrutierten sich zu großen Teilen aus dem »Lumpenproletariat« (S. 518), das Marx 80 Jahre zuvor als soziale Trägergruppe des Bonapartismus identifiziert hatte. Der gegenwärtige politische Zustand in Deutschland sei dadurch gekennzeichnet, dass eine »selbständige bewaffnete politische Privatarmee, die [sich] nicht primär als Partei, sondern als bewaffnete Kampftruppe versteht« (S. 518), zu den sozialen Gruppen des Kapitals, des
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Militärs, den Großagrariern und der Bürokratie mit dem Ziel des politischen Machtgewinns hinzugestoßen ist. Eine solche Herrschaft wird der Arbeiterbewegung aus Gründen der Selbstbehauptung keine politischen Freiheiten mehr lassen: »Der Faschismus hat hierin keine Wahl. Er muss diese Kräfte nach dem Gesetz, nach dem er angetreten, durch den schärfsten bürokratischen Zwangsapparat niederhalten« (S. 519). Kirchheimer plädiert für eine präzise soziologische Fassung des Faschismusbegriffs und weist zustimmend auf Franz Borkenaus Unterscheidung zwischen einem »echte[n] Faschismus« (S. 519) als dem gewaltsamen Übergang rückständiger Länder in einen industriellen Kapitalismus und dem Nationalsozialismus als Herrschaftsform in einem kapitalistisch voll entwickelten Land hin (vgl. Borkenau 1932). Für die Arbeiterbewegung ist der demokratische Weg zum Sozialismus durch die letztgenannte Form des Faschismus versperrt. Kirchheimer sieht damit eine Konstellation heraufgezogen, wie sie das Linzer Parteiprogramm der österreichischen Sozialdemokratie von 1926 erwähnte, in der »die Arbeiterklasse die Staatsmacht nur noch in einem ihr aufgezwungenem Bürgerkrieg erobern kann« (S. 520). Trotz dieser martialischen Sprache findet sich in Kirchheimers Artikel keinerlei Hinweis darauf, dass er eine solche Aussicht für realistisch hielt. Betont kritisch setzt er sich mit Lenins Parteikonzept und seinem »primitiven« (S. 521) Demokratieverständnis auseinander, das in seiner autoritären Ausrichtung vor dem Hintergrund des repressiven russischen Absolutismus verständlich sei, sich im weiteren Fortgang der russischen Revolution in ihrer Demokratie- und Freiheitsfeindlichkeit aber bitter gerächt hätte. Demgegenüber erinnert er an Rosa Luxemburgs Lenin-Kritik und das demokratische Potential ihres Glaubens an die Spontaneität der Massen, bemängelt aber auch ihre allzu geringe Bewertung eines immer notwendigen Stücks hierarchischer Verselbständigung. Angesichts des repressiven Nationalsozialismus an der Macht ruft Kirchheimer seine Leserschaft auf, eine sinnvolle »Mitte« (S. 526) aus diesen beiden Traditionen für die bevorstehenden politischen Kämpfe zu finden. Die vagen Formulierungen am Ende seines Artikels spiegeln die Orientierungslosigkeit der gesamten Linken nach der Machtübergabe an Hitlers Koalitionsregierung wider. Die Übernahme der Kanzlerschaft durch Hitler wurde nicht als historische Wasserscheide erlebt, sondern als Episode eines Kontinuums. Weder die Spitze der SPD noch der KPD hatten eine klare Vorstellung davon, dass mit dem Vorgehen der neuen Regierung spätestens im März 1933 eine Zäsur eingetreten war. Die
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meisten Linken hatten die Illusion, dass sie nur für einen Moment von einer faschistischen Regierung zurückgedrängt waren, aber keine dauerhafte Niederlage erlitten hatten, da der wirkliche Kampf der Arbeiterbewegung noch gar nicht stattgefunden hatte. Otto Kirchheimer verblieben in Deutschland nicht mehr viele Gelegenheiten, sich dem Nationalsozialismus entgegenzustellen. Nach dem Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar setzte eine erste Welle willkürlicher Verhaftungen und Misshandlungen von Oppositionellen durch die Polizei und die mit polizeilichen Vollmachten ausgestattete SA ein. Kirchheimer hatte den Abend des 27. Februar in der Reichstagsbibliothek verbracht und als einer der letzten Nutzer das Gebäude verlassen. Er fürchtete, deswegen als Verdächtiger verfolgt zu werden.120 In der Rechtsanwaltspraxis von Fraenkel und Neumann wurden Protokolle über die Folterungen der Gefangenen durch die SA in dieser Nacht aufgenommen. Eine Reihe aktiver linker Politiker der Weimarer Republik flüchtete ins Ausland. Zu ihnen gehörte Kurt Rosenfeld. Er wurde wegen »kommunistischer Betätigung« als einer der ersten mit Berufsverbot belegt und von der SA verfolgt, weshalb er mit einer Gruppe politischer Freunde nach Prag flüchtete (vgl. Ladwig-Winters 2007: 248). Die Verhaftungswellen und Misshandlungen nahmen nach der Festnahme Dimitroffs und den anderen angeblich für den Reichstagsbrand Verantwortlichen am 9. März ein immer größeres Ausmaß an. Unter den circa 50.000 Verhafteten, die in zumeist illegale Lager verbracht wurden, wo sie von SA und SS misshandelt und in denen 500 bis 600 Gefangene ermordet wurden, war auch Franz L. Neumann. Vor dieser Orgie der Gewalt flüchteten im ersten Jahr des NS-Regimes etwa 65.000 Menschen auf legale oder illegale Weise ins Ausland. Danach ging es Schlag auf Schlag weiter. Am 14. März verbot die Regierung den Republikanischen Richterbund. Am 7. April 1933 wurde parallel zum »Gesetz über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« ein Rechtsanwaltsgesetz verabschiedet, das »nicht arische« oder sich »kommunistisch betätigende« Anwälte aus der Anwaltschaft ausschloss. Von den in Berlin zugelassenen 3.400 Anwälten stufte die Regierung allein über 1.800 als »jüdisch« ein. Dieses Gesetz bedeutete für Otto Kirchheimer das Ende seiner anwaltlichen Existenz. Gleiches widerfuhr Hilde Kirchheimer-Rosenfeld, die sich zunächst bemüht hatte, die Kanzlei ihres geflüchteten Vaters aufrechtzuerhalten, zu der unter anderem die anwaltliche Vertretung des wegen des Reichstagsbrandes angeklagten Ernst Torgler gehörte. Als Anwältin für die Rote 120 Information von Peter Kirchheimer am 7. März 2017.
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Hilfe, die zuvor auch Thälmann und Dimitroff verteidigt hatte, war sie zusätzlich bedroht und flüchtete Mitte April zusammen mit der zweijährigen Tochter Hanna über die Schweiz nach Paris (vgl. Ladwig-Winters 2007: 195). Eindringlich beschwor Arkadij Gurland, dem im April die Flucht nach Belgien gelungen war, seinen Freund Kirchheimer, das Land ebenfalls zu verlassen.121 Doch Kirchheimer blieb zunächst. Er war noch in Berlin, als am 2. Mai die Schergen der SA das Haus des Metallarbeiterverbandes in der Alten Jacobstraße, in dem Fraenkel und Neumann ihre Kanzlei hatten, besetzten und deren Mitarbeiter terrorisierten.122 Am 4. Mai verlegte der Parteivorstand der SPD seinen Sitz nach Prag, am 9. Mai erging an Neumann die offizielle Mitteilung des anwaltlichen Vertretungsverbots und am 10. Mai erfolgten die Bücherverbrennungen. Für Neumann waren das die untrüglichen Zeichen dafür, dass es für ihn an der Zeit war, das Land zu verlassen.123 Sein Kanzleikompagnon Ernst Fraenkel entschied sich dafür, von einer für ihn geltenden Ausnahmeregel für ausgezeichnete Soldaten im Weltkrieg in der Rechtsanwaltsverordnung Gebrauch zu machen, um politisch Verfolgten weiterhin rechtlich beistehen zu können.124 Für Kirchheimer gab es eine solche Möglichkeit nicht. Dennoch hatte er noch keinen Plan zur Emigration gefasst, sondern wollte erst einmal die weitere Entwicklung abwarten und für eine Weile bei seinem Bruder Friedrich (Fritz) in Heilbronn untertauchen. Doch Friedrich Kirchheimer, der mittlerweile eine führende Position bei der lokalen Dresdner Bank innehatte, warf den Schutzflehenden mit der Begründung aus dem Haus, dass er sich die politischen Scherereien selbst zuzuschreiben habe und er nicht hineingezogen werden wolle.125 Am 19. Mai wurde Otto Kirchheimer »wegen Verdachts politischer Umtriebe« festgenommen.126 Der Zufall wollte es, dass er in der Untersuchungshaft die Zelle mit Paul Kecskemeti teilte. Kecskemeti war ein aus Ungarn stammender junger Soziologe, der 1927 121 So der Bericht von Ossip K. Flechtheim in einem Gespräch am 13. Februar 1988. 122 Vgl. die Schilderung der damaligen Sekretärin Ella Müller in Erd (1985: 55-57). 123 Zu Neumanns Biografie vgl. Intelmann (1996). 124 Zu Fraenkels Motiven vgl. Ladwig-Winters (2009: 106-109). 125 So der Bericht von Hanna Kirchheimer-Grossman in einem Gespräch am 11. März 2016. Friedrich Kirchheimer gelang es 1937, mit seiner Familie nach Argentinien zu emigrieren. 126 Die Datumsangabe findet sich in einem Schreiben der Geheimen Staatspolizei (Staatspolizeileitstelle Berlin) an die Geheime Staatspolizei (Geheimes Staatspolizeiamt) vom 1. Februar 1938. Auswärtiges Amt, Politisches Archiv, RZ 214, R 99744 (69. Ausbürgerungsliste), Ausbürgerungsakte betreffend Otto Kirchheimer.
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nach Deutschland gekommen war und gelegentlich für die amerikanische Nachrichtenagentur United Press als Korrespondent arbeitete (vgl. Frank 2009: 444). Beide kannten einander zuvor nicht, schlossen aber nicht zuletzt aufgrund gemeinsamer Interessen an soziologischen Theorien in der Haftzelle spontan Freundschaft.127 Nach der Intervention der amerikanischen Botschaft bei deutschen Behörden wurde die Freilassung von Kecskemeti veranlasst; dieser beharrte darauf, dass er nur, wenn sein »friend Kirchheimer« ebenfalls aus der Haft entlassen würde, das Verlangen der Behörden akzeptieren würde, keinen Zeitungsbericht über seine Erfahrungen in der Haft zu veröffentlichen (vgl. Kirchheimer-Grossman 2010: 60 f.). Nachdem die Gestapo nichts Weiteres gegen Kirchheimer vorbrachte, wurde er zusammen mit Kecskemeti am 22. Mai 1933 aus der Haft entlassen. In den ersten Junitagen flüchtete er als Wanderer getarnt nach einem Besuch der Porta Nigra in Trier über die grüne Grenze von Deutschland nach Luxemburg und von hier aus weiter nach Frankreich.128
9. Rückblicke auf die Weimarer Republik Die weiteren biografischen Stationen Otto Kirchheimers im Exil und seine verschiedenen beruflichen Tätigkeiten werden in den Einleitungen der Folgebände dieser Ausgabe seiner Gesammelten Schriften ausführlicher geschildert. Für Kirchheimer spielten seine politischen Erfahrungen in der Weimarer Republik und die Analyse ihres Scheiterns auch für sein späteres Werk eine nicht unbedeutende Rolle. Immer wieder kam er in seinen späteren Schriften auf Beispiele aus der Weimarer Republik zurück, sei es in seinen Analysen zum Nationalsozialismus, seinen Plänen für den demokratischen Neuaufbau Deutschlands nach 1945, seinen Überlegungen zur Politischen Justiz oder seinen Arbeiten zur vergleichenden Regierungslehre und zur Parteienforschung. Noch im Februar-Heft des Jahres 1933 von ›Die Gesellschaft‹ hatte Kirchheimer eine Rezension des Buches Politik von Adolf Grabowsky (vgl. Grabowsky 1932) publiziert. Grabowsky war seit 1921 Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik (DHfP) in Berlin und gehörte dort zur nationalistisch-konservativen Gruppe im Lehrkörper, die auch 127 Zu Kecskemetis soziologischen Interessen, die sich später auch in Übersetzungen von Schriften Karl Mannheims ins Englische dokumentierten vgl. Frank (2008: 137 f.). Im Nachlass Kirchheimers finden sich Briefe, die die später anhaltende Verbindung zwischen den beiden dokumentieren. 128 So der Bericht von Peter Kirchheimer in einem Gespräch am 16. März 2016.
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nach der Zuordnung der DHfP an das Reichspropagandaministerium versuchte, sich mit dem neuen Regime zu arrangieren und an der Hochschule zu bleiben (vgl. Eisfeld 2013: 112-114, 149-151). Sein Buch war der erste deutschsprachige Versuch, ein Lehrbuch für die im Entstehen begriffene Disziplin ›Wissenschaft von der Politik‹ vorzulegen. Kirchheimer sprach dieser neuen Wissenschaftsdisziplin die Existenzberechtigung ab. Er begründete es damit, dass »der Charakter des ›Politischen‹ sich bekanntlich einer eindeutigen Feststellung entzieht und in verschiedenen Ländern hierüber recht verschiedene Meinungen bestehen« (S. 511). Im Einzelnen bemängelte er zudem die Überbetonung eines außenpolitischen Blickwinkels bei der Beschreibung politischer Systeme und die Überschätzung ideologischer Faktoren bei der Darstellung politischer Vorgänge durch Grabowsky. Ein positives Verhältnis zur Politikwissenschaft fand Kirchheimer erst in der Emigration. Von den späteren Veröffentlichungen Kirchheimers beschäftigen sich einige exklusiv mit der Weimarer Republik und sind deshalb ebenfalls in diesen Band aufgenommen worden. Dazu gehört die erste wissenschaftliche Publikation, die Kirchheimer nach seiner Flucht aus Deutschland vorlegen konnte, der Aufsatz The Growth and the Decay of the Weimar Constitution. Der Artikel erschien im Novemberheft der in London herausgegebenen ›Contemporary Review‹. Das 1866 gegründete Magazin war in der englischen Intellektuellenszene wohletabliert und hatte in den 1920er und 1930er Jahren eine linksliberale Ausrichtung. Zu ihren gelegentlichen Autoren gehörte der an der London School of Economics lehrende Harold Laski, bei dem Franz Neumann nach seiner Flucht akademisch Unterschlupf gefunden hatte und der vermutlich Kirchheimer die Verbindung zum langjährigen Herausgeber der Zeitschrift, George P. Gooch, vermitteln konnte. In seinem Beitrag liefert Kirchheimer einen Überblick über die gesamte Geschichte der Weimarer Republik. Er wiederholt darin die schon in anderen Schriften vorgenommene Einteilung in die drei Entwicklungsphasen 1919 bis 1924, 1924 bis 1930 und 1930 bis zur Machtübergabe an die Regierung. Auch die Akzente und Bewertungen einzelner politischer Akteure bleiben fast unverändert. Etwas stärker als in seinen vorherigen Schriften betont er lediglich die Versäumnisse grundlegender politscher Reformen in den ersten Nachkriegsjahren, das Stabilisierungspotential der Republik in der mittleren Phase und die einschneidenden Effekte der Weltwirtschaftskrise auf die deutsche Innenpolitik. Auch im Rückblick wiederholt er seine These, dass das eigentliche Ende der Weimarer Republik bereits mit der Regierung Brünings gekommen war: »While political liberty was still alive, democracy had gone with
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Brüning’s coming into power« (S. 533). Aus Brünings »liberal-minded dictatorship« (S. 533) habe dann ein direkter Weg zum »totalitarian State« (S. 533) geführt, für dessen juristische Legitimation er in herausragender Weise Carl Schmitt verantwortlich macht. Schmitt habe eine Doktrin entwickelt, wonach es unumstößlich das Schicksal jedes demokratischen Regierungssystems ist, sich solange in interne Gruppenkämpfe zu verlieren, bis sie soweit aufgerieben sind, dass sie von einer Diktatur abgelöst werden. Kirchheimer fasst Schmitts Theorie für seine englischsprachigen Leser folgendermaßen zusammen: »Professor Carl Schmitt, who is the theorist of the Nazi Constitution just as Hugo Preuß was the theorist of the Weimar constitution, developed a doctrine of the totalitarian State amalgamating the ideas of its being the necessary and the ideal goal of historical evolution« (S. 533). Der einzige substantielle Beitrag des Nationalsozialismus zur Begründung des Regimes sei sein Rassismus, dessen »primitivity of thought« (S. 534) direkt zurück in die Überzeugungswelt frühhistorischer Stammesgesellschaften führe. Der nächste in diesem Band aufgenommene Beitrag macht einen großen Zeitsprung in das Jahr 1959, als Kirchheimer als Full Professor für Political Science an der New School for Social Research in New York tätig war. Es handelt sich um eine Rezension der Memoiren des langjährigen Reichswehrministers Otto Geßler Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit, die Kirchheimer für die ›Gewerkschaftlichen Monatshefte‹ verfasste. Die Zeitschrift wurde von 1950 bis 2004 als theoretisches Zentralorgan des Deutschen Gewerkschaftsbundes herausgegeben. Ihr Chefredakteur war 1959 Walter Fabian, mit dem Kirchheimer seit der gemeinsamen Zeit bei den Jungsozialisten in Berlin-Spandau verbunden war. Kirchheimer nutzt die Besprechung zu einer Erinnerung an die fatale Rolle, die die Reichswehr während der Weimarer Republik spielte und für eine neuerliche Abrechnung mit der von Geßler wiederholten offiziellen Reichswehrtheorie, wonach diese eine nur dem Staat als solchem, nicht aber seinen wechselnden Regierungen dienende Kraft sei. Diese Theorie sei in entscheidenden Situationen der Republik, wie dem versuchten Hitler-Putsch 1923 oder bei der Abwehr der NSDiktatur, von der Realität dementiert worden. Tatsächlich seien die Regierungen der Weimarer Republik immer vom Vertrauen oder Misstrauen der Militärs abhängig geblieben. Den Wert der Lektüre der Geßler’schen Memoiren sieht Kirchheimer ausschließlich darin, dass sie dem Leser Einblicke in die bizarre Gedankenwelt der damaligen Militärführung geben.
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Ein Jahr später publizierte Kirchheimer in der 1956 gegründeten Rezensionszeitschrift ›Neue Politische Literatur‹ eine Besprechung des 1960 in erster Auflage erschienenen Buches Von der Weimarer Verfassung zum Grundgesetz von Friedrich Karl Fromme. Das Buch ist die überarbeitete Fassung einer 1957 bei Theodor Eschenburg in Tübingen angefertigten Dissertation. Kirchheimer ist mit den Kernaussagen des Buches durchaus einverstanden. Die Weimarer Verfassung hatte bei der Schaffung des Bonner Grundgesetzes »schlechthin die Rolle einer Antiverfassung« (S. 539) zugeschrieben bekommen. Kirchheimer warnt allerdings vor allzu großer bundesdeutscher Selbstgefälligkeit. Noch sei es zu keiner echten Bewährungsprobe des Grundgesetzes gekommen. Die Weimarer Verfassung sei nicht an ihrem Normenbestand gescheitert, sondern an den einander bekämpfenden sozialen Gruppen. Gegenüber der idyllischen Charakterisierung der frühen Präsidentschaftsjahre Hindenburgs als eine Art parlamentarische Monarchie erinnert Kirchheimer an die verfassungswidrige Einmischung des Präsidenten in den Volksentscheid über die Fürstenenteignung 1926. Und der Kritik Frommes an der zwangsläufigen demagogischen Denaturierung der Volksgesetzgebung in der Weimarer Republik hält Kirchheimer entgegen, dass diese Denaturierung nicht die Folge der Verfassungsgesetzgebung war, sondern das Resultat einer von der damaligen Staatsrechtslehre und bürokratischen Praxis befürworteten einschränkenden Verfassungsinterpretation. Vor dem Hintergrund der Weimarer Erfahrungen legt er der Bundesrepublik die Einführung von Sachplebisziten als Demokratisierungsmaßnahme ans Herz. Als regelmäßiger Rezensent für die ›Washington Post‹ lieferte Kirchheimer 1963 eine kurze Notiz zu dem Buch Young Germany des aus Breslau stammenden amerikanischen Publizisten und Historikers Walter Zeev Laqueur über die deutsche Jugendbewegung. Die Besprechungsnotiz ist trotz ihrer Kürze insofern instruktiv, als Kirchheimer darin auch einige seiner eigenen Gefühlsmotive während seiner Jugendzeit in dem jüdisch-deutschen Ableger ›Die Kameraden‹ der Wandervogelbewegung preisgibt. In der deutschen Jugendbewegung sei eine klare Grenze zu den Überzeugungen und Lebensweisen der Elterngeneration gezogen worden. Es war »a world of protest against the conventionalism of the older generation« (S. 542), erfüllt von Gemeinschaftserlebnissen, die aber bei den meisten Gruppen immer mehr zu geradezu mythischen Führer-Verehrungen tendierten. So befriedigend diese Erfahrungen auf der persönlichen Ebene für die damals Beteiligten auch waren, insgesamt stehen sie für den »political failure of a generation« (S. 542).
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Ebenfalls 1963 erschien in der ›Neuen Politischen Literatur‹ eine Auseinandersetzung Kirchheimers mit der Studie Der Schutz der Republik von Gotthard Jasper, die auf einer bei Hans Rothfels in Tübingen geschriebenen Promotionsschrift fußte. Kirchheimer lobte die detaillierte historische Aufarbeitung der Prozesse gegen die Erzberger- und Rathenau-Mörder sowie der vergeblichen Versuche, die Drahtzieher der Terrorgruppe ›Organisation Consul‹ strafrechtlich zu belangen. Auch die Schilderung der Genese der beiden Republikschutzgesetze sowie des Ineinandergreifens zwischen landespolitischen Belangen und der Reichspolitik bei Maßnahmen zum Schutz der Republik hebt er positiv hervor. Seine Kritik richtet sich daran, das spezifisch bundesrepublikanische Reglement der streitbaren Demokratie zum Maßstab dafür zu erheben, wie »der relativistischen Demokratie als solcher der Prozess gemacht« (S. 546) wird. Das Übel der Weimarer Republik lag nicht in mangelnden gesetzlichen Regelungen, sondern in der großen Zahl und Stärke der Republikfeinde sowie dem weitgehenden Versagen von Verwaltung und Justiz. In der ›American Political Science Review‹ veröffentlichte Kirchheimer 1965 seine Überlegungen zu dem Buch Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik von Gerhard Schulz. Vor der Veröffentlichung dieses Buches hatte Schulz jahrelang eng mit Karl Dietrich Bracher am Berliner Institut für Politische Wissenschaft zusammengearbeitet und teilte dessen von Kirchheimer inspirierte These, dass die Weimarer Republik ihr eigentliches Ende bereits mit dem Präsidialkabinett Brünings erfahren hatte.129 Die in einem insgesamt sehr sachlichen und referierenden Ton verfasste Besprechung macht deutlich, dass Kirchheimer seine Ende der 1920er Jahre entwickelte These von der dominierenden politischen Rolle der Bürokratie auch durch neuere zeitgeschichtliche Forschungen weitgehend bestätigt sieht. Hart ins Gericht geht er erneut mit der SPD. Deren Führung habe nach der Revolution mit den alten Mächten das drängende Bedürfnis geteilt, »to uphold and defend continuity and order against all suspicious attempts to experiment with new forms of organization« (S. 547). Später habe der sozialdemokratische Ministerpräsident Braun, »without the burden of any intellectual baggage« (S. 547), in Preußen eine ähnlich einfallslose Politik betrieben. Diese auf bloßen Machterhalt abzielende Renitenz sei einer der Hauptgründe dafür gewesen, dass eine dringend nötige Reichsreform, bei der die Reichsre129 Vgl. Bracher (1955) mit den entsprechenden Hinweisen auf Schriften Kirchheimers.
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gierung in ihren finanz- und sozialpolitischen Kompetenzen gegenüber den Ländern hätte gestärkt werden müssen, auch in der weniger krisenhaften Phase der Republik keine Chance hatte. Der letzte in diesen Band aufgenommene Beitrag von Otto Kirchheimer ist seine Einführung: Die Justiz in der Weimarer Republik des gleichnamigen Buches. Dieser Beitrag ist einer der letzten von Kirchheimer vor seinem Tod am 22. November 1965 fertiggestellten Texte. Es handelt sich dabei um die Einleitung zu einer Sammlung von rechtspolitischen Kolumnen der Jahre 1925 bis 1933, die unter dem Titel Chronik in der Zeitschrift ›Die Justiz‹ erschienen waren. ›Die Justiz‹, in der Kirchheimer 1929 seinen Aufsatz Reichsgericht und Enteignung veröffentlicht hatte, wurde vom Republikanischen Richterbund herausgegeben, zu deren Mitgliedern auch Kirchheimer gehört hatte. Die überwiegende Zahl der Kolumnen stammte von Hugo Sinzheimer; in den letzten 14 Monaten der Republik wurden sie von Ernst Fraenkel verfasst. Der Sammelband erschien in der von Wilhelm Hennis und Hans Maier herausgegebenen Reihe ›Politica‹ im Kölner Luchterhand-Verlag. Die Veröffentlichung des von Thilo Ramm betreuten Buches verzögerte sich aufgrund diverser redaktioneller Quisquilien bis 1968. In seiner Einführung erinnerte Kirchheimer an die minoritäre Position der republiktreuen Juristen und die damaligen Motive für die Gründung des Republikanischen Richterbundes. Er nannte zwei Gründe dafür, diese Dokumente einer längst verklungenen Periode nicht zu vergessen. Einmal, weil sie die Fehler und Unterlassungssünden der staatlichen Justizpolitik der Weimarer Zeit aufzeigen, die für das »Hineinschlittern« (S. 551) in das NS-Regime Pate gestanden hatten. Zum anderen, weil sie belegen, welch großen Anteil die justizielle Praxis der Weimarer Richterschaft an der Zerstörung der Republik trug. In den ›Chroniken‹ sah er die »Fieberkurve der politischen Justiz« (S. 550) in der Weimarer Republik aufgezeichnet. Kirchheimer nutzte die letzten Seiten seines Beitrages für eine bewegende Würdigung von Hugo Sinzheimer, dem einflussreichen Co-Autor der Weimarer Verfassung, der am 16. September 1945 als Folge der jahrelangen Entbehrungen in holländischen Verstecken an Entkräftung gestorben war.
10. Editorische Anmerkungen zu diesem Band Im ersten Band der Gesammelten Schriften wurden alle wichtigen Texte von Otto Kirchheimer zur Thematik Recht und Politik in der Wei-
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marer Republik aufgenommen; berücksichtigt wurden auch Arbeiten, die Kirchheimer später verfasste, die aber zentral auf Aspekte aus der Zeit der Weimarer Republik bezogen sind. Darunter finden sich mehrere Titel, die bibliografisch bislang noch nicht erfasst worden waren, sowie Beiträge, die erstmals und zweifelsfrei der Autorenschaft von Otto Kirchheimer zugeordnet werden konnten. Eine vollständige Auflistung der Schriften Kirchheimers aus der Zeit der Weimarer Republik findet sich in der Gesamtbibliografie im fünften Band dieser Ausgabe. Diesem Band liegen die im Vorwort des Herausgebers angeführten Editionsprinzipien für die Gesamtausgabe zugrunde. An dieser Stelle ist noch einmal hervorzuheben: Die Texte folgen der jeweils letzten von Otto Kirchheimer selbst gebilligten Fassung. Die Vorlagen für den Abdruck sind am Anfang der Beiträge vermerkt. Zusätze des Herausgebers in den Anmerkungen sind in eckige Klammern gesetzt. Die Rechtschreibung wurde vorsichtig an die modernisierten Regeln des Dudens angepasst; nur offensichtliche Druckfehler wurden ohne Nachweis berichtigt. Die Forschungen für die Edition der Gesammelten Schriften von Otto Kirchheimer wurden durch eine Projektfinanzierung der Deutschen Forschungsgemeinschaft ermöglicht. Für die umfassenden Recherchen und die Materialsammlung in der Anfangsphase der Bandedition sowie für viele hilfreiche Hinweise ist Frank Schale zu danken. Jodi Boyle und Brian Keough danke ich für ihre unkomplizierte Hilfe bei der Sichtung des Nachlasses von Otto Kirchheimer in der German Intellectual Émigré Collection der State University of New York in Albany. Bei Recherchen und Materialsichtungen halfen Henning Hochstein und Lisa Klingsporn. Gerd Giesler und Jürgen Tröger danke ich dafür, dass sie mir so großzügig Archivmaterial und Transkriptionen zur Verfügung gestellt haben und Detlef Lehnert für den Hinweis auf den ›Vorwärts‹ als Quelle. [Darüber hinaus danke ich Gerd Giesler und Jürgen Tröger dafür, dass sie mir so großzügig Archivmaterial und Transkriptionen zur Verfügung gestellt haben und Detlef Lehnert für den Hinweis auf den ›Vorwärts‹ als Quelle.] Bei der aufgrund der Vorlagen nicht immer einfachen Texterfassung und -redaktion sowie der Erstellung der Register leisteten Moritz Langfeldt, Eike Christian Schmieder und Merete Peetz weit über ihre Verpflichtungen hinausgehende Hilfe. In der Schlussphase halfen bei den Korrekturen Steffi Krohn, Tobias Müller und Aaron Karl Jeuther. Für aufmunternde Unterstützung, kritische Kommentare und hilfreiche Anregungen zur Einleitung danke ich Andreas Anter, Jodi Dean, Gerd Giesler, Henning
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Hochstein, Lisa Klingsporn, Moritz Langfeldt, Simone Ladwig-Winters, Reinhard Mehring, Douglas Morris, Tobias Müller, Merete Peetz, Kerstin Pohl, Frank Schale, William Scheuerman, Eike Christian Schmieder, Alfons Söllner, David Strecker und Rieke Trimҫev. Die Recherchen und editorischen Arbeiten für diesen Band wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft ermöglicht. Die DFG gewährte dankenswerterweise auch einen Druckkostenzuschuss für diesen Band (BU 1035/8-1). Mein ganz besonderer Dank gilt Peter Kirchheimer (New York) sowie Hanna Kirchheimer-Grossman und ihrem Mann David Grossman (Arlington) für die Erteilung der Abdruckgenehmigungen, für die umfassende Unterstützung bei der Vorbereitung dieser Edition und vor allem für die anregenden Gespräche mit ihnen über das Leben und Werk ihres Vaters. Greifswald, im Herbst 2017 Hubertus Buchstein
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[1.] Die Lehre von Stettin* [1928] In Deutschland sind schon manche Fememordprozesse über die Bühne gegangen, aber stets hat eine geschickte Prozessleitung es verstanden, politische Geschehnisse zu Fragen juristischer Tatsachenbestandsfeststellung zu vereinfachen; aus Liebe zu ihrem deutschen Volk, aus Angst für ihr Gewissen hat sie immer dort aufgehört zu forschen, wo die Motivation der Einzelhandlung einmündete in den Strom des Zeitgeschehens. Unterstützt wurde sie freilich in diesem edlen Bemühen durch das Auftreten von Rechtsanwälten, die glaubten, nicht Anwälte von Angeklagten, sondern Vertretern einer Geschichtsauffassung zu sein, deren Aspekte freilich durch die Weisungen ihrer Auftraggeber begrenzt waren. In Stettin zum ersten Male geschah es, dass der geheimnisvolle Schleier, den bisher die Leipziger Gerichtsherren so sorgfältig über alle Arten und Abarten der deutschen Reichswehr gebreitet hatten, gelüftet wurde. Als die Kreise, die die eigentlichen Angeklagten im Stettiner Fememordprozess sind, sich betroffen fühlten, suchten sie eine Position, um den systematischen Standpunkt ihres Tuns aufzuzeigen. Aber der Hinweis auf Oberschlesien, wo in Wirklichkeit ein Selbstschutz notwendig war, entbehrt der Berechtigung. Dort illegale Verbände der Reichswehr bilden, das hieß nur, das Vorgehen der Polen mit gleichem beantworten, Deutschland ersparen, dass aus Oberschlesien ein zweites Wilna, ein zweites Fiume wurde. Wo aber war in Pommern die Gefahr? Wer bedrohte die friedlichen Ackerbürger Pommerns? Etwa die Siedlungsgesetzgebung? Nein und abermals nein! Die Zeit war gekommen, den traditionellen Zusammenhang zwischen dem ersten und dem zweiten Sohn des Landadels – Rittergutsbesitzer und Offizier – hervorzukehren. Schnell schwand die republikanische Tünche der Reichswehr, die ja nie politische Überzeugung, sondern nur Ausweispapier dem Brotgeber gegenüber war, und Zeiten der Unruhe, in denen die Reichswehr * [Erschienen in: Die Tribüne, Organ der Sozialdemokratischen Partei für das Land Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt, Nr. 99, 27. April 1928, Erfurt. Gezeichnet mit dem Pseudonym »A. Z.«. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 36-37.]
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[1.] Die Lehre von Stettin [1928]
selbstständig im Namen republikanischer Politik handeln sollte, zeigten und zeigen immer wieder, dass sie niemals darauf verzichtet, ihre eigene Politik, die Politik der Reaktion, des Großgrundbesitzes und der Junker zu treiben. Wenn der Stettiner Prozess uns eine Lehre bietet, so wird sie nicht in den Gründen zu suchen sein, welche die dortigen Richter dem Urteil beigeben werden. Sie werden von außergewöhnlichen Zeiten und Umständen sprechen, die diese Tat bedingten und verstehen, wenn auch verurteilen lassen. Wir aber als Sozialisten dürfen nicht von außergewöhnlichen Umständen sprechen, wir müssen die soziologische Bedingtheit der leitenden Reichswehrkreise erkennen und rückhaltlos darüber klar sein, dass diese Kreise nie aufhören werden, mit ihren natürlichen Verbündeten, den ostelbischen Junkern heimlich oder offen – je nach den Umständen – die Demokratie zu untergraben und ihre von keiner Kontrolle belästigte Herrschaft wieder aufzurichten. Größere Teile des deutschen Volkes verkennen noch diesen Zusammenhang. Deshalb, um ihnen die Augen zu öffnen, fordern wir vom neuen Reichstag die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, der sich nicht mit den Fememorden irregeführter Unterführer und Soldaten beschäftigt, sondern systematisch die selbstständige Politik der deutschen Reichswehr untersucht und die wahren Schuldigen, aktive und scheinbar pensionierte zivile und militärische Reichswehrmänner dorthin stellt, wohin man bisher nur ihre armseligen Kreaturen zu stellen gewagt hat.
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[2.] Zuchthaus Untermaßfeld und moderne Preßberichterstattung* [1928] Unter dem marktschreierischen Titel »Zuchthaus oder Erholungsheim« brachte die »Mitteldeutsche Zeitung« vom 24. Juni einen Bericht über den Besuch der Presse im Untermaßfelder Zuchthaus. Wir tragen es der »Mitteldeutschen Zeitung« nicht nach, dass in ihrem ganzen Elaborat kein Wort über den Mann zu finden ist, dem die Strafanstalt Untermaßfeld ihre »Berühmtheit« verdankt – ein für andere Strafanstalten beschämender »Ruhm«, dass im heutigen Deutschland das Zuchthaus Untermaßfeld und das Jugendgefängnis in Wittlich (Rheinland) die einzigen Anstalten sind, in denen der Gefangene Mensch und nicht bürokratisches Objekt ist. Die Ausführungen der »Mitteldeutschen Zeitung« bewiesen jedenfalls, wie recht Genosse Krebs, der Leiter des Zuchthauses Untermaßfeld, mit seiner bisher verfolgten Taktik hatte, möglichst wenig von seinem Werk in eine »solche Öffentlichkeit« dringen zu lassen. Zunächst müssen wir uns wundern, dass der Herr Berichterstatter bei seinem Rundgang es vergessen hat, zu bemerken, dass sämtliche Zellen der zweiten Stufe im ältesten Teil der alten Festung unbeheizbar und unbeleuchtbar sind, also 40 Prozent aller Gefangenen jahrelang in eiskalten Räumen schlafen, weil der Thüringer Ordnungsblock für solche Ausgaben keine 220.000 Mark übrig hat. Wenn auch, dank der Fürsorge der Anstaltsleitung, das Essen dort abwechslungsreicher ist als in anderen Strafanstalten, so fehlt es doch, da der Thüringer Ordnungsblock pro Kopf nur 700 Mark jährlich auswirft, an dem durchaus notwendigen Fettgehalt. Schon aus diesen kurzen Angaben ist zu ersehen, dass auch in diesem besten aller deutschen Gefängnisse durchaus ohne die Schuld des
* [Erschienen in: Die Tribüne, Organ der Sozialdemokratischen Partei für das Land Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt, Nr. 153, 2. Juli 1928, Erfurt. Gezeichnet mit dem Pseudonym »A. Z.«. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 38-39.]
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[2.] Zuchthaus Untermaßfeld und moderne Preßberichterstattung [1928]
Anstaltsleiters und seines vorbildlichen Personals noch sehr viel zu wünschen übrig bleibt. Wenn der Berichterstatter des deutschnationalen Blattes diese Mängel verschweigt, so liegt das an seiner Tendenz, diese Art Strafanstalt dadurch zu diskreditieren, dass man sie als eine Art Paradies auf Erden hinstellt. Das Argument, dass sich mancher arme Teufel und Arbeitsloser freuen würde, dort sein zu können, berührt sehr sonderbar; denn es vergisst, dass Freiheitsbewusstsein und Selbstbestimmungsrecht das wichtigste Gut sind, dessen Verlust allein ausreicht, um als schwere Strafe empfunden zu werden. Wie aus den Ausführungen der »Mitteldeutschen Zeitung« deutlich wird, ist sie an einer durchgreifenden Reform des Strafvollzugs nicht sehr interessiert; denn sie sieht in den Gefängnissen hauptsächlich einen Schutz der bestehenden Gesellschaftsordnung, der, je straffer man ihn durchführt, desto größere Erfolge zeitigt. Zu diesen Gedankengängen steht freilich die Erziehungsarbeit, die in Untermaßfeld geleistet wird, im Gegensatz. Sie ist für uns insbesondere deshalb so bedeutend und wertvoll, weil sie einen Akt sozialer Gerechtigkeit größten Ausmaßes darstellt. Dies begreifen wir, wenn wir uns die Frage stellen, aus welchen sozialen Gruppen sich hauptsächlich die Objekte der Strafjustiz rekrutieren. Von den politischen Delikten soll hier grundsätzlich abgesehen werden, da diese nur nominell zur Strafjustiz gehören, in Wahrheit aber mit dem Begriff der Strafe schlechterdings nichts zu tun haben, sondern nur ein Akt der Unschädlichmachung des politischen Feindes sind. Die Strafgesetze vermögen in ihren Maschen nur einen Teil der Personen festzuhalten, die der Gesellschaft oder einzelnen Individuen Schaden zufügen, die unendliche Kompliziertheit sowohl von personellen Beziehungen als auch insbesondere des modernen Wirtschaftslebens kann von dem Strafgesetz, das generalisierend verfahren muss, nicht erfasst werden. Nur ein bestimmter Teil aller gesellschaftlichen Existenzen ist in die Systematik des Strafgesetzbuches mit seinen fest umrissenen Begriffsmerkmalen hineinzubringen. Die Menschen ohne irgendwelche größere Existenzmittel sind es, vermöge der Einfachheit der Motivierungen und der Publizität ihres Tuns, die die größte Anzahl der Straffälligen stellen, während das
[2.] Zuchthaus Untermaßfeld und moderne Preßberichterstattung [1928]
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Gebaren anderer Bevölkerungsschichten wegen der Undurchdringlichkeit größerer wirtschaftlicher Transaktionen nur in den seltensten Fällen zur Aburteilung kommt. So ist es ein durch die Gesellschaftsverhältnisse bedingter Umstand, dass gerade Individuen der unteren sozialen Schichten in die Strafgewalt des Staates kommen. Und die Aufgabe des Staates kann nun nicht darin bestehen, einen zweifelhaften Vergeltungsanspruch zu verwirklichen, sondern er muss es als seine Aufgabe, als eine Aufgabe sozialer Gerechtigkeit ansehen, in diesen Menschen das Bewusstsein der menschlichen Würde und des Wertes der menschlichen Persönlichkeit zu erwecken, das sie vordem nie in diesem Ausmaße besaßen. Jeder Mensch, der dem Staat anheimfällt, muss ihm Aufgabe, menschliche Pflicht und nicht Verwaltungsobjekt sein. Diese Wiederherstellung der menschlichen Würde mit Erfolg in Angriff genommen zu haben, ist das Werk von Untermaßfeld.
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[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus* [1928] Der Liberalismus wollte die kulturellen Gebiete außerhalb des Staats wissen, davon abgesehen aber begnügte er sich damit, anstatt ihn zu vernichten, sich in ihm eine seiner ökonomischen Position äquivalente Machtstellung zu erringen. In diesem Kampf, der immer voll von Respekt und geheimer Bewunderung für die diesen Staat repräsentierenden Mächte blieb, war ihm seine Waffe die Konstitution. Der geringe politische Eigengehalt des Liberalismus ließ ihn in Frankreich zweimal dem Machtwillen eines Napoleon unterliegen, während er in Deutschland in Vor- und Bismarck‘scher Zeit seine Selbständigkeit gegenüber der Staatsmacht immer wieder preisgab. Die Konstitution und der Rechtsstaatsgedanke überhaupt, in die der Liberalismus ein ihre wahre Bedeutung weit übersteigendes Vertrauen setzte, sollten ihm dazu verhelfen, die herrschenden Adelsschichten auf einen genau geregelten Tätigkeitsbezirk festzulegen. Da sie außerdem nur noch ihre ökonomische Position als Waffe hatte, dauerte dieser Prozess ziemlich lange. Diese Verzögerung brachte es mit sich, dass der letzte Teil des Kampfes schon unter dem Nachdrängen der inzwischen zu einem politischen Faktor gewordenen Arbeiterklasse geführt wurde.1 So kam die Arbeiterklasse durch die gemeinsame Frontstellung gegen den feudalen Halbabsolutismus in nähere Beziehung zum Liberalismus. Bei der Kluft, in die sie notwendigerweise ihre gegensätzlichen ökonomischen Interessen bringen musste, war der Kampf um politische und weltanschauliche Freiheit, den der Liberalismus auch dort, wo er sich sonst seiner politischen Handlungsfreiheit fast gänzlich begeben hatte, wie in Deutschland, als traditionelles Erbstück weiterführte, ein willkommenes Bindemittel, das bis auf den heutigen Tag in der westeuropäischen Sozialdemokratie nachhaltig fortgewirkt hat. Der Kampf um politische Freiheit, den die liberalen Staatsparteien zur Durchführung ihres Herr* [Erschienen in: Zeitschrift für Politik, Band 17, Berlin 1928, S. 593-611. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 23-33.] 1 Dieser Vorgang findet seine prägnante Beschreibung bei Friedrich Engels, Einleitung zu Karl Marx‘ Klassenkämpfe in Frankreich, S. 5[, in: MEW Band 7, Berlin 1960, S. 515]; aber auch der Gegner urteilt ebenso: Lorenz von Stein, »Der Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs«, [Leipzig 1842,] S. 145.
[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928]
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schaftsanspruchs auf politischem Gebiet führten, war so lange relativ ungefährlich, als das Festhalten an einer gemeinsamen nationalen Basis die politische Einheit des Staates gewährleistete. Als aber das tatkräftige Nachdrängen der Arbeiterklasse diesen über die politischen Ziele des Liberalismus hinausschießenden Kampf mit der Erringung der sogenannten Demokratie, das heißt der vollkommenen, an keine Zensurqualifikation gebundenen, politischen Gleichberechtigung zu einem vorläufigen Ende gebracht hatte, da war diese gemeinsame Basis nicht mehr vorhanden. Damit war aber zugleich die für eine Demokratie – möge sie einer wie auch immer gearteten Idee als Form dienen – noch viel notwendigere Wertvoraussetzung verschwunden.2 Denn in dem Augenblick, wo ein großer von der politischen Gleichberechtigung nicht ausgeschlossener Volksteil den gemeinsamen Wert nicht mehr als den seinigen anerkennt, mit ihm in Kollision gerät, hat die Demokratie ihre ursprüngliche Bedeutung als in der Teilnahme jedes Einzelnen bestehende Zusammenfassung aller einen gemeinsamen Wert Anerkennenden zum Volk seine Bedeutung verloren. Die Geschichte des 19. Jahrhunderts, der Schauplatz des Kampfes und endgültigen Sieges der Demokratie, hat aber unter dem Eindruck jenes erbitterten Kampfes vergessen, danach zu fragen, was der mögliche und stets veränderliche Inhalt der neuen Volksherrschaft sei,3 ein Säumnis, das durch die absolute Gleichsetzung, die man bald darauf zwischen Volk und Demokratie einerseits, Liberalismus und Bourgeoisie andererseits vornahm, genugsam verständlich erscheint. Denn hiermit war der Gegensatz vom rein Politischen ins Soziale abgewandelt, und von nun an verbergen sich hinter dem Terminus »Demokratie« bestimmte Vorstellungen sozialer Homogenität. In diesem Sinn wird die Demokratie auch von sozialistischen Schriftstellern anerkannt, eine Anerkennung, die freilich durch die Allgemeinheit des Wertes geschwächt wird, in dessen Namen der Sozialismus demokratisch sein will; denn durch die soziale Gleichheitsforderung, die der Sozialismus an die Demokratie stellt, wird diese schon als ein Übergang in den Zustand des Nicht-Mehr-Staat-Seins, der klassenlosen Gesellschaft verstanden. Indessen gehört zu den konstituierenden Merkmalen der Wertdemokratie keine a priori bestimmte, sondern lediglich eine über 2 Über die Strukturfragen der Demokratie W. Becker in den »Schildgenossen«, September 1925. [Werner Becker: Demokratie und Massenstaat, in: Die Schildgenossen, Nr. 5, Burg Rothenfels am Main, S. 459 ff.] 3 Über die Wandelbarkeit der herrschenden Ideen im Bereich der Demokratie führt schon höchst bewegliche Klage [Pierre-Joseph] Proudhon in: De la Justice dans la Révolution et dans l‘Eglise, tome I, [Brüssel/Leipzig 1860,] S. 10.
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[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928]
die rein politische Gleichberechtigung hinauszielende Werteinheit. Hierzu tritt die »Demokratie«, die in Deutschland nach Ausgang des Krieges, in andern Ländern teils schon früher errungen wurde, in einen scharfen Gegensatz.4 Sie bezeichnet unter Absehen von jeder Wertvoraussetzung nur einen Zustand allgemeiner politischer Gleichberechtigung. Das Kennzeichen jener formalen5 Demokratie ist der Nichtbesitz von Werten, gegen die bestimmte Gegenwerte gesetzt werden können, es sei denn, dass man in dieser Freiheit von Werten selbst einen Wert erblickt.6 Sie ist die Form, in der sich die Klassen und ihre Werte kreuzen und begegnen, genauer gesagt, sie ist die Form, in der zu einem bestimmten Zeitpunkt des Klassenkampfes die gegensätzlichen Kräfte sich gruppieren. Die Frage lautet nun: Wie ist unter solchen Umständen Regierung überhaupt möglich, und wer entscheidet darüber, wer sie in Händen haben soll. Bei einer durch eine gemeinsame Wertvorstellung qualifizierten Demokratie bedeutet Stimmenmehrheit den Entscheid über den besten Modus der Verwirklichung der gemeinsamen Wertvorstellungen.7 Wenn kein gemeinsamer Wert vorhanden ist, so ist es durchaus nicht evident, warum die Mehrheit entscheiden soll, denn dieser Mehrheitsbeschluss würde der kampflosen Unterwerfung der Minderheit unter den politischen Feind gleichkommen, was man am besten daraus ersieht, dass dieser Zustand einer kampflosen, auf lange Dauer hinaus berechneten Unterwerfung in der sozialistischen Literatur als Diktatur bezeichnet wird, wodurch weniger an die Bedeutung
4 Dieser Gegensatz zwischen, wie es hier genannt wird, Formal- und Wertdemokratie durchzieht auch das ganze Buch von Max Adler, »Politische oder soziale Demokratie«, [Berlin 1926,] die Bezeichnung politische und soziale Demokratie ist die Verengerung des Gegensatzes zwischen Formal- und Wertdemokratie, nur ist das Wort politische Demokratie unglücklich, da eben jede Demokratie als Erscheinungsform staatlichen Lebens politisch ist. Hierin zeigt sich die notwendige Zwiespältigkeit rein sozialistischer Begriffsbildungen, die, wenn sie in apolitischen Kategorien denken will, dennoch dazu nicht die politischen Kategorien selbst entbehren kann. 5 Nur die formale Demokratie hat im Auge Karl Renner bei seinen Erörterungen im Dezemberheft 1926 der »Gesellschaft«. [Vgl.: Karl Renner: Der Streit um die Demokratie, in: Die Gesellschaft, Jg. 4, Heft 1, Berlin 1927, S. 1-27.] 6 So [Hans] Kelsen in »Sozialismus und Staat«. [Eine Untersuchung der politischen Theorie des Marxismus, Leipzig 1920.] 7 Siehe die klassische Stelle bei [Jean-Jacques] Rousseau, »Contrat social«, Livre IV, Chap. 2, Des Suffrages. »Quand donc l’›avis contraire au mien l’›emporte, cela ne prouve autre chose, sinon que je m’›étois trompé et que ce que j’›estimois être la volonté générale, ne l’›étoit pas.« Völlig konform auch Max Adler »Politische oder soziale Demokratie«, [Berlin 1926,] S. 85.
[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928]
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dieses eine Ausnahme8 kennzeichnenden Begriffes als an die Nichtevidenz eines solchen Unterwerfungsaktes gedacht wird. Die Existenzvoraussetzungen der formalen Demokratie sind nun folgende: Ein annäherndes Gleichgewicht der sich bekämpfenden Klassen und die daraus resultierende stillschweigende Abmachung, solange diese Gleichgewichtslage andauere, durch die Wahlen und ihr zufälliges Mehrheitsergebnis entscheiden zu lassen, wer die Regierung übernehmen solle.9 Diese so entstandene Regierung ist nicht frei in ihren Entschließungen, denn der jeweils bei diesem Additionsverfahren Unterlegene hat das vom Liberalismus ererbte System der konstitutionellen Sicherungen bis aufs kleinste ausgebaut. Hierbei spielt es naturgemäß eine gewisse Rolle, welche Klasse oder Weltanschauungsgruppe es vermocht hat, in das Prozessgesetz dieses konstitutionellen Sicherungssystems, die Verfassung, Teile ihres Programms hineinzuschreiben und so durch das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit den jeweiligen Schwankungen der Gleichgewichtslage und für die zeitliche Dauer des Systems jedem Angriff zu entziehen. Eine Betrachtung der Weimarer Verfassung unter diesem Gesichtspunkt würde lehrreiche Beispiele bieten. So hat der Rechtsstaatsgedanke, aus dem Gedankenkreis und den Händen der konstitutionellen Parteien heraustretend in die breite Kampfesebene zwischen Volk und besitzenden Klassen, allmählich einen tiefgreifenden Funktionswechsel durchgemacht. Ursprünglich das zaghafte Kampfmittel der Schichten von »Besitz und Bildung«, denen es insbesondere darum zu tun war, die Ausschließlichkeit ihrer finanziellen
8 Hierzu Carl Schmitt: »Die Diktatur« [Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, Berlin 1921] und »Politische Theologie«[, Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 1922]. 9 Das Problem des Gleichgewichtszustandes ist zur Zeit der Monarchie als Problem der Ausbalancierung hervorgetreten. Interessant ist die Feststellung Aulards (»Pol. Geschichte der franz. Revolution«, II, S. 44) [François-Alphonse Aulard: Politische Geschichte der französischen Revolution, II, München 1924], dass das Bürgertum durch die Person des Königs nach einer relativen Ausbalancierung zwischen Volk und Bürgertum strebte, ohne jedoch auf seine tatsächliche Macht verzichten zu wollen. Das Volk aber begriff seine günstige Position nicht und half der Bourgeoisie gegen den König (S. 46). Die prinzipielle Bedeutung jenes Vorgangs als eines Vorspiels für die politische Geschichte des folgenden Jahrhunderts hat der Liberale Rotteck wohl begriffen, als er dem Königtum in der Französischen Revolution den bitteren Vorwurf machte, die Bürgerlichen gezwungen zu haben, an das Volk zu appellieren (Gesch. vom Anfang der hist. Kenntnis bis auf unsere Zeit, Bd. IX, S. 83). [Karl von Rotteck: Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen Kenntnis bis auf unsere Zeit, Band IX, Braunschweig 1846, S. 84 f.]
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Herrschaft zu befestigen10 und die Sicherheit ihrer privaten Aktionen nicht den Gefahren einer unzuverlässigen Rechtsprechung auszusetzen, ist er zur Grenzscheide zweier kämpfender Gruppen geworden, die beide weit entfernt sind, in ihm das endgültige Gesetz der inneren Machtverteilung zu empfinden. Diese stillschweigende Abmachung, die Existenzgrundlage der Formaldemokratie, war für die kämpfenden Gruppen nur erträglich, wenn die Grenzen der Regierungsgewalt möglichst eng umschrieben, ihr möglichst wenig tatsächliche Entscheidungsgewalt, dafür aber ein Haufen gesetzlich präzisierter Verwaltungsfunktionen übertragen wurden, Verwaltungsfunktionen, die in Menge neu errichtet wurden, nachdem der Versuch des Liberalismus, die Regelung wirtschaftlicher Verhältnisse dem Staat gänzlich zu entziehen, sich weder als durchsetzbar noch auch als wünschenswert erwiesen hatte.11 Aber über jeder Verwaltungsfunktion erhoben sich die Instanzen, die die Entscheidung der jeweiligen sozialen Kräfteverteilung entreißen und in die Sphäre des Rechts entrücken sollten. Man schritt auf allen Gebieten zur Verrechtlichung, jeder tatsächlichen, jeder Machtentscheidung wird auszuweichen versucht, ob es sich um die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten oder um die Beilegung von Arbeitskonflikten handelt, alles wird neutralisiert dadurch, dass man es juristisch formalisiert. Jetzt erst beginnt die wahre Epoche des Rechtsstaats. Denn dieser Staat beruht nur auf seinem Recht. Dadurch, dass die Entscheidung, die gefällt wird, möglichst farblos und wenig autoritativ wirkt, dass durch sie der Glaube hervorgerufen wird, dass sie von unabhängigen, nach freier Überzeugung entscheidenden Richtern12 gefällt sei, wird sie überhaupt erst tragbar. Das Paradoxe ist Tatsache geworden, der Wert der Entscheidung liegt darin, dass sie eine rechtliche Entscheidung ist, dass sie von einer allgemein anerkannten Instanz ausgesprochen wird, aber dass sie trotzdem möglichst wenig Sachentscheidung enthält. Der Staat lebt vom Recht, aber es ist kein Recht 10 Im formaldemokratischen Staat hat das Budgetrecht seine einstige Bedeutung vollkommen eingebüßt, da mit der Möglichkeit abwechselnder Regierungen die ständige Kontrolle einen höchst subsidiären Charakter erlangt hat. 11 Seine ausgeprägteste Vertretung findet die Idee des Verwaltungsstaats bei Cunow, »Marxsche Staats- und Gesellschaftsheorie«, [Heinrich Cunow: Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie: Grundzüge der Marxschen Soziologie, Berlin 1920] auch in [Karl] Renners Kriegsbuch: »Krieg, Marxismus und Internationale«. [Kritische Studien über offene Probleme des wissenschaftlichen und des praktischen Sozialismus in und nach dem Weltkrieg, Stuttgart 1917.] 12 Hierzu die Bemerkungen von E. Rosenstock, »Vom Industrierecht«, S. 167. [Eugen Rosenstock-Huessy: Vom Industrierecht. Rechtssystematische Fragen, Berlin 1926.]
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mehr, es ist ein Rechtsmechanismus, und jeder, der die Führung der Staatsgeschäfte zu bekommen glaubt, bekommt stattdessen eine Rechtsmaschinerie in die Hand, die ihn in Anspruch nimmt wie einen Maschinisten seine sechs Hebel, die er zu bedienen hat.13 Das rechtsstaatliche Element in seiner nach Überwindung des reinen Liberalismus nunmehr angenommenen Gestalt, die spezifische Transponierung der Dinge vom Tatsächlichen ins Rechtsmechanistische, ist das wesentliche Merkmal des Staates im Zeitalter des Gleichgewichts der Klassenkräfte. Nimmt man vorsichtig die Dinge heraus, die wegen ihrer Unbedingtheit keine Verrechtlichung ertragen, wie etwa Religion und Militärdienst, so ist, was bleibt, ein reiner Rechtsmechanismus. Die Frage nach der russischen Revolution, nach dem Sowjetstaat, ist die Frage, ob es sich dort um die Zerstörung einer solchen Rechtsmaschinerie gehandelt hat, ob der russische Staat, der vernichtet wurde, ebenfalls nur eine Form zur Austragung von Klassengegensätzen gewesen ist. Dies ist durchaus zu verneinen. Der offizielle russische Staat stand in engster Verbindung mit der orthodoxen russischen Kirche; ihr Oberhaupt, der Zar, war gleichzeitig das seine, ein Grund mehr, weshalb die nach Westen orientierten Intellektuellen, das liberale Bürgertum, keinen Einfluss gewinnen konnte, ihre historische Bedeutung, wie sie die entsprechenden westeuropäischen Schichten noch heute nicht verloren haben, aufgeht in der allgemeinen revolutionären Bewegung und dem kurzen Zwischenspiel zwischen Zarenreich und Räterepublik. Die prägnante Formulierung dessen, was der vorrevolutionäre russische Staat vorstellte, fand 1867 Danilewski in seinem »Rußland und Europa«,14 der Bibel des Panslawismus. Hier wird der kulturell-politischen Sendung Europas Russlands göttliche Sendung gegenübergestellt und, daraus folgend, jede Revolution für unvereinbar mit dem Charakter des russischen Volkes erklärt. Der russische Staat ist ein 13 Dem Verwaltungsstaat Cunows und Renners tritt im französischen und angloamerikanischen Staatsrechtsdenken der Begriff des »service« zur Seite. Bei [León] Duguit (»Traîté de droit constitutionel«, Bd. 2, [Paris 1925,] S. 52ff.) zeigt sich dies in der Neigung, alles öffentliche Recht unter dem Gesichtspunkt einer Hilfsleistung für den sozialen Prozess anzusehen. Am besten versteht es das amerikanische Rechtsdenken, von politischen Gruppierungsbegriffen zu abstrahieren, wobei der Begriff service zu einem sozialen Zuordnungsbegriff gänzlich liberaler Observanz wird, »öffentlicher Dienst für seine Majestät den Kunden«, wie es Hirsch (Amer. Wirtschaftswunder, S. 277) nennt. [Julius Hirsch: Das Amerikanische Wirtschaftswunder, Berlin 1926, S. 227 f.] 14 [Nikolai Jakowlewitsch Danilewski: Rußland und Europa, übersetzt und eingeleitet von Karl Nötzel, Stuttgart 1920. Mit 1867 verweist Kirchheimer auf das Jahr des Ersterscheinens.]
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Nichtstaat, er ist nur die irdische Ausdrucksform einer gottgesandten Mission, ein Reich voller Werte, und je mehr wir an die Peripherie des zwanzigsten Jahrhunderts kommen, desto unversöhnlicher wird der Gegensatz zwischen Russlands wahrer Sendung und denen, die sie verleugnen, bis sie sich bei Berdjajeff15 einem modernen russischen gegenrevolutionären Denker zu der großartigen Konzeption des Reiches Gottes als das wahre, das heilige russische Reich und dem Reich des Gegengottes, des bolschewistischen, des atheistischen Teufels, steigert. Was an Berdjajeff besonders interessiert, ist nicht allein dieses Aufreißen des radikalen Gegensatzes zwischen Gut und Böse, diese durchaus moralische Wertung, die er allen staatlichen Vorgängen des russischen Reichs zuteilwerden lässt, als vielmehr das Aufsteigen der Erkenntnis, dass der Bolschewismus nun durchaus mit aller Halbheit und Neutralität, dem humanistischen Reich der Mitte, gebrochen habe, dass es jetzt die wirkliche, die echte, die letzte Entscheidung gelte. So war das Charakteristische des russischen Reiches seine prägnante Gegensatz-Struktur mit seinen moralisch-theologischen Begriffen von Gut und Böse, die seine ganze politische Vorstellungswelt beherrschten. Das wirtschaftlich brennendste Problem war, wie bekannt, die Bodenverteilungsfrage. Diese gänzlich anders gelagerte Struktur der russischen Verhältnisse hat schon Karl Marx in einem Brief an Wera Sassulitsch16 veranlasst, auszusprechen, dass sich die Notwendigkeit des kapitalistischen Entwicklungsprozesses auf Europa beschränke, und in der russischen Ausgabe seines Kommunistischen Manifestes hat er im Vorwort bemerkt, dass die Niederwerfung des russischen Absolutismus das Signal einer gesamteuropäischen Revolution werden könne. Die russische Sozialdemokratie ging freilich unter Plechanows Führung bis zu der im Jahre 1903 auf dem Londoner Kongress erfolgten Spaltung die gleichen Wege wie die westeuropäischen Arbeiterparteien. Auch sie nahm einen allmählichen Übergang, eine »organische« Entwicklung vom Absolutismus über die parlamentarische Demokratie bis zu dem Punkt an, wo einstens die Arbeiterpartei die Parlamentsmehrheit im demokratischen Staate haben werde. Dieses Verhalten führt mit Notwendigkeit dazu, in dem Prozess vom Absolutismus bis zur vollendeten, der sozialistischen Demokratie einen ständigen Fortschritt zu sehen und insbesondere die 15 [Nikolaus] Berdjajeff, Das neue Mittelalter, Betrachtungen über das Schicksal Rußlands und Europas. Darmstadt 1927. 16 Dieser Briefwechsel ist erstmals 1924 vom Marx-Engels-Institut, Moskau, veröffentlicht (I. Bd. 3. T. S. 263-86). [In: MEW Band 19, Berlin 1960, S. 242-244 und S. 384-406.] Diesen wie viele andere Hinweise danke ich der ausgezeichneten Schrift von [Karl] Stählin, Rußland und Europa. Berlin 1925.
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in einer Formaldemokratie mit Gleichgewichtsstruktur notwendigen Akzidentalia der Presse- und Versammlungsfreiheit und ähnlicher Institutionen als eine dauernde Errungenschaft anzusehen, der – um mit Marx zu sprechen – ein Fetischcharakter verliehen wurde. Die Marx‘schen Epigonen, die nach ihm auf die Haltung der Arbeiterparteien von maßgebendem Einfluss waren, bei ihnen allen hat sich eine Theorie vom Doppelten Fortschritt gebildet.17 Dem Fortschritt der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung entspricht der Fortschritt in der Entwicklung der Menschheit, der Fortschritt in ihrer Erziehung zur Humanität, der sich in ihren jeweiligen Kampfmethoden Ausdruck schafft. Der Friede, für den 1914 Jean Jaurès fiel, gemeinhin Friede der zweiten Internationale, gehört ebenso in diese Reihe wie der Glaube an eine friedliche Mehrheit in der Formaldemokratie, dieser Demokratie, die nach Kautsky den Kampf organisierter, aufgeklärter Massen voll Stetigkeit und Besonnenheit darstellt. Diese Theorie des Doppelten Fortschritts stammt von Karl Marx‘ Epigonen, nicht von ihm selbst. Für Karl Marx selbst war die politische Welt nie mehr als ein Reflex der wirtschaftlichen Entwicklung. Nicht das Proletariat ist es, dessen Reife den Tag der sozialen Revolution herbeiführt, sondern es ist der Entwicklungsprozess des Kapitalismus, durch den das Proletariat organisiert und diszipliniert werden wird. Die Idee einer »continuité technologique« beherrscht nach Georges Sorel18 das Marx‘sche Denken. Lenin, der anerkannte Theoretiker der bolschewistischen Partei, hat der Theorie vom Doppelten Fortschritt zeitlebens ferngestanden; aber die besonderen russischen Verhältnisse ließen ihn schnell erkennen, dass die unbedingte Abhängigkeit von der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung, in die Marx den politischen Reifeprozess des Proletariats brachte, kaum geeignet war, seine Sache zum Siege zu führen. Zwar hat er an dem Gedanken der unabänderlichen Notwendigkeit der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung sowie an dem nach dem Siege des Sozialismus zu verwirklichenden Fortschritt der Menschheit festgehalten, letzteren nach der Erringung der Herrschaft in einem durchaus 17 Den gleichen Zusammenhang beobachtet [Carl] Schmitt, wenn er von der vorgestellten Identität von fortschrittlich-demokratischen Gedanken und sozialdemokratischer Organisation spricht. »Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus« 2. Aufl.[, Berlin 1926,] S. 32. Als Beispiele statt vieler: Renner in dem zitierten Aufsatz [Karl Renner: Der Streit um die Demokratie, in: Die Gesellschaft, Jg. 4, Heft 1, Berlin 1927, S. 1-27]; [Karl] Kautsky, »Terrorismus und Kommunismus, Ein Beitrag zur Naturgeschichte der Revolution«, Berlin 1919; und höchst instruktiv [Karl] Kautsky, »Georgien, eine sozialdemokratische Räterepublik, Eindrücke und Beobachtungen«, Wien 1921. 18 [Georges] Sorel: Réflexions sur la violence, 6. Aufl., Paris 1921, S. 199.
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rationalistischen und materialistischen, dem zwanzigsten Jahrhundert zugewandten Sinne zu verwirklichen gesucht, aber der spezifische Gehalt seiner Tat und Lehre gehört einem anderen Bereich an. Lenin hat, um die Herrschaft des Proletariats zu verwirklichen, die Lehre vom Doppelten Fortschritt, die Lehre von der wachsenden Humanisierung der politischen Kampfmethoden durch eine Lehre vom rückhaltlosen, allumfassenden Kampf ersetzt, an die Stelle der Humanität des alle Klassen einbeziehenden Fortschritts die Moral selbst in diesen Kampf einbezogen, sie seiner Sache dienstbar gemacht, anstatt ihr Diener zu werden. Dieser Kampf ist es, der für ihn die eigentliche Gruppierung der Menschheit schafft. »Unserer Meinung nach«, sagt er, »ist die Sittlichkeit ganz und gar der Frage des Klassenkampfes untergeordnet, sittlich ist alles, was der Vernichtung der alten und ausbeuterischen Gesellschaft und der Machtgewinnung des Proletariats förderlich ist. Unsere Sittlichkeit besteht also allein in der geschlossenen Disziplin und in dem bewussten Kampf gegen die Ausbeuterklasse. Die ewigen Leitsätze der Moral glauben wir nicht, und wir werden diesen Betrug entlarven, die kommunistische Moral ist gleichbedeutend mit dem Kampf um die Befestigung der proletarischen Diktatur.«19
Diese Sätze sind, was ihre Zuspitzung angeht, das Gegenstück zu Berdjajeffs These von Christ und Antichrist, nur freilich ist jede religiöse Vorstellung ins politische Gebiet abgewandelt, an die Stelle des Ungläubigen, des Antichristen, ist der politische Feind getreten. Ihrem Inhalt nach gehören sie zu dem Sorel‘schen Gedankenkreis,20 mit dem Lenin mehr denn den gemeinsamen Hass gegen den Fortschrittsaberglauben der Parlaments-Sozialisten teilt. Gemeinsam erkennen sie in dem Glauben an eine friedliche Mehrheitserringung in der parlamentarischen Demokratie eine dem Bereiche der Utopie angehörige Vorstellung. Utopien aber sind rationale, in der Wirklichkeit nie ganz aufgehbare, in die Zukunft tendierende Projizierungen menschlichen Denkens. Schon Pareto hat zwischen wirksamen und unwirksamen Utopien unterschieden, wenn er den Liberalismus eine unwirksame, den Sozialismus eine wirksame Utopie nannte.21 Das gibt den wahren Sachverhalt unter falscher Bezeichnung wieder. Der nationalökonomische und der politische Liberalismus, die freie Konkurrenzlehre und die Menschenrechte, der homo oeconomicus und der abstrakte Staatsbür19 [Siehe: Wladimir Iljitsch Lenin: Die Aufgaben der Jugendverbände, in: W.I. Lenin, Werke, Berlin 1966, S. 272-290.] 20 Siehe insbesondere Kap. 4 des genannten Buches. [Georges Sorel: Réflexions sur la violence, 6. Auflage, Paris 1921.] 21 W. Pareto, »Les systems socialistes« II 65. [Vilfredo Pareto: Les systèmes socialistes, Paris 1926.]
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ger sind in der Tat eine zusammengehörige Reihe utopischer Vorstellungen. Denn sie sind rationale Denkgebilde, die Zeitbedingtes mit ewig Ersehntem mischend, Zukunftsbilder projizieren; was ihnen aber fehlt, ist die unmittelbare Gegenwartswirkung. Dies aber ist die wahre Scheide zwischen Utopie und Mythos; während die Utopie die ferne Zukunft projizierend in ihrer Totalität machtlos bleibt gegenüber der Gegenwart, wirkt der Mythos auf sie ein und formt sie selbsttätig nach seinem Bilde.22 Der Mythos lebt in Vergangenheit und Gegenwart, die Zukunft aber ist ihm nur so weit zugänglich, als sie sich erlebnismäßig in einem Stück Gegenwart oder Vergangenheit verkörpert. Der Mythos der Gegenwart; der Mythos des Proletariats, verkörpert sich für Sorel im Generalstreik. Karl Marx hat nach Sorels Ansicht die Organisation des kämpfenden Proletariats über der Untersuchung der Entwicklung des Kapitalismus vergessen und ist dabei in einem rationalistischen Schema geblieben, das ihn in ziemliche Nähe zu der Utopie gebracht hat. Der Syndikalismus aber müsse ergreifen und verwirklichen, was der eigentliche Kerngehalt der Marx‘schen Lehre sei: die Lehre vom Klassenkampf. Hiermit aber ist gerade das typisch Marx‘sche Element, die funktionelle Abhängigkeit der proletarischen Bewegung vom kapitalistischen Entwicklungsprozess in Frage gestellt, und Sorel hat hierdurch die Lehre vom Klassenkampf verselbständigt, ihr eine eigene Grundlage und Sinndeutung gegeben, denn was Sorel mit »la force« bezeichnet, eignet im Grunde genau dem, was Marx unter dem kapitalistischen Entwicklungsprozess verstand: rational errechenbare Kräfteverhältnisse. Diesen rationalen Dingen, die nur Geduld, Einsicht und Erkenntnis voraussetzen, stellt Sorel einen politischen Gruppierungsbegriff wesentlich anderer Art gegenüber. »La violence«, das bedeutet die Wucht – Lenin hat dafür das Wort russischer Elan gebraucht –, mit dem eine entschlossene Gruppe ihrem Sieg entgegengeht. Es ist die letzte Schlacht, die »bataille napoléonienne«, die, ein wesentlicher Gehalt des Mythos, auch hier wiederkehrt. Damit aber ist die Vorstellung eines Machtkampfes, in die die Unwirklichkeit eines aus Erkenntnisnotwendigkeit kommenden Klassenbewusstseins und 22 Die Vorstellung einer unmittelbaren Einwirkung auf den Menschen ist dem Mythos typisch. So heißt es bei Sorel: »II faut juger des mythes comme des moyens d‘agir sur le présent« (»Refl.« S. 180). [Georges Sorel: Réflexions sur la violence, 6. Auflage, Paris 1921.] Ohne Zweifel findet der Gedanke des »Agir sur le présent« sich in seiner Reinheit nur bei den primitiven Völkern ausgebildet, er verkörpert eine bewusst prälogische Bewusstseinshaltung. Siehe Lévy-Bruehl, »Mentalité primitive«, [Lucien Lévy-Bruhl: La Mentalité primitive, Paris 1922;] insbesondere S. 94 über den emotionalen Charakter der primitiven Vorstellungswelt.
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-kampfes sowie ihr notwendiges Reuekorrelat aus individualistischer Ethik und Utopie gedrängt hatte, aufgehoben und durch eine Kampfesethik ersetzt, die ihre Legitimierung an der Größe und Teilnahmefähigkeit am Mythos selbst findet, so aber den Generalstreik aus seiner ökonomischen Sphäre entrückt; es sind keine lohnbegehrenden Arbeiter mehr, die ihn führen, sondern die Helden einer neuen Sage, die den Beginn einer neuen Geschichtsepoche heraufführen werden. Die Helden des Mythos, die streikenden Arbeiter, sind die Reinen, die Besseren, die zum letzten Siege Auserwählten, und deshalb ist dem um die Fahne der »violence«, der schöpferischen Gewalt gruppierten Proletariat der Sieg über »la force«, die rein technisch-ökonomische Gewalt der Bourgeoisie sicher, wie es der ewige Vorsprung jedes Irrationalen über das rationale Element, des Mythos über die Utopie ist, dass der eine gläubig ist, wo der andere rechnet. Der politische Mythos besitzt die Fähigkeit, eine politische Wertgruppierung entschiedenster Art hervorzurufen. Einmal ausgehend von der Notwendigkeit und Größe des endgültigen Kampfes, hat er keine größere Besorgnis, als einen Feind vorzufinden, der in Wirklichkeit keiner mehr ist, und er hofft zu erreichen, dass die Aussichtslosigkeit, einen Ausweg zu suchen, das Aufzeigen der Unvermeidlichkeit der letzten Entscheidung, die Bourgeoisie dazu treibt, sich zu ermannen und den Kampf mit der Würde auszufechten, die seine Bedeutung notwendig macht. Er will in dem Bild des Bourgeois, darin einer alten Tradition folgend, den Feind schlechthin erblicken.23 Die Lehre von der »action directe« bedeutet einen Versuch, der Politik ihre Unmittelbarkeit wiederzugeben, indem sie jede vermittelnde Instanz, die Sphäre neutraler Humanität und des Fortschritts ablehnend, ihre Kraft und Symbole aus der unmittelbaren Lebenssphäre der Gegenwart bezieht. Ihr ist die enge Verbindung von Politik und Wirtschaft keine Gefahr, da der Mythos als politisches Formprinzip stark genug ist, alle Trägheitselemente zu überwinden. Um die Stärke des politischen Formungswillens zu gewährleisten, bekennt er sich zur Elitentheorie und anerkennt damit ein Organisationsprinzip 23 Während Eduard Bernstein, der typische Vertreter der Lehre vom Doppelten Fortschritt, schon in den neunziger Jahren die moralische Integrität der Bourgeoisie pries, versuchen Sorel und Pareto, über die Relativierungsversuche des Parlamentarismus hinweg die wirkliche Kampfesfront ohne Illusionen aufzuzeigen. Den Versuch, dem Bilde des Proletariats ein Wertbild der Bourgeoisie gegenüberzustellen, hat in geistiger Gefolgschaft Sorels [René] Johannet in seinem »Eloge du bourgeois français«[, Paris 1924,] unternommen. Sie alle folgen damit der Tradition Bakunins, »L‘honnêt homme, homme moral, c'est celui qui soit acquérir, conserver et augmenter la propriété«, »Œuvres completes« III 127ff. Neuestens über das Bild des Bourgeois Franz Werfel, »Der Tod des Kleinbürgers«[, Berlin 1927.]
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eigener Prägung. Hierdurch aber setzt sich die Lehre Sorels und des revolutionären Syndikalismus in Einklang mit der offiziellen Auffassung des Leninismus, nach der die Kommunistische Partei die Führerin des Proletariats, seine einzige und wahre Vertretung in dem großen Kampf gegen die Weltherrschaft der Bourgeoisie sei, die nach der Auffassung von Lenins »Staat und Revolution«24 die falsche, die böse, die unmoralische Sache vertritt.25 Für jedes politische Prinzip ist es von grundlegender Wichtigkeit, wie es sich zum Diktaturbegriff stellt, inwiefern es das Prinzip der Ausnahme in Rechnung stellt und ihm Einlass gewährt. Sehe ich richtig, so stehen sich in der sozialistischen Literatur drei Diktaturbegriffe gegenüber. Der Marx‘sche Diktaturbegriff, in einer Zeit geformt, in der zum ersten Mal wirtschaftliche Machtfragen in unverhüllter und unverkennbarer Weise selbständig auf politische Vorstellungen einwirkten, hat selbst wenig politischen Eigengehalt zurückbehalten. Frei von politischer Wertung bezeichnet er den Augenblick, in dem der Prozess der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung an dem Punkte angelangt ist, wo die Machtergreifung durch die Arbeiter Zweck und Sinn hat. Seine Nachfolger, die Vertreter der Lehre vom Doppelten Fortschritt, versuchten die Diktaturvorstellung in zwei parallellaufende Reihen von wirtschaftlich technischem und politisch humanitärem Fortschritt aufzulösen. Um in einer sie beide umfassenden parlamentarischen Demokratie das endgültige politische Formprinzip des kapitalistischen Zeitalters zu finden. So wurde für sie die Diktatur aus der Welt der politischen Wirklichkeit in die der Utopie versetzt, die mit Marx‘schen »Wirtschaftsgesetzen« verbunden die Gestalt eines »organischen Übergangs« erhielt. Diese Gemengelage von Wirtschaftsentwicklung und Demokratie, Mehrheit und Humanität machte es den Bolschewiki leicht, den Angriffen entgegenzutreten, die ihrer Diktaturvorstellung gegenüber aus den Reihen der Anhänger der Lehre vom Doppelten Fortschritt erhoben wurden. Aus Antworten wie dieser: »Die Revolution diskutiert nicht mit ihren Feinden, sie zerschmettert sie, die Gegenrevolution tut dasselbe, und beide werden den Vorwurf zu ertragen wissen, daß sie die Geschäftsordnung des deutschen Reichstages nicht
24 [Wladimir Iljitsch Lenin: Staat und Revolution; die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution. Berlin 1918.] 25 Die offizielle Auffassung der heute herrschenden Parteirichtung bei [Josef] Stalin, »Probleme des Leninismus«[, in: Marxistische Bibliothek: Werke des Marxismus – Leninismus, Band 5, Wien 1926].
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beachtet haben«,26 geht die ganze souveräne Verachtung der Bolschewiki gegen diese liberalen Kampfesmethoden dritten Ranges hervor, geht hervor, dass der politische Mythos von der Weltrevolution ein wirksameres politisches Gruppierungsmittel und Formprinzip darstellt als die Utopie von einer möglichen Mehrheit in der parlamentarischen Demokratie. Die bolschewistische Diktatur ist im Gegensatz zu den beiden anderen sozialistischen Diktaturbegriffen, von dem der eine kaum in das Gebiet der politischen Diktatur gehört, der andere unter dem Begriff der Diktatur den politischen Fortschritt an dem Punkte bezeichnet, an dem kein Fortschritt mehr nötig ist – als eine bequeme Utopie – ist der bolschewistische Diktaturbegriff ein echter, denn er dient zur Kennzeichnung eines Ausnahmezustandes. Die bolschewistische Diktatur ist eine souveräne Diktatur, hieran muss festgehalten werden, obgleich durch den Übergang vieler privatwirtschaftlicher Funktionen auf den Staat auch der Typus einer kommissarischen27 Diktatur entstanden ist, einer, wie Lenin es ausdrückte, »Diktatur einzelner Personen für bestimmte Arbeitsprozesse bei rein ausübenden Funktionen«.28 Die bolschewistische Diktatur bedeutet keinen organischen Übergang, ihr Ausnahmecharakter besteht darin, dass sie erst die Vorbedingungen schaffen will, um den sozialistischen Staat der sozialen Gleichheit zu verwirklichen. Hieraus ergibt sich eine Reihe politischer Maßnahmen, die sie traf, das Merkmal jeder Diktatur, dass sie zur Realisation ihrer Wertvorstellungen Maßnahmen trifft, die mit dem zu realisierenden Werte selbst in Widerspruch stehen. Hierfür bedient sie sich der sogenannten Sowjetdemokratie, die zwar nicht die »höchstentwickelte Form« der Demokratie ausmacht, dafür aber den zielbewussten Versuch bedeutet, einem als undiskutierbar richtig vorausgesetzten Vorstellungskreis Eingang in das Bewusstsein der Massen ländlicher Bevölkerung zu verschaffen. Dieser Schaffung einer Teilhabe an staatlichen Dingen sollte der in seiner Gesamtheit allerdings missglückte Durchführungsprozess der These der Ersetzung »des gouvernement des hommes par l‘administration des choses« dienen, ihr aber dient vor allem das ganze Rätesystem, das die Praxis der »Sowjetdemokratie« 26 Radek in dem Vorwort zu Bucharin »Programm« S. 23. [Nicolai Bucharin: Das Programm der Kommunisten (Bolschewiki), Mit einem Vorwort von Karl Radek, Übersetzung aus dem Russischen, Braunschweig 1918.] 27 Über den fundamentalen Unterschied zwischen kommissarischer und souveräner Diktatur siehe Carl Schmitt, »Die Diktatur«[. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, Berlin 1921]. 28 [Wladimir Iljitsch] Lenin, »Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht«[, Leipzig 1920,] S. 39.
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verkörpert und die Überführung des neuen beim Syndikalismus schon vorhandenen Formprinzips in die Wirklichkeit bedeutet.29 Was die Wahl angeht, so liegt ihre Bedeutung auf keinen Fall in ihrem Ergebnis. Ihr wohnt nicht einmal die bei uns übliche schon sehr schwache Bedeutung inne, dass je nach ihrem Ergebnis die Bedienungsmannschaft der Staatsmaschinerie gewechselt wird. Wo ein Wert von den Wertträgern selbst zur Diskussion gestellt wird, bedeutet das keinesfalls, dass über seine Richtigkeit, die als undiskutierbar vorausgesetzt wird, abgestimmt werden soll. Der Wert der russischen Wahlen liegt nicht in ihrem Ergebnis, sondern im Wahlprozess selbst. Das Kriterium der russischen Wahlen ist, dass sie öffentlich sind. Dann kann man entweder ja sagen oder überhaupt nichts oder so gut wie nichts = parteilos sagen. Wer aber ja sagt, ja sagt vor aller Öffentlichkeit, der hebt sich deutlich ab von allen, die nichts sagen; denn jenem Ja eignet der Wert, um den die Sowjetregierung ringt, der Integrationswert, das Bewusstsein des Sich-Beteiligt-Fühlens, des Mit-Dabei-Sein-Wollens.30 So haben die russischen Wahlen ohne einen sachlichen Entscheidungswert zu
29 Das Rätesystem erscheint hier in neuer Form. Ursprünglich die Form, in der revolutionäre Gruppen unmittelbar auf der Grundlage klassen- und zugleich berufsmäßiger Gliederung politisch selbsttätig handeln, hat es die Herrschaft der Bolschewiki mitgründen helfen (zur Geschichte seiner gedanklichen Entwicklung: »Über die Rolle des Agitators in Cromwells Heer«; Bernstein, »Sozialismus und Demokratie in der englischen Evolution« [vgl.: Eduard Bernstein: Sozialismus und Demokratie in der großen englischen Revolution, Stuttgart 1908, S. 77 ff.]; über die Rolle der Arbeiterräte der ersten russischen Revolution Trotzki, N. Z. 1907 S. 76). [Leo Trotzki: Der Arbeiterdeputiertenrat und die Revolution, in: Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Band 2, Berlin/Stuttgart.] In bewusster Weiterentwicklung syndikalistischer Gedankengänge werden die unmittelbar aus den Betrieben hervorgehenden Räte in Russland als Träger politischer Funktionen (Verwaltung, Wahl) verwertet. 30 In der Verfassung selbst wird die Frage der Öffentlichkeit der Wahlen nicht entschieden, doch entscheiden sich die Gubernialkommissionen, denen die Entscheidung zusteht, ausnahmslos zugunsten der Öffentlichkeit. Über die Wahlprozedur, die in der offiziellen Wahlversammlung vor sich geht, näheres bei Timaschef, [Nikolaj S. Timascheff: Grundzüge des sowjetrussischen Staatsrechts, Mannheim 1925,] S. 83 (sowjetfeindlich), interessant aus der Praxis der letzten Wahl R. Maltzew in »Komm. Internationale« 1927 Heft 19. [K. Malzew: Was lehren die Neuwahlen zu den Sowjets? In: Kommunistische Internationale, VIII. Jg., 1. Halbjahr, Januar-Juni 1927, Heft 19, Berlin/Hamburg, S. 934-941.] Der Unterschied zwischen geheimer und öffentlicher Wahl bedeutet in Wirklichkeit den denkbar schärfsten Bruch mit den Traditionen parlamentarisch-individualistisch-liberaler Vorstellungen. Er vernichtet jede Vorstellung, dass in der Wahl das Schicksal der regierenden Gruppe irgendwie entschieden werden könne. Öffentliche Wahl bedeutet Bestätigung, Zustimmung, aber keineswegs Entscheidung.
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besitzen, sich doch einen spezifischen politischen Wert errungen, indem sie zu einem staatlichen Integrationsfaktor geworden sind. Was das sowjetrussische Recht angeht, so gehört es seiner Bedeutung für das Staatsleben nach nicht nur in dieselbe Reihe wie die Wahl. Abgesehen von dem jedem Recht der Neuzeit, auch dem sowjetrussischen eigenen Maß an Technizität, fanden wir weit darüber hinausgehend den spezifischen Charakter unseres Rechts in einem zu seiner quantitativen Zunahme im umgekehrten Verhältnis stehenden Fehlen sachlicher Entscheidungsmacht, in einem Verschwinden staatlicher Wertsetzungen, in einem Mehr rechtstechnischer Förmlichkeit und Präzision, kurzum in dem so charakteristischen Verschwinden des Staates hinter seinem eigenen Rechtsmechanismus. Was sich nun Lenin unter der Aufgabe des Rechts vorstellte, ist folgendes: »Man merkt, daß die ererbte, von der Bourgeoisie beeinflusste Vorstellung von der Justiz als etwas Offiziellem und Feindseligem noch nicht endgültig gebrochen ist. Die Tatsache ist noch nicht genügend zum Bewusstsein gekommen, daß gerade die Justiz das Verbindungsorgan der ärmeren Bevölkerung mit der Staatsverwaltung ist. Denn die Justiz ist das Organ der Arbeiter- und Kleinbauernmacht, sie ist ein Instrument der Erziehung und Disziplinierung.«31
Gebrochen ist hier mit der Auffassung der Justiz als einer über den Streitenden stehenden, unabhängigen Dritten, jener Auffassung des Liberalismus, der in dieser Vorstellung seine Not zur Tugend machte. Wiederhergestellt ist dafür die in Europa seit der Zeit des Liberalismus immer mehr entschwindende, im Rechtsmechanismus der Formaldemokratie gänzlich untergegangene Vorstellung vom integralen Charakter des Rechts. Wo ein Staat ist, sei es in inhaltlich demokratischer, sei es in diktatorischer Form, wird Recht gesprochen im Namen bestimmter Wertvorstellungen. Deshalb ist es durchaus folgerichtig, wenn die Garantien des russischen Richtertums nicht in seiner Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit, sondern in seiner befristeten Wahlperiode und vorherigen Erprobung der Zuverlässigkeit im Parteidienste, nicht in 31 Ebendort [Wladimir Iljitsch Lenin: Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, Leipzig 1920,] S. 30. [In der zitierten Vorlage heißt es: »Man fühlt, daß die von dem Drucke der Grundbesitzer und der Bourgeoisie her übernommene Volksansicht über das Gericht als etwas staatlich-fremdes, endgültig noch nicht gebrochen ist. Es ist nicht die hinreichende Erkenntnis vorhanden, daß das Gericht ein Organ der Heranziehung eben der Armen ohne Ausnahme zur Staatsverwaltung ist (denn die gerichtliche Tätigkeit ist eine der Funktionen der staatlichen Verwaltung), – daß das Gericht das Organ der Macht des Proletariats und der ärmsten Bauern ist, – daß das Gericht das Werkzeug der Erziehung zur Disziplin ist.«]
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seiner Bindung an das Gesetz, sondern an sein revolutionäres Rechtsempfinden beruhen. Jener Moskauer Richter, der den Anspruch trotz Vorliegens aller Bejahungsgründe abwies, weil er die Interessen eines Arbeiters verletzte, kennzeichnet in kleinem Maßstab das, was die Sowjetregierung erreichen will, wenn sie nach ihrer Verfassung eine Appellation gegen höchstinstanzliche Urteile bei dem Hauptvollzugsausschuss, einer politischen Körperschaft, zulässt.32 Jene integrale Funktion des Rechts, die man unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten eher geringschätzig als »valeur instrumentale«33 bezeichnet hat, bedingt zugleich, dass es seinem Charakter nach von dem jeweiligen Maße staatlicher Zielsetzungen so abhängig ist, dass man sogar auf den Gedanken kam, das neue russische bürgerliche Gesetzbuch nur zwei Jahre in Gültigkeit zu lassen. Damit kommt zum Ausdruck, dass das russische Recht kein Ewigkeitsrecht, sondern ein Zeitrecht im schärfsten Ausmaße darstellt.34 Das russische Recht braucht keine besondere clausula rebus sic stantibus, denn es ist selbst das Recht der clausula rebus sic stantibus.35 Dieser Gedanke beherrscht ganz die russische Völkerrechtsauffassung; die Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze hat den Sowjetstaat ins Leben gerufen, ihr dient er, und durch sie hoffen die Bolschewiki einst die ganze Erde zu beherrschen. Deshalb ist für ihn das Völkerrecht im hergebrachten Sinn des Wortes das fragwürdigste aller Rechtsgebilde. Da Sowjetrussland eine mehr als technische Gemeinschaftlichkeit der Interessen verschiedener Staaten nicht anerkennt, besitzt es für jede Bestrebung, die Völkerrechtsgemeinschaft enger zu gestalten, die Friedenspropaganda zu unterstützen, keinerlei Evidenz. Völkerrecht ist ihm nicht Friedens-, sondern Waffenstillstandsrecht. Da nun Russland keine Möglichkeit sieht, dem Gesamtvölkerrechtsverkehr, dessen Wesen es in der Stabilisierung der Gewohnheiten und Rechtssätze einer im Absterben begriffenen Zeit erblickt, beizutreten, muss es sich in dieser Übergangszeit (époque transitoire) 32 Vergleiche die russische Verfassungsurkunde vom 6. Juli 1923 II. Teil 7. Kapitel. 33 Mirkine Guetzevitch in Revue nouv. de droit intern. public, 1925, II. Ser. tome 7 S. 314. [Boris Mirkine-Guetzevitch: La doctrine Soviétique du droit international, in: Revue générale de droit international public, II. serie, tome VII, Paris 1925, pp. 313-337.] 34 Hierüber siehe auch die Bemerkung bei Eugen Rosenstock, »Vom Industrierecht«, rechtssystematische Fragen, Berlin 1926, S. 122. 35 Siehe hierzu die interessanten Aufsätze von Korovine [Eugene A. Korovine: La République des Soviets, in: Revue générale de droit international public, II. serie, tome VII, Paris 1925, pp. 292-312;] und M. Guetzevitch [Boris MirkineGuetzevitch: La doctrine Soviétique du droit international, in: Revue générale de droit international public, II. serie, tome VII, Paris 1925, pp. 313-337;] in der oben genannten Zeitschrift.
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durch genau präzisierte Sondervereinbarungen mit den einzelnen Mächten helfen. Da die leiseste und schwächste Homogenität der Interessen und Gesichtspunkte fehlt, welche die Voraussetzung der Entscheidung im juristischen Sinne bilden könnte, muss Russland nicht nur das Majoritätsprinzip im Völkerrechtsverkehr, sondern auch jede Instanz, welche eine Entscheidungsbefugnis für sich beansprucht, ablehnen.36 Solchermaßen musste Sowjetrussland notwendig der prinzipielle, nicht wie Deutschland der okkasionelle Feind des Genfer Völkerbundes werden.37 Wenn auch die im ersten Wilson‘schen Entwurf vorgesehene Präambel, nach welcher der Zweck des Völkerbundes eine ordentliche Regierung der Staaten sein sollte, wegblieb, so ist der Völkerbund als Schützer und Verteidiger formaldemokratischer Legitimitätsprinzipien von der ersten Rede Vivianis bis zum heutigen Tag in einer gleich scharfen Gegensatzstellung zu Sowjetrussland geblieben. Die Einschätzung, die man in Sowjetrussland dem Völkerbund entgegenbringt, geht deutlich aus einer Ansprache Rykows38 hervor. »Der Völkerbund ist ein Kaufmann, der mit Völkern handelt und diese in Form von Mandaten an die sog. Kulturstaaten verkauft.« Dieses formaldemokratische Legitimitätsprinzip hat den Mächten als Vorwand für imperialistische Interventionszwecke in Russland gedient. Die Berufung Englands auf Art. II der Völkerbundssatzung für seine Intervention im Russisch-Polnischen Kriege hat jedoch durch eine äußerst interessante Note Tschitscherins vom Mai 1921 eine scharfe Ablehnung von einem von der Sowjetregierung bis heute beibehaltenen Standpunkt aus erfahren. Hier wird von einem »sogenannten Völkerbund« gesprochen, »von dessen Bestehen man durch Zeitungsnachrichten erfahren habe,« und die Unvereinbarkeit des Art. II der Völkerbundssatzung mit der Souveränität des werktätigen russischen Volkes nachdrücklich hervorgehoben.39 Eigenartig erscheint die Berufung auf die Souveränität. In einer Zeit, wo in Europa der Abbau der Souveränitäts-
36 Hierzu Carl Schmitt, »Kernfragen des Völkerbundes« Abschn. II, Berlin 1926. 37 Hieraus erklärt sich die sehr missverständliche Feststellung von Kunz, Z. f. Völkerrecht XIII 4 S. 584, dass das sowjetrussische Völkerrecht »durch eine arg reaktionäre Tendenz« gekennzeichnet sei. Das Wort »reaktionär« gehört anderen Vorstellungskreisen an und setzt eine gegebene politische Einheit voraus. Im Kampf der Staaten und Klassen besagt es nichts und muss durch politische Gruppierungsbegriffe umfassenderer Art ersetzt werden. [Josef Laurenz Kunz: Sowjet-Russland und das Völkerrecht, in: Zeitschrift für Völkerrecht XIII, 4, S. 580-586.] 38 Internationale Pressekorrespondenz[, Berlin] 1925 S. 2446. 39 Russische Korrespondenz Jahrg. I, Band 2[, Erlangen 1971], S. 559.
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vorstellungen40 praktisch und theoretisch vollzogen wird, findet sich der Bolschewismus in der seltsamen Lage, dem Souveränitätsbegriff, dem er theoretisch seine Anerkennung versagte, in der Praxis zu einem neuen Siegeszug zu verhelfen. Das Argument eines russischen Schriftstellers,41 dass die Sowjetrepublik weniger durch die Schönheit einer juristischen These als durch die »intérêts réels« der sozialistischen Republik zu der Verwendung des Souveränitätsbegriffs gekommen sei, mag für die Einschätzung juristischer Thesen in Sowjetrussland höchst interessant sein, ohne jedoch bis zu dem eigentlichen Problem vorzudringen. In Europa tritt das Schwinden nationalstaatlicher Vorstellungen nirgend deutlicher hervor als in der Tatsache, dass die nach dem Versailler Frieden vorgenommenen kolonialen und anderweitigen Annexionen nicht in hergebrachter Weise in der nationalen Einheit des Volkes ihren moralischen Rückhalt fanden, sondern man sich zur Fundierung des gewünschten Ergebnisses der Völkerbunds-Treuhänder-Konstruktion bedienen musste. Wie aus der Notwendigkeit der Versailler Hilfskonstruktionen die praktische Schwäche des nationalstaatlichen Souveränitätsbegriffs erhellt, so wird die theoretische Schwierigkeit deutlich in der Unmöglichkeit, auf die Frage der Innehabung der Souveränität, die die sachliche Entscheidung im Konfliktsfall bedeutet, im Zeitalter form40 Am prägnantesten bei Laski, »the problem of sovereignty«, »authority in modern state«, [vergleiche: Harold J. Laski: Studies in the Problem of Sovereignty, New Haven 1917;] auch Kurt Wolzendorff, »Der reine Staat«. [Skizze zum Problem einer neuen Staatsepoche, Tübingen 1920.] Die Frage nach der Souveränität hängt eng mit der Frage nach der Stärke des politischen Formprinzips zusammen. Dort, wo ein starkes Formprinzip fehlt, der Staat als Rechtsmechanismus nur in der Form der jeweils sich in der Regierung abwechselnden Klassen besteht, werden sich immer Denker finden, die die letzte Konsequenz durch die Ausschaltung des Souveränitätsbegriffs zu ziehen versuchen. Dann kann man wie Wolzendorff und Laski mit Hilfe genossenschaftlicher Gedankengänge die völlige Autonomie der Wirtschaft auch rechtlich proklamieren und dann zutreffend, wie dies bei Wolzendorff geschieht, von einem »reinen Staat« sprechen, der aber in Wirklichkeit nichts weiter als das auf Polizei und Schiedsfunktion beschränkte liberale Rechtsgebilde ist. Oder wie Laski von einer »cooperative sovereignty«, welch letzterer Ausdruck jedoch nur eine Verschleierung bedeutet. An einer anderen Stelle sagt er deutlicher: »The real rulers of a society are undiscoverable, but with the real rulers must go sovereignty«. [Vergleiche: Harold J. Laski: Studies in the Problem of Sovereignty, New Haven 1917, S. 17. Im zitierten Original erscheint: »I can not to greatly emphasise the importance of a phrase used by John Chipman Gray: ›The real rulers of a society‹, he says in a striking sentence, ›are undiscoverable.‹ But with the real rulers must go sovereignty.«] 41 E. Korovine im zit. Aufsatz in »Revue …« S. 299. [Eugene A. Korovine: La République des Soviets, in: Revue générale de droit international public, II. serie, tome VII, Paris 1925, pp. 292-312.]
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aldemokratischer Gleichgewichtsstrukturen eine hinreichende Antwort zu finden. Sowjetrussland hat in einer für die Verschleierungstendenzen der heutigen Zeit fast unfassbaren Weise einen bestimmten und bekannten Träger der Souveränität bezeichnet. Hierdurch allein wäre ihm in der Geschichte der Staatstheorie höchstens die Anerkennung, einen großzügigen Restaurationsversuch unternommen zu haben, zuteil geworden; das prinzipiell Neuartige des bolschewistischen Souveränitätsbegriffs aber liegt in der erstmalig vorgenommenen bewussten Trennung von Staat und Souveränität. Der Bolschewismus hilft, die historisch überkommene, unhaltbar gewordene Bindung der Souveränität an den Staat zu lösen, indem er in die so entstandene Lücke einspringend, anstelle der Staatssouveränität die der Klasse proklamiert. Diese Souveränität ist an keine staatlichen Grenzen gebunden, sie ist ihrer Tendenz nach universal. Damit aber hat auch die Frage der Intervention ein anderes Aussehen bekommen. Die Intervention der imperialistischen Nationalstaaten fand ihre Grenze an dem Sättigungsgrad ihrer Wirtschaft. Die Interventionspolitik der Sowjetrepublik kennt keine Grenzen, sie ist prinzipiell unersättlich; denn potentiell erstreckt sich die Herrschaft der Klasse über jeden Angehörigen der arbeitenden Bevölkerung, und jeder Klassenangehörige gibt ihr Anlass zu Interventionen, sei es, dass sie sich schützend vor ihn stellt, sei es, dass sie durch ihn die Geschicke anderer Länder zu beeinflussen sucht. Damit aber ist die Frage aufgeworfen, ob Sowjetrussland noch ein Staat ist. Wer ein unbeschränktes Interventionsrecht in Anspruch nimmt oder ausübt, dem fehlt das Spezifische des Staates: an irgendeinem Punkte der Welt sich selbst zu beschränken. Damit aber ist nicht gesagt, dass Sowjetrussland weniger als einen Staat darstellt, im Gegenteil, es hat dem Recht und der Wahl ihren integralen Charakter zurückgewonnen, aber um sie umfassenderen Gruppierungen als ehedem dienstbar zu machen. Es hat mit ihrer und des politischen Mythos von der Weltrevolution Hilfe die politischen Kräfte neu ausgerichtet, die Lücke aufgerissen, an deren Stelle bis tief ins neunzehnte Jahrhundert hinein der Staat gestanden hat. Vorhanden ist noch die Form des Staates, aus ihm selbst aber ist ein Weniger, ein Rechtsmechanismus geworden, für den die Begeisterung eben noch groß genug war, dass sie zu einer Theorie vom Doppelten Fortschritt gelangt hat. Dieser Staat, der keiner mehr ist, kann auch keinen Feind haben; denn er besitzt keine politische Ausdrucksform mehr. Die Feindschaft der Träger des politischen Mythos von der Weltrevolution, die in Russland nur ihren Ausgangspunkt sieht, richtet sich gegen die hinter ihm stehenden Mächte. Es sind die kapitalistischen Mächtegruppen mit ihrer imperialistischen Politik auf
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der einen Seite, die Träger der Theorie vom Doppelten Fortschritt, die Erhalter des Rechtsmechanismus, Sozialdemokratie und Kleinbürgertum auf der anderen Seite, denen die absolute und unversöhnliche Feindschaft des Bolschewismus gilt.
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[4.] Panzerkreuzer und Staatsrecht* [1928] In der Mitteilung des offiziellen sozialdemokratischen Pressedienstes vom 14. August heißt es: »In der Öffentlichkeit ist vielfach die Auffassung verbreitet, der Reichsrat habe beschlossen, daß über Bau oder Nichtbau vor dem 1. September noch einmal entschieden werden solle, und er habe damit die endgültige Entscheidung in die Hände des Reichskabinetts gelegt. Einen solchen Beschluß hat der Reichsrat nicht gefaßt. Er konnte ihn gar nicht fassen, weil es sich um eine Angelegenheit handelt, die nach der Verfassung nur von den Faktoren der Gesetzgebung in Form eines Gesetzes entschieden werden kann. In Wirklichkeit hat der Reichsrat am 31. März einen Beschluß gefaßt, der so gut wie nichts besagt, nämlich nur folgendes: Die Arbeiten für das Panzerschiff, mit Ausnahme der reinen Konstruktionsarbeit, nicht vor dem 1. September 1928 in Angriff zu nehmen, insbesondere Verträge über Lieferung nicht eher abzuschließen, um zu verhindern, daß infolge einer etwa notwendig werdenden Einschränkung der Ausgaben der Weiterbau vorläufig eingestellt wird oder andere wichtige Ausgaben des Heereshaushalts dafür beschnitten werden müssen. Von einer nochmaligen und entscheidenden Beschlußfassung durch das Reichskabinett ist, wie man sieht, hier gar nicht die Rede. Für das Kabinett handelte es sich also nur noch um eine Verwaltungsmaßnahme zur Ausführung eines rechtskräftigen Reichsgesetzes.«
Die Quelle dieser offiziell als irrig bezeichneten öffentlich verbreiteten Auffassung, wonach das Reichskabinett vor dem 1. September noch einmal endgültig über den Bau des Panzerschiffes zu entscheiden habe, sollte eigentlich dem »S.P.D.« nicht ganz fremd sein. Denn wenn wir in seinen Annalen blättern, so finden wir unter dem 2. April folgende an die Parteipresse weitergegebene Notiz über den Verlauf der Reichsratssitzung vom 31. März (nachdem vorher gesagt wurde, dass der Reichsrat keinen Einspruch gegen den Bau des Kreuzers eingelegt habe, heißt es dort wörtlich weiter): »Es ist vielmehr eine Einigung zustande gekommen, wonach bis zum September nur Bauvorbereitungen erfol* [Erschienen in: Der Klassenkampf. Sozialistische Politik und Wirtschaft, Jg. 2, 2. Halbjahresband, Heft 17, Berlin 1928, S. 526-529. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. XXX-XXX.]
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gen, so daß die kommende neue Reichsregierung noch die Möglichkeit der Entscheidung über den Bau selbst haben wird.« Zunächst müssen wir also bemerken, dass sonderbarerweise die Quelle der »richtigen« sowie der »falschen« Auffassung tatsächlich ein und dieselbe ist. Nach dieser Feststellung sehen wir uns gezwungen, die juristischen Unterlagen der »S.P.D.«-Behauptungen etwas näher anzusehen, damit wir nicht nochmals in die peinliche Lage kommen, zuerst 4 ½ Monate etwas »Falsches« als offiziell »richtig« hinzunehmen, dann offiziell aufgeklärt zu werden, dass das bisher »offiziell Richtige« von heute ab »offiziell falsch« ist. Befassen wir uns zunächst mit der staatsrechtlichen Bedeutung des Reichsratsbeschlusses vom 31. März. Der Bürgerblockreichstag hatte in das Budget von 1928 die erste Baurate für den Kreuzer mit 9,3 Millionen Mark eingestellt. Der Reichsrat, der bei der Einbringung der Budgetvorlage diese Position gestrichen hatte, legte gegen den vom Reichstag wiedereingesetzten Budgetposten unter Zustimmung der Preußenregierung keinen Einspruch ein, somit war der den Schiffsbau enthaltende Posten angenommen. Der weitere Beschluss des Reichsrats, den Beginn des Baues hinauszuschieben, konnte staatsrechtlich nur den Sinn einer Empfehlung an die Reichsregierung haben. Denn die verfassungsrechtliche Disposition in Bezug auf den Bau des Schiffes lag, nachdem der Reichsrat die Einspruchsfrist hatte verstreichen lassen, nunmehr bei der Reichsregierung. Praktisch-politisch bedeutet jene Empfehlung des Reichsrats ein vorläufiges Kompromiss, das, im Einverständnis der preußischen Regierung und des Reichswehrministeriums beschlossen, den Bauanfang hinausschiebt, um seine finanziellen Voraussetzungen nochmals nachzuprüfen. Inhaltlich besagt das Kompromiss jedoch nichts, und jeder Zeitgenosse konnte sich da seine ja unverbindliche Deutung zurechtmachen. Der Reichsrat hat sich zur Frage des Baues selbst gar nicht mehr geäußert. Dass vor Baubeginn nochmals ein Beschluss gefasst werden musste, war offensichtlich. Denn es ist in der ganzen Welt so, dass, bevor etwas gebaut wird, jemand da sein muss, der autoritativ beschließt, dass gebaut wird. Und dass bei der Wichtigkeit der Materie das gesamte Kabinett darüber zu befinden hatte, war ebenfalls für niemand zweifelhaft. Insofern kann man ja den Ausdruck »Verwaltungsmaßnahme« gebrauchen. Dann gibt es eben »Verwaltungsmaßnahmen«, die politische Akte sind und solche, die rein technischer Natur sind. Durch solche terminologische Spielereien kann man die hier auftauchende Frage, ob die Regierung verpflichtet ist, von der im Budget erteilten Ermächtigung Gebrauch zu
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machen oder nicht, nicht umgehen. Dadurch, dass man in überzeugendem Tone von einer Verwaltungsmaßnahme spricht, die zur Ausführung eines rechtskräftigen Reichsgesetzes dient, lässt sich nicht darüber hinweghelfen, dass das Budget nicht schlechthin ein Reichsgesetz ist wie jedes andere. So einfach ist jedenfalls die Sachlage nicht, wie der Pressedienst sie sich vorstellt. Es soll hier gar nicht des Weiteren untersucht werden, ob das Budget überhaupt ein Gesetz ist oder nur ein Rechtsgeschäft zwischen Regierung und Parlament, wie Hatschek meint. Nicht bestritten wird jedenfalls in der gesamten vor- und nachrevolutionären staatsrechtlichen Literatur, dass das Budget keinen Befehl an die Regierung darstellt. Sämtliche Ausgabepositionen des Finanzplans sind, wie Laband (»Das Staatsrecht des Deutschen Reiches«, V. Auflage, Band 4, Seite 543)1 ausdrücklich feststellt, staatsrechtlich nur Ermächtigungen der Regierung, Ausgaben zu leisten. Die Aufnahme eines Ausgabepostens in den Etat enthält keineswegs eine bindende Anweisung an die Staatsregierung, die ihre bewilligten Mittel auch wirklich für den angesetzten Zweck zu verwenden. Der Etat bedeutet lediglich eine Beschränkung der Regierung nach der Ausgaben – nicht nach der Ersparnisseite hin. Selbständig kann die Regierung – wenn auch natürlich unter politischer Verantwortlichkeit gegenüber dem Parlament – Etatposten absetzen. Im Gegensatz zu der Überschreitung des Etats erzeugt die Tatsache, dass die Regierung die im Etat angesetzten Mittel nicht voll erschöpft, keine wie immer geartete straf- oder zivilrechtliche Verantwortlichkeit. Deutlich geht dies aus dem Satze Arndts im Artikel »Staatshaushalt« (StengelFleischmanns Wörterbuch des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts, II. Auflage, 1914) hervor: »Die Nichtleistung einer budgetmäßigen Ausgabe macht die Regierung nur politisch verantwortlich.«2 Bemerkenswert ist, dass die hier angedeutete Auffassung im monarchischen Deutschland einhellig vertreten wurde, obwohl ihr ein ganz bestimmter politischer Sinn zukam: demnach lag es in der Hand der im alten Preußen-Deutschland ja vom Reichstag unabhängigen Regierung, vom Parlament im Etat vorgesehene Maßnahmen nicht auszuführen. Die Einmütigkeit auch liberaler Staatsrechtsautoren wie MeyerAnschütz und von Roenne ist darauf zurückzuführen, dass sie alle etatrechtlichen Fragen nur in dem nach der Konfliktszeit durchaus herr1 [Paul Laband: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Fünfte neubearbeitete Auflage in vier Bänden, Band 4, Tübingen 1914, S. 543.] 2 [Gemeint ist: Otto Schwarz: Staatshaushalt. B. Verwaltungsrechtlich, in: Max Fleischmann (Hg.): Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Zweite, völlig neu gearbeitete und erweiterte Auflage, Tübingen 1914, S. 487.]
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schenden Gesichtspunkt betrachteten, wie es etat- und verfassungsrechtlich möglich wäre, die Regierung an nicht genehmigten Ausgaben zu verhindern. Möglichkeiten etwaiger Ersparnisse und Abstriche wurden als erwünscht begrüßt, für Verwicklungen, die dadurch entstehen konnten, dass vom Parlament ausdrücklich ins Budget eingesetzte Posten nicht der beabsichtigten Verwendung zugeführt wurden, hatte man keinen Blick. Diese konstitutionelle Theorie wurde auch nach der Revolution mit denselben, nur auf budgetpolitischen Erwägungen beruhenden Gründen verflochten, wie aus den Ausführungen Hatscheks hervorgeht: »Eine Genehmigung der Minderausgaben ist nicht nötig, weil der Etat der Regierung die Vollmacht erteilt, bis zum Höchstsatz der Etatposition Ausgaben zu machen. Bleibt sie darunter, so ist das ihre Sache und nicht genehmigungspflichtig, aber erläutert muß sie werden, denn der Reichstag muß wissen, ob er im nächsten Jahr wieder einen solch hohen Etatansatz für die betreffende Ausgabe bewilligen wird.«
(Deutsches und Preußisches Staatsrecht II/352.)3 So auch die Ministerialräte im Reichsfinanzministerium Schulze-Wagner unter Hinweis auf die bisher übliche Praxis: »Die Regierung kann selbst durch Einfügung von Zweckbestimmungen mit Geldansätzen in den Haushaltsplan seitens der gesetzgebenden Körperschaften nicht zur Vornahme von Maßnahmen, z. B. dem Bau oder der Erweiterung einer Wasserstraße gezwungen werden.«
(Kommentar zur Reichshaushaltsordnung, § 25, Anm. 2.)4 Diese liberal-konstitutionelle Theorie verrät aber nicht nur Spuren rechnerischen Talents, ihr kommt auch eminent politische Bedeutung zu. Sie beruht im Grunde auf der anscheinend immer noch nicht vollständig veralteten Ansicht, dass eine Regierung zwar auf das Vertrauen oder doch mindestens auf die »Billigung« des Parlaments angewiesen sei, im Übrigen aber aus ebenso unabhängigen wie verantwortungsbewussten Männern bestehen müsse, Gedanken, die unter der Firma »Regierung der Persönlichkeiten« selbst innerhalb der Sozialdemokratie Anklang gefunden haben. Die Selbständigkeit der Regierung findet dann auch darin ihren Ausdruck, dass das Budget für sie nur eine 3 [Julius Karl Hatschek: Deutsches und Preußisches Staatsrecht, Band 2, Berlin 1923.] 4 [Rudolf Schulze, Erich Wagner: Reichshaushaltsordnung vom 31. Dezember 1922, mit Erläuterungen von R. Schulze und Dr. jur. E. Wagner, 2. vollständig durchgesehene und erweiterte Auflage, Berlin 1926, S. 151.]
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Grenze bedeutet, innerhalb deren sie unter eigener Verantwortung frei zu schalten berechtigt ist. Begnügen wir uns aber nicht damit, dass der Erklärungsversuch des Sozialdemokratischen Pressedienstes bei der liberal-konstitutionellen Staatsrechtstheorie keine Stütze findet, vom Boden rein demokratischer Prinzipien aus ist er eine Ungeheuerlichkeit! Danach ist das Parlament nichts weiter als ein Ausschuss des Volkes und die Regierung nichts weiter als ein Ausschuss des Parlaments. Die Regierung ist eine reine Exekutive des Parlaments, für deren Willensbildung Parlamentsbeschlüsse die Bahn vorzeichnen. Ideal der Demokratie ist Regierung durch Parlamentsausschüsse, wie das Beispiel der französischen Konventszeit 1792/93 zeigt. Die in der Demokratie mit allen Mitteln erstrebte Identität von Regierung und Regierten, ihre Deckungseinheit, wird am besten durch intensive Erforschung des Volkswillens erreicht. Hat diese Erforschung durch Parlamentswahlen stattgefunden, ist ein neuer, vom bisherigen verschiedener »Volkswille« zutage getreten, wie es am 20. Mai der Fall war, so kann innerpolitischen Akten des verflossenen Parlaments, die ja nicht wie außenpolitische Akte einen über das eigene Volk hinausgehenden Wirkungsbereich haben, eine Bindung für die nunmehrige Regierung keineswegs zukommen. Diese ist frei in ihren politischen Maßnahmen, gebunden nur an den im neuen Parlament zum Ausdruck gekommenen Volkswillen. Die Frage, ob der neue Volkswille darauf hinauslief, Panzerkreuzer zu bauen, hätte für sozialdemokratische Minister wichtig genug sein müssen, sich vor einer Entscheidung durch Befragung des Parlaments darüber zu orientieren. Am Schlusse unserer Ausführungen muss konstatiert werden, dass der von partei-offizieller Seite mit ziemlicher Kühnheit als staatsrechtlich notwendig hingestellte Kabinettsbeschluss vom liberal-konstitutionellen Standpunkt aus durchaus nicht »notwendig«, und vom demokratischen Standpunkt aus gänzlich unzulässig gewesen ist.
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[5.] Bedeutungswandel des Parlamentarismus* [1928] Von der gegenwärtig geltenden Weimarer Verfassung wird oft gesagt, sie habe in Deutschland die demokratische Staatsform geschaffen und das parlamentarische System eingeführt. Hierbei werden die Ausdrücke »parlamentarisch« und »demokratisch« meist mit- oder nebeneinander gebraucht, so dass unwillkürlich der Eindruck entsteht, als hätten sie im Lauf der Geschichte stets dasselbe bedeutet, als wäre das eine ohne das andere nicht denkbar. Dies ist ein weittragender theoretischer Irrtum, der – sonst wäre die Feststellung ja für uns nicht wichtig – in der politischen Praxis zu verhängnisvollen Fehlern führen kann und auch schon geführt hat. Der Parlamentarismus in seiner überkommenen Gestalt ist die klassische Form, in der im 19. Jahrhundert das Bürgertum Staat und Gesellschaft beherrschte. Lange Zeit hindurch glaubte man, in der Betrachtung bloß innerdeutscher Verhältnisse befangen, dass die großen politischen Gegensätze dieses Jahrhunderts in der von dem liberalen Professor Hugo Preuß formulierten Antithese »Obrigkeitsstaat und Volksstaat« ihren Ausdruck fänden. Dabei übersah man, dass es sich hier nur um ein letztes Rückzugsgefecht des fürstlichen Absolutismus handelte, der in Deutschland später, in anderen Ländern früher der Herrschaft der Bourgeoisie - zunächst in der verschleierten Übergangsform der konstitutionellen Monarchie weichen musste. Dem Parlamentarismus, dem politischen Herrschaftssystem des Bürgertums im 19. Jahrhundert, lagen drei bestimmt erkennbare und formulierbare politische Grundsätze zugrunde. 1. Der Glaube, dass die »Schichten von Besitz und Bildung«, wie das klassische, in seiner Zusammensetzung so aufschlussreiche Wortpaar Rudolf von Gneists, der in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die gleiche Rolle spielte wie heute Herr Professor Kahl von der Deutschen Volkspartei, ausschließlich zur Ausübung von politischen Funktionen und zur Innehabung von höheren Beamtenstellen berufen seien. * [Erschienen in: Jungsozialistische Blätter, Jg. 7, Heft 10, Berlin 1928, S. 305-308. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 51-52.]
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2. Der Glaube daran, dass das für die Nation Nützliche und Richtige in und durch öffentliche Parlamentsdiskussion gefunden werden könne. 3. Das unentwegte Festhalten am Prinzip des Rechtsstaates. Jener Satz von der ausschließlichen politischen Fähigkeit und Würdigkeit der Schichten von Besitz und Bildung, der von seinen damaligen Verfechtern mit dem Hinweis auf die höheren Steuern der besitzenden Klasse begründet wurde, war die theoretische Grundlage jedes an eine bestimmte Einkommens- oder Besitzgröße gebundenen Wahlrechts (Zensuswahlrecht). Das Zensuswahlrecht war das technische Mittel des Bürgertums im 19. Jahrhundert, das ja noch nicht über ein so uneingeschränktes und wirksames Pressemonopol verfügte wie seine Enkel im 20. Jahrhundert, um die großen Massen von der Einflussnahme auf ihre politischen Geschicke fernzuhalten, dafür zu sorgen, dass die Staatsbeherrschung ausschließlich in seinen Händen blieb. Der Grundsatz des Bürgertums im 19. Jahrhundert, das Rechtsstaatsprinzip, ist für uns schwer verständlich, wenn auch bis in die Kreise der Partei hinein von der heiligen Idee des Rechtsstaats geredet wird, wobei dann freilich nie beachtet wird, dass die ideengeschichtliche Bedeutung des Rechtsstaats im 19. Jahrhundert eine ganz andere war als seine Funktion im politischen Leben des 20. Jahrhunderts. Damals hatte die Rechtsstaatsforderung einen doppelten Sinn: einmal sollte dieser Begriff dazu dienen, dem Bürgertum den endgültigen Sieg über die absolutistischen Rückstände des monarchistischen Systems zu verschaffen und zu sichern, dafür zu sorgen, dass die Willkür einzelner Regierungs- und Verwaltungsorgane möglichst eingeengt wurde, dadurch dass man einen Haufen präzisierter gesetzlicher Normen schuf. Ferner erforderten die Bedürfnisse von Handel und Verkehr eine möglichst große Rechtssicherheit; im Voraus sollte jeder Kaufmann und Industrielle wissen können, welchen Erfolg er erzielen würde, wenn er sich zur Durchsetzung eines Anspruchs – und er hatte deren viele – an die staatlichen Organe wendete. Was wir meinen, wird an dem grotesken Bilde Max Webers, des größten und weitschauendsten unter den deutschen bürgerlichen Gelehrten, deutlich: Die Justiz sei eine Maschine, in die man oben den konkreten Fall und die Gerichtsgebühren hineinwirft, woraufhin dann unten die Lösung herausfällt. Schon damals erkannten sowohl die Vertreter des Bürgertums als auch die literarischen Wortführer des Proletariats die Rolle des parlamentarischen Systems, den Unterschied zwischen parlamentarischer Herrschaft und Demokratie. Durch alle politischen Schriften Karl Marx‘ und Friedrich Engels‘, vom Kommunistischen Manifest über die »Klassen-
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kämpfe in Frankreich« bis zum »Bürgerkrieg in Frankreich« und der Engels‘schen Altersschrift »Internationales aus dem Volksstaat« zieht sich jenes Argument: »Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisie verwaltet« (Kommunistisches Manifest).1 Unter »Demokratie« verstanden sie die Herrschaft des gesamten, des arbeitenden Volkes, im Gegensatz zur Herrschaft eines durch ein Zensuswahlrecht zustande gekommenen Parlaments. Und auch die Bourgeoisie hat in ihren vornehmsten Vertretern erkannt, dass ihr damaliges parlamentarisches System durchaus im Gegensatz zu einer demokratischen Volksherrschaft stand. Kurzum: Demokratie bedeutete damals den oft unklaren, aber immer vorhandenen Drang der breiten Massen zur politischen Herrschaft, Parlamentarismus war die Verkörperung der Herrschaft der Bourgeoisie. Was ist aus jenen drei Hauptstützpunkten des parlamentarischen Systems des 19. Jahrhunderts geworden? Dies zu erforschen, unbeeinflusst durch die Meinungen, die schon damals über Wert und Unwert des Parlamentarismus geherrscht haben, ist jetzt unsere Pflicht. Durch die Revolution von 1918 fielen die letzten Reste eines Klassenwahlrechts. Im Reich war schon durch die Bismarck‘sche Verfassung das allgemeine gleiche Wahlrecht erreicht. Auch das langersehnte Prinzip des Verhältniswahlrechts kam zustande. Die parlamentarische Verantwortlichkeit der Minister, ihre vollständige Abhängigkeit von den Volksvertretern wurde Verfassungsgrundsatz. Hierin erblickten viele die endgültige Abschaffung des alten Systems. Uns freilich scheint diese Errungenschaft nicht allzu hoch anzuschlagen zu sein, da schon in der konstitutionellen Monarchie die auch heute noch ausschlaggebenden Schichten des Bürgertums einen zwar nicht staatsrechtlich festgelegten, aber deshalb nicht geringeren Einfluss auf die Willensbildung der höchsten Regierungsstellen ausübten. Es wird nun oft behauptet, dass nach dem Fallen des Drei-Klassen-Wahlrechts, nach der Einführung einer so allgemeinen Verhältniswahl, jene Gegensätze zwischen dem politisch bevorrechteten Bürgertum und der minder berechtigten Arbeiterschaft, wie sie das 19. Jahrhundert kennzeichneten, gefallen seien, und dass wir heute in Deutschland nur gleichberechtigte Bürger hätten, kurzum, ein System, das Demokratie und Parlamentarismus in sich vereinigt.
1 [Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW Band 4, 6. Auflage, Berlin 1972, S. 464.]
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Was wir als erstes Prinzip des bürgerlich-parlamentarischen Staates aufgezeigt haben, ist tatsächlich gefallen. Das Zensuswahlrecht war das naivste Mittel, größere Wählerschichten fernzuhalten. Es wäre jedoch eine zu oberflächliche Betrachtungsweise, wenn wir uns damit begnügen würden, zu konstatieren, dass ein Mittel, die proletarischen Schichten von der energischen Vertretung ihres Klasseninteresses fernzuhalten, verschwunden ist, ohne uns darum zu bekümmern, ob das erstrebte Ziel heute nicht durch andere Mittel erreicht wird. Das Bürgertum hat im 20. Jahrhundert gelernt, sich einer sehr wirksamen Macht zu bedienen, die es früher nicht in diesem Umfang gekannt und sich seiner organisatorisch zu bedienen nicht notwendig gehabt hat. Mit Hilfe des Geldes hat es eine große Zahl von Einrichtungen geschaffen, durch die es die Staatswillensbildung verfälscht. Sein wichtigstes Mittel ist seine Presse. Um den ungeheuren Vorsprung anzudeuten, den das Bürgertum vermöge des ihm zur Verfügung stehenden Kapitals hat, genügt es, auf ein uns allen geläufiges Beispiel hinzuweisen. Es gibt heute eine einflussreiche Organisation, genannt Demokratische Partei – sie ist vermöge ihrer Ideologie der Arbeiterschaft weit gefährlicher als deren offene Feinde; nur ist leider leitenden Parteikreisen noch nicht genügend klar geworden, dass Finanzkapital auf der einen Seite, Industrielle und Agrarier auf der andern Seite, zwar in vielen Punkten nicht übereinstimmen mögen, in dem entscheidenden Punkt, der Aufrechterhaltung des Privateigentums und der Vertragsfreiheit aber durchaus einer Meinung sind. Diese politische Organisation, die Demokratische Partei, verdankt ihre Existenz allein den drei Zeitungsfirmen Ullstein, Mosse und Frankfurter Sozietätsdruckerei. Durch seine finanzielle Machtstellung hat das Bürgertum also anstelle der offenen eine verschleierte Machtstellung bezogen. Es hat das allgemeine gleiche Wahlrecht gewährt, um es gleichzeitig durch seine finanzielle Machtstellung der wichtigsten Wirkungen zu berauben. Der zweite Grundsatz des parlamentarischen Bürgertums, der Glaube an die öffentliche Diskussion im Parlament, die das richtige und vernünftige Ergebnis für das Volkswohl hervorbringt, setzte eine gegebene politische Einheit, wie sie das Bürgertum des 19. Jahrhunderts darstellte, voraus. Als das Proletariat in das Parlament einzog, war dieser Grundsatz sinnlos geworden. In der öffentlichen Diskussion konnte der Vertreter des Proletariats dem Vertreter der Bourgeoisie nur sagen, dass sein Interesse eine bestimmte Regelung erheische, während der Vertreter der Bürgerlichen von dem ausging, was sein Interesse notwendig machte, wobei allerdings die bürgerlichen Parlamentarier bis heute die Eigenart gezeigt haben, zu verkünden, dass ihr Interesse mit dem Inter-
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esse der gesamten Nation identisch sei. Ein Parlament ist also keine Stätte der schöpferischen Diskussion mehr, es ist der Ort der öffentlichen Deklarationen entgegengesetzter Klasseninteressen geworden, während die wahren Entscheidungen über politische Fragen in Privatbesprechungen und geheimen Ausschüssen und Zusammenkünften fallen. Der Gedanke einer im Parlament als dem Hort des Fortschritts zu gewinnenden vernünftigen Entscheidung hat der Tatsache weichen müssen, dass Klasseninteressen Fragen der Macht sind, für die es keine andere Vernunft als die Notwendigkeit gibt, für jede Klasse das Maximum des für sie Möglichen ohne ein ihre Machtverhältnisse überschreitendes Risiko zu erreichen. Im Zusammenhang hiermit mag darauf hingewiesen werden, dass Mehrheit im Parlament und wirkliche politische Macht zusammenfallen können, nicht aber zusammenfallen müssen. Mehrheit und Macht sind zweierlei Dinge, und die Mehrheit im Parlament ist nur eine nicht absolut zuverlässige Erkenntnismöglichkeit der wahren Machtverhältnisse. Das Bürgertum hat den Rechtsstaatsgedanken gegenüber dem Proletariat in der Weise zu verwerten gesucht, dass es darauf hinwies, dass die Gesetze für alle gleich seien und Geltung hätten und daher das Proletariat eine besondere Behandlung nicht verlangen dürfe. Gegenüber diesem Argument genügt es, auf die treffenden Worte Anatole France‘s hinzuweisen: »Das Gesetz in seiner majestätischen Gerechtigkeit erlaubt Armen und Reichen unter Brücken zu schlafen.«2 In Wirklichkeit hat der Rechtsstaatsgedanke heute einen ganz anderen Sinn bekommen. Er ist nicht mehr eine Position, die dem Bürgertum ausschließlich gehört, weder eine Angriffsposition wie in seiner Frühzeit, noch eine Verteidigungsposition wie in seiner Spätzeit. Der Rechtsstaatsgedanke steht heute zwischen Proletariat und Bürgertum. Er ist die Grenzscheide zweier kämpfenden Gruppen geworden, die beide weit entfernt sind, in ihm das endgültige Gesetz der Machtverteilung zu empfinden. Dies soll an einem Beispiel erläutert werden. Weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer wollen heute durch eine Einzelstreitigkeit alles aufs Spiel setzen; denn jede ihrer Streitigkeiten greift heute über den Kampf zweier isolierter Individuen hinaus, hinter jedem von ihnen steht, bereit, in jedem wichtigen Fall ihrer Partei zu Hilfe zu kommen, ihre soziale Gruppe; deshalb hat der Staat ein ganzes Rechtssystem errichtet, das dazu dient, diese sozialen Kämpfe auf rechtlichem Wege zum Austrag zu bringen, sie der Sphäre der unmittelbar Beteiligten zu entziehen, soziale Machtfragen in Probleme der Rechtsfindung 2 [Anatole France: Die rote Lilie, München 1925, S. 116.]
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[5.] Bedeutungswandel des Parlamentarismus [1928]
zu neutralisieren. So hat das Rechtsstaatssystem heute die Funktion, in den Beziehungen zwischen Bürgertum und Proletariat einen Gleichgewichtszustand zu schaffen. Der Rechtsstaat ist vielleicht eine der nach außen hin bezeichnendsten Formen für den Übergangswert unseres heutigen politischen Systems, für seine Vorläufigkeit, für einen Zustand, in dem die eine Klasse nicht mehr stark genug, die andere noch nicht stark genug ist, an der Ausschließlichkeit ihres politischen Systems festzuhalten.
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[6.] Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie* Bemerkungen zu der Schrift1 Paul Levis [1928] Gar zu gerne wird bis weit in unsere sozialdemokratischen Reihen hinein die Frage des Wehrproblems und unsere Stellungnahme dazu (wobei Stellungnahme nicht bloß etwas Literarisches bedeutet, sondern den ernsthaften Willen der kundgetanen Meinung entsprechend in den kritischen Momenten zu handeln, eine Folgerung, die gar zu oft und zu leichtfertig bei sehr vielen ›Stellungnahmen‹ vergessen wird, ohne die aber eine Stellungnahme jeden Wert verlieren würde) von ausschließlich taktischen Gesichtspunkten aus erörtert. Die Frage der neuen strategischen Linie Karlsruhe-Eger und die damit im engsten Zusammenhang stehende Frage nach der Haltung Deutschlands in einem zukünftigen Kriege [gegen] England, Frankreich, Polen-Russland, verleitet viele Parteigenossen dazu, die Stellungnahme zur Wehrfrage zusammenzuwerfen mit der Frage nach dem bestmöglichen Verhalten in einer ausgedachten politischen Situation. Keine treffendere Kritik hätte Paul Levi an einer solchen Horizontverengerung üben können, als durch den an Hand der Tirpitz‘schen Flottenpolitik erbrachten Nachweis, dass die völlige Einstellung einer Wehrpolitik und damit eines Wehrplans auf eine ausgedachte militärische Operationsbasis deshalb etwas höchst Sekundäres ist, weil es ja leider immer von der Macht und dem Willen des Gegners abhängt, welche Operationsbasis er wählen will. An Stelle solcher militärpolitischen und taktischen Erwägungen gibt Levi ein umfassendes und anschauliches Bild des Strukturwandels, der sich in der Wehrform seit dem Beginn des Weltkrieges vollzogen hat. Denn nur auf Grund solcher Untersuchungen besteht überhaupt Möglichkeit, festzustellen, welchen Aufgaben das Proletariat in dieser Hinsicht gegenübersteht.
* [Erschienen in: Die Tribüne, Organ der Sozialdemokratischen Partei für das Land Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt, 15. Dezember 1928, Erfurt. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 39-40.] 1 [Paul Levi: Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie, Berlin 1925.]
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[6.] Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie [1928]
Erst in dem letzten Krieg ist erkannt worden, dass die alte »Vorratswirtschaft«, die man mit den Geld-, Kriegs- und Nahrungsmitteln noch zu Anfang des Krieges trieb, völlig veraltet war. Man sah, dass es für künftige Kriege nicht mehr auf den Vorrat ankommt, sondern auf jenes berühmte und berüchtigte »potentiel de guerre«, auf die Möglichkeit, schnell und reibungslos den Gesamtproduktionsprozess in die Wehrverfassung einzubeziehen. Damit hat sich aber auch die Rolle der Friedenszeit in ihrem Verhältnis zum Krieg geändert – nicht mehr die statische Machtstellung so und so großer fertiger Heere und Kanonen gilt [es] jetzt, die Beziehung der Friedenszeit zum Krieg hat ihre starre Einseitigkeit, ihr Gerichtet sein auf ganz bestimmte kriegspolitische Forderungen verloren. Die Friedenszeit hat in dieser Beziehung eine weitgehende Dynamisierung, Verlebendigung erfahren. Alles und jedes, was die Technik des Friedens hervorbringt, an Möglichkeiten schafft, ist mit geringen schnellfertigen Änderungen im Krieg verwendbar. Es genügt nur, auf das Beispiel der chemischen Industrie hinzuweisen. Hieraus ergibt sich auch die relative Hoffnungslosigkeit aller Entwaffnungsvorschläge, gleichgültig von welcher Seite sie auch immer ausgehen mögen, denn die Existenz der chemischen Industrie ist im Frieden notwendig und dass sie mit geringen Änderungen für den Krieg ebenso verwendbar ist wie für die friedliche Arbeit unentbehrlich, kann niemand hindern. Aus den fortwährenden technischen Änderungen ergibt sich auch, wie Levi unter Bezugnahme auf die Erinnerungen des Generals von Seeckt ausführt, die Unnötigkeit eines stehenden großen Heeres, das ja aus finanziellen Gründen nie technisch vollkommen auf dem Laufenden gehalten werden könnte. Damit hat sich aber auch die Stellung des Proletariats in diesem Kriegssystem geändert. Die alte sozialdemokratische Forderung der Miliz ist in furchtbarer Weise Wirklichkeit geworden. Nicht vom Volk von unten aus ist die Einbeziehung des gesamten Volkes in den Krieg Wirklichkeit geworden, sondern von oben herunter, von der Seite des behördlich geleiteten technischen Apparates aus; ist das Volk in seiner Gesamtheit in allen Altersschichten in den Krieg einbezogen. Denn dem Kriegsprozess dient alles und jedes und der Hinweis auf die Rolle Paul-Boncours mag genügen, wie man in Frankreich diese Einbeziehung auch schon praktisch betreibt. Welche Folgerungen zieht nun Levi aus diesem Gesamtbild und der heutigen Situation, da er uns in seiner Schrift eine noch kaum erreichte Intensität an Verlebendigung und Vergegenständlichung dieser unserer heutigen Situation gegeben hat.
[6.] Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie [1928]
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Levi stellt zwei Vorschlagsgruppen auf: Die eine schließt sich an die Entschließungen der Brüsseler Internationale zur Wehr- und Kriegsfrage an, indem sie diese jedoch agitatorisch steigert und damit den positiven Aktionssinn des Proletariats auch in seiner Abwehrfunktion gegen den imperialistischen Krieg hervorhebt. In ihr wird es als die Aufgabe der Partei bezeichnet – neben der wichtigen Kontrollfunktion, die den Gewerkschaften bezüglich des Produktionsprozesses zukommt – in ihrer gesamten politischen Haltung den Gegensatz zwischen den bestehenden Klassen zu betonen und in der Militärpolitik den Gegensatz zwischen Proletariat und Bürgertum dadurch entscheidend zu dokumentieren und in den Massen zu verlebendigen, dass sie jede Rüstungsausgabe ablehnt. Durch diese Haltung soll die SPD eine kraft- und machtvolle Internationale mitaufbauen und dadurch den imperialistischen Krieg abwenden. Falls dieses Mittel versagen sollte, weist Levi der SPD einen zweiten Weg. Er besteht kurz gesagt in dem Bewusstsein des Proletariats von der notwendigen Einbeziehung der Armee in das Proletariat, in der Überwindung des Gegensatzes, der heute zwischen der Arbeiterschaft und der ausschließlich dem Bürgertum hörigen Armee besteht. Dieses neue, ideenmäßig und in Wirklichkeit mit dem Proletariat aufs Engste verbundene Heer soll dann auch bereit und gerüstet sein, den Krieg des proletarischen Staates zu führen. Der Sinn beider Vorschläge geht nicht so weit auseinander, als man meinen möchte; denn beide sehen in der Kriegs- und Wehrfrage nicht nur eine Frage nach der bestmöglichen Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Friedenszustandes, für beide, und das ist ihr Vorzug, ist diese Frage unlöslich verbunden mit der Aktivierung sozialistischer Politik. Für beide Vorschläge ist das Wehrproblem Angelpunkt, an dem die Macht des Bürgertums endgültig zerschellen muss. Was bei dieser Stellungnahme uns merkwürdig erscheint, ist die Zuspitzung auf diese zwei Wege, die gewissermaßen zur Wahl stehen. In Wirklichkeit gibt es keine Wahlmöglichkeit. Wer möchte die Frage entscheiden, ob das Proletariat im Verein mit der Internationale stark genug ist, einen imperialistischen Krieg zu verhindern? Und wer möchte alles der Entscheidung anvertrauen, ob der nächste Krieg ein imperialistischer Krieg ist, oder ob er wahrhaft proletarischen Interessen dient. Der August 1914 sollte uns über die Unzuverlässigkeit solcher Unterscheidungsmerkmale (Angriffs- und Verteidigungskrieg) hinreichend belehrt haben. Meiner Meinung nach ist dieses EntwederOder – selbst auf die Gefahr hin (und es ist, wie uns unser jetziges Par-
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[6.] Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie [1928]
teileben aufs Deutlichste zeigt, eine große Gefahr), dass wir in diesen Fragen weniger aktiv und mehr von den Zeitereignissen bestimmt erscheinen – unabwendbar. Die Sozialdemokratie wird sowohl ihre gesamte Kraft für den Frieden einsetzen, als auch gleichzeitig die Eroberung der Reichswehr einleiten müssen. Gegenüber der Levi’schen Fassung mit ihrem allzu zugespitzten Entweder-Oder muss betont werden, dass nur der doppelte Weg der machtvollen und ganz im Sinne Levis realistisch-proletarischen Friedenspolitik und einer energischen und proletarischen Heerespolitik uns das verbürgen kann, was wir alle zu erreichen wünschen, die politische Macht des Proletariats.
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[7.] Wahlrechtsreform* [1929] Durch den bürgerlichen Blätterwald geht ein gewaltiges Rauschen; von der demokratischen »Weltpresse« bis zum kleinsten Hugenbergableger ist die Versumpfung unseres politischen Lebens und die Notwendigkeit einer Erneuerung unseres Parteiwesens Tagesgespräch geworden. Hauptschuld an diesen ›unhaltbaren Zuständen‹ soll nach der übereinstimmenden Ansicht der bürgerlichen Presse unser heutiges Wahlsystem tragen. Man spricht dort von dem unorganischen Charakter dieses Wahlrechts, das der Parteibürokratie alle Macht gibt und das es den Tüchtigen und geistig Hochstehenden unmöglich macht, sich im politischen Leben durchzusetzen. Hat doch Dr. Stresemann, der hervorragende Führer der deutschen Bourgeoisie, kürzlich in einem Aufsehen erregenden Artikel seinen Missmut darüber ausgesprochen, dass in unserem politischen Leben heute die Gewohnheit herrsche, einen Politiker nur danach zu beurteilen, wieviel Tausende oder Millionen von Mitgliedern irgendeines Verbandes er zu vertreten berechtigt sei. Er tadelt, dass solche Leute, die meist eine geringe politische Schulung und Sachkenntnis besäßen, bei uns eine so große Rolle spielen, während die geistige Elite unseres Volkes von der Politik ferngehalten würde. Das Bürgertum würde es am liebsten sehen, wenn das ganze Proportionalwahlrecht abgeschafft werden könnte; da es aber weiß, dass die Arbeiterklasse dafür nicht zu haben ist und sogar schon die Deutsche Volkspartei erkennen musste, dass das Bedrucken von Reichstagspapier mit Vorschlägen zur Verfassungsreform deren Durchsetzung nicht garantiert, so setzt man jetzt im bürgerlichen Lager von Koch bis Westarp seine ganze Kraft und sein ganzes Papier für die verfassungsmäßig mögliche Errichtung kleinerer Wahlkreise ein. Wie hat sich das Proletariat zu jenen Versuchen, das Wahlrecht zu reformieren, einzustellen? Hat es auch ein Interesse daran, unsere heutigen politischen Zustände durch eine Wahlrechtsänderung umzugestalten? Hierzu ist zunächst zu sagen, dass das Proletariat gar nicht der Utopie huldigt, es könne durch eine Wahlrechtsänderung eine Besse* [Erschienen in: Mühlhäuser Volksblatt: General-Anzeiger, Organ zur Wahrung der Interessen des gesamten werktätigen Volkes, Nr. 28, 2. Februar 1929, Mühlhausen. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 40-41.]
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rung der politischen Verhältnisse herbeigeführt werden. Es weiß, dass unsere politischen Zustände heute nur ein Ausdruck der bestehenden Klassenverhältnisse sein können, diese aber eine Änderung nur durch politisch-ökonomische Verschiebungen erfahren, die sich in dem gegenseitigen Machtverhältnis zwischen Bürgertum und Proletariat ausdrücken. Nicht deshalb gehen in Deutschland die politischen Geschäfte schlecht, weil ein schlechtes Wahlrecht unfähige Politiker an die Spitze bringt; auch bei uns sind die Politiker nicht besser und nicht schlechter als in anderen Ländern. Dass heute das Proletariat das Rad der Geschichte nicht vorwärts-, das Bürgertum es nur in geringem Ausmaße zurückdrehen kann, ist nur eine Folge des labilen Gleichgewichtsverhältnisses der Klassenkräfte in Deutschland. Das jeweils geltende Wahlrecht ist ein unmittelbares Produkt der Klassenverhältnisse. Wahlrecht ist technisches Recht, zweckbestimmtes Recht. Solange es eine Klassengesellschaft gibt, ist es vergebliches Bemühen, nach dem besten Wahlrecht zu suchen; denn das Prinzip des Wahlrechts im Klassenstaat ist nicht die Auswahl der Besten für die beste Regierung. Die Güte eines Wahlrechts bestimmt sich, solange es in der Welt Klassengegensätze gibt, nur nach dem Zweck, den man jeweils mit ihm erreichen will. So war das Zensuswahlrecht, das das Bürgertum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so in sein Herz geschlossen hatte, und das in Preußen bis 1918 als Dreiklassenwahlrecht in Geltung war, das geeignete Mittel, die Arbeiterschaft von dem ihm im politischen Leben gebührenden Einfluss fernzuhalten. So ist das faschistische Wahlrecht des Jahres 1928, das nur die faschistische Liste dem Volk zur Annahme oder Ablehnung vorlegt, das geeignete Mittel, um auf eine gefahr- und risikolose Weise dem Faschismus eine Generalübersicht über seine freiwilligen und unfreiwilligen Anhänger zu ermöglichen. Das Wahlsystem, das in Frankreich, England und den Vereinigten Staaten gilt, hat dort, abgesehen von England, seit der Konstituierung der Labour Partei, heute noch den Zweck, abwechselnd verschiedene Parteigruppen des Landes, deren Differenzen untereinander weniger sachlicher Natur sind, als einfach durch die Partnerschaft jenes Wahlspiels bedingt werden, zur Herrschaft zu bringen. Als das liberal-bürgerliche Zeitalter in der Weimarer Verfassung zur Neige ging, wurde auch das alte Wahlrecht zu Grabe getragen und ein listengebundenes, von der Parteiwillkür bestimmtes Proportionalwahlrecht geschaffen. Dieses System ist ein Ausdruck dafür, dass die idyllische Zeit des Bürgertums, in der das Wahlrecht nur ein Mittel zur Bestimmung des jeweiligen Regierungs- und Oppositionsspielers bedeutete, vorbei ist. Das Proletariat marschiert gleichberechtigt in die Kampfbahn der Demokratie ein. Dieser Einmarsch, den es in Weimar
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lediglich zu konstatieren galt, bedeutete eine Änderung des dem Wahlrecht bisher innewohnenden Sinnes und Zweckes. War früher Regierungsbildung zwischen rivalisierenden Bürgerparteien der Zweck des Wahlrechts, so war es jetzt in erster Linie Kräftemaßstab der Klassenverhältnisse geworden, erst in zweiter Reihe ergab sich die Regierungsbildung. Diese Klassenfront am getreuesten und mathematisch genauesten widerzuspiegeln ist der Sinn des geltenden Proportionalwahlrechts. Auch jene Anonymität des Wahlrechts, welche in dem Listenprinzip und dem Grundsatz der großen Wahlkreise sich verkörpert und die vom Bürgertum heute als Zielscheibe für seine Angriffe benutzt wird, ist ebenfalls die Konsequenz davon, dass im heutigen Staat das Wahlrecht dem Austrag der Klassengegensätze dient. Die Ideologie des Bürgertums, das glaubt, durch Rückkehr zu keinen Wahlkreisen den Persönlichkeitsfaktor wieder mehr zur Geltung bringen zu können, ist reaktionär. Jene Professoren-Parlamente der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts, in denen sich die Gebildeten über die Staatsdinge unterhielten, über die andere entschieden, sind unwiederbringlich dahin; sie würden auch mit anderer Wahlkreiseinteilung nicht wiederkehren. Die Parlamente sind keine Orte, in denen sich die Gebildeten der Nation über gebildete Dinge unterhalten, die Parlamente sind Stätten zum Austrag des Klassenkampfes, und die Parteien, die ihn draußen als Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter miteinander kämpfen, sind auch keine berufenen Wortführer im Parlament. Deshalb hat heute dort der eine Millionen Menschen, der andere Millionen Mark zu vertreten. Diese Tatsachen würden durch eine Verkleinerung der Wahlkreise nur verschleiert, nicht geändert. Es ist ehrlicher, wenn jeder Wähler weiß, welches Klasseninteresse sein Abgeordneter vertritt, als wenn die einzelnen lokalen Größen, die vielleicht eine andere Wahlkreiseinteilung ins Parlament brächte, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, und das heißt ihrer Wähler, von irgendwelchen Verbandsinteressen ›erobert‹ würden. So hat das Proletariat an einer Änderung des heutigen Wahlrechts in dem vom Bürgertum angeregten Sinn kein Interesse; es weiß, dass das heutige Wahlrecht den nackten Tatsachen des Klassenkampfes am besten entspricht, und bittere Erfahrungen haben die Arbeiterschaft gelehrt, dass diejenigen Institutionen für sie die besten sind, welche, statt die Tatsachen zu verschleiern, sie offen darlegen. Will das Bürgertum vom Proletariat eine Änderung des Wahlrechts erreichen, so wird es sich mit der Abschaffung der Reichs- und Landeslisten begnügen müssen, denn diese sind durchaus undemokratisch und erhalten nicht nur
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das an Parteibürokratie, was notwendig ist, sondern was gerade vorhanden ist; das aber ist vom Übel, und es ist Zeit, dass die Überschüsse, die sich aus den einzelnen Bezirken ergeben, auf diese selbst nach einem bestimmten Schlüssel vergeben werden. Weitere Wahlrechtsreformen müssen und werden an der Klassenfront der Arbeiterschaft scheitern.
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[8.] Die Demokratie der Bequemlichkeit. Ein Nachwort zum Parteitag* [1929] In den Äußerungen der Redner der offiziellen Richtung auf dem Magdeburger Parteitag waren es zwei Dinge, die mehr oder minder deutlich herauszuhören waren. Ob Breitscheid oder Müller, ob Hilferding oder Landsberg, die bedingungslose und opferbereite Hingabe an die Demokratie reichte bei allen diesen Rednern nicht aus, um ein tüchtiges Quantum Skepsis in die politische und ökonomische Entwicklung, in die nahe Zukunft der deutschen Arbeiterklasse nicht doch ziemlich deutlich hervortreten zu lassen. Wille zur Demokratie und Skepsis, ein merkwürdiges und widerspruchsvolles Zusammentreffen. Die Demokratie wurde auf dem Magdeburger Parteitag von der offiziellen Richtung ausgiebig benutzt und unter der Perspektive des politischen Fortschritts über alle Bitternisse der Koalitionsperiode hinweg als wertvolles Gut gepriesen. Die die Debatte beherrschende Skepsis beruhte – und das war ihr Fehler – nur auf einer instinktiven Erfassung der vielen Widerstände, die sozialdemokratischem Wirken in der letzten Zeit, wohin es sich auch immer wandte, begegneten. Sie war nicht Ausdruck einer gleichsam experimentellen Feststellung, die man aus der Kenntnis und richtigen Verwertung der ökonomischen Machtverhältnisse hätte ziehen können. Hätte die offizielle Richtung in der deutschen Sozialdemokratie, guten marxistischen Grundsätzen folgend, auch heute noch die Gewohnheiten, die Tatsachen so zu sehen, wie sie sind, anstatt sie so zu erschaffen, wie man sie zu sehen wünscht, dann hätte sich die Linke mit ihr auf dem Magdeburger Parteitag leichter verständigen können. Eine Verständigung, die die dauerhafteste aller Grundlagen besessen hätte: den Sinn für das, was ist: Die Bestimmung unseres politischen Handelns unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der organisierte Kapitalismus heute kraft seiner ökonomischen Machtposition in normalen Situationen die Arbeiterklasse vorläufig in * [Erschienen in: Mühlhäuser Volksblatt: General-Anzeiger, Organ zur Wahrung der Interessen des gesamten werktätigen Volkes, Nr. 146, 25. Juni 1929, Mühlhausen. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 41-43.]
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die Defensive gedrängt hat, aus der herauszukommen sie in allererster Linie innere Klarheit und Einigkeit notwendig hat. Nur eine solche Haltung kann auch das Problem der Demokratie aus der gefährlichen Starrheit lösen, zu der es seit der parteiamtlichen Dogmatisierung der Demokratie erstarrt ist. Jene Starrheit, die durch nichts besser gekennzeichnet wird, als durch die eigenartige Haltung, die auch die offiziellen Redner des Magdeburger Parteitages gegenüber dem Fragenkomplex Demokratie-Diktatur einnahmen. Indem sie sie nur von der Perspektive ihrer Bedrohung durch die Diktatur aus betrachteten, wurden Demokratie und Diktatur zu abstrakten politischen Größen, hinter denen die Frage nach der jeweilig zugrundeliegenden ökonomischen Struktur gar nicht mehr in den Bereich der Erörterungen gezogen wurde. So konnte auch die Theorie von der Koalition als Opfer für die Erhaltung der Demokratie zu einer Rechtfertigung des Misserfolges der Koalition werden, und so dann die ›Opfertheorie‹ nicht nur zur Rechtfertigung der bisherigen Misserfolge dienen, nein, sie kann auch eine noch längere Koalitionspraxis entschuldigen, die dann, verbunden mit dem mystischen Begriff der Staatsverantwortung, eine Koalition wie die heutige bis in die Unendlichkeit rechtfertigen. Damit hat man aber endgültig den Boden der politischen Wirklichkeit verlassen; man hat dabei vergessen, dass Staatsformen als solche dem größten Teil der Bevölkerung nicht die gewohnheitsmäßige Begeisterung einflößen, über die der Berufspolitiker von Amts wegen verfügt. Der gewöhnliche Durchschnittsmensch pflegt alle Regierungen nur nach den Leistungen zu beurteilen, die für ihn am wichtigsten sind, und das sind die sozialen Taten oder Untaten einer Regierung. Er wählt sozialdemokratisch nicht aus irgendwelchen ideellen Erwägungen heraus, sondern deshalb, weil er glaubt, dass diese Partei die Forderungen der wirtschaftlich abhängigen Bevölkerungsschichten vertreten wird. Er wird so lange Demokrat sein, so lange er glaubt, dass in der Demokratie seine wirtschaftlichen Forderungen die meiste Berücksichtigung und die beste Vertretung finden. Er wird aufhören, Anhänger demokratischer Staatsformen zu sein, wenn er sieht, dass in der demokratischen Staatsform seine Wünsche nicht den notwendigen Widerhall finden, und er wird sich auch mit der Diktatur abfinden, wenn sie seinen wirtschaftlichen Wünschen entgegenkommt oder zum Mindesten in ihm den Anschein erweckt, als ob sie sie in erster Linie vertrete. Hier sind die Grenzen jeder demokratischen ›Opfertheorie‹.
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Die Demokratie wird von denen, von denen ihr Schicksal abhängt, von den werktätigen Massen, nicht nach der Richtung geprüft, wie dies der Reichskanzler Müller gerne möchte; sie fragen nicht, ob dies die einzig gegenwärtig mögliche Staatsform sei, sondern sie fragen: was hat dieser Staat für uns getan? Und von der Beantwortung dieser Frage durch die Massen hängt das Schicksal der Demokratie ab. Aus diesem Grunde führt die Theorie des Opfers für die Demokratie geradewegs weg von der Demokratie. Die Demokratie lebt nur, sofern sie stark ist. Demokratie und Skepsis schließen sich gegenseitig aus. Denn entweder vernichtet die Demokratie die Skepsis oder die Skepsis vernichtet die Demokratie. Und hier ist wiederum einer jener Gegensätze zu finden, die auf dem sozialdemokratischen Parteitag hervorgetreten sind, insbesondere bei der Beurteilung, die die Rede von Paul Levi durch die Redner der Mehrheit, vornehmlich durch Leber, erfahren hat. Man hat Levi den Vorwurf des Jakobinertums gemacht. Ich glaube nicht, dass dies ein Vorwurf ist; denn schließlich sind es die Jakobiner, und ist es nicht die Gironde gewesen, die Frankreich im Jahre 1793 gerettet hat? Jedenfalls hat jene Partei, deren Nachfolge man Levi beschuldigt, gewusst und bewiesen, dass die Demokratie ohne das Prinzip der Spannung, ohne das Bewusstsein der großen Aufgabe, von deren Verwirklichung Sein oder Nichtsein ihrer Existenz abhängt, nicht existieren kann. Und das ist ein nicht gering einzuschätzender Strukturunterschied zwischen dem Denker der sozialistischen Linken und der sozialistischen Rechten, der prinzipiell schon zu der Zeit Rosa Luxemburgs bestanden hat und uns nur heute in der Periode des sozialdemokratischen Ministerialismus viel stärker zum Bewusstsein kommt. Wer die Macht besitzt, und sei es auch nur in der bescheidenen Form des Anteils am Aufbau der Bureaukratie, dem verschwindet sehr leicht das Bewusstsein von der Rolle, die die Spannung in der Politik einnimmt. Die Demokratie aber ist jene Form, in der das Prinzip der Spannung seinen höchsten Ausdruck zu finden hat. Nicht mehr die Spannung zwischen dem imaginären Willen des Einzelmenschen und seiner Umwelt kommt hier in Frage. Hier handelt es sich um die natürliche Spannung, die sich aus dem sozialen Wollen der Menschen und dem tatsächlichen Zustand ihrer Umwelt ergibt. Deshalb beruht die Zukunft der Demokratie nicht darauf, dass man alle sozialen Fragen durch Kompromisse auf dem Rücken der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung ›erledigt‹, sondern darauf, dass man unter Zuhilfenahme der Spannung von Wille und Wirklichkeit das Pro-
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gramm des Sozialismus verwirklicht. Damit gibt man der deutschen Demokratie den Sinn und Inhalt, den sie in zehn Jahren ihres schmerzensreichen Bestehens nicht besessen hat.
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[9.] Das Problem der Verfassung* [1929] Jede Verfassung birgt wesensmäßig einen stolzen Anspruch in sich, durch den sie sich von anderen Verfügungen der Staatsgewalt unterscheidet: den Anspruch der Dauer. Jenen Anspruch kann und wird eine Verfassung nur dann verwirklichen, wenn sie in der ewigen Auseinandersetzung zwischen menschlichem Geist und der historischen Gegebenheit, der konkreten Zeit, es versteht, den Menschen freizumachen von der unfruchtbaren Starrheit und Verkapselung, in die sich das Individuum gerade heute nur allzu gern einhüllt, wenn sie ihn zum positiven Gestalter seiner Zeit beruft. Damit ist jede Verfassung aufs Neue vor das Problem gestellt, eine Form zu finden für jenen ewig kontinuierlichen Prozess, in dem sich der Wille zum Herrn der Wirklichkeit macht. Und deshalb setzen Verfassungen zwangsläufig voraus, dass sie in Zeiten entstehen, in denen Wille und Wirklichkeit zueinander die Brücke schlagen, in dem großen Augenblick der Erkenntnis. Denn die Erkenntnis einer Situation ist das Bindeglied zwischen Wille und gestaltungsreifer Realität. Die Erkenntnis einer konkreten politischökonomischen Situation ist es, die dem menschlichen Wollen erst die konkrete Form und Gestalt verleiht. Je adäquater der Mensch die Realität in ihrer gegenwärtigen Gestalt als augenblickliche Aufgabe erkennt, desto sicherer und kräftiger wird der Wille sein, sie aus dieser Erkenntnis heraus zu gestalten. So sind Verfassungen Kennzeichen dafür, ob und in welchem Maße die Menschen die Seins-Struktur und damit nach unserer Auffassung ihre eigene Bewusstseinsstruktur erkannt haben. Denn wenn sie die Seins-Struktur der Gegenwart erkannt haben und damit den Formungsprozess ihres eigenen Bewusstseins bis in seine innersten Tiefen zu durchleuchten in der Lage sind, dann ist es wesentlich eine Frage der Selbstverständigung, der Reife des Klassenbewusstseins, ob sie gewillt sind, die notwendigen Folgerungen daraus zu ziehen. Und die Dauer einer Verfassung, die Frage, ob sie Verkünderin eines den gegenwärtigen Zustand der menschlichen Gesellschaft beherrschenden Gestaltungsprinzips ist, bemisst sich wesentlich danach, wie und in welchem Maße in ihr Wille, Erkenntnis, objektive * [Erschienen in: Jungsozialistische Blätter, Jg. 8, Heft 8, Berlin 1929, S. 232-234. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 55-56.]
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[9.] Das Problem der Verfassung [1929]
Bewusstseinslage und subjektive Bewertung dieser Bewusstseinsstruktur zusammengetroffen sind. In diesem Sinne sind die Erklärung der Menschenrechte im Jahre 1789 und die von ihr beherrschten Revolutionsverfassungen Frankreichs eine vollendete Verfassung, der wirkliche Niederschlag von ihre Zeit erfüllenden Gestaltungsprinzipien gewesen; sie hat der geistigen Struktur des französischen Bürgertums wie auch dem wirtschaftlichen Standort Frankreichs voll und ganz entsprochen. Entsprochen freilich mit der Einschränkung, die bei jeder bürgerlichen Verfassung zu machen ist und die den ewigen Widerspruch jeder bürgerlichen Konstitution ausmacht, den Widerspruch zwischen Individuum und demokratischem Gemeinschaftsprinzip. Jener Widerspruch hat in unserer Zeit die bürgerliche Verfassung diktiert. Man versuchte, ihn aufzuheben, indem man seine Voraussetzungen beseitigte: das Funktionieren eines kapitalistischen Gesellschaftssystems. Es war die russische Verfassung von 1918, die zum ersten Mal unternahm, sich von den Grundprinzipien der bürgerlichen Verfassungen: Privateigentum und Vertragsfreiheit, loszusagen und klar und eindeutig das Bekenntnis eines neuen, eines sozialistischen Willens zu verkünden. In ihr sah die Welt das einzigartige Schauspiel einer Verfassung, in der nicht, wie bei den klassischen Verfassungen des zu Ende gehenden 18. Jahrhunderts, eine Bewusstseinsstruktur allmählich heranreifte und in den Stand gesetzt wurde, einer schon vorhandenen Seins-Struktur Gestalt und Ausdruck zu verleihen, sondern in der eine vorhandene Bewusstseinsstruktur eine noch nicht vorhandene Seins-Struktur vorwegnahm. So baut die russische Verfassung ihr gewaltiges Unterfangen auf dem Vorrang des Wollens auf, von dem sie erwartet und erhofft, dass sie eine nicht vorhandene Realität erschaffen könne. Daher kommt bei aller Größe und Bewunderungswürdigkeit des russischen Unterfangens die Kluft zwischen der wirklichen Verfassung des russischen Bauernstaates und der Willensverfassung seiner politischen Herrscher, eine Kluft, für die freilich auf der andern Seite bei den überlieferten Verfassungen der kapitalistischen Westmächte ein vollkommenes Gegenstück besteht; denn hier steht der Idee der nationalen Demokratie, mit der diese Verfassungen einst entstanden, die Realität des internationalen Kapitalismus entgegen, der aus diesen Verfassungen historische Schlösser gemacht hat, aus denen die Wirklichkeit schon lange Jahrzehnte herausgewachsen ist. *
[9.] Das Problem der Verfassung [1929]
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Die Väter der Weimarer Verfassung hatten beides vor Augen, als sie im Sommer 1919 unter schärfstem außenpolitischen Druck Deutschlands neue Verfassung berieten. Sie sahen die alten demokratischen Verfassungen des Westens, da sie fast ein Jahrhundert länger als diese Staaten eine halbabsolute Regierung über sich hatten ergehen lassen müssen, als den gerechten Lohn für ihr Ausharren an, welchen sie sich keinesfalls entgehen lassen wollten. Hierüber war sich die große Majorität der Weimarer Nationalversammlung, von den Mehrheitssozialisten bis zu dem früheren Nationalliberalen Stresemann, durchaus einig. Aber viele und gerade die klügsten Köpfe der Mehrheit dieser Versammlung, unter denen an erster Stelle Friedrich Naumann zu nennen ist, wussten, dass die Zeit zu weit fortgeschritten war, als dass man dem neuen Staat durch die einfache Übernahme der alten demokratischen und parlamentarischen Prinzipien eine dauernde Grundlage verschaffen konnte. Friedrich Naumann hat es klar ausgesprochen, dass der Weimarer Verfassung zweiter Teil, in dem sie bewusst hinausgeht über die alten bürgerlichen Verfassungen, ein Konkurrenzunternehmen gegen die russische Verfassung ist, dass die »Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen« das Gegenstück zu den »Rechten des arbeitenden und ausgebeuteten Volkes« darstellen. Es ist hier nicht der Ort, über Dinge zu streiten, die vorläufig unwiderruflich entschieden sind. Es ist deshalb also müßig, auf die Frage einzugehen, ob der ökonomischen Struktur Deutschlands im Jahre 1919 nicht eine klare sozialistische Verfassung entsprochen hätte. Wir wissen, dass einer solchen die mangelnde subjektive Bewusstseinsstruktur großer Schichten des deutschen Proletariats noch hemmender entgegengestanden hat als der äußere Widerstand der bürgerlichen Entente-Mächte, den eine andere sozialistische Führergeneration als die damals vorhandene und maßgebende vielleicht überwunden hätte. Aber wir sind berechtigt und verpflichtet, danach zu fragen, was aus dem Versuch der Vereinigung bürgerlich-demokratischer Verfassungsprinzipien mit kollektivistisch-sozialistischen geworden ist. Nach der Meinung der damaligen Verfassungsgeber sollte diese Verbindung dem Stand der gegenwärtigen gesellschaftlichen Struktur sowie der Bewusstseinsstruktur der Mehrheit der deutschen Bevölkerung entsprechen. So hat man in den Weimarer Grundrechten den Versuch gemacht, Unvereinbares zu vereinen. Dort fand die bestehende Geistesund Sozialordnung der bisher herrschenden Klassen ihre friedliche Stätte neben den Forderungen der Arbeiterklasse. Die Verfassungsberatungen lassen freilich nicht erkennen, ob man sich allseitig bewusst war, welch ungeheuren Vorsprung derjenige, der seinen bisherigen
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sozialen Besitzstand garantiert bekam, vor dem voraus hat, dem nur die moralische Anerkennung und Berechtigung seiner Forderungen bezeugt wird. Hier wurden Privateigentum und Sozialisierung, die freie Schule und die kirchlichen Heilsgüter, Zulassung der weitesten Schichten zum Beamtentum und weitherzige Garantie der bestehenden akademischen Beamtenmonopole, der Schutz des selbständigen Mittelstands und zugleich die großen Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-Organisationen anerkannt. Wir wissen nicht, in welchem Maße die Möglichkeit des Zusammenwirkens aller dieser Kräfte überhaupt bestanden hat. Die Übergangszeit vom Kapitalismus zum Sozialismus ist eine im Prinzip verfassungslose Zeit, deren Verfassung nur darin besteht, sie sich erst zu erkämpfen. Aber auch in einer solchen Zeit und auf der Grundlage einer vorläufigen »Notgemeinschaft«, – wie sie Deutschland in den Jahren nach dem Versailler Vertrag tatsächlich dargestellt hat, – war ein solch friedliches Beieinanderwohnen der entgegengesetzten Prinzipien nur unter der Voraussetzung möglich, dass mit klarem Willen für das politisch Mögliche und Notwendige die sofortige Verwirklichung der Dinge, die man neu wollte, in Angriff genommen wurde. Dies unterblieb, und so wurde aus den Grundrechten ein Sammelbecken von Möglichkeiten, denen kein Wille dazu verhalf, zu Wirklichkeiten zu werden. Die Wirklichkeit der Grundrechte aber veränderte ihr bürgerliches Aussehen nicht. So hat die Weimarer Verfassung, die eine Mittlerin werden wollte zwischen West und Ost, zwischen Bürgertum und Sozialismus, sich sehr schnell zu dem demokratischen Verfassungstypus bürgerlicher Art zurückgefunden. An dieser Tatsache können Äußerlichkeiten nichts ändern. Wir aber müssen daraus die Lehre ziehen. Denn wir waren damals im Begriff, in den entgegengesetzten Fehler zu verfallen wie die Russen. Sie haben die Bedeutung des Willens als verfassungsbildenden Faktor überschätzt, wir aber haben ihn damals in Weimar unterschätzt. Wir haben wohl gesehen, wohin die Entwicklung, sowohl die politische als auch die ökonomische, ging: aber wir hatten vergessen, dass eine Verfassung niemals aus dem Niedergang des Alten wie ein Phönix aus der Asche so entsteht, wie es der Zeit entspricht. Wenn wir heute bei dem zehnjährigen Jubiläum (kommt von iubilare = jubeln, in Freude ausbrechen) der Weimarer Verfassung sehen, wie stückweise alles, was uns an dieser Verfassung gut und schön erschien, in ein Nichts zerflossen ist, so haben wir daraus die Lehre zu ziehen: Nur unser Wollen ist es, was den Raum schafft für die Verfassung der sozialistischen Wirklichkeit.
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[10.] Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse. Zum Verfassungstag* [1929] »So sind die vorhandenen Rechtsverfassungen Notverfassungen, die besten, die jetzt möglich sind, nur vorläufige Stufen. Dabei soll es nun nicht bleiben und wird es auch nicht.« J. G. Fichte: Staatslehre1
Als Frankreich das absolute Königtum Ludwigs XVI. beseitigt hatte und die konstitutionelle Regierung einführte, tat es dies durch die Verfassung von 1791. Nachdem »der Berg« über die Gironde, die radikale über die konstitutionelle Demokratie gesiegt hatte, gab sich Frankreich eine neue Verfassung. Der Unterschied zwischen diesen beiden Verfassungen, die so kurz aufeinanderfolgten, war geringer als etwa der Unterschied zwischen dem Erfurter Programm der Sozialdemokratischen Partei und ihrem Heidelberger Programm, obwohl das Heidelberger Programm bewusst die Kontinuität mit dem Erfurter Programm sich herzustellen bemühte, während die 1793 zur Herrschaft gelangte Bergpartei großen Wert darauf legte, das grundsätzlich Neue und Andersartige ihrer Verfassung gegenüber der ihrer politischen Feinde von 1791 zu betonen. Das Geheimnis des Erfolges der Verfassung von 1793 ist es gewesen, dass sie nicht deshalb gegeben wurde, um die Tatsache einer vergänglichen und kurzen politischen Herrschaftsperiode zu bezeugen, sondern dass sie Ausdruck eines ganz bestimmten Wollens, ja noch mehr als das: Ausdruck der Selbstbindung des Wollens war. Jener radikal demokratische Wille der Konventsverfassung von 1793 war es, der die zerlumpten Heere Frankreichs erfasste und es ihnen ermöglichte, nicht nur der gemeinsamen Aktion der Reaktion zu widerstehen, sondern darüber hinaus in ungestümem Siegeslauf ihren
* [Erschienen in: Der Klassenkampf. Sozialistische Politik und Wirtschaft, Jg. 3, 2. Halbjahresband, Heft 15, Berlin 1929, S. 455-459. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 52-55.] 1 [In: Fritz Medicus (Hg.): Johann Gottlieb Fichte, Werke. Auswahl in sechs Bänden, sechster Band, Leipzig 1912, S. 444.]
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Geist und ihre Macht weit über die Grenzen ihres eigenen Landes hinauszutragen. Als die Weimarer Verfassung entstand, war ebenfalls vorher ein System gestürzt, aber schon der äußere Unterschied zu den geschilderten Verhältnissen in Frankreich war tiefgreifend und bedeutend. Hier war kein friedliches Land, dessen heroische Hauptstadtbevölkerung eine Revolution wagte, die nur geistig, nicht aber physisch seit Jahrzehnten vorbereitet war; hier war eine Masse müder Soldaten eines durch einen vierjährigen Vernichtungskrieg geschlagenen und bis aufs Mark ausgesogenen Landes. Mit einer ernsten und müden Handbewegung luden sie eine überfaule, am allgemeinen Elend mitschuldige Herrschaftsordnung zum Weggehen ein. Sie vertrauten sich Gruppen an, die sie an dem allgemeinen Unglück des Landes für unschuldig hielten; diese boten ihnen Ideen dar, wie die Dinge neu zu gestalten wären. Sie aber fragten nicht nach dem Gehalt der Ideen, sondern nahmen die bequemste, die ihnen am zuverlässigsten Friede, Ordnung und Brot verhieß. Dies wähnten sie am ehesten bei den Mehrheitssozialdemokraten zu finden. Als die Mehrheitssozialdemokraten ihre Versprechungen verwirklichen sollten, war das Bürgertum bereits wieder aus seinen Löchern hervorgekommen und schloss mit denen, die das Vertrauen der Masse berufen hatte, einen Vernunftfrieden. Als es Zeit war, jenem Zustand eine feste Form zu geben, vereinbarte man eine Verfassung, deren Träger die Mehrheitssozialdemokraten, die Demokraten und das Zentrum waren. Über das Heute hatte man sich geeinigt, das Morgen war sehr fern und der drohende Wetterschein von Versailles sehr nahe. So entstand die deutsche Demokratie als Augenblickseinheit der Unterlegenen. Denn dieser Augenblick der außenpolitischen Behauptungs- und Verteidigungsnotwendigkeit stellte den für die Schaffung einer Verfassung unerlässlichen Willen her. Darüber hinaus blieb aber alles im Unklaren. Während die französischen Revolutionsverfassungen ebenso wie die russische Sowjetverfassung von 1918 ihre Prinzipien förmlich in die Welt hinausschrien und beide damit große propagandistische Erfolge erzielten, hatte die Weimarer Verfassung kein Prinzip, das, über den nationalen Selbsterhaltungswillen hinausgehend, das Volk dauerhaft zu einer politischen Willensgemeinschaft formiert hätte. Ihr Schicksal und zugleich ihre Begrenzung war es, nur eine Etappe in der geistigen Auseinandersetzung zwischen dem Ethos der französischen Revolutionsverfassungen mit ihrem Dreiklang von kapitalistischer Erwerbsfreiheit, abstrakter Menschengleichheit und weltferner Brüderlichkeit und
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jener unbedingten Demaskierung der bürgerlichen Welt im sowjetrussischen Verfassungssystem zu sein. Zu etwas geistig Neuem wurde jene Etappe trotz der anerkennenswerten Bemühungen von Friedrich Naumann und Hugo Sinzheimer nicht. Und an der Verfassung zerbrach zum ersten Male innerlich die Notgemeinschaft der verfassunggebenden Parteien. Noch war die bürgerliche Gesellschaft, deren organisatorische Fähigkeiten den Deutschen erst wieder schmerzlich im Weltkrieg vor Augen geführt worden waren, mächtig in den meisten Ländern der Welt, und die demokratischen Formen, deren sie sich nach innen wie nach außen mit Erfolg bediente, durften über ihren eigentlichen Charakter nicht hinwegtäuschen. Doch drängten die Ideen des Sozialismus, dessen Anhänger durch die Niederlage der veralteten Verfassungssysteme des mittleren Europa emporgekommen waren, nach Verwirklichung oder doch mindestens nach Anerkennung. Dem musste die Weimarer Verfassung Rechnung tragen. Sie sollte, ohne dass schon eine endgültige Machtentscheidung über die zukünftige innere Gestaltung des Staates gefallen war, über die Prinzipien befinden, nach denen dieser Staat regiert werden sollte. Damit hat man ihr aber etwas zugemutet, was über die Grenzen einer Verfassung hinausgeht. Eine einmal gefallene Entscheidung kundzutun und in ihrer ganzen Bedeutung herauszustellen, ist vorzüglich die Aufgabe einer Verfassung. Wenn aber eine klare Willensentscheidung noch nicht gefallen ist, so ist es müßig, ein Kollegium mit Zweidrittelmehrheit darüber abstimmen zu lassen, in welche Richtung sich diese Entscheidung wohl vollziehen könnte. Das aber tat die Weimarer Nationalversammlung. Denn die Verfassung eines Volkes kann sich nicht allein auf den äußeren Behauptungswillen beziehen, es muss etwas vorhanden sein, für das und in dessen Namen man sich behauptet. Da aber zur Zeit der Weimarer Verfassungsschöpfung über die inneren Prinzipien, die den deutschen Staat beherrschen sollten, kapitalistische oder sozialistische Demokratie, noch nicht entschieden war, begnügte man sich im Werk von Weimar damit, einen Katalog derjenigen Prinzipien anzulegen, die möglicherweise die Grundlage des neuen Staates bilden konnten. Die Entscheidung darüber, welches das wirklich herrschende Prinzip werden sollte, überließ man der Zukunft. So kam jener eigenartige Katalog von Grundrechten zustande, der in der bisherigen Verfassungsgeschichte seinesgleichen sucht. In ihm fand die bestehende Geistes- und Sozialordnung der bisher herrschenden Klasse ihre friedliche Stätte neben den Forderungen der Arbeiterklasse. Die Verfassungsberatungen lassen freilich nicht erkennen, ob man sich
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allseitig bewusst war, welch ungeheuren Vorsprung derjenige, der seinen Status quo garantiert bekam, vor dem voraus hatte, dem nur die moralische Anerkennung und Berechtigung seiner Forderungen testiert wurde. Hier wurden Privateigentum und Sozialisierung von Unternehmungen und Grund und Boden, die freie Schule und die kirchlichen Heilsgüter, allgemeine Ämterbefähigung und weitherzige Garantie der bestehenden Beamtenmonopole, der Schutz des selbständigen Mittelstands und zugleich die großen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen anerkannt. Dieses Sammelbecken möglicher Verfassungsstrukturen entsprach den politischen Machtverhältnissen in der augenblicklichen Lage, wie sie im Sommer 1919 bestand. Die Entscheidung über den inneren Aufbau der deutschen Verhältnisse war hinter der Frage seiner äußeren Behauptung zurückgetreten. Ob dies notwendig war, ist heute nicht mehr zu entscheiden; immerhin ist es Frankreich 1793 und Russland 1917-1919 gelungen, beiden Problemen, sowohl der äußeren Behauptung als auch der inneren Herrschaftsgewinnung, gerecht zu werden. Auch im außerdeutschen Bereich war die in Fluss gekommene Frage, welche Stellung der Sozialismus in Zukunft einnehmen sollte, noch nicht endgültig entschieden; so beließ man es einstweilen beim Alten, ohne deshalb das Neue hindern zu wollen. Man dachte freilich kaum daran, dass die auch nur vorübergehende Sanktionierung des Alten, die Weiterbeschäftigung der alten Amtsträger auf der einen Seite, die Durchsetzung des neuen Systems, falls es wirklich dazu kommen sollte, hemmen musste, während es auf der anderen Seite die Rückkehr des Alten ungebührlich zu erleichtern geeignet war, wie die Nachzeit aufs Exakteste bewies. Im Übrigen ließ die entscheidende Wendung nicht lange auf sich warten, wenn auch die Etappen ihrer äußeren Sichtbarmachung vielen erst heute völlig klar werden. Seit dem Zeitpunkt, der symptomatisch etwa durch die nach anfänglichen Siegen erfolgte vollkommene Niederlage Russlands im Polenkrieg im Frühjahr 1920 bezeichnet wird, war die vorläufige Niederlage des Sozialismus in der ganzen Welt besiegelt; denn durch jenes Ereignis, durch das den westlichen Expansionsbestrebungen Sowjetrusslands mit einem Schlage ein Ende gesetzt wurde, war die Bourgeoisie Europas der Notwendigkeit enthoben, ihr wahres Gesicht hinter einer sozialen und demokratischen Maske zu verbergen. Langsam setzte die Reaktion ein, auf deren Höhepunkt wir uns heute befinden. Noch einmal gelang es zu derselben Zeit der vereinten Kraft der deutschen Arbeiterklasse, des ersten stürmischen Ansturmes der Reaktion im Kapp-Putsch Herr zu werden; aber
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sie befand sich schon damals in der Defensive, und ihre innere Uneinigkeit ließ es zu einer Ausmünzung jenes Sieges nicht mehr kommen. Hatte das Bürgertum es bis dahin als seine Aufgabe aufgefasst, seinen Status quo vorläufig aufrechtzuerhalten, was ihm auch gelang, so ging es jetzt zu jenem Gegenangriff über, der umso gefährlicher war, als er sich nicht mehr in der von nun ab den Kommunisten vorbehaltenen Taktik des Putsches, sondern in der friedlichen Form der republikanischen Zusammenarbeit oder mit der versteckten Drohung der nationalen Wiedergeburt vollzog. So wurde der Achtstundentag unter dem Jubelgeschrei der Unternehmer beseitigt. In jener Zeit veränderte sich auch die Stellung des Betriebsrätegesetzes im Gesamtaufbau der deutschen Sozialwirtschaft; aus dem hoffnungsvollen Beginnen eines wirtschaftsdemokratischen Zeitalters, als das es Hugo Sinzheimer in der Weimarer Nationalversammlung feierte, wurde ein reines Abwehrmittel der Arbeiterschaft gegen eine allzu rücksichtslose Herr-im-HausePolitik der Unternehmer. Weiterhin gestaltete das Deutsche Reichsgericht, das überhaupt am konsequentesten die Verteidigung und Wiederherstellung der bürgerlichen Herrschaft als aussichtsreiche Aufgabe begriff, den Enteignungsartikel der Reichsverfassung, mit dem eben noch Traumsozialisten den bürgerlichen Staat legal aus den Angeln heben wollten, zu einem stärkeren Bollwerk des Privatkapitalismus aus, als es im kaiserlichen Deutschland je bestanden hatte. – Und das Bildungswesen des neuen Staates, von dem man, wenigstens was die Volksmassen anbetrifft, viel Gutes erwartet hatte, verewigte anstatt des realen Querschnittes der Klassenlage das Prinzip der konfessionellen Gliederung. Dem Sozialismus aber, der in der Phantasie seiner Feinde schon die Verfassung beherrschte, wurde vom Bürgertum, auch nach Wiederherstellung seiner Vormachtstellung, großmütigst der Weg zur Staatsverantwortlichkeit freigegeben, einer Staatsverantwortlichkeit, deren positive Seite auf gut Deutsch Anteil an der Ämterpatronage bedeutete. Der Sekretär war schon in Bismarcks Reich ein unsichtbarer Herrscher; während seiner Amtszeit schrieb und schreibt er immer noch Kommentare zu den Ordnungen, die er auf das Papier gebracht hat; nach dem Ablauf seiner Amtszeit wird er Aufsichtsrat oder Angestellter im Privatdienstverhältnis. Der Politiker, der nur in der Sphäre des Öffentlichen lebt, glaubt, ihn zu benutzen, und wird in der Mehrzahl aller Fälle von ihm benutzt. Solange Bismarck in Deutschland regierte und selbst die Minister rechtlich und tatsächlich nichts anderes als seine Sekretäre waren, bestand eine Konformität der Ziele; denn ihnen gemeinsam war
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das Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo. Nach der Revolution traten die bürokratischen Minister ab, und an ihre Stelle traten die parlamentarischen. Der bürokratische Minister besaß in manchen Fällen noch den Vorzug der Sachkenntnis, von der der parlamentarische durchschnittlich unbelastet ist. Die Macht der Bürokratie wuchs unheimlich schnell, während ihr geistiges Leitmotiv intakt blieb; sie selbst nannte es: Erhaltung der Kontinuität des Staatslebens, in Wirklichkeit heißt es: Wahrung ihrer eigenen Unersetzlichkeit im bürgerlichen Staat. An diesen Tatsachen hat der Eintritt einiger Sozialisten in die Reihen jener Bürokratie nichts geändert; teils brachten sie schon von Anfang an ein prächtiges Anpassungsvermögen mit, teils entwickelte sich diese allgemeinmenschliche Fähigkeit bei ihnen unter dem Druck ihrer Amtsumgebung so schnell, dass heute das Experiment der Eingliederung des Sozialismus in den Staatsapparat vom Standpunkt der Bourgeoisie aus als gelöst betrachtet werden kann. Für den Sozialismus bleibt dieses Ergebnis unbefriedigend. Es hat aufs Neue gezeigt, dass auch im demokratischen Staat die Eroberung einer Staatsmacht im Verwaltungsweg nicht durch einen quotenmäßigen Anteil an Amtsstellen erreicht wird. Nur die planmäßig von unten, nicht von oben aus betriebene Ersetzung eines alten Funktionärkörpers durch einen vollkommen geistig neuen gibt einer Politik, falls sie tatsächlich den Willen zum Sozialismus haben sollte, die Chance seiner Durchsetzung. So weist das Gesicht des neuen Deutschlands für uns wenig hoffnungsvolle Züge auf, angesichts derer man sich ernsthaft die Frage vorlegen muss, warum große Teile des deutschen Bürgertums den heutigen Verfassungszustand verwerfen und nach der bürgerlichen Diktatur schreien. Denn jedes Wahlergebnis zeigt ihnen doch aufs Neue, dass sie eine Änderung der für sie günstigen Zustände nicht einmal willensmäßig von einem größeren Bevölkerungsteile zu befürchten haben. Sie aber wollen den Umsturz; denn ihnen fehlt das Gefühl der letzten Sicherheit und der Verlässlichkeit für den letzten, den entscheidenden Augenblick. Gewiss, es ist sehr fraglich, ob sie den Sozialkörper Deutschlands überhaupt grundlegend zu ändern versuchten, ob die Scharfmacher den Einfluss behalten würden, den sie heute besitzen. Entscheidend aber ist nicht das Maß dieser Sozialpolitik, sondern die Gesichtspunkte, von denen aus sie gemacht wird. Und die Sozialpolitik der bürgerlichen Diktatur wäre nur von den Interessen einer imperialistischen Außenpolitik bestimmt, zu deren innenpolitischem Handlanger sie herabsinken würde. Nicht ob die Sozialdemokratie ein staatsbe-
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jahendes und den Verteidigungskrieg genehmigendes Wehrprogramm besitzt, ist für sie wichtig; denn dieses sagt nichts darüber aus, was die Massen der Sozialdemokratischen Partei im einzelnen Fall zu bewilligen bereit sind. So bedeutet die bürgerliche Diktatur eine Änderung nicht in den einzelnen Dingen; sie ist, wie das System Mussolinis zeigt, nur eine absolut zuverlässige Zusammenfassung und Beherrschung aller Kräfte im Lande im Sinne der bürgerlichen Politik. Um diese Gesamtbeherrschung ringt das Bürgertum in Deutschland heute noch. Gewiss, die Sozialdemokratie hat in allen einzelnen Forderungen dem Bürgertum eine staunenswerte Nachgiebigkeit bezeigt; aber das ist es nicht, worum es geht. Die deutsche Sozialdemokratie betreibt eine aktive Wehrpolitik, aber um die letzte Entscheidung, wozu diese Wehrpolitik dienen soll, will sie nichts wissen und sie der nächsten Generation vorbehalten; das Bürgertum aber kämpft gerade darum, dass diese Entscheidung nicht vertagt wird, da es die heutige Generation der Sozialdemokratie kennt und geistig zu beherrschen gelernt hat, die Entscheidung der zukünftigen aber noch in der Dunkelheit liegt. Die Mehrheit der Sozialdemokratischen Partei will einer gesamtpolitischen Entscheidung, wie sie wenigstens willensmäßig die heutige geistige und tatsächliche Lage dringend verlangt, ausweichen. Da sie das Gefühl hat, nicht vorwärtsstoßen zu können, will sie wenigstens den Status quo aufrechterhalten – wenn es sein muss sogar mit den Mitteln der Diktatur. Dieses Ausweichen aber ist unmöglich, es gibt nur ein Vorwärts oder ein Rückwärts. Und dieses Bewusstsein, dass es ein Vorwärts gibt, müssen wir erst erkämpfen; denn bis jetzt haben wir noch nicht gelernt, uns über das Heute zu erheben. Wie um das Goldene Kalb sind wir um die reine Faktizität, das, was gerade ist, herumgetanzt und sind jene Realpolitiker geworden, die mit jedem Stück des vergänglichen Heute immer auswegloser die Zukunft sich verbauen. Man verspottet heute die Utopie, weil sie nur etwas über das Morgen aussagt, man hat bisher nicht begriffen, dass es zwischen heute und morgen keine Grenze gibt. Die Utopie von heute, das ist die Wirklichkeit von morgen. Und das Bewusstsein davon, dass in dieser Utopie von heute das Morgen enthalten ist, das ist die werbende Kraft der Utopie. So stehen auch wir heute, genau wie vor vielen Jahren, wieder am Anfang, wir müssen wieder wollen lernen. Wenn am 11. August der Tanz um die Verfassung beginnt, wenn jeder ihrer Verehrer ihr seine Wünsche in den Mund legt und voller freudiger Genugtuung darauf verweist, dass sein Wunsch in ihr Erfüllung
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gefunden hat, so begeht jeder dieser Redner eine intellektuelle Unehrlichkeit. Die Verfassungsurkunde bleibt weiterhin das Buch der Möglichkeiten; über die Wirklichkeit konnte sie deshalb nicht entscheiden, weil der, der alle Möglichkeiten kennt, nicht mehr den Willen zur Wirklichkeit besitzt. Wir aber müssen weiterdenken. Wenn die Sommerfreuden der Koalition verrauscht sind und der raue Herbst einzieht ins Land, dann muss er uns bereitfinden für das große Morgen, das wir in diesen Jahren gewinnen oder auch unwiederbringlich verlieren können.
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[11.] 50 Jahre Deutsches Reichsgericht* [1929] Im Jahre 1879 beschloss der Reichstag des Bismarck’schen Reiches, dass das im Oktober dieses Jahres zu errichtende Reichsgericht nicht in Berlin, sondern in Leipzig seinen Sitz haben solle. Für diesen Beschluss des gewiss damals nicht sehr fortschrittlich gesinnten Reichstags war ausschlaggebend die Rolle, die das preußische Obertribunal gespielt hatte, vor dessen unrühmlichen Schicksal man das neue Gericht des geeinten Reichs bewahren wollte. Man wollte verhüten, dass dieser höchste Gerichtshof unter eine allzu starke Abhängigkeit des Herrschers Bismarck komme. Die Absicht des Reichstags war gut, doch er unterschätzte die Macht der mittelbaren Einflüsse, die oft ungleich wirksamer sind als die starre Beziehung zwischen Vorgesetzten und Untergebenen. Die räumliche Entfernung wurde nicht zu einer geistigen. Wenn wir die Entwicklung der Rechtsprechung des deutschen Reichsgerichts in den letzten 50 Jahren betrachten, so müssen wir feststellen, dass sie ein getreues Spiegelbild der Anschauungen und Vorstellungen der in Deutschland herrschenden Klassen liefert. Aus diesem Kreis herauszutreten, hat das Reichsgericht niemals versucht, und es hat es nie für seine Aufgabe gehalten – was ja angesichts einer auf alle Bevölkerungskreise sich erstreckenden Tätigkeit sehr nahe gelegen hätte, – zur Weiterentwicklung des Rechts der bürgerlichen Klasse zu einem Sozialrecht die Hand zu bieten. Und wenn wir heute aus dem Munde der höchsten Richter vernehmen, dass das Reichsgericht die Gesetze nicht blindlings anzuwenden habe, dass es sie auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundnormen der Verfassung (worunter das Reichsgericht immer nur die bürgerlichen Bestandteile der deutschen Reichsverfassung, niemals die sozialistischen versteht) nachzuprüfen habe, so ist diese neue Einstellung des Reichsgerichts nicht als eine Wandlung in seiner Gesinnung und Anschauung zu betrachten. O nein, der dem bloßen Auge des Beschauers erstaunliche Wandel, der kühne Sprung, mit dem sich das Reichsgericht zu einem höchst zweifelhaften Hüter der Verfassung aufwirft, sein Respekt vor * [Erschienen in: Mühlhäuser Volksblatt: General-Anzeiger, Organ zur Wahrung der Interessen des gesamten werktätigen Volkes, Nr. 230, 1. Oktober 1929, Mühlhausen. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 43-46.]
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der Verfassung, der sich in seiner Neigung ausdrückt, der Arbeiterschaft günstige Gesetze nach dem Vorbild des höchsten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu prüfen und ihnen die Anwendbarkeit zu versagen, datiert merkwürdigerweise erst seit dem November 1918. Sein Amt als Hüter der Verfassung entdeckte das Reichsgericht damals, als die Arbeiterschaft maßgebenden Einfluss auf die Gesetzgebung gewann. In der Vorkriegszeit fanden alle gegen die Arbeiterschaft gerichteten Gesetze vor den Augen der höchsten Gerechtigkeit Gnade, und nie hätte es dieser Gerichtshof gewagt, die unter der kaiserlichen Firma entstandenen Gesetze nachprüfen zu wollen. Im Grunde haben sich die im Reichsgericht herrschenden Tendenzen seit 1919 nicht geändert. Die Monarchie fiel, es kam die Republik. Das Reichsgericht blieb der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht, es blieb der sicherste Hort bürgerlicher Lebens- und Weltauffassung. Wie kann es auch anders sein? Kann ein Gericht Träger des sozialen Fortschritts sein, was stets mit Richtern besetzt ist, die aktiv Angehörige der bürgerlichen Klasse sind, die – mögen sie auch teilweise in ihrer Jugend noch nicht Angehörige der begüterten Klasse gewesen sein – in ihrer langen Laufbahn Fleisch vom Fleisch der Bürokratie geworden sind? Es war es selbstverständlich auch vor dem Kriege nicht. Damals war es das Reichsgericht, das den traurigen Ruhm des Sozialistengesetzes mitbegründen half, das das Koalitionsrecht der Arbeiterschaft mit strafund zivilrechtlichen Mitteln wacker mit zu unterdrücken sich bemühte und das in jeder Zeile seiner dicken Entscheidungsbände den Geist jener korrekten Bürgerlichkeit ausatmete, von dem sein Weg zur Arbeiterschaft führte. War es aber damals nur ein Glied, und nicht einmal ein sehr bedeutendes im Reich der bürgerlichen Autorität, so hat sich seine soziologische Stellung seit 1918 grundlegend geändert. Heute ist das Reichsgericht zu einer ganz anderen Macht geworden. Manche Stützen des Bürgertums sind nicht mehr, das Reichsgericht blieb und erlangte durch seinen Anspruch, Hüter der Verfassung sein zu wollen, eine Bedeutung, die durch eine unglückliche Gesetzgebung auf dem Gebiet der politischen Strafverfahren nur noch verstärkt wurde. Schon im Jahre 1920 zeigte es sich, dass das Reichsgericht die festeste und zuverlässigste Stütze des deutschen Bürgertums war. Die Gleichmütigkeit, mit der es den Wechsel der Staatsformen ertrug, zeitigte sofort für viele aktive Mitkämpfer der Revolution ein trauriges Nach-
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spiel; denn als Quittung dafür belegte das Reichsgericht die Arbeiterund Soldatenräte mit einer ausgedehnten zivil- und strafrechtlichen Haftung. Damals war es auch, als das Reichsgericht mit einem vom bürgerlichen Standpunkt aus bewundernswerten Aufwand von Mut und Entschlossenheit die ersten Landesgesetze, die das Privateigentum beschränken wollten, für mit der Reichsverfassung nicht vereinbar erklärte. Seit dieser Zeit hat das Reichsgericht, was in der breiten Öffentlichkeit durchaus nicht genügend bekannt ist, einen zähen und unerbittlichen Kampf zum Schutz des Privateigentums geführt. Es hat mit Hilfe des Satzes von der Gleichheit vor dem Gesetz, der alles andere bedeutet, als das, was bürgerliche Juristen heute mit ihm zu beweisen suchen, das Privateigentum vor allen Eingriffen der Gesetzgebung in einem Umfang geschützt, wie es dies in der Zeit der konservativen Staatsherrschaft nie getan hat. Neben dieser Vorliebe für den Eigentumsschutz hat das Reichsgericht bekanntlich in letzter Zeit eine fast rührend zu nennende Anhänglichkeit an die Vorrechte des Adels bewiesen, als es die Ehe eines deutschen Herzogs mit einer amerikanischen Botschafterstochter für eine »Missheirat« im Sinne, nach Ansicht des Reichsgerichts, von immer noch gültigen Adelsgesetzen erklärte. Diese Dinge sind nicht gering einzuschätzen und werfen ein grelles Schlaglicht auf die Einstellung unseres höchsten Gerichtshofes, wenn sie auch in der Öffentlichkeit viel weniger beachtet werden als die eigentliche politische Tätigkeit des Reichsgerichts und die der Berufsrichter im früheren Staatsgerichtshof. Hier hat es im Reichsgericht immer nur eine Ansicht gegeben. Und diese Ansicht bestand darin, dass man es für unbedingt notwendig hielt, alle nationalen Belange, wie sie dem Gerichtshof durch Vermittlung einer rührigen Reichsanwaltschaft von den Reichwehrkreisen schmackhaft gemacht wurden, ein für alle Mal mit dem roten Mantel der reichsgerichtlichen Gerechtigkeit zu bedecken. Damit war naturgemäß von Anfang an ein Werturteil darüber gefällt, wer in Deutschland als ein ehrlicher und anständiger Mensch und wer als ein gemeingefährlicher Verbrecher zu gelten habe. Klassisch wird dieses Werturteil in einer Entscheidung des vierten Strafsenats von 1927 ausgedrückt. Dort heißt es: »Der Senat hat immer den Standpunkt vertreten, dass die Zersetzungsarbeit der KPD in der Reichswehr besonders staats- und gemeingefährlich ist und dass derjenige, der die Reichswehr zersetzt, regelmäßig aus einer ehrlosen Gesinnung handelt, weil er damit das Staatsgebäude unterhöhlt und es unternimmt das deutsche Volk in ein neues, in seinen Folgen unabsehbares Unglück zu stürzen.« Mit dieser Feststellung war die verschiedene Auffassung und Beurteilung gegenüber radikalen Gruppen von
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links und rechts ein für alle Mal gegeben. Der Kommunist war der Feind der bürgerlichen Ordnung schlechthin, der nach der Auffassung des Reichsgerichts deshalb, weil er diese Ordnung umstoßen will, eine ehrlose Gesinnung zeigt. Dass es auch außerhalb der bürgerlichen Rechtsordnung eine anständige Gesinnung gibt, ist für das Reichsgericht also in der Regel ausgeschlossen. Der Staatsfeind von rechts aber wird vom Reichsgericht, da er ja kein Feind der bürgerlichen Ordnung ist, sondern nur ein Gegner der gegenwärtigen Form der bürgerlichen Ordnung, der parlamentarischen Demokratie, als ein anständiger Mensch angesehen. Bekannt in dieser Hinsicht ist die Anklageschrift des Oberreichsanwalts a. D. Ebermayer, des Vorstandes der Behörde, die Herrn Jörns zu ihrem rührigsten Mitglied zählte. Die Anklageschrift Ebermayers in Sachen der Organisation Consul wird für alle Zeiten als Muster einer klassischen Verteidigungsschrift weiterleben. Über die auf Grund der geschilderten Auffassung ausgeübte Tätigkeit des Reichsgerichts in Hoch- und Landesverratssachen braucht hier nicht näher gesprochen zu werden; sie ist nicht nur in der Arbeiterschaft bis weit hinein in bürgerliche Kreise auf erbitterte Ablehnung gestoßen. Die am Reichsgericht in politischen Prozessen geübte Technik ist derjenigen Sowjetrusslands in dieser Materie ebenbürtig. Die Bestrafung auf Grund aktiver Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei, die mittelalterliche Bestrafung von Druckern für Zeitungsartikel, die Bestrafung des Vortragens revolutionärer Gedichte stehen auf derselben Linie wie die dort mit so viel Erfolg vorgenommene Hilfsarbeit zur Tarnung der Schwarzen Reichswehr. Niemand hat die mitleidlose Aufrechterhaltung der heutigen Gesellschaftsordnung ernster genommen als das deutsche Reichsgericht. Es hat seine eigenen Maßstäbe. Mag sogar manchmal die Reichsanwaltschaft heute die Verfehltheit dieser Urteile einsehen und Freispruch oder milde Strafen beantragen, das Reichsgericht hat bisher darauf nicht reagiert. Der ›Hüter der Verfassung‹ hütet nach eigenen Maßstäben. 50 Jahre Reichsgericht und davon 10 Jahre in der Republik! Wenn wir uns vorstellen wollen, was das bedeutet, müssten wir alle Tausende proletarische Kämpfer an uns vorbeiziehen lassen, die in diesen 50 Jahren der ach so fragwürdigen Gerechtigkeit dieses Gerichtshofes zum Opfer gefallen sind. Gewiss, manche von ihnen, und namentlich in den letzten 10 Jahren, sind Wege gewandelt, die wir nicht für gut heißen können. Wir aber wollen heute darüber nicht rechten und uns dessen bewusst sein, dass auch der Proletarier, der irregeleitet diesem Gericht in die Hände fällt, uns angeht. Und wir glauben nicht, dass irgendeine
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andere Macht als die der Arbeiterschaft hier grundlegenden Wandel schaffen wird. Freilich sind auch Personalreformen erwünscht, und man fragt sich vergeblich, was in dieser Hinsicht doch das maßgeblich sozialistisch beeinflusste Preußen getan hat; denn bekanntlich werden die Richter am Reichsgericht auf Vorschlag des Reichsrats, und das heißt unter maßgeblichem Einfluss Preußens, ernannt. Entscheidenden Wandel wird aber auch hier erst die Herrschaft des Sozialismus bringen. Nur sie kann bewirken, dass dieses Gericht nicht auch noch zum Schaden der arbeitenden Klasse seinen hundertsten Geburtstag feiert!
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[12.] Die Englische Arbeiterbewegung* [1929] Englands Labour Party steht nicht so lange in dem hellen Licht der geschichtlichen Wirklichkeit wie die deutsche Sozialdemokratische Partei. Trotzdem ist es gerade heute für uns von großer Wichtigkeit und in Anbetracht der englischen Arbeiterregierung besonders aktuell, etwas über die Entwicklung der heutigen Labour Party zu erfahren. Diesem unleugbaren Bedürfnis, zu dessen Befriedigung uns bisher neben der klassischen Schrift von Friedrich Engels über die Lage der arbeitenden Klassen in England1 und dem etwas veralteten Werk von Max Beer2 nur die dem deutschen Leser ob ihrer ganzen geistigen Einstellung immer fremd gebliebenen Werke des Ehepaars Sydney und Beatrice Webb3 zur Verfügung gestanden haben, kommt das gründliche und von marxistischen Gesichtspunkten ausgehende Werk des heute in Moskau lebenden Forschers Theodor Rothstein in jeder Weise entgegen. Die »Beiträge zur Geschichte der Arbeiterpartei in England«4 (Marxistische Bibliothek Bd. II, Verlag für Literatur und Politik 1929) geben ein auf streng marxistischen Grundlegungen und auf genauen Kenntnissen der einschlägigen Literatur, insbesondere der damaligen Zeitungsliteratur aufgebautes Bild der Anfänge der englischen Arbeiterbewegung bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts. Die erbitterten Kämpfe, die der Chartismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen das englische Bürgertum auszufechten hatte, sind ganz anders einzuschätzen als die in der gleichen Periode stattfindenden Kämpfe des französischen Proletariats; denn obwohl die theoretische Einsicht in das Wesen der Klassenverhältnisse in Frankreich weiter fortgeschritten war als in England, trug die Bewegung der englischen Arbeiterschaft trotz ihrer mangelhaften theoretischen Fundierung einen viel ausgesprocheneren Klassencharakter.
* [Erschienen in: Jungsozialistische Blätter, Jg. 8, Heft 12, Berlin 1929, S. 367-369. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 56-57.] 1 [Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klassen in England, Leipzig 1845.] 2 [Geschichte des Sozialismus in England, Stuttgart 1913.] 3 [Siehe: Die Geschichte des britischen Trade Unionismus, Stuttgart 1906.] 4 [Theodor Rothstein: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterpartei in England, Berlin 1929.]
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Es waren, wie der Verfasser eingehend nachweist, hauptsächlich wirtschaftliche Gründe, die dazu führten, dass um die Mitte des letzten Jahrhunderts mit den Fraternal Democrats die selbständige politische Bewegung der Arbeiterklasse auf längere Sicht zu Ende ging. Im Gefolge der Prosperität Englands bekamen auch die Arbeiter eine, wenn auch nur sehr geringe Quote des nationalen Reichtums; aber eine Quote, die immerhin dazu ausreichte, dass die Trade Unions, die wirtschaftliche Vertretung der arbeitenden Bevölkerung, ihr Heil in einer strengen Beschränkung auf die wirtschaftlichen Erfordernisse der Arbeiterschaft suchte. Wir finden jenen Satz Rothsteins von unsern deutschen Verhältnissen aus gesehen paradox: »Jeder einzelne Arbeiter konnte in seinem Privatleben sich auch mit Politik befassen, sobald er sich aber mit anderen Arbeitern zusammenschloss, hörte er im Rahmen der Organisation auf, politisch zu sein.«5 Doch in England besaß dieser Satz bis über die Jahrhundertwende hinaus Geltung und führte dazu, dass die Arbeiter ihr politisches Vertrauen ihrem eigentlichen Klassengegner, der Liberalen Partei, schenkten. Dass die Praxis der Trade Unions und ihrer Führer, die jeden Konflikt mit dem Bürgertum zu vermeiden suchten, sich so lange in England halten konnte, führt der Verfasser hauptsächlich darauf zurück, dass im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts der englische Arbeiter trotz eines fast nie erhöhten Nominallohnes als Nutznießer der damaligen Weltmarktlage tatsächlich im Vergleich zu der Mitte des Jahrhunderts einen oft um 40 % höheren Reallohn erhielt. Es war klar, dass die Arbeiterpartei in der damaligen Zeit schon wegen des mangelnden Verständnisses der Gewerkschaften eine politische Bedeutung überhaupt nicht besaß. Erst mit diesem Jahrhundert, mit dem sprunghaften Anschnellen der Warenpreise, denen keine entsprechende Erhöhung der Nominallöhne folgte, konnte die alte Trade Unionistische Politik nicht mehr beibehalten werden. Die Radikalisierung und Politisierung der Gewerkschaften war es, die der Politik der englischen Arbeiterpartei nach der Meinung des Verfassers erst ihren neuen Sinn geben konnte. Am Vorabend des Weltkriegs hatte sich ein revolutionäres Bewusstsein in der Arbeiterschaft herausgebildet, das freilich im Kriege zurückgedrängt wurde, ein Bewusstsein aber, von dem der Verfasser meint, dass es unaufhaltsam, wenn auch langsam die ganze Masse ergreifen werde. Nur eine tiefe Kenntnis der Geschichte der Labour Party bietet die Grundlage zur Erfassung ihrer heutigen Gestalt. Deshalb ist es kein 5 [A. a. O., S. 257.]
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[12.] Die Englische Arbeiterbewegung [1929]
Zufall, dass Egon Wertheimer, der Verfasser der Schrift »Das Antlitz der britischen Arbeiterpartei«,6 Dietz-Verlag 1929, im Wesentlichen in seinem Bild der heutigen britischen Arbeiterpartei den Beweis dafür liefert, dass Rothstein die Geschichte der Partei richtig dargestellt hat. Gewiss verteilen Egon Wertheimer und Rothstein Licht und Schatten im entgegengesetzten Sinne; denn der eine ist ein bolschewistischer Schriftsteller, während der andere im Dienste der sozialdemokratischen Pressekorrespondenz steht. Das ändert nichts daran, dass Wertheimer in gewisser Hinsicht das Rothstein‘sche Buch vervollkommnet und verdeutlicht. Wertheimer stellt fest, dass die heutige Labour Party einerseits aus einer rein praktisch orientierten Gewerkschaftsbewegung, deren höchst zweifelhaften politischen Wert Rothstein uns glänzend enthüllt hat, herausgewachsen und dass sie andererseits aus drei oder mehr bedeutenden politischen Studiengesellschaften, die ihr das intellektuelle Material lieferten, entstanden ist. Damit ist mit aller Deutlichkeit der Unterschied zur deutschen Organisationsform hervorgehoben, die, von einer politischen und geistigen Elite ausgehend, um ihr Programm die Massen sammelt. Ein wenig zögernd dringt der Verfasser zur Erkenntnis vor, dass die englische Partei geistig und kulturell ein viel weniger homogenes und umfassendes Gebilde ist als die deutsche oder österreichische Partei. In ihr ist in jeder ihrer einzelnen Handlungen wie in ihrem Gesamtgebaren die alte, der englischen Arbeiterschaft bereits früher so verhängnisvolle Ideologie des Liberalismus zu bemerken, die die Partei nur als eine Organisationsform für das Politisch-Staatliche ansieht. Sie erhebt keinen Anspruch auf Ausschließlichkeit und duldet, da sie weder organisationsmäßig noch geistig Lebensgemeinschaft ist, die gleichzeitige Zugehörigkeit ihrer Mitglieder zu anderen Organisationen. Der Verfasser hat diese Tatsachen gesehen. Er hat auch richtig die ganz andere Einstellung der britischen Arbeiterpartei gegenüber dem Staat erkannt. Es ist bedauerlich, dass die Frage nach dem proletarischen Kampfwert der Labour Party überhaupt nicht in seinen Gesichtskreis getreten ist. Er schweigt überhaupt dort, wo eine Fortsetzung des Rothstein‘schen Buches nötig wäre, dessen ökonomische Betrachtungsweise auf noch viel breiterer Grundlage hätte fortgeführt werden müssen. Wertheimers Buch fehlt, wie der Verfasser selbst im Vorwort zugibt, ein Kapitel über die Außen- und die Kolonialpolitik. Der Verfasser irrt, 6 [Egon Ferdinand Ranshofen-Wertheimer: Das Antlitz der britischen Arbeiterpartei, mit einer historischen Einleitung von G.D.H. Cole, Stuttgart 1929.]
[12.] Die Englische Arbeiterbewegung [1929]
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wenn er meint, dass ihm nur ein Kapitel fehle, es fehlt ihm leider mehr. Denn Außen- und Kolonialpolitik ist für die britische Arbeiterpartei nicht nur ein Kapitel, es ist ihr Schicksal. Schon der Historiker Rothstein hätte die Frage nach dem Verhältnis der britischen Arbeiterschaft zum British Commonwealth zweckmäßigerweise zur Beurteilung der Vergangenheit herangezogen, derjenige, der die heutige Gestalt der britischen Arbeiterpartei schildern wollte, musste diese Frage aufwerfen. Wie man sie beantwortet, mag dahinstehen; mindestens aber muss man verlangen, dass Klarheit über die willensmäßige Entscheidung der britischen Arbeiterschaft erstrebt und ein Versuch der Skizzierung des Einflusses, den diese Verhältnisse auf die britische Labour Party ausgeübt haben, gemacht wird. Von dieser Warte aus erhält die Frage des Weiterbestehens der Independent Labour Party, die der Verfasser ebenso mit den Augen der offiziellen Labour Party betrachtet, wie die Frage des Kommunismus eine andere Beleuchtung. Auch die Bedeutung der bürgerlichen Überläufer zur Labour Party und deren wachsender Einfluss in ihr, die der Verfasser so wichtig nimmt, ist dann, wenn man die Politik der Labour Party als eine Fortführung der imperialen Reichspolitik ansieht, jeden Interesses bar. Es ist dann eine Selbstverständlichkeit, dass die Berufspolitiker Anschluss an die neue und aussichtsreiche Partei suchen, falls diese in den für England entscheidenden Gebieten nur Fortsetzer der traditionellen Politik ist. Beide Bücher aber haben ein großes Verdienst: das Rothstein‘sche, indem es uns an der Geschichte der englischen Arbeiterpartei zeigt, wie gerade dort die jeweiligen ökonomischen Verhältnisse die politische Haltung der Arbeiterschaft geprägt haben, das Wertheimer‘sche, wie aus der bisherigen Entwicklung heute ein Gebilde geworden ist, das uns in seiner jetzigen Gestalt kaum zu besonderen Erwartungen berechtigt. Offen und noch zu untersuchen bleibt die Frage, welche Einflüsse die gegenwärtige Gesamtlage Englands auf die Arbeiterschaft und damit auf die zukünftige Richtung ihrer heute so ausschlaggebenden Politik haben wird.
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[13.] [Rezension:] Carl Tannert: Die Fehlgestalt des Volksentscheids* [1930] Regierungsrat Dr. Carl Tannert. »Die Fehlgestalt des Volksentscheids. Gesetzesvorschlag zur Änderung des Artikels 75 und 76 Abs. I Satz 4 der Reichverfassung.« Breslau 1929. 52 S. Der erfolgreichen Durchführung eines Volksentscheids stehen in Deutschland verfassungsrechtlich ausdrücklich gesetzte oder doch wenigstens zugelassene Hindernisse in großer Zahl entgegen. Schon die Zulassung eines Volksentscheids hängt von der Auslegung ab, die die dem Volksentscheid regelmäßig feindlich gegenüberstehende Regierung dem Begriff des »Finanzgesetzes« gibt. Es hat in Deutschland bisher keinen Volksentscheid gegeben, der nicht unter dem Gesichtspunkt des Finanzgesetzes betrachtet werden konnte (vergleiche für das »Freiheitsgesetz« die in dieser Beziehung nicht überzeugenden Ausführungen von Anschütz in der »Frankfurter Zeitung«).1 Eine demokratische Massenpartei wird jedenfalls gegenüber dem Argument des Finanzgesetzes größte Zurückhaltung üben müssen und eine Abdrosselung der Volksgesetzgebung auf diesem Wege in den meisten Fällen abzulehnen haben. Aber wenn auch schließlich diese im status nascendi vorhandene Schwierigkeit, deren gesamte verfassungstheoretische Problematik Carl Schmitt in seinem »Volksentscheid und Volksbegehren«2 glänzend dargelegt hat, überwunden ist, so ändert das nichts daran, dass der Volksentscheid heute praktisch mit einem im Sinne der Antragsteller befriedigenden Ergebnis nie durchgeführt werden kann. Dieser seltsamen Situation ist das Buch des Verfassers gewidmet. Hier wird der Versuch unternommen, losgelöst von der staatstheoretischen Problematik, die * [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Politik, Jg. 7, Heft 1, Berlin 1930, S. 90-92. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 57-58.] 1 [Gerhard Anschütz: Staatsrechtliche Betrachtungen zum Volksbegehren, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 847, 13. November 1929.] 2 [Carl Schmitt: Volksentscheid und Volksbegehren: Ein Beitrag zur Auslegung der Weimarer Verfassung und zur Lehre von der unmittelbaren Demokratie, Berlin 1927.]
[13.] [Rezension:] Carl Tannert: Die Fehlgestalt des Volksentscheids [1930]
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diesem Institut bei einem 60 Millionenvolk zukommt, die rein rechtliche Fehlkonstruktion des Volksentscheids aufzuzeigen und Vorschläge für ihre Änderung zu unterbreiten. Drei Verfassungsrechtsgüter werden nach der Meinung des Verfassers durch die heutige verfassungsrechtliche Regelung des Volksentscheids verletzt: die Abstimmungswahrheit, das Stimmgeheimnis und die Stufung der Erschwernisse entsprechend dem Unterscheid von einfachem und verfassungsänderndem Gesetz. Eingehend wird unter Anführung wirklich überzeugender Beispiele aus der Verfassungspraxis (Fürstenenteignung) die bekannte Tatsache belegt, dass durch die Möglichkeit, durch bloßes zu Hause bleiben den Gesetzentwurf zur Ablehnung zu bringen, eine andere Wirkung erzielt werden kann, als durch eine verneinende Abstimmungsbeteiligung der Ablehnenden. Sieg einer bestimmten Art technischen Verhaltens gegenüber dem politischen Gegner, wo durch ein anderes technisches Verhalten der Gegner gesiegt hätte. Infolge des Erfordernisses der Beteiligung der Hälfte der Stimmberechtigten wird im Zusammenhang mit der bequemen Möglichkeit des zu Hause Bleibens der Volksentscheid undurchführbar. Dadurch wird die unmittelbare Volksgesetzgebung gegenüber der indirekten Gesetzgebung benachteiligt. Eine solche Erschwerung war aber durch den Verfassungsgesetzgeber, wenn er auch dem Institut nicht besonders freundlich gegenüberstand, nicht beabsichtigt. Er wollte nichts erleichtern, doch auch kein bloßes Schatteninstitut schaffen. Es liegt hier zwar keine »Verletzung eines Verfassungsrechtsguts«, wie der Verfasser meint, aber immerhin ein Widerspruch im Verfassungssystem selbst vor, durch den ein Institut, das als mögliche Funktionsform der Demokratie gedacht war, lahmgelegt wird. Die beiden andern Gesichtspunkte, die der Verfasser heranzieht, sind nur Konsequenzen des ersten Widerspruchs. Es ist sicher, dass das Stimmgeheimnis dann, wenn nur eine Partei regelmäßig zur Stimmabgabe schreitet, nicht aufrechterhalten werden kann. Hier versagt aber die rein rechtliche Betrachtungsweise des Verfassers; hier kommt man mit der Methode, an Hand eines praktischen Falles die Fehlgestalt einer Verfassungsrechtsnorm zu demonstrieren, nicht aus. Im Übrigen ist es auch, wenn man innerhalb des Gesichtskreises des Verfassers bleibt, interessant, sich die Auswahl seiner praktischen Beispiele anzusehen. So erscheint zum Beispiel der Fall der Beeinflussung des Kaufmanns durch seine proletarischen Wähler, nicht aber der ungleich bedeutendere und einer Untersuchung mehr werte Fall der sehr handgreiflichen »Beeinflussung« großer Landarbeiterschichten durch Gutsbesitzer.
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[13.] [Rezension:] Carl Tannert: Die Fehlgestalt des Volksentscheids [1930]
Prinzipiell ist hier zu sagen, dass dem Verfasser ganz die Frage entgangen ist, ob nicht ein Zusammenhang zwischen einer weitgehenden Öffentlichkeit und dem der Volksgesetzgebung zugrunde liegenden Prinzip besteht. Diese Frage ist mindestens, wie Carl Schmitt gezeigt hat, zu untersuchen, und daher ergibt es sich auch, dass es abwegig ist, Wahlgeheimnis und Stimmgeheimnis beim Volksentscheid generell gleichzustellen. Technisch gleichartige Institutionen können oft von sehr verschiedenen verfassungstheoretischen Prinzipien beherrscht sein. Dagegen ist richtig vom Verfasser gesehen die sich aus der heutigen Regelung ergebende Tatsache der Ununterschiedenheit zwischen einem etwaigen Zustandekommen von einfachem und verfassungsänderndem Gesetz. Es fehlt hier die unserem Verfassungssystem zugrunde liegende Unterscheidung zwischen einfachem und verfassungsänderndem Gesetz. Die Vorschläge des Verfassers zur Abänderung der betreffenden Verfassungsartikel, die im Wesentlichen auf eine nach der Art des Gesetzes gestufte notwendige, dem jetzigen Zustand gegenüber erheblich herabgesetzte Beteiligungszahl hinauslaufen, sind durchaus diskutabel, wenn es sich auch prinzipiell fragt, ob bei der notwendigen Verfassungsänderung überhaupt ein systematischer und nicht besser ein mehr elastischer Beteiligungsquotient erfordert werden soll. Ebenso richtig ist die Einsicht des Verfassers, dass die Möglichkeit der Beibehaltung der jetzigen Regelung durch Einführung des Stimmzwangs technisch undurchführbar ist. Das Buch bildet einen Beitrag zur notwendigen Reform des jetzigen Zustandes, der unhaltbar ist. Es wäre noch besser geworden, wenn der Verfasser es vermocht hätte, sich von seinem Irrtum loszusagen, dass eine solche Arbeit nur ein »rechtswissenschaftliches Erkenntnisurteil« enthalten könne. Die Beurteilung staatlicher Institutionen an Hand solcher Maßstäbe ist unmöglich und, wie das Buch in seinen besten Teilen durch Überschreitung dieser Grenzen zeigt, undurchführbar. Aber vielleicht sind gerade diese Irrtümer, die der Schrift den Weg zur letzten Klarheit versperren, ebenso lehrreich, wie dessen positive Erkenntnisse.
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[14.] Das neue Strafrecht.* Nach der ersten Lesung [1930] Unter sichtlich abnehmendem Interesse der Öffentlichkeit hat der Strafrechtsausschuss endlich die erste Lesung des neuen Strafgesetzbuches beendet. Zwar ist die Zeit zur endgültigen Stellungnahme verfrüht; denn in einigen Hauptpunkten wird sich im Lauf der weiteren parlamentarischen Verhandlungen noch manche Änderung ergeben können. Das ändert aber nichts daran, dass die Grundzüge des neuen Gesetzbuches feststehen, und keine Koalitionsarithmetik irgendwelcher Art wird wesentliche Neuerungen bringen. Mehr als bei irgendeinem anderen Gesetz ist der Wert eines Strafgesetzbuches von Umständen abhängig, die nicht in der Hand des Gesetzgebers liegen. Richterpersonal, Strafvollzug, wirtschaftliche Verhältnisse und öffentliche Meinung bestimmen das Bild der Strafjustiz wesentlicher als das geschriebene Gesetz. Von 1871 bis zum heutigen Tage gilt das alte Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes, das das Bismarck‘sche Kaiserreich übernommen hatte. Und doch wird niemand behaupten wollen, dass die Rechtsprechung, die heute wie 1872 auf Grund dieses Gesetzes geübt wurde, noch dieselbe ist. Während damals jeder Diebstahl und jede Urkundenfälschung als der Ausfluss einer direkt gegen die Macht und Herrlichkeit des Herrschers Staat gerichteten abgrundtiefen, verbrecherischen Gesinnung betrachtet wurde, ist man heute bis weit in die bürgerlichen Kreise hinein von solchen angeblich absoluten, in Wirklichkeit naiv klassenpolitischen Wertungen allmählich abgekommen. Die Menschen lernten aus unserem Gesellschaftsprozess, dass auch das Verbrechen nichts Außergewöhnliches ist, dass ein Gutteil seiner Ursachen, Voraussetzungen und Bekämpfungsmöglichkeiten im gesellschaftlichen Prozess selbst beschlossen sind. An Stelle der absoluten ist eine relative Wertung getreten, die die Einwirkung der sozialen Verhältnisse nicht mehr mit einer lässigen Geste und dem Hinweis auf die freie Willensbestimmung des Einzelnen abtun kann. * [Erschienen in: Die Tribüne, Organ der Sozialdemokratischen Partei für das Land Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt, Nr. 55, 6. März 1930, Erfurt. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 46-48.]
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[14.] Das neue Strafrecht. Nach der ersten Lesung [1930]
Rechtsprechung und Strafvollzugspraxis haben sich erheblich gewandelt. Soweit das alte Gesetz hierfür keinen Raum ließ, wurden einzelne Bestimmungen durch Novellen geändert (Abtreibung, Kuppelei). Die Grenze jenes strafrechtlichen Relativismus, dessen hervorragendster Vertreter die bürgerliche Linke mit ihrer großen Presse ist, liegt im Sicherungsstreben des kapitalistischen Gesellschaftssystems beschlossen. Mag der Richter noch so milde sein, das Gesetz noch so sehr reines Rahmengesetz – in einem von kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung beherrschten Land muss dem Rechtsbrecher ein notwendiges Maß von gesellschaftlicher Disqualifikation zuteil werden. Es muss die strenge Scheidung zwischen jenen, die im System vorwärts kamen oder doch wenigstens ihren Platz behielten, und jenen, die unter die Räder kamen, gebührend gekennzeichnet werden. Das Strafrecht (Strafregister) ist ein Mittel von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die moralische Disqualifikation. Der allgemeine Teil des Strafgesetzentwurfes trägt jener relativistischen Auflockerung Rechnung. Der Strafanspruch des Staates bleibt aber trotz Vorhandenseins klar erkennbarer sozialer Determination allgemein bestehen; die Möglichkeit einer Straffrei-Erklärung für nichtjugendliche Rechtsbrecher ist schamhaft in den besonderen Teil verwiesen. Das Prinzip der moralischen Abstempelung war es auch, das die bürgerlichen Parteien veranlasste, die sinnlose gewordene Zweiteilung der Freiheitsstrafe in Gefängnis- und Zuchthausstrafe aufrechtzuerhalten. Rein kapitalistische Wirtschaftsgesinnung veranlasste die bürgerlichen Parteien ferner dazu, dem sozialdemokratischen Antrag auf Nichtumwandlung von Geldstrafe in Ersatzfreiheitsstrafe bei Vorliegen unverschuldeter Zahlungsunfähigkeit nicht zuzustimmen. War so die Möglichkeit einer Auflockerung des allgemeinen Teils des Strafgesetzentwurfes nach der sozialen Seite hin durch die Bedürfnisse der kapitalistischen Wirtschaftsordnung eng begrenzt, so konnte dafür in der psychologischen Frage der Beurteilung des Täters als Individuum ein Schritt nach Vorwärts gewagt werden. Denn hier liegt ein unmittelbarer Gegensatz zu dem strafrechtlichen Schutzbedürfnis der kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht vor; der Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit gehört in diesen Zusammenhang. Der besondere Teil des neuen Strafgesetzbuches interessiert nicht so sehr wegen der Höhe der Strafen, die durch den weitgespannten Rahmen des allgemeinen Teils der praktischen Bedeutung entbehren, als vielmehr durch die Delikte, die neu aufgenommen beziehungsweise nicht mehr aufgenommen wurden. Härten, die unter der Herrschaft
[14.] Das neue Strafrecht. Nach der ersten Lesung [1930]
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des geltenden Strafgesetzbuches nur im Gnadenwege zu beseitigen waren, wie die Mindeststrafe von zwei Jahren Gefängnis bei Kindestötung und von einem Jahr Zuchthaus bei der kleinsten Amtsunterschlagung, sind schon durch die generelle Widerspruchsmöglichkeit im allgemeinen Teil des Entwurfs beseitigt. Den Verbesserungen im allgemeinen Teil stehen jedoch mehr Verschlechterungen als Verbesserungen im besonderen Teil gegenüber. Auch wo wir in gemeinsamer Front mit den liberalen Kreisen des Bürgertums, deren Einfluss innerhalb des Bürgertums weit überschätzt wird, kämpften, haben wir nur Teilerfolge zu verzeichnen. Die Bestrafung der Moralität ist gemildert, teilweise aufgehoben; Bestrafung der Abtreibung bleibt jedoch bestehen; über die Gotteslästerung und ihre Bestrafung ist noch keine Entscheidung getroffen, und die so dringliche Frage der Abschaffung der Todesstrafe hat sich das Bürgertum als teuer zu erkaufendes Kompensationsobjekt vorbehalten, das sie nur gegen weitgehende Zugeständnisse von Seiten der Sozialdemokraten preisgeben wird.
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[15.] Artikel 48 – der falsche Weg* [1930] Was für Gesetze die reaktionäre Regierung Brüning dem Reichstag vorlegen will, ist den Umrissen nach bekannt. In dem jetzt anhebenden Kampf um die innere Lastenverteilung soll aus wirtschaftspolitischen Erwägungen, die der Unternehmerideologie entstammen, die Arbeiterschaft auf Steuererleichterung und Sicherung und Ausbau der Sozialpolitik zugunsten einer einseitigen Interessenwahrnehmung der Unternehmer und zugunsten einer ostelbischen Landwirtschafts-Subventionierung in ungeahntem Ausmaße verzichten. Diesem wirtschaftspolitischen Programm des Unternehmertums, das die reaktionäre Regierung zu ihrem eigenen gemacht hat, stellt die Sozialdemokratie ihr eigenes sozial- und wirtschaftspolitisches Programm entgegen. Erhält die Regierung für die Durchführung ihres Programmes keine Mehrheit, so steht ihr zu dessen Durchführung nicht der Artikel 48 zur Verfügung. Die Voraussetzung der Anwendbarkeit das Artikels 48 ist die »erhebliche Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung«. Der bekannte keineswegs linksstehende Kommentator der Reichsverfassung, der sächsische Reichsratsbevollmächtigte PötzschHeffter hat in seinem Kommentar1 zur Reichsverfassung mit vollem Recht darauf hingewiesen, dass eine Erheblichkeit dann vorliege, wenn die Störung oder Gefährdung so groß ist, dass der gewöhnliche staatliche Apparat sie nicht meistern kann. Es muss sich also, wie der extrem deutschnationale Freiherr von Freytagh-Loringhoven, der sicher nicht als Freund der Demokratie anzusprechen ist, ausführt, um eine »unmittelbare Gefährdung« handeln. Es ist interessant, dass der Kanzler Brüning die Brüchigkeit seiner Diktatur-Argumentation selbst erkannt hat und die fehlende Unmittelbarkeit der Gefährdung durch einen Hinweis auf die angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Notstände zu besonde-
* [Erschienen in: Die Tribüne, Organ der Sozialdemokratischen Partei für das Land Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt, Nr. 80, 4. April 1930, Erfurt. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 67-68.] 1 [Fritz Poetzsch-Heffter: IV. Die einstweilige Diktatur der Landesregierungen (Art. 48, Abs. 4). 19. Voraussetzungen der einstweiligen Landesdiktatur, in: Ders.: Handkommentar der Reichsverfassung vom 11. August 1919: Ein Handbuch für Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, 3., völlig neubearbeitete und stark vermehrte Auflage, Berlin 1928, S. 243.]
[15.] Artikel 48 – der falsche Weg [1930]
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rer Wachsamkeit Anlass gebenden radikalen Strömungen herzustellen versucht hat. Es muss aber wohl als ausgeschlossen gelten, dass eine Gefährdung im Sinn des Artikels 48 tatsächlich vorhanden ist. Von einer unmittelbaren sozialen und wirtschaftlichen Gefährdung des Unternehmertums kann man wohl nicht gut reden, und die soziale Not der Arbeiterschaft hat Herr Brüning nicht einmal im Auge. Nur aber für solche Fälle der unmittelbaren Gefahr kann der Artikel 48 angewandt werden. Die Beratungen sowohl im Verfassungsausschuss als auch im Plenum der Nationalversammlung lassen erkennen, dass die Gefährdung immer vom militär- und polizeitechnischen Standpunkt aus beurteilt wurde. Heute handelt es sich um etwas ganz anderes. Es handelt sich um die Lösung der Frage der inneren Lastenverteilung. Die nicht vorhandene Lösung ist keine politische Gefahr, da wohl niemand behaupten kann, dass man die heutigen Steuern nicht noch ein paar Monate weiter erheben könnte. Eher könnte man von der anderen Seite aus die Behauptung aufstellen, dass bei Durchführung der reaktionären Steuerpläne bald eine unmittelbare Gefahr, eine akute Krisis eintreten könnte. Der von bürgerlicher Seite gegenwärtig oft benutzte Hinweis auf den Gebrauch des Artikels 48 durch den Reichspräsidenten Ebert vergisst elementare Voraussetzungen. Einmal hat im Jahre 1923 die Inflation in Deutschland tatsächlich eine akute Gefahr hervorgerufen, deren Beseitigung für die Gesamtheit lebensnotwendig war. Weiterhin aber war doch das Entscheidende, dass Ebert keine klare Mehrheit gegen sich hatte, dass er die Steuernotverordnungen und die anderen wirtschaftspolitischen Maßnahmen deshalb erlassen hat, weil tatsächlich keine Zeit vorhanden war, sie auf dem regulären Weg durchzuführen. Wenn aber heute Herr Brüning seine Pläne mit Hilfe des Artikels 48 durchführt, so muss er es deshalb tun, weil er eine Mehrheit gegen sich hat. Außerdem handelte es sich damals um Notmaßnahmen, die zum großen Teil zeitlich befristet waren, während Herr Brüning seine Gesetze zwar Notmaßnahmen nennt, es sich aber in Wirklichkeit um die Durchführung eines wirtschaftspolitischen Programms von grundsätzlicher und richtunggebender Bedeutung handelt. Wenn man verfassungsrechtlich das Vorgehen des Präsidenten Ebert für nicht einwandfrei ansehen will, wie das zum Beispiel Herr von Freytagh-Loringhoven getan hat, um wieviel weniger einwandfrei müsste dann das Vorgehen des Reichskanzlers Brüning sein. Denn als am 7. Dezember 23 die erste Steuernotverordnung auf Grund des Artikels 48 vom Reichspräsidenten erlassen wurde, war dieser, da er eben-
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[15.] Artikel 48 – der falsche Weg [1930]
falls juristische Bedenken hegte, in der glücklichen Lage, bereits am nächsten Tage sich von einer hinter ihm stehenden Reichstagsmehrheit ein Ermächtigungsgesetz geben lassen zu können, auf Grund dessen er die Notverordnung aufheben und durch eine gleichlautende zweite Steuernotverordnung auf Grund eines Ermächtigungsgesetzes ersetzen konnte. Dazu ist aber Herr Brüning wieder nicht in der Lage, wenn er keine Mehrheit erhält. Endlich ist noch darauf hinzuweisen, dass Brüning bei der Durchführung seines Programmes auf dem Wege des Artikels 48 nicht nur die Voraussetzungen dieses Artikels nicht einhalten würde, sondern auch über die durch ihn gegebenen Ermächtigungen hinausgehen müsste. Der bekannte deutsche Staatsrechtslehrer Carl Schmitt hat in einem Referat ausgeführt, dass es im Rahmen der erlaubten Maßnahmen auf Grund des Artikels 48 nicht möglich wäre, den Haushaltsplan festzustellen.2 Er hat dies ganz richtig mit dem Unterschied zwischen Gesetzgebungsverfahren und Maßnahmen begründet. Was ist aber das Programm der Regierung anderes als die Inhaltsbestimmung des neuen Budgets? Denn dieses Programm bestimmt die Gestalt und das Aussehen des Budgets. Hierfür ist aber das Verfahren des Artikels 48 unzulässig. Die Definition Schmitts über das Wesen der Diktatur erhellt blitzartig, wer die Verfassung hält und wer sie bricht: »Die Diktatur ist wie die Notwehrhandlung immer nicht nur Aktion, sondern auch Gegenaktion. Sie setzt demnach voraus, dass der Gegner sich nicht an die Rechtsnormen hält, die der Diktator als Rechtsgrund für maßgebend anerkennt.«3 Der Rechtsgrund der Diktatur des Herrn Brüning kann selbstverständlich nur in der Reichsverfassung beschlossen liegen. Dass die Sozialdemokratie diese Verfassung gebrochen habe, kann Herr Brüning nicht einmal behaupten. Wenn er also sein Programm gegen das Parlament durchführt, so hat das nichts mehr mit dem Artikel 48 zu tun; denn dieser bleibt im Bereich der Verfassung, aber er stellt sich damit außerhalb des Gesetzes. Nach stehender Rechtsprechung können die Gerichte zwar nicht nachprüfen, ob die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Artikels 48 vorgelegen haben, da dies im pflichtgemäßen Ermessen des Reichspräsi2 [Vergleiche: Carl Schmitt: Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Weimarer Verfassung (1924), in: Ders.: Die Diktatur: von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf: 2. Auflage, München/Leipzig 1928, S. 249.] 3 [Carl Schmitt: Die Diktatur: von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf: 2. Auflage, München/Leipzig 1928, S. 136.]
[15.] Artikel 48 – der falsche Weg [1930]
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denten steht. Wohl aber sind die Gerichte, wie der Reichsfinanzhof in München schon entschieden hat, berechtigt, nachzuprüfen, ob die erlassenen Anordnungen sich in den durch Artikel 48 gezogenen Grenzen halten. Herr Brüning mag selbst bedenken, welche Aspekte sich dadurch eröffnen, dass jeder durch sein Finanzprogramm mit Steuern belastete Staatsbürger die Möglichkeit und das Recht hat, die Rechtsgültigkeit seines Steuerbescheides nicht ohne Aussicht auf Erfolg zu bekämpfen. Ob das dem von Herrn Brüning mit Engelszungen gepriesenen organischen Staatsideal entspricht, wird er mit sich selbst ausmachen müssen.
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[16.] Privatbesitz gegen Volksinteresse!* Wann kommt das neue Bauland-Gesetz? Reichsgericht und Artikel 155 der Weimarer Verfassung [1930] Am 28. Februar 1930 hat der III. Zivilsenat des Reichsgerichts eine Entscheidung gefällt, die wohl zu den merkwürdigsten Sprüchen dieses hohen Gerichtshofs gehört. Bisher waren wir alle der Meinung, dass die Weimarer Verfassung im Vergleich zu den Verfassungen des 19. Jahrhunderts einen gewaltigen sozialen Fortschritt darstelle. Die Entscheidung belehrt uns darüber, dass wir uns zum mindesten in Bezug auf das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privateigentum in einem schweren Irrtum befunden haben. Fünfundzwanzig Jahre lang, seit dem 2. Juli 1875, ist in Preußen keinem Gericht und keiner Behörde je der Gedanke gekommen, der § 13 des Fluchtliniengesetzes könne verfassungswidrig sein. Dieser Paragraph bestimmt genau, unter welchen Voraussetzungen dem Eigentümer eines Grundstücks bei der Festlegung der Fluchtlinie eine Entschädigung zu gewähren ist. Nicht steht in dieser Bestimmung, dass – sofern nicht vorhandene Gebäude von der Fluchtlinie betroffen werden – die Gemeinde dann eine Entschädigung zahlen müsse, wenn sie das betreffende Gelände als Freifläche ausweist, ohne dem Eigentümer das Eigentum daran zu entziehen. Diese Bestimmung war es, mit deren Hilfe es den Gemeinden nur möglich war, eine Baupolitik zu betreiben, die – wie der Stadtbaurat Genosse Dr. Martin Wagner in seiner lesenswerten Schrift „Das Reichsgericht als Scherbengericht gegen den deutschen Städtebau“ (siehe auch „Vorwärts“ Nr. 212 und 222) nachweist – amerikanische Zustände bei uns bisher verhindert hat. In Preußen war es bisher üblich, dass die Gemeinden mit Hilfe jener Bestimmung des Fluchtliniengesetzes selbst, ohne allzu erhebliche finanzielle Belastung, eine planmäßige Städtebaupolitik betreiben konnten. Dem hat das Reichsgericht ein Ende gemacht.
* [Erschienen in: Vorwärts, Berliner Volksblatt, Stadtbeilage, Nr. 226, 16. Mai 1930, Berlin. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 64-65.]
[16.] Privatbesitz gegen Volksinteresse! Wann kommt das neue Bauland-Gesetz? 207
Prüfen wir seine Gründe! Das Reichsgericht geht von dem Unterschied zwischen § 12 und § 13 des Fluchtliniengesetzes aus. Es gesteht zu, dass § 12, der es Ortsstatuten freistellt, das Bauen von Bahngebäuden an für den öffentlichen Verkehr noch nicht fertiggestellten Straßen zu untersagen, den Inhalt des Eigentums in allen Grundstücken regelt; denn ein solches Ortsstatut treffe sämtliche Grundstücke, die an einer unfertigen Straße liegen. In Gegensatz hierzu stellt das Reichsgericht § 13, der keine Inhaltsbezeichnung des Eigentums enthalte, sondern eine Enteignung. Schon die preußische Abgeordnetenkammer 1875 stellt fest, dass die Verpflichtung des Eigentümers, gewisse künftighin zu Straßen und Plätzen bestimmte Flächen unbebaut zu lassen, eine gesetzliche Einschränkung des Eigentums sei, die keinen Entschädigungsanspruch auslösen dürfe. Das Reichsgericht hat diese Meinung des gewiss nicht sozialistisch verseuchten Gesetzgebers von 1875 überhört. Nach ihm ist das Fluchtlinienfestsetzungsverfahren ein Enteignungsverfahren, weil hier keine allgemeine, alle Eigentümer treffende Verpflichtung vorliege. Die Tatsache, dass es ausschließlich von dem Willen der Gemeinde abhänge, ob sie sich eine derartige Fläche vom Eigentümer für die öffentliche Benutzung abtreten lassen wolle, kennzeichne den Enteignungscharakter. Gegen diese Entscheidung ist zunächst rein juristisch anzuführen, dass sie das Merkmal der Allgemeinheit verkennt. Hausverbot und Fluchtlinienbesetzung unterscheiden sich nur graduell, aber nicht begrifflich voneinander. Beide treffen einen personell unbegrenzten Kreis von Eigentümern. Wenn das Fluchtliniengesetz von 1875 bis zur Revolution immer als rechtsgültig und verfassungsmäßig betrachtet worden ist, und wenn es nunmehr als im Widerspruch zur Reichsverfassung stehend verfassungswidrig sein soll, so muss der Artikel 9 der preußischen Verfassung von 1850 fortschrittlicher und sozialer gewesen sein als die Weimarer Verfassung. Wer aber nicht der Ansicht sein sollte, dass das Verhältnis von Eigentum und öffentlichem Interesse von der Weimarer Verfassung mit unfreundlicheren Augen betrachtet wird als von der preußischen Verfassung von 1850, der wird sich nur der Auffassung des Berliner Haus- und Grundbesitzervereins anschließen können, dass sich das Reichsgericht hier „wieder als Hüter des Privateigentums bewährt hat.“ Dass dieses merkwürdige Urteil sich nicht auf den Artikel 153 stützen kann, zeigt auch das Urteil des Staatsgerichtshofs über die Rechtsgültigkeit der preußischen Notverordnung vom 10. Oktober 1927, dessen klare und beweiskräftige Sätze das Reichsgericht vergebens auszuräumen sucht. Dort ist aus-
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drücklich ausgesprochen, dass solche Eingriffe in das Privateigentum durchaus verfassungsgemäß sind. Hätte das Reichsgericht den Artikel 155 der Reichsverfassung nur halb so ausnehmend ausgelegt, wie es dies mit dem Artikel 153 tut, so hätte die vorliegende städtefeindliche Entscheidung nicht herauskommen können. Der Wortlaut der Verfassung: „Die Wertsteigerung des Bodens, die ohne eine Arbeit oder Kapitalaufwendung auf das Grundstück entsteht, ist für die Gesamtheit nutzbar zu machen“, hätte den 3. Senat des Reichsgerichts zu der Erkenntnis führen müssen, dass die auf das Fluchtliniengesetz gestützte Praxis der Städte nur die in der Verfassung liegenden Befugnisse ausnutzt, wenn sie so den öffentlichen Anteil an der arbeitslos erworbenen Grundbesitzerbereicherung im Interesse aller, hauptsächlich aber der Anwohner verwertet. Die Folgen der wirtschaftlichen Auswirkung des Urteils sind unübersehbar. In den Prozessen, die auf Grund dieses Urteils allein gegen die Stadt Berlin bezüglich aller nach dem 14. August 1919 festgesetzten Fluchtlinien angestrengt werden können, dürfte die Stadt Berlin allein zur Zahlung von Hunderten von Millionen Mark verurteilt werden. Auf Grund des bestehenden Rechtszustandes, wie er sich aus diesem Urteil ergibt, wird eine städtische Baupolitik, insbesondere die für die ärmere Großstadtbevölkerung so unendlich wichtige Ausweisung von Freiflächen aus finanziellen Gründen überhaupt nicht mehr erfolgen können. Auch das geplante preußische Städtebaugesetz ist als Landesgesetz demgegenüber machtlos. Helfen kann hier nur ein Reichsgesetz, wie es gegenwärtig im Arbeitsministerium in Form des Baulandgesetzes vorbereitet wird. Die Fertigstellung eines solchen Reichsgesetzes, das Entschädigungsforderungen ausschließt und dem Entschädigungsausschluss rückwirkende Kraft beilegt, wird dringend zu beschleunigen sein. Darüber hinaus wird der Reichsgesetzgeber in jedem einzelnen Fall Vorsorge treffen müssen. Er wird in Gesetzen, die nur irgendwie im Entferntesten von berufsmäßigen Hütern des Privateigentums als Eingriff in die Eigentumssphäre gedeutet werden könnten, durch eine Klausel jede Entschädigungsforderung auszuschließen haben. Denn sonst wird der Kampf, ob das Parlament oder das Reichsgericht die Grundlagen des Wirtschaftslebens und der öffentlichen Ordnung festlegt, bald zugunsten jenes unverantwortlichen Gesetzgebers, der Millionen bewilligt, ohne für ihre Deckung sorgen zu müssen, ausgefochten sein.
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[17.] Weimar … und was dann? Entstehung und Gegenwart der Weimarer Verfassung* [1930] Vorbemerkung Über zehn Jahre liegen hinter uns, seit in Weimar die Verfassung der Republik entstand. Die politischen Kampffronten befinden sich in einem Zustand zunehmender Erstarrung. Die eigentlichen Gegensätze treten oft hinter Schlagworten zurück. Der Verfasser hielt es für seine Pflicht, von der oft geübten Methode, politische Wünsche in politische Entwicklungslinien umzudeuten, abzusehen und sich in der Hauptsache auf die Darstellung dessen zu beschränken, was ist. Dabei bedarf es freilich der grundsätzlichen Klarheit darüber, dass eine sozialistische Verfassungsbetrachtung nicht in die Fehler einer liberalen verfallen darf. Während die liberale Verfassungsbetrachtung, die oft auch unter demokratischem Deckmantel auftritt, eine nicht vorhandene Einheit vortäuscht, um mit ihr alle Zwiespältigkeiten der gegenwärtigen Gesellschaftsorganisation zu verdecken, muss eine sozialistische Verfassungsbetrachtung alle jene Widersprüche aufdecken, die der heutigen Gesellschaftsorganisation und ihrer politischen Form anhaften. ***
Die Entstehung der Republik »Und zwar ist die jeweilige gesetzliche Verfassung bloß ein Produkt der Revolution. Während die Revolution der politische Schöpfungsakt der Klassengeschichte ist, ist die Gesetzgebung das politische Fortvegetieren der Gesellschaft. Die gesetzliche Reformarbeit hat eben in sich keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft. Sie bewegt sich in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und so lange, als in * [Erschienen als selbstständige Schrift: Weimar … und was dann? Entstehung und Gegenwart der Weimarer Verfassung, Berlin: De Gruyter, 1930. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 68-73.]
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ihr der durch die letzte Umwälzung gegebene Fußtritt nachwirkt oder, konkret gesprochen, nur im Rahmen der durch die letzte Umwälzung in die Welt gesetzten Gesellschaftsreform. Das ist eben der Kernpunkt der Frage.« Rosa Luxemburg: »Sozialreform oder Revolution?«1
Im Reiche Bismarcks regierten das Volk verbündete Fürsten mit verbündeten Bürokratien. Das in der Hohenzollernmonarchie verkörperte Preußen nahm staatsrechtlich und politisch die Vormachtstellung ein. Herrschaft der Hohenzollernmonarchie aber bedeutete Herrschaft des Adels und der mit ihm aufs Engste verbundenen Armee, die das Glück hatten, dass ihre traditionelle, aus vorkapitalistischer Zeit überkommene Stellung durch die machtpolitischen Tendenzen des modernen Deutschlands mit seiner starken, politisch machtlosen proletarischen Bevölkerung neue Zweck- und Sinngebung erhielt. Neben dieser Grundlage des deutschen Verfassungslebens machte sich, an der Jahrhundertwende immer stärker ansteigend, die Einflussnahme einzelner Industriellengruppen bemerkbar, ohne dass diese von der Öffentlichkeit völlig unkontrollierbare Einwirkung die Stetigkeit des Adels und der Bürokratie erreicht hätte. Seit Ende August 1916 war diese Regierung faktisch nicht mehr vorhanden, an ihre Stelle war die Militärdiktatur des Generals Ludendorff getreten, der unter völliger Ausschaltung der bisherigen Regierung das Schicksal Deutschlands in die Hand genommen hatte. Sein Gegenspieler war die Reichstagsmehrheit, bestehend aus den Parteien der Mehrheitssozialdemokratie, des Zentrums, der Fortschrittlichen Volkspartei Naumann‘scher Prägung und dem linken Flügel der Nationalliberalen. Aber sie war auch gleichzeitig seine Gefangene. Hatten doch alle jene Gruppen sich dazu bereitgefunden, mit den herrschenden Gewalten einen Burgfrieden abzuschließen, wodurch sich die gewählten Vertreter der Mehrheit des deutschen Volkes der einzigen Möglichkeit, ihren Willen entscheidend zur Geltung zu bringen, begaben. Auch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands trat jenem Burgfriedenspakte bei. Die Lehre der französischen Revolutionszeit, insbesondere des Jahres 1793, dass gerade Zeiten der äußeren Not Zeiten der politischen Erneuerung zu sein berufen sind, vergaß sie dabei. Aber während die Arbeiter der Entente-Länder für ihre Kriegsbereitschaft im Dienste kapitalistischer Regierungen neben nominalen Lohnerhöhungen wenigstens noch eine nominale Vertretung in den Regie1 [Rosa Luxemburg. Sozialreform oder Revolution? Mit einem Anhang: Miliz und Militarismus, Leipzig 1899, S. 32.]
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rungen erhielten (Munitionsminister Thomas, heutiger Vorsitzender des Internationalen Arbeitsamts in Genf), hatte es in Deutschland bei nominalen Lohnerhöhungen sein Bewenden. Diktator Ludendorff verlegte den Weg, den Bethmann-Hollweg wenigstens gern offengehalten hätte. Als am 6. Juli 1917 der geistige Führer jener Reichstagsmehrheit, der Abgeordnete Erzberger, in ihrem Namen die Friedensresolution verlas, bestand jener Burgfrieden nicht mehr als zweiseitiger Pakt, er war zu einem Diktat des Diktatorgenerals geworden. Der Wille zu einem Verständigungsfrieden, den die Reichstagsmehrheit in Übereinstimmung mit den werktätigen Wählermassen des Zentrums und der Sozialdemokratie vertrat, zerbrach im Ringen zwischen Reichstag und General, aus dem der General als Sieger hervorging. Die Herrschaft Ludendorffs war ein zwar verfassungsrechtlich nicht sanktioniertes, aber von Bürgertum und Adel geduldig ertragenes Zwischenspiel zwischen der Hohenzollernmonarchie und der parlamentarischen Demokratie. Die Monarchie in ihrer alten sozialen und politischen Bedeutung war nicht durch eine Volkserhebung gestürzt, sie war durch die Machtergreifung des Generals Ludendorff gegenstandslos geworden. Auch bei einem glücklichen Ausgang des Ludendorff‘schen Wagnisses wäre der Weg zur Wiederherstellung der Monarchie, so wie sie bis 1916 bestanden hatte, durch die schwerindustriellen Einflüsse, die der Herrschaft Ludendorffs ihr politisches Gepräge verliehen, versperrt gewesen.2 Als das alte politische und militärische System Mitteleuropas zusammenbrach und der Diktator unterlegen war, da setzte er selbst noch seinen alten Widerpart, die bürgerlich-sozialdemokratische Reichstagsmehrheit, in ihr Erbe ein. Mit ihrer Herrschaftsübernahme ergab sich die Notwendigkeit, Bismarcks Verfassung so zu ändern, dass sie dem neuen Zustand der Herrschaft der Parlamentsmehrheit entsprach. Durch die Einführung der Bestimmungen, dass der Reichskanzler zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstags bedürfe, wurde im Prinzip das parlamentarische System eingeführt. Diese Verfassungsänderung, die eine Änderung des gesamten Verfassungssystems bedeutete, geschah auf gesetzlichem Wege unter Zustimmung des schon seit 1916 bedeutungslos gewordenen Monarchen. Es wurde eine Regierung nach parlamentarischen Grundsätzen unter Teilnahme der Mehrheits-
2 Für diesen Teil dankt der Verfasser dem Buch Arthur Rosenbergs »Die Entstehung der deutschen Republik« [1871-1918, Berlin 1928] wertvolle Erkenntnisse.
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sozialdemokratie – die erste Koalitionsregierung – gebildet.3 Als dann im November 1918 von Kiel aus sich die Revolution über Deutschland verbreitete und die abgeänderte, dem Willen der Reichstagsmehrheit entsprechende Verfassung außer Kraft setzte, konnte diese Revolution einen zwiefachen Sinn haben. Entweder war sie nichts weiter als die Reaktion der Massen, die glaubten, endlich sich von dem auf ihnen lastenden Druck befreien zu müssen, die noch nicht begriffen hatten, dass die Abdankung des alten Systems durch jene Verfassungsänderung sanktioniert und der Friede, in welcher Gestalt auch immer, im Herannahen war. In diesem Falle musste sich die Reaktion der Massen hauptsächlich gegen jene bedeutungslosen Fassaden, die Bundesfürsten, richten und konnte sich darüber hinaus politisch höchstens im Sinne eines elementaren Vorstoßes für den Einheitsstaat auswirken. Oder aber den revoltierenden Massen war mit jener Demokratisierung der Verfassung nicht genug geschehen, sie strebten darüber hinaus zur unmittelbaren Verwirklichung des Sozialismus. Der Gang der Entwicklung hat gezeigt, dass bis weit in die Reihen der Unabhängigen Sozialdemokratie die Massen mit der Revolution nur den Sturz der Dynastien bezweckten, im Übrigen ihre Forderungen zwar stark sozial betont waren, aber im großen Ganzen doch nicht über den Rahmen der bürgerlichen Demokratie hinaus drängten. Ihr Ziel war so wenig einheitlich, dass die bürokratisch-partikularistischen Einflüsse, die auch nach dem Sturz der Dynastien noch unvermindert fortbestanden, es vermochten, die revolutionäre Bewegung in ihr Fahrwasser zu bringen. Die Forderung nach dem Einheitsstaat, welche durchaus in der Entwicklungslinie der bürgerlich-kapitalistischen Rationalisierungsbestrebungen lag, war schon aus diesen Gründen zum Scheitern verurteilt.4 So kann es angesichts der fehlenden Beteiligung der breiten Volks3 Es ist äußerst interessant, dass der gegenwärtige Reichsjustizminister Bredt in einem Aufsatz in den »Preußischen Jahrbüchern« die Ansicht vertreten hat, dass nach dem Gang der Ereignisse in den letzten zehn Jahren der Revolution eigentlich auf längere Sicht keine historische Funktion zukam. Der praktisch heute herrschende Verfassungszustand ist seiner Meinung nach der Verfassungszustand des Oktobers 1918 der geänderten Bismarck‘schen Verfassung. [Johann Viktor Bredt: Volksbegehren, in: Preussische Jahrbücher, Nr. 220, Heft 1, Berlin 1930, S. 1-14.] 4 Wenn Friedrich Meinecke in seinem Buch über die Idee der Staatsraison [Die Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte, München/Berlin 1929.] schreibt, wie tragikomisch die Wirkung der Staatsraison war, als Kurt Eisner in das gerade leerstehende Gehäuse der bajuvarischen Staatsidee kroch, so dürfte diese Behauptung gerade auf Kurt Eisner nicht zutreffen. Denn er und sein Mitarbeiter Gustav Landauer wollten nicht das überlieferte Regierungshandwerk ausüben; ihre Politik versuchte, einer föderalistischen Ideenwelt, die mit der »Staatsraison« des alten Partikularismus nichts zu tun hatte, zum Durchbruch zu verhelfen. Auf
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schichten ganz dahingestellt bleiben, ob das von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht angestrebte Weitertreiben der deutschen Revolution unter den gegebenen Verhältnissen aussichtsreich gewesen wäre. Auf der anderen Seite steht freilich fest, dass durch die Methoden der Bekämpfung jener revolutionären Kreise die bewaffnete Macht unter der Leitung der kaiserlichen Offiziere damals einen Einfluss erhielt, der später oft genug zur Zurückdrängung der gesamten Arbeiterklasse benutzt oder dessen Vorhandensein wenigstens gegen sie ausgespielt wurde. Im Übrigen aber waren von anderer Seite her, schon ehe über das endgültige Schicksal der Revolution entschieden war, Bindungen eingegangen worden, die für das Entstehen der Weimarer Verfassung von größter Bedeutung werden sollten. Im Oktober 1918 traten unter der Führung von Hugo Stinnes auf der einen, von Karl Legien auf der anderen Seite die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände zu Konferenzen zusammen, aus denen dann am 15. November 1918 ein Abkommen hervorging, zu dessen Durchführung eine Zentralarbeitsgemeinschaft gegründet wurde. Für das Verhältnis von ökonomischer und politischer Gewalt in der Revolution 1918 entbehrt es nicht der Bedeutung festzustellen, dass die programmatische Regelung der künftigen Rolle der Gewerkschaften durch den Rat der Volksbeauftragten in seinem »Aufruf an das deutsche Volk« vom 12. November 1918 lediglich das Ergebnis jener Stinnes-Legien-Vereinbarung war. So haben die Gewerkschaften ihre künftige Stellung im Wirtschaftsprozess und die Garantie ihrer neuen Rechte lediglich formal durch einen Akt der revolutionären Gewalten, in Wirklichkeit aber durch eine Vereinbarung mit den Arbeitgeberverbänden erhalten. Durch diese Abmachung taten die Gewerkschaften zwar kund, dass sie von nun an gleichberechtigte und ebenbürtige Faktoren im Wirtschaftsleben sein wollten, und die Unternehmer sahen sich genötigt, diesem Verlangen zuzustimmen; aber auf der andern Seite konnte sich diese Vereinbarung sinnvoll auswirken nur unter einer Staatsform, die Kapital und Arbeit Gleichberechtigung verhieß, wofür in einem sozialistischen Staat kein Raum gewesen wäre. Damit war das Schicksal der zukünftigen Verfassung, über das die polidie Mehrzahl von Eisners südwest- und norddeutschen sozialistischen Gegenspielern mögen allerdings die Beobachtungen Meineckes zutreffen. Der Satz, den Remmele in seinem Buch über die Badische Revolution selbstgefällig zitiert: »Das Bataillon hört auf den Landsturmmann Remmele« [Adam Remmele: Staatsumwälzung und Neuaufbau in Baden, Ein Beitrag zur politischen Geschichte Badens 1914/24, Karlsruhe 1925, S. 168.] kennzeichnet jene Art von Revolution, die sowohl ihren Auswirkungen als auch ihrer geistigen Grundlegung nach nur ein »Elitenwechsel« war.
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tisch maßgebenden Körperschaften, der Rat der Volksbeauftragten und die Arbeiter- und Soldatenräte, noch nicht zur Klarheit gelangt waren, vorweggenommen. In einer bestimmten Einschätzung der politischen und ökonomischen Verhältnisse, die mit den Anschauungen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung übereinstimmte und die hier nur festzustellen, nicht aber auf ihre historische Berechtigung zu untersuchen unsere Aufgabe ist, haben damals die Arbeitnehmerverbände den Weg der Zusammenarbeit mit den Unternehmern beschritten. So wie von jener Zeit an die eigentliche Grundlegung unseres heutigen Verfassungszustandes datiert, setzte auch hiermit gleichzeitig ein erbitterter Kampf zwischen den Vertragspartnern ein. Denn während die Unternehmer diese Abmachung als das Maximum ihrer Zugeständnisse betrachteten, die nachträglich möglichst einzuschränken sie sich zum Ziel ihrer Politik setzten, sahen die Gewerkschaften das neu Errungene als ein friedliches und risikoloses Beginnen für die Weiterverfolgung ihres sozialistischen Endzieles an. Mit der Abänderung der alten Verfassung im Oktober 1918 war der politische Weg, der in Zukunft beschritten werden sollte, aufgezeigt. Das Stinnes-Legien-Abkommen vom November 1918 gab den Willen der in der Arbeiterbewegung maßgebenden Gewerkschaftskreise kund, trotz der Veränderung der politischen Verhältnisse auf dem durch die Verfassungsänderung vom Oktober 1918 angebahnten Wege zu verharren. Der formelle Beschluss, einer aus allgemeinen Wahlen hervorgehenden Nationalversammlung das künftige Geschick Deutschlands in die Hände zu legen, blieb der vom 16. bis 19. Dezember in Berlin tagenden Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte überlassen. Es folgte die Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919. Mit dem von ihr geschaffenen Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 wurde der Revolution der staatsrechtliche Schlussstein gesetzt, und die Bahn für die Weimarer Verfassung war frei!
Demokratie und Diktatur Deutschland, Frankreich, England und die Vereinigten Staaten von Amerika sind, wie noch andere mehr oder weniger wichtige Staaten der Welt, nach geschriebenem oder, wie England, nach ungeschriebenem Verfassungsrecht, demokratische Staaten. Je mehr Staaten sich zur demokratischen Staatsform bekennen und sich, wie insbesondere die Vereinigten Staaten von Amerika, bei jeder einzelnen ihrer politischen
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Handlungen auf demokratische Prinzipien zu berufen pflegen, desto mehr gerät die Demokratie in Gefahr, jeder wirklichen Bedeutung entkleidet zu werden und zu einer Form herabzusinken, unter der sich die entgegengesetztesten politischen Grundsätze bergen. Die Unbegrenztheit und damit wachsende Bedeutungslosigkeit des Begriffes Demokratie zeigt sich deutlich darin, dass von maßgebender Seite die oben genannten Staaten allein deshalb als Demokratien bezeichnet werden, weil in ihnen der größtmöglichen Zahl von Bürgern das weitestgehende Wahlrecht gewährleistet sei (R. Thoma).5 Diese Auslegung des Begriffes Demokratie scheint bedenklich, wenig zweckdienlich und historisch unrichtig. Nach ihr ist die Ansicht Jean-Jacques Rousseaus, eines der größten und tiefsten Denker, die je über das Problem der Demokratie nachgedacht haben, und der zu dem Schluss kam, dass die Demokratie eine so vollkommene Einrichtung sei, dass sie nur für die Götter, nicht für die Menschen tauge, unverständlich. Das freie Wahlrecht aller Bürger ist seit 1919 in sehr vielen Ländern eingeführt, ohne dass darum jemand veranlasst wäre zu glauben, dass ein solcher Staat deshalb schon etwas mit der »Vollkommenheit« zu tun habe. Und es scheint, dass die Skepsis Rousseaus gegenüber den Verwirklichungsmöglichkeiten der Demokratie dieser eine gerechtere Würdigung zuteilwerden lässt als die Bereitwilligkeit derer, die glauben, dass das Fallen aller Wahlrechtsschranken die Verwirklichung der Demokratie bedeute. Seit dem 19. Jahrhundert ist das entscheidende Problem der Demokratie die soziale Demokratie geworden. In den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts war die Frage der nationalen Einigkeit und Freiheit nicht nur unlösbar mit der Demokratie verknüpft, sondern beide waren sich gegenseitig Wegbereiter. In Deutschland und Italien, jenen beiden damals noch nicht national geeinten Ländern, hat die Demokratie geradezu im Namen der nationalen Einheit ihren Einzug gehalten. Bald aber sollte es sich herausstellen, dass die Demokratie, die kein anderes Prinzip zum Inhalt hatte als die nationale Einheit eines politisch freien Volkes, nicht das letzte und entscheidende Stadium der Demokratie sein kann. Die proletarischen Schichten, mit deren Blute die nationale Einheit und Freiheit erkämpft wurde, mussten bald bemerken, dass sie nur ihre Herren gewechselt hatten; sie wollten über die nationale Demokratie hinaus die soziale Demokratie erkämpfen. Die Feinde der Arbeiterklasse begriffen gar bald die eigentümliche Dialektik im Wesen 5 [Siehe: Richard Thoma: Sinn und Gestaltung des deutschen Parlamentarismus, Berlin 1929.]
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der Demokratie, die zu dem führt, was der Bürger am meisten fürchtet: zu dem Verschwinden auch der bloßen Möglichkeit eines politischen Ruhezustandes. Denn dieser kann erst wiederkehren, wenn der ureigenste Grundgedanke jeder Demokratie erfüllt ist, wenn jeder kleinste Teil nominellen Einflusses auch reale Macht geworden ist. Von hier aus verstehen wir die bewegliche Klage Guizots, des typischen Repräsentanten des französischen Bürgertums der 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts, wenn er voller Angst von der sozialen Demokratie, von jenem Echo des alten sozialen Kriegsgeschreis spricht, das sich in ihren Tagen in allen Staffeln der Gesellschaft erhebe und widerhalle. Karl Marx war es, der damals mit einer Formulierung, die sich unmittelbar zwar auf die Verfassung Frankreichs vom 23. Oktober 1848 bezog, die aber in Wirklichkeit auch für die Reichsverfassung vom 11. August 1919 noch gilt, das wahre Wesen des demokratischen Staates im Zeitalter der Herrschaft der Bourgeoisie enthüllte: »Der umfassende Widerspruch aber dieser Konstitution besteht darin: Die Klassen, deren gesellschaftliche Sklaverei sie verewigen soll, Proletariat, Bauern, Kleinbürger, setzt sie durch das allgemeine Stimmrecht in den Besitz der politischen Macht. Und der Klasse, deren alte gesellschaftliche Macht sie sanktioniert, der Bourgeoisie, entzieht sie die politischen Garantien dieser Macht. Sie zwängt ihre politische Herrschaft in demokratische Bedingungen, die jeden Augenblick den feindlichen Klassen zum Sieg verhelfen und die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Frage stellen. Von den einen verlangt sie, daß sie von der politischen Emanzipation nicht zur sozialen fort-, von den andern, daß sie von der sozialen Restauration nicht zur politischen zurückgehen.«6
Diesem »umfassenden Widerspruch«, von dem Karl Marx spricht, sind die heute geltenden Verfassungen ganz oder zum Teil unterworfen. Entweder gibt es für sie, wie zum Beispiel für die Verfassung der Vereinigten Staaten und die Verfassungen des letzten Jahrhunderts, kein Problem der sozialen Demokratie, oder sie sehen zwar die soziale Demokratie, wie die Nachkriegsverfassungen von Deutschland und Österreich, als Aufgabe, verhelfen aber ihren Prinzipien nicht voll zum Durchbruch. Die klare Unterscheidung zwischen politischer und sozialer Demokratie, die allen großen politischen Denkern des letzten Jahrhunderts gegenwärtig war, wiedererweckt und in ihrer ganzen Schärfe für unser 6 [Vergleiche: Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850, in: MEW Band 7, Berlin 1960, S. 43.]
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heutiges politisches Leben aufgezeigt zu haben, ist das Verdienst Max Adlers in seinem Werk über die Staatsauffassung des Marxismus 1922.7 »Politische Demokratie« ist eine charakteristische Verdoppelung. Demokratie bedeutet dem Wortsinn nach politische Herrschaft des Volkes (genauer: Herrschaft des Volkes in der Polis, im antiken Stadtstaat). Die nochmalige Zusetzung des Wortes »politisch« zum Worte »Demokratie« legt den Ton darauf, dass hierunter die nur politische Herrschaft des Volkes begriffen und damit nichts über die ökonomischen Machtbeziehungen ausgesagt werden solle, die im 20. Jahrhundert die ausschlaggebenden geworden sind. Die Unterscheidung zwischen sozialer und politischer Demokratie ist keineswegs willkürlich, wie ihr das ihre Gegner im sozialdemokratischen Lager mit der Begründung vorwerfen, dass man niemals unterscheiden könne, wann die politische Demokratie aufhöre und die soziale Demokratie anfinge. Gerade die verfassungspolitische Entwicklung Deutschlands in der letzten Zeit zeigt, dass diese Unterscheidung keine müßige Theorie ist, sondern dass nur mit ihrer Hilfe der heutige Verfassungstypus genau erkannt werden kann. Nur wenn man die soziale Homogenität, die das Prinzip der sachlichen Wertgemeinschaft der Demokratie in unserer heutigen Zeit darstellt, berücksichtigt, ist das Majoritätsprinzip verständlich.8 Nur in einer Gemeinschaft, deren soziale Struktur sozialistisch ist, bedeutet Entscheidung durch Mehrheit keine Vergewaltigung der Überstimmten; hier bedeutet Majoritätsentscheidung nur die Anwendung eines erprobten Mittels, um Streitigkeiten über die technisch beste Verwirklichung der allen gemeinsamen Grundsätze aus der Welt zu schaffen. Je weniger Gemeinsamkeit und Einmütigkeit über die Voraussetzungen, die sozialen Prinzipien der Gemeinschaft herrschen, in desto stärkerem Maße wird die schonungslos ausgeübte Anwendung des Majoritätsprinzips zur Technik der Vergewaltigung, der Gemeinwille ein Phantom. Wenn das Majoritätsprinzip in der politischen Demokratie dazu benutzt wird, die Erfüllung sozialer Forderungen der Arbeiterschaft zu verhindern, wie es heute fast überall der Fall ist, dann bergen diese Demokratien trotz aller Verhüllungen in sich ein beträchtliches Stück bürgerlicher Diktatur. Denn das Wesen der bürgerlichen Diktatur 7 [Max Adler: Die Staatsauffassung des Marxismus. Ein Beitrag zur Unterscheidung von soziologischer und juristischer Methode, Wien 1922.] 8 Auch hier sei wieder ausdrücklich auf die Untersuchungen Max Adlers in »Politische oder soziale Demokratie«[, Berlin 1926], Kapitel 10, hingewiesen.
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besteht in der Aufrechterhaltung der ökonomischen Vormachtstellung des Bürgertums mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Der Kernpunkt, in dem sich die proletarische Diktatur von der bürgerlichen unterscheidet, ist der, dass diese nicht zur Aufrechterhaltung einer bestehenden, sondern zur Verwirklichung einer neuen Gesellschaftsordnung dient. Diese Idee von der proletarischen Diktatur hat allen Denkern des Proletariats vorgeschwebt, ob sie nun, wie Karl Marx, die proletarische Diktatur mehr von der technisch-wirtschaftlichen Seite oder, wie zum Beispiel Max Adler, von der politischen Seite her betrachteten. Über den prinzipiell revolutionierenden und umstürzenden Charakter der proletarischen Diktatur waren und sind sie sich alle einig. Ein deutliches Beispiel für die Unterscheidung von bürgerlicher und proletarischer Diktatur bietet das faschistische Italien. Hat in seinem Anfangsstadium der Faschismus durch seine mannigfachen syndikalistischen Elemente sich den Anschein geben können, als ob er in die Reihe der proletarischen Diktaturen insofern gehöre, als er eine grundsätzliche Änderung der gesamten sozialen und politischen Zustände herbeiführen wolle, so ist im Laufe der Jahre immer klarer geworden, dass es sich bei ihm um eine rein bürgerliche Diktatur handelt, die die bestehende Sozialordnung zu erhalten bestrebt ist.9 Der Artikel 48 der Reichsverfassung soll die Ausnahme von der Regel der Demokratie darstellen. Die herrschenden Klassen in einer sozial nicht homogenen Demokratie sind oft nicht in der Lage, auf demokratischem Wege eine einheitliche Staatswillensbildung herbeizuführen. Deshalb sind sie gezwungen, von Zeit zu Zeit die demokratische Vertretung auszuschließen und mit Mitteln der Diktatur das auszuführen, was auf legalem Wege der Wille großer Teile des Volks verwehrt. Je nach der gegebenen Situation geht die Demokratie vollkommen in eine Dauerdiktatur (souveräne Diktatur10) über (Italien), oder sie stellt nach Vergewaltigung der Opposition (Sachsen, Thüringen 1923) die Demo9 Der grundsätzlich bürgerliche Charakter der italienischen Diktatur steht nicht mit der Tatsache in Widerspruch, dass der Faschismus mit Glück versucht hat, sich selbst und anderen einzureden, dass er eine grundsätzliche Neuerung des gesamten politischen Status des italienischen Volkes bedeute. Die politische Ideologie eines Systems ist von dessen realer Erscheinungsform streng zu trennen. Jedes politische System muss, wenn es sich an der Macht erhalten will, in sich die Verwirklichung von etwas politisch Neuem sehen. Dass der offizielle deutsche Republikanismus nicht einmal dies kann, zeigt die Schwäche und Halbheit seiner Position. 10 Zur theoretischen Fundierung siehe Carl Schmitts grundlegende Arbeit »Die Diktatur«, [von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Massenkampf,] München und Leipzig 1927. Auch Max Adler hat sich in seiner Staatsauffassung des Marxismus dieser Terminologie angeschlos-
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kratie wieder her. Nur einmal hat es sich in der modernen Welt ereignet, dass die Voraussetzungen der Demokratie zugleich die Voraussetzungen der Diktatur gewesen sind. Die Pariser Kommune von 1871 ist das Beispiel dafür, dass eine von annähernd gleichen politischen und sozialen Voraussetzungen ausgehende Bevölkerung in einem außerordentlichen Fall eine Diktatur ausübte, ohne dass dabei die Grundlagen der Demokratie verlassen worden wären. Sieht man aber von diesem einen Fall ab, so ist das Verhältnis zwischen Demokratie und Diktatur bislang nicht so gewesen, wie es bürgerliche Verfassungspolitiker gern hinstellen. Da die Demokratie bislang immer nur eine politische Demokratie gewesen ist, so hat in ihr die verfassungsmäßige Institution des Ausnahmezustandes (kommissarische Diktatur) meistens nur den einen Zweck erfüllt, das Proletariat, sofern es mit den geschäftsordnungsmäßigen Mitteln des Parlamentarismus nicht zum Schweigen zu bringen war, auf gewaltsame Weise wieder in den bestehenden Staat einzufügen. Dabei muss erwähnt werden, dass der häufige Gebrauch des Artikels 48 in den Nachkriegsjahren zum Teil auch auf das Konto mangelnden parlamentarischen Bewusstseins der bürgerlichen Parteien zu setzen ist, die sich zu gerne noch als die unverantwortlichen Nörgler am Handwerk einer ihrem Einfluss entzogenen Bürokratie ansahen. Erst in einem langsamen Republikanisierungsprozess hat das deutsche Bürgertum begriffen, dass ihm von nun an ein entscheidender Anteil an der politischen Herrschaft zusteht. Der Punkt, an dem die politische Demokratie des Bürgertums in die bürgerliche Diktatur umschlägt, ist nicht absolut bestimmbar. Da jede bürgerliche Demokratie ein Stück Diktatur zwangsmäßig in sich trägt, ist es oft nur eine Frage der konkreten Zweckmäßigkeit, ob ein Regime sich äußerlich als ein demokratisches oder als ein diktatorisches maskiert. Und auch in den Ländern, in denen durch das Vorhandensein einer gut organisierten Arbeiterbewegung der bürgerlichen Klassenherrschaft in der Demokratie gewisse Grenzen gesetzt sind, hat sich die Herrschaft der ökonomisch mächtigen Kapitalistenklasse mindestens bezüglich der großen Richtlinien der Außenpolitik, der Wirtschaftsund Wehrpolitik durchgesetzt. Diese ökonomische Vorherrschaft des Kapitalismus bildet den gemeinsamen Hintergrund aller bürgerlichen Politik. Wie Mussolini einen führenden Bankier zum Finanzminister ernennen musste, so hat auch die deutsche Koalitionsregierung 1929 als ihre Sachverständigen für die Pariser Konferenz neben dem an sich sen. [Max Adler: Die Staatsauffassung des Marxismus. Ein Beitrag zur Unterscheidung von soziologischer und juristischer Methode, Wien 1922.]
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schon die Interessen der Privatwirtschaft vertretenden Reichsbankpräsidenten Schacht führende Mitglieder des Reichsverbands der deutschen Industrie ernannt, obwohl diese Sachverständigen tatsächlich über die Lasten zu entscheiden hatten, die zum großen Teil das deutsche Proletariat zu tragen hat. So ist die Problemstellung jeder bürgerlichen Herrschaft, unter welcher politischen Form sie auch immer ausgeübt werden möge, insofern einheitlich, als die bürgerlichen Schichten überall um die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems ringen. Ob politische Demokratie, zeitweilige (kommissarische) Diktatur gemäß Art. 48 der Verfassung oder Dauerdiktatur unter Suspendierung der Verfassung, gilt weitesten Kreisen des Bürgertums von seinem Standpunkt aus mit Recht als Zweckmäßigkeitsfrage, die nur unter dem einen Gesichtspunkt zu entscheiden ist: Was dient am besten der Aufrechterhaltung des ökonomischen Status quo? Eine proletarische Verfassungsbetrachtung hat demgegenüber alle Verfassungsinstitutionen, auch die Demokratie und die Diktatur, im konkreten Fall danach einzuschätzen: Wie verändern diese Institutionen die Lage der arbeitenden Klasse? Denn Staats- und Regierungsformen sind niemals an sich gut oder böse. Jede Klasse hat für sich unter ihrer eigenen Verantwortung zu entscheiden, ob im konkreten Fall die eine oder die andere Form für sie gut oder schlecht ist.
Das Wahlrecht In Deutschland mehren sich die Stimmen, die mit dem heutigen Wahlrecht nicht zufrieden sind. Sie werfen ihm vor, dass es unorganisch sei und unfähig, ein wahres Spiegelbild des Bevölkerungswillens zu bilden. Sie meinen, in jeder neuen Wahl nicht eine politische Entscheidung des deutschen Volkes, sondern das monotone Antlitz gleichförmiger Parteimaschinen zu erblicken. Der modernen Quantitätssucht soll die Persönlichkeit des Abgeordneten zum Opfer gefallen, an Stelle einer Repräsentation der Idee die Vertretung von Interessen getreten sein. – Wir geben den Kritikern des geltenden Wahlrechts alle Tatsachen zu, auf die sich ihre Kritik stützt, und treten doch für dieses Wahlrecht ein; wir behaupten, dass sie den Sinn und die Bedeutung des Wahlrechts überhaupt verkennen. Niemals in der Geschichte und auch heute nicht ist es der Zweck eines Wahlrechts gewesen, von sich aus soziale Zustände und deren politische Formen zu ändern. Nicht die technische Waffe des Wahlrechts ist es, die die politische oder soziale
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Verfassung ändert; auf sozialen Umwälzungen beruhende politische Schöpfungsakte ändern die Zustände der menschlichen Gesellschaft. Keines der vielen möglichen Wahlsysteme ist von den jeweiligen Machthabern deshalb durchgesetzt worden, um einer vorhandenen Gesellschaftsordnung den Boden zu entziehen; sie sind alle in der bewussten Absicht eingeführt worden, eine bestehende Gesellschaftsordnung zu erhalten.11 – Als Frankreich 1791 ein Wahlrecht einführte, das die Wahlbefugnis an bestimmte Vermögensvoraussetzungen knüpfte, hatte diese Erschwerung einen politischen Zweck. Sie sollte dazu dienen, den vermögenden Bürgerschichten, die sich nach dem Sturz der absoluten Monarchie mit der Regierung Frankreichs befassten, die Macht zu erhalten und großen Teilen der ärmeren Bevölkerung, hauptsächlich des radikalen Paris, politische Betätigung unmöglich zu machen. Im Jahre 1793 gelangten mit Hilfe gerade jener Pariser Bevölkerung, der man kurz zuvor das Wahlrecht versagt hatte, die zu Unrecht als Schreckensregierung verschrienen Männer zur Herrschaft. Diese hatten nichts Eiligeres zu tun, als alle Zensusqualifikationen abzuschaffen und allen Bürgern das Wahlrecht zu verleihen. Nach ihrem Sturz wurde wieder ein Zensuswahlrecht eingeführt, um den wohlhabenden und im Sinne des Bürgertums besonneneren Schichten die wiedererlangte Macht zu garantieren. Das Zensuswahlrecht, das das Bürgertum der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so in sein Herz geschlossen hatte und das in Preußen bis 1918 als Dreiklassenwahlrecht in Geltung war, war ein bequemes Mittel, die Arbeiterschaft von dem ihr gebührenden politischen Einfluss fernzuhalten. Aus diesen Beispielen geht hervor, dass jedes Wahlrecht nur gemessen werden kann an dem Ziel, das man mit ihm erreichen will; kein Wahlrecht ist an sich gut oder böse, richtig oder falsch; seine Eignung bestimmt sich, solange es in der Welt Klassengegensätze gibt, nur nach dem jeweils mit ihm verfolgten politischen Zweck. Nur von diesem Standpunkt aus ist das Wahlrecht des bolschewistischen Russland verständlich. Wenn es große Schichten der russischen Bevölkerung von der Wahlberechtigung ausschließt und die Wahlen indirekt oder stufenweise, dazu in den meisten Fällen öffentlich und unter Überwachung seitens des Staatsapparates stattfinden lässt, so kann dieser Wahlmethode sicherlich nicht der Sinn innewohnen, exakt festzustellen, welche Meinung die russische Bevölkerung, insbesondere 11 Im Bismarck‘schen Reich kam freilich »die List der Idee« dem Proletariat zugute. Das allgemeine Wahlrecht, eingeführt als konservative Regierungswaffe gegen den Partikularismus und das Besitzbürgertum, wurde zur werbenden Heerschau des selbstständig gewordenen Proletariats.
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der Bauer auf dem platten Land, vom Bolschewismus hat; dazu ist dieses System ungeeignet. Das Gleiche gilt vom Wahlrecht des faschistischen Italien. Hier wird neuerdings, seit dem Wahlgesetz vom Mai 1928, die Kandidatenliste durch den Großrat der Faschistischen Partei aus Vorschlägen der einzelnen faschistischen Organisationen zusammengestellt, und den Wählern bleibt es nur überlassen, Kandidaten dieser einzigen amtlichen Liste zu wählen oder mit Nein zu stimmen oder sich der Stimme zu enthalten. Die Wahl bedeutet in beiden Ländern nichts weiter als ein für die Regierenden unverbindliches Zustimmungszeichen oder Warnungssignal. Sie ist nur eines der vielen Mittel, mit denen die Herrschenden um die Gunst der Masse werben. Die Öffentlichkeit der Wahlen bedeutet, abgesehen von dem regelmäßig hiermit verbundenen Gesinnungsterror, ein Mittel zur Bewusstseinsverbindung der herrschenden Schichten mit den breiten Volksmassen. So hat das Wahlsystem Russlands und Italiens überhaupt nicht den Zweck, die Grundlage politischer Entscheidungen zu sein; sein spezifisch politischer Wert besteht allein in dem Versuch, die breiten Volksmassen in das geltende Herrschaftssystem einzubeziehen, ohne ihnen dafür Einfluss gewähren zu müssen. Demgegenüber haben die Wahlsysteme der parlamentarisch-demokratischen Länder eine andere Bedeutung. In England, Frankreich und den Vereinigten Staaten bestimmt das Wahlergebnis selbst darüber, welche Parteigruppen jeweils zur Herrschaft gelangen sollen. Entscheidend aber ist dabei, dass die Differenzen zwischen den Parteien bis in die jüngste Zeit weniger sachlicher Natur als eben durch die Partnerschaft jenes Wahlspiels (Ämterpatronage) bedingt waren. Als das liberal-bürgerliche Zeitalter in Deutschland mit der Weimarer Verfassung zur Neige ging, wurde das Bismarck‘sche Wahlrecht zu Grabe getragen und ein listengebundenes, von der Parteiwillkür bestimmtes Proportionalwahlrecht geschaffen. Dieses System ist ein Ausdruck dafür, dass die idyllische Zeit des Bürgertums vorbei ist. Das Proletariat marschiert gleichberechtigt in die Kampfbahn der Demokratie ein. Das mit dem Einmarsch des Proletariats zugleich aufkommende Listenwahlrecht hat eine deutliche Änderung des dem Wahlrecht in parlamentarisch-demokratischen Staaten bisher innewohnenden Sinnes und Zweckes bewirkt. Mit dem bolschewistischen und faschistischen Wahlrecht hat die deutsche Wahl insofern gewisse Ähnlichkeit, als auch sie keine bestimmende Einwirkung auf den Gang der politischen Ereignisse besitzt. Die Erfahrungen der Nachkriegszeiten haben das deutsche Proletariat eindringlich gelehrt, dass auch eine sehr hohe Mandatsziffer keine ausschlaggebende politische Macht bedeutet, und jener alte Traum der 51-
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prozentigen Mehrheit entpuppt sich endgültig als das, was er immer gewesen ist, als grob mechanistische Spielerei. Auf der andern Seite teilt das deutsche Wahlrecht mit dem französischen und angelsächsischen dessen Freiheit und Allgemeinheit. Es ist der Sinn des bei uns geltenden Proportionalwahlrechts, die Klassenfronten mathematisch genau widerzuspiegeln, ohne dass freilich die jeweilige Feststellung politisch voll ausgewertet werden könnte. Jene Anonymität des Wahlrechts, welche in dem Listenprinzip und in dem Grundsatz der großen Wahlkreise sich verkörpert und die heute vielen Kreisen die Hauptzielscheibe für ihre Angriffe abgibt, ist nur die Konsequenz davon, dass im heutigen Staat das Wahlrecht von der Austragung der Klassengegensätze beherrscht wird. Das deutsche Professorenparlament des 19. Jahrhunderts, in dem sich die Gebildeten über Staatsdinge unterhielten, über die andere entschieden, ist unwiederbringlich dahin. Es würde auch durch eine Verkleinerung der Wahlkreise und durch größere Freiheit des Wählers bei der Auswahl des Abgeordneten nicht wiederkehren. Die Parlamente sind nicht die Orte, in denen sich die Gebildeten der Nation über gebildete Dinge unterhalten. Parlamente sind Stätten zum Aus- als Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter miteinander tragen des Klassenkampfes, und die Parteien,12 die draußen kämpfen, sind auch die berufenen Wortführer im Parlament. Diese Tatsachen würden durch Reformen nur verschleiert, nicht geändert; es ist ehrlicher, wenn jeder Wähler weiß, welches Klasseninteresse sein Abgeordneter vertritt, als wenn die einzelnen lokalen Größen, die vielleicht eine Wahlreform ins Parlament brächten, unter Ausschluss der Öffentlichkeit und damit ihrer Wähler von irgendwelchen »Verbandsinteressen« erobert würden.13 Wir müssen uns mit der Erkenntnis bescheiden, dass das allgemeine Wahlrecht an sich im demokratischen Staat keine politischen Entschei12 Ein besonderer Abschnitt über »Partei und Abgeordneter« fiel leider dem Raumzwang zum Opfer. Die Auffassung vom Wesen der Partei, wie sie der Sozialliberale Radbruch durchgehend vertritt, ist für einen Sozialisten, für den Marxismus zwar kein Dogmenformularbuch, aber doch immerhin die beste Methode der Wirklichkeitsanalyse darstellt, unhaltbar. Es gibt in der Wirklichkeit der Klassenparteien kein geheimes Zusammenwirken des Gegensätzlichen. Die List der Idee, die Institutionen zu wandeln vermag, hat eben nur Platz im Bereich des historisch Notwendigen. 13 Eine Änderung des Wahlrechts ist nur bezüglich der Reichs- und Landeslisten erforderlich; diese müssen beseitigt und die sich dabei ergebenden Überschüsse auf die einzelnen Bezirke verteilt werden. Denn die bestehende Reichsliste bedeutet allein durch die bloße Tatsache ihrer Existenz eine gesetzliche Garantie der Parteibürokratie und erhält nicht nur das an Parteibürokratie, was davon notwendig, sondern das, was augenblicklich vorhanden ist.
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dungen fällen kann, die der Wille der einzelnen Gruppen nicht selbst in die Wege leitet. Auch das freieste Wahlrecht kann nur einen vorhandenen politischen Willen unterstützen, dessen Intensitätsgrad sich in den Wahlresultaten deutlich bemerkbar macht. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht ersetzt nicht den politischen Willen des Proletariats; es setzt ihn, falls es überhaupt für die Arbeiterschaft einen Sinn haben soll, voraus.
Das Parlament Die Verwirklichung der Demokratie, ihre Umsetzung in die staatliche Praxis übernimmt nach der überlieferten Auffassung der westlichen Länder das Parlament. Dieser Tradition hat die Weimarer Verfassung im Großen und Ganzen Gefolgschaft geleistet und deshalb alle Anträge verworfen, die in Anlehnung an die Erfahrungen der russischen Revolution damals in der Nationalversammlung von der USPD vorgelegt wurden. Die Macht, die der Wortlaut der Verfassung dem Parlament gegeben hat, ist groß, gemessen an den anderen staatlichen Faktoren, denen verfassungsgemäß politisches Einwirkungsrecht zusteht. Außer dem Reichspräsidenten, dessen Stellung besonders zu behandeln sein wird, gewährt die Verfassung in erster Linie dem Reichsrat einen gewissen stetigen politischen Einfluss. Sein Charakter als Vertreter der verschiedensten Länderinteressen lässt ihn aber zu einem ernst zu nehmenden Gegenspieler des Reichstags nur werden, wo es sich um die Garantie der spezifischen Finanz- und Verwaltungsbelange der Länder handelt. Maßgebenden politischen Entscheidungen des Reichstags, die nicht auf diesem Gebiet liegen, hat der Reichsrat bislang noch keine Schwierigkeiten bereitet und wird es bei der Defensivrolle, in die die Länder heute immer mehr gedrängt werden, auch weiterhin kaum tun. Ferner kommt als staatsrechtliche Größe, die die Entscheidungen des Reichstags hemmen oder ihnen eine andere Richtung geben kann, das Volk in Betracht. Der Ausdruck »Volk« wird hier in dem Sinne verstanden, wie ihn die Bestimmungen der Reichsverfassung über die Volksgesetzgebung auffassen. Diese Bestimmungen durchbrechen theoretisch die Parlamentsherrschaft und waren konsequenterweise in dem in dieser Beziehung streng liberalen Verfassungsentwurf von Hugo Preuß nur insoweit enthalten, als sie der Überwindung von Meinungsverschiedenheiten zwischen höchsten Reichsinstanzen dienten. Die nun-
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mehr Verfassung gewordenen Bestimmungen geben dem Volk als solchem über den Kopf des Parteienparlaments hinweg die Möglichkeit, vom Reichstag beschlossene Gesetze zu verwerfen oder neue Gesetze zu begehren und zu erwirken. Jedoch kann das Volk, das heißt die gesamte in einem Staat wohnende wahlberechtigte Bevölkerung nur auf ihm vorgelegte, formulierte Fragen mit Ja oder Nein antworten. Das Volk ist also von der Art der Fragestellung abhängig, die ihm eine Behörde oder eine Interessentengruppe vorlegt. Dazu kommt, dass sich in der Praxis wesentliche Fehlerquellen in Bezug auf die konstruktive Behandlung dieser Verfassungsmaterie herausgestellt haben. Nach durchaus herrschender Ansicht ist Voraussetzung des Durchdringens des Volksentscheides die Beteiligung der Hälfte aller Wahlberechtigten. Dadurch wird praktisch die Entscheidung von der Zahl der zu Hause Bleibenden abhängig gemacht. Während dieser Volksteil bei den Wahlen unberücksichtigt bleibt, gibt er hier erfahrungsgemäß gegen die Antragsteller (Fürstenenteignung) den Ausschlag. Hierzu kommt, dass die Regierung unter Hinweis auf die Bestimmung der Reichsverfassung, die den Volksentscheid über Abgabengesetze und Haushaltsplan nur dem Reichspräsidenten vorbehält, fast jedem Volksbegehren die Zulassung versagen kann. Aus einem realen Verfassungsinstitut ist hier ein Propagandamittel geworden, das weder den verpflichtet, der es benutzt, noch denjenigen ängstigt, gegen den es gerichtet ist. Der geringe Widerstand, den das Parlament an den anderen, nach dem geschriebenen Verfassungsrecht maßgebenden Faktoren findet, lässt anscheinend seiner Betätigung weiten Spielraum. Die großen verfassungsrechtlichen Möglichkeiten, die das Parlament besitzt, haben zu Erörterungen über seine politische Führerrolle und über das Verhältniss von politischem Führer und Parlament zueinander Anlass gegeben. Auf sozialistischer Seite ist ein besonders typisches Beispiel hierfür die Schrift von Geyer über »Führer und Masse in der Demokratie«.14 Meist verdanken solche Erörterungen ihre Entstehung der Unkenntnis des Bedeutungswandels, den das Parlament seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts bis auf unsere heutige Zeit durchgemacht hat. Im Anfang des vorigen Jahrhunderts bedeutete Herrschaft des Parlaments die Parole des liberalen Bürgertums, mit der es gegen die halbfeudale Monarchie ankämpfte und unter der es zur Herrschaft gelangte. Das deutsche Bürgertum idealisierte diese Geschichtsperiode, die ihren Niederschlag insbesondere in dem Frankreich der 40er Jahre des vergangenen Jahrhunderts fand, das Karl Marx in seinen »Klassenkämpfen in Frank14 [Curt Geyer: Führer und Masse in der Demokratie, Berlin 1926.]
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reich«15 unübertrefflich wirklichkeitsnah geschildert hat. Von all dieser Bourgeoisieherrlichkeit blieb in Deutschland nur der kurze Traum der 48er Zeit zurück. Traum und Hoffnung des gebildeten Bürgertums in Deutschland bezogen sich in Wirklichkeit auf den Zwischenzustand, der in Frankreich und England eingetreten war, als die Machtstellung der feudalen Monarchie faktisch beseitigt war und das Proletariat erst in den Anfängen seines politischen Aufstiegs sich befand. Die durch das damalige Parlament ausgeübte Herrschaft der Schichten von »Besitz und Bildung« war die Grundlage der Führerrolle des Parlaments, für deren Unantastbarkeit das Zensuswahlrecht Sorge trug. Jene Herrschaft wurde teils durch Parlamentsfraktionen selbst, teils in Form des noch heute bei uns so bewunderten englischen PremierministerSystems ausgeübt. – Die Bedeutung des Parlaments im geeinten Reich der Bismarck’schen und Nachbismarck’schen Zeit war auf einem Zusammengehörigkeitsgefühl in wesentlich negativem Sinn aufgebaut, und negativ war auch sein praktisch wichtigstes Recht, das Budgetbewilligungsrecht, das die eifersüchtig gehütete Quelle seiner politischen Bedeutung darstellte.16 Die Einheit des Parlaments war allenfalls die Einheitsfront derer, die mit dem herrschenden System nicht zufrieden waren. Diese Einheit zerbrach in dem Augenblick, als der gemeinsame Gegner, die halbfeudale Monarchie, verschwand und die so heiß ersehnte Macht mit mindestens einem halben Jahrhundert Verspätung endlich erlangt wurde. Mit der Einheit des Parlaments ging auch seine Macht dahin. Die spätliberale Auffassung lässt im Gefolge Max Webers jene reale Grundlage des parlamentarischen Systems des 19. Jahrhunderts außer Acht und betrachtet dieses System nur als Mittel zur Führerauslese. Dabei vergisst sie, dass Führerauslese eine mehr technische Funktion ist, die nur in der damaligen Zeit bei der vorhandenen Klasseneinheit des Bürgertums vom Parlament ausgeübt werden konnte. Jener Parlamentarismus des 19. Jahrhunderts hat im dualistischen Klassenstaat des 20. Jahrhunderts seine Existenzgrundlage verloren. Die 15 [Karl Marx: Klassenkämpfe in Frankreich, in: MEW Band 7, Berlin 1960, S. 9-107.] 16 Heute hat das Budgetrecht, das im Parlament der Zeit von 1870 bis zum Kriegsausbruch eine so große Rolle einnahm, trotz aller entgegenstehenden Äußerungen, die man gerade in der Gegenwart vernimmt, keine große Bedeutung mehr; denn die Mehrheit der bewilligenden Parteien und die zu kontrollierende Regierung gehören meist denselben oder befreundeten Interessentengruppen an, die Opposition aber ist zur wirklichen Kontrolle als Minderheit nicht in der Lage. Das »selbstbewusste Parlament«, von dem Hugo Heimann in seiner Schrift »Der Reichshaushalt«[, Berlin 1928,] S. 27 spricht, gehört ebenfalls einer vergangenen Geschichtsepoche an, und die »Praxis des politischen Alltagslebens« mit ihren »Rücksichtnahmen« hat das Budgetrecht stark durchlöchert.
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Technik der Führerauslese findet nunmehr außerhalb des Parlaments, innerhalb der einzelnen Klassenorganisationen statt, und das Parlament ist nur die öffentliche, weithin sichtbare Stätte, auf der die vorher erwählten Führer auftreten. Dort verkünden sie die Forderungen der Klassen, die in der parlamentarischen Diskussion nur festgestellt, nicht aber auf ihre Richtigkeit geprüft werden können. Wohl hat die Weimarer Verfassung formell direkte ökonomische Einflüsse der einzelnen Interessengruppen auf das Parlament ausgeschaltet. Sie hat auch von dem Versuch Abstand genommen, die Einflusssphären von Kapital und Arbeit verfassungsmäßig festzulegen, wobei es sich im Jahre 1919 nur um die Festlegung des Einflusses der Arbeitnehmer hätte handeln können. Nicht hat sie zu verhindern vermocht, dass die ökonomischen Kräfte nach ihren jeweiligen Stärkeverhältnissen politische Machtstellungen bezogen. Indem die ökonomischen Mächte, in die Form politischer Parteien gekleidet, vom Parlament Besitz ergriffen, handhabten sie zwar dessen Technik als vereinfachtes und relativ friedliches Mittel des Klassenkampfes, falls sie ihnen Vorteil gewährte, dachten aber keineswegs daran, sich ihr zu unterwerfen, wenn sich diese Technik in der Form von Mehrheitsbeschlüssen gegen sie zu wenden drohte.
Die Grundrechte – das sachliche Arbeitsgebiet des Staates Niemand hat den Gegensatz zwischen den Grundrechten in ihrer aus dem 18. Jahrhundert überlieferten Form und dem demokratischen Verfassungsprinzip besser und treffender gewürdigt als Karl Marx. In einer seiner frühen Schriften, der »Heiligen Familie«, zeigt er in dem Kapitel »Kritische Schlacht gegen die französische Revolution« die weite Spannung auf, die zwischen einem einheitlichen demokratischen Staatsbewusstsein und den liberalen Grund- und Menschenrechten bestand. Diese Spannung war umso bedeutsamer, als gerade die französische bürgerliche Revolution diese Menschen- und Grundrechte zum inneren Gestaltungsprinzip ihres neuen antimonarchischen Staates machen wollte. Marx sagt dort: »Robespierre, Saint-Just und ihre Partei gingen unter, weil sie das antike realistisch-demokratische Gemeinwesen, welches auf der Grundlage des wirklichen Sklaventums ruhte, mit dem modernen spiritualistisch-demokratischen Repräsentativstaat, welcher auf dem emanzipierten Sklaventum der bürgerlichen Gesellschaft beruht, verwechselten. Welche kolossale Täuschung, die moderne bürgerliche
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Gesellschaft, die Gesellschaft der Industrie, der allgemeinen Konkurrenz der freiere Ziele verfolgenden Privatinteressen, der Anarchie, der sich selbst entfremdeten natürlichen und geistigen Individualität in den Menschenrechten anerkennen und sanktionieren zu müssen und zugleich die Lebensäußerung dieser Gesellschaft hinterher an einzelnen Individuen zu annullieren und zugleich den politischen Kopf dieser Gesellschaft in antiker Weise nachbilden zu wollen!«17
Die überlieferten Grundrechte sind in all ihren Freiheiten von Anfang an gleichsam Garantien des bürgerlichen Einzelindividuums gegen seinen eigenen Staat gewesen. Dennoch hat die feierliche Proklamierung der Freiheit, des Eigentums, der Sicherheit und des Widerstandsrechts nicht deshalb Bedeutung erlangt, weil hier Prinzipien ausgesprochen wurden, die in ihrem Grundgehalt schon lange vorher zu dem geistigen Rüstzeug des zur Neige gehenden 18. Jahrhunderts gehört haben; vielmehr haben die von allen revolutionären Verfassungen Frankreichs fort übernommenen Menschenrechte mit dazu beigetragen, Frankreich vor den Augen der Mitwelt jene sittliche Größe zu verleihen und propagandistische Wirkung zu sichern, die einen großen Teil des Erfolgs des revolutionären Frankreich ausmachte. Die Menschenrechte haben an der Begründung des französischen bürgerlichen Staates einen nicht zu unterschätzenden Anteil gehabt. Eine solche Bindekraft hat ihnen im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht mehr innegewohnt; damals, als es galt, sich mit den Errungenschaften des bürgerlichen Staates einzurichten, zeigte sich, dass ihre Kraft doch nicht ausreichte, deren prinzipiell astaatlichen und asozialen Grundgehalt zu überwinden. Diese Kluft wäre noch größer geworden, wenn im 19. Jahrhundert mit seinen zahlreichen absolutistischen Restbeständen das Bürgertum die Schutzfunktion der Grundrechte nicht dringend zum Ausbau seiner Klassenstellung gebraucht hätte. Als im Jahre 1919 für die neue deutsche Republik eine Verfassung zu schaffen war, kam eine Übernahme der Grundrechte in ihrer überlieferten Form nicht in Frage; denn bei der damaligen Stärke sozialistischer Bestrebungen konnten diese Grundrechte nicht als konstituierendes Prinzip für den neuen Staat ausreichen. Der Abgeordnete Friedrich Naumann war es, der es am deutlichsten von allen an den damaligen Verfassungsberatungen Beteiligten empfand, dass die neue Grundrechtsschöpfung, falls sie nicht der Bedeutungslosigkeit anheimfallen sollte, sich nicht mehr in den ausgefahrenen Bahnen des Liberalismus bewegen durfte. Naumann sah, dass drüben in Russland ein neuer 17 [Friedrich Engels, Karl Marx: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik gegen Bruno Bauer und Kunsorten, in: MEW Band 2, Berlin 1972, S. 129.]
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Staat entstanden war, der entschlossen war, den sozialistischen Prinzipien zum Durchbruch zu verhelfen, und der diesem Willen in seinen Grundrechten, den »Rechten des arbeitenden und ausgebeuteten Volkes«, in propagandistisch höchst wirksamer Weise Ausdruck gab. Die Idee des sozialen Staates war es, die Naumann dem Individualismus der liberalen Grundrechte und dem sozialistischen Willen der Arbeiterschaft entgegenstellte. Naumann setzte bei den Vertretern der kapitalistischen Wirtschaftsordnung so viel Einsichtsfähigkeit und Bereitwilligkeit zur Selbstbegrenzung voraus, dass er glaubte, sie würden sich in den Dienst eines humanen Nationalstaates, auch wenn er den Forderungen der Arbeiterklasse weitgehend entgegenkäme, einordnen. Naumanns knappe Schlagzeiler wie auch die endgültige Fassung der Grundrechte sind aus der Absicht heraus entstanden, der staatlichen Betätigung eine Marschroute, ein verbindliches Programm zu geben. Sie enthalten das sachliche Arbeitsgebiet des Staates. Die Verfassung beantwortet nach der Frage: wie setzen sich die staatlichen Organe zusammen? die Frage nach deren Wirkungskreis. Dabei versucht sie diese Frage nicht, wie die liberalen Staatsverfassungen des Westens, mit dürren Verbotstafeln, sondern mit positiven Bestimmungen zu erwidern. Kultur und Wirtschaft zieht der Staat hierdurch in den Bereich seiner Regelungen ein. Es entsteht jedoch die Frage, ob die Gebiete, über die der Verfassungsgesetzgeber auf weite Sicht hinaus Bestimmungen treffen wollte, ihm so zur Verfügung gestanden haben, wie es hierzu notwendig gewesen wäre. Der äußerst lehrreiche Entstehungsvorgang der Weimarer Grundrechte hat gezeigt, dass dies keineswegs der Fall war. Es hat sich herausgestellt, dass dort, wo der Gesetzgeber im Namen des ganzen Volkes bestimmen wollte, andere im Namen eines Volksteiles sich bereits eingerichtet hatten, wie die Kirche in der Schule oder die Beamtenschaft in dem ureigensten Gebiet des Staates, der Verwaltung. So blieb schließlich von dem ursprünglichen umfassenden Charakter der Grundrechte, in denen die Idee des den Zeitströmungen weit entgegenkommenden Naumann‘schen Sozialstaats trotz Ablehnung seiner äußeren Formulierung stark nachgewirkt hatte, am Ende der Verfassungsberatungen nicht mehr allzu viel übrig. In der Zwischenzeit hatte nämlich die einzelnen Interessentengruppen die Furcht vor der Unersättlichkeit des Sozialismus ergriffen. Sie hatten, dem Beispiel der deutschen Länderregierungen folgend, die Verankerung ihrer wohlerworbenen Rechte, das heißt ihres Interessenkreises, gefordert. Allen Ansprüchen, auch denjenigen des selbständigen Mittelstandes in Landwirtschaft, Gewerbe und Handel auf Verankerung, wurde Rechnung getragen.
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Und da alle verankert werden wollten, blieb dem angeblich die Verfassung beherrschenden Sozialismus nichts weiter übrig, als sich ebenfalls mit verankern zu lassen. Aus dieser Ankerreihe ist das Weimarer Grundrechtssystem zusammengesetzt, das man oft ungenau als Kompromiss bezeichnet. Die Bezeichnung Kompromiss kann zu Irrtümern Anlass geben.18 Unter Kompromiss versteht man gemeinhin eine Lösung, die durch Nachgeben beider Teile gewonnen wird und eine bestimmte Sachlage für eine gewisse Zeitspanne endgültig, eindeutig und abschließend regeln will. Ein solches Nachgeben ist in den Grundrechtsbestimmungen der Weimarer Verfassung nicht erfolgt. Man hat dort vielmehr regelmäßig unter einem dem sozialstaatlichen Wörtervorrat Naumanns entnommenen zierenden Vorspruch oder einleitenden Artikel verschiedene, den entgegengesetztesten Kultur- und Sozialanschauungen entsprechende, Bestimmungen nebeneinandergestellt. So sind die Weimarer Grundrechte in ihren entscheidenden Punkten kein Kompromiss, sondern eine in der Verfassungsgeschichte bisher unbekannte, einzigartige Nebeneinanderordnung und Anerkennung der verschiedensten Wertsysteme; größere Bedeutung haben unter all den mannigfachen Einflüssen, die an der Entstehung der Grundrechte beteiligt waren, sozialistische, liberal-kapitalistische und durch den politischen Katholizismus wirksam gewordene kirchliche Einflüsse geübt. Damit war der Plan eines in den Grundrechten verkörperten, eindeutigen und das Gesamtvolk zusammenfassenden und einenden sozialen und kulturellen Programms, das über bloße Formulierung hinaus die Möglichkeit der geschlossenen Verwirklichung in sich schloss, gescheitert. Die Ausführung oder Nichtausführung der in den Grundrechten niedergelegten und gleichsam angebotenen wirtschaftlichen und kulturellen Zukunftsgestaltung hing davon ab, welche Stärke die einzelnen Interessengruppen bei der Durchsetzung ihres in den Grundrechten enthaltenen Programmpunktes bewiesen. Die erste Gruppe, betitelt »Die Einzelperson«, birgt am meisten von dem »altliberalen Erbgut« des Bürgertums. Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Schutz der Einzelperson gegenüber staatlichen Verwaltungseingriffen. Im früheren monarchischen Staat, gegen den sich diese bürgerlich-rechtsstaatlichen Formulierungen wenden, stand der 18 Man kann diesen Sachverhalt, wie es Carl Schmitt in seiner Verfassungslehre tut, als »dilatorischen Formelkompromiß« [Carl Schmitt: Verfassungslehre, München/Leipzig 1928, S. 32] bezeichnen, das heißt eine Einigung der streitenden Parteien auf eine Formel, die die wirkliche Entscheidung verschiebt. Der Klarheit halber möchte ich vorziehen, einen solchen Sachverhalt überhaupt nicht mit dem Begriff Kompromiss zusammenzubringen.
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Bürger als Einzelindividuum schutzlos der Willkür eines absolutistischen Verwaltungsapparates gegenüber. Der im Verhältnis zum absolutistischen ungleich rationellere bürgerliche Verwaltungsapparat lässt keine Ausnahmebehandlung von Einzelpersonen zu. Überdies ist das Gegenstück des Absolutismus, der einzelne angegriffene und schutzwürdige Bürger, im Zeitalter der Verbände kaum mehr vorhanden, so dass diese Bestimmungen in dem Maße, wie sie uns selbstverständlich geworden sind, an Bedeutung verloren haben. Nur wenige von diesen Formulierungen haben eine über den Schutz des einzelnen Staatsbürgers hinausgehende Bedeutung, wie zum Beispiel der den Verfassungsabschnitt einleitende Satz: »Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich.« Dessen Bedeutung ist jedoch mehr als problematisch. Historisch ist er aus der berechtigten Furcht des Einzelbürgers vor ungleicher Gesetzesanwendung und Verwaltungswillkür entstanden. Heute besteht jedoch lebhafter Streit darüber, ob ihm nicht die bedeutendere Rolle zukommt, als Schutz gegen ungleiche Gesetzgebung zu dienen und den gesetzgebenden Körper selbst zu binden. Diese Auslegung hat dieser Grundsatz hauptsächlich in der Rechtsprechung der Vereinigten Staaten erfahren. Der dortige Oberste Gerichtshof hat mit Hilfe des Satzes von der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz sehr lange die Anfänge einer bescheidenen Sozialgesetzgebung abgedrosselt, indem er Arbeiterschutzgesetze als gegen die Freiheit menschlicher Betätigung verstoßend für verfassungswidrig erklärte. Sowohl die alte Auslegung als auch die neuere, die das Anwendungsgebiet des Satzes von der Gleichheit aller Bürger ins Ungemessene steigert, sind nur höchst unvollkommene Durchgangsstationen, die der wahren Bedeutung des Satzes nicht gerecht werden. Wenn nach der neueren Auffassung die Gleichheitsvoraussetzungen von Akten der gesetzgebenden Organe nachprüfbar sind, so bedarf es dazu eigener Organe, wozu man die angeblich unabhängigen Richter ausersehen hat; diese nehmen heute schon das Recht, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen nachzuprüfen, für sich in Anspruch. An die Stelle der Subjektivität des Parlaments setzt sich damit die Subjektivität einer geistig und sozial viel weniger umfassenden Körperschaft, eines Richterkollegiums, dem so eine in Wahrheit rein politische Aufgabe übertragen wird. Denn eine juridisch messbare, abstrakte Gleichheit gibt es nicht; zeitbedingte Gleichheitsmaßstäbe anderer nach eigenen Maßstäben zu werten, ist nicht Richteraufgabe. Jener im Zeitalter der Monarchie an sich berechtigte, zur Willkürabwehr dienende Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz wird so lange eine Fiktion, ja noch etwas Schlimmeres, ein Instrument der Reaktion bilden müssen, als aus der formalen, der politischen Gleich-
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heit der Rechte und Möglichkeiten nicht die substantielle, und das bedeutet heute die wirtschaftliche Gleichheit geworden ist, solange nicht die Schaffung einer ökonomischen Gleichheitsbasis aus bloßen gleich großen gesetzlichen Möglichkeiten gleich große Chancen ihrer Verwirklichung gemacht hat. Heute dient dieser Satz nur als Garant des Bestehenden und erfreut sich bei allen kapitalistischen Interessentengruppen steigender Beliebtheit, er wird als Sperrmaßnahme gegen jede Veränderung des ökonomischen Status quo benutzt und unter dem Deckmantel des Gleichheitsschutzes mit seiner Hilfe die größte Ungleichheit, die gerade bestehende Güterverteilung, sanktioniert. An der Übernahme dieses alten Verfassungsgrundsatzes von der Gleichheit vor dem Gesetz zeigt sich, wie mehrdeutig solche scheinbar so klaren Verfassungsbestimmungen sind. In Wirklichkeit hat der Grundsatz von der Gleichheit vor dem Gesetz dreimal in verschiedenen Zeiten verschiedenen Bedeutungsinhalt. Der frühliberalen Zeit war er Abwehr von Verwaltungswillkür, der hochkapitalistischen ist er Garant der bestehenden Sozialordnung, der sozialistischen wird er zur Fundierung der ökonomischen Gleichheitsbasis dienen. Nur durch die Aufzeigung seiner Funktion innerhalb einer gegebenen sozialen Ordnung erhellt die reale Bedeutung des Satzes von der Gleichheit vor dem Gesetz.19 Außerordentlich problematisch und doch für das Schicksal des Weimarer Verfassungswerks von ausschlaggebender Bedeutung ist der Versuch der Regelung des Wirtschaftslebens und sein Erfolg. Was die Hauptfrage: Privateigentum oder Gemeinwirtschaft? betrifft, so bleibt die Weimarer Verfassung ihrer oben gekennzeichneten Methode getreu. Neben Gemeinplätze, die niemand verpflichten und auf die sich niemand berufen kann, stellt sie die beiden möglichen Wirtschaftssysteme, privateigentumserhaltenden Kapitalismus und Gemeineigentum voraussetzenden Sozialismus, gleichberechtigt nebeneinander. Sie gewährleistet zwar das Privateigentum, sieht aber seine Überführung in Gemeineigentum ausdrücklich vor. Auf Grund der Tatsache, dass die Nebeneinandersetzung der Wirtschaftssysteme sich hier in der technischen Möglichkeit der Überführung von einem ins andere äußert, ist die Meinung entstanden, dass der Artikel 153 der Reichsverfassung 19 Einen besonderen Anwendungsfall dieses Satzes stellt der Art. 134 dar: »Alle Staatsbürger ohne Unterschied tragen im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze bei«, der sich in dem hier nicht näher erörterten Abschnitt über das Gemeinschaftsleben befindet. Die wenig gemeinschaftsfördernde Praxis der deutschen Steuergesetzgebung zeigt, wie sehr gerade diese Bestimmung im Bannkreis eines hochkapitalistischen »Gleichheitsbegriffes« verblieben ist.
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nicht mehr starr am Eigentumsbegriff festhalte. Dies gehe aus seiner Formulierung hervor, die ja schon die Möglichkeit der Enteignung vorsehe. Eine solche Ansicht kann nur auf Unkenntnis der Bestimmungen über das Privateigentum, wie sie sich seit 1789 in allen bürgerlichen Verfassungen finden, beruhen; denn die Weimarer Verfassung hat sich gerade in dieser Hinsicht eng an die überlieferten Vorbilder der bürgerlichen Verfassungen angeschlossen. Sie alle gewährleisten in mehr oder weniger pathetischer Form das Privateigentum und sehen trotzdem eine Enteignung als im öffentlichen Interesse liegenden Ausnahmefall zur Befriedigung eines konkreten Einzelbedürfnisses gegen angemessene Entschädigung vor. Diese herkömmliche Enteignung des Artikels 153 hebt das Privateigentum nicht auf. Gewiss kann man einwenden, dass der Absatz 1 des Artikels 153, auch wenn er das Privateigentum aufrechterhält, doch durch die Worte »sein Inhalt und seine Schranken ergeben sich aus den Gesetzen« in viel stärkerem Maße, als es die andern modernen europäischen Verfassungen tun, dem Gesetzgeber freie Hand lässt, den Rahmen des Eigentums ungleich enger zu ziehen als frühere Jahrhunderte. Die bürgerliche Rechtswissenschaft hat aber diese durchaus mögliche und von einem Teil der Verfassungsgesetzgeber sicherlich begünstigte Ansicht nicht geteilt, sondern hat sich im Gegenteil mit Erfolg darum bemüht, den Rahmen entschädigungsloser staatlicher Eingriffe gegenüber dem Rechtszustand des 19. Jahrhunderts noch bedeutend einzuschränken. Wie sehr der Artikel 153 in der Verfassungs- und Verwaltungspraxis ausschließlich privateigentumsschützende Funktion bekommen hat, zeigt die Rechtsprechung des Reichsgerichts. Sie hat dem Enteignungsbegriff eine grenzenlose Ausdehnung gegeben und so den Staat für jeden im öffentlichen Wohlfahrtsinteresse notwendigen Eingriff entschädigungspflichtig gemacht. Gerade Artikel 153 in Verbindung mit dem hier schon erörterten Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz wird so zum juristischen Bollwerk, hinter dem sich die kapitalistische Wirtschaftsordnung verschanzt. Artikel 155 und 156 enthalten die Möglichkeiten der Sozialisierung und des Zwangszusammenschlusses. Jede Sozialisierungsmaßnahme aber wird von der Reichsverfassung von dem anderen möglichen Wirtschaftssystem, dem auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln beruhenden Kapitalismus dadurch abhängig gemacht, dass die Bestimmungen über die Enteignung auch auf die Sozialisierung Anwendung finden; jede Sozialisierungsmaßnahme wird also so behandelt, als ob es sich um eine Enteignung handelte, und bedarf daher angemessener Entschädigung. Das immer vorhandene Schwergewicht des Bestehenden, in diesem Fall des Privateigentums, wird dadurch, dass die Verfas-
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sung über die Frage, welches Wirtschaftssystem herrschen soll, keine Entscheidung trifft, sondern nur die Möglichkeit einer Sozialisierung vorsieht, deren Durchführung aber etwa später zu erlassenden Einzelgesetzen überlässt, noch sehr verstärkt. Diese Regelung, in Verbindung mit der rein privatwirtschaftlich gedachten Entschädigungsklausel, hat die Entwicklung, die dahin führte, dass es zu Sozialisierungen von Unternehmungen überhaupt nicht kam, zum mindesten begünstigt. Auf dem Gebiet des Grund- und Bodeneigentums sind zur Ausführung der Sozialisierungsbestimmung des Artikels 155 der Reichsverfassung Siedlungs- und Heimstättengesetze erlassen worden. Auch wenn diesen Gesetzen eine intensivere Durchführung zuteilgeworden wäre, als es in Wirklichkeit der Fall war, so würde das doch nichts an der Tatsache ändern, dass hier schon die Bestimmungen der Verfassung in den entscheidenden Punkten versagt, den wahren Gegner jedes demokratischen Staatswesens nicht erkannt haben. Von den Tagen des Tiberius Gracchus über den Schreckensruf des Agrargesetzes in der Französischen Revolution bis zum heutigen Tage ist die Bodenverteilungsfrage immer in erster Linie eine Frage der Begrenzung des größeren Grundbesitzes auf einen Höchstumfang gewesen. Die Weimarer Verfassung lässt diese Frage ganz außer Acht und sieht auch hier an Stelle der sofortigen Vornahme einer Bodenaufteilung durch die Verfassung selbst nur die Möglichkeit individueller Enteignungsakte für Siedler und Wohnstätten vor. Dadurch erschwert sie nicht nur ökonomisch die Lösung der selbstständigen Bauernfrage, sie belässt auch dem gefährlichsten Feind jeder demokratischen Verfassung, dem Großgrundbesitzer, die ökonomischen Grundlagen seiner Machtstellung, die er, solange er sie besitzt, dazu verwenden wird, die Landarbeiter in politischer und ökonomischer Hörigkeit zu halten. Die Entwicklung der letzten zehn Jahre hat klar und eindeutig zugunsten des Privateigentums an den Produktionsmitteln entschieden; sie hat bestimmt, welche der nach der Weimarer Verfassung möglichen Wirtschaftsformen die wirkliche Wirtschaftsform der gegenwärtigen Zeit sein soll. Durch die Tatsache der vollen Aufrechterhaltung des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist auch die Rolle des sogenannten Räteartikels der Weimarer Verfassung bestimmt. Er ist der verfassungsmäßige Niederschlag der Stinnes-Legien-Vereinbarung vom November 1918 und verkündet, dass »die Arbeiter und Angestellten dazu berufen seien, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen, sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken.« Während wenige Verfassungsartikel vorher Sozialisierung und Privateigentum
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prinzipiell zur Auswahl gestellt werden, wird hier eine Zusammenfassung der widersprechendsten Prinzipien versucht. Dabei wird die vorübergehende Arbeitsgemeinschaft, die hier zum Vorbild diente, und die auf der Grundlage des Bestehenden zur gemeinsamen Überwindung äußerer Schwierigkeiten (Liquidierung des verlorenen Krieges) gebildet war, verwechselt mit einer dauernden Arbeitsgemeinschaft. Diese kann freilich nur auf der Konformität sozialer Prinzipien beruhen. Der Gang der Entwicklung hat denn auch aus diesem Räteartikel und seinem wichtigsten Durchführungsgesetz, dem Betriebsrätegesetz, das gemacht, was nach der Lage der Dinge aus ihnen nur werden konnte: ein System von Schutzmaßnahmen für Arbeiter und Angestellte, das in Wirklichkeit nur einen Ausgleich gegenüber der durch Konzentration und Rationalisierung gewaltig gesteigerten Macht der Arbeitgeber bietet.20 Weitergehende Bedeutung, wie sie nach dem Betriebsrätegesetz durch eine Unternehmensbeeinflussung und Kontrolle möglich gewesen wäre, haben diese Bestimmungen nicht erlangt. Das heute herrschende Verhältnis von politischer Form und ökonomischer Macht hat auch der Tätigkeit des Reichswirtschaftsrats die politische Bedeutung genommen. Gedacht war er als eine in ihrem Einflussbereich freilich sehr beschränkte Vertretung aller wirtschaftlichen Interessengruppen neben der rein politischen Vertretung. Dadurch, dass aber das heutige Parlament nur die politische Form für den Austrag ökonomischer Gegensätze ist, nimmt es der der Idee nach gleichgerichteten, staatsrechtlich ungleich schwächeren Tätigkeit des Reichswirtschaftsrats den Raum. Diesen Tatsachen trägt der Entwurf des Gesetzes über den endgültigen Reichswirtschaftsrat, der den bisher nur im Stadium der Vorläufigkeit gebliebenen Reichswirtschaftsrat ersetzen soll, vollkommen Rechnung. Er verlegt die Haupttätigkeit des Reichswirtschaftsrats vom Plenum in die Kommissionen und führt einen besonderen Ermittlungsausschuss ein; er ersetzt die frühere große Mitgliederzahl durch die Möglichkeit der Zuziehung sachverständiger und nicht ständiger Mitglieder und gibt so der ganzen Institution eine andere Richtung. Von den drei Tätigkeitsfeldern, die dem unserem Reichswirtschaftsrat analogen 1925 in Frankreich eingerichteten Wirtschaftsrat gegeben wurden: zu studieren, Lösungen zu suchen und deren Annahme zu empfehlen, dürfte wohl die Errichtung eines umfassenden, mit inquisitorischen Befugnissen ausgestatteten Studienapparates die wichtigste sein; denn Lösungen zu suchen und deren Annahme zu 20 Vergleiche den Aufsatz E. Fränkels zum zehnjährigen Jubiläum des Betriebsrätegesetzes in der Februarnummer der »Gesellschaft« 1930. [Ernst Fraenkel: Zehn Jahre Betriebsrätegesetz, in: Die Gesellschaft, Heft 2, Berlin 1930, S. 117-129.]
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»empfehlen«, lassen sich heute schon Organe, die durch die Macht der Verhältnisse mit größerer Autorität ausgestattet sind, angelegen sein. So haben die Grundrechte des deutschen Volkes im Ganzen gesehen nicht die Funktion erfüllt, die Grundrechten zukommt. Es sind und konnten nach Entstehung und Inhalt keine Werte sein, in deren Namen das deutsche Volk einig sein kann.21 Wohl aber haben sie durch ihre schillernde Mehrdeutigkeit jenen bedenklichen Mangel an politischer Entscheidungsfähigkeit, der die Agonie unseres heutigen politischen Lebens kennzeichnet, erheblich gefördert und dem demokratischen Staatswesen nicht jenen eindeutigen programmatischen Rückhalt gegeben, dessen er und seine ausführenden Organe mehr denn je bedurft hätten.
Regierung Über Regierungsbildung und Regierungsführung enthält die Weimarer Verfassung keine abschließenden und unbedingt zwingenden Vorschriften. Viererlei Gruppen von Bestimmungen kann man, der Darstellung Carl Schmitts folgend, unterscheiden, die, ohne sich gegenseitig auszuschließen, der Regierungsbildung und -führung eine staatsrechtliche Grundlage geben. Einmal ist es der Einfluss der Parlamentsmajorität, deren Vertrauen in mehr oder minder ausgeprägter Form Existenzgrundlage jeder Regierung ist; weiteren Einfluss räumt die Reichsverfassung dem Reichskanzler ein, indem sie ihn die Richtlinien der Politik bestimmen lässt und ihm den Vorsitz samt Stichentscheid im Ministerkollegium gibt. Neben diesem Hinweis auf die Möglichkeit eines Premierministersystems enthält die Verfassung unmittelbar und mittelbar Andeutungen eines Kabinettsystems, beruhend auf der politischen Kollegialität der Minister; hierfür spricht die nach der Reichsverfassung vorgeschriebene kollegiale Beschlussfassung im Kabinett,22 wirksam ergänzt durch Koalitionsabmachungen von Parteigruppen, die in Wirklichkeit die Richtlinien der Politik im vornherein festlegen. Als letztes ist die verfassungsmäßige Einflusssphäre des Reichspräsidenten zu erwähnen, die ausführlich im nächsten Abschnitt behandelt 21 Rudolf Smend: »Verfassung und Verfassungsrecht«, München 1928. 22 Diese Kollegialentscheidung ist für einen Fall durchbrochen; § 21 Abs. 3 der Reichshaushaltsordnung ermöglicht es dem Reichsfinanzminister zusammen mit dem Reichskanzler, die Einstellung einer Ausgabe oder eines Vermerks im Entwurf des Haushaltsplans auch gegen die Mehrheit der übrigen Minister zu verhindern.
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werden wird. – Im Bereich der politischen Praxis lassen sich aus den vielfachen Regierungsbildungen der letzten Jahre drei Grundtypen herausschälen, auf die die in diesem Punkte unendlich erfinderische Praxis zurückgeführt werden kann: 1. Regierungsbildung durch Berufung eines Nichtparlamentariers, Fachmann genannt, zum Reichskanzleramt unter Hinzuziehung anderer sogenannter Fachmänner und einzelner Parteipolitiker als Verbindungsmänner dieser »überparteiischen« Regierung zu den Parteien, Typ Cuno 1923; 2. Regierungsbildung durch feste, auf bestimmte Aufgabenkreise begrenzte Koalitionsvereinbarungen, Typ Marx-Keudell 1927/28; 3. Regierungsbildung durch Betrauung eines Parteiführers mit dem Reichskanzleramt, mit größerer oder geringerer Bindung von Parteigruppen, ohne Zweckvereinbarung, Typ Müller 1928-1930. Diese Einteilung trägt rein orientierenden Charakter23 über die Praxis der Regierungsbildung. Prinzipiell gesehen, unterliegen alle diese Fälle einer Gesetzlichkeit, die meistens schon die Regierungsbildung selbst, immer jedoch die Art der Regierungsausübung bestimmt: im Wesentlichen Spiegelung vorhandener gesellschaftlicher Verhältnisse zu sein. In dieser Hinsicht zeigen alle Regierungen seit langer Zeit eine große Stetigkeit. So wie die gesamtpolitische Lage in den Jahren 1918-1920 bestimmt war durch die Tatsache der deutschen Niederlage, so ist sie es heute wesentlich dadurch, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem in Europa vorläufig alle seine Gegner zurückgedrängt hat. Zwar waren diese Gegner 1917-1919 zahlreich, aber es fehlte ihnen der notwendige gegenseitige Zusammenhang, und sie waren in ihrer Wirksamkeit eingeengt durch ihre konkrete nationale Sieges- oder Niederlagesituation. Das kapitalistische System hat durch seine Selbstkonzentration und durch Zurückdrängung der wirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Körperschaften seine Einflusssphäre in der letzten Zeit erheblich vergrößert. Durch Vereinigung der gesamten Produktion und ihrer Direktion in den Händen weniger Wirtschaftsführer bestimmen diese heute die Richtung der Außen-, Handels- und Wirtschaftspolitik so sehr, dass es nicht mehr nur bei den Vereinigten Staaten unklar bleibt, ob zum Beispiel bei Handelsvertragsverhandlungen und Zollvereinbarungen privatkapitalistische Interessengruppen, die nur gewisse, mit 23 Paul Levi hat in einem seiner geistreichen Aufsätze, »Wieder einmal eine Krise« (»Der Klassenkampf« Nr. 8, [Berlin] 1929), darauf hingewiesen, dass es einer eigenen Doktorarbeit bedürfe, um die Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Arten von Regierungen zu ergründen.
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dem Interesse der Gesamtbevölkerung eines Landes meistens nicht identische Sonderinteressen vertreten, oder Staaten Vertragspartner sind. Weiterhin brachte es die politische Entwicklung Deutschlands mit sich, dass die Trägerin des Monopols der physischen Gewalt, die Reichswehr, einen nicht zu unterschätzenden Faktor im Sinne der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Wirtschaftssystems bildet. Das Reichswehrministerium ist seit Gründung der Republik ein sogenanntes Fachministerium; damit entzog man es jeder möglichen Einwirkung, die sich aus einer innerpolitischen Veränderung ergeben konnte, und stellte es dafür ein für alle Mal ausdrücklich in den Dienst einer als vorhanden vorausgesetzten bürgerlichen Ordnung, die durch von Regierung zu Regierung übernommene Fachmänner verkörpert wurde. Diesen durch die Lagerung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf längere Zeit festgelegten gesamtpolitischen Entscheidungen steht nun die Sphäre gegenüber, die, innerhalb dieses vorbestimmten Rahmens bleibend, dem freien Spiel der politischen Kräfte vorbehalten ist. Sie wird hier im Gegensatz zu der der Gesetzlichkeit der gegebenen kapitalistischen Ordnung mehr oder minder starr unterworfenen »Direktionssphäre« »Verteilungssphäre« genannt. Sie umfasst den Anteil der vom kapitalistischen Wirtschaftssystem in irgendeiner Form abhängigen Bevölkerung am Sozialprodukt, der sich ausdrückt in Tarifverträgen, Bestimmungen über Sozialversicherung, Arbeitslosigkeit, Wohnungswesen, um nur die wichtigsten zu nennen. Hier wirken sich die jeweiligen innerpolitischen Machtverhältnisse zwischen Arbeiterschaft und Kapital aus, die von vielerlei Faktoren abhängig sind und für die die politischen Wahlen oft nur einen trügerischen Gradmesser darstellen. Während innerhalb der »Direktionssphäre« die Regierung sich der Eigengesetzlichkeit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung mit mehr oder minder starker Bereitwilligkeit anzupassen hat, ist sie innerhalb der »Verteilungssphäre« immer mehr zu einem Clearing-House (in diesem Fall am besten mit Kläranlage zu übersetzen) geworden. Ihre Aufgabe ist es, die widersprechenden Wünsche der durch ihre Spitzenverbände vertretenen wirtschaftlichen Organisationen unter steter Berücksichtigung des gerade vorhandenen Stärkeverhältnisses der einzelnen Gruppen so auszugleichen, dass eine Gefährdung der vorgezeichneten gesamtpolitischen Linie vermieden wird. In der letzten Zeit werden im Zusammenhang mit den vielen langwierigen Versuchen der Regierungsbildungen und Umbildungen die Beziehungen zwischen Regierung und Parlament eingehend kritisch erörtert und zur Abänderung empfohlen, um aus den ewigen Krisen
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herauszukommen. Diese Krise, die dazu geführt hat, dass das in Deutschland immer schon, verglichen etwa mit den Regierungsbildungen Frankreichs, sehr schwierige Geschäft der Regierungsbildung von vielen für eine Zwangsliquidierung reif gehalten wird, hat einen sehr berechtigten Grund. Die letzten Wahlen haben die Vertreter der Arbeiterschaft in einer Stärke in das Parlament einziehen lassen, die ihnen zwar nach den Gesetzen der politischen Mechanik einen maßgebenden Einfluss auf die Regierungsbildung verhieß, die aber nicht der ökonomischen Machtverteilung zwischen Arbeiterschaft und Kapital, die sich immer mehr zugunsten des Kapitals verschoben hat, entsprach. Alle Versuche, eine Erneuerung des politischen Lebens Deutschlands durch Ausschaltung des »verderblichen« Parlaments mit seinen starren Parteiprinzipien herbeizuführen, bezwecken in Wirklichkeit nichts anderes, als das Missverhältnis zwischen politischer Mechanik und ökonomischer Gewalt zu beseitigen, die Verteilungssphäre dem Einfluss politischer Machtverschiebung zu entziehen und auch sie in den Rahmen der bürgerlichen Ordnung zurückzuführen. Diesen Versuchen ist praktisch-politisch ein weitgehender Erfolg schon zuteil geworden. Durch die Machtstellung des deutschen Reichsbankpräsidenten auf dem Gebiet der Währungs- und Kreditpolitik ist der Bereich, der dem Spiel der innerpolitischen Kräfte bisher freigegeben war, weitgehend eingeengt worden. Es waren insbesondere die auf dem Gebiet der Sozialpolitik besonders beteiligten Städte, die in der letzten Zeit die funktionelle Abhängigkeit der Verteilungssphäre von der Direktionssphäre zu spüren bekamen. Dazu kommt, dass jede angebliche Neutralisierung eines bestimmten Sachgebietes (Reichsbahn, Reichsbank) dessen Ausschluss von Zugriffsmöglichkeiten der Arbeiterschaft innerhalb des Rahmens der Verteilungssphäre bedeutet. Verfassungspolitisch wirkt sich diese Minderung parlamentarischer Entschlussfreiheit in dem Bestreben aus, die Regierung weitgehend von dem Parlament unabhängig zu machen, da dies immerhin den gegensätzlichen Willen großer Volksteile zu deutlich widerspiegelt. Am radikalsten und konsequentesten in der Trennung von Parlament und Regierung war der vom Reichstag abgelehnte Verfassungsänderungsvorschlag der Deutschen Volkspartei, der für das Misstrauensvotum eine Zweidrittelmehrheit des Reichstags verlangte, die nur bei der dritten Haushaltslesung durch eine einfache Mehrheit ersetzt werden konnte. Gekrönt werden diese Verfassungsreformbestrebungen durch die von der Deutschen Volkspartei aufgenommenen Vorschläge des
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Reichsverbandes der Deutschen Industrie24 bezüglich der finanzpolitischen Stellung des Parlaments. Ausgabenbewilligungen ohne Erlaubnis der Reichsregierung, bei der der Reichskommissar eine maßgebende Stellung erhalten soll, sollen in Zukunft nicht mehr stattfinden. Auf diese Weise soll das Missverhältnis beseitigt werden, welches Popitz einmal mit dankenswerter Offenheit dahingehend ausgesprochen hat, »daß das allgemeine Wahlrecht die bewilligenden Volksvertretungen nicht selten so zusammensetze, daß es nicht gerade diejenigen sind, die in höheren Einkommenssteuerstufen stehen und die Zuschläge hart fühlen müssen, die in den Vertretungen von stärkerem Einfluß sind, sondern vielfach diejenigen, die weniger bemittelte Volkskreise vertreten«.25
Diese Pläne sind durchaus konsequent vom Standpunkt derjenigen aus, die den Gegensatz zwischen den Stellen realer ökonomischer Macht und der äußeren politischen Form zugunsten der ökonomischen Macht beseitigen wollen. Wer aber hinter jener Spannung all die Kräfte sieht, die Gegner der heutigen ökonomischen Machtverteilung sind, wird für die Aktivierung jener Kräfte Sorge tragen müssen. Denn die Fortsetzung jenes Spannungsverhältnisses in die Unendlichkeit ist unmöglich. Kein Staat kann eine solche Disproportionalität auf die Dauer ertragen.
Rechtsstaat und Beamtentum Die Aufgabe des Ausgleichs widerstreitender Interessen innerhalb der Verteilungssphäre liegt nicht allein der Regierung ob; einmal weil sie sich selbstverständlich nur den größeren Gebieten zuwenden kann und die Kleinarbeit dabei untergeordneten Organen überlassen muss, andererseits aber auch, weil ihr das Element der Stetigkeit und Zwischenparteilichkeit, die oft mit Überparteilichkeit verwechselt wird, nicht in dem Maße zukommt, wie es gerade diese Arbeit verlangt. Willkommene Formen zur Bewältigung dieser Aufgabe sind die überlieferten rechtsstaatlichen Einrichtungen. Einst diente die Idee des Rechtsstaates der Austragung des Kampfes zwischen liberalem Bürgertum und Mon24 Ausgeführt in »Aufstieg oder Niedergang? Deutsche Wirtschafts- und Finanzreform 1929, eine Denkschrift des Präsidiums des Reichsverbandes der deutschen Industrie«[, Berlin 1929]. 25 In dem Artikel über Finanzausgleich im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. III, S. 1013. [Johannes Popitz: Finanzausgleich, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Band III, Jena 1926, S. 1016-1042.]
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archie; indem sie aus dem Gedankenkreis und dem politischen Arsenal der konstitutionellen Parteien heraustrat, hat sie einen tiefgreifenden Funktionswechsel erfahren. Ursprünglich war sie das zaghafte Kampfmittel der Schichten von Besitz und Bildung, denen es besonders darum zu tun war, für alle Belange Kompetenzen zu schaffen, die der monarchistischen Exekutive die Möglichkeit zur Erweiterung ihrer Herrschaftsbefugnisse nahmen. Heute ist der Rechtsstaat die Form,26 in der ein großer Teil der Entscheidungen der Verteilungssphäre in einer scheinbar juristischen Form, umgeben von einem Haufen prozesstechnischer Vorschriften, getätigt werden. Schlichtungskammer, Arbeitsgericht und Mieteinigungsamt beruhen alle auf dem Prinzip der Verlagerung der Entscheidung von politischen zu scheinbar der politischen Sphäre entrückten, an juristische Vorschriften gebundenen Stellen. Diese haben in Wahrheit meistens einen Kompromiss als Zwangsausgleich zu verkünden. So wird hier die rechtsstaatliche Form, in der die sozialen Kämpfe im Wege eines Prozessverfahrens zum Austrag gebracht werden, zur Grenzscheide der feindlichen Sozialgruppen, die weit entfernt sind, in ihr das Gesetz der endgültigen Machtverteilung zu erblicken. Für beide bedeutet jedoch ein in rechtsstaatliche Formen gekleidetes Zwangsausgleichsverfahren die Garantie, zwar nur unter Berücksichtigung der jeweils obwaltenden Kräfteverhältnisse zur Geltung zu kommen, aber immerhin dabei auf jeden Fall berücksichtigt zu werden. So kommt es, dass die Arbeitnehmer dort, wo ihnen bisher jeglicher Einfluss versagt war, die Einführung rechtsstaatlicher Formen als Fortschritt begrüßen. Deshalb mündet der Versuch der Geltendmachung ihres Einflusses auf die bisher ihrer Einwirkung unzugängliche Organisation der kapitalistischen Wirtschaft in die Forderung nach einem unabhängigen, rechtsstaatlich organisierten Kartellaufsichtsamt. Neben diesen rechtsstaatlichen Formen, bei denen sich der Ausgleich hinter Prozessvorschriften verbirgt, gibt es noch die Form des Ausgleichs durch einen Schiedsrichter, dessen Wert gerade in der Unabhängigkeit von der Zufälligkeit, die nun jede Prozessvorschrift einmal mit sich bringt, gerade in dem Gegenteil der rechtsstaatlichen Scheinobjektivität des Gesetzes liegt, den Schiedsrichter kraft Person oder kraft Amtes, wie ihn der beauftragte Schlichter oder neuerdings die eigenartige Form des Schiedsministers im Ruhrkonflikt darstellt. Der mit der Institution des Schiedsrichters verfolgte Zweck ist jedoch der gleiche wie der, zu dem die rechtsstaatliche Form benutzt wird. Beide 26 Für das Problem des Rechtsstaates sei auf die ebenso interessante wie allein schon wegen der Art der Fragestellung sehr problematische Schrift Hermann Hellers: »Rechtsstaat oder Diktatur?« Tübingen 1930, hingewiesen.
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wirken durch Recht, Amt oder Person als Ausgleichsorgane in der Verteilungssphäre. Das Funktionieren der rechtsstaatlichen und Schiedsorgane braucht nicht durch eine formelle Unabhängigkeit gewährleistet zu werden. Die Entwicklung der letzten zehn Jahre hat ergeben, dass die Amtsführung aller dieser Beamten, soweit sie sich in der Verteilungssphäre bewegen, nur möglich ist unter Berücksichtigung der gegebenen sozialen Verhältnisse; die Beamten haben selbst das Interesse, in ihrem Verhalten gegenüber den Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine Politik einzuschlagen, die möglichst allen Stellungnahmen gerecht wird; denn zu ihrer Amtsführung bedürfen sie mindestens einer wohlwollenden Haltung dieser Organisationen, die durch Presse, Versammlungen und so weiter größere Menschenmassen beeinflussen. – Anders verhält es sich mit den Beamten der Direktionssphäre, obwohl diese meistens sogenannte abhängige Beamte sind, Offiziere, Legationsräte und so weiter. Sie sind nicht der Beeinflussung der verschiedensten sozialen Organisationen ausgesetzt, sondern befinden sich – trotz aller sogenannter Republikanisierungsversuche – zufolge der realen wirtschaftlichen Machtverhältnisse ausschließlich im Einflussbereich des Bürgertums und seiner großen wirtschaftlichen Organisationen. An dem Begriff der Unabhängigkeit der Justiz zeigt sich, wie sehr die Welt der politisch-ökonomischen Tatsachen Begriffe heute gegenstandslos machen kann, die vielleicht in einem früheren Jahrhundert einen ganz bestimmten verfassungspolitischen Sinn besaßen. Keine Unabhängigkeit27 der Richter hat zu hindern vermocht, dass im Bereich der recht eigentlich zur Direktionssphäre gehörenden Hoch- und Landesverratsmaterie die Tätigkeit des deutschen Reichsgerichts nur eine Reflexerscheinung der herrschenden Machtverhältnisse geworden ist. Und insoweit die anderen Gebiete des Strafrechts nur in ihren Garantiefunktionen für die herrschende Wirtschaftsordnung in Betracht kommen, erfüllen die Gerichte auch heute noch in zwar humaner und rationalisierter Weise keine andere Aufgabe als die Aufrechterhaltung der geltenden Eigentumsordnung. In der politisch irrelevanten Frage der innerkapitalistischen Güterverteilung sind die Gerichte nicht deshalb 27 Zum Problem der richterlichen Unabhängigkeit besitzen wir die ausgezeichnete, in dieser Sammlung erschienene Schrift Ernst Fränkels »Zur Soziologie der Klassenjustiz« [Ernst Fraenkel: Zur Soziologie der Klassenjustiz, Berlin 1927]. Reiches Erfahrungsmaterial für die hier aufgestellten Thesen liefert die Arbeit Franz Neumanns: »Die politische und soziale Bedeutung der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung«, Berlin 1929, beide in der E. Laubschen Verlagsbuchhandlung erschienen.
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unparteiisch, weil sie unabhängig sind, sondern weil es für diese Fragen nur seit Jahrhunderten geltende formale Rechtsregeln und keine wechselnden Maßstäbe politisch-ökonomischer Art gibt. So zeigt sich an dem Beispiel der Justiz am besten, wie wenig verfassungsrechtliche Grundsätze, ob sie sich Unabhängigkeit des Richters oder Pflicht zur Wahrung der verfassungsmäßig festgestellten Staatsform der Republik nennen, die Wirksamkeit des Beamtenkörpers beherrschen. Es sind allein die tatsächlichen politisch-ökonomischen Machtverhältnisse, die in Wirklichkeit Richtung und Art der Beamtentätigkeit bestimmen.
Der Reichspräsident Die Weimarer Verfassung sieht, sich in dieser Hinsicht an die amerikanische Verfassung anschließend, die Wahl des Reichspräsidenten durch das Volk vor. Aber im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten ist er nicht unabhängiger Chef der Exekutive, sondern hinsichtlich aller seiner Anordnungen und Verfügungen an die Gegenzeichnung des Reichskanzlers oder eines Ministers gebunden, die damit dem Reichstag gegenüber die politische Verantwortung übernehmen. Trotzdem hat der Reichspräsident gegenüber der an das Vertrauensvotum des Reichstags gefesselten Regierung eine freiere Stellung inne. Er wird vom Volk, nicht vom Parlament gewählt; er beruft den Reichskanzler und ernennt die Minister; er hat das Recht, den Reichstag aufzulösen, und besitzt gegenüber wechselnden Parlamenten und Regierungen dadurch ein Element der Stetigkeit, dass er regelmäßig sieben Jahre im Amt ist. Diese Verfassungsbestimmungen mögen zu der irrigen Auffassung beigetragen haben, dass der Reichspräsident der einzige wahre Repräsentant der Nation sei, der, dem Parteiengezänk entrückt, keinem Parlament und keinem Sonderinteresse verantwortlich, die gesamte Nation verkörpere. In dieser Richtung bewegen sich die Ausführungen Radbruchs in einem Aufsatz über die Goldbilanz der Reichsverfassung,28 worin er von der Amtstätigkeit des ersten Reichspräsidenten meint, dass man an sie nicht die Maßstäbe der Parteipolitik legen dürfe, da sie nur die volonté générale, den ideellen Willen des Gesamtvolkes, das wahre Interesse der Nation zum Ausdruck bringen dürfe. Diese Auffassung hegte Radbruch bezüglich der Amtsführung des Reichspräsidenten Ebert. Die gleiche Auffassung wird verschiedentlich auch für die Amtsführung Herrn von Hindenburgs vertreten. Hier wird also, 28 [Gustav Radbruch: Goldbilanz der Reichsverfassung, in: Die Gesellschaft, Heft 1, Berlin 1924, S. 57-69.]
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gestützt auf die verfassungsmäßige Stellung des Reichspräsidenten und auf jeweils als vorhanden erachtete persönliche Qualitäten, der Standpunkt vertreten, dass die Stellung des Reichspräsidenten eine klassenjenseitige sei. Dies ist eine Fiktion; zunächst haben die staatsrechtlichen Voraussetzungen dieses Amtes nicht die Bedeutung, die man ihnen beimisst; der Reichspräsident wird zwar vom Volke gewählt, aber auch diese Wahl wird von den Inhabern des politischen Organisationsmonopols, den Parteien, beherrscht, die allein über den hierfür notwendigen technischen Apparat verfügen. Entweder stellen diese selbständig einen Kandidaten auf oder einigen sich mit Nachbargruppen über den Mann ihres Vertrauens. Weiterhin ist das Recht des Reichspräsidenten, einen ihm genehmen Reichskanzler zu suchen und damit die politischen Geschehnisse maßgebend zu beeinflussen, bisher durch die gewohnheitsmäßige Berücksichtigung der durch Neuwahlen oder sonstige politische Ereignisse (Ruhrkampf!) geschaffenen Situationen erheblich eingeschränkt. Jedenfalls muss der Reichspräsident, damit der von ihm erwählte Reichskanzler die Zustimmung der Mehrheit des Reichstags erhält, darauf bedacht sein, einen solchen Mann zu ernennen, dessen Politik dem jeweiligen Kräfteverhältnis der Klassen entspricht. Nur in diesem beschränkten Rahmen kann sich die politische Freiheit und der persönliche Wille des Reichspräsidenten auswirken, kann er die Politik beeinflussen, sei es durch den in seine Hand gegebenen Ernennungsakt, sei es durch ständige Einflussnahme auf die schwebenden Kabinettsentscheidungen. Ein Reichspräsident kann überhaupt nur dann sein Amt ausüben, wenn er in allen grundlegenden Fragen der Politik sich im Einklang mit der Regierung und damit mit den konkreten Machtverhältnissen, deren Widerspiegelung eine jede Regierung ist, befindet. Ein konkretes Beispiel soll dies verdeutlichen. Im Jahre 1923 wurden Thüringen und Sachsen von sozialistischen Regierungen, die das Ziel einer rein sozialistischen Politik ohne Rücksichtnahme auf die im Reich herrschenden Verhältnisse verfolgten, regiert. In Bayern hat zur gleichen Zeit eine extrem rechtsgerichtete Regierung der Durchführung von Reichsgesetzen ihre Zustimmung versagt. Sie hat die bayerischen Truppen zum Abfall von der Reichsregierung bewogen, um mit ihrer Hilfe die Reichspolitik durchsetzen zu können, die ihr als die richtige erschien. Die thüringischen und sächsischen Regierungen wurden schleunigst unter Anwendung des Artikels 48 abgesetzt, diese Länder mit Reichswehrtruppen und Reichskommissaren überzogen und mit deren Hilfe in Thüringen eine Neuwahl
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durchgeführt, deren Ausgang nicht zweifelhaft sein konnte.29 In Bayern wurde keine Regierung abgesetzt, keine fremde Reichswehr betrat den Boden Bayerns, und keine Neuwahl beunruhigte die bayerische Regierung. Es fand vielmehr ein »Gentlemen-Agreement« zwischen Reichsregierung und bayerischer Regierung statt, welches in der Verfassungsgeschichte unter dem Namen »Homburger Vereinbarung« fortlebt. Seinen freundlichen Charakter mag folgender Satz kennzeichnen: »Durch vorstehende Vereinbarung wird der Behandlung weitergehender, in der bayerischen Denkschrift enthaltener Wünsche nicht vorgegriffen.« So wurde der Artikel 48 vom Reichspräsidenten, dem Chef der Exekutive, in zwei mindestens juristisch gleichgelagerten Fällen doch nicht in gleicher Weise zur Anwendung gebracht. Der politische Grund hierfür liegt klar zutage. In dem mitteldeutschen Fall handelte es sich um ein Abweichen von der im Jahre 1923 schon völlig hergestellten und unbestrittenen Maxime des bürgerlichen Staates, während im bayerischen Fall es sich nicht um ein Abweichen vom bürgerlichen Staat überhaupt handelte, sondern nur zwei verschiedene Auffassungen über die Art seiner Verwirklichung sich gegenüberstanden.30 Diese freilich ließen sich durch ein Abkommen beseitigen, was sozialistischen Prinzipien gegenüber unmöglich war.31 Gerade das konkrete Verhalten des Reichspräsidenten bei dieser Sachlage lässt erkennen, dass der ausgleichenden Tätigkeit des Reichspräsidenten, seinem »pouvoir neutre« (neutrale Gewalt) enge Grenzen gezogen sind. Nur innerhalb der gegebenen politischen Machtverhältnisse des bürgerlichen Staates kann sich eine solche Ausgleichstätigkeit auswirken, darüber hinaus aber wird auch der Schiedsrichter zur Partei. So lag es nur in der Logik der damaligen politischen Verhältnisse, dass der Reichspräsident Ebert zwischen Bayern und dem Reich Vermittler, in dem Streit zwischen Sachsen und dem Reich aber Chef der Reichsexekutive war.
29 Der hier nur kurz erörterte Fall ist ausführlich geschildert bei Walter Fabian, »Klassenkampf um Sachsen«, Löbau 1930. 30 Das jetzige schwankende Verhalten der bürgerlichen Regierung gegenüber dem Minister Frick ist in dieser Hinsicht charakteristisch. Da es sich nur um eine neue, den Zeitverhältnissen angepasstere Spielart bürgerlicher Politik handelt, sollen dieser keineswegs von vornherein alle Möglichkeiten abgeschnitten werden. 31 Trotz der Gegensätze, die zwischen Reich und Ländern über verwaltungsmäßige, finanzielle und sogenannte Hoheitsbelange bestehen, zeigt gerade dieses Beispiel, dass im Grunde alle möglichen Differenzen zwischen Reich und Ländern sich als ziemlich belanglos gegenüber der einen Frage erweisen: Sind Reich und Länder ihrer politischen Struktur nach homogen? Beruhen sie auf den gleichen sozialen Ordnungsprinzipien?
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Wie die politische Einwirkungsmöglichkeit des Reichspräsidenten, sei es als Berater, Treuhänder oder als Schiedsrichter, immer im Rahmen der gegebenen Herrschaftsordnung verbleibt, so muss erst recht seine repräsentative Funktion, die auf jener beruht, sich innerhalb dieser Sphäre vollziehen. Der Reichspräsident soll das Reich als Ganzes repräsentieren, dessen Willen in einer für die Gesamtheit des Volkes und für seine völkerrechtlichen Partner richtunggebenden Weise kundtun. Man kann aber nur etwas Gegenwärtiges repräsentieren, etwas, was wirklich existent ist. Mochten und mögen Friedrich Ebert und Herr von Hindenburg an ihre repräsentative Funktion bestimmte, voneinander verschiedene politische Wertvorstellungen geknüpft haben und knüpfen, ihren Charakter erhält diese Repräsentation weder durch die Vorstellung dessen, der repräsentiert, noch dessen, der die Repräsentation entgegennimmt, das Volk, sondern durch die konkrete Gestalt des wirklich Repräsentierten: der gegebenen Machtverhältnisse. In diesem unvermeidlichen und ständig wiederkehrenden Prozess, der den Repräsentierenden hinter den repräsentierten Sachgehalt zurücktreten lässt und der weder vor der Person Stalins, MacDonalds noch Friedrich Eberts Halt gemacht hat, wird offenbar, dass ein ideeller Gesamtwille, wenn er, wie in der Klassengesellschaft, nicht vorhanden ist, auch nicht durch die Person und die Vorstellung des Repräsentierenden geschaffen werden kann. Wenn auch jeder Reichspräsident, wie dies in jeder auf Über- und Unterordnung von Klassen beruhenden Gesellschaftsordnung üblich ist, verkündet, das ganze Volk zu repräsentieren, einschließlich der den gegebenen Machtverhältnissen Widerstrebenden, so ist doch die hieran anknüpfende antimarxistische Vorstellung einer vorhandenen Klassenjenseitigkeit des Reichspräsidentenamts eine Fiktion. Damit fallen alle die besonderen Wertvorstellungen, die man mit dem Amt des Reichspräsidenten zu verbinden pflegt, fort.
Die Verfassung ohne Entscheidung Die großen und berühmten Verfassungen Frankreichs aus den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts stehen am Anfang einer bestimmten Ordnung der menschlichen Dinge. Mit einem aus ihrer geschichtlichen Stellung heraus verständlichen Pathos, das bis in die geglückten und missglückten Verfassungsversuche der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein nachgewirkt hat, verkünden sie den Sieg des neuen, des bürgerlichen Zeitalters. Auf einem der ersten Höhepunkte des bürgerlichen Zeitalters, nach der blutigen Niederwerfung der Pariser Kommune, des ers-
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ten Wetterleuchtens einer neuen Geschichtsperiode, hat sich neben dem Bismarck‘schen Deutschland auch das republikanische Frankreich neue Verfassungsgesetze gegeben. Diese Verfassungsgesetze verschmähten es, sich daran zu erinnern, dass das französische Bürgertum die feudale Monarchie einstens im Namen der unveräußerlichen Menschenrechte gestürzt und sich als deren Statthalter ausgegeben hatte. Die Verfassung, sie war diesem Frankreich nicht mehr als sie Bismarck gewesen ist, die organisatorische Grundlage dessen, was ist. Die Entstehung der Weimarer Verfassung fällt in einen zweiten Höhepunkt des bürgerlichen Zeitalters. Mit der planmäßigen Durchdringung der ganzen Welt durch einen sich selbst organisierenden Kapitalismus fielen die letzten Überreste eines feudalen oder halbfeudalen Systems. Über den bürgerlichen Staat hinaus drängten die Ideengänge der im Gefolge des kapitalistischen Staates mächtig erstarkten Arbeiterschaft, die eben in Russland im ersten Ansturm den bürgerlichen Staat selbst über den Haufen geworfen zu haben schien. Alle diese Tatsachen, die in verhältnismäßig kurzer Zeit das kulturelle und ökonomische Antlitz von Völkern und Ländern verändert hatten, warfen ihren Widerschein auf die Entstehung der Weimarer Verfassung, an deren Wiege das Einzelschicksal des deutschen Bürgertums stand. So erhielt in Deutschland, einem seiner geistigen Struktur nach schon in den 40er, seiner ökonomischen Struktur nach spätestens in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bürgerlichen Land, das Bürgertum die seiner ökonomischen Stellung entsprechende Machtstellung erst zu einer Zeit, als viele schon voreilig wähnten, dass es mit der Macht des Bürgertums vorbei sei. Draußen in den österreichischen und russischen Nachfolgestaaten versuchten Völker, die erst kürzlich ihre Freiheit als Nation erlangt hatten, sich möglichst demokratische Verfassungen zu geben. Ehrfurchtsvoll nach dem Westen und scheu nach dem Osten blickend, übernahmen sie die ererbten Verfassungsformen des 19. Jahrhunderts, ohne zu bedenken, dass der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts, auf den diese Verfassungen zugeschnitten waren, nicht die Probleme des Klassenstaates des 20. Jahrhunderts zu lösen vermag. Mochte das Bewusstsein der erst kürzlich erreichten Staatswerdung es diesen Ländern gestatten, gedankenlos die bürgerlichen Verfassungen Europas auszuschreiben — umso früher fielen sie dafür anarchischen Verfassungszuständen anheim —, das Deutschland von 1919, in dem man damals noch die stärkste Festung des kontinentalen Sozialismus sah, wollte in seinen Grundrechten einen Schritt weiter nach vorwärts tun. Den bürgerlichen Organisationsapparat übernahm es vollkommen mit dem alten Funktionärkörper; in seinen Grundrechten ließ es einer
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neuen Sozialordnung prinzipiell Raum. Man war bereit, der alten wie der neuen Sozialordnung den Staatsapparat zur Verfügung zu stellen und diese neue Ordnung, wie sie auch ausfallen mochte, mit dem Schein der Legalität zu versehen. Die Weimarer Verfassung hat wie Max Weber, der in dieser Hinsicht das Wesen einer Verfassung vollständig verkannte, es für richtig angesehen, nur für alle denkbaren, an die Verwaltung herantretenden Aufgaben freie Bahn zu schaffen. Hier aber liegt der prinzipielle und nie wiedergutzumachende Fehler dieser Verfassung: sie hat sich selbst nicht entschieden. Sie unterlag dem Irrtum, dass die Prinzipien der Demokratie allein schon die Prinzipien einer bestimmten sozialen oder weltanschaulichen Ordnung seien. Sie vergaß, dass die Demokratie nicht mehr ausdrücken kann als das, was vorher schon vorhanden ist. Einer vorhandenen Sozialordnung nach außen Ausdruck verleihen, sie sinnfällig repräsentieren, kann eine Demokratie. Indem man die Formen der Demokratie mit ihrem Inhalt verwechselte, unterließ man, dieser Verfassung ein politisches Programm zu geben. Diese eines eigenen politischen Programms bare, reine Form auf einzelne bürgerliche Bestandteile zurückzuführen, hat das deutsche Bürgertum seit 1919 mit Glück und Geschick unternommen. Der Sinn jeder Verfassung, die den Wendepunkt einer politischen Entwicklung bezeichnen soll, ist es, ein bestimmtes Aktionsprogramm zu verkünden, in dessen Namen die Organisation einer neuen Gesellschaftsordnung stattfinden soll. Diese Aktion wird umso eher durchführbar sein, je mehr sie mit den ökonomischen Verhältnissen übereinstimmt, wie es der Fall war beim Programm der französischen Revolutionsverfassung; sie wird umso weniger durchführbar sein, je weniger sie den gegebenen ökonomischen Verhältnissen adäquat ist, wie dies das Schicksal der russischen Revolutionsverfassung ist. Indem die Weimarer Verfassung unterließ, sich ein Aktionsprogramm zu geben und sich mit der Zur-Wahl-Stellung der verschiedensten Wertsysteme begnügte, glaubten ihre Väter, durch demokratische Verfassungsinstitutionen ein politisches Aktionsprogramm ersetzen zu können, während es die Aufgabe der Demokratie gewesen wäre, selbst dieses Programm erst zu schaffen. Doch »ihr Charakter war, daß sie nichts vertrat, sondern alles zuließ«.32 Ein halbes Jahrhundert früher hätte eine liberal-demokratische Verfassung als nationales Organisationsprinzip 32 Lorenz von Stein über die französische Verfassung von 1795 in seiner sehr lesenswerten Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, Ausgabe 1921, Bd. I, S. 395. [Lorenz von Stein: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Band I: Der Begriff der Gesellschaft und die
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in einem Land mit einer relativ bedeutenden Anzahl politisch, nicht rein geschäftspolitisch interessierter Bürger und einer ökonomisch relativ unabhängigen Presse noch große Wirkungskraft erlangen können. Am Ende des bürgerlichen Zeitalters, als jene denkwürdigen Institutionen wie Rechtsstaat, bürgerliche Bildung, richterliche Unabhängigkeit und Meinungsfreiheit durch die spezifischen Lebensbedingungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems ihren eigentlichen Sinngehalt verloren, hätte die Demokratie nur noch ein eindeutiges Bekenntnis zu einem neuen inhaltlichen Organisationsprinzip der Gesellschaft, dem Sozialismus, neu zu beleben vermocht. Es war das tragische Schicksal der Weimarer Verfassung, dass in ihrer Geburtsstunde im deutschen Proletariat keine Willenskraft aufkommen konnte, die jene Aufgabe der Schaffung einer sozialistischen Demokratie, frei von allem phrasenhaften Radikalismus, aber doch mit der Bereitschaft, das geschichtlich Notwendige zu tun, erfüllt hätte. Das deutsche Bürgertum kam in den Besitz der politischen Gewalt mit fast einem Jahrhundert Verspätung, als die geistigen und ökonomischen Grundlagen seiner Herrschaft schon äußerst fragwürdig geworden waren. Seine politische Zurückdrängung war nur unter der Voraussetzung möglich, dass seine wirtschaftlichen Forderungen auch von der halbfeudalen Monarchie aufgenommen wurden. Niemand kann in der heutigen Situation dem Bürgertum die Selbstaufopferung zumuten – und das ist der wesentliche Unterschied zu der Stellung des Bürgertums gegenüber der halbfeudalen Monarchie im letzten Jahrhundert –, die wirtschaftlichen Forderungen des Proletariats als Gegenleistung dafür zu erfüllen, dass ihm die Sphäre des government und der Bürokratie vorbehalten bleibt. Durch die Untrennbarkeit des politischen vom ökonomischen Bereich ist die selbständige Wirkungskraft der demokratischen Verfassungsinstitutionen in Frage gestellt. Da es keine Möglichkeit gibt, Politik und Ökonomie gegeneinander zugunsten eines nicht vorhandenen Dritten auszuspielen, sank die Verfassung zu einer formalen Spielregel herab, die der Mächtigere bei dem Fehlen einer höheren Instanz beliebig aufzuheben in der Lage ist. Nur eine sozialistische Politik, die die schicksalsgegebene Unüberbrückbarkeit dieser doppelten Frontstellung in ihrer vollen Schwere kennt und ihr nicht mit Scheinantworten ausweicht, kann und wird den Mut und die Verantwortungsfreude besitzen, selbst etwas zu wollen, anstatt wie
soziale Geschichte der französischen Revolution bis zum Jahre 1830, München 1921.]
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diese Verfassung der Auflösung des bürgerlichen Wertsystems nur immer Diener des gerade Mächtigen zu sein.
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[18.] Reichsgericht und Enteignung. Reichsverfassungswidrigkeit des Preußischen Fluchtliniengesetzes?* [1930] In der letzten Zeit haben verschiedene Reichsgerichtsentscheidungen berechtigtes Aufsehen erregt, die den Begriff der Enteignung auf Tatbestände anwendeten, die bislang nicht als Enteignung angesehen worden sind, sondern in das Gebiet der entschädigungslosen öffentlichrechtlichen Beschränkungen gerechnet wurden. Die höchstrichterlichen Entscheidungen wurden nicht mit Unrecht gerade bei den städtischen Verwaltungen als gewaltige Belastungen empfunden, die geeignet sein können, der gesamten städtischen Baupolitik wie auch den Versuchen zu einer großzügigen gesetzlichen Vereinheitlichung des preußischen Städtebaurechts entscheidende Hemmnisse in den Weg zu legen. Man würde aber die Bedeutung dieser Entscheidungen verkennen, wollte man in ihnen nicht den grundsätzlichen Versuch sehen, dem Rechtsinstitut der Enteignung einen ungleich umfassenderen Anwendungsbereich zu sichern, als es in der Zeit vor der Entstehung der Weimarer Verfassung besessen hat. Dieser Versuch ist umso bedeutsamer, als sich ihm mit wenigen, allerdings sehr gewichtigen Ausnahmen1 fast die gesamte deutsche Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft angeschlossen und es sich in der Praxis des deutschen Staatslebens schon öfter ereignet hat, dass jeweils mächtige Interessentengruppen diese Rechtsprechung dazu benutzen, um für jedwede Art notwendig gewordener staatlicher Eingriffe Entschädigungsforderungen auch dann geltend zu machen, wenn sie nicht als gerechtfertigt angesehen werden können. Hat man doch unter diesen Gesichtspunkten sogar versucht, das deutsch-polnische Liquidationsabkommen für verfassungswidrig
* [Erschienen in: Die Justiz. Monatsschrift für Erneuerungen des Deutschen Rechtswesens. Zugleich Organ des Deutschen Richterbundes, Band 5, Heft 9, Juni 1930, Berlin, S. 553-565. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 64-65.] 1 Carl Schmitt: Die Auflösung des Enteignungsbegriffes, JW. 1929, S. 495 ff. [Carl Schmitt: Die Auflösung des Enteignungsbegriffs, in: Juristische Wochenschrift, Jg. 58, Band 1, Heft 8, Leipzig 1929, S. 495-497.]
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zu erklären, weil der Verzicht auf die Durchsetzung von Rechtsansprüchen als Enteignung anzusehen sei.2 Man wird den neueren Bestrebungen nach Ausdehnung des Enteignungsbegriffs zu einem generellen Schutzbegriff für die erworbenen Rechte3 überhaupt, wie sie theoretisch erstmals in einer bekannten Schrift Martin Wolffs4 vorgenommen worden ist, nur dann gerecht, wenn man sie als Kernstück der bürgerlich-rechtsstaatlichen Renaissance auffasst, die seit längerer Zeit in Deutschland eingesetzt hat. Wie aber der Begriff der Renaissance immer unter dem Schutz geschichtlich gewordener, jedoch einmaliger Vorgänge die Stilisierung und Rechtfertigung neuer Ziele birgt, so auch hier. Das Wesen des Rechtsstaats des 19. Jahrhunderts, der bis in unsere Tage eine mit dem Grade seiner Erfüllung zwar immer bedeutungslosere, aber auch unbestrittenere Herrschaft davongetragen hat, lag in der Form beschlossen. War doch die Form des Gesetzes gerade in Deutschland das staatsrechtliche Mittel, mit dem das Bürgertum, die Konstitution, gegen die Waffe der Verordnung, die damals Alleinbesitz des Absolutismus war, siegte. Auf unseren konkreten Fall angewandt: Nicht ob jemandem etwas im öffentlichen Interesse weggenommen wurde, war die rechtsstaatliche Sorge, sondern ob diese Wegnahme unter Wahrung der gesetzlichen Formen und Garantien vor sich ging. Der Rechtsstaat war mehr Garant einer bestehenden Gesellschaftsordnung und erfuhr seine Weiterbildung nur darin, dass er das Netz dieser Garantien immer weiter auszudehnen versuchte, als dass er selbstschöpferisch im politischen Werdens- und Vergehensprozess Stellung nahm. Das Expropriationsinstitut selbst hat die Existenz der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zur Voraussetzung. Der Satz der französischen Revolutionserklärung der Menschenrechte vom September 1791, aus2 Drei Gutachten von Simons, Triepel, Kaufmann haben die Frage der Verfassungswidrigkeit des deutsch-polnischen Liquidationsabkommens auch unter Bezugnahme auf Art. 153 RV. bejaht [Heinrich Triepel, Erich Kaufmann, Walter Simons: Rechtsgutachten über den verfassungsändernden Charakter des deutsch-polnischen Liquidationsabkommens, Berlin 1929], während sie von Anschütz und Schmitt berechtigterweise verneint worden ist [Gerhard Anschütz, Carl Schmitt: Rechtsgutachten, betreffend den Entwurf eines Gesetzes über die Abkommen zur Regelung von Fragen des Teils X des Vertrages von Versailles, Berlin 1930]. 3 Der Verfasser verweist zur Ergänzung insbesondere der historischen Darlegung und der Interpretation des Art. 153 der RV. auf die ausführlicheren Darlegungen in seiner demnächst erscheinenden Arbeit über die Grenzen der Enteignung. 4 Reichsverfassung und Eigentum, in: Festgabe der Berliner Juristenfakultät für Kahl, 1923. [Martin Wolff: Reichsverfassung und Eigentum, in: Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl zum Doktorjubiläum am 19. April 1923, Tübingen 1923, S. 13-30.]
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giebig vorbereitet durch vornehmlich angelsächsisches Schrifttum, »la propriété est inviolable et sacrée; nul ne peut en être privé, que lorsque la nécessité publique, légalement constatée l’exige évidemment et sous la condition d’une juste et préalable indemnité«,5 ist die gesellschaftliche und juristische Grundlage des Expropriationsinstituts, wie es sich in der Geschichte des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Er ist aber zugleich dessen Beschränkung, wie dies Lorenz von Stein schon richtig gesehen hat. Nur in einem Lande wie Frankreich, in dem der Konflikt zwischen Feudalismus und Bürgertum zugunsten des Bürgertums seine Erledigung gefunden hatte, war die erstmalige Herausbildung eines regulären Expropriationsinstituts möglich. Denn den Kampf zweier Klassen kann man nicht durch ein Expropriationsinstitut austragen. Das Expropriationsrecht des bürgerlichen Rechtsstaats ist nur das Korrelat der verfassungsmäßig sanktionierten Herrschaft des Privateigentums. Auf dieser sicheren Grundlage wird die Ausnahme festgestellt, die eben darin ihre Bedeutung und Umgrenzung, freilich auch ihre Relativität findet, dass sie sich niemals auf ganze Eigentumskategorien bezieht, sondern nur die Technik entwickelt, mit der es möglich ist, Einzeleigentum unter Einhaltung aller Rechtsgarantien zu ganz bestimmten technischen Zwecken zu entziehen. An der hieraus resultierenden Unterscheidung zwischen dem auf individuellem Eigentum beruhenden Institut der Expropriation und der im Deutschland des Übergangszeitalters von Feudalismus zu Bürgerherrschaft brennend gewordenen Frage der Behandlung der erworbenen Rechte haben drei politisch so verschieden gerichtete Klassiker der deutschen Staatswissenschaft wie Lorenz von Stein, Julius Stahl und Ferdinand Lassalle immer festgehalten. Für die spätere formalistisch gewordene deutsche Staatsrechtslehre konnte hier überhaupt kein Problem liegen. Die Frage, ob etwa auch unter der Form des Gesetzes sich eine Enteignung verbergen könne, war für eine Staatsrechtslehre, die aus politischen Gründen den Hauptnachdruck darauf legte, dass alles sich unter der Form des Gesetzes vollzog, gegenstandslos. Denn das Gesetz war der vornehmste Ausdruck bürgerlichen politischen Wollens. Auf der anderen Seite aber hat der deutsche Verwaltungsrechtslehrer der Vorkriegszeit Otto Mayer den Schlussstein hinter die Entwicklung des Enteignungsinstituts gesetzt, indem er dessen einzelne Merkmale auf Grund deutscher und französischer Verwaltungspraxis mit klassischer Schärfe 5 [In der vermutlich von Kirchheimer gemeinten Déclaration des Droits de l'Homme et du Citoyen de 1789, Art. 17. heißt es: »La propriété étant un droit inviolable et sacré, nul ne peut en être privé, si ce n'est lorsque la nécessité publique, légalement constatée, l'exige évidemment, et sous la condition d'une juste et préalable indemnité.«]
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herausarbeitete. Die Formulierung Mayers, dass die Enteignung ein obrigkeitlicher Eingriff in das unbewegliche Eigentum des Untertans sei, um es ihm für ein öffentliches Unternehmen zu entziehen, und die weitere Definition, dass ein öffentliches Unternehmen als ein durch seinen besonderen Zweck gekennzeichnetes und abgegrenztes Stück öffentlicher Verwaltung anzusehen sei, auf welches das entzogene Eigentum seinem konkreten Bestande nach zu übertragen sei, hat auch über die Zeit hinaus, für die der bürgerliche Rechtsstaat richtunggebend war, Bedeutung zu beanspruchen. Die individuelle Enteignung entzieht und überträgt Eigentum seinem körperlichen Bestande nach. Sie entzieht und überträgt aber nicht planmäßig, um die frühere Verwendungsform erneut und organisatorisch verbessert wiederaufzunehmen, sondern lässt die neue Daseinsform allein vom Willen des Exproprianten her bestimmen. Hier in dieser reinen Zufälligkeit liegt allein die moralische Rechtfertigung der Entschädigungsforderung. Die Enteignung geht von keinem bestimmten vorgefassten Gesamtplan aus, und die Gesichtspunkte, unter denen sie betrieben wird, sind rein technischer Art. Darin liegt übrigens auch die Rechtfertigung des heute verworfenen Ausdrucks Zwangskauf statt Expropriation, der wohl aus konstruktiven Gründen nicht haltbar ist, aber den soziologischen Tatbestand besser wiedergibt. Er weist auf die diffuse Ausübung der Expropriation hin. Die Weimarer Verfassung hat die Form des bürgerlichen Rechtsstaats erfüllt und entleert; sie hat sie erfüllt, indem sie etwa noch vorhandene Lücken im öffentlichen Klagensystem auszufüllen bemüht war, und sie hat sie entleert,6 indem sie der Grundvoraussetzung des bisherigen Rechtsstaats, der alleinigen Herrschaft der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, staatsrechtliche Gegengewichte gab. Die Form des Rechtsstaats war leer geworden. Indem man versuchte, die vergangenen bürgerlichen Voraussetzungen ihr aufs Neue zum Inhalt zu geben, hat man ihr Gesicht rückwärtsgewandt. Bewusst hat diesen Versuch neuerdings Friedrich Darmstädter in seinem Buch über die Grenzen der Wirksamkeit des Rechtsstaats unternommen,7 in dem mit voller Deutlichkeit nunmehr darauf abgezielt wird, die materielle Staatstätigkeit einer Kontrolle zu unterstellen, die inhaltlich im Namen eines rein bürgerli6 Zur prinzipiellen Diskussion über den Rechtsstaat siehe Carl Schmitt: Verfassungslehre[, München/Leipzig 1928]; Hermann Heller: Rechtsstaat oder Diktatur, Tübingen 1930. 7 [Friedrich Darmstaedter: Die Grenzen der Wirksamkeit des Rechtsstaates: eine Untersuchung zur gegenwärtigen Krise des liberalen Staatsgedankens, Heidelberg 1930.]
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chen Normensystems ausgeübt wird. Unter diesem Gesichtspunkt wird – ein symptomatisches Zeichen – eine inhaltliche Kontrolle des Enteignungsaktes nach seiner Zielsetzung hin durch richterliche Behörden gefordert. Hier ist der konsequente Schlusspunkt einer neuen bürgerlich rechtsstaatlichen Rückwärtsentwicklung, wie sie sich in erster Linie auf dem Gebiet des Enteignungsrechts angebahnt hat. Was das 19. Jahrhundert streng schied, wird vom 20. Jahrhundert vermengt. Der Schutz vor individuellen Expropriationsakten wandelt sich in einen Schutz aller erworbenen Rechte überhaupt, in eine richterliche Sanktionierung des Status quo. Hierin liegt die ungeheuer folgenschwere Bedeutung der reichsgerichtlichen Rechtsprechung in den letzten zehn Jahren. Diese Rechtsprechung hat zuerst zögernd, dann immer sicherer und eindeutiger werdend, dazu geführt, dass heute unter Enteignung nicht mehr individuelle Eingriffe auf gesetzlicher Grundlage begriffen werden, sondern dass Enteignung heute in jedem staatlichen Akt gesehen werden kann, der in irgendeiner Weise in die private Rechtssphäre eingreift.8 Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass es heute kaum mehr Gesetze gibt und geben kann, die nicht irgendwelche Individuen in irgendwelchen Belangen9 stören. Nimmt man dazu, dass heute der Unterschied zwischen einer objektiven Rechtslage und einem subjektiven Recht nicht mehr die Schärfe besitzt und gar nicht besitzen kann wie früher, so ist die Gefahr noch größer. Denn gerade formal-rechtsstaatliches Denken hat dazu geführt, überall Schutz durch Klagensysteme zu eröffnen; da aber der Klagschutz das wichtigste Kennzeichen des subjektiven Rechts ist, so tun sich hier unerfreuliche Perspektiven auf, deren soziale Gefahr darin besteht, dass für Monopolstellungen jeder Art neue, bei unserer Reichsgerichtsjudikatur nicht aussichtslose Verteidigungsmöglichkeiten geschaffen werden. Die Gefahr dieser Judikatur wird sehr deutlich an einer Entscheidung, die die Verordnung des Reichspräsidenten über die Ablieferung aus8 Das Urteil des Staatsgerichtshofs vom 23. März 1929, RGZ. Bd. 124 Anhang S. 19 ff. (Ungültigkeit der preußischen Notverordnung vom 10. Oktober 1927 über einen erweiterten Staatsvorbehalt zur Aufsuchung und Gewinnung von Steinkohle und Erdöl.) – Abschnitt B III der Urteilsgründe, S. 32/34 a. a. O. – zitiert zwar jene herrschende Rechtsprechung des Reichsgerichts, enthält aber sachlich eine Abkehr von ihr. 9 So haben die neuen Zollgesetze die Gefrierfleischimporteure dazu veranlasst, Enteignungsentschädigungen dafür zu verlangen, dass sie ihre auf Grund der früheren Gesetze in Kühlanlagen investierten Kapitalien durch die nunmehrige Gesetzgebung verloren haben. Dass hier von Enteignung nicht die Rede sein kann, braucht wohl nicht ausdrücklich betont zu werden.
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ländischer Vermögensgegenstände vom 25. August 192310 betrifft. Dort ist bestimmt, dass diejenigen Rechtspersönlichkeiten, die im Besitz gewisser ausländischer Zahlungsmittel und Wertpapiere sind, davon eine bestimmte Anzahl abzuliefern haben, wofür sie als Gegenleistung Goldanleihe, Reichsmark oder Gutschrift auf wertbeständiges Steuerkonto erhalten. Das Reichsgericht sieht in der Tatsache, dass hier nicht allen Staatsangehörigen eine gleichmäßige Ablieferungspflicht allgemein auferlegt, sondern nur die Ablieferung gewisser einzeln bezeichneter Wertgegenstände verfügt wird, eine starke begriffliche Annäherung an die Enteignung, woraus sich die Anwendung des Art. 153 Abs. 2 rechtfertige. Hier mangelt es an allen Merkmalen, die die Verwaltungsrechtslehre als Kennzeichen der Enteignung herausgearbeitet hat. Hier wird nicht auf Grund eines Gesetzes enteignet, sondern das Gesetz bestimmt selbst die notwendig erscheinende Maßnahme. Damit ist schon die wichtigste Schranke gefallen. Aus der richterlichen Kontrolle über den Verwaltungsakt ist eine generelle Kontrolle der staatlichen Tätigkeit geworden. Aber wenn man auch die wohl unrichtige Ansicht vertritt, dass individuelle Akte des Gesetzgebers zur Enteignungstheorie gerechnet werden können, so ist doch unerfindlich, worin hier ein solch individueller Akt liegen soll. Die Einschränkung des freien Eigentümerbeliebens ergibt sich zwingend aus dem Tatbestand selbst; der Staat konnte zu dem finanzpolitisch notwendigen Zweck einen Devisenvorrat anzulegen nur bestimmte Devisen hochvalutarischer Länder brauchen; soweit er diese brauchen konnte, ist eine generelle Ablieferungspflicht verfügt. Dass der Kreis der hiervon Betroffenen ein begrenzter war, ändert am generellen Charakter der Verordnung nichts. Deutlich erhellt hier die Gefahr, dass eine solche Rechtsprechung unweigerlich zu einer Garantie des Status quo führen muss. Jede staatliche Maßnahme kann sehr oft nur einen bestimmten Kreis von Personen betreffen, da gerade dieser bestimmte Kreis zu den Dingen Zugang hat, auf die der Staat im öffentlichen Interesse einwirken muss. Trotzdem ist hierin ein Individualisierungsvorgang nicht zu erblicken. Im Gegenteil findet dadurch eine Generalisierung statt, dass der Staat von allen Devisenbesitzern etwas verlangt und dass es ihm ganz gleichgültig ist, wer diese Devisenbesitzer in concreto sind. Außerdem fehlt es an einem öffentlichen Unternehmen, an einem abgegrenzten Stück staatlicher Verwaltung, auf welches die Devisen übertragen werden sollten. Der Versuch der Währungsstabilisierung ist kein Unternehmen im Sinne des Enteignungsrechts; denn unter Unternehmen ist ein konkreter Bestand sachlicher Mittel zu verstehen, nicht die 10 RGZ Bd. 110, S. 344, besonders S. 347.
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staatliche Tätigkeit überhaupt. Mit dieser uferlosen Ausdehnung des Unternehmensbegriffs wird im Zusammenhang mit der Gleichsetzung genereller und individueller Eingriffe die staatliche Tätigkeit einer neuen Kontrollinstanz unterworfen. Es wird dem Staat generell verboten (und nur gegen ›angemessene‹ Entschädigungszahlung ein individueller Erlaubnisvorbehalt gewährt), Zielsetzungen politischer Art durchzuführen, sofern sie den gegenwärtigen Besitzstand der sozialen Gruppen zugunsten der einen oder der anderen verändern könnten. In der Richtung auf ein vollständiges Fallenlassen jeder konkreten Überführung war diesem Urteil schon der bekannte Spruch über die Anhaltische Kohlenrente vorangegangen.11 Von hier aus führt eine gerade Linie zu den beiden letzten prinzipiell bedeutsamen Sprüchen. Der Hamburger Denkmalfall und die jüngste Entscheidung des Reichsgerichts über die Reichsverfassungswidrigkeit des Preußischen Fluchtliniengesetzes12 zeigen, dass durch die vom Reichsgericht, in Übereinstimmung mit dem größten Teil der Literatur, vorgenommene Erweiterung des Enteignungsbegriffes eine klare Grenzscheide gegenüber dem Begriff der öffentlich-rechtlichen Beschränkung nicht mehr durchgeführt werden kann. Sehr anschaulich wird dies an einem jüngst veröffentlichten Urteil des Reichsgerichts klar,13 das die Enteignungsfrage zwar nur in einem Nebenpunkt berührt, hier aber schon gar nicht mehr die Unterscheidung zwischen Enteignung und öffentlich-rechtlicher Beschränkung macht, sondern einfach die öffentlich-rechtliche Beschränkung durch Gesetz als Eingriff in Privatrechte für unzulässig erklärt, ohne Absatz 1 und 2 des Art. 153 mehr zu unterscheiden. In dieser vollkommenen Begriffsvermengung liegt auch das Wesensmerkmal der hier wegen ihrer ungeheuer folgenschweren Auswirkungen näher zu behandelnden Reichsgerichtsentscheidung bezüglich der Verfassungswidrigkeit des Fluchtliniengesetzes. Dem Urteil liegt folgender Tatbestand zugrunde: Der Kläger ist Eigentümer eines Grundstücks in Berlin-Wannsee; der südliche Teil des Grundstücks stößt mit seiner Westseite in einer Breite von 50 Metern an eine Straße; im Südwesten wird es vom städtischen Dauerwald begrenzt. Die Stadt will den südlichen Teil des klägerischen Grundstücks ihrem Wald Zuschlagen und betreibt deshalb dessen Erklärung 11 RGZ 109, S. 310. 12 RGZ 116, S. 268 (Hamburger Denkmal-Fall). – Die Fluchtlinien-Entscheidung vom 28. Februar 1930 ist in der Zeitschrift »Das Grundeigentum« 49. Jahrg. Nr. 16, [Berlin 1930,] vollständig veröffentlicht. 13 JW. 1930, S. 1205. [Rechtsprechung 16., in: Juristische Wochenschrift, Jg. 59, Band 1, Heft 16/17, Leipzig 1930, S. 1202-1207.]
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zur Freifläche. Sie hat einen von den zuständigen Instanzen genehmigten Fluchtlinienplan aufgestellt, dessen Offenlegung am 5. März 1928 erfolgt ist. Der Kläger beabsichtigte schon vor Aufstellung des Fluchtlinienplanes, auf seinem Grundstück mit der Front zur genannten Straße ein Wohnhaus zu errichten. Mehrere von ihm eingereichte Baugesuche wurden abgelehnt und ihm vom Oberpräsidenten eröffnet, dass die Stadtverordnetenversammlung der Festsetzung des Fluchtlinienplanes zugestimmt habe; da hierdurch der betreffende Geländeteil als Freifläche ausgewiesen würde, vermöge die Gemeinde für das Bauvorhaben des Klägers eine Ausnahme von dem ortsstatutarischen Bauverbot nicht zuzulassen. Die vom Kläger gegen die Stadt Berlin erhobene Schadensersatzklage, die auf die Gesichtspunkte der unerlaubten Handlung und der Amtshaftung, hilfsweise auch auf Entschädigung wegen Enteignungseingriffs gestützt wurde, ist von den Vorderinstanzen abgewiesen worden. Das Berufungsgericht hat die Annahme, dass hier eine Enteignung vorliege, abgelehnt, da in der Feststellung der Fluchtlinienpläne niemals eine Enteignung liege, weil merkantiles Bauland abgesehen von seinem landwirtschaftlichen oder sonstigen Nutzungswert keinen bestimmten wirtschaftlichen Wert, sondern nur eine wirtschaftliche Chance darstelle. Es heißt dort, dass jeder Grundstücksspekulant wisse, dass er vor der Bekanntmachung des Fluchtlinienplans nur ein Spekulationsobjekt in Händen habe und dass er ein doppeltes Risiko eingehe: einmal hinsichtlich der Richtigkeit seiner Berechnungen über die zukünftige Entwicklung der Bebauung und dann über die Bestätigung seiner an sich richtigen Berechnungen durch den Fluchtlinienplan. Merkantiles Baugelände trage den Bauwert nicht in sich, sondern erhalte ihn allein durch einen günstigen Fluchtlinienplan. Wer sich an einer nicht geregelten Straße anbaue, habe keinen Anspruch darauf, diese Wertsteigerung zu erhalten, vielmehr stelle die eintretende Wertsteigerung einen ihm durch öffentlich-rechtliche Maßnahmen zufließenden Vermögensvorteil dar. Der ungünstige Fluchtlinienplan vermindere nicht den Wert der Grundstücke, der günstige erhöhe ihn vielmehr. Alle Berechnungen des Klägers beruhen auf der Annahme, dass das Grundstück einen Baustellenwert gehabt habe. Die Nichtverwirklichung dieser Berechnungen beruhe auf den Beschränkungen des Eigentums, denen auf Grund des Fluchtliniengesetzes alle die Grundstücke unterworfen seien, die, ohne bebaut zu sein, an nicht geregelten Straßen lägen. Das Reichsgericht hat dieses Urteil aufgehoben und die Sache an die Vorderinstanz zurückverwiesen.
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Es hat sich der Auffassung des Kammergerichts, die, ganz abgesehen von den konkreten Vorschriften des Preußischen Fluchtliniengesetzes vom 2. Juli 1875 (G. S. S. 561), die Sachlage nach der wirtschaftlichen Seite hin erschöpfend und abschließend würdigt, nicht angeschlossen; vielmehr versucht es, das Vorliegen der Enteignung dadurch zu begründen, dass es zwischen § 12 und § 13 des Fluchtliniengesetzes einen dem Gesetzgeber unbekannten Unterschied macht. Es räumt ein, dass § 12, der Ortsstatuten freistellt, das Bauen von Wohngebäuden an für den öffentlichen Verkehr noch nicht fertiggestellten Straßen zu untersagen, eine im öffentlichen Interesse den Eigentümern auferlegte Baubeschränkung ist, welche nicht unter den Begriff der Enteignung im Sinne des Art. 153 der Reichsverfassung fällt. Denn – und dies ist der wesentliche Satz – innerhalb eines bestimmten Bezirkes betreffe ein solches Ortsstatut sämtliche Grundstücke, die an einer unfertigen Straße liegen, nicht einzelne Grundstücke oder einen engen Kreis von ihnen, sondern eine unbeschränkte Zahl von nach Lage und Umfang völlig unbestimmten Grundflächen. § 13 Abs. 1 des Fluchtliniengesetzes dagegen versage dem Eigentümer eine Entschädigung nicht bloß wegen der nach § 12 eingetretenen Beschränkung der Baufreiheit, sondern auch wegen der Beschränkung des von der Festsetzung neuer Fluchtlinien betroffenen Grundeigentums, abgesehen von der Festsetzung bestimmter, jedoch eng begrenzter Ausnahmefälle. Da mit der Offenlegung des Fluchtlinienplans die Beschränkung des Grundeigentums eintrete, dass Neubauten, Um- und Ausbauten über die Fluchtlinien hinaus versagt werden könnten, so liege in der Auferlegung dieser Beschränkung rechtlich eine Enteignung. Dass gegen diese Auslegung der § 13 selbst spricht, hat auch das Reichsgericht bemerkt; denn in Absatz 1 des § 13 werden die Fälle der Baubeschränkung gemäß § 12 und der Beschränkung auf Grund einer Fluchtlinienfestsetzung in einem Atemzug genannt, was immerhin schon dagegen spricht, dass zwischen den beiden Bestimmungen eine so tiefe Wesensverschiedenheit besteht, wie sie das Reichsgericht herauszudestillieren sucht. Würde die Fluchtlinienfestsetzung im Gegensatz zur Baubeschränkung nur einen individuell bestimmten Kreis von Personen treffen, so wäre immerhin ein Begriffsmerkmal der Enteignung vorhanden. Aber das ist nicht der Fall; denn auch der Fluchtlinienplan wird nach generellen Gesichtspunkten aufgestellt. Dass ein Teil der Eigentümer von ihm betroffen wird, ein anderer Teil aber nicht, liegt am Wesen des Fluchtlinienplans, nicht an einer bestimmten Absicht der Behörden. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Zahl der von ihm betroffenen Grundeigentümer ihrem personellen Bereich nach
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unbeschränkt ist, sondern darauf, ob diese Beschränkung nach gewissen allgemeinen Grundsätzen stattfindet. Wenn das Reichsgericht weiterhin meint, dass in der Belastung des Grundstücks mit der Dienstbarkeit zugunsten der Gemeinde eine Teilenteignung liege, und dass diese Teilenteignung für das öffentliche Unternehmen der Anlegung oder Änderung von Straßen und Plätzen erfolge, so ist hier am deutlichsten sichtbar, dass der neue Enteignungsbegriff eine Grenze gegenüber dem der öffentlich-rechtlichen Beschränkung nicht mehr findet. Auch hier, wie in so vielen anderen Urteilen, fehlt es an jedem Nachweis eines konkreten Übertragungsaktes. Gerade der Fall, dass das Eigentum der Gemeinde übertragen werden muss, ist in § 13 Ziffer 1 und Abs. 2 selbst als Enteignung aufgefasst und demgemäß entschädigungspflichtig. Im vorliegenden Fall hat aber weder eine Enteignung noch eine ebenfalls entschädigungspflichtige Beschränkung zugunsten eines bestimmten Unternehmens stattgefunden. Nur durch die Erweiterung beider Begriffe war es möglich, hier eine Enteignung zu konstruieren. Danach ist aber jede öffentlich-rechtliche Beschränkung eine Enteignung, wenn man sich der hier in diesem Urteil vertretenen Ansicht über den Begriff des Unternehmens anschließt. Unternehmen bedeutet hier nicht mehr ein abgegrenztes Stück öffentlicher Verwaltung, sondern jede Tätigkeit öffentlicher Körperschaften schlechthin. Richtigerweise besteht aber der notwendige Zusammenhang zwischen konkretem Übertragungsakt und öffentlichem Unternehmen darin, dass für einen öffentlichen Betrieb eine bestimmte Sache nicht entbehrt werden kann und sie ihm deshalb als Betriebsmittel oder Grundlage zugeführt werden muss, während es das Charakteristikum der öffentlich-rechtlichen Beschränkung ist, dass sie einer unbestimmten Vielzahl von Personen dient. Dagegen kann nicht eingewendet werden, dass Abs. 2 des Art. 153 RV. sich selbst jener unbestimmten Terminologie bediene. Es ist nachweisbar, dass unter dieser Terminologie niemals öffentlich-rechtliche Beschränkungen mitgemeint waren. Weiterhin stellt hier der Begriff des »Wohls der Allgemeinheit« nicht einen Gegensatz zu dem Terminus »bestimmtes öffentliches Unternehmen« dar, sondern bedeutet nur den Gegensatz zwischen öffentlich und privat. Dieses Gegensatzpaar hat aber nichts mit der Frage zu tun, welche Eigentumsbeschränkungen unter den Begriff der Enteignung fallen. Das Reichsgericht hat auch vergeblich versucht, seine Entscheidung mit der hier schon genannten Entscheidung des Staatsgerichtshofs in Einklang zu bringen. Dort heißt es ausdrücklich, dass den Inhalt und die Schranken des Eigentums allgemein zu regeln, die zulässigen Rechte an Grundstücken und die Voraussetzungen ihrer
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Entstehung allgemein zu bestimmen, dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben muss, ohne dass er dabei durch eine Pflicht zur Entschädigung gehindert werden könne. Es heißt dort weiter, dass dieses Recht ihm in Art. 153 Abs. 1 RV. ausdrücklich vorbehalten ist; RGZ 124 Anhang S. 33 unten. Die tiefere Ursache jenes reichsgerichtlichen Urteils, das allerdings an praktischer Tragweite und Bedeutung alle bisherigen Urteile zu dieser Frage bei weitem übertrifft, liegt darin, dass das Reichsgericht sowie ein großer Teil der Literatur weder das Verhältnis des Eigentumsartikels der Weimarer Verfassung zu den Eigentumsartikeln der früheren Verfassungen noch das Verhältnis des Art. 153 Abs. 1 zum Abs. 2 ausreichend geklärt hat. In diesem besonderen Fall kommt noch hinzu, dass das Reichsgericht es nicht für nötig befunden hat, sich mit dem Abs. 3 des Art. 15514 auseinanderzusetzen, in dem es ausdrücklich heißt: »Die Wertsteigerung des Bodens, die ohne eine Arbeits- oder Kapitalaufwendung auf das Grundstück entsteht, ist für die Gesamtheit nutzbar zu machen.« Wir glauben, dass es der Mühe wert gewesen wäre, das Fluchtliniengesetz und die daran anschließende Praxis der Städte auch von diesem Gesichtspunkt aus zu prüfen und die wirtschaftlichen Zusammenhänge, wie dies in vorbildlicher Weise das Berufungsgericht getan hat, ausgiebig zu berücksichtigen. Aber auch wenn man hiervon absieht, erhellt an diesem Urteil sehr deutlich, dass das Reichsgericht der Eigentumskategorie eine Bedeutung verleiht, die ihr nach dem Sinn der Reichsverfassung kaum mehr zukommt. Dabei geht dieses Urteil über die früheren Urteile noch weit hinaus. Aus ihnen war nur herauszulesen, dass der Eigentumsartikel der Weimarer Verfassung mit dem Art. 9 der Preußischen Verfassung von 1850 gleichzusetzen sei. Dieses Urteil macht aber bewusst noch einen weiteren Schritt rückwärts. Das Fluchtliniengesetz ist von 1875 bis 1918 unter der Herrschaft des Art. 9 der Preußischen Verfassung niemals als dieser zuwiderlaufend angesehen worden, und das Reichsgericht muss in seiner Entscheidung ausdrücklich feststellen, dass bei der Beratung des Fluchtliniengesetzes im Jahre 1875 im preußischen Abgeordnetenhause die Meinung geherrscht hat, dass die Verpflichtung des Eigentümers, gewisse künftighin zu Straßen und Plätzen bestimmte Flächen unbebaut zu lassen, als eine gesetzliche Einschränkung des Eigentums anzusehen sei, die deshalb keinen Entschädigungsanspruch auslösen dürfe. Hieraus muss also der Schluss gezogen werden, dass der Eigentumsartikel der Preußischen Verfassung von 1850 in Bezug auf den Eigen14 Zu Abs. 1 des Art. 155 RV.: RGZ 116, S. 273/274.
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tumsschutz weniger weit gegangen sei als die neue Reichsverfassung. Eine solche Rechtsprechung kann vom Boden der geltenden Verfassung aus nicht gerechtfertigt werden; sie kann ihre Begründung nur in gewissen rechtspolitischen Zielsetzungen finden, die in der Weimarer Verfassung keinen Ausdruck gefunden haben. Der Satz, dass der Begriff der Enteignung nicht durch die Rechtslage des Jahres 1919 bestimmt wird, hat zwar in der Rechtsprechung des Reichsgerichts den Sinn, dass die Gerichte nicht gehalten sind, vor dem Entstehen der Weimarer Verfassung als gültig angesehene Bestimmungen weiterhin als rechtswirksam anzuerkennen; der tiefere Sinn dieses Satzes ist aber – und dies hat Morstein Marx in einer Besprechung15 kürzlich mit erfreulicher Deutlichkeit dargelegt – der, dass nicht die Intentionen der Weimarer Verfassung das Maß und den Umfang des Eigentumsschutzes bestimmen, sondern die jeweils herrschenden politisch-sozialen Zielsetzungen. Hier mündet die Rechtsprechung des Reichsgerichts ein in die allgemeine Renaissance des bürgerlichen Rechtsstaats, die aber sicher ihr Ziel verfehlt, weil sie mit Hilfe einer grenzenlosen Erweiterung des technischen Rechtsinstituts der Enteignung einer sozialen Weiterentwicklung Deutschlands sich hemmend in den Weg stellen zu können glaubt. 15 Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 18 Heft 2, S. 276/282 [Fritz Morstein Marx: Reise, Hans, Die Enteignung von Rechten nach preußischem, hamburgischem und Reichsrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 18, Tübingen 1930, S. 176-282]. Wenn Morstein Marx dort erwähnt, dass das Prinzip der Enteignung gegen Entschädigung weder unbedingt kollektivistisch noch ureigenst individualistisch, sondern vielmehr ein reines Gerechtigkeitsprinzip sei (S. 270 a. a. O.), so kann dem bei der hier vertretenen Begrenzung des Enteignungsbegriffs beigetreten werden. Ungeklärt aber bleibt bei Morstein Marx gerade die Hauptfrage, wo die Grenzen des Enteignungsinstituts liegen. Diese Abgrenzung ist angesichts der Judikatur und der Bestrebungen vieler Interessentenkreise heute nicht zu entbehren. Dies gilt umso mehr, als aus der Erweiterung des Eigentumsmachtbereiches infolge der wirtschaftlichen und technischen Strukturwandlungen falsche Schlüsse auf einen Wandel der Voraussetzungen des Enteignungsbegriffs gezogen werden. Dem Wandel des in der privaten Sphäre liegenden Eigentumsbegriffs entspricht aber in Deutschland kein allgemeiner Wandel der einschlägigen öffentlichen Vorstellungen. Die eigentümliche Parallelität der Entwicklung der deutschen Reichsgerichts-Rechtsprechung zu der des Obersten Bundesgerichts der Vereinigten Staaten legt die Frage nahe, ob das Reichsgericht hier nicht grundlegende Unterschiede des Verhältnisses Staat-Gesellschaft in deutscher und amerikanischer Ausprägung übersieht (die nordamerikanische Auffassung wird angedeutet bei [Hermann] Kröner: John R. Commons, Jena 1930, und in der noch der Ergänzung bedürftigen Studie Vögelins über den Eigentumsbegriff in USA, in: Archiv für angewandte Soziologie, Jahrg. 2 Heft 4 [Eric Voegelin: Die amerikanische Theorie vom Eigentum, in: Archiv für angewandte Soziologie, Jg. 2, Heft 4, Berlin 1930, S. 165-172]).
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Einstweilen hat aber der Gesetzgeber das Wort. Er wird sorgfältig zu prüfen haben, durch welche Maßnahmen die Durchkreuzung gesetzlicher Bestimmungen durch die höchstrichterliche Rechtsprechung verhindert werden kann. Was den vorliegenden Fall des Fluchtliniengesetzes angeht, so wird wohl ein Sondergesetz notwendig sein, das die Entschädigungsansprüche, die rückwirkend seit dem Jahre 1919 in Höhe von Hunderten von Millionen Mark gegen die Städte geltend gemacht werden können, ausschließt. Darüber hinaus wird der Reichsgesetzgeber – eine andere Instanz kommt nach diesem Urteil nicht in Frage – das im Reichsarbeitsministerium zur Zeit bearbeitete Baulandgesetz, das diese Materie so, wie es das Interesse der Öffentlichkeit erfordert, regelt, schleunigst zu erlassen haben. Prinzipiell muss erwogen werden, ob eine reichsgesetzliche Definition des Unterschieds zwischen Enteignung und öffentlich-rechtlicher Eigentumsbeschränkung, die in dem aus anderen Gründen dringend erforderlichen Reichsenteignungsgesetz ihren Platz zu finden hätte, der bisherigen reichsgerichtlichen Rechtsprechung ein Ende machen könnte. Freilich wäre eine einfache, nicht verfassungsändernde, reichsgesetzliche Vorschrift dieses Inhalts problematisch, da sich das Reichsgericht auf den Standpunkt stellen könnte, dass eine solche Legaldefinition gegen Art. 153 RV. verstoße. Vorläufig wird die beste Sicherung darin bestehen, in allen einzelnen Gesetzen, die von irgendwelchen Interessentenkreisen möglicherweise unter den Gesichtspunkt der Enteignung gebracht werden könnten, von der Befugnis des Art. 153 Abs. 2 Satz 2 Gebrauch zu machen und eine besondere Bestimmung anzufügen, des Inhalts: »Eine Entschädigung ist, soweit sie in diesem Gesetz nicht ausdrücklich zugebilligt wird, ausgeschlossen.«
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[19.] Die Grenzen der Enteignung* [1930] Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Enteignungsinstituts und zur Auslegung des Art. 153 der Weimarer Verfassung
Vorwort Die allzu große praktische Bedeutung, die der Artikel 153 der Reichsverfassung heute besitzt oder mindestens besitzen soll, ist der rechtswissenschaftlichen Betrachtung bisher nicht förderlich gewesen. Es scheint jedoch an der Zeit zu sein, diese für die geordnete Existenz eines Staates bedeutungsvolle Frage sowohl in den geschichtlichen Zusammenhang als auch in den Sinnzusammenhang der Weimarer Verfassung einzuordnen. Dem Beginn dieses notwendigen Besinnungsprozesses dient diese Skizze. Die Arbeit Schelchers »Gesetzliche Eigentumsbeschränkung und Enteignung«, Archiv für öffentliches Recht Band 18 Heft 3, die die Argumente der herrschenden Lehre nochmals in übersichtlicher Weise zusammenfasst, konnte wenigstens noch anmerkungsweise verwertet werden. Für die Fragestellung selbst wie für die Einzelausgestaltung schulde ich Herrn Professor Dr. Carl Schmitt reichen Dank. Ebenso bin ich Herrn Professor Dr. Heller für das der Arbeit entgegengebrachte Interesse zu Dank verpflichtet. Berlin, im Juni 1930 ***
* [Erschienen als selbständige Schrift, W. de Gruyter & Co., Berlin/Leipzig 1930. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 60-64.]
[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
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Übersicht I.
Eigentumsschutzformel, Enteignung und erworbene Rechte im 19. Jahrhundert Die Voraussetzungen des Enteignungsinstituts und die Behandlung der erworbenen Rechte in der französischen Revolution. – Die erworbenen Rechte bei Stahl, Stein und Lassalle. – Die preußische Verfassung und die Behandlung des Enteignungsinstituts bei Otto Mayer und Adolf Wagner. II. Die Reichsverfassung Reichsverfassung und Wirtschaftsordnung. – Der Rechtsstaatsgedanke und die Interpretation des Art. 109 der Reichsverfassung. III. Die Enteignung nach der Reichsverfassung Der Wandel der verfassungsmäßigen Stellung des Eigentums. – Die Interpretation des Art. 153 Abs. 2. IV. Die Enteignungsrechtsprechung des Reichsgerichts Devisenablieferung und Kohlenrente. – Der Hamburger Denkmalfall und seine Kritik. – Der Einfluss der Entwertung des Enteignungsbegriffs auf die Gesetzgebung. – Die Unmöglichkeit der Unterscheidung zwischen erworbenen Rechten und reiner Faktizität hat die Bedeutung einer allgemeinen Status-quo-Garantie gegenüber dem Staat. ***
I. Eigentumsschutzformel, Enteignung und erworbene Rechte im 19. Jahrhundert Wer heute die grundlegenden Sätze zur Auslegung des Art. 153 in dem bekanntesten Kommentar zur Reichsverfassung, dem von Anschütz,1 liest, wird zu der Auffassung gelangen, dass es sich hierbei um klares und übersichtliches Recht handelt. Zur entgegengesetzten Überzeugung freilich muss der Leser kommen, wenn er eine Zeitung zur Hand nimmt; denn dort erfährt er von Rechtsbeschwerden, Gerichtsurteilen, Kongressreden, Reichs- und Landtagsdiskussionen, die die buntesten Dinge der Erscheinungswelt unter die Enteignungskategorie rubrizieren. Die Auflösung der Fideikommisse, die Abfindung der Standesherren, die Entwürfe zum Städtebaugesetz und zu dem Schankstättenge1 [Gerhard Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 14. Auflage, Berlin 1933.]
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setz, der Ausschluss der Rechtsanwälte vom Arbeitsgericht, das Verbot der Gefrierfleischeinfuhr, das deutsch-polnische Liquidationsabkommen bilden nur eine kleine Auswahl der uns von ernsthaften Juristen präsentierten »Enteignungsfälle«, und man kann heute fast schon mit Sicherheit damit rechnen, dass jeder neue Gesetzentwurf (Aktienrechtsreform) von derjenigen Gruppe, die an der Aufrechterhaltung des alten Zustands interessiert ist, als den Prinzipien des Art. 153 der Reichsverfassung widersprechend, bekämpft werden wird.2 Wenn Anschütz sagt, dass dieser Artikel altliberales Gedankengut, innerlich bereichert durch eine in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr zur Geltung gelangte, im Vergleich mit früheren Epochen nicht mehr so stark individualistische, sozialere Auffassung des Eigentums enthalte, so mag es erscheinen, als ob die alte Funktion dieses Verfassungsartikels im nachrevolutionären Verfassungssystem, wenn auch mit sozialen Modifizierungen, aufrechterhalten worden sei. Dass aber die Funktion des Art. 153 im heutigen Verfassungssystem eine andere geworden sein muss, ergibt sich schon aus der Umwelt-Reaktion gegen diese Bestimmung. Denn während beispielsweise Artikel 9 der alten preußischen Verfassung von 18503 mehr ein theoretischer Bestandteil einer praktisch nie angezweifelten Gesellschaftsordnung war, halten sich bei Art. 153 der Reichsverfassung bisher geübte praktische Anwen2 Die einzige bisher bekannte prinzipielle kritische Auseinandersetzung mit dieser Entwicklung ist der Aufsatz von Carl Schmitt: »Die Auflösung des Enteignungsbegriffes«. Juristische Wochenschrift 1929, Heft 8, [Berlin 1929,] Sp. 495 f. Neuerdings auch sein Gutachten zum deutsch-polnischen Liquidationsabkommen. Eine umfassende Materialwürdigung bietet die Arbeit [Paul] Krückmanns: Enteignung, Einziehung, [Kontrahierungszwang,] Änderung der Rechtseinrichtung, Rückwirkung und die Rechtsprechung des Reichsgerichts, Berlin 1930. Die Studie befürwortet die Entwicklungsrichtung der Reichsgerichtsjudikatur. Die dort gemachten Einwendungen sind lediglich terminologischer Natur. 3 Zum besseren Verständnis sei der Wortlaut der Reichsverfassung und der alten preußischen Verfassung hier wiedergegeben. Art. 153 RV lautet: »Das Eigentum wird von der Verfassung gewährleistet. Sein Inhalt und seine Schranken ergeben sich aus den Gesetzen. Eine Enteignung kann nur zum Wohle der Allgemeinheit und auf gesetzlicher Grundlage vorgenommen werden. Sie erfolgt gegen angemessene Entschädigung, soweit nicht ein Reichsgesetz etwas anderes bestimmt. Wegen der Höhe der Entschädigung ist im Streitfalle der Rechtsweg bei den ordentlichen Gerichten offenzuhalten, soweit Reichsgesetze nichts anderes bestimmen. Enteignung durch das Reich gegenüber Ländern, Gemeinden und gemeinnützigen Verbänden kann nur gegen Entschädigung erfolgen. Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste.« Art. 9 der preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850 lautet: »Das Eigentum ist unverletzlich. Es kann nur aus Gründen des öffentlichen Wohles gegen vorgängige, in dringenden Fällen wenigstens vorläufig festzustellende Entschädigung nach Maßgabe des Gesetzes entzogen oder beschränkt werden.«
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dung mit theoretisch noch nicht ausgetragener Bedeutungsfeststellung das Gleichgewicht. Der seltsame Zustand, dass ein Verfassungsartikel dauernd zu bestimmten sozialen und politischen Zwecken ausgenutzt wird, ohne dass sein Einzelwert im Gesamtzusammenhang des Weimarer Verfassungssystems endgültig geklärt wäre, kann nur beseitigt werden durch eine Untersuchung der verschiedenen Bedeutungen, die den oft gebrauchten Eigentumsschutzformeln zukommen. Aus dem Hineingestelltsein in den jeweiligen sozialen und politischen Zusammenhang ist die Funktion des Eigentumsartikels zu erkennen. Nur das Aufrollen des geschichtlichen Bildes kann den Bedeutungswandel einer Institution erklären, für die man seit 140 Jahren gleichbleibende Verfassungsformeln benützt. Als John Locke 1680 seine »Two Treatises on Government« schrieb und sich in hergebrachter Weise mit der Frage beschäftigte, warum die Menschen aus dem Naturzustand heraustreten, um sich den Regeln eines Staatsgefüges zu unterwerfen, gab er in dürren Worten seiner Meinung Ausdruck, dass der Staat eine Veranstaltung zum Zweck des besseren Eigentumsschutzes sei.4 Der besseren Erreichung dieses Zweckes, der größeren personellen und sachlichen Garantie der menschlichen Individualfreiheit, der Durchsetzung des theoretischen Anspruchs auf Freiheit und Eigentum, den das damalige Zeitbewusstsein für die Voraussetzung der menschlichen Entwicklung hielt, dient die Gründung des Staates. Damit sind die Grenzen, die der Staat dem Einzelnen gegenüber einzuhalten hat, durch dessen eigenen Zweck gekennzeichnet. Deshalb hat Lockes System keinen Platz mehr für die doppelte Staatsvertragskonstruktion seiner Vorgänger. Das Bürgertum erkämpft seine Selbständigkeit. Das pactum subiectionis wird abgestreift; im Sozialkontrakt schafft das frühkapitalistische Bürgertum seine eigene Organisationsform. Die Einzelnen leihen ihre Macht dem Staat zum Zweck der Erhöhung ihrer Sekurität. Der Staat ist deshalb eine Addition von einzelnen Schutzbedürfnissen. »The public good of the society«, die Grenze für die materielle Tätigkeit der Legislative, ist nur die Zusammenfassung dieser Schutzbedürfnisse ohne höhere gedankliche Einheit.5 John Locke ist der erste Denker des bürgerlichen Rechts4 So beginnt zum Beispiel auch Hegel seine Definition des Begriffes des Staates: »Eine Menschenmenge kann sich nur einen Staat nennen, wenn sie zur gemeinschaftlichen Verteidigung der Gesamtheit ihres Eigentums verbunden ist.« (Die Verfassung Deutschlands, 1801/02.) [Georg W. F. Hegel: Die Verfassung Deutschlands, Leipzig 1922, S. 26.] 5 Siehe neuestens [Siegfried] Landshut in »Freiheit und Gleichheit als Ursprungsprobleme der Soziologie« [, München 1929], S. 144, sowie die treffenden Ausführungen [Harold J.] Laskis in Grammar of Politics, [London] 1925, S. 182.
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staats, der mit bewusster Schärfe das Eigentum in den Mittelpunkt der Staatsgründung stellt und ihm den Charakter eines unveräußerlichen Menschenrechts gibt. So schützt er das Eigentum auf doppelte Weise; seinen Schutz sieht er als die naturrechtliche Voraussetzung der Staatsbildung an und gibt unmittelbar bindende Anweisungen für das Aufhören der gesetzgeberischen Macht an der Grenze, wo das individuelle Eigentum anfängt. Berechenbares, bekanntes, allgemeingültiges Gesetz, angewendet von »known authorized judges«, Schutz des Eigentums, Verbot jeglicher Eingriffe in dieses ohne Einwilligung des Eigentümers, das sind für das bürgerliche Denken Englands im Ausgang des 17. Jahrhunderts die konkreten Rechtswohltaten, die der Staat bringen soll, die man von ihm erwartet, wie aus den spezifisch englischen Überleitungskonstruktionen vom Naturzustand zur staatlichen Herrschaftsgewalt ersichtlich ist. Deutlicher und vernehmlicher als in den im Dualistischen verbleibenden Konstruktionen der deutschen Naturrechtslehrer des Jahrhunderts, Pufendorf und Thomasius, tritt der ausgesprochen bürgerliche Charakter dieser englischen Staatsauffassung hervor.6 »Loi civile« und »loi politique« hat John Locke nicht unterschieden, da seine Bestimmung vom Wesen des Staates eindeutig auf dessen bürgerlichen Ursprung hinweist. Indem aber Montesquieu7 zwischen beiden unterscheidet und der Freiheit die politische, dem Eigentum die bürgerliche Sphäre zuweist, gibt er aus der konkreten Situation des seinem Ende entgegengehenden Absolutismus zu, dass hier verschiedene Gesetzlichkeiten walten können. Indem er die Freiheit vom Bereich des Einzelmenschen ablöst, setzt er zugleich die Konfliktmöglichkeit zwischen dem Gesetz des privaten Vorteils und einem zu staatlicher Ordnung hingewandten Freiheitsbegriff. Es war ein frühliberaler Glaube, der eine reinliche Trennung beider Sphären für möglich und notwendig hielt. Nur kurze Zeit verging, bis es sich erwies, dass jene Trennung in Wirklichkeit eine Illusion war. John Locke hat als Vollstrecker der Naturrechtslehre die grundlegenden Sätze des bürgerlichen Staates geprägt, deren Technik Montesquieu vervollkommnete. In der Französischen Revolution erwies es sich, dass die Voraussetzungen der bürgerlichen Herrschaft, die Vernichtung der politischen Machtstellung des Adels unter Aufrechterhaltung des Grundsatzes von der Heiligkeit des Privateigentums, nicht durchgeführt werden konnte. Die politische Stellung des Adels hing eng zusammen mit seiner ökonomischen Situa6 Siehe Erik Wolf: Grotius, Pufendorf, Thomasius[: drei Kapitel zur Gestaltgeschichte der Rechtswissenschaft], Tübingen 1927, S. 70. Locke war schon ein »standesbewusster« Vertreter des Bürgertums vor Montesquieu und Rousseau. 7 [Charles de Montesquieu:] L’esprit des lois, Buch 26, Kap. 15.
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tion als feudaler Großgrundbesitzer. Zur endlichen Begründung der bürgerlichen Herrschaft musste der Satz, dass keine Legislative Privateigentum ohne den Willen des Eigentümers verletzen dürfe, verlassen werden, die scheinbare Trennung von loi civile8 und loi politique aufgegeben und der Machtbereich der loi politique weit in das Gebiet der loi civile, der »erworbenen Rechte« ausgedehnt werden. Dieser Widerspruch zwischen der politischen Notwendigkeit, feudales Eigentum zu zerstören, und dem bürgerlichen Grundsatz der Unverletzlichkeit des Eigentums ist dem Bürgertum in der Französischen Revolution durchaus bewusst geworden. Die Geschichtslegende von der Bartholomäusnacht des Feudaleigentums, die Auffassung, dass in der Nacht vom 4. August 1789 Bürgertum und Adel einmütig die Abschaffung der Feudalrechte beschlossen hätten, ist eine Fabel;9 es hat noch keine Klasse gegeben, die freiwillig ihre Rechte preisgegeben hätte. Die schöne Ansprache des Herzogs von Aiguillon10 war ein abgekartetes Spiel und gab nur preis, was nicht mehr zu retten war, und die Opferbereitschaft des Adels erstreckte sich hauptsächlich auf die Rechte der Geistlichkeit. In Wahrheit war die Notlösung der résolution Dupont vom 6. August, die die feudalen Rechte öffentlich-rechtlicher Natur ohne Entschädigung abschaffte und alle andern durch lästigen Vertrag erworbenen Rechte nur für ablösbar erklärte, ebenso konsequent vom Standpunkt eines das Privateigentum bejahenden Bürgertums,11 wie verderblich für den Fortschritt der bürgerlichen Herrschaftsgewinnung; denn hierdurch wären dem Adel große Summen zugeflossen. Im Laufe
8 Scheinbar deshalb, weil es eine gewollte Trennung von loi civile und loi politique nicht gibt; im Idealfall, und der ist bei diesen Schriftstellern stets vorausgesetzt, decken sich politische Form und ökonomische Wirklichkeit. Vergleiche das als dualistisch gekennzeichnete Verhältnis zwischen dem rechtsstaatlichen und dem politischen Bestandteil der modernen Verfassung in Carl Schmitt: Verfassungslehre, [München/Leipzig] 1928, S. 125 ff. 9 Dies hat Oswald Spengler nicht gehindert, nochmals zu erzählen, dass es nichts Edleres und Reineres als die Nachtsitzung vom 4. August 1789 gegeben habe, Untergang des Abendlandes[: Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. 2, [München 1922,] S. 751. Als Legende nachgewiesen bei [Heinrich] Cunow: Die revolutionäre Zeitungsliteratur Frankreichs, Berlin 1908, S. 571. Ausführlich bei [Jean] Jaurès: Histoire socialiste de la Révolution Française, tome I, [Paris 1922,] p. 280 ff. 10 Moniteur 1789, Nr. 34. [Gazette Nationale ou Le Moniteur Universel, No 34, Paris 1789.] 11 Diesen bürgerlichen Standpunkt nimmt Lorenz von Stein, Verwaltungslehre VII. Teil, »Die Entwährung«, S. 148, ein. [Lorenz von Stein: Die Verwaltungslehre, Band 7, Stuttgart 1868.]
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der Revolution musste der Adel ganz expropriiert werden.12 Wie schwer aber dem französischen Bürgertum noch im Jahre 1792 dieser Entschluss geworden ist, zeigt eine charakteristische Stelle aus einer im Mai 1792 gehaltenen Rede des Abgeordneten Deney, der meinte, dass die Repräsentanten des Volkes zwar das Recht hätten, die Formen ihrer Regierung zu ändern und die politischen Regeln, die die Pflichten der Körperschaften bestimmen, über den Haufen zu werfen, nicht aber die Grundprinzipien des contrat social zu zerstören und die Gesetze auf die bürgerlichen Rechtsverhältnisse auszudehnen, welche für das Einzeleigentum maßgebend seien. Vor die Wahl gestellt, die geheiligten Prinzipien des Privateigentums nicht zu durchbrechen, oder seinem politischen Lebens- und Machtwillen Geltung zu verschaffen, musste sich das französische Bürgertum im Selbsterhaltungsinteresse gegen den Fortbestand derjenigen Adelsrechte, die reine Eigentumsrechte waren, entscheiden.13 Hier tritt als vollgültiger Beweis gegen die Doktrin vom Eigentum als unveräußerlichem Menschenrecht die Geschichte derjenigen Klasse auf, die dieser Lehre erst voll zum Siege verhelfen sollte. In dieser Beleuchtung erhält der Artikel 17 der Erklärung der Menschenrechte vom September 1791 eine neuartige Bedeutung. Der Satz: »la propriété est inviolable et sacrée; nul ne peut en etre privé que lorsque la nécessité publique, légalement constatée l’exige évidemment et sous la condition d’une juste et préalable indemnité«,14 mag in ähnlicher Form schon früher in den Verfassungen der die nordamerikanische Union bildenden Einzelstaaten enthalten gewesen sein, seine grundsätzliche Bedeutung gewinnt er erst hier, auf dem grandiosen Hintergrund der großen Expropriation einer ganzen Klasse. Er enthält die Proklamierung, dass das nach der Abschaffung des Feudaleigentums gesicherte, Alleinherrscher gewordene Bürgertum seinen Staat auf dem Grundsatz des individuellen Eigentums aufbauen will. Von hier aus ist der Kampf zu verstehen, den das revolutionäre bürgerliche Frankreich gegen die loi 12 Siehe Jaurès, Histoire socialiste II, S. 759. [Jean Jaurès: Histoire socialiste de la Révolution Française, tome II, Paris 1922.] Dort schreibt er: »Die Expropriation der Feudalität ist nur Stück für Stück, selbst in der Hoch-Zeit der Revolution erfolgt«, und er setzt hinzu: »ein großes Beispiel für uns, das uns lehren wird, auch die teilweisen und nacheinander erfolgenden Expropriationen nicht gering zu schätzen.« 13 In Deutschland konnten sich die feudalen Reste durch die Verkoppelung des Privateigentums mit der Ausübung politischer Herrschaft bis in unsere Zeit hinein halten. Vergleiche hierzu Franz Neumann: Die politische und soziale Bedeutung der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung, Berlin 1929. Siehe auch S. 60 f. 14 [Gemeint ist die Erklärung der Menschenrechte von 1789.]
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agraire führte, ist zu verstehen, warum aus den Ausführungen Robespierres über den grundsätzlich staatlichen Charakter der Eigentumsinstitution im Frankreich des 19. Jahrhunderts niemals die Konsequenzen gezogen wurden.15 Jetzt ist auch zu verstehen, warum in diesem bürgerlichen Lande die Enteignungsinstitution am ehesten zur Ausprägung gekommen ist. Nur in einem Lande, in dem der Konflikt zwischen Feudalismus und Bürgertum zugunsten des Bürgertums seine Austragung gefunden hat, kann sich ein reguläres Expropriationsinstitut klar und deutlich abzeichnen. Denn den Kampf zweier Klassen kann man nicht durch ein Expropriationsgesetz regeln. Man kann in einem Expropriationsgesetz den Schutz der individuellen Rechte gegen Enteignung festlegen, nicht aber kann ein Expropriationsgesetz darüber bestimmen, was »erworbene Rechte« sind und ob und in welchem Umfang, und ob ohne oder gegen Entschädigung erworbene Rechte durch Gesetze aufgehoben werden können. Solche Entscheidungen fallen aus dem Rahmen des bürgerlichen Rechtsstaats16 heraus, der das individuelle Eigentum als die gegebene Sozialordnung voraussetzt. Von dieser Voraussetzung aus beschäftigt er sich mit dem Schutz des individuellen Eigentums. Der Satz Lorenz von Steins: »Das ganze Entwährungsrecht Frankreichs ist durch diesen Gang der Dinge zum bloßen Enteignungsrecht des Gesetzes von 1841 geworden«,17 ist richtig. Die Geburt des Expropriationsrechts im bürgerlichen Frankreich bedeutet zugleich die notwendige Beschränkung dieser Institution. Denn das Expropriationsrecht des bürgerlichen Rechtsstaats ist nur das Korrelat der verfassungsmäßig sanktionierten Herrschaft des Privateigentums. Auf dieser sicheren Grundlage wird die Ausnahme festgestellt, die eben darin ihre Bedeutung und Umgrenzung findet, dass sie sich niemals auf ganze Eigentumskategorien bezieht. Expropriation bedeutet von nun ab in der juristischen Technik eine unter möglichster Einhaltung aller Rechtsgarantien vor sich gehende Entziehung von individuellem Einzeleigentum zu ganz bestimmten technischen Zwe-
15 Hier in der zwiespältigen Rolle der Französischen Revolution als Stürzerin des Feudalzeitalters und der persönlichen Unfreiheit, als Begründerin des bürgerlichen Zeitalters der ökonomischen Unfreiheit ist auch der Ursprung jenes ewigen Antagonismus zwischen Liberalismus und Demokratie zu suchen, der so lange dauern wird, wie der politischen Freiheit nicht auch die ökonomische Freiheit zur Seite steht. Siehe auch die charakteristische Bemerkung Duguits, Traité de droit constitutionel 1911, tome III, p. 612. [Léon Duguit: Traité de droit constitutionel , tome III, 2. édition, Paris 1921.] 16 Siehe die Ausführungen auf S. 31 f. [In diesem Band S. 192 f.] 17 Unter »Entwährung« fasst Lorenz von Stein Eingriffe in individuelle Privatrechte sowie Beseitigung wohlerworbener Rechte zusammen.
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cken. Ihre prinzipielle Bedeutung besteht darin, dass sie zum Prüfstein bürgerlichen Rechtsstaatsdenkens geworden ist.18 Die technischen Daten der in Frankreich sich vollziehenden Entwicklung der Institution dienen als Bestätigung. Bis 1807 verblieb die Enteignung mit allen daran anknüpfenden Fragen innerhalb der Kompetenz der Verwaltungsbehörde. Der Versuch einer prinzipiellen Regelung beginnt mit einem Enteignungsgesetz für ein bestimmtes Sachgebiet im Jahre 1807. Napoleon19 krönte das rechtsstaatliche Werk des bürgerlich-revolutionären Frankreich mit dem Gesetz von 1810, in dem der Ausspruch der Enteignung in die Hand richterlicher Behörden gelegt wurde. Die technischen Einzelheiten der Enteignung sind seither noch oft überholt worden, auch in Frankreich hat das Gesetz vom Jahre 1841 vieles geändert. Wer die Enteignung im Einzelfall auszusprechen hat, ob hierzu ein Spezialgesetz für den konkreten Fall, wie in England, ob nur eine Erklärung der höchsten Staatsbehörde notwendig ist, ob die Frage der Gemeinnützigkeit vom Gericht überprüft werden kann oder nicht, sind Fragen technischer Natur, die die einmal festgelegten Grundsätze nicht verändern. Die Pfeiler des individuellen Enteignungsrechts bleiben die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage und die gerechte, von unabhängigen Instanzen nachprüfbare Entschädigungsfestsetzung. Das sind für das Zeitalter des bürgerlichen Rechtsstaats keine technischen Notwendigkeiten, sondern Grundsätze, die aus dem seinem Verfassungssystem innewohnenden Geist entspringen. In Deutschland hat eine revolutionäre Auseinandersetzung zwischen Bürgertum und Feudalismus nicht stattgefunden. An die Stelle einer politischen Gewaltlösung, wie sie in Frankreich innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne stattfand, trat ein langsamer, von rückläufigen Bewegungen nicht verschont gebliebener Auseinandersetzungsprozess. Dieser Prozess warf alle die Fragen auf, die das französische 18 Deshalb ist die sachliche Darstellung der Bedeutung der Enteignungsgarantie für die Verfassungen des 19. Jahrhunderts bei Göppert-Eck, Gesetze haben keine rückwirkende Kraft (Iher. Jahrb. 22, 49 ff., 1884), vollkommen richtig. [Heinrich Göppert: Das Prinzip: »Gesetze haben keine rückwirkende Kraft« geschichtlich und dogmatisch entwickelt. Aus dem Nachlass des Verfassers herausgegeben von Dr. E. Eck, in: Rudolf von Jhering (Hg.): Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts, Band 22 N. F. Band 10, Jena 1884, S. 1-206.] Nur hatte dieser Schutz gegenüber Eingriffen der Verwaltung in der konkreten historischen Situation des 19. Jahrhunderts eben eine über das Rechtstechnische hinausgehende, eminent verfassungspolitische Bedeutung. 19 Eine nur aus der geschichtlichen Entfernung verständliche Glorifizierung dieser Seite des Napoleonischen Wirkens hat Herman Hefele in seinem »Gesetz der Form«, Nr. 11, »An Napoleon. Über die Bürgerliche Ordnung«, gegeben. [Herman Hefele: Gesetz der Form: Briefe an Tote, Jena 1919.]
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Verfahren überflüssig machte. Die in Frankreich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts erfolgte Eingliederung der Enteignung in das Sicherungssystem der Privatrechtsordnung beruhte auf der Auseinandersetzung mit dem Feudalismus. In Deutschland gab es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine klare Entscheidung zwischen bürgerlicher und feudaler Eigentumsordnung. Der Prozess der Verwandlung feudalen Eigentums in bürgerlichen Besitz, der notwendig mit der Beseitigung der an das Feudaleigentum geknüpften politischen Rechte verbunden war, konnte nach den Gesetzen der politischen Machtverteilung erst dann seinem Ende zugehen, als das Bürgertum selbst die politische Macht in Deutschland übernahm. Die Ereignisse von 1848, verbunden mit dem raschen Gang der ökonomischen Entwicklung Deutschlands, beschleunigten die lang verschleppte Auseinandersetzung, so dass dieser Ablösungsprozess in den 60er Jahren wenigstens sein vorläufiges Ende fand. Bis zu diesem Zeitpunkt wäre die verfassungsmäßige Verankerung des Privateigentums in Preußen mindestens ein Akt gewesen, der eher gegen als für das Bürgertum hätte ausgenutzt werden können. Denn wer hätte verhindert, dass unter Berufung auf die Privateigentumsgarantie nicht auch der Adel sich der teilweise doch entschädigungslosen Beseitigung des Feudalismus hätte entgegensetzen können? Deshalb konnte in Preußen die verfassungsmäßige Garantie des Privateigentums erst an jenem Ruhepunkt der Auseinandersetzung erfolgen, die ökonomisch das Verhältnis zwischen Großgrundbesitz und städtischem Bürgertum, politisch zwischen absoluter und konstitutioneller Monarchie betraf. Bevor aber auf die weitere Entwicklung des Enteignungsinstituts eingegangen werden kann, hat hier ein Hinweis auf diejenige literarische Auseinandersetzung zu erfolgen, die den Kampf um die Abschaffung des Feudalismus in Deutschland begleitete. Denn das Problem der erworbenen Rechte (das heißt Rechte, deren Entstehungstatbestand in einer überholten Sozialordnung begründet liegt) und ihrer gesetzgeberischen Behandlung ist nicht an eine bestimmte Zeit, an bestimmte historische Ereignisse gebunden. Immer dann, wenn ein Wirtschaftssystem das andere ablöst, Institutionen im Gefolge ökonomischer Gestaltwandlungen ihren Sinngehalt ändern, gibt es das Problem der »erworbenen Rechte«. Revolutionen wird das Problem der erworbenen Rechte, selbst wenn es bürgerliche Revolutionen sind, blitzartig nur im Moment klar. Im nächsten Augenblick muss es gelöst werden. Es bedeutet Sieg, wenn die erworbenen Rechte in den Orkus der historischen Vergangenheit gebannt werden können, es bedeutet Niederlage, wenn sie aufs Neue ihr Haupt erheben. Aber auch Zeiten, die ohne
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plötzliche soziale und politische Umwälzung das Problem des Übergehens von einem Gesellschaftssystem zum andern auf gesetzlichem Wege zu erledigen haben, müssen diese Frage lösen. Das Problem besteht im Deutschland von 1930 ebenso wie in dem Preußen von 1850. Der Übergang von der ständischen Feudalordnung zur bürgerlichen Individualordnung hat dieselben technischen und juristischen Fragen aufgeworfen, wie sie die Übergangsordnung der Weimarer Verfassung aufwirft. Die Fragestellung nach der gesetzlichen Zulässigkeit der Aufhebung erworbener Rechte beschäftigt sich nicht damit, welche Rechte aufzuheben sind. Öffentliche Meinung und soziale Notwendigkeit weisen hier in jedem Jahrhundert den Weg, auf dem auch die konservativsten Autoren notgedrungen zu folgen gezwungen sind. Die Fragestellung lautet im Wesentlichen so: Welche Rechte sind gegen Entschädigung, welche Rechte ohne Entschädigung aufzuheben? Hier teilen sich im 19. Jahrhundert, wie auch noch heute die Meinungen konservativer, liberaler und sozialistischer Autoren. Der konservative Friedrich Julius Stahl zieht keine Grenze hinsichtlich der Entschädigungspflichtigkeit zwischen der Aufgabe von politischen und rein privaten Rechtstiteln. Gewiss, er gibt zu, dass »in der großen weltgeschichtlichen Fortbildung des öffentlichen Zustands die erworbenen Rechte einzelner Menschen oder Klassen weichen müssen«; aber er meint, dass sie weichen müssen als anerkannte Rechte. Deshalb haben sie nach seiner Auffassung auf die schonendste Weise und gegen Entschädigung zu weichen.20 Der konservative Staatsphilosoph widerlegt sich selbst, wenn er im Nachsatz resigniert feststellt, dass die Aufhebung, die gewaltsame Abstoßung der erworbenen Rechte als Werk besonderer Zeitepochen mehr eine weltgeschichtliche als eine juristische Rechtfertigung besitzt. Damit gibt er zu, dass das konservative Verhalten gegenüber der Frage der Entschädigungspflichtigkeit bei der Beseitigung erworbener Rechte rein reaktiv ist und kein Beurteilungsprinzip abgeben kann. Lorenz von Stein hat sich in seinen frühen Werken als ein Autor erwiesen, der die Relativität des bürgerlichen Daseins zusammen mit Karl Marx am ehesten erkannt hat. Seine literarischen Versuche, die wachsende Antinomie dieses bürgerlichen Daseins aufzulösen, kamen aus dem Bereich bürgerlichen Denkens nicht heraus, indem sie den ökonomischen Zwiespalt durch eine rein politische Lösung zu überbrücken versuchten. Daher musste Lorenz von Stein auch in seinem zweiten 20 Friedrich Julius Stahl setzt seine Lehre in seiner »Rechts- und Staatslehre«, I. Abteilung, 3. Buch, § 15 ff. (Heidelberg 1870) auseinander.
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umfassenden Versuch, der Verwaltungslehre, in die Bahn des Liberalismus zurückkehren. Immerhin bleibt ihr Teil über die »Entwährung« neben den im rein juristisch-technischen bleibenden Büchern von Georg Meyer21 und Grünhut22 in dieser Zeit das einzige Werk eines bürgerlichen Autors, das den Zusammenhang zwischen Ökonomie, Politik und juristischer Regelung erfasst und im liberalen Sinne verarbeitet. Für Lorenz von Stein ist die Zweiteilung, wie sie das ursprüngliche Dekret der französischen Nationalversammlung vom 6. August 1789 vorgenommen hat, das Vorbild. Auch er möchte zwischen der Aufhebung der feudalen Rechte rein politischer Natur (Patrimonialgerichtsbarkeit und so weiter) und derjenigen, die nachweislich aus reinen privatrechtlichen Vertragsverhältnissen entstammen, unterscheiden. Die Aufhebung der öffentlichen Rechtstitel des Feudalismus soll ohne Entschädigung erfolgen; denn hier fühlt der Liberale die Aufhebung einer dem Bewusstsein der Zeitgenossen nicht mehr adäquaten staatlichen Ordnung durch eine andere. Es fand hier, wie er es plastisch ausdrückt, eine Aufhebung statt, die »ihrem Wesen nach nur ein Zurücknehmen dieser Rechte von Seiten des Staates war«.23 Für die privaten Rechte aber, und seien sie auch dem Zeitbewusstsein noch so wenig entsprechend, fordert von Stein die Entschädigung und erklärt sich insofern mit der preußischen Agrargesetzgebung seiner Zeit einverstanden. Sein Fehler liegt darin, dass er willkürlich hinter die gesellschaftliche Entwicklungsreihe den Punkt dort setzt, wo es ihm nach den Perspektiven seiner späteren Lebensjahre für angemessen schien. Seine Entwicklungsreihe heißt: Geschlechterordnung, Ständeordnung und staatsbürgerliche Gesellschaft. Unter staatsbürgerlicher Gesellschaft versteht von Stein aber sein eigenes Zeitalter, die Zeit eines individualistisch gesinnten Kapitalismus, jene Zeit, die in besserer Selbsterkenntnis kürzlich die englische liberale Wirtschafts-Studienkommission uns durchaus zutreffend als Übergangsstadium geschildert hat.24 Da Lorenz von Stein glaubt, dass jene Stufe der kapitalistischen Wirt21 22 23 24
Georg Meyer: Das Recht der Expropriation, Leipzig 1868. [Carl Samuel] C. S. Grünhut: Das Enteignungsrecht, Wien 1873. [Lorenz von Stein: Die Verwaltungslehre, Band 7, Stuttgart 1868, S. 148.] »The social foundations of progress were the liberation of the energies of the middle classes, the scope offered to their enterprise, their talents, and their thrift, and the honour paid to success in business life. It was the age of Samuel Smiles and the self-made man, of the dominance of the bourgeoisie. Its political foundations were the general abstention of the State from attempts to control the course of industrial development and the reliance of the initiative and unrestricted competition of independent business concerns. It was the age of laissezfaire.« Britains Industrial Future, being the Report of the Liberal Industrial Inquiry, London 1928, S. 6.
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schaftsentwicklung die bestmögliche Wirtschaftsform bedeute, hält er es für gerecht und richtig, die Überführung ständischer Wirtschaftsformen in das individualistische, kapitalistische Wirtschaftssystem nur gegen Entschädigung zuzulassen. Die kontraktliche Bindung, deren Innehaltung dem Wirtschaftsdenken der staatsbürgerlichen Gesellschaft selbstverständliche Grundvoraussetzung war, muss schon des Prinzips wegen auch bei Beurteilung der ständischen Ordnung gewahrt bleiben. Lorenz von Stein hat damit seine gesellschaftswissenschaftlichen Betrachtungen und Ansätze mit einer Geschichtskonstruktion belastet, die sich sehr bald als fehlerhaft herausgestellt hat. Die Frage der erworbenen Rechte kann nicht mit Hinblick auf eine Geschichtskonstruktion gelöst werden, die aus dem vermeintlichen ZuEnde-Gehen von Entwicklungsstadien Gerechtigkeitsforderungen herauskristallisiert, die nichts als Widerspiegelungen bestimmter Zeitauffassungen sind. Dem Vertreter der Hegel’schen Linken blieb es vorbehalten, die erworbenen Rechte auf eine Weise zu behandeln, die mehr als die konservative und liberale Anschauung von dem Bewusstsein getragen war, dass nicht Aufgabe der Rechtslehre sein kann, in den Gang der historischen ökonomischen Entwicklung künstliche Hindernisse einzuschalten. Ferdinand Lassalle hatte gegenüber Lorenz von Stein den Vorteil, dass er den Durchgangscharakter des bürgerlichen Zeitalters erkannte und demgemäß die Ablösung der erworbenen Rechte nicht mit den friedfertigen und milden Blicken eines Bürgers ansah, der in dem Bewusstsein, eine notwendig siegende Gesellschaftsordnung zu vertreten, alle Rechtsansprüche einer untergehenden Gesellschaftsordnung rasch noch befriedigt, um desto schneller und kampfloser zu seinem Siege zu gelangen. Lassalle wusste, dass es einer allgemeingültigeren Formel bedurfte, die dem Problem der erworbenen Rechte als einer Frage, die bei der Ablösung jedes Gesellschaftssystems auftaucht, Rechnung trägt. Jede Stellungnahme, die die Frage so lösen will, dass sie die Gebote einer Willensmacht,25 die vergangenen Zeiten angehört, als für Gegenwart und Zukunft heilig und unabänderlich hinstellt, hat Lassalle mit Recht zurückgewiesen. Das Individuum ist souverän im Erwerb von Rechten, solange die Gesetzgebung den betreffenden Rechtsinhalt zu erwerben gestattet. Dadurch erhält das Individuum aber keineswegs das Recht, sich als Gesetzgeber für die Zukunft zu proklamieren und jeder neuen Gesetzgebung den Schein seines Rechtes entgegenzusetzen. 25 Klassisch kommt die Anschauung einer notwendigen Fernwirkung der Willensmacht bei Trendelenburg: Naturrecht, Berlin 1868, § 49 zum Ausdruck. [Adolf Trendelenburg: Naturrecht auf dem Grunde der Ethik, Berlin 1868, § 49.]
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Die Formulierung, mit der Lassalle diesem Gedankengang Ausdruck gab, besteht auch heute noch zu Recht: »Es läßt sich also vom Individuum kein Pflock in den Rechtsboden schlagen und sich mittels desselben für selbstherrlich für alle Zeiten und gegen alle künftig zwingenden oder prohibitiven Gesetze erklären. Denn nichts anderes als diese verlangte Selbstsouveränität des Individuums liegt in der Forderung, daß ein erworbenes Recht auch für solche Zeiten fortdauern soll, wo prohibitive Gesetze seine Zulässigkeit ausschließen.«26
Dem gegenwärtigen Zeitbewusstsein muss es vorbehalten bleiben, darüber zu Gericht zu sitzen und sein Urteil abzugeben, welche Rechte der Vergangenheit auch unter veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen noch zu Recht bestehen, und jede Zeit muss das Recht haben, selbst zu bestimmen, ob sie zulassen will, dass solche Rechte, die in ihren Augen keinen Rechtscharakter mehr tragen, sofort und mit rückwirkender Kraft beseitigt werden. Sie allein ist Herrin darüber, ob solche Rechte überhaupt nicht mehr existieren, oder ob nur ihre zukünftige Entstehung an neu zu schaffende Bedingungen geknüpft werden soll. Von diesem Standpunkt aus hat Lassalle mit Recht einen erbitterten Kampf gegen die preußische Ablösungsgesetzgebung geführt, insoweit sie Rechte, die vom Bewusstsein seiner Zeit als rechtmäßige Rechte nicht mehr anerkannt werden konnten, dennoch für ablösbar erklärte. Lassalle wies auf die Inkonsequenz hin, die darin liegt, dass der Gesetzgeber anerkennt, dass das Rechtsbewusstsein einer Zeit eine Klasse von Rechten als nicht mehr den heutigen Verhältnissen in Einklang stehend bezeichnet, und dennoch zu ihrer Ablösung schreitet. Wer zuerst – wie dies im Artikel 42 der preußischen Verfassung von 1850 geschah – Rechtskategorien ohne Entschädigung aufhebt und späterhin dazu übergeht, für die Ablösung dieser Rechte Entschädigungspflicht gesetzlich festzulegen, der lässt diese Rechte in Wirklichkeit weiterexistieren. Die Konsequenz Lassalles, dass die Aufhebung von Rechten, deren Weiterbestehen das Zeitbewusstsein verbietet, nur ohne Entschädigung geschehen kann, ist richtig und zeitlos gültig. Was Lassalle vor den andern Schriftstellern auszeichnet, ist sein Bewusstsein von der geschichtlichen Wandelbarkeit der rechtlichen Institutionen und sein grandioser Versuch, für diese Wandlung allgemeingültige Rechtskategorien zu schaffen. Wie sehr seine Theorie der erworbenen Rechte darauf eingestellt ist, nur eine Regel darüber aufzustellen, wie die Kol26 Das System der erworbenen Rechte, I. Teil, Leipzig 61, S. 197. [Ferdinand Lassalle: Das System der erworbenen Rechte. Eine Versöhnung des positiven Rechts und der Rechtsphilosophie, 1. Teil, Leipzig 1861.]
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lision zwischen Rechtsvergangenheit und Wirklichkeit zu beurteilen ist, das zeigen folgende für den Schreiber charakteristische Zeilen: »Die Frage, welchen Inhalt das heutige Zeitbewußtsein hat, welchen Inhalt jedes spätere Zeitbewußtsein haben wird und mag, sind offenbar Fragen, deren inhaltliche Beantwortung durch keine formale Regel – das wäre ja ein reines Vademecum für die ganze Weltgeschichte – gegeben werden kann und die mit einer Rückwirkungstheorie gar nichts zu tun haben. Was diese leisten soll, ist nur, die formale Rechtslogik festzustellen, welche nachweist, was, welchen Inhalt auch das heutige Zeitbewußtsein habe oder ein späteres Zeitbewußtsein haben wird und mag, in bezug auf die bereits bestehenden Rechtsverhältnisse gemäß daraus folgert. Der Inhalt des Zeitbewußtseins muß für die Frage der Rückwirkung als bekannt vorausgesetzt werden. Die Frage nach diesem Inhalt ist keine andere als die: wie soll der Gesetzgeber über alle Materien überhaupt denken. Jene formale Rechtslogik habe ich geschaffen, und mich dünkt, mit ehernen Klammern befestigt.«27
Wer der Träger des Rechtsbewusstseins sein soll, darüber hat sich Lassalle im positiven Sinne nicht ausgesprochen. Wohl befindet sich in dem eben zitierten Brief eine Stelle, die dem Parlament Recht und Fähigkeit zu diesem Amt im Einklang mit Rodbertus abspricht. Sicher hat hier die Abneigung des Konservativen und des Sozialisten gegen die Zusammensetzung des damaligen Parlaments, das seine Zustimmung zu den nicht mehr zeitentsprechenden Ablösungsgesetzen erteilte, mitgesprochen. Eine generelle Aversion Lassalles gegen die Parlamente zur Feststellung der jeweilig durch das Volksbewusstsein gebotenen notwendigen Beseitigung von Rechtskategorien lässt sich daraus nicht folgern. Denn Lassalle spricht immer von Gesetzen, diese sind aber Akte der Legislative, und dass die Legislative formell zur Aufhebung erworbener Rechte berechtigt sei, hat nicht einmal der sonst vollkommen in der liberalen Ideologie verbleibende Bluntschli geleugnet, der folgerichtig trotz aufrichtigen Bedauerns für den Richter keine Möglichkeit sieht, Gesetzen mit ausdrücklich ausgesprochener rückwirkender Kraft seine Anerkennung zu versagen.28 In der Theorie wie in der Praxis hebt sich aber deutlich der Wille ab, Eingriff in erworbene Rechte und Enteignung voneinander getrennt zu halten und zu unterscheiden. Für das bürgerliche Bewusstsein der Mitte des vorigen Jahrhunderts, für das der private Besitz an Produkti27 [Adolf Wagner (Hg.):] Briefe von Ferdinand Lassalle an Carl Rodbertus, Berlin 1888, S. 33. 28 [Johann Kaspar] Bluntschli: Allgemeines Staatsrecht, [München] 1868, Bd. I, S. 564; desgleichen [C.] Christiansen: Über erworbene Rechte, Kiel 1866.
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ons- und an Existenzmitteln Grundlage des wirtschaftlichen und kulturellen Daseins war, durfte die gleichzeitige Existenz beider Rechtsformen nicht in einen Zusammenhang gebracht werden, der es ermöglichte, auch Formen für die Überwindung des bürgerlichen Privateigentums zu schaffen. In dieser Hinsicht ist der Unterschied zwischen dem Liberalen Stein auf der einen, dem Konservativen Stahl und dem Sozialisten Lassalle auf der anderen Seite entscheidend. Stein fasst Enteignung und Ablösung29 von Rechten technisch zusammen, nimmt aber dieser Zusammenfassung jede Bedeutung, wenn er die Aufhebung erworbener Rechte mit dem Sieg der bürgerlichen Gesellschaft als erledigt ansieht. Der Gedanke, dass auch das Eigentum einmal nicht mehr das Korrelat, sondern der Widerpart der menschlichen Freiheit sein könne, taucht bei ihm nicht auf. Lassalle und Stahl sehen wohl den technischen Unterschied beider Begriffe, die singuläre Natur der Enteignung und die ganze Rechtskategorien umfassende Rechtsaufhebung, beide bemerken aber, wie sich diese Institute in jeder Gesellschaftsordnung gegenseitig durchdringen. Mit Recht hat Lassalle dabei darauf hingewiesen, dass die Aufhebung erworbener Rechte in der allgemeinen Tendenz liegt, die Eigentumssphäre des Privatindividuums zu beschränken und immer mehr Objekte außerhalb des Privateigentums zu setzen.30 Wie weit die konkrete Deutung Lassalles mehr seinem Wunsche als der Wirklichkeit der kapitalistischen Eigentumsrechtsordnung entsprach, kann hier dahingestellt bleiben. Wichtig an ihr ist nur der Versuch rechtssoziologischer Formulierung von Entwicklungstendenzen, die die Aufhebung von Rechtskategorien nicht wie Stahl resignierend in das Gebiet des rein Faktischen verweist, sondern die Tendenz aufzeigt, eine Einschränkung des Eigentumsinhalts rechtlich fortlaufend herbeizuführen.31 29 Stein bezeichnet den Sachverhalt der Aufhebung der erworbenen Rechte als Ablösung, das heißt er hält die Entschädigung für ein begriffswesentliches Merkmal. 30 System I, S. 259, Anm. 1. [Ferdinand Lassalle: Das System der erworbenen Rechte. Eine Versöhnung des positiven Rechts und der Rechtsphilosophie, Band 1, Leipzig 1861.] 31 Die grundsätzliche Bedeutung Lassalles für die Rechtswissenschaft bleibt meistens unberücksichtigt, eine Ausnahme macht Sinzheimer, der verschiedentlich auf ihn Bezug nimmt. Es nimmt wunder, dass eine Abhandlung wie die von Göppert-Eck, die aus einer positivistischen Grundlage heraus in den Resultaten sich sehr stark Lassalle annähert und zudem die Resultate seiner historischen Untersuchungen großen Teiles übernimmt, Lassalle trotzdem wegen der Gesamttendenz, »einer sozialistischen Umgestaltung unseres ganzen Rechtslebens die juristische Legitimität zu erstreiten«, ablehnt. [Vergleiche: Heinrich Göppert: Das Prinzip: »Gesetze haben keine rückwirkende Kraft« geschichtlich und dogmatisch entwickelt. Aus dem Nachlass des Verfassers herausgegeben
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Die preußische Verfassung von 1850 hatte genau wie die Verfassung der Paulskirche die beiden Materien, Enteignung und Rechtsaufhebung und -ablösung streng getrennt. Es mag dies vielleicht einer der Gründe gewesen sein, warum die Kommentatoren der preußischen Verfassung den Art. 9, der die Unverletzlichkeit des Eigentums und die Voraussetzungen der Enteignung festlegte, mehr nur vom jeweiligen Standpunkt des liberalen oder des konservativen Kommentators aus gesehen haben, anstatt seine prinzipielle Bedeutung aufzuzeigen. Die Doppelgleisigkeit der Behandlung von Enteignung und Rechtsaufhebung ermöglichte immerhin, die Enteignung so zu betrachten, als ob schon eine vollkommene bürgerliche Rechtsordnung vorhanden wäre, deren Einheitlichkeit die Aufhebung von Rechtskategorien nicht kennen kann; denn die notwendige Aufhebung von Rechtskategorien bezeugt gerade, dass eine einheitliche bürgerliche Rechtsordnung noch nicht gegeben ist. Durch die Trennung der Materien gewinnt die Enteignung das gleiche Gesicht wie in den anderen konstitutionellen Verfassungen. Unter der Voraussetzung der Herrschaft einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung schreibt sie die notwendigen Verfahrensmaximen bei Eingriffen in das individuelle Eigentum vor. Gerade aus dieser Sanktionierung von Verfahrensvorschriften wird aber erst ihre Grundlage klar. Die Enteignungsbestimmungen des bürgerlichen Rechtsstaats haben das Prinzip der bürgerlichen Eigentumsordnung zur Voraussetzung. Die Erklärung der Unverletzlichkeit des Eigentums ist wörtlich zu nehmen. Man mag darüber streiten, ob der Staat dem Eigentum als etwas außerhalb seiner selbst Stehendem eine Garantie verleiht oder ob hier ein Schöpfungsakt des Staates vorliegt. Soziologisch wichtig ist nur, dass der Staat das Prinzip des Privateigentums in die Grundlagen seiner Verfassung mit hineingenommen hat und sich nach ihm zu richten gewillt ist. Seine Behandlung der Enteignung bietet hierfür nur die Bestätigung. Diese grundlegenden Tatsachen haben die Kommentatoren nicht genügend gewürdigt. Gewiss ergab sich aus der technischen Fassung der Enteignungsformel, dass die Verfassung nur das Verfahren bei Einzeleingriffen bekümmerte und sie gegen Eingriffe durch Gesetze nicht schützte. Das hatte eine doppelte Bedeutung: Einmal, wie schon erwähnt, wollte das Bürgertum nicht auf diese Weise dem Adel noch eine Waffe gegen sich in die Hand geben, indem dieser hier einen Grund für die gesetzliche Unzulässigkeit jeder Art von Eingriff in erworbene Rechte hätte finden können. Deshalb wurde bei den Beravon Dr. E. Eck, in: Rudolf von Jhering (Hg.): Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts, Band 22 N. F. Band 10, Jena 1884, S. 1-206 und S. 94-100.]
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tungen ausdrücklich festgestellt, dass der Art. 9 sich nur auf Entziehungen und Beschränkungen, welche in einzelnen Fällen eintreten sollen, nicht aber auf Beschränkungen, welche vermöge einer allgemeinen gesetzlichen Disposition stattfinden, bezieht.32 Damit war klargestellt, dass eine unentgeltliche Aufhebung von Grundlasten zulässig ist. Zum zweiten aber war bei den damaligen politischen Machtverhältnissen die Gesetzgebung in den Händen der besitzenden Bürgerschichten, so dass gesetzliche Eingriffe in das Eigentum immer nur dann beschlossen werden konnten, wenn das Bürgertum damit einverstanden war. So gesehen, bedeutet diese Formulierung unter den damaligen Verhältnissen nur einen Erfolg des Bürgertums, das damit auch generellen Eingriffen der Regierungsgewalt in das Eigentum auf dem Verordnungsweg einen Riegel vorschob. Um diesen Punkt drehen sich die Erörterungen der Verfassungskommentatoren, die hier je nach liberaler33 oder konservativer34 Färbung für Gesetz oder Verordnung, Parlament oder Regierung kämpfen. In diesem Kampf, der aber von beiden Seiten unter voller Anerkennung des Privateigentums als Gesellschaftsgrundlage ausgetragen wurde, verflüchtigte sich der eigentliche Sinngehalt der Enteignungs-Bestimmung, der erst heute wieder in seinem historischen Zusammenhang mit allen bürgerlich-rechtsstaatlichen Verfassungen kenntlich wird. Die Entwicklung des Enteignungsinstituts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hängt eng zusammen mit der technischen Entwicklung, die der Kapitalismus in Deutschland genommen hat. Das schnelle Anschwellen der Bevölkerungsziffer und die damit verbundenen Binnenwanderungen waren es vor allem, die den mit den Mitteln der neuen Technik geschaffenen Verkehrsmitteln zur raschesten Verbreitung verhalfen. Hier war das große Anwendungsfeld für die Enteig-
32 Plastisch deutlich wird dies bei Bluntschli-Brater: Staatslexikon, Bd. 5, S. 210 [Johann Caspar Bluntschli, Karl Brater (Hg.): Deutsches Staats - Wörterbuch. In Verbindung mit deutschen Gelehrten, 5. Band, Stuttgart/Leipzig 1860]. »Wenn daher jetzt noch hin und wieder eine entgegengesetzte Ansicht laut wird, um eine angebliche Ungerechtigkeit der Ablösung der gutsherrlichen Rechte und Feudallasten wie des unentgeltlichen Wegfalls einzelner Beschränkungen des bäuerlichen Besitzes zu behaupten, so beruhen dergleichen Behauptungen auf Heuchelei und auf Verkennung des Sinnes und der Bedeutung des Art. 9.« 33 [Gerhard] Anschütz: Verfassungsurkunde für den preußischen Staat, Berlin 1912, und [Ludwig] von Roenne: Staatsrecht der preußischen Monarchie, 2. Bd., Leipzig 1882. 34 [Adolf] Arndt: Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat[: nebst Ergänzungs- und Ausführungs-Gesetzen], Berlin 1897.
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nung gegeben.35 Daneben waren es industrielle Unternehmungen, die sich der Enteignung, der Mithilfe des Staates bedienten, wenn sich sonst ihrem Wachstum private Grenzen entgegensetzten, wie dies hauptsächlich auf dem Gebiet des Bergwesens der Fall war. Solchen Zwecken dienten die Enteignungsbestimmungen in den verschiedensten Einzelgesetzen, grundlegend aber war regelmäßig in allen Einzelstaaten ein Gesetz, das das Verfahren, das bei der Enteignung zu handhaben war, beschrieb. Preußen erließ ein solches Gesetz 1874. Hier tritt uns neben dem seit der Französischen Revolution formell gleich gebliebenen, aber inhaltlich nach der jeweiligen Wirtschaftsstruktur sich wandelnden Begriff des öffentlichen Wohls jener Unternehmensbegriff entgegen, der durch die gestaltende Hand Otto Mayers zum Zentralpunkt des modernen Enteignungsrechts gemacht worden ist.36 Die Formulierung Mayers, dass die Enteignung ein obrigkeitlicher Eingriff in das unbewegliche Eigentum des Untertanen sei, um es ihm zu entziehen für ein öffentliches Unternehmen, und die weitere Definition, dass öffentliches Unternehmen als ein durch seinen besonderen Zweck gekennzeichnetes und abgegrenztes Stück öffentlicher Verwaltung anzusehen sei, war nicht nur trefflich brauchbar für eine bestimmte Zeitepoche, sie stellt zweifelsohne den bleibenden und eigentlichen Sinn des Enteignungsinstituts klar. Denn hier ist negativ die dem individuellen Enteignungsakt innewohnende Zufälligkeit in Bezug auf das Enteignungsobjekt gekennzeichnet. Die individuelle Enteignung entzieht und überträgt Eigentum seinem körperlichen Bestand nach. Sie entzieht und überträgt aber nicht planmäßig, um die frühere Verwendungsform erneut und organisatorisch verbessert wiederaufzunehmen, sondern lässt die neue Daseinsform allein von dem Willen des Exproprianten her bestimmen. Hier in dieser reinen Zufälligkeit liegt allein die moralische Rechtfertigung der Entschädigungsforderung. Diese Enteignung geht von keinem bestimmten vorgefassten Plan aus, und die Gesichtspunkte, unter denen sie betrieben wird, sind rein technischer Art. Darin liegt übrigens auch die Rechtfertigung des heute verworfenen Ausdrucks »Zwangskauf« statt Expropriation, der wohl aus konstruktiven Gründen nicht haltbar ist, aber den soziologischen Tatbestand besser wiedergibt. Er weist auf die diffuse, okkasionelle Ausübung der Expropriation hin. Aus seinem Enteignungsinstitut hat Otto Mayer in vollkommenem Einklang mit der Verfassungsentwicklung des 19. 35 Siehe Wittmayer, Artikel: Enteignung, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., Bd. III[, Jena 1926]. 36 Otto Mayer: Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 2, zitiert nach der 3. Aufl. 1924, S. 1, erstmalig erschienen 1883/85[, Leipzig 1895].
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Jahrhunderts alle Bestandteile entfernt, die nicht dem individuellen, nach bestimmten Verfahrensvorschriften sich richtenden Enteignungsbereich angehören. Aber die technische Entwicklung des Kapitalismus brachte es mit sich, dass teils gesetzlich, teils durch reine Verwaltungsanordnung vielerlei Eingriffe in die Eigentumssphäre des Einzelnen vorgenommen wurden. Dazu kamen im Zeitalter einer gesteigerten nationalen Machtentfaltung Beschränkungen, die die militärische Gewalt dem Eigentum des Einzelnen auferlegte. Wo sollte sie die Rechtstheorie unterbringen? Soweit es sich um die Rechtspraxis handelte, gab es keine Sorgen. Eingriffe von Verwaltungsbehörden, die zwar innerhalb ihrer Kompetenz, aber ohne besondere gesetzliche Ermächtigung handelten, wurden nach dem alten Schema der erworbenen Rechte behandelt. Es wurde eine Entschädigung gezahlt, soweit dies durch Gesetz nicht ausdrücklich ausgeschlossen war.37 Immerhin ist bemerkenswert, dass auch die Gerichte hier niemals den Begriff der Enteignung anwendeten. Otto Mayer versuchte, der Materie dadurch Herr zu werden, dass er die Figur der öffentlich-rechtlichen Dienstbarkeiten und der öffentlichrechtlichen Eigentumsbeschränkung einführte. Dem individualistischen Geist des Zeitalters entsprach es, in vielen Fällen für dauernde Eingriffe in das Eigentum Entschädigungen zu zahlen. Hier ist der Ort der öffentlich-rechtlichen Billigkeitsentschädigung. Sie ist jedoch nichts weiter als eine Forderung an den Gesetzgeber, die er erfüllen kann oder nicht. Eine Forderung gegen den Willen des Gesetzes hat das Rechtsdenken der deutschen Verwaltungsrechtslehre, solange das Gesetz Ausfluss bürgerlichen Willens blieb, nicht erhoben. Möglich, dass alle diese Beschränkungen, damals noch nicht unter einheitlichen sozialen Prinzipien zusammengefasst, noch williger ertragen wurden. Die einheitliche Behandlung aller Billigkeitsforderungen durch die Verwaltungsrechtslehre musste deshalb an dem Willen des Gesetzgebers scheitern, und die begriffliche Zusammenfassung Otto Mayers38 verlor dort an Überzeugungskraft, wo er selbst mit dem Hinweis auf die Verschiedenheit der positiven Gesetzgebung sich begnügen musste. Die Lehre von der öffentlich-rechtlichen Eigentumsbeschränkung im enge37 Siehe die Entscheidung des preußischen Obertribunals in dessen Sammlung Band 72 Nr. 1 [Entscheidungen des königlichen Obertribunals, herausgegeben von den Ober-Tribunals-Räthen Dr. Sonnenschmidt, Michels und Clauswitz, 72. Band, Berlin 1874]; Reichsgericht [RGZ], Bd. 12, S. 3, Bd. 19, S. 355 f., die die rein kapitalistische Begrenzung der Eigentumsinstitution klassisch vertritt; RGZ Bd. 41, S. 142 ff. und S. 191 ff., Bd. 72, S. 85 ff. 38 Besonders auffallend a. a. O., Bd 2, S. 115. [Otto Mayer: Deutsches Verwaltungsrecht, Band 2, Leipzig 1895.]
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ren Sinn hat Otto Mayer zu dem Ergebnis geführt, dass dem Eigentum gegenüber dem Staat eine allgemeine und im Voraus anhängende Schwäche anhafte, dass die Macht des Eigentümers, andere von der Einwirkung auf sein Eigentum auszuschließen, in bestimmter Beziehung zu verneinen sei. Man mag diese Lehre auf der einen Seite vielleicht nur als einen Ausfluss des Agnostizismus ansehen, den Mayer gegenüber den gesetzlichen Eingriffen des Staates immer gezeigt hat; wichtiger und entscheidender ist jedoch dabei, dass hier, allerdings an einer nicht sehr bedeutenden Stelle des Gesamtsystems, die Erkenntnis aufdämmert von der Differenzierung des Eigentumsmachtbereichs, je nachdem es sich um seine Stellung gegenüber einem anderen Privateigentum oder gegenüber der öffentlichen Gewalt handelt.39 Während für die Juristen die Grenzen, die der bürgerliche Staat zwischen den hier behandelten Rechtsinstituten errichtete, Ansätze einer systematischen Behandlung sehr erschwerten, blieb es einem außerhalb der juristischen Disziplin beheimateten Gelehrten vorbehalten, aufzuzeigen, dass das geltende Enteignungsinstitut nur der Reflex des Entwicklungsgrades der gesamten Sozialordnung darstellt. Adolf Wagner40 hat in Verfolgung der Entwicklung, die das Rechtsinstitut in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts genommen hat, dessen Zuordnung zu einer Vervollkommnung des privatwirtschaftlichen Systems aufgezeigt. Er hat unseres Wissens als Erster darauf hingewiesen, dass bei einer erforderlichen Umgestaltung des Wirtschaftslebens eine veränderte Verteilung und Gestaltung des Verfügungsrechts über bewegliches und unbewegliches Kapital notwendig ein ebenfalls verändertes Enteignungsrecht voraussetze. Dabei hat er eine auf legislatorischem Wege vollzogene Umformung einer privatkapitalistischen Gesellschaftsordnung zu einer gemeinwirtschaftlichen für die Zukunft im Auge. Freilich hält er für die nächste Zeit den faktischen Ausschluss der meisten von ihm behandelten Enteignungsfälle für wahrscheinlich, da er im Anschluss an Lassalle vom Volksbewusstsein ausgeht und deshalb die damalige Existenz eines öffentlichen Interesses für eine solche Ausdehnung der Gesetzgebung noch nicht oder nur erst selten für gegeben hält. Wesentlich an seinen Ausführungen ist jedenfalls, dass er 39 Abgeschwächt übernommen von Walter Jellinek: Verwaltungsrecht, 2. Aufl., [ Berlin 1928,] S. 398. Die an dieser Lehre geübte Kritik Günther Holsteins in: Die Lehre von der öffentlich-rechtlichen Eigentumsbeschränkung, Berlin 1921, ist in technischen Einzelheiten richtig, siehe besonders S. 87-89; trifft aber das Problem selbst nicht. 40 [Adolf Wagner:] Grundlegung der politischen Ökonomie, 3. Aufl., 2. Teil, Leipzig 1894, S. 527 ff.
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den Begriff des öffentlichen Interesses aus der technischen Sphäre eines Fortschritts innerhalb der privatkapitalistischen Wirtschaftsordnung deutlich heraushebt und das öffentliche Interesse unter dem prinzipiellen Gesichtspunkt der Wandelbarkeit der öffentlichen Anschauungen in Bezug auf das Wirtschaftssystem selbst betrachtet. Öffentliches Interesse wird zum Urteil über Richtigkeit oder Verfehltheit des Wirtschaftssystems selbst. Damit hat Wagner in der prinzipiellen Behandlung der Materie den vom liberalen Rechtsstaat vorgezeichneten Rahmen gesprengt, und seine »Enteignung« hat mit dem bisher geltenden Rechtszustand nur noch den Namen gemein. Dies zeigt sich deutlich in der Art, wie Wagner den Entschädigungspunkt behandelt. Ausdrücklich wird hier auf Lassalle hingewiesen, der diese Frage richtig entschieden habe, und ganz in seinem Sinne wird die individuelle Enteignung, die Zwangsabtretung, von der Aufhebung ganzer Rechtsgattungen getrennt. Sehr gut wird hier die Berechtigung der Entschädigung bei der Zwangsabtretung in der reinen Zufälligkeit des Konflikts des privaten mit dem öffentlichen Interesse gefunden und die Entschädigung dadurch gerechtfertigt, dass hier ein Opfer zugemutet wird, welches andere, dasselbe Recht besitzende Personen nicht trifft. Damit wird am Ende des liberalen Rechtsstaats noch einmal ausdrücklich festgestellt, dass die Enteignung sowie das öffentliche Interesse, in dessen Namen sie vorgenommen wird, innerhalb der reinen Immanenzsphäre des liberalen Staates beharrt und dass das, was Adolf Wagner etwas verlegen ebenfalls als Enteignung bezeichnete, mit dem hier gemeinten Rechtsinstitut nur technische, keine prinzipiellen Gemeinsamkeiten mehr hat. Nirgends wird die Problematik zwischen dem alten liberalen Rechtsstaat und der neuen Zeit deutlicher sichtbar als bei der Beratung des Polengesetzes im Jahre 1907. Hier versuchte der vorrevolutionäre Staat, unter Zubilligung aller nach liberal-rechtsstaatlichen Grundsätzen notwendigen Entschädigungsbeträge, seine nationale Ansiedlungspolitik durchzuführen; er schuf die generelle Möglichkeit, polnischen Großgrundbesitz in Siedlungsland für deutsche Bauern zu verwandeln. Er unternahm hier mit aus vielen Gründen unzureichenden Mitteln nur das, was nach Beendigung des Weltkriegs überall rings um die deutschen Ostgrenzen mit größerer Intensität und ohne rechtsstaatliche Skrupel in Wirklichkeit umgesetzt wurde. Doch hier zeigte sich im alten Deutschland, obwohl es sich um nationale, nicht um soziale Belange handelte, dass jedes planmäßige Unternehmen, auch wenn es nicht nur die Privatrechtssphäre von einzelnen, sondern von einer
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generell bestimmten Mehrzahl von Menschen verletzt, mit dem Charakter des liberalen Rechtsstaats nicht vereinbar ist. Klassisch wird dieser Sachverhalt aus der Rede klar, die damals der Zentrumsabgeordnete Porsch41 hielt: »Bisher hat man«, so heißt es hier, »das Objekt expropriiert, man hat das Grundstück genommen, ganz ohne Rücksicht darauf, in wessen Händen es war, um es einer anderen Bestimmung zu widmen, in der es dem öffentlichen Wohl zu dienen geeignet ist. Hier will man das Objekt nicht einer anderen wirtschaftlichen Bestimmung widmen, auch nicht einem allgemeinen Zweck, sondern man will, dass andere Hände für ihre eigenen Privatzwecke dieses Objekt künftig benutzen sollen.«
Und er fügt bitter hinzu: »Man müßte danach Artikel 9 der preußischen Verfassung so ändern: Der Staat ist berechtigt, über das Privateigentum frei zu verfügen, soweit ihm das notwendig erscheint.« Man hat sich damals über diese Bedenken um der nationalen Sache willen hinweggesetzt. Aber war es nicht ein Präjudiz? Gestern war es der nationale, heute ist es der soziale Staat. Die Maxime des liberalen Rechtsstaats ist verlassen, sofern überhaupt der Staat selbsttätig regelnd in das eingreift, was bisher unbestritten privater Herrschaftsbereich war. Sehen wir, wie die Weimarer Verfassung den Versuch unternimmt, die Fülle der nunmehr neu auftauchenden Probleme zu bewältigen, und wie die Praxis den Intentionen dieser Verfassung gerecht zu werden versucht. Als Ergebnis der hier angestellten Untersuchung ist festzuhalten: Die Eigentumsschutzformeln der Verfassungsurkunden des 19. Jahrhunderts haben die Existenz der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zur Voraussetzung. Sie besagen, dass das Eigentum jedes einzelnen Bürgers nur durch einen Verwaltungsakt auf Grund eines gesetzlich geregelten Verfahrens weggenommen werden kann. Bis zur Mitte des Jahrhunderts wurde insbesondere in Ländern mit noch rückständiger Agrarverfassung die Aufhebung erworbener Rechte als Abschaffung ganzer Rechtskategorien stets vom Enteignungsprozess, der nur als Rechtseinrichtung, nicht aber in jedem einzelnen Fall politisch-gesellschaftliche Relevanz besitzt, streng getrennt. Seit 1870 etwa war diese Unterscheidung zwar immer fortlaufend noch vorhanden, praktische Bedeutung 41 Bei Gelegenheit der Beratung des Gesetzes über Maßnahmen zur Stärkung des Deutschtums in den Provinzen Westpreußen und Posen, Stenographischer Bericht des Abgeordnetenhauses 1908, S. 3117. Siehe auch die symptomatischen Ausführungen von Ernst Havenstein in Schmollers Jahrbuch Bd. 41/3, 4, S. 108. [Ernst Havenstein: Das Bergregal der Standesherren im Ruhrkohlebezirk, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, Jg. 41, Heft 3, München 1917, S. 41-109.]
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kam ihr jedoch nicht zu, da das bürgerliche Eigentum unantastbare, herrschende Gesellschaftsgrundlage geworden war. Die Unterscheidung musste erneut ins Bewusstsein zurückkehren, als mit der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse das bürgerliche Eigentum selbst seiner Bedeutung als unantastbare Gesellschaftsgrundlage entkleidet wurde.
II. Die Reichsverfassung Die Weimarer Reichsverfassung hat am deutlichsten von allen Nachkriegs-Verfassungen das laissez-faire, laissez-passer, das die bürgerlichen Verfassungen des 19. Jahrhunderts den Fragen der Wirtschaft gegenüber bezeugten, endgültig beseitigt. Sie hat den Willen gezeigt, damit aufzuräumen, die wirtschaftliche Betätigung des Menschen in den Bereich einer sie nicht interessierenden Freiheit zu verweisen. Sie garantiert nicht mehr nur, sie will selbst verantwortlich sein. Das war der Wille der Reichsverfassung, und diesen Willen gilt es zu respektieren und zu erforschen. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass die gegenwärtige Situation sich von dieser Willensrichtung entfernt habe, zu Unrecht führt Günther Holstein in einem Rechtsgutachten42 aus, dass die Interpretation des Art. 153 nicht dauernd durch die Rechtslage des Jahres 1919 bestimmt werden könne, sondern dass die folgende Epoche wissenschaftlicher Arbeit und verantwortungsbewusster Rechtsprechung berücksichtigt werden müsse. Solange die Weimarer Reichsverfassung besteht, muss ihr Wille, der allerdings durch die Verhältnisse des Jahres 1919 maßgebend beeinflusst ist, die Auslegung bestimmen. Aufgabe der Wissenschaft und Rechtsprechung muss es sein, diesem Willen zur Geltung zu verhelfen, anstatt durch Berücksichtigung angeblicher Entwicklungstendenzen den objektiven Willen der Verfassung zu durchkreuzen. Für die Gesamttendenzen der Verfassung auf dem Gebiete der Wirtschafts- und Sozialpolitik ist ein wertvoller Fingerzeig allein schon die Tatsache, dass die Regelung der Wirtschafts- und Sozialpolitik in einem besonderen Titel mit der Überschrift »Das Wirtschaftsleben« stattgefunden hat.43 Der liberale Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts hätte den Gedanken, den Gesamtkomplex des Wirtschaftslebens nach der aktiven Seite hin in den Bereich seiner 42 [Günther Holstein:] Fideikommißauflösung und Reichsverfassung, Berlin 1930, S. 5. 43 Vergleiche auch die Verfassungen Litauens Abschnitt II und Jugoslawiens Titel 3.
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Erörterungen zu ziehen, weit von sich gewiesen; eine privatkapitalistische Wirtschaftsordnung hat keinen Platz für eine Regelung des Gesamtablaufs des Wirtschaftsprozesses unter übergeordneten Gesichtspunkten; die ihr höchstens gemäße Regelung, die sich mit zunehmender Herausarbeitung hochkapitalistischer Formen als notwendig erweist, bleibt reine Verkehrsregelung zwischen Privatpersonen, etwa in der Art, wie sich die bisherige Praxis der Kartellverordnung ausgewirkt hat. Hier werden private Streitigkeiten entschieden, aber der dabei waltende höhere Gesichtspunkt ist höchstens der, den gesicherten Ablauf der vorhandenen Wirtschaftsordnung im Interesse aller aufrechtzuerhalten. Diese liberale Rechtsstaatsordnung auch nur mit den sich aus dem Hochkapitalismus ergebenden notwendigen Modifikationen in die neue Verfassungsordnung zu übernehmen, ist in Weimar abgelehnt worden. Die Stützen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung: Vertragsfreiheit, Privateigentum und Erbrecht haben ihre bisherige Unnahbarkeit aufgeben müssen. Von Rechten, die dem Staat starr und unabänderlich gegenüberständen, kann keine Rede mehr sein. Sie sind noch vorhanden, und ihre Abschaffung darf auch nicht dekretiert werden; aber das Maß ihrer Wirkungskraft ist eingespannt in den Willen des Gesetzgebers.44 Auf der anderen Seite hat die Verfassung aber Satzungen aufgestellt, die der Gesetzgeber in jeder Situation nicht nur nicht vernichten darf, sondern die er positiv berücksichtigen muss: Koalitionsfreiheit, Schutz der Arbeitskraft und die Räteorganisation des Artikels 165 sind im Verfassungssystem nicht relativiert, ihre Existenz wird ohne Ermessensklausel für den Gesetzgeber als ein Stück Verfassungswirklichkeit betrachtet. Wie sehr die hierin zum Ausdruck kommende Einschätzung der einzelnen Gestaltungskräfte der Verfassung nicht als Stückwerk, sondern als Gesamtkomplex zu betrachten ist, zeigen die Ausführungen Friedrich Naumanns45 im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung. Bei aller Skepsis, die der juristischen Gestaltungskraft Naumanns entgegengebracht worden ist und werden muss, zeigen seine Ausführungen doch deutlich, wieweit gerade die Wirtschaftsordnung sich von der Vergangenheit abheben sollte. Ausdrücklich hat Naumann die Fragestellung: »Was kann 44 Dass in der Rechtsprechung mancher Gerichte, so insbesondere des Reichsfinanzhofs, dies nicht anerkannt wird, ist kein Gegenbeweis, sondern zeigt nur die Stärke der über individualistische Beweisführung anerkannten kapitalistischen Tendenzen. 45 Siehe Protokolle des Verfassungsausschusses, S. 177 ff. [Protokolle des Verfassungsausschusses zur Reichsverfassung, 18. Sitzung, 31. März 1919, S. 9-18], und über die Bedeutung Naumanns [Rudolf] Smend in »Verfassung und Verfassungsrecht«, [München/Leipzig] 1928, S. 166.
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der Staat oder darf der Staat dem Einzelnen nicht tun, und was tun wir als Einzelne, weil der Staat aus uns, den Einzelnen, besteht?« verneint und sich dazu bekannt, dass der »Verbandsmensch der Normalmensch der Gegenwart«46 sei. Für diesen kollektivierten Menschen, der im Rahmen fester ökonomischer Bindungen lebt und tätig ist, muss die neue Verfassung nicht nur grundsätzlich Freiheiten im alten Sinn, wie etwa Freiheit von Beschränkungen des Koalitionsrechts, enthalten, sie muss auch positiv seiner Tätigkeit Raum geben, ihre Wirkkraft nicht nur anerkennen, sondern fördern. Naumann hat erkannt, dass die Lösung dieser Frage für die Verfassung selbst Tod oder Leben bedeutet. Über die Frage, wieweit die in dem Wirtschaftsabschnitt der Grundrechte zusammengefassten Bestimmungen miteinander harmonieren, wieweit sie sich gegenseitig ergänzen oder aufheben, ist schon bei Abfassung der Verfassung mit mehr Skepsis als Hoffnung diskutiert worden. Je mehr die wirtschaftliche und politische Entwicklung der letzten 10 Jahre die schon im Verfassungswerk selbst widerstreitenden Interessen auseinanderbrachte, desto mehr trat an Stelle der Betonung der gemeinschaftsbindenden Faktoren der Überordnung der sozialen Motivation das angeblich garantierte Einzelinteresse. Es ist kein Zufall, dass gerade in diesem Zusammenhang der Begriff des bürgerlichen Rechtsstaats zu neuem Leben erwachte, dass man versuchte, ihm die alten Wege des vorigen Jahrhunderts mit unter verschiedenem politischen Inhalt gleichgebliebenen und noch verstärkten wirtschaftlichen Tendenzen zu weisen. Bis in den Anfang des Jahrhunderts hinein hat sich der Rechtsstaatsgedanke in Deutschland immer mehr formalisiert und von jedem konkreten Inhalt entleert.47 Die formalen Bestandteile des rechtsstaatlichen Denkens, wie sie Montesquieu formulierte, der Gewaltenteilungslehre deckten sich noch weit hinein ins 19. Jahrhundert mit dem politischen Programm des Bürgertums. Je mehr sich auch in der konstitutionellen Monarchie dieses politische Programm erfüllte, desto geringer wurde die inhaltliche Bedeutung des Rechtsstaatsgedankens. Schon bei Gneist erscheint er in abgeschwächter Form, und das bei ihm zu konkretem Ausdruck gelangende Verlangen des Bürgertums48 nach Ämterbeteiligung und Selbstverwaltung zeigte, wie wenig im Grunde dem Bürgertum zu fordern übrigblieb. Kraftvolle Formen besitzt rechtsstaatliches Verlangen aber nur dann, 46 [Protokolle des Verfassungsausschusses zur Reichsverfassung, 18. Sitzung, 31. März 1919, S. 15.] 47 [Hermann] Heller, Rechtsstaat oder Diktatur [?], Tübingen 1930. 48 Siehe die Ausführungen Carl Schmitts in der Verfassungslehre, [München/Leipzig 1928,] S. 125 ff.
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wenn hinter dem formaljuristischen Programm Sicherungsforderungen einer wirtschaftlich aufstrebenden Klasse sich bergen. Als im Anfang des 20. Jahrhunderts das deutsche Bürgertum schon viel zu sehr die aufstrebende Arbeiterklasse fürchtete, als dass es an die konstitutionelle Monarchie noch große Forderungen stellen konnte, war demgemäß sein rechtsstaatliches Programm inhaltslos geworden. Dies wird klar, wenn wir heute, rückblickend die Ausführungen Richard Thomas49 aus dem Jahre 1910 betrachten. Damals stellte er als Programmpunkte des Rechtsstaats Folgendes auf: »Erstens Omnipotenz des Gesetzes, aber nur des Gesetzes, Bindung der Verwaltung an das Gesetz. Zweitens justizmäßige Haftung von Staat und Beamten für schuldhafte Übertretung der gesetzlichen Schranken. Drittens Sicherung gegen falsche und parteiische Handhabung von Gesetzen durch Verwaltungsorgane und unabhängige Behörden. Viertens Begründung eines Öffentlichen Rechts durch fortschreitende juristische Formung der bisher allzusehr nur politisch und verwaltungstechnisch geformten Gesetzgebung.«
Hier beruht das Kriterium des Rechtsstaats nur in der Form, in welcher die Staatsmacht betätigt wird. Das heute so oft meistens unnütz aufgeworfene Thema der Grenzen der Gesetzgebungsgewalt als rechtsstaatliches Problem wird nur in einer Anmerkung behandelt und aus dem Gebiet des Rechts in das der Moral verwiesen. Den formellen Erfordernissen des Rechtsstaats gegenüber ist die Weimarer Verfassung durchaus positiv eingestellt. Sie hat die justizmäßige Haftung des Staates, soweit sie noch nicht vorhanden war, verwirklicht, den Rechtsschutz gegen Verwaltungsmaßnahmen erweitert und nachdrücklich die Bahn zu dessen voller Verwirklichung (Reichsverwaltungsgericht, Generalklausel) gewiesen. Bleibt die Frage, wieweit die Weimarer Reichsverfassung ausdrücklich oder aus ihrem Gesamtzusammenhang heraus die 49 In »Rechtsstaatsidee und Verwaltungsrechtswissenschaft« Jahrb. f. öff. R. 1910 [Richard Thoma: Rechtsstaatsidee und Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Jahrbuch für öffentliches Recht, Tübingen 1910, im Original: »Omnipotenz des Gesetzes, aber nur des Gesetzes; Bindung der Verwaltung an das Gesetz, aber nur eines Gesetzes, das der freien Initiative gebührenden Spielraum gewährt; justizmäßige Haftung von Staat und Beamten für schuldhafte Überspringung der gesetzlichen Schranken; Sicherung gegen falsche oder parteiische Handhabung der Gesetze durch Verwaltungsgerichte und unabhängige Behörden; endlich: Begründung eines ins einzelne entwickelten öffentlichen Rechts durch fortschreitende juristische Formung der bisher allzu sehr nur politisch und verwaltungstechnisch geformten Gesetzgebung.«]. Ein später Anhänger dieser rein formal gedachten Rechtsstaatstheorie ist Mirkine Guetzewitsch in Zeitschr. f. öff. Recht VIII, 1929, S. 187. [Boris Mirkine-Guetzevitch: Les nouvelles tendances du Droit constitutioniel, in: Revue du droit public et de la science politique en France et à l'étranger, Paris 1929, pp. 564-599.]
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formal-rechtsstaatlichen Bedingungen für neue materielle politische Zwecke zur Verfügung stellt. Augenscheinlich kann sie ihrer ganzen politischen Tendenz nach dies nur für die aufsteigende Arbeiterklasse wollen, indem sie den rechtsstaatlichen Apparat, den sie bisher den Einzelnen zur Verfügung stellte, nunmehr zum Ausgleich der widerstreitenden Sozialinteressen benutzt. Freilich mag hier fraglich sein, wieweit überhaupt die Figur des Rechtsstaats als »sozialer Rechtsstaat« in dem Emanzipationsprozess der Arbeiterschaft dieselbe Rolle einnehmen kann, die er in dem Emanzipationsprozess des Bürgertums gegenüber dem absoluten Staat gespielt hat, wieweit die Balancen, die dem doch immer nur aus Einzelindividuen bestehenden Bürgertum zur Verfügung standen, in das Zeitalter der großen Klassenorganisation übertragen werden können. Teilweise ist dies geschehen und haben die auf Grund der dem Emanzipationskampf der Arbeiterschaft dienenden Bestimmungen der Reichsverfassung eingesetzten Organe (Schlichter, Arbeitsgerichte) solche Funktionen übernommen. Ein abschließendes Urteil über diesen neuen Gestaltwandel des Rechtsstaats kann heute noch nicht abgegeben werden. Neben dieser nach vorwärts tendierenden Funktion des Rechtsstaats, die zweifelsohne im Sinn der Verfassung liegt, haben sich aber im Laufe der letzten 10 Jahre rückläufige Tendenzen entwickelt, die aus der Weimarer Verfassung ein Bollwerk des alten bürgerlichen Rechtsstaats machen wollen. Mittelpunkt dieser neuen rückläufigen Tendenzen sind der Artikel 109 und 153 der Reichsverfassung geworden, deren Verletzung von jeder in ihrem Status quo bedrohten Interessentengruppe meistens gemeinsam vorgeschützt wird. Theoretischen Niederschlag haben diese Tendenzen in zahllosen Schriften zum Aufwertungsgesetz und überhaupt in der mittelständlerischen Beurteilung der modernen Sozialgesetzgebung, neuerdings aber hauptsächlich in dem Buch Hermann Isays: Rechtsnorm und Entscheidung50 und in dem für diese Entwicklung symptomatischen Buch Darmstädters über die Grenzen der Wirksamkeit des Rechtsstaats51 gefunden. Dabei müssen dann gerade die Grundrechte notwendig aus der Ebene des vergangenen bürgerlichen Rechtsstaats betrachtet werden. Soweit die allzu späte Renaissance des bürgerlichen Rechtsstaats, die allerdings keine Angriffs-, sondern nur mehr eine Verteidigungsstellung bezieht, sich auf den Artikel 109 beruft, hat sie ihre Position schlecht gewählt. Zwar ist ihr insofern recht zu geben, als in einem so durchaus wertenden Ver50 [Hermann Isay: Rechtsnorm und Entscheidung,] Berlin 1929. 51 [Friedrich Darmstädter: Die Grenzen der Wirksamkeit des Rechtsstaats,] Heidelberg 1930.
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fassungssystem wie dem Weimarer der Satz: »Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich«, nicht nur die heute selbstverständliche Bedeutung haben kann, dass Justiz und Verwaltung alle ohne Unterschied gleich behandeln muss. Aber es liegt nicht im Sinn der Weimarer Verfassung, wenn nunmehr im Namen der Gerechtigkeit Gesetze, die scheinbar eine Belastung einer wirtschaftlich stärkeren Klasse sind, als Willkür verworfen werden. Gerade diese scheinbare Ungerechtigkeit erfüllt die Gerechtigkeitsforderung, die dem sozialen System der Weimarer Verfassung innewohnt. Gerade dann, wenn Gleichheit als materialer Wertbegriff zu fassen ist, muss erkannt werden, dass der Satz der Gleichheit vor dem Gesetz so lange ein papiernes Recht sein wird, als nicht die soziale Gleichheit erst die Voraussetzungen dafür schafft, dass die gleiche Anwendung eines Gesetzes auf alle auch wirklich alle gleich betrifft. Im Vollzug der Geschichte durchläuft der Gleichheitssatz verschiedene Stadien. Der Bürger fasst Gleichheit im 17. und 18. Jahrhundert als einfache Rechtsgleichheit. Wenn er dem Adel die Privilegien und Vorrechte fortnimmt, dann ist er seinesgleichen, da er im ökonomischen Kampf ihm sehr wohl standhalten kann. Dem Arbeiter im 20. Jahrhundert kann diese Rechtsgleichheit nicht genügen, da er trotz ihrer mit dem Bürger nicht in Wettbewerb treten kann und die Gleichheit vor dem Gesetz so lange für ihn unwirksam bleibt, wie die Gleichheit vor dem Gesetz nicht zur gleichen Chance vor dem Gesetz führt, wie dies Laski52 an dem Beispiel der Vertretung des Nichtbesitzenden vor Gericht ausführlich und anschaulich erläutert. Die Art aber, wie heute mehrfach von der Theorie53 der Satz der Gleichheit vor dem Gesetz materiell ausgelegt wird, bedeutet nichts als einen Versuch, den gegenwärtigen ökonomischen Status quo zu garantieren, indem man jede Gesetzgebung zugunsten der arbeitenden Klasse für unwirksam erklären kann. Hier wird der Satz der Gleichheit in sein Gegenteil verkehrt, weil man nicht verstehen will, dass die hiermit scheinbar 52 [Harold J. Laski:] A Grammar of Politics, [London 1925,] S. 565. 53 Hier sind hauptsächlich die Arbeiten von [Heinrich] Triepel: »Goldbilanzenverordnung und Vorzugsaktien«[, Berlin 1924] und von [Gerhard] Leibholz: »Die Gleichheit vor dem Gesetz«, [Berlin] 1925, zu erwähnen. Vorsichtig und vernünftig abwägend Hippel, Archiv für öffentliches Recht N. F. 10 [Ernst von Hippel: Zur Auslegung des Artikels 109 Absatz I der Reichsverfassung, in: Archiv für öffentliches Recht, N. F. 10, Tübingen 1926, S. 124-152] und Max Rümelin: »Die Gleichheit vor dem Gesetz«, Tübingen 1928. Auch das deutsche Reichsgericht sowie der Staatsgerichtshof haben sich, obwohl die Parteien sich unzählige Male auf die Triepel-Leibholzschen Argumentationen berufen haben, sehr zurückgehalten. Siehe hauptsächlich die unter anderen Gesichtspunkten noch näher zu behandelnden Aufwertungsentscheidungen, RGZ Bd. III, S. 329. Neuerdings auch RGZ Bd. 128, S. 169.
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geschaffene Ungleichheit nur der Durchgangspunkt zur endgültigen, der sozialen Gleichheit ist. Im Namen des Rechtsstaates wird hier oft aufgetreten, wobei man immer übersieht, dass der Rechtsstaat charakteristischerweise gerade hier seine Grenzen besitzt. Der Rechtsstaat kann gewisse äußere Formen schaffen und sie Einzelnen oder einzelnen Bevölkerungsklassen zum Guten wie zum Bösen zur Verfügung stellen, darüber hinaus vermag er nichts. Er kann zum Beispiel erreichen, dass dem Sohn des reichen Mannes, wenn er dreimal mit seinem Kraftfahrzeug mit der Polizei und der öffentlichen Verkehrsordnung in Konflikt geraten ist, das Führerzeugnis genauso entzogen wird wie dem Chauffeur, der vier Kinder hat. Dass der eine sein Vergnügen, der andere seinen Lebensunterhalt verliert, das ist dem Recht gegenüber irrelevant. Der Rechtsstaat endet dort und lässt voraussetzungsgemäß ewig unvollkommen dort, wo die soziale Gleichheit beginnen muss. Indem man den Satz der Gleichheit zurücknimmt in die verflossene Welt der bürgerlich-rechtsstaatlichen Ordnung, verbietet man im Namen der Gleichheit sie selbst.
III. Die Enteignung nach der Reichsverfassung Der Artikel 153 der Reichsverfassung verdankt seine Einzelausgestaltung ebenso sehr verfassungsrechtlichen Reminiszenzen aus dem vergangenen Jahrhundert, wie den sozialen Bedürfnissen der Neuzeit. Damit hat der Eigentumsartikel die Einheitlichkeit seiner Bedeutung, die in der Zuordnung zu einem bestimmten Wirtschaftssystem besteht, verloren. Der Artikel 153 der Reichsverfassung kann ebenso wenig wie der Artikel 37 der Verfassung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen und wie der Paragraph 109 der Verfassung der tschechoslowakischen Republik eindeutig als Ausdruck und Manifestation einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung bezeichnet werden. In allen diesen Verfassungen wird die reine Garantiefunktion des Staates gegenüber dem Eigentum beseitigt und die Zulässigkeit einer gesetzlichen Einwirkung auf den Eigentumsbereich als Regel, nicht als Ausnahmefall sanktioniert. Wenn die deutsche Reichsverfassung im Absatz 1 des Art. 153 den Satz: »Das Eigentum wird von der Verfassung gewährleistet« zusammenstellt mit der Feststellung, dass »sein Inhalt und seine Schranken sich aus den Gesetzen ergeben«, so lässt dies den Schluss zu, dass von einer Unverletzbarkeit des Eigentums – etwa im Sinn des Artikels 9 der preußischen Verfassung von 1850 – nicht mehr die Rede sein kann. Die Zusammenstellung von Gewährleistung und Gesetzesvorbe-
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halt schafft offenbar für das Privateigentum eine neue Abgrenzung, die den früheren Verfassungen fremd war. Die Unverletzlichkeit des Eigentums im 19. Jahrhundert bezog sich gleichmäßig auf Staat und Nachbar. Hieran änderte die theoretische Zulässigkeit von Gesetzeseingriffen in das Eigentum nichts; sie war Ausdruck parlamentarisch-konstitutioneller Vorstellungen, die ihre Front gegen die Verwaltung richteten. Die Weimarer Verfassung hingegen unterscheidet die Position des einen Eigentümers gegenüber dem anderen Eigentümer von der Position des Eigentums überhaupt gegenüber dem Staat. Deutlich tritt dies in einem Vorläufer der Reichsverfassung, dem Aufruf des Rates der Volksbeauftragten an das deutsche Volk vom 12. November 1918 hervor. Dort heißt es: »Die Regierung wird die geordnete Produktion aufrechterhalten, das Eigentum gegen Eingriffe Privater sowie die Freiheit und Sicherheit der Person schützen.«54 Hier ist der Ort, wo die Lehre von der Schwäche des Eigentums gegenüber der öffentlichen Gewalt, die Otto Mayer nur für ein begrenztes Gebiet gesetzesfreier Eingriffe vertrat, ihren systematischen Platz hat. Die Verfassung garantiert das Eigentum gegenüber dem Staat nur in ganz beschränktem Umfang. Sie bestimmt, dass es immer eine Institution geben muss, die den Namen Eigentum verdient, wie sich logischerweise aus dem Satz 2 des Abs. 1 ergibt; denn von Inhalt und Schranken kann nur dann gesprochen werden, wenn etwas vorhanden ist, dem ein Inhalt gegeben und dem Schranken gesetzt werden können. Insoweit kann man also von einer institutionellen Garantie sprechen.55 Über den Umfang des Privateigentums wird dadurch nichts weiter ausgesagt, als dass jedenfalls immer 54 Eigentumsschutz beschränkt auf Abgrenzung gegenüber dem anderen Privaten vertritt ebenfalls Laros in »Eigentum und arbeitsloses Einkommen«, in: Hochland, November 1929. [Matthias Laros: Eigentum und arbeitsloses Einkommen, in: Hochland, Jg. 27, Heft 2 1929/30, München/Kempten 1929, S. 120-134.] 55 Carl Schmitt: Verfassungslehre, [München/Leipzig 1928,] S. 164, 172. Doch ist gerade an dieser Stelle die Bedeutung der institutionellen Garantie äußerst gering. Auch der Wortlaut des Satz 1: »Das Eigentum wird von der Verfassung gewährleistet« sagt über eine etwaige besondere Schutzwürdigkeit des Eigentums – etwa im Sinn der Formulierung des Art. 119 der Reichsverfassung, der die Ehe unter den besonderen Schutz der Verfassung stellt – nichts aus. Dies zeigt schon der nächste Satz des Art. 153, der, nachdem gerade erst von der Verfassung die Rede war, den Inhalt des Eigentums dem Gesetz zur Regelung überlässt. Die institutionelle Garantie hat eben in jeder einzelnen Materie verschiedenen Wirkungsgrad. Bei Art. 129 RV zum Beispiel bedeutet die Garantie des Berufsbeamtentums als solche einen sehr wirksamen Schutz; denn hier war Bestehen oder Nichtbestehen der Institution selbst das letztlich Entscheidende. Dagegen bedeutet die institutionelle Garantie des Abs. 1 Satz 1 des Art. 153 äußerst wenig, weil es hier nicht auf die Garantie selbst, sondern auf ihren Umfang ankommt. Der mögliche Inhalt des Eigentums aber unterliegt der Bestimmung des Gesetzgebers.
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ein Minimum von Eigentum bestehen muss; die nähere Bestimmung behält Satz 2 dem Gesetzgeber vor.56 Es ist verfehlt, diese nähere Bestimmung dadurch bagatellisieren zu wollen, dass man die Schranken des Eigentums etwa im individualistischen Sinn des Allgemeinen Landrechts auffasst. Wenn es dort heißt: »Jeder Gebrauch des Eigentums ist daher erlaubt, durch welchen weder wohlerworbene Rechte eines andern gekränkt, noch die in den Gesetzen des Staates vorgeschriebenen Schranken überschritten werden«,57 so bedeutet dies dort das notwendige Opfer einer äußeren Verkehrsregelung, das dem sonst freien Eigentümer zugemutet wird. Im Systemzusammenhang der Weimarer Verfassung sind Schranken keine einem kapitalistischen Wirtschaftssystem immanente Grenze, es sind Wertsetzungen, die der Staat auch aus nichtkapitalistischen Motivationen heraus dem Eigentum aufzuzwingen berechtigt ist, wie dies der Art. 155 und 156 der Reichsverfassung verdeutlicht. Auch die Bestimmung des Inhalts des Eigentums hat hier keinen rein zivil- oder prozessrechtlichen Sinn. Die Selbstverständlichkeit, dass für die technische Verkehrs- und Gebrauchsregelung der Staat normgebend ist, war niemals bestritten. Inhaltsbestimmung des Eigentums heißt vielmehr Recht des Staates zur positiven Normierung des Eigentums-Machtbereiches. Die Verfassung selbst wollte noch weiter gehen. Im Absatz 3, wo es heißt: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste«, ist der Versuch unternommen, auch die Sphäre, die das Gesetz dem Eigentümer zur freien Verfügung überlässt, zu beeinflussen. Dem 56 Schelcher, a. a. O., S. 347 [, Walter Schelcher: Gesetzliche Eigentumsbeschränkung und Enteignung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 18, Tübingen 1930, S. 321-378] stützt sich für die nunmehr auch von ihm übernommene vollkommene Ausweitung des Enteignungsbegriffes (siehe insbesondere S. 325, Anm. 4, S. 336, 348) darauf, dass die in den Umfang der Herrschaftsbefugnis des Eigentümers eingreifenden Gesetze im Sinne des Art. 153 Abs. 1 Satz 2 gegenüber der grundsätzlichen Gewährleistung des Eigentums durch Satz 1 immer noch die Substanz der im Eigentum des Einzelnen stehenden Sachen unberührt lassen müssen. Selbst wenn man darüber hinwegsieht, dass bei den hieraus gezogenen Folgerungen, jeder Eingriff dürfe sich nur als eine Beschränkung der Verfügungsfreiheit, nicht als eine Entziehung oder Verminderung des Objekts selbst darstellen, ungeklärt bleibt, ob Objekt hier im körperlichen Sinn gemeint ist oder auch den innewohnenden Wert mit umfasst, kann Schelcher für diese Ansicht sich letztlich nur auf die angeblich rechtspolitische Notwendigkeit dieser Stellungnahme stützen. Beachtlich ist dabei, dass Schelcher damit selbst das tut, was er früher in seinen Ausführungen in Zeitschr. f. Verwaltung Bd. 60 an den Argumentationen Martin Wolffs scharf gerügt hat. [Walter Schelcher: Eigentum und Enteignung nach der Reichsverfassung, in: Fischers Zeitschrift für Praxis und Gesetzgebung der Verwaltung, Band 60, Leipzig 1927, S. 137-216.] 57 Allgemeines Landrecht I. Teil, 8. Titel § 26.
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Eigentümer wird hier eine bestimmte Willensrichtung in Bezug auf den Zweck, der mit dem Eigentumsgebrauch verbunden sein soll, nahegebracht; auffällig ist der Widerspruch, in dem dies zur gesamten liberalen Wirtschaftsordnung und ihrer Eigentumsauffassung steht. Wenn das liberale Wirtschaftssystem in der wirksamsten Ausnutzung des Eigentums im privaten Einzelinteresse die Garantie für die Harmonie der menschlichen Gesellschaft gesehen hat, so entsprach dem vollkommen die in den Gesetzbüchern des 19. Jahrhunderts niedergelegte Eigentumsdefinition, die das Eigentum als absolutes und unumschränktes Herrschaftsrecht bezeichnet. Diese Auffassung gibt die Weimarer Verfassung auf, wenn sie den Eigentümer anleitet, bei der Eigentumsbenutzung auf einen Enderfolg acht zu haben, der nicht nur außerhalb seines persönlichen Interessenkreises liegt, sondern sogar mit diesem in Widerspruch stehen kann. Es wäre falsch, aus dem Absatz 3 abzuleiten, dass die Verfassung einen absoluten Eigentumsbegriff mit einem relativen vertauscht habe, aus dem Sinngehalt dieser Bestimmung eine andere, etwa die soziale Eigentumsauffassung herauszudestillieren. Dies tun heißt, einen vorhandenen Gegensatz beseitigen, anstatt ihn aufzuzeigen.58 Solange es eine Kategorie Eigentum gibt, bedeutet Eigentum ein absolutes Herrschaftsrecht, absolut allerdings nur in der Sphäre des Privatrechts und unterworfen der Souveränität des Staates59 und damit der gesetzgebenden Körperschaft. Was heißt soziale Eigentumsauffassung? Wenn der Staat der Privateigentumsinstitution Grenzen setzt, so dass die ökonomischen und politischen Wirkungen der Herrschaft des Privateigentums teilweise aufgehoben werden, so hat das nichts mit einer sozialen Eigentumsauffassung zu tun; die soziale Auffassung richtet sich vielmehr gegen das Eigentum. Glaubt man aber, dass dem Eigentum selbst eine soziale Pflicht, eine soziale Auffassung immanent sei, so steht dies im Widerspruch zum juristischen Charakter der Eigentumsinstitution. Ihr Absolutheitscharakter wird auch durch Absatz 3 des Artikels 153 nicht berührt, aufgezeigt wird aber dort, im Eigentumsartikel selbst, dass die Verfassung 58 Dagegen auch Laros, a. a. O. [Matthias Laros: Eigentum und arbeitsloses Einkommen, in: Hochland, Jg. 27, Heft 2 1929/30, München/Kempten 1929, S. 120-134.] Die verfehlte Argumentation mit Abs. 3 des Art. 153 scheint sich jedoch in Rechtswissenschaft und Rechtsprechung einzubürgern. Den Anfang damit gemacht hat wohl Martin Wolff: Reichsverfassung und Eigentum, in der Festgabe der Berliner Juristenfakultät für Wilhelm Kahl, Berlin 23. [Martin Wolff: Reichsverfassung und Eigentum, in: Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl zum Doktorjubiläum am 19. April 1923, Tübingen 1923.] 59 Dazu siehe [Karl] Renner: Die Rechtsinstitute des Privatrechts, Tübingen 1929, S. 8.
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die liberale Eigentumsauffassung nicht mehr beibehält. Diese Verschiebung des Wertakzentes ist das Entscheidende. Der Absolutheit des Eigentums als juristischer Institution trat im Zeitalter des Liberalismus die ethische Rechtfertigung zur Seite, die bewirkte, dass die technische Allmacht des Instituts mit dessen sozial beherrschender Funktion zusammenwuchs. In der Beseitigung dieser Verknüpfung, wie sie in der Weimarer Verfassung mit bewusster Deutlichkeit vorgenommen und ihr nicht nur in Absatz 1 und 3 des Art. 153 Ausdruck verliehen wurde, liegt das grundsätzliche Anderssein des Eigentumsartikels von 1919 gegenüber dem vom 1791 beschlossen. Die Enteignungsbestimmung des Absatzes 2 des Artikels 153 hat ihre frühere Bedeutung, Garant der Unverletzlichkeit des Eigentums zu sein, aus doppeltem Grund eingebüßt. Einmal ist es das Verhältnis von Eigentumsgarantie und Enteignung selbst, das sich geändert hat. Absatz 1 des Art. 153 hat die absolute und generelle Eigentumsgarantie aufgehoben. Nach ihrer Beseitigung kann der Enteignung als Normierung des individuellen Eigentumseingriffes keine prinzipielle Bedeutung mehr innewohnen. Aus ihrem früheren Charakter als Eigentumsgarant wird sie verdrängt und sinkt zu einer technisch-organisatorischen Bedeutung herab. Sie wird damit eine bloße Ausführungsbestimmung zu Absatz 1, indem sie Inhalt und Schranken des Eigentums für ein bestimmtes Gebiet genau bezeichnet. Enteignung ist ein Unterfall der nach Absatz 1 zulässigen Eigentumsbeschränkung. Ihre relative Selbständigkeit verdankt die Enteignung nicht prinzipiellen Erwägungen, sondern der engen Anlehnung an historische Vorbilder. Da man unter Enteignung in der alten Terminologie diffuse, okkasionelle Eingriffe ungleichmäßiger Art in das Privateigentum verstand, wurde auch in der Weimarer Verfassung an dieser Stelle die Entschädigungsfrage ausdrücklich geregelt. Im Artikel 156 wird der planmäßige Eingriff in Privateigentum als Überführung in Gemeineigentum bezeichnet und die Enteignungsbestimmungen nur als sinngemäß anwendbar erklärt;60 als Enteignung werden diese Akte also nicht betrachtet. Dass die Enteignung als juristischer Begriff von der Reichsverfassung als gegeben vorausgesetzt wurde, zeigt auch der Artikel 7 Nummer 12, in 60 Die Heranziehung des Art. 156 zur Interpretation des Art. 153 kann man nicht damit ablehnen (Furler im Verwaltungsarchiv Bd. 33, S. 399 [Hans Furler: Das polizeiliche Notrecht und die Entschädigungspflicht des Staates, Verwaltungsarchiv, Band 33, Köln 1928]), dass es sich dort um ganz spezielle, zur Zeit der Entstehung der RV besonders aktuelle Fragen handelt. Wer so verfährt, versperrt sich selbst den Weg zum Begreifen des Funktionswandels der Eigentumsschutzformeln. Denn gerade diese »aktuellen Fragen« versinnbildlichen diesen Wandel.
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dem dem Reich die konkurrierende Gesetzgebung über das Enteignungsrecht zugesprochen wird. Aber auch die individuelle Eigentumsgarantie des Absatz 2 wurde noch in sich abgeschwächt dadurch, dass man die angemessene Entschädigung durch ein Reichsgesetz für ausschließbar erklärte. Damit durchbricht die Verfassung auch die individuelle Eigentumsgarantie und betont nochmals, dass der Enteignung nicht mehr ihr früherer Ergänzungscharakter im Verhältnis zur Eigentumsgarantie zukommt, sondern dass sie lediglich ein Unterfall des allgemein ausgesprochenen Grundsatzes ist: Dem Gesetzgeber gegenüber kann sich der Eigentümer nicht auf die Eigentumsgarantie berufen. Die Weimarer Verfassung hat somit in ihrem Eigentumsartikel ebenso wie in den anderen wirtschaftlichen Bestimmungen die Kategorien des bürgerlichen Verfassungsschemas aufgelöst. Sie hat nicht ganz auf sie Verzicht geleistet und sich auch nicht positiv zu einer anderen Wirtschaftsverfassung bekannt; aber selbst diejenigen unter den Verfassungsgesetzgebern, die den Sozialismus als System ablehnten, dachten zum Teil, dass eine andere Wertung und Gesinnung – wie sie etwa der hier besprochene Absatz 3 des Art. 153 zum Ausdruck bringt – die vergangenen Zielsetzungen des 19. Jahrhunderts mit den neuen Tendenzen zu einer sinnvollen Einheit verbinden könnte. Die Zeit, die der Errichtung der Weimarer Verfassung folgte, brachte Veränderungen im politischen Kräfteverhältnis mit sich. Die Auflockerung des Eigentumsartikels, der wie überhaupt die wirtschaftlichen Bestimmungen der Weimarer Verfassung bereitwillig neuem Sozialdenken Raum gab, begegnete bei ihrer praktischen Durchführung in Rechtslehre und Rechtsprechung erheblichem Widerstand. Mit zunehmender Schärfe tritt uns die Tendenz entgegen, aus Art. 153 einen Sinn herauszukristallisieren, der den dort ausgesprochenen Tendenzen entgegengesetzt ist. Dabei ist man nicht nur davon ausgegangen, das Privateigentum faktisch schützen zu wollen, sondern man hat sogar die Behauptung gewagt, eine intensiv privateigentumsschützende Auslegung dieser Bestimmung entspreche dem Willen des Verfassungsgesetzgebers.61 Dass Interessentenkreise ein solches Bedürfnis empfinden, ist sicher; 61 Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs, 12. Aufl., zu Art. 153 [Gerhard Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Berlin 1921, S. 245-249]. Die gleiche Tendenz spricht unverhohlen trotz abweichender Rechtskonstruktion aus [Wilhelm] Hofacker: Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen, Stuttgart 1926. Inzwischen hat Hofacker seine Ansichten teilweise geändert. Seine neuen Ausführungen in »Der Einzelne und die Gesamtheit«, Stuttgart 1930, enthalten viele richtige Feststellungen und Beobachtungen, ohne doch prinzipiell von verwaltungspolitischen Gesichtspunkten zu den staatsrechtlichen Grundfragen durchzudringen.
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uns dünkt es aber sehr schwer, derartige Tendenzen aus der Verfassung herauszulesen; denn wenn man die Weimarer Verfassung und die gleichzeitig entstandenen europäischen Verfassungen betrachtet, wird man überall ein vermindertes Maß von Eigentumsschutz, gemessen an den Verfassungen des 19. Jahrhunderts, erblicken.62 Beweise für jene angeblichen Verfassungstendenzen zugunsten einer möglichst weiten Ausdehnung des Begriffes der entschädigungspflichtigen Enteignung werden deshalb auch kaum angeführt. Anschütz beruft sich für seine Verfassungsauslegung auf die Reden des damaligen Abgeordneten Heinze, die bewirkt hätten, dass der Artikel 153 seine endgültige Fassung erhielt. Daran ist nur so viel richtig, dass auf Veranlassung des Abgeordneten Heinze der Satz, dass wegen der Höhe der Entschädigung der Rechtsweg bei den ordentlichen Gerichten offenzuhalten sei, in die Verfassung aufgenommen wurde, freilich auch hier mit der entscheidenden Klausel, »soweit Reichsgesetze nichts anderes bestimmen«. Damit sagt die Verfassung nichts weiter, als was bei individuellen Eingriffen meist schon Übung war. Die Anschütz’schen Schlüsse aus den Heinze’schen Reden sind insofern verfehlt, als Heinze sich nur damit beschäftigte, welche Rechtsbehelfe dem Einzelnen gegeben sein sollten, falls eine Enteignung vorliege. Damit ist aber gar nichts darüber ausgesagt, in welchen Fällen eine Enteignung vorliegt. Bezeichnenderweise hat Anschütz es unterlassen, in diesem Zusammenhang auf das entscheidende Referat des Berichterstatters Sinzheimer im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung63 einzugehen, aus dem gerade das Gegenteil zu schließen ist. Auch Martin Wolff:Reichsverfassung und Eigentum, geht ganz unverhohlen von solchen Voraussetzungen aus. Unübertrefflich klar wird diese Tendenz dort, wo sie sich den juristischen Beweis spart und zur Notwendigkeit und Begründung bestimmter Erweiterungen des Enteignungsbegriffes einfach die politi-
62 Sehr bezeichnend in dieser Hinsicht ist die tschechoslowakische Verfassung, die sich überhaupt nicht über Eigentumsgarantien ausspricht, sondern in ihrem § 109 mit dem Satz beginnt: »Das Gesetz allein kann das Privateigentum beschränken.« 63 Dort heißt es: »Dieser Gedanke besagt, daß die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen nicht Selbstzweck, kein selbständiges Gut für sich ist, sondern daß die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen nur insoweit im Wirtschaftsleben gelten soll, als diese Freiheit eine soziale Funktion erfüllt. Von diesem Grundgedanken aus ist der gesamte Rechtsstoff [den der Verfassungsausschuß in der Vorlage bearbeitet hat] behandelt.« S. 1784 des Berichts des Verfassungsausschusses. [Verhandlungen des Deutschen Reichstages, Band 328. 1919/20, Nationalversammlung, 62. Sitzung, Montag den 21. Juli 1919, Berlin 1920, S. 1748 c. Die Passage in eckigen Klammern wurde von Otto Kirchheimer ausgelassen.]
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schen Folgen anführt, die eintreten könnten, falls eine solche Erweiterung nicht stattfände.64 Hand in Hand mit dem Versuch, in den Eigentumsartikel der Weimarer Verfassung die seinem Sinn entgegengesetzten politischen Zielsetzungen hineinzuinterpretieren, läuft der Versuch, Eingriffen des Staates angeblich in Art. 153 enthaltene Schranken entgegenzuhalten, die mindestens zu einer Entschädigung für die Eingriffe führen sollen. Man kann dabei verschiedene Wege einschlagen, um zu dem politisch gewünschten Ergebnis zu gelangen; das Ergebnis ist aber immer die Unzulässigkeit des Eingriffs oder dessen Entschädigungspflichtigkeit. Dabei kann man es zunächst mit der meisten Aussicht auf Erfolg mit der Erweiterung des Enteignungsbereiches versuchen. Zunächst kehrt man das ganze Verhältnis um, aus dem die Enteignung hervorgeht. War die Enteignung, wie wir im ersten Teil gezeigt haben, im ganzen 19. Jahrhundert der verwaltungsmäßige Eingriff in individuelle Rechte, so wird jetzt behauptet, dass die Enteignung auch durch Gesetz erfolgen könne. Es ist bezeichnend, dass für diese Behauptung niemals eine Rechtfertigung versucht, sondern dass sie immer als eine Tatsache behandelt worden ist; in Wahrheit kehrt sie aber das ganze Bild des Art. 153 um. Dort wird die gesetzliche Beschränkung des Eigentums ausdrücklich verfassungsrechtlich anerkannt. Diese Anerkennung versucht man rückgängig zu machen, indem man sagt, die Eigentumsgarantie bestünde auch gegenüber der Gesetzgebung. Dadurch legt man dem Gesetzgeber eine Pflicht zur Rechtfertigung auf, die ihm die Verfassung nicht vorschreibt; damit verwischt man endlich die Grenzen zwischen Abs. 1 und 2 des Art. 153 und schafft sich die bequeme Möglichkeit, jeden Eingriff als Enteignung zu bezeichnen. So bagatellisiert man den Satz 2 des Absatzes 1 und verwischt den Gegensatz zwischen Gesetz und individuellem Enteignungsakt. Erst aus dieser Verwirrung ist das Problem entstanden, wie sich die öffentlich-rechtliche Beschränkung von der Enteignung unterscheide und wo hier die positiven Gren64 Dies tut Martin Wolff bei seiner Behauptung, dass die Begründung obligatorischer Pflichten zur Rechtsübertragung Enteignung sei. Zur Begründung dieser Behauptung heißt es dort: »Wäre es anders, so würde ein kommunistisch gerichteter Landesgesetzgeber in der Lage sein, auf einem Umweg durch entschädigungslose »Anforderung« die Grundeigentümer zur rechtsgeschäftlichen Übereignung an den Staat zu zwingen.« [Martin Wolff: Reichsverfassung und Eigentum, in: Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl zum Doktorjubiläum am 19. April 1923, Tübingen 1923.] Über Schelchers frühere zutreffende Stellungnahme gegen Martin Wolff siehe Fußnote 56. [Walter Schelcher: Eigentum und Enteignung nach der Reichsverfassung, in: Fischers Zeitschrift für Praxis und Gesetzgebung der Verwaltung, Band 60, Leipzig 1927, S. 137-216.]
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zen zu ziehen seien, wie es sich der deutsche Juristentag von 1930 zur Aufgabe gestellt hat. Die Reichsverfassung kennt dieses Problem nicht; sie unterscheidet im Verfassungstext selbst zwischen Inhalt und Schranken des Eigentums, das heißt gesetzlichen Eigentumsbeschränkungen und der Enteignung auf Grund individuellen Verwaltungsakts. Die Enteignung wird hier klar als Unterfall der Beschränkung gekennzeichnet. In Wahrheit findet der Satz, dass Enteignung auch durch Gesetz stattfinden könne, nur eine politische Rechtfertigung. Er ist der Ausdruck der veränderten parlamentarischen Machtverhältnisse in der Nachkriegszeit.65 Da das Bürgertum fürchten muss, dass im Parlament heute eine seinen Privatinteressen feindliche Eigentumsgesetzgebung zustande kommt, wird die diesbezügliche Gesetzgebung einer neuen Instanz unterworfen, die dem Bürgertum günstiger schien. Im 19. Jahrhundert hat das Bürgertum den entgegengesetzten Standpunkt vertreten, da er ihm damals gegen den Absolutismus günstiger schien. Heute wird der Richter angerufen und das Gesetz als verfassungswidrig bezeichnet. Damit ist jeder Interessentengruppe der Weg freigegeben, die gesetzliche Regelung sozialer Tatbestände nicht als abschließende Willenskundgebung des Staates anzusehen. Man betrachtet das Gesetz nicht anders als einen Verwaltungsakt, der der richterlichen Kognition unterliegt. Man übersieht hierbei nur, dass dem Gesetz gegenüber nicht wie bei dem Verwaltungsakt ein juristischer Maßstab der Nachprüfung vorhanden ist. Die Behauptung der Verletzung erworbener Rechte gehört in das Gebiet der Politik, und indem man von der politischen Instanz, dem Reichstag, in einer politischen Frage die Berufung an ein Gericht zulässt, macht man dieses selbst zu einer politischen Instanz. Die Reichsverfassung hat aber die erworbenen Rechte und ihre Eingliederung in den Staat in das Gebiet der Gesetzgebung verwiesen. Da sie 65 Ganz klar wird dieser Sachverhalt aus den Ausführungen Furlers, a. a. O., S. 396 [Hans Furler: Das polizeiliche Notrecht und die Entschädigungspflicht des Staates, Verwaltungsarchiv, Band 33, Köln 1928]. Der Verfasser schreibt dort: »Die ersten Vorkämpfer des rechtsstaatlichen Gedankens hatten eine liberal eingestellte, bei der Gesetzgebung entscheidend mitwirkende Volksvertretung vorausgesetzt und geglaubt, willkürliche Maßnahmen des Staates durch eine Bindung der Staatsgewalt an das Gesetz verhindern zu können.« Frappant ist nur, wie der Verfasser aus der richtig erkannten, durch die Weimarer Verfassung sanktionierten, diesen Voraussetzungen entgegengesetzten Entwicklung mit einem kühnen Sprung die Folgerung zieht: »Von dieser Schutztendenz des Art. 153 ausgehend, muß man zu dem Ergebnis gelangen, den Entschädigungsanspruch des Art. 153 überall da anzuerkennen, wo eine Entziehung oder Beeinträchtigung privater Vermögensrechte stattfindet.« Den Versuch einer entwicklungsgeschichtlichen Beweisführung hat der Verfasser gar nicht unternommen.
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eine demokratische Verfassung ist, hat sie diese Verweisung nicht nur, wie Carl Schmitt66 meint, für generelle Beschränkungen des Eigentums vorgenommen, sie hat dem Gesetzgeber auch in der Setzung individueller Enteignungsakte freie Hand gelassen. Wenn die verfassungsmäßige Zulässigkeit individueller gesetzlicher Enteignungsakte damit bekämpft wird, dass man den generellen Charakter des Gesetzes als notwendiges rechtsstaatliches Postulat bezeichnet, so mag an dieser Stelle dahingestellt bleiben, ob genereller Gesetzescharakter wirklich die grundlegende Voraussetzung für den Rechtsstaat ist; entschieden bestritten muss aber werden, dass für die Demokratie ebenfalls die Lehre von der notwendigen Beschränkung des Gesetzes auf generelle Tatbestände Gültigkeit haben kann. Diese Auffassung von Carl Schmitt hängt eng mit seiner grundsätzlichen Betrachtungsweise zusammen, die in erster Linie das den gegenwärtigen Verfassungszustand zweifellos stark beherrschende Zusammenspiel zwischen bürgerlichem Rechtsstaat und Demokratie zum Ausgangspunkt nimmt. Aus diesem tatsächlichen, in Deutschland herrschenden Zustand geht aber nicht hervor, dass für die Demokratie dieses Zusammenspiel wesensnotwendige Existenzvoraussetzung ist. Es muss insgesamt fraglich erscheinen, wieweit die Massendemokratie des 20. Jahrhunderts bürgerlich rechtsstaatliche Elemente beibehalten kann, ohne auf die Dauer entscheidende Einbuße an ihrem demokratischen Grundcharakter zu erleiden. Es ist mindestens dies sicher, dass die Demokratie nicht gehalten ist, nur generelle Gesetze zu erlassen, dass für sie diese Sicherung nicht notwendig ist, da hier die Zustimmung der Mehrheit des Volkes als Sicherheitsfaktor vorhanden ist. Das generelle Moment des demokratischen Gesetzes liegt in seinem Ursprung, nicht in seiner Tendenz beschlossen. Wenn Schmitt sich auf Aristoteles beruft, so ist damit noch nichts über die Praxis der attischen Demokratie ausgesagt. In den Fehler, aus den Wünschen und Intentionen eines Schriftstellers auf eine geübte Verfassungspraxis zu schließen, verfällt Kaerst,67 wenn er 66 Zuletzt im Gutachten zum deutsch-polnischen Liquidationsabkommen, dann in JW 1929, 495 [Carl Schmitt: Die Auflösung des Enteignungsbegriffs, in: Juristische Wochenschrift, Jg. 58, Band 1, Heft 8, Leipzig 1929, S. 495-497]; grundsätzlich in der Verfassungslehre. [Carl Schmitt: Verfassungslehre, München/Leipzig 1928.] Carl Schmitt stellt die These auf, dass Enteignung begrifflich kein Verwaltungsakt, jedoch nur in dessen Form zulässig sei; es kann also auch durch Gesetz enteignet werden, nur ist diese Enteignung unzulässig. Ihm folgend auch [Ernst Rudolf] Huber: Die Garantie der kirchlichen Vermögensrechte in der Weimarer Verfassung[. Zwei Abhandlungen zum Problem der Auseinandersetzung von Staat und Kirche, Tübingen] 1927. 67 In seiner Geschichte des Hellenismus, 1917, Bd. 1, S. 40 f. [Julius Kaerst: Geschichte des Hellenismus, Band 1, Leipzig 1917.]
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behauptet, dass tatsächlich ein materieller Unterschied zwischen Gesetz und Volksbeschluss, nomos und psephisma, bestanden habe. Dass dies nicht der Fall war, wird eingehend von Keil68 nachgewiesen, der ausdrücklich vermerkt, dass beide rücksichtlich der Materie ineinander übergehen und dass es Volksbeschlüsse gegeben habe, welchen durchaus allgemeine und konstitutive Bedeutung zukam. Auch die Praxis der französischen Demokratie hat sich niemals die theoretischen Ansichten Duguits69 zu eigen gemacht und kennt bis auf den heutigen Tag Gesetze, die individuelle Tatbestände regeln. Warum individuelle Gesetze gegen Einzelpersonen keine Enteignung sind, hat schon Christiansen70 gesehen, wenn er von jenem Fall spricht, in dem der Staat deshalb keine Entschädigungen zahlen muss, weil seine Absicht gerade darauf gerichtet war, diesen bestimmten Wert sich zuzueignen. Der Unterschied zur Enteignung liegt in dem fehlenden Moment der Zufälligkeit. Bei der Enteignung nimmt der Staat etwas weg, was er braucht, gleichgültig, wem es gehört; in dem anderen Fall (Fürstenenteignung, das Österreichische sogenannte Schlössergesetz) nimmt der Staat etwas weg, weil es gerade diesen bestimmten Personen gehört. Dass er es wegnehmen kann, ohne dass hieraus eine Rechtsanarchie entsteht, ist das Verdienst der Demokratie, die hierfür eine Mehrheitsentscheidung verlangt und voraussetzt. Die Rechtspraxis hat bisher als Erfordernis der Enteignung das Vorliegen eines öffentlichen Unternehmens, für das die Enteignung stattfindet, verlangt. Unter Unternehmen verstand sie einen konkreten Sachin68 Keil, Griechische Staatsaltertümer, in: Einleitung in die Altertumswissenschaft, Bd. III, S. 380 ff. [Bruno Keil: Griechische Staatsaltertümer, in: Alfred Gercke (Hg.): Einleitung in die Altertumswissenschaft, Band 3, Leipzig 1923.] Dort heißt es: »Aristoteles stellt zwar den inhaltlichen Unterschied zwischen beiden auf, daß das Gesetz die allgemeine Bestimmung regele, das Psephisma nichts Allgemeines anordne (Pol. 1292 a), vielmehr nur dazu bestimmt sei, da ergänzend einzutreten, wo gesetzliche Ordnung unmöglich sei, allein die Praxis des demokratischen Staates stimmt so wenig zu dieser Schilderung, daß man sie für eine theoretische Forderung des Philosophen zu halten geneigt sein wird, auf die er seine Ansicht von dem Grunde der Zerrüttung einer Demokratie wie die Athens aufbaut.« Ebenso dem Sinne nach Georg Busolt: Griechische Staatskunde, [München] 1920, I. Hälfte, S. 458. Vergleiche dazu auch Jakob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte (Ausgabe Kröner), Bd. I, [Leipzig 1929,] S. 221 ff. 69 Duguit, traité II, p. 146 ff., [Léon Duguit: Traité de Droit constitutionnel II, Paris 1928] und Révue de droit public 1907 p. 472. [De la dérogation aux lois par le pouvoir legislatif – et plus spécialement du pouvoir pour le Parlement de faire des lois pénales spéciales, applicables rétroactivement à certaines infractions determinées, in: Révue du droit public et de la science politique en France et a lètranger, tome 24, Paris 1907.] 70 A. a. O., S. 79. [C. Christiansen: Über erworbene Rechte, Kiel 1866.]
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begriff;71 sie verstand darunter »das Unternehmen« und begnügte sich nicht mit dem vagen »etwas unternehmen«. Indem man das Subjekt »Unternehmen« zu dem Verbum »unternehmen« umdeutete, ging jede Begrenzung verloren. Nun ließen sich alle Akte einer vorausschauenden und planmäßigen Gesetzgebung als Enteignungsunternehmen kennzeichnen. Aufwertung, Bauernbefreiung, Wohnungsnotbeseitigung werden hier mit der städtischen Kanalisation und der Errichtung einer Badeanstalt in eine Reihe gestellt.72 Der Unterschied tritt klar zutage. Durch die Inflation sind die Hausbesitzer bereichert, die Hypothekengläubiger entreichert, und durch die Aufwertungsgesetzgebung ist diese generell eingetretene Tatsache mehr sanktioniert als geändert worden. Bei der Aufwertungsgesetzgebung ebenso wie bei der Wohnungsmangelgesetzgebung und im gesamten Sozialisierungskomplex wird planmäßig vorgegangen, während die Wegnahme eines Grundstücks zur Errichtung eines öffentlichen Sportplatzes nur zufällig gerade dieses Grundstück betrifft. Die hierbei waltende Planmäßigkeit hat mit dem Grundstück nichts zu tun. Wenn ein privates Schlachthaus geschlossen wird, um ein öffentliches zu errichten, wie dies schon die Reichsgewerbeordnung vorsah, so mag man dies vielleicht mit einer rechtlich irrelevanten Terminologie als einen Eingriff in private Rechte bezeichnen,73 man kann es niemals eine Enteignung nennen. Wenn die Stadt den Acker eines Bauern braucht, weil sie dort ein öffentliches 71 Dass dem Terminus »Unternehmen« tatsächlich diese Bedeutung innewohnt, weist bezüglich der Hauptmaterie des Enteignungsrechts, des Eisenbahnenteignungsrechts, eingehend und überzeugend nach E.[Ernst] Durniok in »Die Entstehung des heutigen Enteignungswesens aus den Bedürfnissen des Eisenbahnbaues«, in: Archiv für Eisenbahnwesen, 1929, S. 1406 f. 72 Siehe Martin Wolff, a. a. O. [Martin Wolff: Reichsverfassung und Eigentum, in: Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl zum Doktorjubiläum am 19. April 1923, Tübingen 1923,] S. 14, und Triepel, Goldbilanzenverordnung und Vorzugsaktien, 1924 [Heinrich Triepel: Goldbilanzenverordnung und Vorzugsaktien: zur Frage der Rechtsgültigkeit der über sogenannte schuldverschreibungsähnliche Aktien in den Durchführungsbestimmungen zur Goldbilanzen-Verordnung enthaltenen Vorschriften. Ein Rechtsgutachten, Berlin 1924]. 73 Energisch setzt sich Carl Schmitt gegen die Ausdehnung des Enteignungsbegriffes auf gesetzliche Eingriffe in die Gewerbefreiheit zur Wehr. Er weist auf die gänzlich anders gelagerte Frage, ob der eingerichtete Gewerbebetrieb als Schutzobjekt im Sinne des § 823 BGB anzusehen sei, in einem unveröffentlichten Gutachten über die Rechtsgültigkeit des Entwurfes des Gesetzes über Entschädigung von Betrieben und Arbeitnehmern auf Grund der Einführung des Branntweinmonopols hin (S. 6). [Siehe: Gerhard Anschütz, Carl Schmitt: Rechtsgutachten, betreffend den Entwurf eines Gesetzes über die Abkommen zur Regelung von Fragen des Teils X des Vertrages von Versailles, Berlin 1930.] In diesem Sinn wohl auch Hofacker, Der Einzelne und die Gesamtheit, S. 24 [Wilhelm Hofacker: Der Einzelne und die Gesamtheit. Eine Untersuchung über
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Schlachthaus errichten will, so muss sie diesen Acker, falls sie sich nicht gütlich mit dem Bauern einigen kann, enteignen. Mit vollem Recht ist anlässlich der Rechtsprechung des Reichsgerichts74 zur Wohnungsbeschlagnahme die Frage aufgeworfen worden, warum, falls man die Wohnungsbeschlagnahme als Enteignungsunternehmen ansehe, man nicht mit dem gleichen Recht auch die reichsgesetzlichen Einschränkungen, die das Mietrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches in Kriegsund Nachkriegszeit erfahren habe, dem Enteignungsbegriff unterwerfe? Ja, noch viel weitergehend wäre hiernach kein ersichtlicher Grund vorhanden, warum nicht die meisten unserer modernen arbeitsrechtlichen Bestimmungen unter diesem Gesichtspunkt rechtsungültig sein sollten. Denn auch die Normen der Stillegungsverordnung, des Gesetzes über die Beschäftigung Schwerbeschädigter und die Arbeitszeitverordnungen schränken das freie Verfügungsrecht des Arbeitgebers über sein Eigentum am Unternehmen tatsächlich und rechtlich ein. So weit, hierin eine Enteignung zu erblicken, ist bisher noch kein deutscher Theoretiker und kein deutsches Gericht gegangen, obwohl überall ein Unternehmen im Sinn der modernen Enteignungstheorie vorliegt. Alle Sozialgesetzgebung geht auf die einheitliche Anschauung zurück, die dem Staat das Recht zum gesetzlichen Eingriff in private Interessen in einem vom Mehrheitswillen der Bevölkerung statuierten, übergeordneten Gesamtinteresse zubilligt. Offenbar scheitert hieran die weite Fassung des Unternehmensbegriffes, da sie nicht erklären kann, warum in manchen Sachkategorien eine Enteignung vorliegt und in anderen nicht. Eine Rechtfertigung durch Anerkennung einer Rechtsfortbildung für die Aufhebung oder Beschränkung mancher Rechtskategorien kann keinen Anspruch auf rechtssystematischen Wert erheben und zeigt nur die Hilflosigkeit einer Theorie, die ihre eigenen Ergebnisse nicht billigen kann.75 unerlaubte Handlungen, Beamtenhaftung, Eigentum, Rechtsaufblähung und die Rechtsmethode, Stuttgart 1930], und RGZ 101, 289 f., und RGZ 126, 96. 74 Neuestens hat sich der VII. Senat wieder zu dieser Rechtsprechung bekannt in J. W. 1930, S. 1180 [Rechtsprechung zu 3.: Art. 153 RVerf. Die fortdauernde Beschlagnahme einer Wohnung berechtigt den Erwerber eines Grundstückes oder seinen Pächter auch dann zu Entschädigungsansprüchen, wenn die Beschlagnahme vor Erwerb des Grundstücks erfolgt ist, in: Juristische Wochenschrift, Jg. 59, Band 1, Heft 16/17, Leipzig 1930, S. 1186-1187]. Baak in Preuß. Verwaltungsblatt 49, S. 17. [B. Baak: Die Entschädigung für rechtmäßige Eingriffe der Wohnungsämter, in: Preußisches Verwaltungsblatt, Band 49, Nr. 2, Berlin 1927, S. 17-21.] 75 Martin Wolff, a. a. O., S. 19[ Martin Wolff: Reichsverfassung und Eigentum, in: Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl zum Doktorjubiläum am 19. April 1923, Tübingen 1923]; am offensichtlichsten aber Mayer in Pr. Vbl. 49, S. 130 [Otto Mayer: Enteignung und Städtebaugesetz, in: Preußisches
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Wenn die Enteignung nach bis zur Reichsverfassung geltender Rechtsanschauung die Wegnahme eines Besitzes war, der einem anderen Zweck dienstbar gemacht werden sollte, so war klar, dass diese Enteignung sich in zwei Akten vollzog: einmal in der sichtbaren Wegnahme des Gutes und zum anderen in der konkreten Übereignung an den neuen Eigentümer. Auch dieser klare Rechtsvorgang musste aufgelöst werden, um zu dem gewünschten Ergebnis zu gelangen. An die Stelle der Übereignung trat eine Überführung, die den Vorteil bot, dass sie juristisch nicht fassbar war, dafür aber gesetzliche Vermögensverschiebungen, die keine juristischen Übertragungsakte enthielten, mit umfasste. Wenn ein bestehendes feudales Jagdrecht abgeschafft wird, so ist es schwer zu behaupten, dass dem Eigentümer des betreffenden Grundstücks etwas übereignet wird. Das gleiche gilt für den Fall der Abschaffung von Eigenjagden,76 die die aus volkswirtschaftlichen und sicherheitspolizeilichen Gründen neu vorgeschriebene Mindestgröße Verwaltungsblatt, Band 49, Nr. 9, S. 130-132], der den Enteignungsbegriff nach geltendem Recht so weit ausdehnt, dass er am Ende seiner Ausführungen die sich aus seinen ausdehnenden Interpretationen ergebenden Folgen für das preußische Städtebaugesetz selbst nicht billigt und eine Einschränkung der Entschädigungspflicht für unerlässlich hält, ohne freilich von seinem Ausgangspunkt aus einen juristisch gangbaren Weg zu besitzen. Das gleiche gilt für die Ausführungen desselben Autors im Reichs- und Preuß. Verw.-bl. Bd. 51, S. 285 ff. [Otto Mayer, Rieß: Das Reichsgericht und das deutsche Fluchtliniengesetz, in: Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt, Band 51, Nr. 18, Berlin 1930, S. 285-289.] Charakteristisch für die völlige Begriffsaufweichung auch die Gutachten von Litten, Lobe und Brand (Können Beamtengehälter mit Wirkung für die planmäßig angestellten Beamten durch einfaches Gesetz herabgemindert werden? Gutachtensammelband des Danziger Beamtenbundes, 1928, S. 80, 62, 124) [Adolf Lobe: Rechtsgutachten I und II des Senatspräsidenten des Reichsgerichts i. R. Dr. Lobe, S. 57-72; Hans Litten: Rechtsgutachten I und II des Universitätsprofessors Dr. Litten, S. 73-102; Arthur Brand: Rechtsgutachten des Landesgerichtspräsidenten Dr. Brand, S. 103, alle Beiträge in: Beamtenbund der freien Stadt Danzig (Hg.): Können Beamtengehälter mit Wirkung für die planmäßig angestellten Beamten durch einfaches Gesetz herabgemindert werden?, Gutachtensammelband des Danziger Beamtenbundes, Danzig 1928], die die generelle Kürzung von Beamtengehältern als Enteignung bezeichnen; dabei finden Lobe und Litten dies so selbstverständlich, dass sie sich jede Begründung ersparen. Dagegen mit zutreffenden Gründen Ernst Friesenhahn in »Wirtschaftsdienst« vom 4. Juli 1930,[ Hamburg 1930,] S. 1143. 76 Für den Fall der gesetzlichen Beschränkung der Eigenjagdbezirke nimmt eine entschädigungspflichtige Enteignung an Schelcher, a. a. O., S. 364 ff. [Walter Schelcher: Gesetzliche Eigentumsbeschränkung und Enteignung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 18, Tübingen 1930,S. 321-379], mit ausführlicher Stellungnahme gegen die Urteile des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, Jahrbuch 30, 101 [Urteil des III. Senats vom 15. Dezember 1926, 99 III: 101, in: Jahrbücher des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts: Entscheidungssammlung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, Band 30, Stuttgart 1927, S. 309-312] und 32, 163 [Urteil des III. Senats vom 15. April 1928, Nr. 163 II, in: Jahrbücher
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nicht erreichen. Da es aber auch einen negativen Prozess der Überführung gibt, der darin liegt, dass das Eigentum nun nach Befreiung von fremden Rechten zu voller Machtfülle anschwillt, so lässt sich auch hier eine Enteignung konstruieren. Denn das notwendige öffentliche Unternehmen liegt in der Aufhebung von Jagdrechten. Die immanente Logik dieses so erweiterten Enteignungsbegriffes führt zu ungeheuerlichen Konsequenzen. Eine Neuverteilung der Steuerlasten wird für jeden angeblich Geschädigten angreifbar, sofern er nur einen mittelbaren Überführungsprozess behaupten kann, der immer dann vorliegt, wenn die Steuergesetzgebung, und sei es aus den sorgsamsten wirtschaftspolitischen Erwägungen heraus, einer bestimmten Bevölkerungsschicht, Produzenten- oder Konsumentengruppe, eine Steuerermäßigung zuteilwerden lässt. Zollgesetzliche oder durch Monopolgesetz erfolgte wirtschaftliche Schädigung bestimmter Wirtschaftsgruppen macht den Staat entschädigungspflichtig; er ist zum Ausgleich verpflichtet, falls sein »öffentliches Unternehmen« (genannt Regierung) durch solche Maßnahmen Profitquoten mindert oder Betriebsstilllegungen herbeiführt.77 Generelle Schadloshaltung in Form von Steuererleichterungen, Subventionen und staatlichen Soziallastquoten werden nicht mehr genügen, man wird dem Staat eine individuelle Rechnung aufmachen. Im Endergebnis unterwirft der Ausdruck »Überführung« zusammen mit dem neuen Unternehmensbegriff und der Ausdehnung der Enteignung auf gesetzliche Akte weite Strecken der Staatstätigkeit einer privatrechtlichen, unter privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten arbeitenden Kontrolle. Die Staatstätigkeit löst sich in ein Bündel privatrechtlicher Beziehungen auf, wobei es jedem privaten Interessenten in die Hand gegeben ist, seine Ansprüche nach dem Maßstab bürgerlichrechtlicher Bereicherungsgrundsätze geltend zu machen. In Wirklichkeit führt diese Erweiterung des Enteignungsbegriffes im Endergebnis zu einer Garantie des Status quo, des gegenwärtigen Bestandes an Prides Sächsischen Oberverwaltungsgerichts: Entscheidungssammlung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, Band 32, Stuttgart 1929, S. 206-217]; dagegen ausführlich Pollwein in Leipz. Zschr. f. deutsches Recht, 1929, Nr. 17/18, S. 978 ff. [Markus Pollwein: Steht eine entschädigungslose Aufhebung von Eigenjagden durch Änderung der Jagdgesetze in Widerspruch mit Art. 153 der Reichsverfassung?, in: Leipziger Zeitschrift für deutsches Recht, Jg. 23, Nr. 17/18, Berlin/ Leipzig/München 1929, Sp. 977-986.] 77 Siehe Wimpfheimer in: Juristische Wochenschrift, 58. Jahrg., Heft 8, S. 498 [Heinrich Wimpfheimer: Die Novelle zum Branntwein-Monopol-Gesetz. Ein grundsätzlicher Beitrag zur Rechtsprechung des Reichsgerichts, in: Juristische Wochenschrift, Jg. 58, Band 1, Heft 8, Leipzig 1929, S. 497-499]. Siehe auch die Ausführungen Rudolf Goldscheids über Expropriierung und Repropriierung des Staates in seinem Beitrag: »Staat, öffentlicher Haushalt und Gesellschaft« im Handbuch der Finanzwissenschaft Bd. I.
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vateigentum gegenüber dem Staat, von der niemand wird behaupten können, dass sie in der Reichsverfassung eine Stütze finde. Hätte die Reichsverfassung jemals diese Auffassung vertreten, so wären manche ihrer Bestimmungen heute unverständlich. Unerklärlich wäre das Dasein des Artikels 156, mindestens die Einfügung »in sinngemäßer Anwendung der für Enteignung geltenden Bestimmungen«, denn unter einen solchen Enteignungsbegriff wäre die Sozialisierung an und für sich schon gefallen; indem aber die Reichsverfassung sie erst ausdrücklich für anwendbar erklärt, zeigt sie, dass sie diesen Enteignungsbegriff nicht teilt. Auch ist nichts davon in der Verfassung zu finden, dass die Verwirklichung des Artikels 151: Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen, gerade unter Zuhilfenahme der Garantie des Status quo durchgeführt werden sollte. Mindestens müssten die Anhänger der Garantieauffassung den Beweis erbringen, dass ihre Methode dem Verfassungsziel entgegenkommt. Ein solcher Versuch ist mir bisher nicht bekannt geworden.78 Kurz muss hier auf die zweite Autorenreihe hingewiesen werden, die auf entgegengesetztem Weg zu demselben Ergebnis kommt. Hier wird der Begriff der Enteignung auf seinen wahren Umfang beschränkt und nach dem ihm innewohnenden Sinne interpretiert. Es wird aber dann nicht der Schluss aus Absatz 1 des Art. 153 gezogen, dass andere Eigentumsbeschränkungen zulässig seien, sondern hier wird gerade gefolgert, dass alle anderen Eigentumsbeschränkungen ausgeschlossen sein sollen.79 Dass bei dieser Konstruktion die Bedeutung des Absatzes 1 Satz 2 völlig verkannt wird, wurde oben schon ausgeführt. Er muss notwendigerweise in eine rein polizeirechtliche Beschränkung umgedeutet und die Gesamtstellung des Absatzes 1 des Art. 153 in ihr Gegenteil verkehrt werden. Immerhin ist interessant, dass die beiden Begrün78 Die gelegentlichen Bemerkungen Lutz Richters und Glums (Veröff. d. Ver. deutsch. Staatsrechtslehrer, Heft 6, 1929, S. 82 f. und 146 [Friedrich Glums: Veröffentlichung der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer, Heft 6, Berlin 1929]) betonen stark die Fragwürdigkeit der Bestimmung, wenn beide auch positiver Sinngebung zugeneigt scheinen. 79 So [Alois] Zeiler in: »Die Rechtsgültigkeit der Aufwertungsgesetzgebung«, Halle 1925; Krückmann in: »Enteignung und Einziehung nach alter und neuer Reichsverfassung«, Leipzig 1925, und neuerdings in der in Fußnote 2 erwähnten Schrift [Paul Krückmann: Enteignung, Einziehung, Kontrahierungszwang, Änderung der Rechtseinrichtung, Rückwirkung und die Rechtsprechung des Reichsgerichts, Berlin 1930]; sowie Mügel in seinem Kommentar zum Aufwertungsgesetz, Einleitung [Oskar Mügel: Das gesamte Aufwertungsrecht, Berlin 1927].
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dungsarten, die zum selben Ziel führen, sich juristisch gegenseitig aufheben. Dass es sich hier nur um eine andere, allerdings wenig stichhaltige Art der Begründung handelt, zeigt die neue Schrift Krückmanns. Hier werden die vom Reichsgericht unter die Enteignungskategorie rubrizierten Fälle fast ausnahmslos als »Einziehung (Konfiskation)« betrachtet. Hierbei unterscheidet Krückmann eine erlaubte Einziehung und eine unerlaubte Einziehung, die gegen Art. 153 Abs. 1 verstoßen soll. Warum die gesetzliche Beseitigung von Monopolstellungen, die Schaffung von Vorkaufsrechten und ähnliches eine Konfiskation darstellen sollen, hat der Verfasser nicht ersichtlich gemacht. Ebenso wenig, weshalb in solchen Gesetzen ein Verstoß gegen Art. 153 Abs. 1 liegen soll. Der rechtspolitische Zweck dieser neuen Unterscheidung ist allerdings vollkommen klargelegt: Es soll durch diese Terminologie die Gefahr vermieden werden, dass der Reichsgesetzgeber die richterliche Anwendung der Enteignungskategorie durch ausdrücklichen gesetzlichen Ausschluss der Entschädigung unschädlich macht. Der Ausdruck Konfiskation, den der Verfasser hier ebenso verwendet wie Bredt80, entbehrt jedoch jeder juristischen Berechtigung. Einziehung bedeutet in unserer heutigen Gesetzessprache nur eine auf Grund strafrechtlicher und strafprozessualer Normen vom Richter ausgesprochene Wegnahme. Zusammenfassend ist hier zu sagen: Die Weimarer Verfassung behält das Rechtsinstitut der Enteignung bei, so wie es aus dem 19. Jahrhundert übernommen wurde. Eine Erweiterung dieses Rechtsinstituts ist nicht eingetreten, konnte nicht eintreten, da die Enteignung ihrem ganzen Aufbau nach gar nicht erweiterungsfähig ist. Es besaß früher eine über seine technische Ausgestaltung hinausgehende, gerade in seiner Ausnahmestellung liegende Bedeutung als Garant der bürgerlichen Eigentumsordnung. Da die Weimarer Verfassung nur das Rechtsinstitut des Eigentums beibehält, die bürgerliche Eigentumsordnung als Ganzes nicht mehr garantiert, besitzt auch der Art. 153 Abs. 2 diese Garantiefunktion nicht mehr. Art. 153 Abs. 1 hält das Eigentum aufrecht, setzt aber der Einwirkung des Staates als Maximalgrenze nur die Forderung entgegen, dass eine Rechtseinrichtung übrigbleiben müsse, die den Namen Eigentum verdient; über deren Umfang sagt er nichts aus. Deshalb ist die Beziehung Eigentümer – Staat eine grundsätzlich 80 Preußische Jahrbücher, Bd. 218, H. 3, S. 283/84. [Johann Viktor Bredt: Revision der Reichsverfassung, in: Preußische Jahrbücher, Band 218, Heft 3, Berlin 1929, S. 273-289.]
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andere als die Beziehung Eigentümer – Dritter. Aus diesem Grunde wäre es auch verfehlt, aus den Wandlungen des Eigentumsbegriffs im Gefolge der kapitalistischen Wirtschaftsordnung81 Schlüsse zu ziehen auf einen größeren Schutzanspruch des Eigentums gegenüber staatlichen Eingriffen. Ein solcher ist nur vorhanden, falls es sich um eine Enteignung im herkömmlichen, seit dem Napoleonischen Gesetz von 1807 darunter verstandenen Sinne handelt. Dabei und nur dabei ist auch die Wandlung des Eigentumsbegriffes zu berücksichtigen.
IV. Die Enteignungsrechtsprechung des Reichsgerichts Auf die heutige Entwicklung des Enteignungsbegriffes ist die Rechtsprechung des Reichsgerichts von entscheidendem Einfluss gewesen. Die ordentlichen Gerichte und damit in letzter Instanz das Reichsgericht sind, falls das Vorliegen einer Enteignung behauptet wird, unter 81 Die These von Reise in der Hamburger Dissertation: Die Enteignung von Rechten, 1929 [Hans Reise: Die Enteignung von Rechten nach preußischem, hamburgischem und Reichsrecht, Hamburg 1929], über die Ausdehnung des Eigentumsschutzes ist, soweit sie sich auf die möglichen Objekte der Enteignung bezieht, richtig, ja auch ziemlich anerkannt, übrigens auch schon von Lassalle. Dieses durch wirtschaftliche Strukturwandlungen bedingte Maß höheren Eigentumsschutzes wird aber dort problematisch, wo es sich um mittelbare Einwirkungen der Staatsgewalt handelt. Deshalb hilft die von Morstein-Marx in der Besprechung der Diss. von Reise (AöR. 18, 276 [Fritz Morstein Marx: Hans Reise, Die Enteignung von Rechten nach preußischem, hamburgischem und Reichsrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 18, Tübingen 1930]) gemachte Feststellung, dass das Prinzip der Enteignung gegen Entschädigung weder unbedingt kollektivistisch noch ureigenst individualistisch, sondern vielmehr ein reines Gerechtigkeitsprinzip sei, nicht weiter. Sie ist bei der hier vertretenen strengen Begrenzung des Enteignungsbegriffes unanfechtbar, aber nur bei ihr; nicht bei einer so skeptischen Auffassung wie der von Morstein-Marx, der diesen Fragenkomplex nicht aus dem Gesamtzusammenhang des Weimarer Verfassungssystems heraus behandelt, sondern sich zugestandenermaßen von augenblicklichen verfassungspolitischen Tendenzen treiben lässt. Die weitergehende amerikanische Rechtsprechung (John R. Commons, Legal Foundations of Capitalism, New York 1924) kommt für Deutschland nicht in Betracht. Über die Wandlungen des Eigentumsbegriffs in der höchstrichterlichen Rechtsprechung der U.S.A. jetzt auch John R. Commons: Das angloamerikanische Recht und die Wirtschaftstheorie, in: Wirtschaftstheorie der Gegenwart Bd. III, [John R. Commons: Das angloamerikanische Recht und die Wirtschaftstheorie, in: Hans Mayer (Hg.): Wirtschaftstheorie der Gegenwart, Band III, Wien 1928] und Hermann Kröner: John R. Commons[: seine wirtschaftstheoretische Grundauffassung und ihre Bedeutung für die sozialrechtliche Schule in Amerika], Jena 1930; Vögelin in: Archiv f. angew. Soziologie II Heft 4 [Eric Voegelin: Die Amerikanische Theorie vom Eigentum, in: Archiv für angewandte Soziologie, Jg. II, Heft 4, Berlin 1930]; [Karl] Diehl, Die rechtlichen Grundlagen des Kapitalismus, Jena 1929.
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zwei Gesichtspunkten zuständig: einmal falls die angebliche Enteignung in einer landesgesetzlichen Bestimmung enthalten ist, weil ja der Artikel 153 der Reichsverfassung den Ausschluss der Enteignungsentschädigung nur Reichsgesetzen vorbehält, und zum anderen falls ein Enteignungsakt durch reichsgesetzliche Bestimmung behauptet wird, unter der Voraussetzung, dass der Ausschluss einer Enteignungsentschädigung nicht ausgesprochen ist. Von einer konstanten Rechtsprechung des Reichsgerichts kann nicht gesprochen werden. Obwohl die meisten reichsgerichtlichen Entscheidungen zu einer sehr extensiven Interpretation des Enteignungsbegriffes gelangen, sind doch andererseits bis in die letzte Zeit hinein Entscheidungen ergangen, die von der richtigen Erkenntnis ausgehen, dass die Enteignung von der Reichsverfassung als technisch vorhandener Begriff vorausgesetzt wird.82 Über die Fragen, ob der Ausschluss der Enteignungsentschädigung durch ausdrückliche Bestimmung erfolgen muss oder ob dieser Ausschluss als unausgesprochene logische Konsequenz aus anderen Bestimmungen entnommen werden kann, ist ebenfalls eine einheitliche reichsgerichtliche Rechtsprechung83 nicht vorhanden. Immerhin lässt sich die Regel aufstellen, die durch vereinzelte Ausnahmen nur bestätigt wird, dass die Rechtsprechung des Reichsgerichts seit dem 102. Bande die sich mehr und mehr verstärkende Tendenz aufzeigt, den konkreten Enteignungsbegriff aufzulösen und in das Gebiet der Enteignung enteignungsähnliche Prozesse und Eingriffe, Entziehungen jeder Art von Privatrechten einzubeziehen. In diesem Prozess werden dann jeweils die von der Literatur aufgestellten Erweiterungsmerkmale herangezogen und verwertet, und damit der Tendenz, allen privaten Rechten einen möglichst weit ausgedehnten Schutz zu gewährleisten, zum Durchbruch zu verhelfen. Dabei fällt besonders ins Auge, dass jedem gesetzlichen Eingriff in private Rechte zunächst ruhig einmal die von Partei wegen vorgebrachte Bezeichnung als Enteignung belassen wird, um dann erst zu untersuchen, ob nicht gesetzliche Bestimmungen vor82 Siehe RGZ 107, S. 269 und 118, S. 26. 83 In Reichsgericht [RGZ] Bd. 102, S. 162, wird bei der Rechtsungültigkeitserklärung der Bremer Wohnungsmängelverordnung ausdrücklich gesagt: »Der Wortlaut des Art. 153 sowie die Bedeutung der Verfassungsbestimmungen, insbesondere der Grundrechte, die doch als Heiligtum des deutschen Volkes gedacht sind, weisen auf die Notwendigkeit hin, daß die Rechtsnorm, die eine Ausnahme schafft, sich deutlich dazu bekennt.« Bei der Frage der Rechtsgültigkeit der Verordnung betreffend Vergütung für die an Abdeckereien abzuliefernden Tiere und so weiter vom 4. Mai 1920 (RGBl., S. 891) hat das Reichsgericht sich auf den Standpunkt gestellt, dass die entschädigungslose Aufhebung eines Privilegs schon dadurch ausgesprochen ist, dass den bisherigen Privilegberechtigten nunmehr eine Vergütungspflicht auferlegt wird.
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liegen, die den Ausschluss einer Entschädigung haltbar erscheinen lassen. Diese Verfahrensmaxime ist natürlich geeignet, jeden klaren Unterschied zu verwischen und dem Enteignungsbegriff jede Präzision zu nehmen. Bei der Frage der Rechtsgültigkeit der dritten Steuernotverordnung und später des Aufwertungsgesetzes84 hat das Reichsgericht gegenüber dem Vorbringen, dass hier eine Entziehung wohlbegründeter Rechte vorliege, sich richtig auf den Standpunkt gestellt, dass »es sich nicht um eine Entziehung wohlbegründeter Rechte, sondern um eine Festsetzung und Begrenzung des Inhalts der durch die Geldentwertung und den Wirtschaftsverfall in ihren Grundlagen völlig erschütterten Rechtsverhältnisse im Sinne des Art. 153 Abs. 1 Satz 2 RV. gehandelt hat«. Leider hat das Reichsgericht diese Stellungnahme nicht zu seinem Leitprinzip erhoben; denn sonst hätte es dazu kommen müssen, dass mindestens alle generellen Regelungen, die Eingriffe in Privatrechte enthalten, immer nur vom Gesetzgeber für notwendig erachtete Festsetzungen von Rechtsverhältnissen sind, bei denen es dahingestellt bleiben kann, ob der Ausgangspunkt des Gesetzgebers richtigen Erwägungen entsprach, sofern er nur damit im Rahmen vernünftiger staatlicher Zielsetzungen bleibt. In der Folge werden hier drei Entscheidungen besprochen. Das Gebiet der sogenannten Fürstenenteignung, welches im Übrigen nach den hier besprochenen Rechtsgrundsätzen weder als Enteignung noch als verbotene Einziehung anzusehen ist, bleibt unberücksichtigt. Der erste Fall behandelt die Frage, ob die Verordnung des Reichspräsidenten über die Ablieferung ausländischer Vermögensgegenstände vom 25. August 1923 (RGBl. I, S. 833) eine Enteignung enthält.85 Dort ist bestimmt, dass diejenigen Rechtspersönlichkeiten, die im Besitz gewisser ausländischer Zahlungsmittel und Wertpapiere sind, davon eine bestimmte Anzahl abzuliefern haben, wofür sie als Gegenleistung Goldanleihe, Reichsmark oder Gutschrift auf wertbeständiges Steuerkonto erhielten. Das Reichsgericht sieht in der Tatsache, dass hier nicht allen Staatsangehörigen eine gleichmäßige Ablieferungspflicht allgemein auferlegt, sondern nur die Ablieferung gewisser einzeln bezeichneter Wertgegenstände verfügt wird, eine starke begriffliche Anlehnung an die Enteignung,
84 RGZ Bd. 107, S. 375, und 111, S. 325. Zwischen Neuregelung und gesetzlichem Einzeleingriff unterscheidet die Entscheidung über die Rechtsgültigkeit des Reichsgesetzes betreffend die Aussetzung von Rechtsstreitigkeiten über ältere staatliche Renten vom 6. 7. 29, RGBl. I, 131 in RGZ Bd. 128, 171. 85 RGZ Bd. 110, S. 344.
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woraus sich die Anwendung des Art. 153 Abs. 2 rechtfertige.86 Selbst wenn man die falsche Ansicht vertreten würde, dass individuelle Akte des Gesetzgebers unter die Enteignungskategorie fallen müssten, so ist doch unerfindlich, wo hier ein solcher individueller Akt liegen soll.87 Denn die Einschränkung ergibt sich doch zwingend aus dem Tatbestand selbst; der Staat konnte zu dem finanzpolitisch notwendigen Zweck der Anlegung eines Devisenvorrats nur bestimmte Devisen hochvalutarischer Länder brauchen; soweit er diese brauchte, ist eine generelle Ablieferungspflicht verfügt. Dass der Kreis der hiervon Betroffenen ein begrenzter war, ändert am generellen Charakter der Verordnung nichts.88 Der zweite Fall betrifft die oben bereits behandelte Erweiterung der juristischen zur wirtschaftlichen Überführung. Für die allein in Betracht kommende Enteignungsfrage handelt es sich um folgendes: Gemäß § 199 des Anhaltischen Berggesetzes vom 20. April 1906 werden vom 86 Ausdrückliche Billigung solcher Analogieschlüsse im Gutachten Triepels zum deutsch-polnischen Liquidationsabkommen, S. 39. [Heinrich Triepel, Erich Kaufmann, Walter Simons: Rechtsgutachten über den verfassungsändernden Charakter des deutsch-polnischen Liquidationsabkommens, Berlin 1929.] 87 Nur wenn man Enteignung = Einzeleingriff so »erfreulich unpedantisch« auslegt, wie dies Ascher in JW 1930, S. 1958 [Bernhard Ascher: Kommentar B zu Rechtsprechung 19., in: Juristische Wochenschrift, Jg. 59, Band 2, Heft 25, S. 1957-1960], dem RGZ konzediert, kann man eine solche Rechtsprechung billigen. 88 Dies ist auch der Standpunkt von Anschütz in seinem Gutachten zum deutschpolnischen Liquidationsabkommen. Er verneint deshalb mit Schmitt gegen Kaufmann, Triepel und Simons, dass das Abkommen Enteignungscharakter habe. [Gerhard Anschütz, Carl Schmitt: Rechtsgutachten, betreffend den Entwurf eines Gesetzes über die Abkommen zur Regelung von Fragen des Teils X des Vertrages von Versailles, Berlin 1930; Heinrich Triepel, Erich Kaufmann, Walter Simons: Rechtsgutachten über den verfassungsändernden Charakter des deutsch-polnischen Liquidationsabkommens, Berlin 1929.] Dass der generelle Charakter der Eigentumsbeschränkung nicht dadurch geändert wird, dass der Umkreis der Betroffenen durch die dem Eingriff immanente Richtung und Zwecksetzung begrenzt wird, verkennt Schelcher, a. a. O. [ Walter Schelcher: Gesetzliche Eigentumsbeschränkung und Enteignung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 18, Tübingen 1930, S. 321-378], S. 370 f.; ebenso anscheinend die S. 369 angeführte Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 15. 2. 29. Zu welcher Willkür diese Verkennung führt, zeigen die Ausführungen Schelchers auf S. 378; während der Enteignungscharakter für die nachbarrechtliche Duldungspflicht gegenüber Eisenbahnemissionen — richtigerweise — verneint wird, bleibt völlig unerfindlich, warum das Anbringen von Rosetten nicht in dieselbe Kategorie gehört und alle Untertanen in bestimmter Rechtslage betrifft. Die von Schelcher S. 350 vorgenommenen Definitionen für öffentlich-rechtliche Eigentumsbeschränkung und Enteignung sind schon deshalb unannehmbar, weil die in gleicher Rechtslage befindlichen Eigentümer der Definition 1 für Eigentumsbeschränkung mit dem sachlich begrenzten Kreis von Personen der Definition 2 für Enteignung identisch sind.
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Staat an Bergwerksabgaben erhoben: 1. eine Rohertragssteuer an den Staat von allen vom Verfügungsrecht des Grundeigentümers ausgeschlossenen Mineralien, wozu auch Braunkohle gehört, 2. eine Grubenfeldabgabe an den Staat von jedem Grubenfeld, 3. eine Kohlenrente von den Braunkohlengruben an den Grundeigentümer. Die Rohertragssteuer betrug 2%, die an den Grundeigentümer zu zahlende Kohlenrente 6% des Erlöses beziehungsweise des Wertes der Braunkohle zur Zeit ihres Absatzes. Durch Gesetz vom 27. März 1920 trat eine Änderung dahin ein, dass die Entschädigungsrente an den Grundeigentümer nur noch von den Braunkohlengruben zu zahlen war, bei denen die Förderung vor dem 1. April 1920 begonnen hatte, und zwar nur noch in Höhe von 6% des den Betrag von 25 Pfennig je Hektoliter nicht übersteigenden Erlöses. An den Staat war von den Braunkohlengruben, bei denen die Förderung vor dem 1. April 1920 begonnen hatte, außer der Rohertragssteuer von 2% weiter eine solche in Höhe von 6% des den Betrag von 25 Pfennig je Hektoliter übersteigenden Erlöses zu zahlen; von den Braunkohlengruben, in denen die Förderung nach dem 1. April 1920 begonnen hatte, waren nicht 2%, sondern 8% Rohertragssteuer zu zahlen. Hier lag offen zutage, dass der gesetzgeberische Schwerpunkt der Regelung in der Steuermaßnahme lag und dass die Minderung der an den Grundstückseigentümer abzuführenden Rente dazu dienen sollte, den Bergbautreibenden steuerlich leistungsfähiger zu machen. Das Reichsgericht hat angenommen, dass hier eine Enteignung des Grundeigentümers zugunsten des Bergwerkbesitzers tatsächlich stattgefunden habe.89 Eine Überführung kommt hier aber aus zwei Gründen gar nicht in Betracht. Wenn man auch anerkennt, dass eine Enteignung von Rechten möglich ist, so muss doch ein juristisch deutlicher Übertragungsprozess vorliegen; dies ist hier nicht der Fall. Durch die Steuerermäßigung gegenüber dem Grundbesitzer hat der Bergwerksbesitzer keine neuen Rechte gewonnen; selbst wenn man den Begriff der Überführung fälschlicherweise rein wirtschaftlich auffasst, liegt gerade hier eine solche Überführung gar nicht vor; der Bergwerksbesitzer bedeutet ja für die Methoden der Steuererhebung nur eine technische Durchgangsstation, und die Ermäßigung der Rente soll ihm nach dem Willen des Gesetzgebers gar nicht zugutekommen. Interessant ist in den reichsgerichtlichen Ausführungen weiterhin, dass hier sogar so weit gegangen wird, festzustellen, dass im Jahre 1856 bereits eine Enteignung stattgefunden habe, weil damals eine 1849 bei Aufhebung des Bergregals gewährte Rente von 10% des Nettoertrags entschädigungslos beseitigt wurde. So entdeckt das Reichsgericht, dass nicht 89 RGZ Bd. 109, S. 310 ff.
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nur unsere heutigen Gesetze nicht in Ordnung sind, sondern sogar die Gesetze des letzten, des bürgerlichen Jahrhunderts den geheiligten Grundsätzen des Privateigentums nicht immer entsprochen haben.90 In der Öffentlichkeit sehr viel Unruhe hat eine Entscheidung hervorgerufen, die sich mit folgendem Tatbestand befasst: Die Hamburger 90 Gegen diese Enteignungsentdeckungsfahrten in frühere Jahrhunderte sehr scharf Carl Schmitt im oben zitierten unveröffentlichten Gutachten S. 9 [Gerhard Anschütz, Carl Schmitt: Rechtsgutachten, betreffend den Entwurf eines Gesetzes über die Abkommen zur Regelung von Fragen des Teils X des Vertrages von Versailles, Berlin 1930]. Eine zugleich deutliche und erfreuliche Abkehr von der herrschenden Begriffsvermengung bietet das Urteil des Staatsgerichtshofs in RGZ Bd. 124, Anhang S. 32 ff., über die Rechtsgültigkeit der preuß. Notverordnung vom 10. Oktober 1927 über einen erweiterten Staatsvorbehalt zur Aufsuchung und Gewinnung von Steinkohle und Erdöl. Diese Notverordnung enthielt eine notwendig gewordene Erweiterung der lex Gamp von 1907, indem sie bestimmte, dass in der Provinz Brandenburg und im Gebiet der Stadtgemeinde Berlin die Aufsuchung und Gewinnung von Steinkohle dem Staat zustehe und dass diese Bestimmung auch auf diejenigen Teile der Provinz Sachsen und Niederschlesien Anwendung finde, in welchen die Steinkohle bisher dem Verfügungsrecht des Grundeigentümers unterlag. Nach Art. 3 dieser Verordnung soll die Entschädigung für jeden Grundstückseigentümer regelmäßig in einem Bruchteil des Erlöses oder Wertes der aus dem Grundstück gewonnenen Stoffe festgesetzt werden. Der preußische Staatsrat bestritt die Rechtsgültigkeit dieser Notverordnung neben anderen staatsrechtlichen Argumenten mit dem Hinweis darauf, dass hier eine Enteignung ohne Zubilligung angemessener Entschädigung vorliege. Der Staatsgerichtshof hat diese Argumentation ausdrücklich abgelehnt, mit dem Bemerken, dass zwar zugegeben werde, dass das Recht des Grundeigentümers durch die Entziehung jener Berechtigung gemindert werde; dies bedeute aber keine Enteignung, sondern eine Neuregelung des Gesetzgebers über Inhalt und Schranken des Grundeigentums. Den Inhalt und die Schranken des Eigentums allgemein zu regeln, die zulässigen Rechte an Grundstücken und die Voraussetzungen ihrer Entstehung allgemein zu bestimmen, muss dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben, ohne dass er dabei durch eine Pflicht zur Entschädigung gehindert werden kann. Dieses Recht ist ihm in Art. 153 RV. ausdrücklich Vorbehalten. Ausdrücklich ist noch hinzugefügt, »daß aber die Reichsgesetzgebung verfassungsmäßig befugt wäre, den Inhalt des Privateigentums durch allgemeine grundsätzliche Abzweigungen wichtiger Befugnisse ohne Entschädigung weitgehend herabzumindern, wird sich wohl nicht bestreiten lassen«. Die entgegengesetzte Ansicht des Gutachters in diesem Prozesse, des OLG.-Präsidenten Mayer, Celle, die dieser in JW 27, S. 2976 [Otto Mayer: Die Entschädigungsfrage nach der Notverordnung über Steinkohle und Erdöl für Berlin und Brandenburg, in: Juristische Wochenschrift, Jg. 56, Band 3, Heft 51, Leipzig 1927, S. 2977], veröffentlichte, ist damit abgelehnt; ebenso Schelcher, a. a. O., S. 363 f. [Walter Schelcher: Gesetzliche Eigentumsbeschränkung und Enteignung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 18, Tübingen 1930, S. 321-378] – Vollkommen konform mit der erfreulich klaren Entscheidung des Staatsgerichtshofs ist das Urteil des 3. Senats, RGZ 127, 280 f., wo erstaunlicherweise auf einmal wieder der Enteignungsbegriff auf den Verwaltungsakt auf Grund eines Gesetzes beschränkt wird. Wo bleibt die Entscheidung der vereinigten Zivilsenate? Ihre Notwendigkeit erkennt auch der VII. Senat im Prinzip an (RGZ Bd. 128, S. 172).
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Denkmalschutzbehörde verbot dem Eigentümer einer bei Cuxhaven gelegenen Sandgrube, die ebenso wie der angrenzende Galgenberg in die Hamburger Denkmalliste eingetragen ist, die Ausschachtung dieser Grube. Der Entschädigungsklage des Eigentümers ist vom Hanseatischen Oberlandesgericht und vom Reichsgericht stattgegeben worden. Das Reichsgericht hat hier den Satz aufgestellt, dass eine Enteignung im Sinne des Artikels 153 Absatz 2 schon dann anzunehmen sei, wenn das Recht des Eigentümers, mit seiner Sache gemäß § 903 BGB. nach Belieben zu verfahren, zugunsten eines Dritten beeinträchtigt werde, und hat infolgedessen, da das Vorliegen einer solchen Beeinträchtigung erwiesen sei, der Klage des Eigentümers gegen den Hamburgischen Staat stattgegeben. In dieser Entscheidung wird der Begriff der Enteignung auf den der öffentlich-rechtlichen Beschränkung zurückgeführt, ohne dass er als selbständiger verwaltungsrechtlicher Tatbestand bestimmte konkrete Merkmale beibehalten hätte. Es ist bei der Kritik jener Entscheidung schon darauf hingewiesen worden,91 dass hier von einer Überführung nicht einmal im entferntesten und vagesten Sinn der neueren Lehre die Rede sein kann. Denn es ist gerade der hervorstechendste Charakter der öffentlich-rechtlichen Beschränkung, dass im Allgemeininteresse Privateigentum beschränkt wird, ohne dass doch bestimmte konkrete nutzbare Rechte auf den Sachwalter der Öffentlichkeit übertragen werden. Zugunsten der Allgemeinheit werden hier Beschränkungen vorgenommen, die dieser Allgemeinheit restlos zugutekommen, was aber auf der anderen Seite gerade dazu führt, dass niemandem ein errechenbarer Wert zugeführt wird. Aus diesen Gründen kann auch der Auffassung Söllings,92 dass zwar nicht aus den Gründen der Reichsgerichtsentscheidung, aber deshalb eine Enteignung als vorliegend zu erachten sei, weil hier der Eingriff sich als so weitreichend darstelle, dass die in Artikel 153 Absatz 1 Satz 2 enthaltene Begriffsbestimmung der Enteignung erfüllt sei, nicht zugestimmt werden. Sölling meint, eine solche Enteignung liege dann vor, wenn, wie in diesem Falle der schrankenlose Eingriff das Eigentum inhaltsleer (im wirtschaftlichen Sinn) gemacht habe. Abgesehen davon, dass in Absatz 1 des Artikels 153 keine Definition der Enteignung aufgestellt ist, wird hier unzulässigerweise der rein juristische Begriff der Enteignung durch eine metajuristische Terminologie erweitert. Nach der Auffas91 Hensel im Arch f. öff. R. N. F. 14, S. 23. [Albert Hensel: Art. 150 der Weimarer Verfassung und seine Auswirkungen im preußischen Recht, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 14, Tübingen 1928, S. 321.] 92 In Juristische Rundschau 1928, Nr. 3, S. 40 ff. [Kurt Sölling: Eigentumsbeschränkung und Enteignung nach der Reichsverfassung, in: Juristische Rundschau, Band 1928, Heft 3, Berlin 1928, S. 40-44.]
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sung des Verfassers müsste jede staatliche Monopolerrichtung, die eine bisherige private Machtstellung unterhöhlt, als Enteignung anzusehen sein. Dies würde schon deshalb zu unhaltbaren Konsequenzen führen, weil bei dieser angeblich wirtschaftlichen (lies: privatwirtschaftlichen) Betrachtungsweise auch der Unterschied zwischen unmittelbarem gesetzlichen Eingriff und reiner Tatbestandswirkung (Reflex) eines staatlichen Aktes jeden Sinn verlieren würde und daraus sehr leicht die Folgerung gezogen und dementsprechend die Forderung an den Gesetzgeber gestellt werden könnte, Billigkeitsentschädigungen im weitesten Maße immer dann zu gewähren, wenn private Interessenten indirekte Schädigungen durch staatliche Maßnahmen behaupten. Im Übrigen kann auch die von Walter Jellinek neuerdings in seinem dem Deutschen Städtetag erstatteten Gutachten über die Entschädigung für baurechtliche Eigentumsbeschränkungen93 aufgestellte Schutzwürdigkeitstheorie nicht als adäquate Interpretation des Art. 153 der RV angesehen werden. Wer den Unterschied von entschädigungspflichtiger Enteignung und entschädigungsloser öffentlich-rechtlicher Beschränkung an dem Maßstab der Stärke und Intensität der Eigentumsbeschränkung bestimmt, vergisst, dass für den Maßstab der Schutzwürdigkeit des Eigentums, für die Frage, wieweit man in der Skala entschädigungsloser Eingriffe gehen darf, nur die vom Gesetzgeber verfolgten Zwecke maßgebend sind. Jede Schutzwürdigkeitstheorie nimmt etwas zur Voraussetzung, was die Reichsverfassung nicht voraussetzt. Sie lässt jedem konkreten Eigentum einen gewissen Wertkern94 immanent sein, dessen Bestand ein Apriori für den zukünftigen Gesetzgeber bildet. Dies ist aber insofern falsch, als die Relation zwischen Eigentum und Eingriff durch jedes Gesetz aufs Neue festgestellt wird und der Gesetzgeber bei jedem Eingriff, je nach dem konkreten Fall und Bedürfnis den Rangvorzug bestimmt. Jellinek teilt trotz der größeren Beweglichkeit seiner Konstruktion den weitverbreiteten Irrtum, dass die Ver93 Entschädigungen für baurechtliche Eigentumsbeschränkungen, Berlin 1929. Mit ausführlicher Begründung wird die Schutzwürdigkeitstheorie abgelehnt bei Schelcher, a. a. O., S. 340 f. [Walter Schelcher: Gesetzliche Eigentumsbeschränkung und Enteignung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 18, Tübingen 1930, S. 321-378.] 94 So ausdrücklich W. Jellinek in dem Gutachten zum Deutschen Juristentag (Verhandlungen des 36. Deutschen Juristentags Bd. I, Lieferung 2, S. 318). [Walter Jellinek: Empfiehlt es sich, die dem Artikel 153 der Reichsverfassung zugrunde liegende Unterscheidung zwischen dem Begriff der ohne Entschädigung zulässigen Eigentumsbeschränkung und der zur Entschädigung des Betroffenen verpflichtenden Enteignung durch ein Reichsgesetz zu klären und für die Rechtsanwendung maßgebend zu stellen?, in: Verhandlungen des sechsunddreißigsten Deutschen Juristentags, Band I, Lieferung 2, Berlin/Leipzig 1931, S. 292-320.]
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fassung eine bestimmte Wertung des Eigentums mitbringe, welche bei Gelegenheit jedes neuen Eingriffs ihren Ausdruck und ihre Bestätigung zu finden habe. Er übersieht dabei, dass die Weimarer Verfassung bei der herkömmlichen Fassung des Enteignungsbegriffs verbleibt und Schutz nur gegen den reinen Verwaltungsakt gewährt, im Übrigen aber staatlichen Zielsetzungen auch dann freien Raum lässt, wenn sie nicht nur von einer sozial gebundenen Eigentumsauffassung ausgehen, sondern von einer sozialen Auffassung aus, die die der freien Eigentümerwillkür vorbehaltene Sphäre noch weitergehend beschränkt.95 Auf die Folgerungen, die sich aus herrschender Lehre und Rechtsprechung ergeben, ist gerade anlässlich des Hamburger Denkmalfalls verschiedentlich hingewiesen worden. Im Gebiet der öffentlich-rechtlichen Beschränkung wurde insbesondere die Verfassungsmäßigkeit des preußischen Entwurfs zu einem Städtebaugesetz von den verschiedensten Seiten bezweifelt. Gegen die dort vorgesehenen Flächenaufteilungspläne und die damit verbundenen Baubeschränkungen wendet sich der preußische Staatsrat in seinem Gutachten zu diesem Entwurf.96 Bei der ausführlichen Behandlung, die dieser reine Fall einer öffentlich-rechtlichen Beschränkung in der Begründung des Gesetzentwurfs selbst und in dem im Ergebnis richtigen Jellinek’schen Gutachten gefunden hat, soll hier nur auf einen Einwand des Staatsrats hingewiesen werden. Es wird behauptet, die Eigentümer von Nutzgrünflächen und von Freiflächen würden, falls sie gezwungen würden, auf zukünftige Bebauungsmöglichkeiten zu verzichten, hierdurch zu besonderen Opfern genötigt und müssten dafür nach Maßgabe des § 75 der Einleitung zum Allgemeinen Landrecht entschädigt werden. Diese Begründung geht in doppelter Hinsicht fehl. Zunächst liegt kein besonderes Opfer im Sinne des § 75 vor, da von dieser Maßregel alle diejenigen Eigentümer erfasst werden, die nach dem Flächenaufteilungsplan in Betracht kommen. Weiterhin bezieht sich die Vorschrift des § 75 Einleitung zum Allgemeinen Landrecht, welche übrigens gar kein Verfassungsgrundsatz ist und deshalb durch einfaches preußisches Gesetz abgeändert werden kann, 95 Es muss hier noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass die aus deutschrechtlichen Gesichtspunkten (Gierke) vertretene Auffassung von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, die auch Jellinek wieder aufnimmt, durchaus im Bereich des Individualismus verbleibt und ihm nur diejenigen Schranken setzt, die eine auf individualistischer Grundlage aufgebaute Gesellschaftsordnung verlangt. 96 Siehe Drucksache Nr. 3015 des preuß. Landtags, 3. Wahlperiode I. Tagung 28/29, und dazu Rieß in Staats- und Selbstverwaltung, 8. Jahrg., Nr. 20, S. 475. [Dr. Rieß: Entschädigung für Baubeschränkungen, in: Staats- und Selbstverwaltung, Jg. 8, Nr. 20, Berlin 1927/28.]
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nur auf verwaltungsmäßig, nicht auf gesetzlich auferlegte Opfer. Sollte dies aber nicht aus dieser Bestimmung hervorgehen, so ergibt es sich jedenfalls aus der Kabinettsorder vom 4. Dezember 1831;97 dort heißt es: »Allein so wenig der Souverän in Ausübung seiner Hoheitsrechte selbst von der Einwirkung irgendeiner Gerichtsbarkeit abhängt, so wenig hat derselbe die Folgen dieses Gebrauchs seiner Rechte im gerichtlichen Verfahren zu verantworten.« Dort wird ausdrücklich davor gewarnt, diese Stelle des Allgemeinen Landrechts so auszulegen, als ob der Landesherr verpflichtet wäre, diejenigen zu entschädigen, deren Privatinteressen durch die Ausübung der Hoheitsrechte gefährdet würden. Inzwischen hat sich das Reichsgericht die vom preußischen Staatsrat geäußerten Bedenken restlos zu Eigen gemacht. In seiner am 28. Februar dieses Jahres ergangenen Entscheidung98 über die Rechtsungültigkeit des § 13 des preußischen Fluchtliniengesetzes finden sich die Merkmale, die für die Ausweitung der Enteignungskategorie bezeichnend sind, alle wieder. Viel klarer als in den bisherigen Urteilen zeigt sich hier anhand des reichsgerichtlichen Versuchs einen vom Gesetzgeber ausdrücklich geleugneten Unterschied zwischen dem Wesen der Beschränkungen in § 12 und denen in § 13 dieses Gesetzes zu machen, die Unmöglichkeit eine Grenzlinie zwischen diesem entwerteten Enteignungsbegriff und der öffentlich-rechtlichen Beschränkung überhaupt zu erkennen. Am deutlichsten zeigen sich die Konsequenzen dieser ungeheuer schwerwiegenden Entwicklung in einem 97 Vergleiche dazu Anschütz im Verw.-Archiv Bd. V, S. 12. [Gerhard Anschütz: Der Ersatzanspruch aus Vermögensschädigung durch rechtmäßige Handhabung der Staatsgewalt – Drei öffentlich-rechtliche Studien, in: Verwaltungsarchiv, Band V, Köln 1897, S. 1-136.] 98 Die Entscheidung, die von ungeheurer praktischer Tragweite für die Städte ist, ist abgedruckt in JW 1930, S. 1955 f. [Rechtsprechung 5. Rechte und Pflichten des Straßenanliegers, in: Juristische Wochenschrift, Jg. 59, Band 2, Heft 25, Leipzig 1939, S. 1955-1096,] ausführlicher besprochen hat der Verfasser diese Entscheidung in einem Aufsatz in der Zeitschrift »Die Justiz«, Juni 1930 [Otto Kirchheimer: Reichsgericht und Enteignung. Reichsverfassungswidrigkeit des Preußischen Fluchtliniengesetzes?, in: Die Justiz, Band 5, Heft 9, Berlin 1930, S. 553-565]. Wenn diese Entscheidung teilweise deshalb so viel Beifall gefunden hat (vergleiche Rieß, VerwBl. 51, 285 ff.) [Otto Mayer, Rieß: Das Reichsgericht und das deutsche Fluchtliniengesetz, in: Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt, Band 51, Nr. 18, Berlin 1930, S. 285-289]. Weil die Stadt Berlin zwischen Fluchtlinienfeststellungsbeschluss der Stadtverordnetenversammlung und öffentlicher Planauslegung so sehr lange Zeit verstreichen ließ, so muss man auf eine treffende Bemerkung des Supreme Court of USA im Fall Munn von Illinois, 1876, hinweisen. Dort sagt das Gericht, dass in solchen Fällen des angeblichen Missbrauches der öffentlichen Gewalt »the people must resort to the polls, not to the courts« (zitiert bei Commons, Legal Foundations, S. 14 [John R. Commons: Legal Foundations of Capitalism, New York 1924] ).
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neueren Reichsgerichtsurteil, 99 das bezeichnenderweise schon gar nicht mehr den Unterschied zwischen Enteignung und öffentlich-rechtlicher Beschränkung macht und die öffentlich-rechtliche Beschränkung durch Gesetz als Eingriff in Privatrechte für unzulässig erklärt, ohne Absatz 1 und 2 des Artikels 153 mehr zu unterscheiden. Widerstände, die sich aus der herrschenden Auslegung des Enteignungsbegriffes ergeben, haben sich weiterhin in bedeutendem Maße bei der Beratung eines Gesetzes über Änderung der zur Auflösung der Familiengüter und der Hausvermögen ergangenen Gesetze und Verordnungen im preußischen Landtag ergeben. Dieser Gesetzentwurf bestimmt für die in der Reichsverfassung vorgesehene Gesamtauflösung der Fideikommissgüter eine erhebliche Beschleunigung dadurch, dass ein Stichtag (1. April 1935) für die Beendigung der Auflösung der noch bestehenden Familiengüter eingeführt wird. Alle an diesem Tag noch bestehenden Familiengüter erlöschen mit Beginn dieses Tages. Weiterhin verbessert die Vorlage die Lage der Abfindungsberechtigten durch die Erhöhung der Abfindung und Abschaffung des bisherigen Rechts des Fideikommissbesitzers auf testamentarische Regelung und Ausschluss der Abfindung. Im Prinzip handelt es sich bei der durch die Reichsverfassung vorgesehenen Auflösung der Fideikommisse recht eigentlich um die Beseitigung eines feudalen Restes innerhalb einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Juristisch handelt es sich um einen Grenzfall zwischen Abschaffung einer Kategorie von subjektiven Rechten und Änderung des objektiven bürgerlichen Rechts in dem schon von Lassalle ausführlich behandelten Sinne. Ein Grenzfall liegt deshalb vor, weil die Fideikommissanwärter zwar bestimmte rechtlich geschützte Anwartschaften besitzen, aber noch nicht Inhaber subjektiver Rechte sind. Für beide Fälle wäre das staatliche Recht zur Neuregelung ohne jede besondere Entschädigung der einen oder der anderen Kategorie auch ohne den ausdrücklichen Hinweis der Reichsverfassung zweifelsfrei. Eine Verfassung wie die Weimarer, die nicht einmal mehr eine bürgerliche im alten Sinne des Wortes sein will, kann feudalen Rechtsinstituten keinen Schutz mehr gewähren. Dass der Staat das objektive bürgerliche Recht jederzeit ändern und neue Entstehungsnormen für zukünftiges bürgerliches Recht bestimmen kann, hat schon Lassalle in seinem System der erworbenen Rechte ausführlich begrün-
99 Jur. W. 1930, S. 1205. [Rechtsprechung 16., in: Juristische Wochenschrift, Jg. 58, Band 1, Heft 17, Leipzig 1929, S. 1204-1206.]
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det.100 Insofern hier Änderungen des objektiven Rechts getroffen werden, ist die Beseitigung des Rechtsinstituts des Fideikommisses im vollkommenen Einklang mit der Bewusstseinslage der heutigen Zeit und liegt zudem höchstens ein genereller, nicht ein individueller Eingriff in erworbene Rechte vor. Der charakteristische Tatbestand, dass Parteigruppen, die das politische Programm des Bürgertums vertreten, einer restlosen Beseitigung vorbürgerlicher Rechtsformen und -institutionen deshalb widersprechen, weil deren entschädigungslose Beseitigung als Angriff auf die Institution des Privateigentums als solche gewertet werden könnte, zeigt die ungeheure Erstarrung, die die Idee des Privateigentums in den letzten Jahren ganz im Gegensatz zu den Tendenzen der Weimarer Verfassung erfahren hat. Charakteristischer als bei dem Fall der Fideikommissauflösung tritt dies noch bei dem Gesetz zur Regelung älterer staatlicher Renten in Erscheinung. Der im März 1928 dem Reichstag vorgelegte Entwurf dieses Gesetzes sah vor, dass Renten, die für die Aufgabe oder den Verlust von landesherrlichen oder standesherrlichen Rechten, sonstigen Hoheitsrechten oder Standesvorrechten jeder Art begründet waren, ebenso entschädigungslos in Wegfall kommen sollten, wie Renten, die dem Ausgleich für die Aufgabe oder den Verlust von Leibeigenschafts- oder ähnlichen nach dem heutigen Zeitempfinden als unsittlich anzusehenden Rechten dienten. Merkwürdigerweise enthielt der Entwurf den Passus, dass die Vorlage verfassungsändernd sei, was tatsächlich gar nicht der Fall war. Aber die herrschende Lehre über Begriff und Voraussetzungen der Enteignung war so sehr communis opinio geworden, dass sich nicht nur das das Gesetz vorlegende Ministerium, sondern sogar der Reichstag von ihr beeindrucken ließ. Da diese Vorlage wegen des in ihr enthaltenen Eingriffs in erworbene Rechte nicht die fälschlicherweise als notwendig angesehene Zweidrittelmehrheit erreichen konnte, fielen entschädigungslos nur die Renten für den Verlust von Leibeigenschaftsrechten oder ähnlichen Rechten fort, während für die anderen Rechte eine Aufwertung beschlossen wurde. Diese Regelung steht nicht nur hinter der Behandlung, die die feudalen Rechtstitel 1848 in Deutschland erfahren sollten, zurück, son100 Die ohne Heranziehung dieser Gesichtspunkte aufgestellte Behauptung Holsteins, a. a. O., S. 10 [Günther Holstein, Fideikommissauflösung und Reichsverfassung, Berlin 1930], dass Änderungen des objektiven Rechts ebenfalls Enteignungen darstellen könnten, ist ebenso wenig stichhaltig, wie die Behauptungen [Fritz] Mielkes in »Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den dem preußischen Landtag vorliegenden Fideikommissgesetzentwurf«, Berlin 1922, der sich bezeichnenderweise für seine Stellungnahme gegen den Entwurf in der Hauptsache auf die Motive zum bürgerlichen Gesetzbuch beruft.
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dern wird auch weit überholt durch die hier angeführte französische Revolutionsgesetzgebung. Wir sind in Deutschland dabei angelangt, alle erworbenen Rechte wahllos und ohne Beziehung zu den Notwendigkeiten und Bedürfnissen der Gegenwart mit einer unverbrüchlichen Sanktion, mit einem Panzer gegen den Gesetzgeber auszustatten. Diese Entwicklung hat die Weimarer Verfassung nicht gewollt und mindestens nicht bewusst gefördert. Die dadurch hervorgerufene Bindung des Gesetzgebers an den Willen ihm fremd gewordener Jahrhunderte zwingt ihn auf Schritt und Tritt, Rücksichten zu nehmen und notwendige Maßnahmen zu unterlassen. Das Schlimmste aber an dieser Bindung ist, dass man nie weiß, wo ihre Grenzen verlaufen. In einem Staat, der im Wesentlichen noch von hochkapitalistischen Tendenzen erfüllt ist, ist nichts notwendiger, als feste Grenzen zu bestimmen, an denen die private Machtsphäre des Einzelnen dem organisierten Willen der Gesamtnation gegenüber zu weichen gezwungen ist. Indem er die erworbenen Rechte für sakrosankt erklärt, überlässt der Staat privaten Mächten auf weite Strecken das Feld. Wenn private Macht dem Staat mit Erfolg das Recht, Interessen der Gesamtheit zu vertreten, bestreitet, fällt auch die Grenze zwischen erworbenem Recht und reiner Faktizität. Wenn hinter erworbenem Recht sich immer die Aufrechterhaltung des Status quo verbirgt, dann wird jeder Status quo selbst zu einem erworbenen Recht. Die Vereinigten Staaten haben anlässlich eines Notenwechsels darauf hingewiesen, dass »the liquor business has not been a property right, but a licensed occupation«.101 Wer aber möchte entscheiden, ob, wenn heute Deutschland auch nur ein partielles Alkoholverbot entschädigungslos durchführen wollte, bei uns eine mit der Autorität eines amerikanischen Staatssekretärs ausgestattete Stelle vorhanden wäre, die dem Ansturm der Interessenten gegenüber eine solche Unterscheidung durchzuführen in der Lage wäre? 101 Es handelt sich um eine Diskussion, die seit dem Jahre 1923 zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten über die Frage der Rechtsgültigkeit der Ausführungsgesetze zum Artikel 27 der mexikanischen Verfassung eingesetzt hat. Der Staatssekretär Kellogg hat diese Formulierung in einer Antwort auf die Note des mexikanischen Außenministers gebraucht. Dieser hatte ihn bei der Frage der Behandlung der erworbenen Rechte der amerikanischen Staatsbürger und der Rückwirkung der mexikanischen Petroleum- und Agrargesetze darauf aufmerksam gemacht, dass auch die Vereinigten Staaten Eigentumsrechte aufgehoben hätten, als sie durch Verfassungsamendement die Prohibition einführten. Senate Documents 69. Congress I. Session Miscellaneous Bd. 2, Washington 1926. Dokument Nr. 96, insbesondere S. 31 und S. 37. Siehe auch die Ausführungen bei [Alfred] Vagts: Mexiko, Europa und Amerika, Berlin 1928.
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[20.] [Rezension:] Eugene A. Korovine: Das Völkerrecht der Übergangszeit* [1930] E.A. Korovine. »Das Völkerrecht der Übergangszeit. Grundlagen der völkerrechtlichen Beziehungen der Union der Sowjetrepubliken.« (Aus der zweiten russischen Auflage mit erheblichen Ergänzungen für die deutsche Ausgabe übertragen von I. Robinson Kaunas.) Eingeleitet von Dr. Herrmann Kraus, Professor der Rechte an der Universität Göttingen. 1929, Verlag Dr. Walther Rothschild, Berlin-Grunewald. In seinem Büchlein über die rechtspolitische Grundlegung der Völkerrechtswissenschaft hat Theodor Niemeyer die Frage aufgeworfen, wie sich ein Völkerrechtslehrer zu verhalten habe, wenn sein eigener Staat nach seiner Meinung Unrecht hat.1 Darf er seinem Staat öffentlich Unrecht geben oder muss er der einseitige Advokat seines Staates sein? Niemeyer glaubte die Frage dahingehend beantworten zu können, dass der Völkerrechtsgelehrte, der bewusstermaßen gegen seine Überzeugung seinem Staat Recht gibt, um den politischen Interessen dieses Staates zu dienen, lügt und den Gedanken des Rechts wie die Würde der Wissenschaft schändet. Abgesehen davon, dass sich diese Fragestellung aus den verschiedensten Gründen dem Völkerrechtslehrer nicht in dieser Klarheit im konkreten Fall darstellt, ist die Lösung der Frage im Sinne Niemeyers für die herkömmliche Völkerrechtswissenschaft immer mindestens ein notwendiges, wenn auch nie voll verwirklichtes Postulat gewesen. Denn die ratio des Völkerrechts und damit der Völkerrechtswissenschaft ist es, dass die Menschheit, obwohl sie, wie der Theologe Franz Suarez schreibt, in verschiedene Völker und Reiche geteilt ist, dennoch eine bestimmte politische und moralische Einheit besitzt. Für die moderne russische Völkerrechtswissenschaft besteht jener Konflikt, wie uns aus den Darlegungen Korovines deutlich wird, nicht. * [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Politik, Jg. 7, Heft 6, Berlin 1930, S. 575-578. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 78-79.] 1 [Theodor Niemeyer: Rechtspolitische Grundlegung der Völkerrechtswissenschaft, Kiel 1923.]
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Zwischen Staatspflicht und Wissenschaftstreue kann kein Konflikt entstehen, da beide identisch sind. Identisch können sie deshalb sein, weil die völkerrechtliche Zielsetzung dort eine radikal andere geworden ist. Die Völkerrechtsauffassung Sowjetrusslands verwirft die Auffassung eines einheitlichen Völkerrechts und leugnet, dass zwischen Russland und der übrigen kapitalistischen Welt jenes notwendige Minimum an Homogenität vorhanden sei, das als Grundlage einer Völkerrechtsgemeinschaft notwendig ist. Außerdem behauptet Korovine und macht durch Hinweise auf andere Völkerrechtsautoren der Sowjetunion glaubhaft, dass dies die »communis opinio« in Sowjetrussland ist, dass die Theorie von einem einheitlichen Völkerrecht ein Mythos und nicht einmal ein schöner sei. In Wirklichkeit sei das heutige Völkerrecht pluralistisch, und das gegenseitige Verhältnis der Staaten sei abgestuft nach ihrer politisch-ökonomischen Stellung, der alte Grundsatz von der Gleichheit der Völkerrechtssubjekte sei tatsächlich abgeschafft. Das sowjetistische Völkerrecht sei das »Völkerrecht der Übergangszeit«, es sei das Recht, das nur in der Zeit des Nebeneinanderbestehens zweier so verschiedener Staatenwelten wie der kapitalistischen und der sowjetrussischen gelte und dessen Bestehen begrenzt sei auf die Zeit, in der noch eine Brücke zwischen der bürgerlichen und der sozialistischen Hälfte der Menschheit bestehen müsse. Diese Brücke werde auseinanderfallen, wenn das intersowjetistische Recht bis zur Größe eines allweltlichen Rechts gewachsen sei. Aus diesen für den Verfasser programmatischen Äußerungen ergibt sich eine voluntaristische Völkerrechtsauffassung, von der das ganze Buch beherrscht ist. Realistisch und marxistisch nennt der Verfasser selbst seine Betrachtungsweise; aber um dieses Programm zu rechtfertigen, hätte er nicht nur die Völkerrechtswirklichkeit kritisch durchforschen, er hätte vielmehr bei dem untrennbaren ideologischen Zusammenhang, bei dem ständigen Ineinanderübergehen von verwirklichtem Völkerrecht und Entwicklungstendenzen des Völkerrechts sorgfältiger den Ansätzen nachgehen müssen, aus denen bei gleicher Einschätzung der heutigen Situation sich doch ein anderes Zukunftsbild ergeben könnte. Anstatt dessen spitzt sich in diesem Buche alles auf eine vom Verfasser gewünschte Entwicklung zu. Die bisherige Völkerrechtslehre hat ihre Betrachtungen aufgebaut auf der Hinnahme der gegebenen Machtverhältnisse und Staatsbeziehungen, wenn sie diese auch prinzipiell als unendlich verbesserungsfähig ansah. Für Korovine besitzt die heutige Völkerrechtsordnung nur einen transitorischen Wert; das Völkerrecht dient wesentlich als Erkennungs-
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maßstab für die Unmöglichkeit unserer heutigen Sozialordnung überhaupt. Die Frage ist, ob sich die These des Verfassers von der besonderen Struktur des russischen Völkerrechtssystems rechtfertigen lässt, wie weit es sich hier um dauernde Änderungen, wie weit es sich um willkürliche Bewertungen historisch nicht einmaliger Situationen handelt. Dabei muss gesagt werden, dass der Verfasser zur Durchsetzung seiner Thesen von der Disparität russischen und europäischen Völkerrechts ein Homogenitätsbild der Russland gegenüberstehenden Welt annimmt, das er selbst an anderer Stelle leugnet. Es steht jedenfalls im Widerspruch mit seiner durchaus diskutablen Behauptung, der Imperialismus sei im Grund dem Völkerrecht feindlich. In Wirklichkeit beruht die Homogenität der Völkerrechtsgemeinschaft nicht auf prinzipiellen Erwägungen und auch nicht auf dem vom Verfasser so misstrauisch betrachteten Gewohnheitsrecht. Sie beruht vielmehr auf einer Unmenge ständig wachsender notwendiger technischer und wirtschaftlicher Vereinbarungen, die ihrerseits erst gemeinschaftsbildend wirken und einen Anwendungsbereich für Gewohnheitsrecht geben. Gerade die Notwendigkeit solcher technischen und wirtschaftlichen Vereinbarungen hat der Verfasser aber für Russland gar nicht in Abrede gestellt, er hat deren Notwendigkeit ausführlich zu begründen versucht und die einzelnen Vertragstypen sorgfältig aufgezählt. Es ist ihm auch nicht entgangen, dass das russische Außenhandelsmonopol diese Art von Vereinbarungen noch viel notwendiger macht als sie es in anderen Ländern sind. Die Frage der technischen Klassifizierung dieser Verträge ist dabei nicht entscheidend. Wichtiger aber ist, dass, wie Max Huber schon im Jahre 1910 richtig bemerkt hat, aus dem intensiven Interesse der Staaten an übereinstimmender Regelung von Angelegenheiten unser modernes Völkerrecht hauptsächlich herausgewachsen ist; Umschlag des quantitativen in das qualitative Element. Wenn der Verfasser also den völkerrechtlichen Verträgen Sowjetrusslands sehr hohen Gegenwartswert für Russland beimisst, sie aber doch nicht für entscheidend hält, so verschließt er sich durch diese rein willensmäßig bestimmte Wertung den Weg zu einer richtigen Erkenntnis des Wertes des gegenwärtigen Völkerrechts, die zwischen dem herkömmlichen Optimismus und dem politisch bestimmten Pessimismus des Verfassers den Weg zur Völkerrechtsrealität finden muss. Nichts Neues bietet uns der Verfasser, wenn er das Prinzip der Souveränität und der völkerrechtlichen Gleichheit aller Völker warm vertritt, besonders da er offen bekennt, dass es nicht die theoretische Lehre ist, die ihn
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anzieht, sondern ihre für das heutige Russland praktisch günstigen Konsequenzen. Es lässt sich leicht aufweisen, dass diese Argumente auch von Staaten ganz anderer politischer Struktur gebraucht werden; in Südamerika sind sie aus leicht begreiflichen Gründen ebenfalls hoch im Kurs. Insoweit also sind die »Prinzipien des Völkerrechts der Übergangszeit« doch nicht so singulärer Natur und nicht Elemente eines einheitlich geschlossenen Systems, wie der Verfasser meint. Und trotzdem hat das Werk des Verfassers gegenüber dem traditionellen Völkerrechtssystem, das durch die vom Völkerbund belebte Problemstellung einen neuen Auftrieb erhalten hat, manche bedeutenden Vorzüge. Der Standort des Verfassers hat es ihm als einem der ersten erlaubt, die alte Lehre von einem Interventionsrecht über den Haufen zu werfen und mit allem Nachdruck den rein tatsächlichen Charakter des Interventionsinstituts zu betonen. Wenn man die Erlaubtheit der Intervention von Zweckmäßigkeitserwägungen abhängig macht, (nämlich davon, ob Russland intervenieren will oder seine Feinde), so geht daraus ebenso wie aus dem unendlich lehrreichen im entscheidenden Punkt, der von den südamerikanischen Staaten begehrten Feststellung eines Interventionsverbotes, negativen Ergebnis der Havanneser Panamerikanischen Konferenz einleuchtend hervor, dass hier eine der schärfsten Bruchstellen der Völkerbeziehungen ist, die man in Zukunft besser sachlich untersucht, als hinter Rechtsbegriffen verschleiert. Man braucht weiterhin nicht Korovines Hoffnungen zu teilen, aber man wird ihm doch dankbar sein müssen, dass er als erster methodisch umfassend darauf hingewiesen hat, dass de facto neben dem Staat und gegen den Staat Faktoren aufgetaucht sind, die aktiv und reaktiv im Völkerrecht in Zukunft anders gewertet werden müssen. Sie handeln nicht immer als Völkerrechtssubjekte, aber die wirtschaftlichen Vereinbarungen von Interessengruppen zweier Staaten können ebenso folgenschwer sein wie die Tatsache, dass in künftigen Kriegen die nationale Einheit von innen nicht gesichert und von außen, wie dies Sowjetrussland immer getan hat, als eine zerstörungswürdige Fiktion angesehen wird. Dem Politiker sind alle diese Fragen, die eng mit der Klassenstruktur in der heutigen Staatenwelt Zusammenhängen, längst bekannt. Es ist leicht begreiflich, dass die methodische völkerrechtliche Behandlung dieser Zusammenhänge gerade in Russland zuerst stattgefunden hat, da dieses Land an einer bestimmten Ausdeutung dieser Zusammenhänge am meisten Interesse hat. Auf ihnen ein ganzes System aufzubauen und dieses System dem gegenwärtigen entgegenzusetzen, musste insofern fehlschlagen, als einmal das hergebrachte Völkerrechtssystem gar keinen solchen geschlossenen politischen Kreis darstellt, wie der Verfasser
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anzunehmen geneigt ist, und weiterhin auch Korovines System sehr viele Elemente enthält, die nur bestimmte Ausdeutungen traditionell vorhandener Begriffe und Problemstellungen sind. Man mag deshalb das System als Ganzes ablehnen; eine Völkerrechtslehre, die wahrhaft realistisch sein will, wird vielen Anstrengungen des Verfassers nachzugehen haben, wenn sie sich auch weniger von Wunschbildern leiten lassen kann als das Völkerrechtsdenken eines isolierten Staates, der auch in diesem Völkerrechtssystem seine allzu schmale soziale Basis ins Unendliche projiziert.
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[21.] Bürgertum am Scheideweg* [1930] Wer die jetzigen organisatorischen Änderungen im deutschen Bürgertum ihrem tieferen Sinngehalt nach erfassen will, wird genötigt sein, sich auf den Grundcharakter der bürgerlichen Partei als solcher, der sie von jedem proletarischen Parteigebilde unterscheidet, zu besinnen. Die bürgerliche Partei ist keine Massenpartei, die mit und auf Grund ihrer Massengrundlage ein Eigenleben führt und auch außerparlamentarisch Stärke besitzt. Die bürgerliche Partei ist eine Fraktionspartei; ihren eigentlichen Sinn erhält sie durch die Notwendigkeit, Wahlen vorzubereiten und durchzuführen. Der Bürger selbst hat eine konservative oder liberale Gesinnung; aber im Durchschnitt bekennt er sich nicht zu einer bestimmten Partei. Parteizugehörig sind außer dem Beamtenstand der Partei und den Parteiführern in jedem einzelnen Ort meistens nur Beamte aller Art, die von der Partei Amt und Beförderung erhoffen. Im demokratischen Massenstaat ist eine solche Partei, die nicht nur durch ihre Reichs- oder Landtagsfraktion repräsentiert wird, sondern ihrem wesentlichen Teil nach aus diesen Fraktionen und ihren Anhängseln besteht, den Massenorganisationen des Proletariats gegenüber ein schwaches Gebilde. Gewiss, um die notwendigen Geldmittel braucht sich keine bürgerliche Partei, von den Demokraten bis zu den Nationalsozialisten, auch nur einen Augenblick zu sorgen; sie sind im notwendigen Zeitpunkt reichlich vorhanden. Auch ist die bürgerliche Fraktionspartei kein in der Luft schwebendes Gebilde, das seinen Sinn und Gehalt durch die zwei- bis vierjährig erfolgende Willensbekundung seiner Wähler bezieht und sonst sich allein und seinem so oft in gegenseitigen Konkurrenzkampf gepriesenen Führungs- und Konzentrationswillen überlassen bleibt. In der bisher sehr stark bemerkbaren Tönung der Bürgerparteien von Hitler bis Koch besitzt jede dieser Gruppen ihre Hausinteressenten, von denen sie mit besonderer Liebe und Sorgfalt beschenkt und ausgerüstet werden, was nicht ausschließt, dass eine bestimmte Interessengruppe sich mehrere Parteien als Durchsetzungsorgan ihrer Interessen erwählt; doch sind in Deutschland dem persönli* [Erschienen in: Die Tribüne, Organ der Sozialdemokratischen Partei für das Land Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt, Nr. 175, 30. Juli 1930, Erfurt. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 75-76.]
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chen Belieben der Unternehmergruppen, welcher der einzelnen Parteien sie sich bedienen wollen, engere Schranken gesetzt als in Frankreich, wo die Einflussnahme der Interessenten sich lockerer und mehr in persönlicher Form vollzieht. Das mochte im konstitutionellen Staat genügen, im massendemokratischen genügt es nicht. Auch das Bürgertum bedarf in diesem Staat des sichtbaren, organisierten Ausdrucks eines politischen Wollens. Für dieses sind aber wirtschaftliche Interessenvertretungen ebenso wenig sichtbarer Ausdruck wie Fraktionen, deren Hauptwirkungsfeld aufs Parlament beschränkt bleibt. Auch Kriegervereine, eine aus der alten, vorbürgerlichen Zeit stammende Organisationsform, konnten trotz ihrer möglichen und ausgeführten Erweiterung in der Nachkriegszeit nicht zum Ersatz für Massenorganisationen werden; dafür waren sie sowohl im Altersaufbau als auch wegen ihres reinen Vereinstypus ungeeignet. Die Form, die sich das Bürgertum schuf, um den proletarischen Massenorganisationen gegenübertreten zu können, wuchs aus dem Krieg heraus. Es waren Condottieri von Natur mit ihrem ihnen in militärischem Kadavergehorsam ergebenen Anhang, wie sie uns aus der traurigen Zeit der beginnenden Konterrevolution bekannt sind, die in der Anfangszeit der deutschen Republik vom Bürgertum den proletarischen Massenorganisationen entgegengeworfen wurden. In den Jahren bis 1923 bestanden diese Organisationen, die nicht einheitlich geleitet waren und deren verschiedene Häuptlinge sich gegenseitig den Rang abliefen, zum Teil als offene, zum Teil als geheime Femeorgansiationen unter den verschiedensten Namen. Teile des deutschen Bürgertums mögen sie nicht geliebt haben, größere Teile haben sie gebraucht, mit der Hoffnung, sie weiter zu gebrauchen, wenn es notwendig wäre, und sich mit Hilfe der Sozialdemokratie ihrer zu entledigen, wenn sie ihm lästig würden. Noch genau in Erinnerung ist uns der Aufbau dieser Organisationen zur Zeit des Kapp-Putschs, Rathenaumords und des bayerischen Hochverrats im Jahre 23. In teils engerer, teils loserer Anlehnung an die offizielle Reichswehr übten diese Verbände, deren Hauptbestand immer noch Kriegsabenteurer bildeten, einen unheilvollen Einfluss auf die deutsche Politik aus. Wie war ihr Verhältnis zu den offiziellen bürgerlichen Parteien? Demokraten und Zentrum hielten sich von ihnen fern, die Rechtsparteien unterstützten sie heimlich, ohne es wagen zu können, sich offen mit ihnen zu identifizieren. Entscheidend aber war, dass beide Gruppen, die traditionellen Fraktionsparteien der Rechten, wie diese staatsfeindlichen Organsiationen, sich gegenseitig einen weiten Spielraum gewährten, dass der notwendige Kompromiss und Zusammenhang der Rechtsparteien mit den übrigen Bürgerpar-
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teien durch ein im Innern unverbindliches Abrücken von diesen Organisationen nicht gestört wurde und dass bei den Organisationen selbst der Zusammenhang mit den Rechtsparteien den einfachen Gefolgsleuten so unbekannt blieb, dass ihre schon damals latent antikapitalistische Grundgesinnung keine neue Nahrung erhielt. In den Jahren der Konsolidierung von 1924 bis 28 war der Stahlhelm die überparteiliche Organisationsform für das Bürgertum. Er war den Rechtsparteien bequemer als die früheren Organisationen, da die Führung es erreichen konnte, dass jede soziale Abweichung von der bürgerlichen Linie vermieden wurde und doch ein militärisch-organisatorischer Apparat von beachtlicher Bedeutung der bürgerlichen Politik, wenn es notwendig war, den erwünschten Nachdruck gab. Der Zusammenhang mit der deutschnationalen Partei war eng, mit der Volkspartei weniger eng, aber im Grunde stets vorhanden. Die beginnende Krise brachte ein vollkommen verändertes Bild. Große Massen der proletarisierten Angestellten- und Kleinbeamtenschichten wollten zwar ihr bürgerliches Bewusstsein nicht aufgeben; aber sie hatten die Wirkungen bürgerlicher Politik zu sehr am eigenen Leib erfahren, als dass sie gewillt gewesen wären, weiter das Relief großkapitalistischer Ansprüche abzugeben. Sie wandten sich dem dritten Reich zu. Die Nationalsozialisten, die im Jahre 1923, wie ein Strohfeuer aufgegangen und wieder erloschen waren, haben zwar mit dem dritten Reich nichts gemein, aber sie bildeten am Anfang den nicht ungefährlichen Versuch einer dritten Front. Eine nationalsozialistische, antikapitalistische Massenbewegung, deren Argument, die äußere Versklavung Deutschlands an das internationale Kapital, nicht so falsch und auch nicht so ungefährlich war, wie man es weithin bei der Sozialdemokratie angenommen hat. Der linken Flügelpartei des Bürgertums, den Demokraten, ging es schon lange schlecht, da ihnen jene notwendige Anlehnung an eine außerparlamentarische Organisation fehlte und sie selbst genau wussten, dass für sie das Reichsbanner höchst problematisch sein werde, das von der Zuspitzung der Klassengegensätze nicht unberührt bleiben könne. Die Rechtsparteien standen vor der Wahl; sie konnten der dritten Front auf zweierlei Weise begegnen. Sie konnten dazu übergehen, loyale republikanische Parteien ohne Putschgelüste zu werden und dafür mit Subventionen, Agrarprogrammen und Regierungsstellen belohnt zu werden. Große Teile von ihnen haben diesen Weg gewählt, und bis in die deutschnationale Partei hinein hat der bürgerliche Sammelruf Hindenburgs Erfolg gehabt. Hierdurch musste konsequenterweise die Bedeutung der außerparlamentarischen Organisation weiter
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Bürgerkreise, des Stahlhelms, abgeschwächt werden; in dieser Richtung liegt die Loyalitätserklärung Braun gegenüber. Man verblieb dabei nicht nur im Bereich des Parlamentarismus, sondern man überließ bedingungslos die letzte Entscheidung wer regieren sollte, dem Zentrum, das nun endlich seine geheimsten Wünsche erfüllt sah: eine starke, nicht grundsätzlich antiparlamentarische Rechte, mit der man ebenso gut, wenn nicht noch besser, ohne Risiko regieren konnte als mit der Sozialdemokratie. Oder aber man kalkulierte wie Hugenberg, der keineswegs so dumm und borniert ist, wie man ihn oft bei uns hinzustellen beliebt. Hugenberg wusste, dass die Regierungswürdigkeit und Regierungsfähigkeit der Rechten gleichzeitig die Aufrechterhaltung des parlamentarischen Systems und mit ihr des Gegenspielers der Rechten in diesem System, der Sozialdemokratie, bedeutete, während die drohende Gefahr des Nationalsozialismus durch eine ungehemmt kapitalistische Regierungspolitik im Stil Schiele-Brünings nur gefördert werden konnte. Deshalb stellte er sich die Aufgabe, einmal die Nationalsozialisten zu neutralisieren und zum andern mit ihnen und durch sie den Parlamentarismus zu diskreditieren. Wie es scheint, hat er sich bisher mit Erfolg um die Aufgabe bemüht, den Nationalsozialismus aus einer eignen Partei, die im entscheidenden Unterschied zu den Bürgerparteien eine starke Organisation besaß, auf die Stellung einer organisatorischen Hilfstruppe herabzudrücken. Damit versuchte er, die in ihrem Wachstum liegenden antikapitalistischen Gefahren zu bannen, und an Stelle des antikapitalistischen Programms, das zurückgedrängt wird, schiebt er das einigende Moment, den Nationalismus, in den Vordergrund. Er hat aber vom Bürgertum auf weite Sicht hinaus nicht nur diese nicht unbedeutende Gefahr abgewendet, er hat auch mit dieser Organisation den entscheidenden Stoß gegen den Parlamentarismus geführt. Nach der Abspaltung der deutschnationalen Sondergruppen besitzen wir keinen normal funktionierenden Parlamentarismus mehr. Was in früheren Jahren nie der Fall gewesen ist, trat ein: die parlamentarische Entscheidung ist irrational geworden. Ob sich heute diese oder die andere Mehrheit, für oder gegen die Regierung ergibt, ist nicht mehr vorhersehbar. Es war es nicht mehr seit dem Sturz der Regierung Müller, und es wird es nach aller Voraussicht auch im nächsten Reichstag nicht mehr sein. Ob diese Politik Hugenbergs, die aufs Ganze geht, so unklug war? Eine Politik, die die Herrschaft dem nur im Bereich des Parlaments aus-
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schlaggebenden Zentrum entwinden will, bedeutet ein großes Wagnis; der Einsatz ist groß, aber der lockende Gewinn noch größer. Wenn das gesamte Bürgertum in das heutige System einbezogen werden sollte, bleibt die Gesetzlichkeit aufrechterhalten, die Frontstellung und die Kampfesnotwendigkeit der Sozialdemokratischen Partei wird davon nicht berührt. Siegt Hugenberg im Bürgerlager, so geht es um Leben und Existenz der proletarischen Partei selbst. Wie auch der Ausgang des Methodenstreits im Bürgertum auf dem Weg zur vollen Bürgerherrschaft sein mag, je besser die Partei gerüstet ist, desto sicherer wird sie diesen Kampf, der um den proletarischen Lebensraum selbst geht, bestehen.
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[22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung* [1930] In seinem Buche über die Rechtsinstitute des Privatrechts hat Karl Renner1 den Wirklichkeitsgehalt des Eigentums durch die gesamte juristische Formenwelt hindurch verfolgt. Er hat dabei aufgezeigt, wie weit die reale ökonomische Gestaltung in jedem einzelnen Sachgebiet sich von dem ursprünglichen Sinngehalt, der mit den juristischen Formeln verbunden wurde, entfernt, ja sich ins Gegenteil verwandelt hat und welche Rolle hierbei die Konnexinstitute des öffentlichen Rechts gespielt haben. In sehr wenigen Fällen ist bisher ein Normenwandel eingetreten, der sichtbar den Verschiebungen der wirtschaftlichen Grundlagen Rechnung getragen hätte; eher ist zu konstatieren, dass auch neue wirtschaftliche Zielsetzungen sich lieber der alten gewohnten Rechtsformeln bedienen, als dass sie sichtbar die eingetretenen Wandlungen in neuen Normierungen kundtun. Dies ist eine Tatsache, die nicht nur auf die gerade in der Gegenwart besonders akuten, mit dem Komplex der Kapitalbeschaffung zusammenhängenden Fragen zurückzuführen ist, sondern ihren tieferen Grund in dem Beharrungsvermögen der juristischen Formenwelt findet. Angesichts dieser Sachlage ist es kein Wunder, wenn gerade der Eigentumsartikel der Weimarer Verfassung problematischer ist, als sehr viele juristische Autoren meinen, die ihn entweder mit seinen historischen Vorgängern des letzten Jahrhunderts gleichsetzen oder auch einer bestimmten heute noch herrschenden Wirtschaftsverfassung, der kapitalistischen, zurechnen wollen. Der Begriff Eigentum bedeutet ja nicht nur den Kernpunkt aller privatrechtlichen Institutionen, ihm wird mindestens seit der Zeit, seit der das Privateigentum Einzelner an den Produktionsmitteln keine Selbstverständlichkeit mehr ist, ein gewisser Kampfsinn beigelegt. Auch die Interpretation, die die Weimarer Verfassung erfahren hat, ginge meistens dahin, aus jener möglichen Mehrheit von Sinndeutungen, die der Eigentumsgewährleistung innewohnen können, nur dieje* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Politik, Jg. 7, Heft 8, Berlin 1930, S. 166-179. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 65-66. ] 1 [Karl] Renner, die Rechtsinstitute des Privatrechts, Tübingen 1929.
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[22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930]
nigen als selbstverständlich hinzustellen, die in ihr eine Garantie des kapitalistischen Wirtschaftssystems selbst sehen. Dabei ist es an sich schon gefährlich, überkommene juristische Terminologien allzu sehr auf politisch-ökonomische Gegenwartsfragen festzulegen; mindestens scheint dies in einem Lande, in dem nicht wie im angloamerikanischen Rechtskreis relativ wenig Bestimmungen mit in der Tat mehr historisch-politischem als juristischem Normengehalt vorhanden sind, unangebracht. In diesem Rechtskreis ersetzt eine eng begrenzte Anzahl von Normen ein ganzes Rechtssystem. Wo aber, wie bei uns, jeder Wirtschafts- und Sozialbereich seine besondere systematisch-juristische Normierung erfährt, kann jeder einzelne Rechtsbegriff nur in seinem »Herrschaftsbereich« ausgewertet werden; eine darüber hinausgehende metajuristische Bedeutung muss notwendig höchst problematisch bleiben, da ein hieraus abgeleiteter Grundsatz in Gefahr geraten würde, durch die konkrete juristische Regelung in vielen Fällen widerlegt zu werden. Eigentum selbst ist ein heute feststehender juristischer Begriff. Er bedeutet – darüber besteht zwischen sozialistischen und nichtsozialistischen Autoren keine Kontroverse – ein ausschließliches Herrschaftsrecht über Gegenstände.2 Dass die Verfassung nicht diesen Begriff des Eigentums selbst gewährleistet, ist ebenfalls kaum bestritten, da sich eine Verfassung überhaupt nicht mit rechtstechnischen Figuren beschäftigt, diese vielmehr als vorhanden voraussetzt und hinnimmt. Mit Recht ist daher bemerkt worden, dass für eine kommunistische Gesellschaftsordnung diese Definition die gleiche Gültigkeit habe wie für eine kapitalistische. Denn insoweit ist Eigentum ein rein formaler Begriff, der über die möglichen und wirklichen Herrschaftsbeziehungen nichts aussagt. Diese Erkenntnis wäre selbstverständlicher und damit gegenstandsloser, wenn nicht Artikel 153 der Reichsverfassung in seinem Absatz 3 mit der Wendung »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das gemeine Beste« Einwendungen gegen die gemeine Eigentumsdefinition Raum gegeben hätte. Diese Fassung, die keine rechtliche Bindung des Eigentümers enthält, aber immerhin eine moralische Mahnung an jeden Eigentümer, bei der konkreten Eigentumsnutzung auf einen moralisch vertretbaren Enderfolg abzusehen, weist auf deutschrechtliche und katholische Einflüsse hin. 2 Siehe neben dem Sozialisten Renner etwa Stammler in seinem Artikel »Eigentum und Besitz« im Handw. d. Staatswiss. [Rudolf Stammler: Eigentum und Besitz, in: Ludwig Elster, Adolf Weber, Friedrich Wieser (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Band 3, Jena 1926] oder das vielbenutzte Lehrbuch Martin Wolffs, Sachenrecht[. Ein Lehrbuch, Marburg 1926].
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Gerade in der jüngsten Zeit mehren sich im katholischen Lager die Stimmen, die behaupten, dass es einen besonderen christlichen Eigentumsbegriff gebe, den es gelte einem heidnisch-jüdischen gegenüberzustellen. Die im Endeffekt gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem gerichtete Tendenz dieser neueren, wie sie im katholischen Lager genannt werden, reformistischen Autoren verdient Beachtung.3 Das hindert nicht, dass diese Gegenüberstellung, wie sie hier vornehmlich in der »Oeconomia perennis« von Orel (ein Buch, das als Zeitsymptom sehr wertvoll ist, dessen Bekenntniswert aber seinen Erkenntniswert wohl weit übersteigt) vorgenommen wird, nicht richtig ist. Sicherlich hat der Eigentumsbegriff, wie wir ihn heute in voller Schärfe ausgebildet haben, im Mittelalter nicht existiert; aber er hat auch im alten Hellas nicht existiert, das doch der Nährboden des Heidentums gewesen ist. Darauf hat mit aller Schärfe Hasebroek in seinem Buch über »Staat und Handel im alten Griechenland« hingewiesen, in dem er die durchgängige politische Bestimmtheit und Ausgerichtetheit des wirtschaftlichen Lebens nachdrücklich betont.4 Mittelalter und Altertum kannten sehr wohl einzelne Privatrechtsinstitute; aber da ihnen eine einheitliche Ausrichtung nach rein ökonomischen Gesichtspunkten fehlte, die politisch-ständische Stellung des Einzelnen ausschlaggebend war für Erwerb, Besitz und Verlust aller irdischen Güter, so konnte auch hier der moderne Eigentumsbegriff nicht entstehen. Denn dieser setzt ein ziemlich hohes Maß an Verselbständigung und Gebrauchsrationalität 3 In erster Linie ist das Buch »Oeconomia perennis« von [Anton] Orel, Wiesbaden 1930, zu nennen. Daneben sei eindringlich auf den tapferen Aufsatz von Matthias Laros über »Eigentum und arbeitsloses Einkommen« im Novemberheft 1929 des Hochland hingewiesen. [Matthias Laros: Eigentum und arbeitsloses Einkommen. Auseinandersetzung zwischen den christlichen Soziallehren und dem Sozialismus, in: Hochland, 2. Heft 1929/30, Kempten/München 1929, S. 120-134.] Eine ständige Diskussion über diesen Fragenkomplex findet in der katholischen Zeitschrift »Schönere Zukunft« [Wien] statt. Dabei kommen bei allem redlichen Bemühen um die theoretische Fundierung einer neuen Sozialordnung zwei Ordensgeistliche wie [Oswald von] Nell Breuning und [Alexander] Horvath nicht viel über eine theoretische Disqualifizierung des liberalen Kapitalismus, dem sie freilich den Sozialismus durchaus gleichstellen, hinaus, während den täglichen Daseinsnöten näherstehende Pfarrgeistliche wie Laros schon eine viel positivere Haltung zeigen. 4 Johannes Hasebroek »Staat und Handel im alten Griechenland«, Tübingen 1928. Er sagt dort im Vorwort (S. VII) ausdrücklich: »Niemals ist eine nationale Produktion oder ein nationaler Produzentenstand mit seinen materiellen Interessen für die Staatspolitik der autonomen Polis bestimmend gewesen, und kein Staat hat je zur Zeit hellenischer Selbständigkeit an den Schutz oder die Förderung einer von einem Staatsbürgertum getragenen nationalen Arbeit durch Erwerbung und Erhaltung fremder oder einheimischer Märkte gedacht. Denn wie alles politische, so ruht im Altertum auch alles wirtschaftliche Leben und mit ihm alle Arbeit auf Gewalt.«
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[22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930]
der Eigentumstitel voraus und ist in der Tat erst in dem Augenblick entstanden, in dem römisch-rechtliches Abstraktionsvermögen mit den Anfängen der modernen Warenproduktion zusammentraf. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Gebote des heiligen Thomas für die ständische Ordnung des Mittelalters, in der es eine ständige, nicht besitzende Klasse nicht gab, mit Recht den Anspruch erheben konnten, eine umfassende Regelung der sozialen Frage des Mittelalters zu bilden; sie empfahlen dem Eigentümer nachdrücklich eine anständige, Gott wohlgefällige Benutzung seines ihm von Gott nach der kirchlichen Lehre nur zur Verwaltung gegebenen Gutes. Die genannten reformistischen Autoren erklären selbst, dass es heute gar nicht mehr auf die Frage, wie das konkrete Gute verwendet wird, sondern auf die Frage der Eigentumsverteilung selbst ankommt. Sie sehen die Unmöglichkeit der Übertragung der damaligen kirchlichen Grundsätze für die Eigentumsnutzung auf die heutige Zeit ein, sie erkennen selbst, dass das christliche Liebes- und Rechtsgebot der Armenunterstützung, das die traditionelle katholische Schule so gern als Beweis für die soziale Eigentumsauffassung der katholischen Kirche anführt, mit seinem Anspruch, Zentralpunkt einer christlichen Sozialordnung zu sein, standortsgebunden an die soziale Welt des Mittelalters gewesen ist. Diese Einstellung bedeutet immerhin einen Fortschritt von nicht zu unterschätzender Bedeutung, der ganz von selbst zur prinzipiellen Kritik und Verneinung des Kapitalismus und zu dem Versuch der Mitarbeit bei der Ablösung dieses Systems führt.5 Damit wird aber auf der andern Seite evident, dass die katholische Lehre von der sozialen Bindung des Eigentums keinen Raum mehr bei 5 Freilich steht dem der Typ des konservativen Katholiken gegenüber, der uns in dem Aufsatz von van Meer »Statischer oder dynamischer Eigentumsbegriff«, Hochland März 1930 [Heinrich van Meer: Statischer oder dynamischer Eigentumsbegriff, in: Hochland, Jg. 27, Heft 6, München 1930, S. 558-563], in seltener Reinheit entgegentritt. Dort findet man den klassischen Satz: »Deshalb widerspricht ein korrekt erworbenes Eigentum niemals dem Willen Gottes.« Die Almosenpflicht bleibt ihm auch heute noch die Grundlage der katholischen Sozialordnung. Von diesem Standpunkt aus wäre es begreiflich, dass der Autor dazu schreiten müsste, die tatsächlich in reichem Maß vorgenommenen Einschränkungen des Eigentums zu verwerfen. Doch hier zieht er sich seltsamerweise auf das Formaljuristische zurück und argumentiert mit dem Gegensatz von öffentlichem und Privatrecht. Im Grunde beruht jene konservativ-katholische Haltung, die nicht von der ökonomischen Fragestellung nach der Überlegenheit einer Wirtschaftsordnung über die andere ausgeht, auf einer pessimistischen Grundauffassung von der Natur des Menschen, und die Lehre von der Sündhaftigkeit bleibt auch bei diesem Autor das schlagendste Argument, wenn er sich ausdrücklich auf das Erste Buch Moses für die Unabänderlichkeit unserer jetzigen Eigentumsordnung bezieht.
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der Deutung des Eigentumsbegriffes in der heutigen Zeit beanspruchen kann. Diese Lehre kann ebenso wenig wie die deutschrechtliche Privatrechtsschule Otto von Gierkes,6 die das Ergebnis eines sich über Jahrhunderte erstreckenden Entwicklungsprozesses zugunsten einer in sich selbst begrenzten Privatrechtsordnung rückgängig machen will, die Frage nach der realen Bedeutung des Eigentumsinstitutes und damit der Eigentumsgarantie in der Verfassung beantworten. Jene moralische Bindung des konkreten Eigentümerwillens bei der Eigentumsnutzung ist objektlos. Die Empfehlung des Abs. 3 des Art. 153 kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Eigentumsbegriff, der der Weimarer Verfassung zugrunde liegt, eine wenn auch noch so sympathische Sozialgebundenheit des Eigentums selbst ausschließt. Merkwürdig und symptomatisch für die geistige Entstehungssituation der Weimarer Verfassung bleibt die Bestimmung immer. Denn dieser Satz steht in einem immanenten Widerspruch zur gesamten liberalen Wirtschaftsordnung und ihrer Eigentumsauffassung; für diese muss ein solcher Satz streng genommen widersinnig sein, da er dem Einzelnen eine besondere Zielsetzung bei der Benutzung seiner Güter anempfiehlt. Da diese Zielsetzung möglicherweise und in der heutigen Wirtschaftsordnung wahrscheinlicher Weise außerhalb seines persönlichen Interessenkreises liegen wird, bedeutet jene Formulierung zugleich die Verneinung einer aus der Verfolgung privater Interessen selbständig sich ergebenden Harmonievorstellung. Wenn der Eigentumsbegriff selbst keine Schranken enthält, fragt es sich, ob die konkrete Verfassung in ihrem Eigentumsartikel Schranken aufgestellt hat, ob sie sich selbst von der Absolutheit der Eigentumsherrschaft ausnimmt und ihr als eigene Macht entgegentritt. Ist das Verhältnis von Eigentum und Verfassung derart, dass die Verfassung mit der Gewährleistung des Eigentums eine bestimmte Wirtschaftsordnung selbst garantieren will, oder will die Verfassung dem Eigentum gegenüber freies Spiel behalten und nur durch Verfahrensmaximen einer etwaigen Verwaltungswillkür gegen den Einzelnen hemmend entgegentreten? Oder verbindet sie gar das eine mit dem andern, will sie auf dem Weg über eine Verfahrensgarantie doch eine bestimmte Wirtschaftsordnung sanktionieren, indem sie in den Gerichten eine eigene Nachprüfungsinstanz für alle Eingriffe in die private Sphäre schafft? Die Auslegung, die in der Rechtsprechung des Obersten Bun6 Siehe insbesondere die Schrift Otto v. Gierkes zur Kritik des Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuchs »Die soziale Aufgabe des Privatrechts«[. Vortrag gehalten am 5. April 1889 in der juristischen Gesellschaft zu Wien von Dr. Otto Gierke], Berlin 1889.
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desgerichts und der Staatengerichte das XIV. Amendement der Unionsverfassung erfahren hat, hat in der Tat diese beiden Gedankengänge miteinander verknüpft. Die Bedeutung des Wortes Eigentum in dem Satz »Nor shall any state deprive any person of life, liberty or property, without due process of law« hat in der Rechtsprechung der obersten Gerichte seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts einen bedeutsamen Wandel erfahren. Aus dem ausschließlichen Herrschaftsrecht des Frontiers über seinen Landbesitz in der Kolonialzeit ist der Zentralbegriff der kapitalistischen Wirtschaftsordnung geworden. Damit wurden aber die Grenzen des juridisch Erfassbaren gesprengt, und an die Stelle eines Rechtsbegriffes des Eigentums trat der Zentralbegriff der opportunity. Man ging dazu über, in den Eigentumsbegriff alle ökonomischen Chancen und Möglichkeiten hineinzunehmen, neben den Gegenwartswerten auch die Zukunftswerte zu berücksichtigen, die der Staat dann hinzunehmen, zu respektieren und zu schützen hatte. Faktizität und Recht fließen in eins und mit ihnen Gegenwartswert und Zukunftshoffnung. Wenn aber der Schutz auf alles ausgedehnt wird, was Tauschwert besitzt, so musste hier die juristische Bestimmbarkeit des Eigentumsrechts zugunsten der ökonomischen Brauchbarkeit erheblichen Schaden leiden. Wenn Commons7 konstatiert, dass heute bei der Befassung der Gerichte mit publizistischen Eigentumsfragen sowohl der Zweck (purpose) des Gesetzes als auch die Prozedur selbst vom Gericht nachzuprüfen seien, so setzt eine solche Judikatur eine einheitliche Auffassung von der den zu treffenden Entscheidungen zugrunde liegenden Wirtschaftsauffassung voraus. Hier ist in der Tat das XIV. Amendement nicht nur juristische Grundlage einer bestimmten Wirtschaftsauffassung, sondern weit darüber hinaus Mittel zu ihrer Verwirklichung. Von nun ab kann natürlich due process of law nicht mehr die Bedeutung haben, Appellationsmittel des durch Verwaltungswillkür ohne Gesetzesgrundlage geschädigten Einzelnen zu sein, da es gar nicht darauf ankommt, ob das Eigentum eines Einzelnen oder die opportunity von Bevölkerungsteilen betroffen werden; vielmehr bedeutet es von nun ab, dass jede gesetzliche Festsetzung der Wirtschaftsund Sozialbeziehungen von Bevölkerungskreisen (denn um das konkrete Eigentum handelt es sich nicht mehr) dem process of law unterliegt. Dieser aber ist kein rechtstechnisches Verfahren mehr, da die Nachprüfung keine Rechtsfragen betrifft, sondern eben die Abgren-
7 Commons, John R.: Legal foundations of capitalism, New York 1924.
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zung von Machtsphären,8 bei der der Richter die gleiche Ermessensfreiheit (discretion) besitzt wie der Gesetzgeber und der Verwaltungsbeamte.9 Damit besteht in den Vereinigten Staaten auf dem gesamten Gebiet der Sozial- und Wirtschaftspolitik neben den gesetzgebenden Körperschaften noch eine autonome Instanz; die Voraussetzung ihres Wirkens und damit der von ihr vorgenommenen Bestimmung des Eigentumsbereichs liegt in dem bis heute in den Vereinigten Staaten noch ziemlich ungebrochenen10 Gemeinbesitz an wirtschaftlichen Erfolgsvorstellungen, die reale Klassengegensätze heute noch zu reinen Interessenkonflikten zu bagatellisieren vermögen. Damit werden die gesetzgebenden Instanzen und die in ihnen maßgebenden Parteien selbst als Träger von jeweils verschieden gruppierten Interessen gekennzeichnet, gegenüber denen erst der process of law die Erreichung des von der Gesamtnation als richtig erkannten Zieles gewährleistet. Will man die Wandlung des Eigentumsbegriffs in der Rechtsprechung der Gerichte der Vereinigten Staaten verstehen und würdigen, so muss man diese ihre Voraussetzungen erkennen; denn sie erst haben es ermöglicht, dass die Gerichte unter Berufung auf Eigentumsschutz distributorische Funktionen für die gesamte Sozialordnung auszuüben in der Lage waren. Es ist zwar heute in der Rechtsprechung des deutschen Reichsgerichts üblich geworden zu behaupten, dass die dem Gesetzgeber in dem Eigentumsartikel der Reichsverfassung gezogenen Schranken enger seien als die der preußischen Verfassung von 1850, so dass gewissermaßen das Bild entstehen konnte, als ob diese preußische Verfassung die moderne und die Reichsverfassung die rückschrittliche sei. Die konstitutionellen Verfassungen des letzten Jahrhunderts in Deutschland glaubten an die Ratio des Gesetzes, weil das Gesetz das Parlament und damit das Bürgertum war. Sie unterwarfen also auch das Eigentum dem Gesetz, da dieser Unterwerfungsakt vorläufig höchstens gegen die Restbestände des Feudalismus, nicht aber im Prinzip gegen das bürgerliche Eigentum gerichtet war. Aus solchen Gesichtspunkten heraus erkannten sie auch willig die Notwendigkeit weitreichender öffentlich8 So schreibt Charles Beard in seinem Buch »The rise of american civilization« Bd. 2[, New York 1927,] S. 343: »The question of the reasonableness of rates is ultimately a judicial question requiring its determination due process of law and due respect for the rights of property guaranteed by the XIV. amendment.« 9 Siehe über die Frage des richterlichen Ermessens die instruktiven Erörterungen bei Commons, a. a. O. S. 357 ff. [John R. Commons: Legal foundations of capitalism, New York 1924.] Die dort verwendeten Kategorien und Abstufungen von extortion bis confiscation sind freilich sämtlich privatwirtschaftlich gedacht. 10 Charlotte Lütkens: Staat und Gesellschaft in Amerika, Tübingen 1929, S. 52 ff.
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rechtlicher Beschränkungen an und gewährten zum Beispiel den Gemeinden im Jahre 1875 ein Fluchtlinienrecht, dessen Kernpunkte das deutsche Reichsgericht im Jahre 1930 zu zerstören unternahm. Man darf dabei auch daran erinnern, dass es in Deutschland niemals ein Gegenstück zum slaughter house case gegeben hat, jenem Rechtsfall, anlässlich dessen im Jahre 1872 im Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten zum ersten Mal Meinungsverschiedenheiten darüber entstanden, ob Eigentum Sachherrschaft oder Tauschwert bedeute. Drei Jahre vorher hat die damalige Gewerbeordnung für das Gebiet des Norddeutschen Bundes diesen Fall, ohne dass jemals den nordamerikanischen ähnliche Argumente geäußert worden wären, endgültig dahingehend entschieden, dass die Möglichkeit bestehen muss, im öffentlichen Interesse den privaten Schlachthausbetrieb zu unterbinden. Und noch nach der Entstehung der Weimarer Verfassung hat das deutsche Reichsgericht in freilich sehr vorsichtiger Weise und mit rein empirischer Begründung ein Recht auf den Gewerbebetrieb in der Sphäre des öffentlichen Rechts zutreffend verneint.11 So war es bei der Entstehung der Weimarer Verfassung unbestrittenes Gedankengut einer positivistischen Rechtslehre, dass die Eigentumsgarantie nur eine Garantie für den Einzelnen gegen individuelle Enteignungsakte bilden könne, dass aber darüber hinaus für den Staat, wenn sein Wille in Gesetzesform erscheint, auch die Eigentumsgarantie kein Hindernis darstelle. Die positivistische Staatsrechtslehre, die den Staat lieber mit der Aktiengesellschaft als mit der menschlichen Gesellschaft in Verbindung setzte, konnte die Staatsgewalt so lange der Eigentumssphäre überordnen, als die Inhaber beider Gewalten wesensgemäß das gleiche Interesse verband. Mit der Weimarer Verfassung ging jene Gleichgerichtetheit der Interessen unter, und es entstand die Notwendigkeit, inhaltlich zur Frage, ob der Eigentumsartikel das bestehende Wirtschaftssystem sanktioniere, Stellung zu nehmen. Wir glauben, dass die Stellungnahme der Verfassung in dieser Hinsicht eine Zweideutigkeit nicht zulässt. Mag man sonst welcher Ansicht auch immer über die Grundrechte der Weimarer Verfassung, über ihre verhängnisvolle Neigung zu dilatorischen Formelkompromissen12 sein, niemand wird bestreiten können, dass diese Verfassung keine Garantiefunktion für das kapitalistische Wirtschaftssystem und damit auch keinen Raum für diesbezügliche richterliche Funktionen enthält. Eine Verfassung, die nicht nur den Arbeitern rechtliche Einflussnahme auf die Produktions11 Siehe Reichsgerichtsentscheidung in Zivilsachen [RGZ], Bd. 101, S. 289 ff. 12 Carl Schmitt, Verfassungslehre[, München/Leipzig] 1928, S. 31 ff.
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sphäre verheißt, sondern auch dem Staat die Möglichkeit gibt, selbst die Produktion in die Hand zu nehmen, drückt mindestens aus, dass es der Staat, konstituiert nach den demokratischen Aufbauprinzipien dieser Verfassung, sein soll, der nach eigenen Wertsetzungen die Rolle der anderen Faktoren bestimmt. Soweit er nach dem Ausdruck parlamentarischer Kräfteverhältnisse den einen oder den andern Faktoren mehr Raum gibt, gibt er es aus eigenen Händen und nicht als von der Verfassung vorausgesetzte und von ihr selbst gewährte Garantie eines als richtig anerkannten Wirtschaftsprinzips. Mithin bedeutet der erste Satz des Absatzes 1 des Art. 153 »Das Eigentum wird von der Verfassung gewährleistet« oder, wie es im Aufruf des Rates der Volksbeauftragten dem Sinn nach gleichbedeutend, aber plastischer ausgedrückt heißt: »Die Regierung wird das Eigentum gegen Eingriffe Privater schützen«, keine Garantie für eine bestimmte Wirtschaftsordnung, keine Garantie des Eigentums als Tauschwert; vielmehr schützt die Verfassung in Abs. 1 Satz 1 das konkrete Eigentum jedes Einzelnen ohne Beziehung auf dessen Verankerung in einem bestimmten Wirtschaftssystem. Wenn es dann in Art. 153 mit Bezug auf das Eigentum weiter heißt: »Sein Inhalt und seine Schranken ergeben sich aus den Gesetzen«, so ist damit nicht nur ausgedrückt, dass öffentlich-rechtliche Beschränkung des Eigentums von Privaten entschädigungslos hingenommen werden müsse, sondern auch der Tatsache Rechnung getragen, dass die staatlichen Gesetze generell den möglichen Umfang der Eigentumssphäre überhaupt bestimmen. Wie weit der Staat die ausschließliche Herrschaft des Einzelnen beschränken oder gar ausschließen darf, geht daraus nicht hervor und richtet sich nach dem Willen des Gesetzgebers, dem gegenüber die Verfassung eine Garantie nicht vorsieht. Eine ausgesprochene Garantie enthält allerdings die Reichsverfassung in dieser Hinsicht. In Übernahme und getreuer Anlehnung an die Eigentumsformeln, die seit den französischen Revolutionsverfassungen üblich geworden sind, schützt auch die Weimarer Verfassung den Einzelnen gegen die Wegnahme seines konkreten Sachbesitzes. Hierfür erfordert die Verfassung die Innehaltung bestimmter Verfahrensmaximen und gewährt, falls ein Reichsgesetz nichts anderes bestimmt, angemessene (nicht volle) Entschädigung. Ob mit Recht oder Unrecht, kann dahingestellt bleiben, jedenfalls sieht die Weimarer Verfassung mit einer gewissen inneren Logik auch die Wegnahme von Fabriken, die Verstaatlichung oder sogenannte expropriative Sozialisierung als Enteignung an und wendet deshalb die entsprechenden Bestimmungen auf sie an. Immer aber bleibt sie dabei, wie der Satz 2 des Abs. 1 des Art. 156 zeigt, der Auffassung treu, dass Enteignung nur die konkrete Wegnahme von
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Sachgütern bedeutet; sie enthält folgerichtig für den Fall der Einflusssicherung auf wirtschaftliche Unternehmungen und Verbände, die ja oft ebenso viel bedeutet wie die expropriative Sozialisierung, keine Entschädigungsbestimmung. Die Formeln sind die alten der Verfassungen des letzten Jahrhunderts geblieben; aber die Bedeutung der Enteignungsgarantie hat sich gewandelt. Seit den französischen Revolutionsverfassungen bedeutet das Expropriationsrecht des bürgerlichen Rechtsstaats das Korrelat zu der Unverbrüchlichkeit des Eigentums als Voraussetzung bürgerlicher Herrschaftsordnung. Auf dieser sicheren Grundlage wird die Ausnahme festgestellt, die eben darin ihre Bedeutung und Begrenzung findet, dass sie sich niemals auf ganze Eigentumskategorien bezieht. In der Weimarer Verfassung bedeutet die Enteignungsgarantie die Bindung des Staates bei der Behandlung des Einzelnen; dem Einzelnen gegenüber bedeutet die formelle Rechtssicherheit zugleich materielle Gerechtigkeit. Und die Verfassungsinterpretation ergibt heute schon jenes Ergebnis, das Renner13 wohl als Endpunkt einer Entwicklung für den Umkreis der Eigentumsherrschaft darstellt. Bereits heute gewährt die Verfassung jedem Einzelnen sein »suum«, die Innehabung jener Güter, die der Einzelne in einem höheren Stadium menschlicher Kulturentwicklung brauchen kann, ohne dass aus diesem Gebrauch Missbrauch, aus Sachherrschaft Personenbeherrschung wird. Denn dies ist die Bedeutung der Enteignungsgarantie der Verfassung, den generellen Gesetzeseingriff des Staates in private Rechte, die übrigens bei genauer Besichtigung mehr den Charakter von opportunities als von Rechten tragen, diskussionslos zuzulassen und doch dem Individuum seine Privatsphäre zu garantieren. Gewiss ist jene Garantie keine absolute, sie muss nicht nur dann weichen, wenn das Allgemeininteresse in die Notwendigkeit versetzt wird, gerade diese bestimmte Privatsphäre nicht entbehren zu können, sondern sie gerät heute in immer größere Abhängigkeit von der Allgemeinsphäre selbst, deren konstitutive Prinzipien die im demokratischen Staat herrschenden Mächte bestimmen. Die deutsche höchstrichterliche Rechtsprechung hätte es leicht gehabt, in der Interpretation des Art. 153 Wege einzuschlagen, die, ohne dass das Reichsgericht sich selbst untreu geworden wäre, dem Sinn des Art. 153 nahegekommen wären. Weder taugt der Art. 153 zum Konzentrationspunkt einer neuen Epoche richterlicher Verfassungsinterpretation, da so viele andere Verfassungsbestimmungen schon die Abgren13 Renner, a. a. O., S. 178. [Karl Renner: Die Rechtsinstitute des Privatrechts, Tübingen 1929.]
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zung sozialer und wirtschaftlicher Machtsphären vornehmen,14 noch enthält die sozial nicht homogene Demokratie Deutschlands mit ihren klassenmäßig zusammengesetzten Parteien die Möglichkeit einer neutralen Instanz, die berechtigt wäre, das nicht aus zufälligen Interessengegensätzen zustande gekommene Gesetz anhand eines übergeordneten Maßstabes zu rektifizieren. Das deutsche Reichsgericht hätte die agnostische Haltung gegenüber dem Gesetz wie im 19. Jahrhundert beibehalten können, wenn es sich dabei auf die demokratische Legitimation jedes Gesetzes in der Weimarer Verfassung berufen hätte. Jene agnostische Haltung gab es aber grundsätzlich mit dem scheinbar rein empirischen Satze auf, dass eine Enteignung auch durch Gesetz erfolgen könne. Denn jener Satz hatte nicht nur den Sinn, eine Umgehung der Garantie des Art. 153 Abs. 2 zu verhindern, falls der Gesetzgeber einzelne Fälle betreffende Maßnahmen anstatt auf dem Wege eines geordneten Verfahrens auf dem Wege des inappellablen Gesetzes erledigte.15 Er sollte den Weg dazu ebnen, die gesetzlichen Eingriffe in die private Sphäre generell mit dem Ausnahmecharakter der Enteignung belegen zu können. Der Eingriff in private Rechte wird als Enteignung betrachtet und in einer ziemlich konstanten Rechtsprechung16 große Gebiete der Staatstätigkeit in das Schema der individuellen Enteig14 Hierfür käme höchstens ein durch seine Farblosigkeit und inhaltliche Bedeutungslosigkeit viel umfassenderer Artikel wie zum Beispiel Art. 151 der Reichsverfassung in Betracht. Siehe hierüber im Zusammenhang mit dem Problem des richterlichen Prüfungsrechts Franz Neumann in der »Gesellschaft«[, Jg. 6, Heft 6, Berlin] 1929, S. 517 ff., und den Aufsatz von Carl Schmitt, »Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung« in der Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts 1930, Bd. 1. [Carl Schmitt: Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben: Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts (1. Okt. 1929). In 6 Bänden, Band 1, Öffentliches Recht, Berlin 1929, S. 154-178.] 15 Dass dies zulässig ist, wird auch von Carl Schmitt, der eine sehr strenge Begrenzung des Anwendungsbereichs der Enteignung vornimmt, bestritten, ergibt sich aber aus dem demokratischen Ursprung des Gesetzes, bei dem das Moment des Generellen in seinem Ursprung, nicht in ihm selbst zu liegen braucht. 16 Doch ist die Entwicklung nur sehr allmählich gewesen und noch sehr lange haben Entscheidungen die Enteignung als vorausgesetztes technisches Institut angesehen. Noch im 127. Band S. 280 [RGZ, Band 127, Berlin 1930, S. 280-282], findet sich eine durchaus zutreffende Entscheidung des 3. Senats, der die von dem Gerichtshof sonst missachtete Wahrheit ausspricht, dass der Enteignungsbegriff im Sinne des Art. 153 der Reichsverfassung einen Verwaltungsakt voraussetzt, der auf Grund einer vom Gesetzgeber erteilten Ermächtigung auf Entziehung des Eigentums als solchen oder einer der aus ihm fließenden Verfügungsbefugnisse gerichtet ist. Auch der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich hat in einer im 123. Band veröffentlichten Entscheidung sich der herrschenden Reichsgerichtsrechtsprechung nicht angeschlossen, sondern sich vielmehr dem hier vertretenden Standpunkt über die Bedeutung des Satzes 2 Abs. 1 Art. 153 angenähert.
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nungsakte mit ihren sich aus Art. 153 Abs. 2 ergebenden Voraussetzungen gepresst. Dies zeitigte zweierlei unmittelbare rechtstechnische Folgen. Zwei Grenzen, die bisher unverrückbar feststanden, gerieten in Fluss. Einmal die Frage nach der juristischen Abgrenzung der Eigentummachtsphäre selbst, die bisher in Deutschland niemals eine Frage war: Wo liegen die Grenzen zwischen Recht und opportunity? Zwischen rechtlich geschützter Sphäre und vorläufig dem Einzelnen belassener ökonomischer Freiheitssphäre? Wenn die in der Inflationszeit notwendig gewordene Verpflichtung zur Devisenablieferung, wenn die Aufhebung überholter Abdeckereiprivilegien, wenn die auf Grund allgemeiner Beschränkung erfolgende Zwangsvermietung, wenn die gesetzliche Neufestsetzung von Kohlenrenten Enteignungen darstellen, wo bleibt dann der Unterschied zwischen subjektivem Recht und objektiver Rechtslage, die heute so und morgen so sein kann? Die Interessenten haben gar bald die eigentümliche Entwicklungslogik jener Rechtsprechung begriffen, und sehr früh sah sich das Reichsgericht genötigt, selbst Grenzziehungsversuche zu machen. Als die Interessenten vom Reichsgericht die Ungültigkeitserklärung der Dritten Steuernotverordnung, des Aufwertungsgesetzes und der Goldbilanzverordnung verlangten, musste dasselbe Reichsgericht in berühmt gewordenen Entscheidungen allgemeine Regelungen und Neufestsetzungen von unbedingt lebensnotwendig gewordenen Fragekomplexen in ihrer Verfassungsmäßigkeit gegen den Ansturm der Interessenten verteidigen, die nicht mehr nur Enteignung, sondern Entziehung und Konfiskation behaupteten.17 Damit ist aber schon der erste Schritt in der Richtung der Rechtsprechung der Vereinigten Staaten getan, indem der Richter darüber befindet, was eine allgemeine Festsetzung erlaubter Art und was ein mindestens entschädigungspflichtiger Eingriff in wohlerworbene Rechte ist. In Wirklichkeit sind solche Unterscheidungen 17 Besonders enragierte Freunde des Privateigentums wie Herr Reichsgerichtsrat [Alois] Zeiler und Herr Professor [Paul] Krückmann in Münster haben in ihren Schriften die terminologische Verwendung des Begriffes Enteignung durch das Reichsgericht deshalb bekämpft, weil hierdurch die Gefahr heraufbeschworen werde, dass der Gesetzgeber in zukünftigen Fällen immer von der Befugnis des Abs. 2 des Art. 153, die angemessene Entschädigung durch Reichsgesetz auszuschließen, Gebrauch machen könne. Sie schlagen daher dem Reichsgericht, mit dessen Privateigentum schützenden Tendenzen sie sich glauben einig zu wissen, vor, in Zukunft lieber auf die vom Reichsgericht als Enteignung rubrizierten Fälle den Begriff der Konfiskation oder der unberechtigten Einziehung anzuwenden. Diese sei durch Art. 153 Abs. 1 verboten und durch einfaches Reichsgesetz könne nicht die Entschädigungslosigkeit des Eingriffs bestimmt werden. Dass diese Argumentation unrichtig ist, bedarf hier keiner näheren Erörterung mehr; sie zeigt immerhin die erstaunliche Zielstrebigkeit der Privateigentum schützenden Tendenzen.
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höchstens gradueller Natur. Vom Standpunkt des Gesetzgebers aus handelt es sich stets um allgemeine Festsetzungen, während jeder einzelne Interessent, auch wenn es sich wie bei der Aufwertung um Hunderttausende von gleichgelagerten Fällen handelt, in diesen Maßnahmen Verletzungen seiner Rechte sehen wird. Zum andern aber konnte bei dieser Rechtsprechung die bisher unbestrittene Kategorie der auf jeden Fall entschädigungslosen öffentlichrechtlichen Eigentumsbeschränkungen nicht mehr bestehen bleiben. Denn wenn jeder Eingriff in private Rechte durch Gesetz Enteignungscharakter trägt, so ist im Grunde auch die öffentlich-rechtliche Beschränkung eine entschädigungspflichtige Enteignung. Diese Konsequenz hat dann das Reichsgericht alsbald auch zum Leidwesen der von einer solchen Rechtsprechung in erster Linie betroffenen Gemeinden gezogen und in zwei bekannten Entscheidungen, dem Hamburger Denkmalfall und dem Berliner Fluchtlinienfall, die Grundlagen unseres bisherigen Städtebauwesens in Frage gestellt. Die Fernwirkungen jener Rechtsprechung, von der das Hausbesitzerorgan »Das Grundeigentum« gesagt hat, dass das Reichsgericht sich hier wieder als Hüter der Verfassung und damit auch des Privateigentums bewährt hat, gehen weit über die eigentliche unmittelbare Einflusssphäre dieser Entscheidungen hinaus. Man kann seit Jahren beobachten, wie im steten Zusammenhang und unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diese Rechtsprechung Gesetzentwürfen auf den verschiedensten Gebieten nicht nur von Interessentenkreisen,18 sondern auch aus der Mitte der gesetzgebenden Körperschaften heraus selbst große Schwierigkeiten bereitet und sie nicht selten unter Berufung auf diese Gesichtspunkte erheblich verschlechtert werden. Es sei hier nur erinnert an den jetzt durch die Reichsgerichtsrechtsprechung gegenstandslos gewordenen Entwurf zum preußischen Städtebaugesetz, den die Gutachten des preußischen Staatsrats mit den Reichsgerichtsargumenten aufs schärfste bekämpft haben.19 Die Verhandlungen im Preußischen Landtag über die endgültige Fideikommissauflösung sowie die zu dieser Materie erstatteten Gutachten des für den Deutschen Juristentag 1930 18 Letzthin ging durch die Presse die Nachricht, dass die deutschen Gefrierfleischimporteure wegen des in der Zollgesetzgebung enthaltenen Einfuhrverbots für Gefrierfleisch Enteignungsentschädigung im ordentlichen Gerichtsverfahren fordern. Es ist kein Grund ersichtlich, warum sich solche mit Rechtsgutachten bewaffneten Interessentenforderungen auf das Gefrierfleisch beschränken sollten. Hier kann man schon nicht mehr von Ständestaat, hier muss man von Privilegienstaat sprechen. 19 Siehe Drucksache 3015 des Preußischen Landtags, 3. Wahlperiode, 1. Tagung, 1928/29.
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zum Gutachter auserkorenen Professors Günther Holstein20 weisen Argumente auf, die im Jahre 1848 kaum möglich gewesen wären. Noch viel deutlicher sind die Folgen jener verfehlten Anschauung über die Stellung des Privateigentumschutzes in der Weimarer Verfassung bei den Verhandlungen über das Gesetz zur Regelung älterer staatlicher Renten gewesen; der im März 1928 dem Reichstag vorgelegte Entwurf dieses Gesetzes sah vor, dass Renten, die für die Aufgabe oder den Verlust von landesherrlichen oder standesherrlichen Rechten, sonstigen Hoheitsrechten oder Standesvorrechten jeder Art begründet waren, ebenso entschädigungslos in Wegfall kommen sollten wie Renten, die dem Ausgleich für die Aufgabe oder den Verlust von Leibeigenschaften oder ähnlichen nach dem heutigen Zeitempfinden als unsittlich anzusehenden Rechten dienten. Merkwürdigerweise enthielt der Entwurf den Passus, dass die Vorlage verfassungsändernd sei, was tatsächlich nicht der Fall war. Aber die herrschende Lehre über Begriff und Voraussetzung der Enteignung war so sehr communis opinio geworden, dass sich nicht nur das das Gesetz vorlegende Ministerium, sondern auch der Reichstag von ihr beeindrucken ließen. Da diese Vorlage nicht die wegen des angeblich in ihr enthaltenen Eingriffs in erworbene Rechte fälschlich für notwendig erachtete Zwei-Drittel-Mehrheit erhielt, so fielen entschädigungslos nur die Renten für den Verlust von Leibeigenschaftsrechten oder ähnlichen Renten fort, während für die anderen Rechte eine Aufwertung beschlossen wurde. Diese Regelung steht nicht nur hinter der Behandlung, die die feudalen Rechtstitel 1848 in Deutschland erfahren sollten, zurück, sondern wird auch weit überholt von der französischen Revolutionsgesetzgebung. Auch soweit solche Argumente den eigentlichen Gang der Gesetzgebung nicht zu hemmen vermochten, haben sie allen Arten von privaten Interessentengruppen doch erheblich den Rücken gesteift, was letzthin wieder bei dem Fall des deutsch-polnischen Liquidationsabkommens augenfällig in Erscheinung trat. Und die ganz im Gegensatz zu den Tendenzen der Reichsverfassung stehende Sanktionierung des gegenwärtigen Status quo an Privateigentum ist eine der ernstesten Folgen, die jene Rechtsprechung des Reichsgerichts hervorgerufen hat. Wenn auch eine erfolgreiche Heranziehung dieser Bestimmung zur teilweisen Verhinderung sozialpolitischer Gesetzgebung wie in anderen Staaten nicht 20 [Günther] Holstein: Fideikommißauflösung und Reichsverfassung[, Berlin] 1929. Herr Professor Holstein soll dem Juristentag darüber berichten, ob sich eine Notwendigkeit herausgestellt hat, den Unterschied zwischen öffentlichrechtlicher Eigentumsbeschränkung und Enteignung gesetzlich festzulegen und wie diese Unterscheidung zu bewerkstelligen sei. Dieses angebliche »Problem« ist nur in der Rechtsprechung entstanden, die Verfassung kennt es nicht.
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erfolgt ist und wohl auch kaum erfolgen kann, so hindert das doch nicht, dass im Verfassungsleben der letzten zehn Jahre der Art. 153 in relativ sehr starkem Maße als Garant privatwirtschaftlicher Institutionen gegenüber staatlichen Neuregelungen aller Art benutzt wurde. Es entsteht die Frage, ob durch gesetzgeberische Maßnahmen ein dem Sinn des Art. 153 besser entsprechender Zustand herbeigeführt werden kann. Innerhalb beschränkter Grenzen wird dies wohl möglich sein. Der unmöglichen, die Städte aufs schwerste belastenden Rechtsprechung des Reichsgerichts auf dem Gebiet des Baurechts tritt teilweise der vorläufige Referentenentwurf über ein Reichsbaulandgesetz entgegen, in dem für eine bestimmte Gruppe von Fällen ein Anspruch auf Entschädigung ausdrücklich ausgeschlossen ist. Doch lässt dieser Entwurf nach mehr als einer Richtung hin unbefriedigt.21 Einmal trifft er nicht alle Fälle der öffentlich-rechtlichen Beschränkung, zum andern Mal sind seine Vorschriften über das Entschädigungsverfahren wie auch die Bestimmungen über die zu gewährende Entschädigung selbst nicht ausreichend und stehen zudem am falschen Ort. Die Abgrenzung zwischen Enteignung und öffentlich-rechtlicher Beschränkung, die an sich aus der Verfassung hervorgeht, deren Konkretisierung aber die Rechtsprechung des Reichsgerichts dringend notwendig gemacht hat, gehört ebenso in ein Reichsrahmengesetz über das Enteignungsverfahren wie die Bestimmungen über das Enteignungsverfahren und die Enteignungsentschädigung. Denn es gibt auch außerhalb des Baurechts viele Fälle landesrechtlicher öffentlicher Beschränkungen. Jenes durchaus notwendige Reichsrahmengesetz über das Enteignungsverfahren wird den Begriff der Enteignung so festzulegen haben, wie ihn bis zum heutigen Tage alle Landesgesetze verwenden, als Übertragung von Eigentum auf ein bestimmtes zum Wohl der Allgemeinheit dienendes Unternehmen auf dem Wege eines auf gesetzlicher Grundlage beruhenden Verfahrens. Ausdrücklich wird weiter darin die öffentlich-rechtliche Beschränkung als eine im öffentlichen Interesse das Eigentum einer nicht individuell bestimmten Zahl von Eigentümern durch allgemeine Vorschriften beschränkende Anordnung zu definieren sein. Weiterhin wird der Entschädigungsbeschluss nicht, wie der Entwurf des Baulandgesetzes es vorsieht, bei einer dem Zivilgericht angegliederten Behörde angefochten werden können, sondern ausschließlich bei dem Verwaltungsgericht. Die bedauerliche Versteifung eines das verfassungsmäßig 21 Siehe die ausführliche Besprechung dieses Entwurfes in dem Aufsatz von Robert Sachs, öffentliche Bodenpolitik gegen private Bodenspekulation, in »Die Arbeit«, Mai 1930. [Robert Sachs: Öffentliche Bodenpolitik gegen private Bodenspekulation, in: Die Arbeit, Jg. 6, Heft 5, Berlin 1930, S. 306-312.]
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vorgeschriebene Maß weit übersteigenden Eigentumsschutzes hat in Verbindung mit der bisherigen durch das preußische Enteignungsgesetz vorgesehenen vollen Entschädigungspflicht die Städte gezwungen, ungeheure unangemessene Entschädigungssummen zu zahlen. Entschädigungsgrundsätze wie der, dass bei der Enteignung der individuelle Wert zu berücksichtigen ist, den ein Grundstück nicht für einen Eigentümer selbst, sondern für einen dritten Kauflustigen hatte, wenn dieser zur Zahlung eines höheren Kaufpreises bereit war, bilden ein Eldorado für großzügige Schiebungen und dabri auch die Erklärung für manche sonst nicht verstandene Pfade städtischer Grundstückspolitik. Darüber wird man sich allerdings keinen Täuschungen hingeben dürfen, dass ein solches sehr notwendiges Reichsrahmengesetz für das Enteignungsverfahren auf der ganzen Linie den eigentlichen Sinngehalt des Art. 153 nicht allein wird wiederherstellen können. Ein solches Gesetz wird eine durchaus notwendige Verbesserung unseres reformbedürftigen Enteignungsverfahrens bringen, es wird im Zusammenhang mit dem Baulandgesetz die durch die Reichsgerichtsrechtsprechung fragwürdig gewordenen Grundlagen der städtischen Bodenpolitik wiederherstellen können und darüber hinaus auch die Gerichte veranlassen, den Begriff der öffentlich-rechtlichen Eigentumsbeschränkung nicht nach ihrer privaten Meinung, sondern nach dem Willen des Gesetzgebers, der in dieser Sache in Deutschland auf alte Traditionen baut, zu verwenden. Aber höchst fraglich ist es, ob eine gesetzliche Enteignungsdefinition, so notwendig sie auch ist, das Reichsgericht veranlassen wird, seine dem Art. 153 nicht entsprechende Anschauung über den Enteignungscharakter von gesetzlichen Eingriffen in private Rechte aufzugeben, oder ob das Reichsgericht sich nicht dem dadurch entziehen wird, dass es die Begriffe wechselt und statt Enteignung das Wort Konfiskation benutzt. Die Weimarer Verfassung legt in ihrem Gesamtzusammenhang Zeugnis dafür ab, dass die Beschränkung des Eigentums auf den individuellen Bereich nicht gegen ihren Sinn verstößt. Nur aber wenn der Staat tätig Gebrauch macht von dieser neuen Sinngebung, wird er all jene Mächte in ihre Schranken weisen können, die auch hier wirksam daran arbeiten, die Gegenwart ewig an die Vergangenheit zu schmieden und gegen das Recht des Heute das Ewiggestrige, das erworbene Recht auszuspielen.
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[23.] Artikel 48 und die Wandlungen des Verfassungssystems. Auch ein Beitrag zum Verfassungstag* [1930] Vor einem Jahre wurde mit einem beträchtlichen Aufwand an materiellen, mit einem viel geringeren Aufwand an geistigen Mitteln1 die zehnte Wiederkehr des Verfassungstages gefeiert. Schon damals wurde an dieser Stelle ausgeführt, dass die Grundlagen der Weimarer Verfassung kaum mehr in dem Maße vorhanden sein dürften, als man bis weit in die Reihen der Sozialdemokratischen Partei hinein anzunehmen geneigt sei. Viele Sozialdemokraten stehen heute noch ratlos vor jener, dem an der Oberfläche Haftenden fast unerklärlichen Veränderung, die sich binnen eines halben Jahres bei den Mitträgern des Weimarer Verfassungsgedankens, den bürgerlichen Mittelparteien, vollzogen hat. Sie wollen nicht glauben, dass das liebgewordene Bündnis der Weimarer Verfassungsparteien auf immer gelöst sei. Man behilft sich damit, die organisatorischen Wandlungen im Aufbau des Bürgertums, die eine völlige Verwischung der früher dort als trennend empfundenen Momente herbeigeführt haben, damit zu erklären, dass man hier ein Augenblicksbündnis des gesamten Bürgertums zur Überwindung einer einmaligen Wirtschaftskrise auf dem Rücken der Arbeiterschaft sieht; man hofft, dass die Überwindung der Krise auch die Wiederherstellung der bürgerlich-proletarischen Arbeitsgemeinschaft zur Folge haben werde. Sieht man davon ab, dass die Überwindung der Krise ein in sich selbst schon höchst problematischer Begriff ist, so hat man daneben noch übersehen, dass die bürgerlich-proletarische Verfassungsgemeinschaft * [Erschienen in: Der Klassenkampf, Sozialistische Politik und Wirtschaft, Jg. 4, 2. Halbjahresband, Heft 15, Berlin 1930, S. 456-458. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 79-78.] 1 Wir weisen an dieser Stelle gern darauf hin, dass Hugo Sinzheimer in seiner lesenswerten Chronik in der Justiz schon im Jahre 1929 nach der inhaltslosen Verfassungsrede Severings die Problematik des republikanischen Lippenbekenntnisses mit erstaunlicher Offenheit aufgezeigt hat. [Hugo Sinzheimer: Chronik vom Juni 1930, in: Die Justiz in der Weimarer Republik. Eine Chronik, mit einer Einführung von Otto Kirchheimer, herausgegeben von Thilo Ramm, in: Wilhelm Hennis, Hans Maier (Hg.): Politica, Band 29, Neuwied/Berlin 1968, S. 249-256.]
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[23.] Artikel 48 und die Wandlungen des Verfassungssystems [1930]
von 1919 in erster Linie einem konkreten Zweck gedient hat, der äußeren Befreiung Deutschlands mit den Mitteln friedlicher Verständigungspolitik. Wir glauben, dass es kein Zufall ist, dass die Umorganisation im bürgerlichen Lager in dem Augenblick vollendet war, als jener Zweck erreicht war. Bis zur Haager Konferenz, äußerlich gesehen sogar bis zur Rheinlandräumung, hat in Deutschland immer eine heimliche Koalition regiert. Es war die Koalition der außenpolitischen Verständigung, die auch beim Dasein eines Rechtskabinetts hemmend auf den Chauvinismus der Deutschnationalen und durch die Unterstützung der Sozialdemokratie hemmend auf die innerpolitische Linie dieser Partei eingewirkt hat. Knapp ein halbes Jahr, nachdem der Vorhof der deutschen Außenpolitik von den Resten lästigen Zwanges befreit ist, hat sich die Gemeinschaft der Weimarer Parteien aufgelöst. Es würde eine müßige, um nicht zu sagen verfehlte Spekulation bedeuten, wollte man eine Erneuerung proletarisch-bürgerlicher Arbeitsgemeinschaft auf neue gemeinsame, gegen die Nationalisten zu verteidigende außenpolitische Aufgaben aufbauen. Auch auf dem Gebiet der Außenpolitik herrscht ein dialektisches Gesetz; indem die Sozialdemokratie Verständigungspolitik um des Friedens und um Deutschlands Wiederaufbau willen trieb, hat sie mit vollem Bewusstsein die Einreihung Deutschlands in die Reihe der großen kapitalistischen Mächte betrieben. Als Deutschland seine Handlungsfreiheit wiedergewonnen hatte, waren die Ziele seiner Außenpolitik nicht die gleichen geblieben. Der Sozialdemokratie mag die Verständigung heiliger Zweck gewesen sein, dem Bürgertum konnte sie nur Mittel sein. Die Tatsache, dass 1930 zum ersten Mal offensichtlich der weitaus größte Teil des Bürgertums sich nicht nur auf der innen-, sondern auch auf der außenpolitischen Linie mit einer allerdings aus der Krise begreiflichen Intensität zusammenfand, hat – so seltsam das klingen mag – die Grundlagen unseres Verfassungssystems vollständig verändert. Dass die immer mehr wachsende innerpolitische Machtstellung des Bürgertums an den verschiedensten Stellen des Verfassungsrechts charakteristische Rückbildungen bewirkte, ist uns allen bekannt. Es soll hier nur an den bedeutsamen Wandel in der Machtposition des Richtertums erinnert werden, das dem Parlament in immer steigendem Maße seine Waffe, das Gesetz, aus der Hand schlägt und sein eigenes Recht, das Recht des deutschen Bürgertums, setzt. Auch dies ist ein lange beachteter Vorgang, dass das Parlament, da es gleichsam nie als »unum corpus christianum« aufgetreten ist, sondern immer ein sich befehden-
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des Heerlager verschiedener Gruppen war, einen großen Teil seiner Machtbefugnisse an die Bürokratie abgeben musste und auf dem Gebiet der Gesetzgebung – es sei hier nur an das Schmerzenskind der Strafrechtsreform erinnert – von rein sachlichem, nicht politischem Standpunkt aus betrachtet, nicht das leistete, was man von ihm erwartete. Aber dies war nicht das Entscheidende. Solange sich auf dem Boden des Parlaments Sozialdemokratie und Bürgertum doch immer wieder zu gemeinsamer Arbeit zusammenfanden, bestand wenigstens ein Stück Demokratie. Teilweise gemeinschaftliche Aufgaben führten zu jener Reihe ständig sich erneuernder Kompromisse, welche man dann fälschlicherweise als das eigentliche Charakteristikum der Demokratie in unserm Zeitalter ansah; indessen waren doch die Kompromisse nur die logische Konsequenz dieser gemeinschaftlichen Aufgaben, mit deren Wegfall sie gegenstandslos wurden. Diese Kompromisse führten in einer ideellen Fortsetzung des Weimarer Verfassungswerks dazu, dass man peinlichst darauf achtete, nie den politischen Gegner zu vergewaltigen, und in jeder parlamentarischen Arbeit von vornherein soweit Spielraum ließ, dass auch dem Gegner – gleichgültig, ob er formeller Koalitionspartner war oder nicht – etwas zugebilligt werden konnte. Das grundlegend Andersartige besteht nun seit einem halben Jahr darin, dass die Methode des gegenseitigen Nachgebens endgültig aufgegeben wird. Das Bürgertum konstituiert sich auch im Parlament als einheitliche Klasse. Damit entfällt aber gleichzeitig eine der wichtigsten Funktionen des Parlaments, der Prozess, die unendlich schwierige und mühselige Herbeiführung dieser Kompromisse; denn von nun ab wird die Funktion der Regierung eine andere. Bisher waren Regierung und Parlament eng verbunden, beide in der gemeinschaftlichen, auf dem Boden des Parlaments sich vollziehenden Arbeit am Kompromiss. Nun aber wird die Regierung zu einer selbständigen Vertretung des Bürgertums neben dessen Parlamentsfraktionen. Die Worte, die der Finanzminister Dietrich in der letzten Sitzung des Reichstags ausrief und die die gesamte bürgerliche Presse als so ungeheuer eindrucksvoll wiedergibt: »Die Frage ist jetzt, ob die Deutschen ein Haufen von Interessenten oder ein Staat sind«, kennzeichnen diese Situation. Das Bürgertum geht dazu über, sich und seine Interessen mit dem Staat zu identifizieren, wozu es des Parlaments nicht mehr bedarf. Auf diesem Wege ist es aber allzu schwierig, sich des Gesetzes als Hilfsmittel zu bedienen, denn dazu wäre nötig, dass sich nicht nur das Bürgertum, sondern auch die bürgerlichen Parlamentsfraktionen bereits als Einheit konstituiert hätten. Die Entwicklung bürgerlicher Herrschaft kann aber nicht so lange
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warten, bis sich die bürgerliche Herrschaftstechnik auf dem Boden des Parlaments den veränderten Verhältnissen angepasst hat. In dieser Situation bot sich dem deutschen Bürgertum der Artikel 48 dar. Es ist von sozialdemokratischer Seite, von dem Sprecher der Reichstagsfraktion bei der letzten Reichstagssitzung, dem Abgeordneten Landsberg, schon darauf hingewiesen worden, dass die Steuerverordnungen der Regierung Brüning sich von den bisherigen Anwendungsfällen des Artikels 48 ihrem Wesen nach unterscheiden. Die staatsrechtliche Begründung hierfür hat Landsberg gegeben; er hat darauf hingewiesen, dass sowohl die Voraussetzungen – Not von Volk und Reich –, als auch die Billigung dieser Verordnungen nach den Ausschussabstimmungen fehlten, und dass die Verordnungen ferner den Charakter von Dauergesetzen, nicht von Notmaßnahmen trügen. Das ist richtig, aber wir glauben, es kommt noch ein Weiteres hinzu, das die Situation vollständig verändert. Die bisherigen Anwendungsfälle des Artikels 48 verblieben im Bereich jener Reihe offener oder stillschweigender Kompromisse zwischen Sozialdemokratie und Bürgertum. Gleichgültig, ob die Sozialdemokratie in allen einzelnen Fällen vom Standpunkt einer proletarischen Betrachtungsweise aus richtig gehandelt hat, entscheidend war doch, dass keiner dieser Anwendungsfälle des Artikels 48 in den Nachkriegs- und Inflationsjahren gegen den erklärten Willen der deutschen Sozialdemokratie erfolgte. Die diesmalige Anwendung des Artikels 48 geschah nicht nur gegen die Sozialdemokratie, sondern, wie die letzte Reichstagsabstimmung gezeigt hat, gegen eine freilich unhomogene, von den verschiedenartigsten Motiven, von dem Willen zur Aufrechterhaltung der Demokratie und dem Willen zu ihrer endgültigen Vernichtung, ausgehenden Mehrheit. Über den Kopf des Parlaments hinweg, unter Außerachtlassung der dargebotenen Verständigungsmöglichkeit mit der Sozialdemokratie, die immer noch daran glaubte, dass die Zeit jener Kompromisse noch bestehe, identifizierte sich die Regierung, unabhängig vom Parlament und gleichgültig gegen dessen Mehrheitsbeschlüsse, mit den besitzenden Bürgerschichten. Den erneuten Beweis jener Identifizierung werden wir in diesen Tagen erleben, wenn die Notverordnungen, die die Mehrheit des Volkes abgelehnt hat, eine fröhliche Wiederauferstehung feiern werden. Die Weimarer Verfassung nahm zum Ausgangspunkt jenen »staatserhaltenden« Kompromiss zwischen Bürgertum und Sozialdemokratie. Das Bürgertum hielt diesen Kompromiss nur so lange für notwendig, als es glaubte, der Sozialdemokratie zur Erhaltung seines Staates nicht
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entbehren zu können. Die Demokratie des Kompromisses hat sich in die Demokratie der feindlichen Heerlager verwandelt. Die Sozialdemokratie, die – wie wir aus der einstimmigen Meinung des Parteitages von Magdeburg wissen – den kommenden Wahlkampf nicht auf dem Boden der Versprechungen, sondern auf dem Boden der Wirklichkeit führen will, wird ihren Anhängern gegenüber auch keinen Zweifel darüber aufkommen lassen dürfen, dass die Zeit der Kompromisse vorüber ist und die Zeit der staatserhaltenden Selbsterhaltung begonnen hat.
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[24.] Die Problematik der Parteidemokratie* [1930] Wir sind Genossen Schifrin zum Dank dafür verpflichtet, dass er in seinem Aufsatz über Parteiapparat und Parteidemokratie in Nummer 6, 1930, dieser Zeitschrift1 eine Frage, die viele von uns tagtäglich bewegt, ausführlich behandelt hat. Das Wohl der Gesamtpartei kann nur gefördert werden, wenn die Zweckmäßigkeit jeder einzelnen Gegenwartsinstitution in der Partei überprüft und die organisatorische Einwirkung allgemeiner Entwicklungstendenzen auf unsere Partei ebenso sehr gewürdigt wird wie die Auswirkung dieser Tendenzen auf den Vertrauensträger unseres Parteikörpers: die große Masse der organisierten Arbeiterschaft. Mit Recht hat Genosse Schifrin als seinen Ausgangspunkt eine Kritik des Michels‘schen Buches »Zur Soziologie des Parteiwesens«2 gewählt; denn bis heute macht sich der unheilvolle Einfluss dieses ebenso interessanten wie in seiner Grundkonzeption verfehlten Buches bei allen Versuchen, innerparteiliche Strukturprobleme zu erfassen, lähmend bemerkbar. Die Begriffe Demokratie und Oligarchie nehmen in der Sphäre des Staatlichen eine traditionelle Bedeutung ein, die sich freilich bei uns heute mehr und mehr auflöst. Überträgt man diese Begriffe in die Sphäre des Innerparteilichen, so tritt eine Sinnverschiebung ein. Diese Verschiebung mag ohne weiteres zulässig sein innerhalb des Gedankengebäudes einer analytischen Soziologie wie der Vilfredo Paretos, die in eifriger Mosaikarbeit jeden sozialen Tatbestand in einen psychologischen Zurechnungsprozess auflöst. Das psychologische und eben nur psychologische Residuum führt am Ende zu einer Sozialtheorie, die keine ist: zur Elitentheorie. Als das Werk eines systematischen und konsequenten Denkers behält die methodische Leistung * [Typoskript, 11 Seiten. Bundesarchiv, NS 26/940 (alphabetisch geordnete Korrespondenz der wissenschaftlichen Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, »Die Arbeit«). Die handschriftlichen Bearbeitungen im Typoskript konnten Otto Kirchheimer zugeordnet werden. Das Manuskript ist erstmals in anderer Form erschienen in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Jg. 30, Heft 2, Berlin 1994, S. 227-234. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 73-74.] 1 [Alexander Schifrin: Parteiapparat und Parteidemokratie, in: Die Gesellschaft, Jg. 7, Heft 6, Berlin 1930, S. 505-524.] 2 [Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig 1925.]
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Paretos ihren dauernden Wert, als Forschungsmethode auf einem Einzelgebiet hat Paretos Buch über »Les Systèmes socialistes«3 ebenso versagt wie die Arbeit von Michels, die in methodischer Hinsicht großenteils unter dem Banne Paretos steht. In dem Eifer, die Allgemeingültigkeit der Elitentheorie auch in der Sphäre der Arbeiterbewegung zu beweisen, hat Michels es unterlassen, Technik und Idee in das richtige Verhältnis zu setzen, und so gewinnt es den Anschein, als ob mit der mehr oder minder geglückten Beweisführung, dass auch die Arbeiterbewegung sich dem Gesetz der Elite nicht entziehen könne, die geistige und organisatorische Selbständigkeit der Arbeiterbewegung in Frage gestellt sei. Auch in dem neuesten Beitrag Michels’ zu diesem Fragenkomplex, der »Psychologie der antikapitalistischen Massenbewegung«4 bricht diese grundsätzliche Einstellung allenthalben durch. Mit Recht hat Schifrin gegen Michels die Frage der Parteidemokratie in erster Linie als eine Frage der Parteiproduktivität betont. Selbst wenn Michels der Nachweis gelungen wäre, dass die oligarchischen Tendenzen innerhalb der Arbeiterbewegung gesiegt hätten, so wäre dadurch noch nichts über die politische und geistige Orientierung der Arbeiterbewegung ausgesagt. Denn hier liegt das grundsätzliche Anderssein der Funktion der Demokratie innerhalb des Staates gegenüber ihrer Funktion innerhalb der proletarischen Organisation. Die Idee der Demokratie im Bereich des Staates hat ihren Nährboden in Vorstellungen politischer Gerechtigkeit. Jedes Stück verwirklichte Demokratie ist ein Stück verwirklichte Gerechtigkeit; hieraus ergibt sich schon rein bewusstseinsmäßig, welche Gefahren das Abgleiten vom Boden der Demokratie mit sich bringt. Die Idee der Partei setzt das Vorhandensein bestimmter Gerechtigkeitsvorstellungen in der Mitgliedschaft schon voraus. Wer in die Partei eintritt, gibt damit kund, dass er ihr Programm für gerecht hält, und die Diskussion in der Partei sollte eigentlich dem Entstehungsprozess der volonté générale, wie sie Rousseau im Contrat social schildert, sehr nahe kommen. Denn hier tritt einmal wirklich der Fall ein, dass ein annäherndes Bild von dem zu erstrebenden Ziel die Grundlage für die Diskussion über die beste technische Methode der Durchführung abgibt. Gerade aber weil es sich um ein prinzipiell technisches Problem handelt, steht die Idee der Demokratie innerhalb der Partei unter dem Gesichtspunkt der innerparteilichen Produktivität. Von diesem Boden aus gewinnt das Problem der Oligar3 [Vilfredo Pareto: Les systèmes socialistes, Paris 1926.] 4 Grundriss der Sozialökonomik, IX, I 1926. [Robert Michels: Die Psychologie der antikapitalistischen Massenbewegung, in: Grundriß der Sozialökonomik, 9. Abteilung, 1. Teil, Tübingen 1926, S. 241-259.]
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chie innerhalb der Partei ein neues Gesicht. Die Oligarchie ist nicht deshalb bekämpfenswert, weil sie die Idee der Partei verrät, sondern weil sie der Aktivierung der Arbeitermassen nachteilig ist. Nur für eine psychologisierende Soziologie kann die Behauptung des Verrats, den die Elitentheorie implizite immer enthält, solche entscheidende Bedeutung erlangen. Die Fragestellung, inwieweit der Spitzenapparat einer Massenpartei entpersönlicht ist, inwieweit seiner Bewegungsfreiheit durch das Schwergewicht der sozialen Tatbestände, denen er seine Entstehung verdankt, Grenzen gesetzt sind, enthüllt den Charakter der Oligarchie in der proletarischen Bewegung als reine Organisationsoligarchie. Bezüglich der überragenden Bedeutung, die heute unbestrittenermaßen der Organisationsoligarchie zukommt, meint Schifrin, dass das Übermaß der Oligarchie auf einmalige Ursachen, nicht auf konstante Entwicklungsgesetze zurückzuführen sei. Er sieht die Parteioligarchie im wesentlichen Zusammenhang mit dem Gesamtcharakter der Stabilisierungsperiode. Die Entpolitisierung, die geringere Aktivität der Massen innerhalb der Parteiorganisation ist für ihn die Ursache der organischen Verengung der innerparteilichen Demokratie. Im Zusammenhang damit weist er auf die Stagnation der Massengrundlage hin, auf die Tatsache, dass die Partei bis heute noch nicht wieder den Mitgliederstand von 1914 erreicht hat, wodurch ebenfalls eine Expansion des Apparats, sein unverhältnismäßiges Hervortreten gegenüber der Masse der Parteianhänger verursacht ist. Abgelehnt wird von Schifrin der Vergleich der Entwicklung der oligarchischen Organisation der Partei mit der Entwicklung der schwerindustriellen »Industrokratie«. Zur Eindämmung der oligarchischen Tendenzen, zur Wiedererstarkung der Parteidemokratie zum überragenden Faktor der innerparteilichen Produktivität nennt er als die drei wichtigsten Gesichtspunkte 1.) die Meinungsfreiheit als die elementarste und lebensnotwendigste unter den Voraussetzungen der innerparteilichen Demokratie, 2.) das starke Eigenleben, die Autonomie der lokalen Organisationen und 3.) die demokratische Parteiverfassung. Ich bin nicht der Überzeugung, dass die Stabilisierungsperiode die Ursache des Anwachsens der Parteioligarchie ist. Die Änderung im Verhältnis zwischen der Zahl der Staats-, Gemeinde-, Gewerkschafts- und Parteifunktionäre, die alle – vielleicht nicht formell, aber doch materiell – im Rahmen der Partei eine andere Stellung einnehmen als die gewöhnlichen Parteimitglieder, und der Zahl der nicht beamteten Parteigenossen hat mit der Stabilisierungsperiode kaum etwas zu tun. Auch ein beträchtlicher Mitgliederzuwachs wird an der Tatsache nichts ändern, dass der rein numerische Einfluss
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des Funktionärskörpers gewaltig gewachsen ist. Außerdem ist es sehr fraglich, inwieweit die Mitgliederzunahme eine Verbreiterung der Parteidemokratie hervorrufen würde. Hierfür wäre nicht ausschlaggebend die Zahl, sondern der soziale Standort der neugewonnenen Mitglieder. Zehntausend neugewonnene mittlere Beamte dürften in dieser Hinsicht etwas ganz anderes bedeuten als dieselbe Zahl Arbeiter.5 Bei der heutigen Position der Partei erscheint die Gefahr, dass sie zu einem Orden herabsinken könne, sehr klein, größer aber die Gefahr, dass man die Grenzen übersieht, die der Ausdehnung der Partei gesetzt sind. Der innere Wert der erworbenen Parteimitgliedschaft, die Frage, bis zu welchem Grade die Partei es vermag, dauernde Bindungen zu erzeugen, entscheidet über Produktivität und Lebendigkeit der Partei. Die Parteidemokratie leidet und hat schon beträchtlich gelitten durch Inaktivität und Scheinaktivität von Konjunkturmitgliedern, deren innere Anteilnahme an dem Schicksal der Partei zu einer eigenen Stellungnahme nicht ausreicht und sie kritiklos in die Arme der jeweils vorhandenen Parteiobrigkeit führt. Die Parteidemokratie gewinnt durch den Zuzug von Menschen, die das Schicksal der Partei als ihr eigenes Schicksal erleben und mit der Verantwortung eigener Entscheidung selbst jedes Mal Stellung zu nehmen in der Lage sind. Die Oligarchie innerhalb der Partei ist durch diese Konjunkturmitglieder ebenso gefordert worden [wie] durch die unverhältnismäßige Zunahme des Funktionärsapparats in der Nachkriegszeit, der eine Folge der nunmehr beginnenden Verbindung mit dem Staatsapparat bildet. Die wesentliche Ursache dürfte aber viel allgemeinerer Natur sein. Der Konzentrationsprozess der politischen und ökonomischen Kräfte, der in der Nachkriegszeit eingesetzt und heute wohl seinen Höhepunkt bald erreicht hat, erfasste das Proletariat ebenso wie seine Gegner. Ob die Oligarchie des Kapitals eine geordnete oder eine ungezügelte ist, wie Schifrin meint, kann hier außer Acht bleiben; es handelt sich hier um die organisatorische Bedeutung der Oligarchie, nicht um eine moralische Wertung. Organisatorisch aber hat sich die Tendenz zur Zusammenfassung der Kräfte, zur Vermehrung der Übersichtlichkeit und Schlagfertigkeit der Organisation, zur einheitlichen Bewirtschaftung der Finanzquellen bei den proletarischen Organisationen ebenso durchgesetzt wie bei den bürgerlichen. Ja, wegen der im Verhältnis zu den großen Wirtschaftsorganisationen des Bürgertums geringeren finanziellen Leistungsfähigkeit der Arbeiterschaft musste sie sich innerhalb des Proletariats noch viel stär5 Es wäre ein verdienstvolles Werk, wenn sich der Parteivorstand der sozialdemokratischen Partei dazu entschließen könnte, eine genaue Aufstellung der sozialen Gliederung der Parteimitgliedschaft fertigen zu lassen.
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ker durchsetzen und hat es auch getan. Der Entwicklungsgang der sozialistischen Presse mag als Beispiel dienen. Für eine Presse wie die sozialdemokratische, die in erster Linie rein politischen Gesichtspunkten zu folgen hat und deren Inseratenaufträge zu mäßig sind, um die eigene unabhängige Existenz der auch in der kleinsten Stadt notwendigen Tageszeitung zu gewährleisten, war die »Konzentration« eine dringende Notwendigkeit. Aber die Konsequenz dieses Konzentrationsprozesses war eine politische Uniformierung der Parteipresse und ein ungeheurer Zuwachs an Einflussnahmemöglichkeiten der Berliner Zentralstelle. Die damit gegebene Verengerung der Parteidemokratie war absolut unvermeidbar. Die Verlagerung des politischen Schwergewichts von den Ländern auf das Reich hat in ähnlicher Richtung gewirkt. Die Autonomie der Bezirksorganisationen blieb formell unangetastet; aber der Kreis ihrer Entscheidungsmöglichkeiten ist zugunsten der Zentrale zusammengeschrumpft. In der gleichen Richtung haben die koalitionspolitischen Bindungen gewirkt. Zur Zeit August Bebels konnte die süddeutsche Rebellion ohne Gefahr für die Gesamtlinie der Partei ruhig ihren Duodezmonarchen das Budget bewilligen. Wenn heute ein sozialdemokratischer Bezirksparteitag beschließen würde, dass die Bezirksabgeordneten in corpore gegen die Koalitionsregierung im Reichstag zu stimmen hätten und der Wehretat unter keinen Umständen von ihnen bewilligt werden dürfe, würde ein koalitionspolitisch gebundener Reichsparteivorstand sich wahrscheinlich nicht nur mit papierenen Parteitags- oder Vorstandsresolutionen begnügen können wie zu Bebels Zeit. Die Interdependenz hat sich gewaltig vergrößert, die Bindungen sind stärker geworden; mit wachsendem Betätigungsgebiet war eine Abnahme der Bewegungsfreiheit verbunden. Die zum großen Teil zwangsläufige Vergrößerung der Machtbefugnisse des Parteiapparats hat sich nicht nur auf die Berliner Zentralstelle beschränkt. Jede örtliche Parteiverwaltung bietet uns dasselbe Bild. Mit der wachsenden Notwendigkeit, die Kräfte der örtlichen Partei, der verschiedenen andern Organisationen sowie der Gewerkschaften einheitlich zusammenzufassen, wurde auch hier der Raum der Spontaneität eingeschränkt und der Aufgabenkreis der Organisationsspitzen erweitert. Eine wesentliche Stärkung des Apparates war durch die Spaltung der Arbeiterschaft bedingt. Nie war der Klassengegner der Partei so verfänglich nahe gerückt wie die Kommunisten. Die Leitung des Abwehrkampfes verstärkte ebenfalls den Einfluss des Parteiapparates. Bei allen diesen Dingen, vielleicht die letzten ausgenommen, handelt es sich nicht um vorübergehende Erscheinungen, sondern um bleibende Wandlungen der Parteistruktur.
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Aus diesen Gründen ist auch das Zurückgehen auf die Palladien der Parteidemokratie, wie es Schifrin vornimmt, teilweise fragwürdig. In erster Linie beruft sich Schifrin auf die Meinungsfreiheit. Die Meinungsfreiheit im innerparteilichen Bezirk steht, wie schon angedeutet, im Dienst der Erzeugung der volonté générale; sie sollte eigentlich dazu dienen, dass die Parteigenossenschaft in freier Abwägung von pro und contra auf Grund selbstgebildeter Überzeugung in jedem Fall ihr Votum in die Waagschale wirft. Die wesentlichen Vorbedingungen dieses Meinungsbildungsprozesses sind aber nicht mehr vorhanden. Wir haben heute Meinungsäußerungsfreiheit, aber keine Meinungsfreiheit mehr. Keinem Mitglied der sozialdemokratischen Partei ist es verwehrt, seine Meinung zu äußern; seine Überzeugung ist frei, und die Partei ist im Vergleich etwa zu den Nachbarn von links höchst liberal. Aber wer über die Probleme keine eigene Meinung besitzt, wird sich auch kaum eine in der Partei bilden können; denn gerade über die strittigen Punkte, über die die eigentliche Parteimeinung erst gebildet werden soll, wird der Leser täglich im »Vorwärts« oder der »Fränkischen Tagespost« die gleiche einseitige Belehrung erhalten, wie er sie auf der andern Seite etwa durch das »Sächsische Volksblatt« in Zwickau erhält. Eine auf Meinungsfreiheit basierende Meinungsbildung wäre nur möglich, wenn jede Zeitung verpflichtet wäre, ihren Lesern jedes Mal beide Argumente vorzuführen. Das Fehlen der Meinungsfreiheit wird noch dadurch vertieft, dass die oben angedeutete Entwicklung dazu geführt hat, dass die herrschende Parteirichtung in mehr als vier Fünftel, die Gegenseite jedoch nur in kaum einem Fünftel der Presse ihre Ansichten vorzutragen in der Lage ist. Dass das starke Eigenleben und die Autonomie der lokalen Organisationen heute kaum mehr in dem Maße bestehen kann wie früher, wurde oben schon erörtert. Im Übrigen bezieht sich dieses Argument ja nur auf die zentrale, nicht auf die örtliche Oligarchie. Diese Entwicklung, die zum großen Teil zwangsläufig und unabwendbar war und nur zum geringeren Teil parteitaktischen Erwägungen entsprang, hat überall dazu geführt, einem beschränkten Kreis von Funktionären, der keineswegs mit dem Funktionärskörper überhaupt identisch ist, die maßgebenden Entscheidungen in die Hand zu legen. Dass diese Entwicklung nur in einem höchst mäßigen Umfang die Tendenzen der Partei selbst zu ändern vermag, ist gegenüber den Ausführungen von Michels festzuhalten. Denn diese Funktionäre haben ja nichts mit dem gemein, was man bislang mit der Bezeichnung Arbeiteraristokratie zu belegen pflegte, worunter man eine Schicht von Menschen
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verstand, die zum großen Teil eigene, von den übrigen Proletariern verschiedene Interessen hatten. Selbst von kommunistischer Seite ist kürzlich anerkannt worden, dass es heute so etwas wie eine Arbeiteraristokratie, jedenfalls in Deutschland, innerhalb der Reihen der Arbeiterbewegung kaum mehr gibt, und in einem Aufsatz über »Die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung und das Problem der Arbeiteraristokratie«6 hat Smoljanski letzthin unter teilweiser Zitierung Lenins ausgeführt: »So gleitet der alte Typus der Arbeiteraristokratie ins Reich des Vergangenen. Der Buchhalteraristokrat und der Mechaniker-Aristokrat sterben aus; aber an ihre Stelle tritt eine weniger zahlreiche, aber noch viel engere, egoistischere, hartherzigere, selbstsüchtigere, kleinbürgerlichere, imperialistisch gestimmte, vom Imperialismus gekaufte, vom Imperialismus korrumpierte Arbeiter-Aristokratie.«
Der Verfasser des Aufsatzes bemerkt aber in der Polemik gegen seinen Parteifreund Merker selbst, dass diese neue Arbeiteraristokratie nichts mit der in der Sozialdemokratie organisierten Arbeiterschaft zu schaffen habe, sondern er versteht hierunter die Subjekte, die Herr Bata und Herr Arnhold mit seiner Dinta »ausbilden«. Aber das schließt nicht aus, dass versucht werden muss, Gegengewichte gegen den heutigen Zustand zu schaffen, der dazu geführt hat, dass der weitaus größte Teil der Parteimitglieder nicht nur in ihren Mitbestimmungsrechten, sondern auch in ihren Zustimmungsrechten faktisch sehr weitgehend beschnitten sind und dass zwischen den Entscheidungen des Parteiapparats, der weitgehend auch über das Bestehen formeller Koalitionen hinaus mit dem Staatsapparat verbunden ist, und den Massen der Parteianhänger eine Diskrepanz der politischen Auffassungen ent[standen ist]. Die Gegengewichte müssen zum Teil neu geschaffen werden, da die überlieferten Stützpfeiler der Parteidemokratie selbst in jenen organisatorischen Wandlungen ihre Tragfähigkeit mindestens teilweise eingebüßt haben. Der Kreis der leitenden Funktionäre muss überall erweitert werden. Mit Recht hat Schifrin am Beispiel des sozialdemokratischen Parteivorstandes gezeigt, dass für ein solches Maß der Stabilität, wie wir sie in Deutschland bei unserem Funktionärskörper sehen, keinerlei Veranlassung besteht. Wollen wir, dass bis zu der kleinsten Parteiorganisation 6 In: Die kommunistische Internationale, Jg. 11 (1930), H. 29/30, S. 1613-1627. [Grigorij Borisovič Smoljanski: Die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung und das Problem der Arbeiteraristokratie, in: Die kommunistische Internationale, Jg. 11, Heft 29/30, Leningrad 1930, S. 1613-1627.]
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die Parteimitgliedschaft aktiver wird, so müssen wir von der Tradition abkommen, dass ein Amtswechsel grundsätzlich nur dann stattfindet, wenn sich jemand etwas hat zuschulden kommen lassen.7 In den örtlichen Organisationen mindestens bezüglich der nicht besoldeten Ämter, in den Bezirks- und Reichsorganisationen bezüglich aller Ämter muss als Regel eingeführt werden, dass nach Ablauf einer zweimaligen Wahlperiode eine Wiederwahl nur unter der Voraussetzung der Erreichung einer Zweidrittelmehrheit möglich ist. Dies wird innerhalb der Reichsorganisation den Zwang zur Zusammenarbeit der verschiedenen Parteirichtungen begründen und die für unsere Organisation beschämende Tatsache, dass ein Drittel der Parteimitgliedschaft auf politische Vertretung in den entscheidenden Körperschaften der Partei bisher verzichten muss, für die Zukunft unmöglich machen. Bezüglich der örtlichen Organisationen, bei denen es sich meistens gar nicht um politische, sondern um mehr lokale Fragen handelt, wird diese Klausel dazu führen, dass der Kreis der leitenden Funktionäre öfter wechselt und dass die Parteimitgliedschaft das fast irreal gewordene Recht, ihre Vertrauensleute selbst zu wählen, wieder empfängt. Außerdem wird in den lokalen Organisationen, für die Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Partei das Allerwichtigste ist, häufiger vermieden werden, dass ein Vorsitzender, der zuerst mit überwältigender Stimmenmehrheit gewählt wurde, eine zwar immer kleiner werdende Zahl von Stimmen erhält, aber kraft des Prinzips der absoluten Mehrheit solange wiederkehrt, bis er selbst den Vorsitz niederlegt. Dazu muss allerdings ein zweiter, lang umkämpfter Grundsatz endlich eingeführt werden: Der, über dessen Amtsführung beraten und beschlossen werden soll, darf sich an der Beschlussfassung hierüber nicht beteiligen. Diesem Satz ist der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei auf dem Magdeburger Parteitag mit dem Argument entgegengetreten, dass hierdurch zweierlei Recht geschaffen würde. Man wird diesen Vorwurf nicht zu tragisch 7 Es ist hier nicht der Ort, ein Urteil über die literarischen Qualitäten des Buches »Der Bonze« von Felix Riemkasten [Berlin 1930] abzugeben. Es mag sein, dass die Menschen in diesem Buch erdacht, aber nicht erlebt sind; es ist sicher, dass die Kumulation aller negativen Eigenschaften den Helden des Buches zu einer absichtlichen und bösartigen Verzerrung des Funktionärbildes macht; aber niemand wird leugnen können, dass mindestens ein Teil unserer gegenwärtigen Parteimaschinerie in diesem Buch eine zutreffende Darstellung gefunden hat. Dass diese Maschinerie bisher nicht mehr Schaden angerichtet hat, liegt daran, dass es innerhalb der Partei höchst wenige Menschen gibt, die mit dem Hass auf ihre eigene Vergangenheit den Hass gegen diejenigen verbinden, die selbst noch Teil dieser Vergangenheit sind. Meist wird sich gerade das umgekehrte Bild ergeben, und die Expansion des eigenen Leids sich in verstärkter Aktivität gegen den Klassengegner auswirken.
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nehmen dürfen. Oberster Grundsatz für eine sozialistische Partei muss sein, den Willen ihrer Glieder zu erkunden und ihn entscheiden zu lassen. Die Geltendmachung dieses Willens wird dadurch behindert, dass diejenigen, über deren Amtsführung geurteilt werden soll, sich an dem Votum über ihre eigene Amtsführung beteiligen. Man wird sich hüten müssen, an die Organisationsgrundsätze einer Partei juristische Maßstäbe zu legen. Ein Parteitag dient nicht der Rechtsfindung, sondern der Aufstellung politischer Grundsätze; mindestens so groß muss aber die Objektivität des Verfahrens sein, dass die Verbindlichkeit des Resultats für alle Parteimitglieder gleich stark ist. Der gern zitierte Satz, dass ein einmal gefasster Parteitagsbeschluss von allen Parteimitgliedern in gleicher Weise respektiert werden müsse, gleichgültig wie ihre Stellungnahme vorher gewesen sein mag, hat das Vorhandensein eines Minimums an Verfahrensobjektivität zur psychologischen Voraussetzung. Die Aufstellung scharfer Unvereinbarkeitsprinzipien ist für die Partei fürderhin nicht entbehrlich. Es hat sich hier psychologisch schon oft äußerst schädlich ausgewirkt, dass innerhalb der Sphäre der Partei Parteifunktionen und Staatsfunktionen in einer Person sich vereinigt haben. In einer Zeit, in der das Ergebnis der Staatstätigkeit doch höchstens einen Kompromiss zwischen dem Willen der Arbeiterschaft und dem Willen des Bürgertums darstellen kann, wobei die Arbeiterschaft heute anerkanntermaßen der schwächere Teil ist, ist nichts verderblicher, als wenn die Masse der werktätigen Bevölkerung den Willen der Parteiführung mit der tatsächlichen Leistung der Staatsgewalt verwechselt. Wer Bürgermeister ist, kann nicht zugleich örtlicher Parteivorsitzender sein; wer Landtagsabgeordneter und Justizreferent in der Landtagsfraktion ist, kann nicht zugleich Abteilungsvorsteher bei der obersten Justizbehörde sein. Es ist überhaupt erstaunlich, wie wenig in Deutschland bis heute solche Unvereinbarkeitsgrundsätze, die die stärkste Stütze der Demokratie bilden, durchgedrungen sind; ist doch bis heute Herr von Siemens nicht nur der größte Lieferant der Reichsbahn, sondern auch der Vorsitzende ihres Verwaltungsrats. Vom Standpunkt der Beamten aus hat kürzlich Goslar festgestellt, dass es besser sei, wenn ein Beamter nicht zugleich Parlamentsmitglied sei. Sieht man von dem hier nicht interessierenden Beamtenstandpunkt ab, so bleibt für unsere Problemstellung der folgende Satz Goslars höchst aufschlussreich: »Es ist in der Regel nicht anzunehmen, daß Reichs- oder preußische Beamte, die den regierungsoppositionellen Parteien angehören, jemals so weit gehen werden, unter Verletzung ihres Diensteides und unter
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Ausnutzung ihrer internen Amtskenntnisse der Regierung Schwierigkeiten im Parlament zu machen.«8
Meistens wird eine solche Vereinigung von Staats- und korrespondierender Parteifunktion dazu führen, dass der betreffende Würdenträger in seiner Person schon einen Ausgleich zwischen den Forderungen seiner Partei und den Verhältnissen seines Amtes vornimmt und beide dann identifiziert. Sieht man von der, durch das parlamentarische System bedingten, politisch unvermeidlichen Verbindung von Ministerposten und höchstem Parteiamt ab, so sollte in Zukunft eine Kumulation von Beamtenstellungen und Parteifunktionen in einer Person vermieden werden. Eine solche Abstinenz erhöht die Parteiaktivität und befreit von falschen Rücksichtnahmen. Sie dient dadurch der für weite Kreise unserer Mitgliedschaft notwendigen Herausarbeitung des Willens der Partei. Die Zahl der Vorschläge lässt sich wahrscheinlich noch vermehren. Das wichtige ist nur, dass die verantwortlichen Kreise innerhalb der Partei einsehen lernen, dass die organisatorischen Veränderungen der Partei eine Erneuerung der Institutionen notwendig machen, die die Parteidemokratie verbürgen. Wollen wir auch innerhalb unserer Partei den Grundsatz durchführen, den wir immer betonen und den Charles Beard kürzlich folgendermaßen formuliert hat: »History making in a machine age is a mass process rather than an operation managed by a small aristocracy«,9 so müssen wir in eine Reform unserer Parteiorganisation eintreten. Es wäre im Interesse der Gesamtpartei, wenn der sozialdemokratische Parteivorstand Schritte unternehmen würde, um gegen die Stabilisierung des Kapitalismus durch eine Erhöhung der inneren Produktivität unserer Partei anzukämpfen. Er möge eine Kommission einsetzen, die dem nächsten Parteitag bestimmte Reformvorschläge zur Beschlussfassung unterbreitet. Wichtiger als formale Institutionen ist die Erneuerung der Vertrauensbasis, der Bewusstseinsverbindung zwischen Führung und Masse. Der Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, dass der gegenwärtige sozialdemokratische Parteivorstand mehr von Augenblicksakklamationen als von dieser ständigen Bewusstseinsverbindung lebt. Niemand darf übersehen, dass die Aufgaben des Parteivorstands unendlich schwieriger sind als in der Vorkriegszeit, und es wäre deshalb ein billi8 [Hans Goslar: Sollen Beamte Abgeordnete sein?, in: Sozialistische Monatshefte, Jg. 36, Heft 4, Berlin 1930, S. 326-334, Zitat S. 328.] 9 [Vergleiche: Charles Beard: Government by Technologists, in: The New Republic, 18. Juni 1930, Washington D.C., S. 115-120.]
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ger Vergleich, das Bild August Bebels gegen den heutigen Parteivorstand auszuspielen. Aber es ist die geschichtliche Aufgabe der heutigen Führergeneration, Gegenwartswollen und Endziel mit einer Klarheit herauszuarbeiten, die auch heute wiederum der Parteianhängerschaft jene Selbstverständlichkeit ihrer Zugehörigkeit verschafft, die sie ehedem besaß. Aus diesen Gründen war nicht erst die Art des Ergebnisses des letzten Parteitags, sondern bereits die Themenstellung ein kaum wieder gut zu machender Fehler für die Partei. Wer die Einheit der Partei als nicht hoch genug zu schätzendes Gut betrachtet, muss die Fragen so stellen, dass die Antworten verbindlich sind; nichts aber ist schlimmer als eine Antwort, der die Geschichte der Partei selbst schon einmal die verbindliche Kraft abgesprochen hat. Möge deshalb der Parteivorstand der Sozialdemokratie das Vertrauensverhältnis zwischen Parteispitze und Mitgliedschaft als jene heute mehr denn je Erfüllung heischende Aufgabe betrachten, deren Lösung aus einem Parteivorstand erst eine Parteiführung macht.
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[25.] [Rezension:] Justus W. Hedemann: Die Fortschritte des Zivilrechts im 19. Jahrhundert* [1931] Justus Wilhelm Hedemann, Ordentlicher Professor an der Universität Jena. »Die Fortschritte des Zivilrechts im 19. Jahrhundert.« Ein Überblick über die Entfaltung des Privatrechts in Deutschland, Österreich, Frankreich und der Schweiz. II. Teil »Die Entwicklung des Bodenrechts von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart.« I. Hälfte: Das materielle Bodenrecht. 421 Seiten. Carl Heymanns Verlag. Der Verfasser hat sich das großartigste Thema der modernen Rechtsentwicklung, dem die deutsche Rechtswissenschaft seit der Zeit Ferdinand Lassalles und Lorenz von Steins niemals mehr nähergetreten ist, die Entwicklung der Eigentumsverhältnisse im mittel- und westeuropäischen Kulturraum zu einer eingehenden Bearbeitung vorgenommen. Dem inneren gedanklichen Aufbau eines solchen Werkes, wie es der Verfasser im Bewusstsein der bisherigen Vernachlässigung dieses Gebietes unternommen hat, sind die Linien durch die Geschichte selbst vorgeschrieben. Von der Auflösung des Feudalismus, von der Konstituierung des bürgerlichen Eigentums, der auf diesem Gebiet besonders fragwürdigen Durchsetzung des Freiheits- und Gleichheitsprinzips der bürgerlichen Revolution führt das Buch bis zu einer materialreichen Schilderung der geglückten und der – wie der Verfasser meint – missglückten Angriffe auf das Privateigentum in unserer Zeit. Lorenz von Stein, dessen 7. Band seiner Verwaltungslehre freilich keine so dankenswerte und bis in einzelne gehende Bearbeitung des Stoffes darstellt, stand mit seinem Werk vollkommen auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft. Sie erschien als die Krönung und Vollendung eines langen und formenreichen Entwicklungsprozesses. Karl Renner, dessen Buch »Die Rechtsinstitute des Privatrechts« mit Hedemanns Thema viele Berührungspunkte aufweist, umreißt in seiner Einleitung mit nicht misszuverstehender Deutlichkeit die Voraussetzungen jeder Eigentumsuntersuchung: die Gleichzeitigkeit der juristischen und der * [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Politik und Sozialismus, Jg. 8, Heft 5, Berlin 1931, S. 476-478. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 65-66.]
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[25.] Justus W. Hedemann: Die Fortschritte des Zivilrechts [1931]
ökonomischen Betrachtungsweise. Die Begrenztheit der möglichen Ergebnisse der Hedemann‘schen Betrachtungsweise ergeben die eigenen unendlich charakteristischen Sätze seines Vorworts: »Trotz alledem ist es mir nicht gelungen, eine wirklich organische Verschmelzung zwischen Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft in mir lebendig zu machen. Gewiss wird man in diesem Buch an vielen Stellen das ernste Bemühen erkennen, mit einem Brückenbogen auf das andere Ufer hinüber zu gelangen. Aber trotz der Brücke bleiben die beiden Welten geschieden. Schon die Literatur zeigt es. Sehr vieles nationalökonomisches Schrifttum habe ich durchwandert. Es ist immer anders als das juristische, von dem ich herkomme, anders in seiner Wesensart, auch wenn es sich juristische Daten mit Eifer einverleibt.«
Soweit das Buch die Ausprägung des Rechtsinstituts des Privateigentums in der Französischen Revolution schildert, den geschichtlich notwendigen Zusammenhang zwischen der Zerstörung der feudalen Rechtstitel und der Konstituierung des sakrosankten bürgerlichen Eigentums auf dessen Trümmern, zeugt es von einem ausgezeichneten Verständnis für diese rechtshistorischen Zusammenhänge und bietet ein reiches, bisher nie mit solcher Sorgfalt zusammengestelltes Quellenmaterial. Mit vollem Recht hat der Verfasser ausgiebigen Gebrauch von den verschiedenen Arbeiten Aulard’s gemacht, und auch die oft nicht genügend beachtete »Histoire socialiste de la révolution française« von Jean Jaurès empfängt die gebührende Beachtung. Ebenso richtig wird das Verbunden- und Entsprungensein des Enteignungsrechts aus der Privateigentumsvorstellung der Französischen Revolution aufgezeigt, weshalb man sich dann um so mehr wundern muss, dass sich der Verfasser im Fortgang seiner Untersuchung niemals die Frage vorgelegt hat, ob dieses Relationsverhältnis der Revolutionsverfassungen nicht auch eine unübersteigbare Grenze für alle Übertragungsmöglichkeiten des Enteignungsinstituts bildet. Über die Auswirkungen des bürgerlichen Eigentums, die der Verfasser freilich mit solchen unpräzisen, der Gefahr von Missdeutungen ausgesetzten Wendungen wie »Bodenegoismus« bezeichnet, enthält das Buch in seinem erbrechtlichen Kapitel wertvolle Beobachtungen und Zusammenstellungen. Nur vermisst man hier wie im Fortgang der Erörterungen jede Erwähnung oder Auseinandersetzung mit Lassalles »System der erworbenen Rechte«, dessen Name überhaupt nur einmal anmerkungsweise auftaucht. Hätte der Verfasser, anstatt fragwürdige Unterscheidungen zwischen staatssozialistischen und marxistischen, genossenschaftlichen, bodenreformerischen und gar noch rechtswissenschaftlichen Eigentumstheorien zu versuchen, sich nur einmal die Frage vorgelegt, warum wohl Lassalle
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und Lorenz von Stein bei der Stoffbehandlung ein so entscheidendes Gewicht auf die methodische Seite ihres Vorgehens gelegt haben, so wäre der zeitgenössische Teil seines Buches sicher konzentrierter im Aufbau und klarer in der eigenen gedanklichen Haltung geworden. Zwar ist dem Verfasser zu konzedieren, dass die heutige Zeit nicht in der Lage ist, ihm ein der gedanklichen Formkraft der Hegel‘schen Geschichtsphilosophie nur annähernd entsprechendes System zur Verfügung zu stellen. Das entbindet jedoch nicht von methodischer Besinnung, sondern verpflichtet umso stärker zu ihr. Dass der Verfasser in der Geschichte des Bodeneigentums und den damit zusammenhängenden Enteignungspartien überhaupt die gesamte Sozialisierung ausführlich behandelt hat, erscheint mir sehr bedenklich. Gewiss hat die Weimarer Verfassung in nicht ganz glücklicher Redaktion in ihrem Sozialisierungsartikel (156) auf den Enteignungsartikel (153) Bezug genommen; das ändert aber nichts daran, dass die Grundsätze und Voraussetzungen des Enteignungsinstituts mit der Frage der Sozialisierung grundsätzlich nichts zu tun haben. Deshalb sind auch die diesbezüglichen Bemerkungen des Verfassers, seine Stellungnahme zur Entschädigungsfrage und zum ordentlichen Rechtsweg verfehlt, weil sie die soziale Funktionsverschiedenheit des Bodens und des Unternehmens, welche eine gemeinsame Behandlung eigentlich ausschließt, übersehen. In der Linie dieser methodischen Irrtümer liegt auch die Behandlung der rechtswissenschaftlichen Eigentumstheorie. Der Verfasser hat ein richtiges Gefühl für die Unterlassungssünden der dogmatischen Privatrechtswissenschaft, wenn sich dieses auch hinter Lobbezeugungen für ihren prominentesten Vertreter verbirgt. Von diesem Standpunkt aus versucht der Verfasser eine Ehrenrettung seines Wissenschaftszweiges unter Hinweis auf die Eigentumstheorien Gierkes und Iherings. Er bemerkt dabei anscheinend nicht, dass die rechtswissenschaftlichen Eigentumstheorien sich, mit der einen Ausnahme Anton Mengers, höchstens auf die juristische Erklärung von immanenten Beschränkungsmöglichkeiten vorhandenen Eigentums unter der schiefen Frontstellung germanistisch-romanistisch beziehen, alle anderen Fragen aber bisher kaum je in den Kreis ihrer Erörterungen gezogen haben. Symptomatisch für den Verfasser und sein Bemühen, eine eigene Stellungnahme, leider auch in den allerdringlichsten methodischen Fragen, auszuschalten, ist der Ausklang des Buches. Er wendet sich nicht den gewaltigen Transformationen des Jahrhunderts zu, sondern statuiert in quietistischer Haltung unter einer anscheinend missverstehenden Beru-
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fung auf die moderne Staatstheorie die Abhängigkeit des vergänglichen Menschen von dem bleibenden Element der Erde. Nur angemerkt sei die merkwürdige Gegenüberstellung auf Seite 331, wo in einem Atemzug Otto Bauer der Beruf eines Politikers, Prälat Seipel der eines Staatsmannes zugedacht wird. Meint der Verfasser, dass es im 20. Jahrhundert einen berufstechnischen Unterschied zwischen Politiker und Staatsmann gibt, so befindet er sich in einem soziologischen Irrtum. Will er damit aber einer Wertung Ausdruck geben, so ist diese, ebenso wie die völlig vom Zaun gebrochene Attacke auf die erwerbswirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand (Seite 357) nur dazu angetan, den wissenschaftlichen Charakter des Buches, die wirklich entsagungsvolle historische Forschung auf einem Gebiet von eminent sozialer Bedeutung herabzumindern.
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[26.] [Rezension:] Curzio Malaparte: Der Staatsstreich* [1932] Curzio Malaparte. »Der Staatsstreich.« E. P. Tal u. Co, Wien-Leipzig. 1932. 245 S. 5,25 Mk. Ein Buch über die Technik des Staatsstreichs, das sich zum Ziel setzt, der Erhaltung der überkommenen europäischen Herrschaftsformen zu dienen, hat unbestreitbar den Vorzug der Aktualität. Ein Verfasser, der sich mit einer Technik dieser Art beschäftigen will, wird einer Stellungnahme zu dem Begründer dieser Technik, Niccolo Machiavelli, nicht entraten können. Malaparte umgeht dies jedoch mit einer schmeichlerischen Verbeugung vor der westeuropäischen Demokratie; er bemerkt lediglich, dass die Zeiten, denen die Argumente und Lehren des »Principe« entstammen, eine ungleich größere Dekadenz der öffentlichen und privaten Freiheit, der Würde und der menschlichen Achtung gezeitigt hätten als die unserige. Im Übrigen folgt er aber den Spuren des Machiavell, indem er sich tatsächlich auf eine reine Technik der Herrschaftserhaltung und Herrschaftserringung beschränkt. Hierin liegt der methodische Fehler dieses eleganten, geistreichen und an gut getroffenen Beobachtungen reichen Buches. Denn Ausgangspunkt der politischen Lehren und Betrachtungen des Florentiners war, worauf Wilhelm Dilthey durchaus zutreffend hingewiesen hat,1 die Annahme der Gleichförmigkeit der Menschennatur. Für Machiavell entstand in der Tat das Zentralproblem der politischen Wissenschaft in einer Methodenlehre der Herrschaftsgewinnung und -erhaltung. Für ihn gilt nur die Aufgabe, wie er einmal in seiner Einleitung zu den »Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio« selbst gesagt hat, den Umkreis neu gewonnener historischer Erfahrung nutzbar zu machen. Ein umwälzendes Ereignis war aber diese technische Betrachtung im beginnenden 16. Jahrhindert eben gerade auf Grund ihrer vor* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Politik, Jg. 9, Heft 1, Berlin 1932, S. 80-83. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 79-80.] 1 Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert, Schriften III, S. 29. [Wilhelm Dilthey: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation: Abhandlungen zur Geschichte der Philosophie und Religion, Leipzig 1921, S. 29.]
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aussetzungslosen Technizität, ihres bewussten Verzichtes auf eine am summum bonum des Thomismus orientierte Ethisierung politischer Vorgänge. Die Machiavell‘sche Grundlage der Staatsgewinnung und -erhaltung als technische Herrschaftslehre, gültig im Bereich der italienischen Kunststaaten des 15. Jahrhunderts, hat der Verfasser voll und ganz beibehalten. Die Umstände, die zum Gelingen eines Staatsstreichs führen, sind für ihn nicht notwendig sozialer und politischer Natur und hängen nicht von der allgemeinen Lage des Landes ab. Hier erheben sich entscheidende Bedenken. Gibt es für die Staatenwelt des 20. Jahrhunderts einen einheitlichen Begriff des Staatsstreichs, der auf die russische Revolution ebenso anwendbar ist wie auf den Wechsel einer mittelamerikanischen Militärjunta? Kann die vom Verfasser mehrfach gestellte und häufig unbeantwortet gelassene Frage: Warum ist dieser Staatsstreich geglückt? oder die ungleich instruktivere: Warum hat jener Staatsstreich nicht stattgefunden, obwohl alle vom Verfasser entwickelten technischen Voraussetzungen vorgelegen haben, ohne genaue Kenntnis der besonderen historischen und politischen Voraussetzungen des einzelnen Landes hinreichend gelöst werden? Ist dies nicht möglich, so gibt es keine allgemeine und überall anwendbare Technik des Staatsstreichs. Die vom Verfasser richtig gesehenen Fehler der Kapp-Putschisten zeigen ebenso wie die Generalstreikantwort der Arbeiterschaft lediglich, welche Punkte für jedwede Herrschaft im industriellen Massenstaat ausschlaggebend sind, ohne dass daraus für die Richtigkeit genereller Staatsstreichtechnik etwas gewonnen wäre. Kann man den Staatsstreich als Akt politischer Herrschaftsbeseitigung und Herrschaftsgewinnung überhaupt als reine Technik von dem sozialen Prozess der Revolution hinreichend ablösen? Kann man den 18. Brumaire ohne die réaction thermidorienne verstehen? Kann man, worauf neuerdings Th. Geiger hingewiesen hat,2 den letzten Sturz der Militärjunta in San Salvador, einen technischen Staatsstreich kat exochen, vom Gesamtprozess der Umbildung der Kolonialgebiete ablösen? In je geringerem Maße dies der Fall ist, desto mehr nimmt die Bedeutung des Staatsstreichs als einmaligen historischen Aktes im Prozess der Entwicklung und Selbstbehauptung der revolutionären Ordnung ab (man denke an das Verhältnis des russischen Oktobers 1917 zu der ungleich wichtigeren Behauptung und Konsolidierung der revolutionä2 Artikel: Revolution im Handwörterbuch der Soziologie S. 515. [Theodor Geiger: Revolution, in: Alfred Vierkandt (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 515.]
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ren Ordnung in den Interventionskriegen), desto aussichtsloser ist aber auch der Versuch, eine allgemeine Staatsstreichtechnik herauszustellen. Wenn sich der Verfasser für die Möglichkeit eines in jedem Lande durch einen kleinen entschlossenen Trupp durchführbaren Staatsstreichs auf Pius XI. und Leo Trotzki beruft, so erscheint dies nicht durchschlagend. Die zitierten Äußerungen des ehemaligen Monsignore Ratti, Gesandten des apostolischen Stuhls in Warschau, hatten keine grundsätzliche Bedeutung; sie entsprangen lediglich dem Bedürfnis, das für den Fall eines bolschewistischen Einmarsches in Warschau vorgesehene Verbleiben des Nuntius zwecks Anknüpfung diplomatischer Beziehungen mit den Russen vor dem übrigen diplomatischen Korps zu legitimieren. Leo Trotzki, dessen Taktik sowohl während des Oktoberumsturzes als auch während seines Versuchs, Stalin im Jahre 1927 zu stürzen, der Verfasser eingehend untersucht, wird von ihm zu Unrecht als Kronzeuge in Anspruch genommen. Trotzkis These von der permanenten Revolution hat mit der des Verfassers nichts gemein, und die nachdenklichen und lesenswerten Sätze, die dieser Praktiker des Staatsstreichs dem Thema der Gewalt widmet,3 verdienen vor den Ausführungen des Theoretikers Malaparte den Vorzug. Zu den besten Teilen des Buches gehören die Kapitel über den russischpolnischen Krieg und den faschistischen Staatsstreich, die der Verfasser selbst, sei es als Zuschauer, sei es als Beteiligter miterlebt hat. In beiden Fällen handelt es sich in diesem Zusammenhang um die Formulierung eines negativen Staatsstreichproblems, das der Verfasser klar sieht, aber von seinem den technischen Vorgängen zugewandten Denken aus nicht beantworten kann. Dass im Frühjahr 1920 eine Erhebung der proletarischen Bevölkerung Warschaus die äußerst bedrohte polnische Stellung unhaltbar gemacht und damit den Geschicken dieses für die gesamteuropäische Entwicklung ausschlaggebenden Krieges einen für die Bolschewisten erfolgreichen Ausgang gesichert hätte, steht fest. Ebenso haben wir keinen Grund zu zweifeln, dass, wie uns der Verfasser aus eigener Kenntnis versichert, in den kritischen Tagen in Warschau ein Staatsstreich durch einen kleinen Trupp entschlossener Männer fast risikolos hätte ausgeführt werden können. Wenn man nicht die Prozession, von der der Verfasser anschaulich berichtet, zu Hilfe rufen will, wird man die erstaunliche Ruhe in Warschau wohl darauf zurückführen müssen, dass hier die nationale Bedeutung des russisch-polnischen Krieges kurz nach der endgültigen Befreiung Polens vom zaristischen Regime auch im Denken der Arbeiterschichten eine erheblichere 3 Leo Trotzki, Mein Leben[, Berlin 1929,] S. 513.
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Rolle einnahm als die ungewissen sozialen Möglichkeiten einer neuen russischen Herrschaft. Die sehr fesselnd geschriebene Geschichte des faschistischen Staatsstreichs beantwortet gleichfalls nicht die Frage, warum nicht die proletarische Aktion zu einer Eroberung der Staatsmacht geführt hat.4 Seine besondere Bedeutung für die deutschen Leser erlangt das interessante und auch dort, wo es zum Widerspruch herausfordert, lesenswerte Buch durch sein Schlusskapitel: Hitler, un dictateur manqué. Dieses glänzend geschriebene Kapitel, dessen literarische und zeitgeschichtliche Bedeutung man lediglich mit der »Apologie pour Lénine« in der vierten Auflage von Georges Sorels »Réflexions sur la violence«5 vergleichen kann, ist die schärfste Abrechnung, die mit literarischen Mitteln erfolgen konnte. Der Verfasser legt Wert darauf, jeden Vergleich mit Mussolini zurückzuweisen. Ob seine These, dass Mussolini niemals gegen den Arbeiter, sondern immer nur gegen die organisierte Arbeiterschaft gekämpft hat, richtig ist, mag unerörtert bleiben. Dass aber Hitlers Armee keinen Kampf gegen die organisierte Arbeiterschaft, sondern eine sinnlose Hetzjagd gegen den einzelnen Arbeiter als solchen betreibt, ist eine Feststellung, die für uns umso wichtiger ist, als sie hier von einem völlig unbeteiligten Ausländer erfolgt. Die meisterhafte Skizze über die Art des Hitler‘schen Legalitätsdenkens, der Frucht der Furcht, nicht der Überzeugung, wird ebenso Zustimmung finden wie die Ansicht des Verfassers, dass es gegenüber einer Diktatur niemals ein bloßes Hinnehmen, sondern lediglich Unterwerfung gibt. Dem Satze des unparteiischen Beobachters: »Die Kräfte des Proletariats sind noch immer intakt. Diese ungeheure Armee von Arbeitern, der einzige in Betracht kommende Feind der Nationalsozialisten, ist stärker als jemals und ständig bereit, die Freiheit des deutschen Volkes zu verteidigen!«,6
haben wir nichts hinzuzufügen. 4 Hierzu findet man neuerdings einen plausiblen Erklärungsversuch bei von Beckerath, Artikel: Faschismus im Handwörterbuch der Soziologie S. 132, der auf die Bedeutung der breiten Bauern- und Pächterschichten Mittelitaliens hinweist, die sich als trennender Keil zwischen die Fabrikproletarier Oberitaliens und die Agrarproletarier des Südens schoben. [Erwin von Beckerath: Faschismus, in: Alfred Vierkandt (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 132.] 5 [Georges Sorel: Réflexions sur la violence, 4. Auflage, Paris 1926.] 6 [Curzio Malaparte: Technique du coup d’état, Paris 1931, p. 280: »Les forces du prolétariat sont encore intactes: cette formidable armée de travailleurs, le seul ennemi redoutable de la révolution national-socialiste, est plus forte que jamais, debout, intacte, prête à defendre jusqu’au bout la liberté du peuple allemand.«]
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[27.] [Rezension:] Georg Schwarzenberger: Die KreugerAnleihen* [1932] Georg Schwarzenberger. »Die Kreuger-Anleihen« Ein Beitrag zur Auslegung der internationalen Anleihe- und Monopolverträge sowie zur Lehre vom Staatsbankrott. Duncker und Humblot, München und Leipzig. 1931. 69 Seiten. Das Interesse der deutschen Völkerrechtswissenschaft hat sich bisher nur in sehr geringem Maße der juristischen Qualifizierung von Beziehungen zwischen Staaten und ausländischen Kapitalgesellschaften zugewandt. Es schien eine Zeitlang, als ob die überreichen Fragenkomplexe, die sich aus dem Wandel der kapitalistischen Wirtschaftsform, aus der internationalen Herrschaftsstellung mancher Unternehmungen ergeben, für die Völkerrechtswissenschaft kein neues Durchdenken ihrer Problemstellung erforderlich machen würden. Es ist deshalb das Unternehmen an sich schon verdienstlich, dass hier einer der Verträge, der als Typ der modernen Vereinbarungen zwischen kreditsuchenden Staaten und ausländischen Gesellschaften anzusehen ist, einer genauen völkerrechtlichen Betrachtung unterzogen wird. Bekanntlich verbinden die verschiedenen Verträge Kreugers alle die Kreditgewährung mit dem Erhalt des Zündholzmonopols in dem betreffenden Lande. Aus der sorgfältigen Aufstellung des Verfassers in seinem Anfangskapitel über die Typen der Kreuger-Verträge ergibt sich jedoch, dass die einzelnen Verträge voneinander stark in der Frage der Kreuger jeweils gewährten Sicherheit differieren. Der Schwerpunkt der Studie, der das deutsche Kreuger-Abkommen im Wortlaut beigefügt ist, liegt nicht in der Aufhellung juristischer Zweifelsfragen, die sich an den Vertrag anknüpfen können, trotzdem auch diese eingehend berücksichtigt werden. Denn wie man auch die Anleihegewährung und Konzessionserteilung im Verhältnis von unabhängigen Staaten und ausländischen Kapitalgesellschaften rechtlich qualifizieren will, immer wieder wird man auf das Zentralproblem »Souverä* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Politik, Jg. 9, Heft 2, Berlin 1932, S. 175-177. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 78-79.]
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nität und Vertragsbindung« stoßen. Der Verfasser untersucht, ob es sich hier um völker- oder landesrechtliche Verträge handelt, und gelangt zu dem richtigen, auch von dem Haager Gericht vertretenen Ergebnis, dass es sich hier nur um dem Landesrecht unterliegende Verträge handeln kann. Freilich unterlässt es der Verfasser, die praktisch entscheidende Folgerung aus dieser Feststellung zu ziehen, wenn er ausdrücklich gegenüber landesrechtlichen Gesetzesänderungen die Anwendbarkeit von Enteignungsgrundsätzen annimmt und hieraus Entschädigungsverpflichtungen ableitet. Die Frage, wieweit kann ein Staat sich und, soweit sein Landesrecht zur Anwendung kommt, auch seine Bürger von Vertragsverpflichtungen gegenüber ausländischen Gläubigern durch gesetzliche Bestimmungen genereller Art befreien (Zinssenkung, Moratorium), dürfte eine der wichtigsten Fragen sein, die gegenwärtig der Völkerrechtswissenschaft zur Beantwortung aufgegeben sind. Es gibt heute viele Propagandisten eines angeblich allgemeinen Völkerrechtssatzes von dem unbedingten Schutze wohlerworbener Rechte von Ausländern gegenüber dem Gesetzgeber. Die in dieser Hinsicht immer rührige International Law Association will sich sogar nicht einmal mehr mit der Verpflichtung der Gleichbehandlung von In- und Ausländern begnügen. Sie will einen internationalen Standard von Recht und Gerechtigkeit, eine Art kapitalistisches Zivilisationsminimum, als Eintrittskarte für die Völkerrechtsgemeinschaft festgelegt haben. Ein solcher Völkerrechtssatz besteht aber, wie erst kürzlich wieder Cavaglieri, eine anerkannte Autorität auf dem Gebiete des Völkerrechts, dargelegt hat,1 keineswegs. Schwarzenberger, der die zentrale Bedeutung dieser Fragen wohl kennt, will sie in dem interessantesten Kapitel seiner Schrift »Rechtsverhältnisse bei Untergang des Schuldnerstaates« einer neuartigen Lösung zuführen. Wohl im Anschluss an Korovine stellt er eine Lehre von den verschiedenen Völkerrechtskreisen auf, von denen nach seiner Meinung heute der bürgerlich rechtsstaatliche und der sozialistische mit seinem russischen Prototyp in Betracht kommen. Dass es – historisch gesehen – so viel Völkerrechtskreise gegeben hat, als verschiedenartige Auffassungen von der Stellung des Staates in der äußeren Welt tatsächlich sich durchzusetzen vermochten,2 ist nicht bestreitbar. Eine andere Frage aber ist es, ob man den Besitz an einheit1 La notion des droits acquis et son application en droit international public in Révue générale de droit international public 38. Jg. Nr. 3. [Arrigo Cavaglieri: La notion des Droits acquis et son application en droit international public, in: Révue générale de Droit international public, tome 38, série 3, Paris 1931, p. 257-296.] 2 Vergleiche hierzu die interessanten Bemerkungen von A. Vagts über die chinesische Umweltvorstellung in Europäische Gespräche, Jg. 9 Heft 5/6 Seite 4 ff.
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lichen völkerrechtlichen Vorstellungen, soweit er im Laufe der Zeit Allgemeingut aller politisch als Staaten existierenden Gebilde geworden ist, aufgeben und je nach dem Maß des sozialen Wandels der inneren Staatsstruktur – die herkömmlichen Unterscheidungen zwischen »change de gouvernement« und »change de régime« reichen da nicht aus – die Zurechnung zu einem bürgerlich-rechtsstaatlichen und einem sozialistischen Völkerrechtskreis vornehmen soll. Die Schwierigkeiten der Abgrenzung, die Schwarzenberger an Hand des ungarisch-rumänischen Optantenstreites selbst aufzeigt, will er damit lösen, dass er dem ausdrücklich erklärten Willen, weiter dem bürgerlich-rechtsstaatlichen Völkerrechtskreis anzugehören, bei der Zurechnung zu einem Normensystem größere Bedeutung zumisst als der automatischen Dynamik der Strukturveränderungen. Die Schwierigkeiten, die jedem Völkerrechtssystem in der gegenwärtigen Periode anhaften und die man, da es sich um die Schwierigkeiten der sozialen Ordnung der Welt und ihres Gefälles von Staat zu Staat handelt, schwerlich mit den Mitteln des Völkerrechts lösen kann, sind unverkennbar. Auch die neue Lehre von den Völkerrechtskreisen, bei Schwarzenberger besonders ausgeprägt durch einen unverkennbar voluntaristischen Zug, wird dieser Schwierigkeiten nicht Herr werden. Eher wird man noch, falls man die erworbenen Rechte weiter dem Gesetzgeber gegenüber als sakrosankt ansieht, zwei neue, umfassendere Völkerrechtskreise bilden müssen, den der Schuldner- und den der Gläubigerstaaten. Demgegenüber scheint es vernünftiger, von dem für alle geltenden Völkerrecht auszugehen und dabei in weiser Selbstbeschränkung der Grenzen jeder Jurisprudenz, zumal aber des Völkerrechts, als Völkerrechtssätze nur diejenigen anzusehen, die alle irgendwie in Betracht kommenden Staaten der Erde ohne Gefährdung ihres sozialen Status anzuerkennen in der Lage sind. Sicherlich nicht gehört zu diesen Sätzen der der Unverletzlichkeit wohlerworbener Rechte gegenüber dem Gesetzgeber. Mag man in diesem Punkte auch anderer Meinung als der Verfasser sein, so hat er doch das Verdienst, ein Kernproblem des Völkerrechts in unserer Zeit in der notwendigen Schärfe herausgearbeitet und selbständig durchdacht zu haben.
[Alfred Vagts: Der Krieg: Ursachen und Anlässe, Ziele und Folgen, in: Europäische Gespräche, Jg. 9, Heft 5, Berlin 1931, S. 234-252.]
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[28.] Legalität und Legitimität* [1932] Jedes soziale System besitzt ein Bedürfnis nach einer gewissen Legitimierung und trachtet danach, wie dies Max Weber einmal ausgedrückt hat,1 sich aus einem Bestand faktischer Machtverhältnisse in einen Kosmos erworbener Rechte zu verwandeln. Von diesem jeder Sozialordnung innewohnenden Drang zur rechtlichen Stabilisierung soll im Folgenden nicht die Rede sein. Denn der Legitimierungsanspruch der Sozialordnung und die geltende Rechtsordnung treten dabei nicht in Widerspruch, im Gegenteil, die Legitimierung der jeweiligen sozialen Macht vollzieht sich in den Formen der vorhandenen Rechtsordnung. Es gehört gerade zu dem spezifischen Wesen jeder nicht mehr feudalen, nicht mehr traditionsgebundenen, rational gewordenen Rechtsordnung, dass sie dem Gegner des gerade geltenden Sozialsystems eine gewisse Chance auf mindestens formale Gleichbehandlung einräumt dadurch, dass sie das vorhandene Recht ohne Ansehen der Person anwendet. Für die Gewährleistung dieser Chance ist aber eine notwendige Voraussetzung die Trennung von gesetzgebender und regierender Gewalt, wie sie in allen Ländern Europas in mehr oder minder vollkommener Weise im 19. Jahrhundert durchgeführt worden ist. In dem Augenblick, in dem diese Trennung für eine ungewisse Zeit von ungewisser Dauer aufgehoben wird, wie es in Deutschland seit einiger Zeit der Fall ist, schwindet jene formale Gleichheitschance. Nunmehr versucht die gewaltenvereinende Regierung, sich eine über den formalen Parlamentskonsens hinausgehende Legitimierung zu verschaffen, indem sie die Einbuße einer unzweifelhaften Rechtsgrundlage durch stärkere Bindung und Verpflichtung des Volksganzen wettzumachen sucht. Für diese Bindung beruft sie sich auf ihre, insbesondere aber auf des Reichspräsidenten Autorität, der sie eine nach Ziel und Richtung verpflichtende Wirkung auf alle Volksteile beimisst. Ein solches auf ein Legitimitätsprinzip gestütztes Autoritätsverlangen ist schon einmal im Anfang des letzten Jahrhunderts als Reaktion des Absolutismus gegen das revolutionäre Bürgertum formuliert worden. Besser noch als Tal* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Politik, Jg. 9, Heft 7, Berlin 1932, S. 8-20. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 84-91.] 1 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft II, [Tübingen 1925, S.] 648.
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leyrand hat ein namenloser französischer Journalist im Jahre 1814, in der Zeit des Wiener Kongresses, der Eigenart dieses Prinzips Ausdruck verliehen: »Un général heureux, qui par hasard disposerait d’une armée, n’est pour cela même avec la plus belle conduite une puissance, tandis qu’un roi légitime reste puissance, même dans l’exil, même dans les fers.«2 Die als undiskutabel hingenommene Macht sakralen Ursprungs hat hier einen ewigen Rechtscharakter. Aber seit das monarchische Legitimitätsprinzip der parlamentarischen Monarchie Platz gemacht hat, ist die Legitimität lediglich noch ein Symbol für die durch die parlamentarische Regierung repräsentierte National- und Sozialordnung. Heute jedoch bahnt sich in Deutschland die Herrschaft einer neuen legitimen Macht an. Die Schwierigkeiten einer klassengespaltenen Demokratie haben die Machtstellung des Berufsbeamtentums im gegenwärtigen Augenblick der Ohnmacht des Gesetzgebungsstaates zu einer Schlüsselstellung schlechthin gemacht. Was ist natürlicher, als dass die Bürokratie die Gunst des geschichtlichen Augenblicks zu nutzen versucht? Sie trachtet danach, ihre angeblich klassenjenseitige Stellung von dem Wechselspiel der Klassenverhältnisse unabhängig zu gestalten und sich als unmittelbarer, von jeder sozialen und politischen Konstellation unabhängiger Repräsentant der nationalen Ordnung zu etablieren. Die Legitimation ihrer Herrschaft wird in dem besonderen Zusammenhang von Beamtentum und Staat gesucht; die Vermittlung der demokratischen Volkssouveränität glaubt man dabei entbehren zu können. Wir glauben nicht, dass jene einmalige Situation, das Zusammentreffen der ungeahnten Zunahme und Übernahme staatlicher Funktionen mit einer relativen Ohnmacht der sozialen Massenverbände, auf die Dauer der Herrschaft einer bürokratischen Aristokratie den Weg ebnen kann. Denn ebenso wenig wie der legitimen Monarchie die Wahl zwischen der Stellung als Haupt einer seigneuralen Aristokratie und der herabgeminderten Funktion im bürgerlichen Konstitutionalismus erspart blieb, wird die verselbständigte Bürokratie ihre neutrale Klassenjenseitigkeit zwischen Bürgertum und Proletariat auf die Dauer zu einer unabhängigen staatlichen Herrschaft ausbauen können. Die Gewissheit, dass es sich hier nur um vorübergehende Erscheinungen handelt, entbindet uns nicht von der Pflicht, zu verfolgen, wie sich der
2 Ein erfolgreicher General, der zufällig über eine Armee verfügt, ist selbst mit der besten Haltung noch keine Macht, während ein legitimer König, selbst im Exil, selbst im Kerker, die Macht bleibt.
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Gesetzgebungsstaat auflöst3 und wie sich das Zwischenstadium der allumfassenden Herrschaft der verwaltenden Bürokratie vorläufig verfestigt.
II Die Staatstheorie des 19. Jahrhunderts kennt das Widerstandsrecht, das noch die Diskussion der politischen Oppositionsgebilde im Absolutismus beherrschte, nicht mehr. Die absorptive Gewalt der demokratischen Ideologie hat gleichermaßen wie die konstitutionelle Praxis dazu beigetragen, das Widerstandsrecht, das Produkt einer noch nicht rationalisierten Gesellschaftsordnung, auszuschalten; ja, man kann sogar so weit gehen, den modernen Staat durch das Fehlen des Widerstandsrechts, durch dessen Degradierung zu einem Katalog konstitutioneller Freiheitsrechte zu kennzeichnen. An Stelle eines unbestimmbaren Widerstandsrechts, dessen Stärke allein seine Verankerung im Volksbewusstsein und das heißt gleichzeitig seine substantielle Grenzenlosigkeit war, trat der rationalisierte Gesetzesbegriff. Es ist keineswegs überflüssig, heute daran zu erinnern, dass der Begriff der Legalität, der gegenwärtig einem sinnentleerenden Auflösungsprozess unterworfen scheint, seine Entstehung und Bedeutung nur seinem engen Zusammenhang mit dem Gesetzesbegriff des 19. Jahrhunderts verdankt. Dem Begriff der Legalität kommt eine bestimmte Sicherungsfunktion zu, die das Widerstandsrecht zwar nicht fortsetzen, die es aber überflüssig machen soll. Légalité constitutionelle in der Verfassungssprache des Kontinents ebenso wie rule of law für den angelsächsischen Rechtskreis bezeichnen die notwendige Übereinstimmung jeglichen Regierungs- oder Verwaltungsaktes mit den Gesetzen des jeweiligen Landes. Der Rationalisierung des Gesetzesbegriffes entspricht die Formalisierung des Legalitätsbegriffes, mit dessen Hilfe dann auch eine wirksamere Kontrolle der Verwaltung durchgeführt werden kann als mit Hilfe der deutschen Rechtsstaatsvorstellung, die den historischen Geschehensprozess immer wieder zu verarbeiten sucht. Es ist kein Zufall, dass gerade in Frankreich der Begriff der Legalität noch in allerjüngster Zeit unter scharfer Ablehnung eines selbständigen 3 Vergleiche dazu die Ausführungen von C. Schmitt in Reichsverwaltungsblatt 1932, S. 161. [Carl Schmitt: Grundsätzliches zur heutigen Notverordnungspraxis, in: Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt, Jg. 53, Heft 9, Berlin 1932, S. 161-165.]
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»Imperiums« der Verwaltungsorgane durch die Zurückführung auf die jeder Verwaltungsnorm zugrunde liegende und sie deckende Gesetzesnorm bestimmt worden ist.4 Denn die Verfassungsgesetze von Frankreich, die sogenannten lois organiques von 1875, haben, da sie nur Organisationsnormen und keine Gesetzesbestimmungen materieller Art enthalten, den Formalisierungsprozess, der die Grundlage des Legalitätsbegriffs bildet, weitgehend gefördert. Sie haben der Souveränität des demokratischen Parlaments lediglich Kompetenzschranken und keine materiellen Hindernisse gesetzt. Dort, wo man der Berufung auf das Gesetz eine Berufung auf die Verfassung entgegenstellen kann, und damit die Problematik einer »zweistufigen Legalität« vorliegt, führt dies leicht dazu, dass die Bürokratie einen eigenen, an ihrer Verfassungsvorstellung orientierten Legalitätsbegriff entwickelt. Hier aber kommt neben dem Satz, dass die Verwaltung dem Gesetz entsprechen müsse, dem weiteren Satz, dass das Gesetz der Verfassung entsprechen müsse, wegen des rein formalen Charakters der Verfassungsgesetze keine Bedeutung zu. Folgerichtig hat daher die französische Praxis die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze nie zugelassen und damit den Begriff der Legalität in den Rahmen eines einfachen Gesetzes eingespannt; sie hat ihm damit jene erhöhte Verwendungsfähigkeit gesichert, die er bei uns bis zu einem gewissen Grade immer entbehrt. Denn die reiche Fülle materiellrechtlicher Bestimmungen mit oft unendlich deutungsfähigem Inhalt, die der zweite Hauptteil der Weimarer Verfassung in sich birgt, muss in einem Land mit so intensiver geistiger Bewirtschaftung aller Interessen sehr oft zu dem Versuch führen, gegenüber dem Gesetzgeber an die Verfassung zu appellieren. Die Präzision des technischen Einzelgesetzes gerät dabei unter der Hand richterlicher Bürokratien gegenüber dem ausdeutungsfähigen Verfassungsrahmen oft ins Hintertreffen, so dass in vielen Fällen die richterliche Bürokratie schon vor der Notverordnungspraxis zur Siegelbewahrerin jener zweistufigen Legalität wurde, die die Formalisierung und Technisierung des Legalitätsbegriffs in Deutschland erschwerte. Immerhin, ein »Pluralismus der Legalitätsbegriffe«, von dem Carl Schmitt spricht,5 hat noch nicht Platz gegriffen, da auch hier die Ausrichtung des Legalitätsbegriffs am Gesetz vorhanden ist, wenn auch durch die Konfrontierung von Gesetz und Verfassung richterlichen Usurpationsgelüsten ein weiter Spielraum gewährt wird.
4 Carré de Malberg, La Loi, expression de la volonté générale, Paris 1931. 5 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931, S. 91.
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Die Prüfung der Legalität der Handlungsweise eines Verwaltungsorgans hat aber jedenfalls zur Voraussetzung, dass der Maßstab dieser Tätigkeit nicht unmittelbar oder mittelbar vom Belieben jenes Verwaltungsorgans geliefert wird. Gesetzliche Spezialermächtigungen an die Verwaltung lassen die Frage der Legalität unberührt. Die gesetzgebende Körperschaft kann ihre Zuständigkeit übertragen, wenn sie hierbei die Grenzen und den Umfang der Übertragung genau bestimmt. Eine solche Übertragung wird von der Verfassung selbst in Art. 48 angeordnet, genauer gesagt, die Verfassung ordnet sie nicht nur an, sie nimmt sie für einen bestimmten Fall vorweg und schaltet das Parlament dabei erst in einen späteren Verfahrensabschnitt ein. Im Falle einer erheblichen Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung gibt die Verfassung dem Reichspräsidenten eine solche Spezialermächtigung. Nur der Charakter als Spezialermächtigung ist es, der das System der Legalität nicht aufhebt, sondern nur in einzelnen, allerdings in das pflichtmäßige Ermessen des Reichspräsidenten gestellten, Fällen teilweise außer Anwendung setzt. Die Legalität besteht hier in dem Vorhandensein einer die Verwaltungspraxis deckenden Gesetzesnorm; die Legalitätsprüfung beschränkt sich im Fall des Art. 48 auf die Feststellung, dass bei der Ersetzung der gesetzlichen Norm durch das Verordnungsrecht des Reichspräsidenten die in Art. 48 gezogenen Grenzen nicht überschritten worden sind. Die Notwendigkeit der einzelnen Maßnahmen bleibt nach der Rechtsprechung dem Ermessen des Reichspräsidenten überlassen. Um aber das Wesen der Spezialermächtigung aufrechtzuerhalten, muss die Einstweiligkeit der Maßnahmen streng gewahrt bleiben. In dem Augenblick, in dem das gesetzesvertretende Notverordnungsrecht den Maßnahmencharakter überschreitet, von der Einstweiligkeit zur »unbestimmten Zeit von voraussichtlich längerer Dauer« übergeht,6 kann es mit dem herkömmlichen Begriff der Legalität nicht mehr erfasst werden. Man kann dem nicht entgegenhalten, dass zwischen jener »unbestimmten Zeit von voraussichtlich längerer Dauer« und einer unbegrenzten Zeitdauer ein für die Praxis ersichtlicher Unterschied bestehe. Denn teilweise sind die durch das gesetzesvertretende Notverordnungsrecht getroffenen Anordnungen, wie Bankbürgschaften, Haushaltssicherungen, ihrem Wesen nach, nicht aber durch den Willen des Reichspräsidenten zeitlich begrenzt, teilweise, so zum Beispiel bei den Änderungen des Instanzenzugs der Justizorgane und bei der ausführlichen 6 Vergleiche die Entscheidungen des Staatsgerichtshofs in »Juristische Wochenschrift«[, Jg. 61, Heft 7, Leipzig] 1932, S. 513.
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Regelung des Zugabewesens, berechtigt nichts zu der Erwartung, dass es sich hier um einstweilige Anordnungen handle. Die nachträgliche Möglichkeit des Reichstags, die Verordnungen aufzuheben, bedeutet nicht, wie man fälschlicherweise oft annimmt, dass die Nichtaufhebung einer nachträglichen Legalisierung gleichkomme. Es kann hier dahingestellt bleiben, inwieweit die Tatsache, dass der Reichstag es unterlässt, die Aufhebung der Verordnungen zu fordern, für die Verfassungsmäßigkeit dieser Verordnungen von Bedeutung ist; es kann auch weiter dahingestellt bleiben, ob nach der Reichsverfassung etwa das Haushaltsgesetz überhaupt auf dem Wege des Art. 48 ersetzt werden kann. Denn die Frage der Verfassungsmäßigkeit verliert deshalb an Bedeutung, weil die dem Reichspräsidenten nachgeordneten Behörden jedenfalls auf Grund ihres Unterordnungsverhältnisses diesen Verordnungen als Verwaltungsanordnungen vorgesetzter Behörden Folge leisten und die Gerichte die Verfassungsmäßigkeit regelmäßig anerkennen. Freilich vermag die Übung der Verwaltung und die Anerkennung der Gerichte den Strukturwandel des Legalitätsbegriffs nicht zu verschleiern. Denn mit der Ersetzung der Gesetzgebungsfunktionen des Parlaments durch das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten hat der Legalitätsbegriff jedenfalls seine frühere Bedeutung verloren. Es handelt sich hier nicht mehr um einen vorübergehenden Vorgang, sondern das Notverordnungsrecht und damit die Vereinigung von Gesetzgebung und Regierung hat einen ständigen Charakter angenommen, der für das spezifische Wesen der Legalität, Überprüfung der Verwaltung am Maßstab des Gesetzes, keinen Raum mehr lässt. Spricht man also gegenwärtig von der Legalität der Regierung, der man dann etwa die Illegalität der sie bekämpfenden Gruppen gegenüberstellt, so wohnt hier dem Legalitätsbegriff augenscheinlich eine von der bisherigen Begriffsbildung abweichende Bedeutung inne. Man stellt es dabei meistens auf die sogenannte Legalität der Regierungsorgane ab, auf die Tatsache, dass sie ihre Machtstellung nicht im Gegensatz zur Verfassung, sondern auf verfassungsmäßigem Wege erlangt haben. Man verweist darauf, dass der Reichspräsident, der ja nach Art.l 48 Träger des Notverordnungsrechts ist, auf verfassungsmäßigem Wege durch das Volk gewählt worden sei und auch das Reichskabinett keinerlei Misstrauensvotum erhalten habe. Man zieht dann leicht die Parallele zu dem Verhältnis von Volk und Parlament; denn da das Volk keinen Einfluss auf den Inhalt der vom Parlament beschlossenen Gesetze habe, so bestehe kein qualitativer Unterschied gegenüber der autoritären Notverordnungspraxis des Reichspräsidenten. Wer diese Parallele zieht, übersieht nur einen gewaltigen Unterschied, den Unterschied zwischen Gesetzge-
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bungsstaat und Diktatur. Der Gesetzgebungsstaat, die parlamentarische Demokratie, kennt keine Form von Legitimität außer der ihres Ursprungs. Da der jeweilige Beschluss der jeweiligen Mehrheit ihr und des Volkes Gesetz ist, besteht die Legitimität ihrer Staatsordnung allein in ihrer Legalität. Das Notverordnungsregime aber, das durch die plebiszitäre Person des Reichspräsidenten gedeckt und von der beamteten Bürokratie geübt wird, wird nicht durch den Charakter der Legalität, sondern den der Legitimität, die Berufung auf die undiskutable Richtigkeit ihrer Handlungen und Ziele, gekennzeichnet. Zum Begriff der Legalität gehört nicht nur die gesetzmäßige Entstehung, sondern in erster Linie die gesetzmäßige Übung der Macht. Durch nichts wird die Akzentverschiebung von der Legalität zur Legitimität der Herrschaftsordnung klarer als durch den berühmt gewordenen Ausspruch des Reichskanzlers Brüning: »Wenn man erklärt, daß man, auf legalem Wege zur Macht gekommen, die legalen Schranken durchbrechen werde, so ist das keine Legalität.« Der legale Weg zur Macht bedeutet hier wiederum die gesetzmäßige Entstehung; aber was heißt legale Schranken? Seit Gesetzgebungs- und Verwaltungsfunktionen in der Hand der Regierung vereinigt sind, besteht die legale Schranke – gemessen an dem juristischen Sinn des Wortes Legalität – nur noch in den auch nach Art. 48 nicht suspendierbaren Bestandteilen der Weimarer Verfassung. Es ist offensichtlich, dass sich der Reichskanzler Brüning unter den legalen Schranken etwas anderes vorgestellt hat als jenes Minimum der nicht suspendierbaren Verfassungsbestandteile; denn diese bedeuten – man denke an die Aufhebbarkeit des Eigentumsartikels und der Vereinigungsfreiheit, an die nach der Rechtsprechung zulässigen einschneidenden Eingriffe in Länderautonomie und Selbstverwaltung – gegenüber einer entschlossenen Regierung nicht mehr viel. Offensichtlich werden die legalen Schranken gleichgesetzt mit der Legitimität der Zwecke. Welche Zwecke aber legitim sind, das entscheidet allein das amtierende Kabinett. Wenn deshalb in einem insoweit aufschlussreichen Aufsatz in der »Tat«7 von einem »Legalitätsbegriff des amtierenden Kabinetts« gesprochen wird, das es nicht verantworten könne, die Regierung einer Katastrophenmehrheit zu überlassen, so ist dem Verfasser durchaus zuzustimmen, wenn er hieraus den Schluss zieht, »es würde aber damit (d. h. durch die Nichtauslieferung des Staatsapparats an diese Katastrophenmehrheit) ein innerpolitischer Kampf um die Legalität, d. h. um die Legiti7 Horst Grüneberg, Das neue Staatsbild [II, in: Die Tat, Jg. 23, Heft 10, Jena,] Januar 1932, S. 822.
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mierung der Macht entfesselt«. Hierzu ist lediglich zu bemerken, dass nicht erst die Ablehnung der Machtübergabe an die Katastrophenmehrheit den Kampf um die Legitimierung der Macht entfesselt. Der Übergang vom Gesetz der Parlamentsmehrheit, der sanktionierten Abkürzung des sozialen Machtkampfs, zum gesetzesverdrängenden Verordnungssystem bedeutet in Wirklichkeit schon das entscheidende Stadium im Kampf um die Legitimierung der Macht, da jede von Gesetzesbindung gelöste Regierung nur durch die Behauptung der allgemeinen Verbindlichkeit ihrer Ziele sich selbst gleichsam die fehlende Zustimmung der andern erteilt.
III Der gleiche Wandel, der innerhalb der Reichskompetenz auf Grund der extensiven Anwendung des Art. 48 zu beobachten ist, hat sich innerhalb der Länder teilweise mit Hilfe der Einrichtung der Geschäftsregierung vollzogen. Der Reichsregierung hat bisher das Parlament das Vertrauen nicht entzogen, wohl aber ist dies in den Ländern Sachsen, Hessen und in der Freien Stadt Hamburg geschehen. Die jeweiligen Landesverfassungen sehen ein Weiteramtieren einer vom Parlament gestürzten Regierung nur als Geschäftsregierung vor und weisen dieser nur eine zeitliche Ersatzfunktion bis zur Neubestellung einer parlamentarischen Regierung durch den Landtag zu. Auf den vorübergehenden Charakter dieser Platzhalterschaft weisen die Verfassungen dadurch ausdrücklich hin, dass sie der gestürzten Regierung als Geschäftsregierung nur die Befugnis zur Führung der »laufenden Geschäfte« zuerkennen. In Preußen hat eine Erörterung dieses Begriffs bei früheren Anlässen stattgefunden; es handelte sich dabei freilich um eine Geschäftsregierung, die nach verhältnismäßig kurzer Zeit von einem parlamentarischen Kabinett abgelöst wurde, so dass die Problematik einer geschäftsführenden Dauerregierung nicht voll zum Austrag kam. Immerhin besteht darin Übereinstimmung, dass »laufende Geschäfte« nicht so viel bedeutet wie die Geschäfte, die gerade im Lauf sind. 8 Fragwürdig bleibt jedoch die Unterscheidung zwischen laufenden Geschäften und politischen Entscheidungen. Sie mag praktisch durchführbar sein, wenn es sich um eine Geschäftsregierung von absehbarer Dauer handelt, theoretisch erfassbar ist sie überhaupt nicht, da der Begriff der politischen Entscheidung keine gegenständliche Begrenzung besitzt, 8 So richtig der damalige preußische Ministerpräsident Marx in der Landtagsverhandlung vom 27. März 1925.
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sondern der politische Intensitätsgrad eines Regierungsaktes je nach der verschiedenen historischen Situation unterschiedlich sein kann (man denke an Hitlers Ernennung zum braunschweigischen Regierungsrat). Da also eine sachliche Grenze für die Betätigung der Geschäftsregierung nicht gesetzt werden kann, so kann diese alle Handlungen einer ordentlichen Regierung vornehmen. Dadurch ergibt sich ein eigenartiges Bild. Die Geschäftsregierung, die der Landtag nicht stürzen kann, ist in ihren politischen Handlungen frei und dem Landtag gegenüber nicht verantwortlich. Man führt zum Trost öfters die Möglichkeit der Ministeranklage an. Abgesehen von der praktischen Bedeutungslosigkeit dieses Überbleibsels des badischen Frühkonstitutionalismus, das nicht zur Amtsentfernung, sondern höchstens zu einer Feststellung der Nichtübereinstimmung bestimmter Handlungsweisen mit dem geltenden Verfassungsrecht führen kann, ist es noch sehr fraglich, ob die Ministeranklage auf Grund von Regierungsakten, die innerhalb der Amtsperiode des Geschäftsministeriums vorgenommen worden sind, überhaupt erhoben werden kann.9 Die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit eines Dauergeschäftsministeriums kann man mit Rücksicht auf Art. 17 der Reichsverfassung, der auch für die Länder eine parlamentarische Regierung vorschreibt, verneinen und daraus den Schluss ziehen, dass die Reichsregierung befugt sei, unter Hinweis auf Art. 48 Abs. 2 der RV die Geschäftsregierung ihres Amtes zu entheben und sie durch einen Reichskommissar zu ersetzen.10 Die Obskurität dieser Lösung bedarf keines weiteren Hinweises. Ist die Dauerfunktion eines verfassungsmäßig vorgesehenen Behelfs immerhin noch als Verfassungswandlung anzusehen, so bedeutet eine Dauerdurchbrechung der Länderkompetenz auf Grund des Art. 48 eine diktatorische Verfassungsänderung. Wesentlich an dieser Erörterung ist nur die Erkenntnis, dass tatsächlich eine Verschiebung bezüglich der Existenzgrundlage der Landesregierung eingetreten ist. Denn ist das Parlament durch die Unmöglichkeit einer weiteren Einwirkung auf die Landesregierung auf ein totes Geleise geschoben, so hat die Landesregierung lediglich ihren Herren getauscht. Sie besitzt 9 Vergleiche etwa die Ausführungen Stier-Somlos im Arch. öff. R. NF. 9, S. 219, der dies wie die gesamte Literatur ohne nähere Begründung bejaht. [Fritz StierSomlo: Geschäftsminiterium, laufende Geschäfte, ständiger Ausschuß und Notverordnungen nach preußischem Verfassungsrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 9, Tübingen 1925, S. 211-224.] 10 Huber, Die Stellung der Geschäftsregierung in den deutschen Ländern, DJZ. 1932, Sp. 194 ff. [Ernst Rudolf Huber: Die Stellung der Geschäftsregierung in den deutschen Ländern, in: Deutsche Juristen-Zeitung, Band 37, Berlin 1932, Sp. 194-199.]
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zwar keine legale Grundlage für ihr Handeln mehr, aber ihre Existenz ist so lange gesichert, wie ihre Tätigkeit von der Reichsregierung als mit der ihrigen übereinstimmend und das heißt als legitim angesehen wird.
IV Das Problem der Legalität von Parteien, dem in erster Linie sich heute das Interesse der Öffentlichkeit zugewandt hat, nimmt im Rahmen des allgemeinen Legalitätsbegriffs keine besondere Stellung ein. Solange es eine Unterscheidung zwischen rechtsetzenden und verwaltenden Instanzen gegeben hat, war die sogenannte Legalität von Parteien identisch mit der Gesetzmäßigkeit ihres Handelns. Die Gesetzmäßigkeit des Handelns aber bestimmte sich zunächst nach den allgemeinen, für alle Bürger geltenden Gesetzen, wobei hauptsächlich die Grenzen des Strafgesetzes in Frage kamen. Daneben aber war es allzeit der souveränen Entscheidung der demokratischen Parlamente überlassen, bestimmte politische Gruppen in mehr oder minder scharfer Form zu befehden, indem sie über den Rahmen des allgemeinen Strafgesetzes hinaus politische Handlungen oder Gesinnungen unter Strafe stellten. Es sei hier nur an das berühmte Beispiel des französischen Nationalkonvents erinnert, der in den Gesetzen vom 23. Ventôse und vom 22. Prairial des Jahres II in sehr weitgehender Form die politischen Feinde der Konventsmehrheit zu Verrätern des Vaterlandes und Feinden des Volkes erklärte.11 Nationalversammlung und Reichstag haben sich in den verschiedenen Legislaturperioden niemals dazu entschlossen, bestimmte politische Gruppen wegen des von ihnen verfolgten Zieles oder wegen ihrer Gesinnung unter besondere Strafgesetze zu stellen. Einen schwachen Ansatzpunkt hierzu könnte man höchstens in dem § 4 des Republikschutzgesetzes erblicken, der Gefängnis nicht unter drei Monaten für diejenigen androht, die an geheimen oder staatsfeindlichen Verbindungen teilnehmen, welche die Bestrebung verfolgen, die verfassungsmäßig festgestellte republikanische Staatsform des Reiches oder eines Landes zu untergraben. Dem eigentlichen Sinne dieser Bestimmung wird man nur dann gerecht, wenn man ihren doppelten Hinweis auf die §§ 128, 129 des Strafgesetzbuches und auf die verfassungsgemäß festgestellte Staatsform richtig würdigt. Beides sind Versuche zur For11 Der Gesetzestext ist abgedruckt bei Aulard, Histoire politique de la révolution française, 5. Auflage 1921, S. 365 f. [Alphonse Aulard: Histoire politique de la révolution française, 5. édition, Paris 1921.]
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malisierung, die einen intensiveren juristischen Schutz der Verfassung ermöglichen, ohne eine bestimmte politische Gruppe unter ein Ausnahmerecht zu stellen. Denn der Begriff der staatsfeindlichen Partei war an der Verfassung und an den allgemeinen Gesetzen orientiert, ohne dass eine spezielle gesetzliche Diffamierung bestimmter Auffassungen und Vorstellungen vorgenommen worden wäre. Wollte man also, was in einem Staat mit so intensiven und unüberbrückbaren Parteigegensätzen wie Deutschland immer der Fall war, bestimmte politische Gruppen wegen ihrer Tätigkeit verfolgen, so musste man zu der Fiktion greifen, dass man diese politische Gruppe nicht als Gesinnungsgemeinschaft der Partei, sondern als staatsfeindliche Verbindung befehde. Man musste also versuchen, konkrete Verstöße gegen Strafgesetzbestimmungen festzustellen. Die Grenze der Verfolgungsmöglichkeit lag dort, wo sich der unantastbare Organisationskern befand, in der parlamentarischen Vertretung der politischen Gruppe. Dieser Organisationskern blieb unangreifbar, selbst wenn man, was zu Zeiten geschah, eine ganze politische Partei als verbotene Verbindung deklarierte und damit die Entfaltung ihrer Wirksamkeit in der Öffentlichkeit zu hindern versuchte. Denn die Parlamente haben nie inhaltliche Differenzierungen gesetzlicher Art zwischen den Parteien vorgenommen, und § 6 Abs. 2 des preußischen Gesetzes über die Regelung verschiedener Punkte des Gemeindeverfassungsrechts vom 27. Dezember 1927 bestimmt zum Beispiel ausdrücklich: »Wegen der Zugehörigkeit des Gewählten zu einer politischen Partei darf die Bestätigung nicht versagt werden.« Stets blieben auch die verfassungsmäßigen Rechte jeder Partei auf Teilnahme am Parlament mit allen Folgen dieser Rechte, als deren wichtigste wohl die Wahlagitation anzusehen ist, gewahrt. Damit war zu Zeiten des regulären Funktionierens des Parlaments für die Frage der Legalität einer Partei allein entscheidend, ob sich die Partei mit gesetzlich unzulässigen Mitteln in den Besitz der politischen Macht setzen wollte. Dabei hatte die endgültige Zielsetzung einer Partei auszuscheiden, da keine Verfassungsbestimmung oder sonstige Norm die Allgemeinverbindlichkeit und Anerkennung bestimmter Sozialvorstellungen als bindend erklärt hatte. Auch die Verwaltung war im Allgemeinen gehalten, diese Grenzen bei der Verfolgung ihrer politischen Gegner zu beachten. Kompetenzüberschreitungen glückten nur teilweise hinsichtlich der KPD, da hier die Rechtskontrolle des Reichsgerichts zum Teil versagte, wenn es auch typischerweise bemüht blieb, die Prägung neuer Rechtsprinzipien zu vermeiden und sich statt dessen lieber einer höchst extensiven gesetzesüberschreitenden Interpretation der strafrechtlichen Hochverratsbestimmungen zuwandte.
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Solche Tendenzen mussten aber als Fremdkörper in einer sonst einheitlichen Legalordnung erscheinen, solange es keine Möglichkeit gab, den allgemeinen Legalitätsbegriff durch einen Rechtsbegriff der »revolutionären Partei« zu erweitern. Diesen Versuch hat neuerdings Koellreutter unternommen.12 Er will die revolutionäre Partei prinzipiell auch für die Rechtsordnung von den potentiell regierungsfähigen Parteien absondern. Zu diesen sollen alle diejenigen Parteien gehören, die als Glied des Volksganzen, als Repräsentant der bestehenden politischen Einheit angesehen werden können, da sie den bewussten Willen des Volkes zur politischen Existenz als Grundlage der nationalen Einheit besitzen. Diese Parteien, die von der Sozialdemokratie bis zu der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei reichen, genießen alle Vorzüge der behördlichen Legalitätsvermutung, womit aber nicht ausgeschlossen ist, dass in einer konkreten Situation auch eine solche Partei sich einmal des Staatsstreiches bedienen könnte. Aber da für sie die Legalitätsvermutung spricht, trifft die Beweislast den Gegner. Was den angeblichen nationalen Einheitswillen anbelangt, so scheint Koellreutter übersehen zu haben, dass in der Geschichte gerade die revolutionären Parteien sich als die zuverlässigsten Träger des nationalen Einheitswillens erwiesen haben, und man hat ihm daher mit vollem Recht entgegengehalten,13 dass nur Anarchisten durch seine neue Begriffsbestimmung diskreditiert werden könnten. In Wirklichkeit steht aber hinter der nationalen Lebensordnung die Frage der sozialen Struktur, und Koellreutter konkretisiert oder reduziert vielmehr auch an anderer Stelle seine nationale Einheit auf Privateigentum, Ehe und Verbindung mit der Religion. Sieht man einmal von der Ehe ab, die unseres Wissens niemand abschaffen will, so dürfte es Koellreutter bei seinem Begriff des Revolutionären in erster Linie um die Umwandlung der Eigentumsordnung zu tun sein, die übrigens ganz ohne Verfassungsänderung heute einem Funktionswandel unterliegt, der tiefer greift als manche revolutionäre Umgestaltung. Die Ausscheidung einer revolutionären Partei aus dem Rahmen der geltenden Verfassungsordnung würde zur Voraussetzung haben, dass das deutsche Verfassungsrecht einen der französischen »superlégalité constitutionnelle« entsprechenden Begriff gebildet hätte. Superlégalité constitutionnelle bedeutet aber nichts weiter als die Anerkennung der Legitimi12 [Otto] Koellreutter: Parteien und Verfassung im heutigen Deutschland, in: Festgabe für Richard Schmidt, Leipzig 1932, S. 107 ff. 13 Haentzschel in Arch. öff. R. NF. 20, S. 385. [Kurt Häntzschel: Der Konflikt ReichThüringen in der Frage der Polizeikostenzuschüsse, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 20, Tübingen 1931, S. 385-411.]
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tät eines bestimmten Kultursystems.14 Gleichgültig ob es für Frankreich tatsächlich eine juristische Legitimität einer individualistischen Rechtsordnung gibt, die über allen Verfassungs- und Gesetzestexten steht, für Deutschland besteht sie jedenfalls nicht. Denn die Weimarer Verfassung hat in ihrem zweiten Hauptteil eine zu breite Grundlage für alle Berufungsmöglichkeiten geschaffen, als dass sich einer ausschließlich auf sie berufen könnte.15 Damit ist es aber auch ausgeschlossen, dass es neben dem Begriff der Legalität ein materielles Kriterium für die Verhaltensweise einer Partei geben könnte. Da Koellreutter übrigens nicht leugnet, dass eine nicht revolutionäre Partei ebenfalls illegal handeln könne, ergibt sich schon hieraus, dass das Bedürfnis nach dem Begriff einer revolutionären Partei fehlt. Denn wenn der Revolutionär legal handelt, so ist das für die Rechtsordnung unerheblich, gleichgültig ob seine augenblickliche Legalität auf revolutionären Zielsetzungen oder einem »legalen Kretinismus« beruht. Handelt der Revolutionär aber illegal, so gerät er in Konflikt mit der bestehenden Rechtsordnung, gleichgültig ob seine illegale Handlungsweise auf revolutionären Erwägungen oder nur auf der »Romantik der Illegalität« aufgebaut ist.16 Nicht dass der Revolutionär die Begriffe der Legalität und Illegalität relativiert, wirft ihm die staatliche Rechtsordnung vor; nur dass das Ergebnis dieses Denkprozesses unter Umständen zur Illegalität führt, bringt ihn mit dieser in Konflikt. Nicht minder gleichgültig ist es aber für die geltende Rechtsordnung, ob eine Partei zu dem Kreis der »guten« Parteien gehört, falls sie sich einfallen lässt, auf dem Wege zur politischen Macht das Strafgesetz zu missachten. Wer wollte übrigens so anmaßend sein, vorwegzunehmen, was nur dem Historiker zusteht: die höchst relative Unterscheidung zwischen revolutionären und »guten« Parteien. Es fragt sich, wie weit die Notverordnungs- und die mit ihr zusammenhängende Verwaltungs- und Justizpraxis der Gegenwart auch hier den Formalcharakter des Legalitätsbegriffes aufgegeben und sich von 14 Eine solche Auffassung wird zum Beispiel von dem bekannten Staatstheoretiker Hauriou vertreten; Hauriou, Précis de Droit constitutionnel, 2. Edition 1929, S. 239. [Maurice Hauriou: Précis de Droit constitutionnel, 2. édition, Paris 1929.] 15 Vergleiche C. Schmitt im Handbuch des deutschen Staatsrechts, § 101 II. [Carl Schmitt: Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in: Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg.): Handbuch des deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1932, § 101, S. 572-607.] 16 Zu dem Verhältnis von revolutionärem Denken und Legalordnung vergleiche G. Lucacs, Legalität und Illegalität in Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1922. [Georg Lukács (Hg.): Legalität und Illegalität, in: Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923, S. 217-227.]
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einem Liberalismus abgewandt hat, der, wie seine Gegner leider gern übersehen, weniger einer grundsätzlich liberalen Einstellung entsprach, als sich nur als ein praktisches Ordnungsprinzip für ein klassengespaltenes Land erwiesen hatte. Die Notverordnungspraxis, die durch die Unbestimmtheit ihrer oft wechselnden Regelungen jeder Partei Schwierigkeiten bereitet (Uniform- und Abzeichenverbot), ging nicht dazu über, bestimmte Parteien hors de la loi, außerhalb des Gesetzes, zu erklären. Man ist schon deshalb nicht hierzu geschritten, weil dadurch eine unerwünschte Diskrepanz zu dem noch in Geltung befindlichen Parlamentsrecht mit seiner grundsätzlichen Gleichbehandlung aller Parteien entstanden wäre. Aber fraglos hat die Notverordnungspraxis durch die Unbestimmtheit ihrer Normierung (lebenswichtige Interessen des § 6 der Notverordnung des Reichspräsidenten vom 10. August 1931, die vielen Blankovollmachten an die Verwaltungsbehörden in Bezug auf Demonstrations-, Versammlungs- und Zeitungsverbote) den Verwaltungsbehörden gestattet, die Grenzparteien mit bestrittenem Legalitätscharakter gegenüber den andern Parteien zu benachteiligen. Das Maß der Aktionsfreiheit der politischen Parteien bestimmt sich jetzt nach der oft inappellablen, mindestens aber durch Zeitablauf einer wirksamen Kontrolle entzogenen Entscheidung der Verwaltungsbehörde. Für die Frage, ob eine bestimmte Versammlung oder ein bestimmtes Plakat von der Behörde nicht beanstandet wird, sind an Stelle der allgemeinen Gesetze spezifisch polizeiliche Ordnungsbegriffe getreten. Wie die Behörde den Ermessensspielraum der Verordnungen ausfüllt, entscheidet der allgemeine Charakter der Partei, mit anderen Worten, der Beweis der Legalität im einzelnen Fall tritt hinter der generellen Legalitätsvermutung in den Hintergrund. Die Entscheidung über die Legalitätsvermutung hängt wiederum in erster Linie von den Anordnungen der Zentralverwaltungsbehörden, in schwächerem Maße von den Entscheidungen der Gerichte ab. Bei solchen Entscheidungen über die Legalitätsvermutung bezüglich einer bestimmten Partei ist es aber für die oberste Verwaltungsinstanz sehr schwer, die Frage der Legalität des Vorgehens von der der Legitimität der verfolgten Ziele zu trennen. Die preußischen Erlasse17 verbürgen durch die Gleichstellung der KPD und der NSDAP eine gewisse formale Betrachtungsweise, die sich in erster Linie an der Gewaltsamkeit der angewandten Mittel orientiert, wenn auch hier charakteristischerweise von dem gewaltsamen Umsturz als Ziel, nicht als Mittel gesprochen wird. Der Erlass des 17 Vergleiche den Erlass vom 3. Juli 1930, abgedruckt im Justizministerialblatt 1930, S. 220. [Justiz-Ministerialblatt für die preußische Gesetzgebung und Rechtspflege, Berlin 1930, S. 220.]
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Reichswehrministers Groener enthält schon insofern eine Abweichung von der üblichen Verwaltungspraxis, als er sich nicht mit der Frage der Illegalität beschäftigt, sondern die Ausstellung eines für seinen Geschäftsbereich allgemeinverbindlichen Führungszeugnisses für die NSDAP bedeutet. Aus dem Gesamtzusammenhang des Erlasses wie auch aus seiner politischen Zielsetzung ergibt sich, dass die Überzeugung von der Legalität dieser Partei nicht in erster Linie auf dem Verhalten der Parteiangehörigen, sondern auf der Anerkennung der »nationalen Zielsetzung« beruht. Die Stellung der Gerichte (unter Gerichten soll hier jede über Einzelfälle abschließend entscheidende, mit der sogenannten Unabhängigkeit ausgestattete Behörde verstanden werden) in einem Staat mit getrennter Exekutive und Legislative wird wesentlich mitbestimmt durch ihre Kompetenz, Verwaltungsakte an der Hand von Gesetzen nachzuprüfen. Gibt es keine von der Verwaltung getrennte Gesetzgebung mehr, so tritt in der Stellung der Gerichte ein Funktionswandel ein. Haben sie früher die von ihnen usurpierte Befugnis, die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze nachzuprüfen, nur gelegentlich ausgenützt, so besitzen sie jetzt jeder Notverordnung gegenüber das Recht, die Einhaltung der durch Art. 48 gezogenen Grenzen zu kontrollieren. Erst die Nichtausübung dieses Vetorechts gewährleistet das ungestörte Funktionieren des Notverordnungssystems gegenüber nachgeordneten Behörden und Bürgern. Die Gerichte haben die Notverordnungspraxis stets gedeckt und sanktioniert, und die Zurückhaltung, die sie durch das Abstellen auf den Einzelfall übten, entsprang dem Bestreben, die ihnen gewordene Machtfülle nicht durch eine Präjudizierung aus der Hand zu geben, sondern sich damit die stete Beteiligung an der Staatsmacht zu erhalten. Waren sie an die Notverordnungen, hatten sie sie einmal sanktioniert, inhaltlich doch gebunden, so bestand bei der Frage nach der Legalität von Parteien für ihr Urteil keinerlei Bindung, da die Anweisungen der Zentralbehörden keinen Rechtscharakter trugen. Im Gegensatz zu den Verwaltungsinstanzen, für die die Legalitäts- und Illegalitätsvermutungen, die die Anordnungen ihrer vorgesetzten Behörden enthielten, bindend waren, konnte selbst das unterste Disziplinargericht seine Entscheidung von Fall zu Fall treffen, ohne dabei andere Normen als die §§ 128, 129 des Strafgesetzbuches, § 4 des Republikschutzgesetzes berücksichtigen zu müssen.18 18 Vergleiche Glockner in »Die politische Betätigung der Beamten«, Bühl 1930, ein dem Badischen Lehrerverein erstattetes Gutachten. [Gerhard Anschütz, Karl Glockner: Die politische Betätigung der Beamten. Zwei Rechtsgutachten, Bühl/ Baden 1930.]
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Die Gerichte haben, soweit eine Einhelligkeit der Verwaltungsinstanzen bestand, also in Bezug auf die KPD, ebenfalls die Illegalitätsvermutung für ausschlaggebend erachtet. Man ist aber noch einen charakteristischen Schritt weiter gegangen, indem man den Beweis des Gegenteils ausschloss. Der von dem thüringischen Oberverwaltungsgericht getroffenen Feststellung, dass die KPO gegenwärtig keinen bewaffneten Umsturz erstrebe, misst dieses Gericht keine Bedeutung zu. Denn »von der KPD unterscheidet sie sich nur in der Taktik des Parteikampfes und in ihrer Einstellung zur gegenwärtigen politischen Lage. Im Gegensatz zur KPD glaubt sie sich noch nicht unmittelbar vor der Übernahme der Macht. An ihrer revolutionären Zielsetzung ändert dies aber nichts«.19 Gegenüber der Illegalitätsvermutung hilft auch der vom Gericht selbst als geführt erachtete Nachweis der gegenwärtigen Legalität nichts; denn es kommt eben lediglich auf das illegitime Ziel, die »revolutionäre Zielsetzung«, an. In Bezug auf die NSDAP besteht eine Einhelligkeit der Rechtsprechung ebenso wenig wie bei den Verwaltungsbehörden. Die meisten Urteile, vornehmlich die der höheren preußischen Disziplinargerichte,20 stellen es auf die Illegalität der gebrauchten Mittel ab; es gibt aber auch hier Urteile, die ganz eindeutig in entsprechender Weise wie das thüringische OVG sich von der Legalität der Zielsetzung der Partei bestimmen lassen.21 Auch hier ist mindestens die Tendenz ersichtlich, von den gesetzlichen Normen, die die genaue Feststellung der illegalen Mittel erfordern, zur Verwerfung des illegitimen Zwecks, der behördlich nicht approbierten Sozialvorstellung, überzugehen. Dabei macht es dann keinen großen Unterschied mehr, ob die Verwaltung dieses Ziel durch für ihren Geschäftsbereich bindende Legalitäts- oder Illegalitätsvermutungen erreicht oder ob die Justiz bei Illegitimität des sozialen Zieles den Beweis der Legalität der angewandten Mittel für wertlos erklärt.
19 Abgedruckt bei Koellreutter a. a. O., S. 122. [Otto Koellreutter: Parteien und Verfassung im heutigen Deutschland, in: Festgabe für Richard Schmidt, Leipzig 1932, S. 122.] 20 Vergleiche das Urteil des Preußischen Disziplinarhofs für nicht richterliche Beamte, abgedruckt in der Frankf. Zeitung vom 28. Februar 1932. 21 Vergleiche das Urteil des Lübeckischen Disziplinargerichts bei Koellreutter, S. 128. [Otto Koellreutter: Parteien und Verfassung im heutigen Deutschland, in: Festgabe für Richard Schmidt, Leipzig 1932, S. 128.]
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V Stehen dem Begriff der legitimen Partei im allgemeinen noch Hemmnisse entgegen, die sich aus der demokratischen und zugleich konstitutionellen Struktur des Reiches ergeben, mit denen auch Notverordnungs- und Verwaltungspraxis noch zu rechnen haben, so ist doch auf einem Spezialgebiet, dem des Arbeitsrechts, die legitime Partei schon eine gewohnte Vorstellung. Der Theorie nach unterscheidet sich das deutsche Arbeitsrecht vom faschistischen durch das Fehlen rechtlicher Monopolstellungen. Das Tarifvertragswesen setzt lediglich Parteien voraus, die fähig und gewillt sind, Arbeitskämpfe zu führen, Tarifverträge abzuschließen und einzuhalten. Niemand hätte es der Rechtsprechung verübeln können, wenn sie bei der Anerkennung der Tariffähigkeit wirtschaftlich selbständiger, bisher auf diesem Gebiet noch unerprobter Organisationen größte Vorsicht hätte walten lassen, eine Vorsicht, die umso größer sein konnte, je mehr der politische Charakter der Organisation ernste Bedenken gegen ihren Willen, Tarifverträge zu halten, erregte. Solche Zweifel wären aber nur bis zum Beweis des Gegenteils zulässig gewesen. Wenn das Reichsarbeitsgericht der Allgemeinen Arbeiterunion die Tariffähigkeit aberkannte,22 obwohl bewiesen war, dass sie Tarifverträge nicht nur abgeschlossen, sondern auch Jahre hindurch eingehalten hatte, so liegt auch hier die charakteristische Vorstellung zugrunde, dass die Illegitimität der sozialen Vorstellungen für immer zu dem Verlust des Rechtes führt, gesetzliche Rechte gesetzlich zu gebrauchen. Zu der legitimen Tarifpartei gesellt sich der legitime Betriebsrat. Entspricht es dem Betriebsrätegesetz, dass jemand Betriebsrat wird, der zwar gewillt ist, seine Befugnisse im Rahmen des Betriebsrätegesetzes auszuüben, aber einer Vereinigung angehört, die im Prinzip im revolutionären Klassenkampf die Belange der Arbeiterklasse durchsetzen will? Nach der bisherigen Legalordnung kommt es nur auf die Übereinstimmung seiner Handlungsweise mit dem Gesetz an. Wer vom Legitimitätsprinzip ausgeht, muss aber auch hier folgerichtig dazu gelangen, die Fähigkeit, Betriebsrat zu sein, mit der Zugehörigkeit zur RGO als inkompatibel zu erklären.23 Aber nicht nur die Legitimität der Tarifparteien und die Legitimität der den Betriebsrat stellenden Vereinigung ist von der Rechtsprechung erfunden worden, sondern die gefährlichste Legitimitätsvoraussetzung, die sie schuf und die zum 22 Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts, Bd. 6, [Berlin 1931,] S. 63. 23 Vergleiche den von Ernst Fraenkel in der Justiz, Band 7, Heft 4, S. 194, angeführten Beschluss des Landesarbeitsgerichts Ulm. [Ernst Fraenkel: Chronik, in: Die Justiz, Band 7, Heft 4, Berlin 1932.]
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Hemmschuh jedes Arbeitskampfes zu werden droht, ist die Legitimität der Ziele eines Arbeitskampfes. Folgender charakteristische Satz des Reichsarbeitsgerichts sei hier angeführt: »Aus dem Abschluß eines Tarifvertrages folgt die Pflicht, grundlose Störungen zu unterlassen und Kampfmaßnahmen nur dann zu veranlassen, wenn damit wirtschaftliche Ziele verfolgt werden oder begründete Veranlassung vorliegt. Erfolgen aber Maßnahmen, ohne daß besondere wirtschaftliche Ziele oder begründete Veranlassung vorliegen, so bedeutet dies, auch soweit tarifvertragliche Verpflichtungen nicht bestehen, eine Verletzung der aus dem Tarifvertrag sich ergebenden allgemeinen Friedenspflicht.«24
Damit hat die Freiheit der gewerkschaftlichen Betätigung eine unübersehbare Einschränkung erfahren. Die bloße Geltendmachung des »gewerkschaftlichen Machtwillens« ohne erkennbares wirtschaftliches Ziel ist unerlaubt. Das Arbeitsgericht entscheidet souverän darüber, welche Zwecke wirtschaftlich, das heißt legitim, und welche politisch,25 das heißt illegitim, sind, ein typisches Beispiel dafür, wie eine im Organismus des Gewerkschaftslebens begründete einheitliche Reaktion gegenüber dem wirtschaftlichen Gegenspieler behördlich eingehegt und gewissermaßen konzessionspflichtig gemacht wird.
VI Die Chance jeder legalen Herrschaftsordnung besteht in der Möglichkeit, die Dialektik des geschichtlichen Geschehens sich reibungsloser einzuordnen, als eine legitime Herrschaftsordnung es vermag; denn dieser ist nur Dauer beschieden, solange es ihr gelingt, den politischen und sozialen Status einer bestimmten historischen Zeitspanne mit dem Anschein ewiger Gültigkeit zu umkleiden. Es war die unheroische Aufgabe der deutschen Legalordnung, des labilen Koalitionsparteienstaa24 Vergleiche Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts, Bd. 5, [Berlin 1930,] S. 252. Eine genaue Würdigung dieser Tendenzen enthält der im Archiv für Sozialwissenschaft im April 1932 erschienene Aufsatz von Kahn-Freund: »Der Funktionswandel des Arbeitsrechts.« [Otto Kahn-Freund: Der Funktionswandel des Arbeitsrechts, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 67, Tübingen 1932, S. 146-174.] 25 Der Gegensatz politisch-wirtschaftlich entspringt dabei reinen Werturteilen über soziale Verhaltensweisen. Da die entscheidenden Behörden meist eine nähere Begründung der angewandten Maßstäbe unterlassen, lässt sich nicht beurteilen, inwieweit sich die Gerichte der Problematik dieser Unterscheidung im gegenwärtigen Zeitalter (vergleiche dazu Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, München 1932) überhaupt bewusst geworden sind.
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tes, die sozialen Gegensätze auf dem Niveau der jeweiligen Klassenund Gruppenstärke auszugleichen, ohne die gegebenen Spannungen zu beseitigen. In dem Maß, wie jener autonome, von den großen Machtgruppen in der Form des Parlamentsgesetzes vollzogene Ausgleich durch die wachsenden Schwierigkeiten der gesamtdeutschen Verhältnisse unmöglich wurde, wuchs die Selbständigkeit der intakt gebliebenen Bürokratie. Aus der neutralen Vermittlungsinstanz, die als Treuhänder annähernd sich das Gleichgewicht haltender sozialer Gruppen verwaltete, war durch ihre Geschlossenheit und durch den Zusammenhang mit der ihr praktisch koordinierten bewaffneten Macht die Macht im Reiche schlechthin geworden. Sie ist die Trägerin der neuen Legitimität, die die Periode der parlamentarisch-demokratischen Legalordnung ablöst. Mit der legitimen Regierung legitimiert sie sich selbst, mit der legitimen Partei beschränkt sie die Freiheit ihrer unversöhnlichen Feinde, und mit der legitimen Tarifpartei und dem legitimen Arbeitskampf schickt sie sich an, das Arbeitsrecht bürokratisch zu beherrschen. Und trotzdem, ihre eigene soziale Basis ist zu schwach, als dass sie als überlegener Dritter zwischen den sich befehdenden Wirtschaftsgruppen einen Ausgleich zu schaffen vermöchte und dadurch die Grundlagen der politischen Einheit des Volkes bewahrte.26 Gewiss, die Bürokratie »macht den formellen Staatsgeist oder die wirkliche Geistlosigkeit des Staates zum kategorischen Imperativ«,27 und ihre Unparteilichkeit und Neutralität sind nur die ideologische Verbrämung dafür, dass sie sich selbst für den »letzten Endzweck des Staates« hält. Aber dieses statische, auf Beharrung gerichtete Sozialideal kann sie nur verwirklichen, wenn sie bei den Gesellschaftsgruppen Anlehnung sucht, die ein Interesse daran haben, den kapitalistischen Entwicklungsprozess auf einem gewissen, dem rückschauenden Betrachter relativ günstig erscheinenden Punkt zu stabilisieren. Der Reichskanzler Brüning ist es, der hier mit der von ihm oft gebrauchten Wendung, wir müssten zu den einfachen und sparsamen Grundsätzen der Vorkriegszeit zurückkehren, der Auffassung von Bürgertum, Kleinbürgertum und Bürokratie Ausdruck verleiht. Dem im Flusse des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses unwiederbringlich Entschwundenen wird hier ein Ewigkeitswert zugesprochen. Gegenüber solchen Restaurationsversuchen muss der vorwärtsstrebende Wille der demokratischen 26 Vergleiche [Ernst Rudolf] Huber, Das Deutsche Reich als Wirtschaftsstaat, Tübingen 1931, S. 29. 27 Karl Marx, Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie in Der historische Materialismus, Frühschriften I, S. 78. [Vergleiche: Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: MEW Band 1, Berlin 1976, S. 247 f.]
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Bevölkerungsmassen als ein gefährlicher Anachronismus erscheinen, den auf immer einzudämmen die heutige Notzeit am besten geeignet sei. Ein so hervorragender und für die gesamte Bürokratie so typischer Vertreter wie Popitz hat die Beseitigung dieses Anachronismus zum Ausgangspunkt seiner wohldurchdachten Finanzausgleichsvorschläge gemacht.28 Es ist nur natürlich, dass das, was für uns als vielleicht eruptive Erscheinungsform des schnellen sozialen Formwandels der Nachkriegszeit erscheint, hier nur als parteipolitischer Missbrauch, Korruption, Verantwortungslosigkeit und unsachlicher Parteikompromiss firmiert, dem der Gemeinsinn und das Pflichtgefühl der Vorkriegszeit leuchtend gegenüberstehen. Aber ist nicht eine Gesellschaftsordnung, die ihre Legitimität nicht aus sich heraus bauen kann, sondern diese mit dem erborgten Glanz einer idealisierten Vergangenheit bestreiten muss, schon vor ihrer Vollendung zum Scheitern verurteilt?
28 Johannes Popitz, Der künftige Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden, Berlin 1932. Vergleiche hierzu die Ausführungen von Rinner in der April-Nummer dieser Zeitschrift. [Erich Rinner: Die Reform des Finanzausgleichs, in: Die Gesellschaft, Jg. 9, Heft 4, Berlin 1932, S. 336-353.]
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[29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung* [1932] Solange das Kabinett Brüning und mit ihm der Reichspräsident gegenüber allen politischen Gruppen für eine gewisse Neutralität bürgten, war es möglich, die Unregelmäßigkeiten unserer verfassungsrechtlichen Zustände, in denen die Regel durch die Ausnahme, das Gesetz durch die Maßnahme, die verantwortliche durch die geschäftsführende Regierung abgelöst wurde, als ein vorübergehendes Stadium zu betrachten, das den Rückweg zur verfassungsmäßigen demokratischen Regierung offen ließ. Diese formale Neutralität, die das Brüning‘sche Kabinett gegenüber Klassen und Parteien, gleichviel aus welchen Motiven, gewahrt hat, ist mit diesem Kabinett dahingegangen. Die Befürchtungen, die Prévost-Paradol hinsichtlich der Unmöglichkeit eines unabhängigen republikanischen Präsidenten im Jahre 1869 ausgesprochen hat,1 sind in Erfüllung gegangen. Damit hat sich auch die verfassungspolitische Situation in Deutschland grundlegend geändert. Je geringer mit zunehmender Verschärfung der politischen und sozialen Gegensätze die personellen Garantien werden, die die verfassungsmäßig festgelegte Unabhängigkeit des Reichspräsidenten bietet, umso größer wird die politische Verantwortung der einzelnen sozialen Gruppen. Wenn der Hüter der Verfassung der Übermacht einzelner Gruppen gegenüber die verfassungsrechtlichen Grundsätze nicht mehr aufrechterhalten kann, muss jede Gruppe selbst unter ihrer eigenen Verantwortung prüfen, welche Handlungen der Regierung den verfassungsmäßigen Gehorsam verdienen. Solange das Parlament selbst erhalten blieb und damit zu rechnen war, dass es seine Tätigkeit in einem für einen demokratischen Staat notwendigen Umfang wiederaufnehmen würde, konnte man sich mit einer vorübergehenden Einschränkung seiner Funktionen abfinden. Vor eine vollkommen neue Situation würden sich aber die Bekenner * [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Politik, Jg. 9, Heft 8, Berlin 1932, S. 125-135. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 94-95. ] 1 La France nouvelle[, Paris 1869,] von [Lucien Anatole] Prévost-Paradol war ein Werk von weittragender verfassungspolitischer Bedeutung.
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des demokratischen Sozialismus gestellt sehen, falls versucht werden sollte, mit Hilfe einer irgendwie gearteten Auslegung des Art. 25 der Reichsverfassung, der präsidentiellen Auflösungsbefugnis, die Institution selbst zu vernichten. In dieser Hinsicht knüpfen sich an die Reichstagsauflösung vom 4. Juni verfassungsrechtliche Fragen von weittragender Bedeutung. Zwei Fragen vor allem bedürfen dringend der Klärung: 1. War diese Reichstagsauflösung in der Form und mit der Begründung, mit der sie vorgenommen wurde, verfassungsrechtlich zulässig? 2. Unter welchen Umständen ist die Möglichkeit einer nochmaligen Reichstagsauflösung im Rahmen des Art. 25 der Reichsverfassung gegeben, der die Auflösung des Reichstags dem Reichspräsidenten gestattet, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlass? Die Anwendung und Interpretation von Verfassungssätzen erfolgt nicht in der Form logischer Subsumtionsschlüsse; sie kann vielmehr nur unter Beachtung, Vergleichung und Abwägung der geschichtlichen Entwicklung des Verfassungsinstituts, unter gebührender Berücksichtigung der Präzedenzfälle geschehen. Daher kann eine Auslegung des Art. 25 der Weimarer Verfassung nicht von der Erörterung der Begriffe »Einmaligkeit« und »gleicher Anlass« ihren Ausgangspunkt nehmen. Diese Begriffe sind nur als zusätzliche Schutzbestimmungen, die den Anwendungsbereich des Auflösungsrechts genauer umgrenzen sollen, zu verstehen. Das Auflösungsrecht, das sich erstmalig in der Napoleonischen Verfassung vom Thermidor des Jahres 10 (1802) findet und dort dem Senat gegenüber dem corps législatif übertragen ist, hat einen anderen Wirkungsgrad im Recht der konstitutionellen Monarchie als in der parlamentarischen Demokratie. In der Monarchie Ludwigs XVIII. und Karls X. in Frankreich, im vorrevolutionären Preußen wie im vorrevolutionären Reich ist es eine Waffe des konstitutionellen Fürsten gegen das Parlament. Er kann dessen Lebensdauer nach seinem Gutdünken abkürzen, ohne dass er gezwungen wäre, auf Grund der Wahlergebnisse ein dem Parlament genehmes Ministerium zu berufen.2 Die ganze Rechtskonstruktion der konstitutionellen Monarchie, die nur schwach den Widerstreit zwischen fürstlich-bürokratischem Absolutismus und den bürgerlichen Schichten von Besitz und Bildung verbergen konnte, war eine Halbheit, bei der das aufstrebende Bürgertum im Ernstfalle nicht 2 Vergleiche etwa die diesbezüglichen Ausführungen bei [Joseph von] Held: System des Verfassungsrechts II, [Würzburg 1856,] S. 479, und v. Roenne: Preußisches Staatsrecht I, § 66. [Ludwig von Rönne: Das Staatsrecht der Preussischen Monarchie, Band 1, Leipzig 1864.]
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stehenbleiben wollte. Diese Halbheit spiegelt sich auch in jenem eigentümlichen Auflösungsrecht wider, das den unverantwortlichen Fürsten zwar heißt, an das Volk zu appellieren, ihn aber nicht zwingt, dem Wahlausfall Rechnung zu tragen. In der Praxis hat diese Konstruktion auch nicht standgehalten; denn als im Jahre 1830 Karl X. versuchte, die neugewählte Kammer, in der die liberalen Oppositionsparteien über die Mehrheit verfügten, vor ihrem Zusammentritt aufzulösen, kam es zur Revolution. Das Parlament siegte über den König, das Prinzip der irdischen Verantwortlichkeit über die göttliche Verantwortungslosigkeit. Bis zum heutigen Tage hat niemand den Versuch wiederholt, den soeben kund getanen Willen des Volkes für einen Irrtum zu erklären. Die immanente Tendenz zur Volksherrschaft, die die Übergabe der Entscheidung über die politische Gestaltung aus der Hand der widerstreitenden Exekutive und Legislative in die des Volkes mit sich bringt, drängt schon in der konstitutionellen Monarchie dazu, dem Votum des Volkes abschließende Bedeutung zuzuerkennen. Seine rechtliche Ausgestaltung findet dieses Prinzip endgültig aber erst in der parlamentarischen Demokratie. Dabei ist die Frage, ob das Haupt der parlamentarischen Demokratie ein erblicher Monarch oder ein gewählter Präsident ist, ohne Bedeutung. Es ist die englische Verfassungspraxis, die hier in kontinuierlicher Entwicklung die konstitutionelle Praxis der Auflösung herausgebildet hat. Man kann die möglichen Fälle der Auflösung im Anschluss an Prévost-Paradol danach bestimmen,3 ob die im Parlament bei einer Abstimmung in der Minderheit gebliebene Regierung vom Monarchen beziehungsweise Präsidenten die Parlamentsauflösung erlangt (ministerielle Auflösung), oder ob das Staatsoberhaupt das das Vertrauen des Kabinetts genießende Parlament entlassen hat und mit einem Minderheitskabinett das Parlament auflöst (königliche oder präsidentielle Auflösung). Ein dritter Fall der Auflösung ist die Selbstauflösung des Parlaments. Neben die verfassungsmäßig festgelegte Selbstauflösung4 tritt die verschleierte Selbstauflösung durch eine von der Parlamentsmehrheit gebilligte Auflösungsverfügung des Staatsoberhauptes, wie sie im Frankreich Napoleons III. an der Tagesordnung war und wie sie etwa
3 A. a. O., S. 148/49[, Lucien Anatole Prévost-Paradol: La France Nouvelle, Paris 1868]; vergleiche dazu auch Carl Schmitt, Verfassungslehre, [München/Leipzig 1928,] S. 353 f. 4 Verfassungsgesetzlich geregelt ist die Selbstauflösung in der österreichischen Bundesverfassung Art. 29 Abs. 2 und in mehreren deutschen Länderverfassungen.
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bei uns in reiner Form die Verordnung des Reichspräsidenten über die Auflösung des Reichstags vom 31. März 1928 darstellt. Dort heißt es: »Nachdem der Reichstag mit den gestern verabschiedeten Gesetzen das sogenannte Notprogramm erledigt hat und da nicht zu erwarten ist, daß noch weitere größere gesetzgeberische Arbeiten in dieser Periode zum Abschluß gebracht werden können, löse ich auf Grund des Art. 25 der Reichsverfassung den Reichstag auf.«
Mit Recht hat Carl Schmitt5 hervorgehoben, dass für die verschleierte Selbstauflösung die Bestimmung über Einmaligkeit und gleichen Anlass nicht anwendbar ist und jeder folgende Reichstag selbstverständlich im Wege der verschleierten Selbstauflösung sein Ende finden kann. Denn hier fehlt gerade das für die ministerielle oder präsidentielle Auflösung typische Element: ein Streit zwischen Exekutivgewalt und Parlamentsmehrheit, in dem das Volk als Richter fungieren soll. Die Formen der ministeriellen oder präsidentiellen Auflösung sind dann am Platze, wenn Parlament und Volk nicht mehr jenen politischen Identitätsgrad besitzen, aus dem das Parlament die Legitimation zu seinen Handlungen ableitet. Denn auf der nicht mehr vorhandenen Übereinstimmung beruht letzten Endes das Recht zur Parlamentsauflösung im parlamentarischen Staat.6 Da die Verfassung Exekutive und Legislative zu gemeinsamer Arbeit verpflichtet, kann und darf dieses Zusammenwirken nur dann vorzeitig aufgehoben werden, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass das Parlament nicht mehr Repräsentant der Nation sei. Ob und unter welchen Voraussetzungen diese Annahme berechtigt ist, bleibt dem pflichtgemäßen Ermessen des Staatsoberhauptes und seiner für die verfassungsmäßig vorgeschriebene Gegenzeichnung verantwortlichen Minister Vorbehalten. Die Richtlinien, die Queen Victoria in einem Brief an Lord Russell niedergelegt hat, zeigen bei starker Betonung der gebotenen Zurückhaltung, dass mit Ausnahme des Verbots zweier noch zu behandelnder Fälle (Auflösung vor Zusammentritt und Auflösung aus dem gleichen Anlass) dem diskre-
5 Arch. f. öff. R., N. F., Bd. 8, S. 170 bis 172. [Carl Schmitt: »Einmaligkeit« und »gleicher Anlaß« bei der Reichstagsauflösung nach Art. 25 der Reichsverfassung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 8, Tübingen 1925, S. 162-173.] 6 Ein Ausfluss jener Identitätsforderung ist die in manchen Verfassungen vorgesehene Parlamentsauflösung bei Verfassungsänderung, vergleiche Belgische Verf. Art. 131. Ebenfalls hierauf beruht die englische Verfassungspraxis, die bei Wahlrechtsänderungen eine Parlamentsauflösung für erforderlich hält.
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tionären Ermessen ein weiter Spielraum gesetzt ist.7 Daher kann auch die Auflösungsverfügung des Reichspräsidenten vom 4. Juni nicht als verfassungswidrig bezeichnet werden. Die Annahme, dass die Dauer der Wahlperiode eine unwiderlegbare Vermutung für einen konstanten Volkswillen darstelle, ist irrig. Wäre dies der Fall, so wäre das Institut der Parlamentsauflösung hinfällig. Andererseits ist der der Auflösungsverfügung als Begründung beigefügte Satz, die statt gehabten Länderwahlen hätten ergeben, dass die Zusammensetzung des Reichstags nicht mehr dem Volkswillen entspreche, keine Begründung im Sinne des Art. 25 RV. Denn diese staatstheoretische Begründung für das Auflösungsrecht des Staatsoberhaupts liegt, solange die Verfassungsgeschichte dieses Rechtsinstitut kennt, jeder Auflösung zugrunde. Sie ist die Basis für den der wechselnden politischen Situation entspringenden Auflösungsgrund, macht aber diesen nicht entbehrlich. Die Reichstagsauflösung vom 4. Juni 1932 ist daher als ohne Angabe von Gründen erfolgt anzusehen, ein Verfahren, das zwar schon Lasker in der preußischen Konfliktszeit anlässlich der Landtagsauflösung von 1863 gerügt hat,8 das aber auch nach der Weimarer Verfassung nicht als unzulässig angesehen werden kann. Freilich darf das Fehlen einer amtlichen Begründung nicht zu der unhaltbaren Deduktion verführen, dass eine spätere Auflösung deshalb niemals aus dem gleichen Anlass geschehen könnte wie die vorangegangene, weil für diese ein Anlass nicht gegeben war. Die Möglichkeit, ein vom Parlament gestütztes oder wenigstens, wie im Fall Brüning, nicht gestürztes Ministerium zu entlassen und es durch ein mit der Auflösungsorder ausgestattetes Minderheitskabinett zu ersetzen, verleitet leicht zu einer persönlichen Politik des Staatsoberhaupts, die auszuschalten eben das Bemühen der parlamentarisch-demokratischen Verfassung ist. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass die Zulässigkeit einer solchen Offensivauflösung des Parlaments lange Zeit streitig blieb. Mit den führenden englischen Autoren9 wird man aber jenes Verfahren, nachdem es 1784 und 1834 in England zwar 7 Letters of Queen Victoria, S. 348. Dort heißt es: »Die Auflösungsbefugnis ist ein sehr schätzbares und wertvolles Instrument in den Händen der Krone, welches aber nur in den äußersten Fällen und mit Aussicht auf Erfolg angewendet werden soll. Wird man aber bei Benutzung dieses Instruments geschlagen, so ist das für Krone und Land gleichermaßen schädlich und betrübend.« [Victoria, Queen of Great Britain, Arthur Christopher Benson, Reginald Baliol Brett Esher, Viscount: Letters of Queen Victoria, a selection from Her Majesty’s correspondence between the years 1837 and 1861, published by authority of His Majesty the King, London 1907.] 8 [Eduard] Lasker, Zur Verfassungsgeschichte Preußens, Leipzig 1874. 9 [William R.] Anson: Law and custom of the constitution, [Oxford] 1909, Bd. I, S. 309. [Albert Venn] Dicey: Law of the constitution[, London] 1915, S. 432; ver-
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nicht widerspruchslos, aber immerhin ohne praktische Widerstände durchgeführt worden ist, als verfassungsrechtlich zulässig ansehen müssen. Auch die Mehrheit des Verfassungsausschusses der Weimarer Nationalversammlung hat bei der Behandlung dieser Fragen die Zulässigkeit eines solchen Vorgehens bejaht.10 Diese Offensivauflösung des Parlaments im parlamentarisch-demokratischen Staat unterscheidet sich freilich von der Offensivauflösung der konstitutionellen Monarchie11 dadurch, dass nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich die Entscheidung des um seine Meinung angegangenen Volkes nunmehr der zukünftigen Politik sowohl in personeller als auch in sachlicher Hinsicht zugrunde gelegt werden muss. Da es der Sinn der Auflösung ist, eine Entscheidung des souveränen Volkes herbeizuführen, muss dieser Entscheidung eine andere Bedeutung zukommen als den laufenden Staatsakten der dem souveränen Volk untergeordneten Organe. Wenn die Wählerschaft entscheiden soll, ob Staatsoberhaupt, Kabinett oder Parlament die von der Mehrheit des Volkes als richtig empfundene Politik getrieben haben, so wäre diese Entscheidung sinnlos, wenn sie nicht die Fragenkomplexe, über die die Meinungsverschiedenheiten entstanden sind, einer endgültigen Entscheidung zuführen würde. Aus dem Bestreben, dieser Grundentscheidung ihre tragende Bedeutung zu wahren und die Verteilung der Staatsgewalt zwischen Legislative und Exekutive nicht durch das Auflösungsrecht des Staatsoberhauptes zu erschüttern, sind die Sicherungsmaßnahmen, die verschiedene Verfassungen gegen einen Missbrauch des Auflösungsrechts vorsehen, zu erklären. Dabei ist der Schutz vor einer sofortigen Auflösung des neugewählten Parlaments vor dessen Zusammentritt begrifflich von dem Schutz vor einer allzu häufigen Auflösung überhaupt zu unterscheiden. Es ist interessant, dass nur eine Verfassung (nämlich die portugiesische) es für notwendig befunden hat, ausdrücklich die Auflösung des neugewählten Parlaments vor seinem Zusammentritt für unzulässig zu erklären. In einer Verfassungsnovelle von 1885, die ihren Ursprung der Furcht vor dem Experiment Karls X. und vor den in die gleiche Richgleiche aber etwa die zurückhaltendere Stellungnahme bei Michael Mac Donagh: The english king, [London] 1929, und die ablehnende Stellungnahme der Studie von Paul Matter: La dissolution des assemblées parlementaires, Paris 1898, S. 191. 10 Protokolle des Verfassungsausschusses, S. 252/53 [Nationalversammlung, 46. Sitzung, Freitag, den 4. Juli 1919, S. 1282]. 11 Vergleiche Esmein Nézard: Droit constitutionel, 8. édition [Paris] 1927, tome I, S. 176, und die Betrachtungen, die C. Schmitt, Arch. f. öff. R., Bd. 8, S. 166, daran knüpft. [Carl Schmit: »Einmaligkeit« und »gleicher Anlaß« bei der Reichstagsauflösung nach Art. 25 der Reichsverfassung, in: Archiv für öffentliches Recht, N. F. 8, Tübingen 1925, S. 162-173.]
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tung weisenden, allerdings unverwirklicht gebliebenen Plänen MacMahons aus dem Jahre 1876 verdankt, wird hier eine nochmalige Auflösung nach Neuwahl von einer vorangehenden dreimonatlichen Sitzungsperiode abhängig gemacht.12 Was in Portugal geschriebenes Verfassungsrecht ist, besteht in jeder parlamentarisch-demokratischen Verfassung als ungeschriebener Verfassungssatz. Da eine neue Auflösung nur mit neuen politischen Fragen begründet werden kann, auf die eine Antwort des souveränen Volkes bisher fehlt, die aber schon zu einem erkennbaren Gegensatz zwischen Parlament und Exekutive geführt haben, ist die Frage nach der Zulässigkeit einer sofortigen Auflösung des Parlaments vor dessen Zusammentritt eindeutig beantwortet. Ein Vorgehen in der Art Karls X. im Jahre 1830 ist ein Verfassungsbruch, dem das neugewählte Parlament keine Beachtung zu schenken braucht.13 Ausdrücklich sei erwähnt, dass die Unzulässigkeit einer solchen Auflösung nicht von der Frage abhängt, ob man das Parlament vor seinem ersten Zusammentritt als existent ansehen will oder nicht. Diese Frage, die wohl die herrschende Auffassung in der Staatsrechtslehre14 mit Recht dahingehend beantwortet, dass das Parlament schon vom Tag der Wahl an existiere, tritt hinter der grundsätzlichen Antwort, die aus dem immanenten Sinn parlamentarisch-demokratischer Institutionen heraus zu erteilen ist, zurück. In der parlamentarischen Demokratie haben die Wahlen immer mehr plebiszitären Charakter angenommen. Unmittelbar tritt dies in England zutage, wo man gewohnt ist, für Wahlen konkrete Fragen zu formulieren. Aber auch in Deutschland, wo die Partei, nicht die politische Entscheidung im Einzelfall, im Vordergrund des Wahlkampfes steht, ist die plebiszitäre Wendung seit langem sichtbar. Eine Wiederholung der Wahl ist daher nur sinnvoll, falls ein neuer, durch die Tätigkeit der Exekutive oder der Legislative geschaffener Gegenstand des Plebiszits existiert. Daher ist in der parlamentarischen Demokratie noch viel weniger als in der kon-
12 [M.] David: Les Chambres portugaises, [in:] Bulletin de la société de Législation comparée, [Paris] 1876, p. 273. 13 Vergleiche [Heinrich] Pohl: Die Auflösung des Reichstags, [Stuttgart] 1921, S. 28; Giese: Komm. z. Art. 25 der RV. [Friedrich Giese: Die Verfassung des Deutschen Reiches, Berlin 1919, S. 126-128.] 14 Anschütz 4 zu Art. 25; Poetzsch-Heffter 3 zu Art. 25; Giese 1 zu Art. 25. [Gerhard Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Berlin 1921, S. 79; Fritz Poetzsch-Heffter: Handkommentar der Reichsverfassung vom 11. August 1919, Berlin 1928, S. 167 f.; Friedrich Giese: Die Verfassung des Deutschen Reiches, Berlin 1919, S. 126.]
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stitutionellen Monarchie15 Raum für eine Auflösung des Parlaments vor dessen Zusammentritt. Versucht eine Regierung, deren Intentionen mit der Wahl nicht in Erfüllung gegangen sind, dem Misstrauensvotum des Parlaments durch eine nochmalige Auflösung, für die sie die Zustimmung des Staatsoberhauptes erhalt, zuvorzukommen, so handelt sie verfassungswidrig. In diesem Fall kommt der Frage des gleichen Anlasses und der Einmaligkeit keine Bedeutung zu, da sie das Vorhandensein von Unstimmigkeiten zwischen Exekutive und Legislative, die Möglichkeit einer vom Volkswillen verschiedenen Parlamentsmehrheit zur Voraussetzung hat. Ein Parlament, das seine Tätigkeit noch nicht begonnen hat, kann keine Differenzen mit einer Regierung haben, deren Bestellung nach demokratischen Grundsätzen ihm erst obliegt. Ein Volk, das am 31. Juli gewählt hat, kann am 4. August nicht im Gegensatz zu einem Parlament stehen, dessen Amtsführung ihm noch gar keinen Anlass zur Stellungnahme gegeben hat.16 Sieht man also von dem Fall der sofortigen Parlamentsauflösung vor Zusammentritt ab, für den die Verfassungen als dem Gebiet des Hochverrats angehörig eine besondere Regelung nicht für erforderlich hielten, so sind es zwei Mittel, mit denen die Verfassungen einer missbräuchlichen Anwendung des Auflösungsrechts durch allzu häufigen Gebrauch vorbeugen wollten. Als wirksamsten Schutz in dieser Richtung hat man lange Zeit das Erfordernis der Gegenzeichnung durch verantwortliche Minister angesehen, zu dem übrigens in der demokratischen Republik noch die Möglichkeit der Anklage des Präsidenten 15 Schon die Schriftsteller der konstitutionellen Monarchie haben ein solches sofortiges Wiederauflösungsrecht mit der Begründung verneint, dass die Kammer durch ihre bisherige Tätigkeit den Beweis dafür geliefert haben müsse, dass bei ihrer jetzigen Zusammensetzung eine für den Staat ersprießliche Wirksamkeit nicht zu erwarten sei; vergleiche Roenne, Preußisches Staatsrecht I § 66 [Ludwig von Rönne: Das Staatsrecht der Preussischen Monarchie, Band 1, Leipzig 1864], und Max von Seydel, Komm. z. Verf.-Urkunde für das deutsche Reich, 1897, S. 206. [Max von Seydel: Kommentar zur Verfassungsurkunde für das deutsche Reich, Leipzig 1897.] 16 So in seltener Einmütigkeit die Literatur; Duguit: Droit constitutionnel II, p. 645 [Léon Duguit: Traité de Droit constitutionel, Paris 1923]; Esmein Nézard: a. a. O., I, p. 176 [Esmein Nézard: Éléments de Droit constitutionel, tome I, 8. édition, Paris 1927 ]; [Antoine] Saint Girons: Essai sur la Séparation des Pouvoirs, Paris 1881, p. 348; Todd: Parlamentarische Regierung in England, 1871, Bd. 2, S. 350 [Alpheus Todd: Über die parlamentarische Regierung in England: ihre Entstehung, Entwickelung und praktische Gestaltung, zweiter Band, Berlin 1871]; Dicey: a. a. O., S. 428, 433/34 [Albert Venn Dicey: Law of the constitution, London 1915]; Pohl: a. a. O., S. 27 [Heinrich Pohl: Die Auflösung des Reichstags, Stuttgart 1921] und Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. 1, S. 487. [Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg.): Handbuch des deutschen Staatsrechts, Band 1, Tübingen 1930.]
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vor dem Staatsgerichtshof hinzutritt. Auch in den Beratungen des Weimarer Verfassungsausschusses war das Festhalten an der verantwortlichen Gegenzeichnung von ausschlaggebender Bedeutung für die Einführung des präsidentiellen Auflösungsrechts überhaupt. Es sind Reminiszenzen der bürgerlichen Anschauungsweise vom monarchistischen Konstitutionalismus, Gedanken von der für alle ministrablen Schichten gleich unverbrüchlichen Heiligkeit der Verfassung, die hier die persönliche Ehre des gegenzeichnenden Ministers zu einem Garanten der Verfassungsmäßigkeit der Auflösung erhoben. Da es aber heute nicht nur an einer gemeinsamen Verfassungsüberzeugung bei uns fehlt, sondern in einem Land solcher politischer und sozialer Gegensätzlichkeiten ministrable Schichten, die von einer communis opinio getragen würden, nicht vorhanden sind, dürfte die Schutzfunktion der Gegenzeichnung nicht allzu hoch mehr anzuschlagen sein. Verschiedene europäische Verfassungen haben die Auflösungsberechtigung an die Zustimmung eines Oberhauses mit oder ohne föderalistischen Einschlag geknüpft.17 Die neue spanische Verfassung vom 9. Dezember 1931 hat dem Präsidenten der Republik zwar ein Auflösungsrecht gegeben, jedoch mit der Einschränkung, dass er es nur zweimal während seiner Amtszeit ausüben darf und dass die Auflösungsverordnung mit Gründen versehen sein muss. Die zweite Auflösung stellt aber für den Präsidenten ein sehr hohes Risiko dar, da die Verfassung ausdrücklich als erste Amtshandlung der neuen Cortes eine Entscheidung über die Notwendigkeit der zweiten Auflösung vorsieht. Verneint diese die Notwendigkeit, so liegt darin die Amtsenthebung des Präsidenten. In der Sache selbst lässt also die spanische Verfassung eine einmalige Auflösung der gesetzgebenden Versammlung zu und gestattet dem Präsidenten außerdem nochmals in seiner Amtszeit ein Plebiszit über seine Amtsführung zu veranstalten. Die Weimarer Reichsverfassung hat an Stelle von formellen Beschränkungen der Auflösungsbefugnis den Versuch gemacht, materielle Schranken zu errichten. Maßgebend sind für diesen Versuch die Erfahrungen der preußi17 So knüpft Art. 5 des Gesetzes vom 25. Februar 1875 das Recht des Präsidenten der französischen Republik zur Auflösung an die Einwilligung des Senats, die österreichische Bundesverfassung in ihrem Art. 100 an eine qualifizierte Mehrheit des Länderrats, während die Bismarck‘sche Reichsverfassung in ihrem Art. 24 das Auflösungsrecht dem Bundesrat unter Zustimmung des Kaisers gibt. Einen schwachen Ansatzpunkt für die inhaltliche Begrenzung des Auflösungsrechts kann man höchstens in der vorrevolutionären Kleinstaatsverfassung von Reuß’ jüngerer Linie sehen, die in ihrem § 97 Abs. I das Auflösungsrecht des Fürsten zwar unbeschränkt, aber nur unter Angabe von Gründen zulässt.
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schen Konfliktszeit gewesen. Man wollte verhindern, dass, wie Hugo Preuß es formulierte, »der Reichstag und die Wählerschaft allmählich mürbe gemacht würden.«18 Carl Schmitt hat im Anschluss an diese Preuß’sche Formulierung die Frage aufgeworfen, ob jene Bestimmung in der demokratischen Republik die gleiche Funktion einnehmen könne wie in der konstitutionellen Monarchie.19 Da aber die Stellung des Präsidenten durch die Festlegung demokratisch-parlamentarischer Verfassungsgrundsätze selbst weniger bestimmt wird als durch die geschichtliche Entwicklung, wird die Funktion des präsidentiellen Auflösungsrechts nicht theoretisch eindeutig fixiert werden können. Die Entwicklung der französischen Verhältnisse hat bekanntlich das Auflösungsrecht gewohnheitsrechtlich beseitigt und damit zu einem weitgehenden Ausscheiden des Präsidenten aus der aktiven Politik geführt. In Deutschland hat der Präsident eine ungeahnte Machtfülle erlangt, die der des konstitutionellen Monarchen nicht nur gleichkommt, sondern sie sogar noch übersteigt. Die materiellen Einschränkungen, die der Verfassungsgesetzgeber deshalb im Hinblick auf die Erfahrungen mit der preußischen Monarchie in der Konfliktszeit gegeben hat, besitzen also durchaus aktuelle Bedeutung. Wollte aber der Verfassungsgesetzgeber verhindern, dass auf dem Wege des Auflösungsrechts die demokratische Republik sich in eine Präsidialdiktatur verwandele, so dürfen die Bestimmungen über »Einmaligkeit« und »gleichen Anlass« – sind sie einmal als zusätzlicher Schutz gegen einen Missbrauch des Auflösungsrechts erkannt – nur in einer Weise ausgelegt werden, die den Absichten des Verfassungsgesetzgebers Rechnung trägt. Unzulässig ist deshalb eine Auslegung, die das der Auflösung in Wahrheit zugrunde liegende Motiv in Gegensatz zu den in der Auflösungsverfügung angegebenen äußeren Anlass stellt und nur dem letzteren verfassungsrechtliche Bedeutung zumisst.20 Da dem Reichspräsidenten, falls er die Auflösungsverfügung überhaupt begründet, die Art und Weise dieser Begründung freisteht, könnte mit Hilfe der angegebenen Interpretation der Zweck der Verfassungsbestimmung in sein Gegenteil verkehrt werden. An Stelle einer materiellen Begrenzung des Auflösungsrechts 18 Protokolle des Verfassungsausschusses, S. 251. [Nationalversammlung, 46. Sitzung, Freitag, den 4. Juli 1919, S. 1281.] 19 Carl Schmitt in Arch. öff. R., Bd. 8, S. 169. [Carl Schmitt: »Einmaligkeit« und »gleicher Anlaß« bei der Reichstagsauflösung nach Art. 25 der Reichsverfassung, in: Archiv für öffentliches Recht, N. F. 8, Tübingen 1925, S. 162-173.] 20 Schelcher in Deutsche Juristenzeitung, 1924, Spalte 889. [Walter Schelcher: Entspricht die wiederholte Auflösung des Reichstags der Verfassung?, in: Otto Liebmann (Hg.): Deutsche Juristenzeitung, Jg. 29, Heft 21/22, Berlin 1924, Sp. 887-890.]
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würde eine in der Sache grenzenlose Auflösungsbefugnis treten, die man durch das Vorschieben irgendwelcher jeweils nach Belieben auswechselbarer äußerer Anlässe erreichen könnte. Jede abgelehnte Gesetzesvorlage, jeder Bankzusammenbruch würde einen solchen äußeren Anlass darstellen. Auf der einen Seite ist das Auflösungsrecht also dadurch begrenzt, dass nicht ein beliebiger für das politische Gesamtgeschehen irrelevanter äußerer Anlass den bequemen Vorwand dafür liefern kann, eine Gleichheit des Anlasses abzulehnen. Auf der anderen Seite weist gerade die Erfahrung der preußischen Konfliktszeit darauf hin, dass ein wiederholter Versuch, aus präsidentieller Machtvollkommenheit heraus die grundlegende politische Struktur des Landes durch wiederholte Auflösungen zu ändern, unzulässig ist. Den demokratischen Vätern der Weimarer Verfassung erschien der Versuch Wilhelms I., das Verhältnis zwischen Besitzbürgertum auf der einen, Adel und Monarchie auf der andern Seite, durch wiederholte Auflösungen eigenmächtig zu verschieben, obwohl mindestens in der Zeit zwischen 1860 und 1866 keinerlei grundlegende Veränderungen sozialer oder politischer Art vorgegangen waren, als unzulässig. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt, der offensichtlich der des Weimarer Verfassungsgesetzgebers war, die These, dass auch allgemeine parlamentarische Schwierigkeiten die Grundlage einer wiederholten Auflösung bilden könnten, so kann man sie in dieser allgemeinen Form nicht als unbedenklich ansehen. Solange die Schwierigkeiten der Regierungsbildung nur auf dem allgemeinen sozialen und politischen Kräfteverhältnis sowie darauf beruhen, dass eine Mehrzahl von Weltanschauungs- und Interessentengruppen zu Koalitionen gezwungen ist, besteht kein Auflösungsgrund. Um einer dieser Gruppen zu einer besseren Stellung zu verhelfen, darf das Auflösungsrecht nicht missbraucht werden. Erst wenn erkennbare Anzeichen dafür vorhanden sind, dass die parlamentarischen Schwierigkeiten auf einer Veränderung der politischen und sozialen Verhältnisse beruhen, die die Unsicherheit der alten Machtfaktoren verursacht, kann eine Auflösung stattfinden. Denn immer muss ein gewisser Grad von Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass die Parlamentsmehrheit dem Volkswillen nicht mehr entspricht. Der Anlass der Auflösung kann also nie formal bestimmt werden, vielmehr muss er immer in ein vernünftiges Verhältnis zu einer wahrscheinlichen Änderung des Volkswillens gebracht werden. Es ist die Idee der verfassungsmäßigen Neutralität des Präsidenten, die letzten Endes Umfang und Grenzen der Auflösungsbefugnis bestimmt. Nicht nur das Schicksal des gegenwärtigen Präsidenten, die Fortexistenz der demokrati-
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schen Republik überhaupt hängt davon ab, wie weit im gegenwärtigen Stadium der politischen Entwicklung noch Raum für eine Neutralität dieser Art ist.
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[30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts* [1932] Als 1919 in Weimar die Nationalversammlung, geboren aus dem freien Entschluss der sozialistischen deutschen Arbeiterschaft, zusammentrat, schien eine neue Glanzzeit des im 19. Jahrhundert so jäh abgebrochenen deutschen Konstitutionalismus heraufzuziehen. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Repräsentanten der Mehrheitspartei der deutschen Arbeiterschaft und breiten Schichten des deutschen Bürgertums, das damals auch noch in der Auswahl seiner parlamentarischen Vertreter eine gewisse längst verlorengegangene Einheit von Besitz und Bildung repräsentierte, schien die Grundlage für eine neue parlamentarisch-demokratische Rechtsgemeinschaft zu liefern. Das für eine solche Rechtsgemeinschaft notwendige Minimum an gemeinsamen Grundeinsichten war an die Existenz eines liberalen, zu einem selbständigen Ausgleich mit der Arbeiterschaft fähigen Bürgertums gebunden. Für das allmähliche Schwinden dieser Grundlage ist der Unterschied der beiden politischen Epochen der deutschen Republik charakteristisch. Von 1919 bis 1922 beruhte die deutsche Republik auf dem freien Bündnis, das die deutsche Sozialdemokratie in den letzten Kriegsjahren mit der politischen Vertretung des katholischen Volksteils und den liberalen bürgerlichen Fraktionen eingegangen war. In diesen Jahren besaß die Republik in etwa eine an westliche Organisationsformen angenäherte Parlamentsregierung mit ihrem selbstverständlichen Korrelat einer politischen Machtfülle des Parlaments. Die Zeit von der Stabilisierung bis zum Heraufkommen der Präsidialdiktatur trägt ein hiervon verschiedenes Gepräge, wenn dies auch nicht immer nach außen in anschaulicher Weise in Erscheinung getreten ist. An Stelle eines selbständigen Bürgertums, das die Differenzierung seiner wirtschaftlichen Interessen durch ein einheitliches Kultur- und Machtbewusstsein überbrückt, trat der Verbandsabsolutismus von wirtschaftlichen Vereinigungen, die die großen Schichten des mittleren Bürgertums und der mittleren und Kleinbauern nur mehr äußerlich durch eine vorgetäuschte wirtschaftliche Prosperität, nicht aber mehr durch eine auch für diese Schichten verbindliche politische Grundhaltung an * [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Politik, Jg. 9, Heft 9, Berlin 1932, S. 194-209. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 95-97. ]
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sich band. In der Ära Stresemanns, des letzten, gegenüber dem Typ Naumann‘scher Prägung schon stark verblassenden Exponenten einer repräsentativen »nationalliberalen Bürgergesinnung«, vollzieht sich die restlose Reduzierung der bürgerlichen Bewusstseinshaltung auf ihr wirtschaftliches Substrat. An die Stelle einer parlamentarischen Regierung tritt der sich nach der jeweiligen sozialen Machtposition vollziehende Ausgleich der sozialen Kräfte, wobei die staatliche Bürokratie allmählich zur selbständigen schiedsrichterlichen Machtstellung aufsteigt. Die Bedeutung der jeweiligen Regierung und damit auch des sie tragenden Parlaments verringert sich zusehends. Bürokratie und Sozialverbände bestimmen in der Zeit kapitalistischer Scheinblüte so maßgebend das staatliche Bild, dass die jeweilige Parlamentsregierung sich oft umgekehrt proportional zu ihrer parteipolitischen Zusammensetzung auswirkt. Es sei nur daran erinnert, dass die deutsche Arbeitslosenversicherung in der Zeit des Kabinetts Marx-Keudell entstand. In dieser Zeit, in der die Autorität parlamentarischer Regierungen hinter dem märchenhaften Bild des Wirtschaftsführers verblasste, bildete sich im Zusammenhang mit dem ständig wachsenden Tätigkeitsbereich des Staates überhaupt die gesteigerte Bedeutung einer verselbständigten Bürokratie heraus, die die innerdeutschen Ansatzpunkte zu der heute grassierenden Ideologie des autoritären, oder in etwas abgeschwächter Form, des schiedsrichterlichen Staates lieferte. Die Rechtsgrundlage unseres konstitutionellen Systems bildet im positiven Sinne das Parlament. Seine funktionelle Ersetzung durch die Autorität des Reichspräsidenten müsste schon in einem Land mit weniger unversöhnlichen Gegensätzen als Deutschland die positiven Grundlagen des Verfassungssystems in Frage stellen. Hier drückt die Wahl des Präsidenten nicht die Einheitlichkeit eines Volkswillens, sondern, wie dies bei der Reichspräsidentenwahl im Frühjahr 1932 der Fall war, nur die taktische Stellungnahme zu einer akuten politischen Situation aus.1 Umso mehr bedeutet die üblich gewordene Berufung auf die Präsidialgewalt als Rechtsquelle eines immer umfassender werdenden Staates den endgültigen Verzicht auf diejenigen Bestandteile der Weimarer Verfassung, die in der Rangordnung der Rechtsquellen dem Parlamentsgesetz des demokratischen Volkswillens den unbestreitbaren Vorrang geben. 1 Diese Tatsache hebt der Leitartikel der Wiener »Arbeiterzeitung« vom 14. März 1932 klar hervor: »Millionen deutsche Arbeiter haben Hindenburg zum Reichspräsidenten gewählt, um die Wahl Hitlers zum Reichspräsidenten zu verhindern. Es war ein politisches Manöver, Ausnutzung der Gegensätze, die im Lager der Reaktion bestehen.«
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Es ist bezeichnend, dass bei dem Schrumpfungsprozess, dem der positive Sinngehalt der Weimarer Verfassung unterliegt, der Wissenschaftsbetrieb des Verfassungsrechts in Gefahr gerät, sich auch bei der Beantwortung positiver Rechtsfragen nicht mehr an der Weimarer Verfassung zu orientieren. Dabei handelt es sich nicht etwa um die schon von Hugo Preuß kräftig in Angriff genommene Einbeziehung historischer und soziologischer Elemente in verfassungsrechtliche Erörterungen. Denn auch diese seit der Überwindung des Laband‘schen Formalismus in Deutschland wieder geläufig gewordene Betrachtungsweise muss dem Richter die Mittel an die Hand geben, einen konkreten Fall der staatlichen Praxis an Hand des Verfassungsrechts entscheiden zu können. Sie zeichnet sich vornehmlich – von Seiten der Rechtspraxis aus betrachtet – dadurch aus, dass die ideologische Grundlage auch in der Entscheidung selbst, nicht nur in der im Dunkeln bleibenden Überlegung ihres Verfassers Platz zu finden hat. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Verfassungsdingen, die heute, dem Gesetz von Angebot und Nachfrage entsprechend, weit größere Ausmaße angenommen hat als früher,2 nähert sich vielmehr einem Wissenschaftstyp, den eine venezianische Gesandtenschrift aus dem Jahre 1740 sehr zutreffend als »scienza delle circostance«, die Wissenschaft der konkreten Umstände,3 bezeichnet hat. Dies bedingt aber eine Wendung vom Verfassungsrecht zur technischen Herrschaftslehre, oder um es in den Worten dieses Venezianers auszudrücken, die Wissenschaft der konkreten Umstände »è il vero modo di governare ed avantaggiari i principati« (etwa: »sie ist die richtige Art zu regieren und den Herrschenden zu dienen«). Gegenüber dieser Verschiebung der axiomatischen Grundlagen verfassungsrechtlichen Denkens muss mit aller Deutlichkeit daran festgehalten werden, dass keiner der gegenwärtigen Machthaber jemals gewagt hat, die Weimarer Verfassung als solche außer Kraft zu setzen. Sie kann auch nicht außer Kraft gesetzt werden, weil noch die letzte Reichstagswahl klar erwiesen hat, dass zwar die der Weimarer Verfassung zugrunde liegende parlamentarische Demokratie keine soziale Grundlage in der Struktur des deutschen Volkes mehr besitzt, dass aber andererseits eine entschiedene Umgestaltung ihrer politischen und organisatorischen Grundlagen im gegenwärtigen Augenblick von den gegenseitig sich aufhebenden Kräften der maßgebenden 2 So füllt etwa der geschäftige Tat-Konzern monatlich mindestens je einen Zeitschriftenartikel mit einem neuen, mit der Unterscheidung von auctoritas und potestas spielenden »Verfassungsbegriff«. 3 Ranke, Französische Geschichte, V. Dunker und Humblodt 1924, Anm. 58 zu L. 17, Kap. 5. [Leopold von Ranke: Französische Geschichte, vornehmlich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, Band 5, München 1924.]
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massendemokratischen Parteien unmöglich gemacht wird. Daher hat jede staatsrechtliche Streitfrage auf der Grundlage der Weimarer Verfassung entschieden zu werden. Die verselbständigte Bürokratie, die im Schatten des physischen Machtapparates des Staates unter der Firma einer plebiszitären Präsidialgewalt vorläufig die Rechtsetzungsgewalt des Parlaments ausübt, muss bei ihrer wesentlich negativen Herrschaftsbegründung zum Mindesten die Schranken einhalten, an die auch der parlamentarische Gesetzgeber, falls er nicht eine verfassungsändernde Mehrheit besitzt, gebunden ist. Die grundlegenden Institutionen des geltenden Verfassungsrechts, die nach der Lehre Carl Schmitts nicht einmal der verfassungsändernde Gesetzgeber auf dem Wege des Art. 76 der Reichsverfassung ändern kann,4 sind also auch gegenüber Eingriffen des Reichspräsidenten immun. Zu diesen grundlegenden Institutionen, die der Präsidialgewalt gegenüber immun sind, gehört der innerstaatliche Aufbau des Reichs, wie er sich aus den Organisationsbestimmungen der Weimarer Verfassung im Zusammenhang mit dem fortlaufenden Strukturwandel der innerdeutschen Organisationsformen selbst ergeben hat. In dieser Feststellung ist kein Bekenntnis zum Föderalismus enthalten, wie dies die bayerische Regierung mit ihren Anträgen an den Staatsgerichtshof im Preußenkonflikt erstrebt. Denn gleichgültig, ob man 1919 den Ländern Staatsqualität zuerkennen konnte oder nicht, so hat sich jedenfalls in der Zwischenzeit herausgestellt, dass die nach der Verfassung den Ländern offenstehenden Möglichkeiten gesetzgeberischer Betätigung sich heute faktisch auf das Gebiet des Kirchen-, Schulwesens, der Landeskultur und der Dienstpragmatik der Landesbeamten beschränken. Die Haupttätigkeit der Länder liegt sichtbar heute auf jenen drei großen Verwaltungsgebieten der Polizei, der Justiz und des Kultus, in denen ihnen selbständige Amtsgewalt verblieb. Durch die Innehabung jener drei großen Herrschaftsrechte wurden die Länder in noch stärkerem Maße als die Selbstverwaltungskörper zu ausgleichenden Faktoren der deutschen Innenpolitik. Sie konnten so mindestens zu einem gewissen Grade verhindern, dass die notwendige Einheitlichkeit der Staatsführung in einzelnen Territorien in allzu starken Gegensatz zu den dort vorherrschenden politischen Tendenzen geriet. Die Länder wurden zu den Hauptträgern jenes Systems der intermediären Gewalten, die jeder in seinem Bereich und mit seinen Mitteln durch die Verbreiterung der Amtsbasis auf jeweils politisch tragende Volksschichten eine gewisse Stabilisierung und damit auch eine gegenseitige Neutralisierung erziel4 [Carl Schmitt:] Verfassungslehre[, München/Leipzig] 1928, S. 26.
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ten. So entstand zum Beispiel trotz aller hemmenden Gegentendenzen ein gewisser Spielraum für den bayerischen Typ der konservativen Agrardemokratie, und Preußens Bündnis zwischen Arbeiterschaft und katholischem Volksteil hat mindestens dort solche Wirkungen erzielt, wo diesen beiden Bevölkerungsschichten eine starke Bedeutung zukam. Dieser Rechtszustand, wie er sich unter der Herrschaft der Weimarer Verfassung herausgebildet hat, ist durch die Verordnung des Reichspräsidenten, betreffend die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Gebiet des Landes Preußen, vom 20. Juli 1932 und durch die auf dieser Grundlage erfolgten Maßnahmen beseitigt worden. Es entsteht die Frage, ob Artikel 48 Absatz 1 und 2, auf die die Reichsregierung unterschiedslos ihr Vorgehen gestützt hat, hierfür eine geeignete Grundlage bilden. Trotz der weitverbreiteten Skepsis gegenüber rechtlicher Untersuchung von präsidentiellen Maßnahmen wird, um eine Beurteilungsgrundlage für dieses Vorgehen zu schaffen, eine Erörterung anhand der konkreten Verfassungsbestimmungen erfolgen müssen. Nicht ohne Grund hat die Weimarer Verfassung im Gegensatz zur kaiserlichen Reichsverfassung als Instanz, die für Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern und damit auch für die Frage der juristischen Voraussetzung der Reichsexekution zuständig ist, anstelle des alten Bundesrats den Staatsgerichtshof eingesetzt. Dabei brauchen hier wiederum keine Betrachtungen darüber angestellt zu werden, ob jene Ersetzung des Bundesrats durch den Staatsgerichtshof der Tendenz nach föderalistisch oder unitarisch gemeint war.5 Mindestens ist hieraus die Tendenz ersichtlich, Streitpunkte zwischen Reich und Ländern von einer unabhängigen, weder der unmittelbaren Reichs- noch der unmittelbaren Landesverwaltungsbürokratie angehörigen Stelle entscheiden zu lassen. Aus diesen Gründen ist es auch kein haltbarer Einwand gegen die Entscheidungsbefugnis des Staatsgerichtshofs überhaupt, dass man den wesentlich politischen Charakter der zur Beurteilung stehenden Fragen betont. Generell mag die Mahnung zur Zurückhaltung an den Staatsgerichtshof bei der Beurteilung von Streitfragen des staatlichen Lebens, die Carl Schmitt und mit besonderem Nachdruck auch der frühere Präsident dieses Gerichtshofs, Simons,6 ausgesprochen hat, völlig berechtigt sein. In diesem besonderen Falle aber ist 5 [Heinrich] Triepel, Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern in Festgabe für Kahl, Berlin 1923, insbesondere Kap. IX. 6 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung[, Tübingen 1931,] I, 4 und Simons in Einleitung zur Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs, herausgegeben von Lammers-Simons, Bd. 2. [Walter Simons: Einleitung zur Rechtsprechung des Staatsge-
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der Staatsgerichtshof als Streit entscheidende Instanz zwischen Reich und Ländern in vollem Bewusstsein des hochpolitischen Charakters solcher Differenzen eingeschaltet worden, so dass es nicht zulässig ist, hier von ihm eine Abstinenz zu verlangen, die in Wirklichkeit die innere Organisation des Reiches zur freien Disposition des Reichspräsidenten stellen würde. Der Staatsgerichtshof wird also zur Entscheidung darüber berufen sein, ob die Voraussetzungen zur Anwendung des Artikel 48 vorgelegen haben. Dabei hat sich die Reichsregierung unterschiedslos auf Absatz 1 und 2 berufen, obwohl in dieser Hinsicht der Vorwurf »einer gewissen dilettantischen Fahrigkeit in der Anwendung der Reichsverfassung«, den Hugo Preuß anlässlich eines früheren Vorkommnisses dieser Art erhob,7 zu besonderer Zurückhaltung hätte mahnen müssen. Denn die Voraussetzungen für die Anwendung der beiden Bestimmungen sind gänzlich verschieden, und es muss deshalb für beide getrennt die Rechtsgrundlage untersucht werden.8 Wenn Artikel 48 Absatz 1 bestimmt, dass der Reichspräsident ein Land im Falle der Nichterfüllung der ihm nach der Reichsverfassung und den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten kann, so setzt diese Bestimmung als selbstverständlich voraus, dass den verfassungsmäßigen Organen des Landes zunächst eine Mitteilung davon zugegangen ist, welche Beanstandungen vom Reich erhoben werden. Man braucht nicht so weit zu gehen wie Triepel, der eine Reichsexekution gemäß Absatz 1 des Artikel 48 erst nach einem vorausgegangenen Spruch des Staatsgerichtshofs, der die Pflichtverletzung des Landes feststellt, für zulässig hält. Die Pflicht zur Verständigung in bundesfreundlicher Weise, die in der Anrufung des Staatsgerichtshofs und gar in der Reichsexekution nur die ultima ratio sehen kann, setzt aber als Minimum voraus, dass dem Land die Möglichkeit zur Abstellung der gerügten Mängel gegeben wurde. Wenn man mit Recht bei dem engen Verhältnis von Reich und Ländern schon in einer allzu häufigen Anrufung des Staatsgerichtshofs einen Formenmissbrauch sieht,9 so liegt in dem Gebrauchmachen von der Exekutivgewalt des Artikel 48 Absatz 1 richtshofs, in: Hans Lammers, Walter Simons (Hg.): Die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich und des Reichsgerichts auf Grund Artikel 13 Absatz 2 der Reichsverfassung, Band 2, Berlin 1930.] 7 [Hugo] Preuß, Um die Reichsverfassung von Weimar, [Berlin 1924, ] S. 37. 8 Anschütz in Handbuch des deutschen Staatsrechts, I, § 33 [Gerhard Anschütz: Handbuch des deutschen Staatsrechts, Band 1, Berlin 1930]; [Wolfgang] Flad, Verfassungsgerichtsbarkeit und Reichsexekution, Heidelberg 1929, S. 108. 9 [Rudolf] Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, Berlin 1928, S. 172/73, und darauf fußend Heller in »Frankfurter Zeitung« vom 7. August 1932. [Hermann
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ohne vorausgegangenen Verständigungsversuch oder auch nur Abmahnung einer der gröbsten und offenkundigsten Fälle des Formenmissbrauchs. Da nun der preußischen Regierung keinerlei Abmahnung zuging und sie unbestrittenermaßen nur zur Entgegennahme ihrer Amtsenthebung durch den Reichskommissar zum Reichskanzler zitiert wurde, ist Nawiasky darin vollkommen zuzustimmen, dass die unerlässlichen rechtlichen Voraussetzungen für eine Reichsexekution gegen den preußischen Staat nicht gegeben waren.10 Die Voraussetzung für die Anwendung des Artikel 48 Absatz 2 ist das Vorhandensein einer erheblichen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Ob diese Voraussetzung vorgelegen hat, unterliegt der richterlichen Nachprüfung. In den bisherigen Sachentscheidungen des Staatsgerichtshofs zur Frage der Voraussetzungen des Artikel 48 Absatz 2, die allerdings bisher noch nie einen Rechtsstreit zwischen dem Reich und einem Land betrafen, hat der Staatsgerichtshof den Erlass von Notverordnungen als ungewöhnliche Notstandsmaßnahme nach dem pflichtgemäßen Ermessen der Regierung so lange als berechtigt angesehen, als sich aus den Verhältnissen der Zeit nicht das Gegenteil einwandfrei ergibt.11 Hieraus eine Vermutung für die Rechtmäßigkeit des Vorgehens der Reichsregierung zu folgern, ist abwegig. Eine solche Vermutung ist zwar im Verhältnis von Staat und Bürgern, nicht aber im Verhältnis zwischen zwei Staatsorganen möglich. Denn da jedes Staatsorgan die Vermutung der Rechtmäßigkeit seines Handelns für sich in Anspruch nimmt, heben sich die widerstreitenden Vermutungen gegenseitig auf. Auch aus dem Polizeikostenstreit zwischen Thüringen und dem Reich folgt nichts Gegenteiliges. Wenn dort Thüringen glaubhaft machte, dass die Nichtzahlung der Polizeikostenzuschüsse selbst nur bis zum Zeitpunkt der Entscheidung in der Hauptsache es in schwere finanzielle Bedrängnis bringe, auf der andern Seite aber das Reich glaubhaft machte, dass eine auch nur vorübergehende Zahlung der Polizeikostenzuschüsse unter den damals dort herrschenden Verhältnissen eine erhebliche Gefährdung der Sicherheit und Ordnung mit sich bringen würde, so konnte der Staatsgerichtshof bei so widerspreHeller: Ist das Reich verfassungsmäßig vorgegangen? In: Frankfurter Zeitung, 77. Jg., Nr. 591/592, 10. August 1932, S. 1-2.] 10 [Hans] Nawiasky in einer Aufsatzreihe im »Bayrischen Kurier« vom 26., 27. und 29. Juli 1932. Ebenso Giese »Deutsche Juristenzeitung« (»DJZ.«), 1932, Sp. 1022. [Friedrich Giese: Zur Verfassungsmäßigkeit der vom Reich gegen und in Preußen getroffenen Maßnahmen, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin 1932, Sp. 1021-1024.] 11 Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen, Bd. 134, Anhang S. 44. [RGZ, Band 134, Anhang, Leipzig 1932.]
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chenden Glaubhaftmachungen eine einstweilige Verfügung ebenso abweisen, wie er das im Rechtsstreit zwischen Preußen und dem Reich getan hat. Eine Entscheidung in der Sache selbst ist damals nicht ergangen,12 so dass das System der Vermutungen bei Sachentscheidungen gemäß Artikel 19 der Reichsverfassung keineswegs als anwendbar anzusehen ist.13 Zum Mindesten aber handelt es sich hier nicht um unwiderlegbare Rechtsvermutungen, sondern um solche Vermutungen, die im Beweisverfahren vor dem Staatsgerichtshof entkräftet werden können.14 Freilich würde diese Beweisführung bei Heranziehung der vom Staatsgerichtshof gewählten, oben erwähnten Formulierung außerordentlich schwer sein. Sie würde lediglich dazu führen, den Absatz 1 des Artikel 48 in der Praxis durch den Absatz 2 zu ersetzen, während ganz offensichtlich Artikel 48 Absatz 1 die Möglichkeiten des physischen Zwangs im Verhältnis zwischen Reich und Ländern regelt und Absatz 2 hier nur von ganz subsidiärer Bedeutung sein kann. Ein anschauliches Beispiel für den Missbrauch des Artikel 48 Absatz 2 in dieser Hinsicht liefert die Verhängung des Ausnahmezustandes über Berlin und die Provinz Brandenburg in der Verordnung des Reichspräsidenten vom 20. Juli, die zugestandenermaßen lediglich zu dem Zweck erfolgte, die preußische Regierung mit Militärgewalt aus ihren Ämtern entfernen zu können. Die Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung bestand also hier lediglich darin, dass das preußische Kabinett sich erlaubte, in bundesfreundlicher Weise darauf hinzuweisen, dass die rechtlichen Voraussetzungen des Artikel 48 Absatz 1 seiner Meinung nach nicht gegeben seien. Es wird deshalb in der Frage der Anwendbarkeit des Artikel 48 Absatz 2 eine rechtliche Prüfung dahin notwendig sein, ob durch die preußische Regierung eine erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verursacht worden ist. Gegen die preußische Regierung hätte man nur dann vorgehen können, wenn sie selbst, nicht etwa eine objektive Bürgerkriegssituation, mit der sie keinen größeren Zusammenhang hatte als etwa der Hamburgische Senat oder die sächsische Regierung – gleichfalls Regierun12 Vergleiche die Prozessdarstellung von Koellreutter in Arch. f. öff. Recht, N. F. Bd. 20. [Otto Koellreutter: Der Konflikt Reich-Thüringen in der Frage der Polizeikostenzuschüsse, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 20, Berlin 1931, S. 68-102.] 13 Die entgegengesetzte Auffassung vertritt Carl Schmitt in »Deutsche Juristenzeitung« 1932, Spalte 958. [Carl Schmitt: Die Verfassungsmäßigkeit der Bestellung eines Reichskommissars für das Land Preußen, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin 1932, Sp. 953-958.] 14 So Giese in »DJZ.«, 1932, Spalte 1022. [Friedrich Giese: Zur Verfassungsmäßigkeit der vom Reich gegen und in Preußen getroffenen Maßnahmen, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin 1932, Sp. 1021-1024.]
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gen von Ländern mit starker Industriebevölkerung – die Störung von Sicherheit und Ordnung verursacht hätte. Für das Vorgehen der Reichsregierung hat man nun vorgebracht, dass die preußische Geschäftsregierung mit einem schweren Makel behaftet gewesen sei, der ihr gleichsam im Verhältnis zu den andern deutschen Geschäftsregierungen die Stellung einer illegalen Geschäftsregierung verliehen habe. Bekanntlich hat der Preußische Landtag am 12. April 1932 den § 20 seiner Geschäftsordnung dahin geändert, dass anstelle der bisher vorgesehenen Stichwahl der Ministerpräsident nur mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen gewählt werden kann. Man hat dieser Änderung, die man als »staatsstreichähnlichen Vorgang« bezeichnet hat, vorgeworfen, dass durch sie das grundlegende parlamentarische Prinzip der gleichen Chance, kurz bevor die Nationalsozialistische Partei zum ersten Male von ihr hätte Gebrauch machen können, beseitigt worden sei.15 Diese Ansicht verkennt, dass die Änderung, die übrigens für Preußen nur den Rechtszustand schuf, der in Bayern, Sachsen, Hessen schon immer bestand, überhaupt erst das parlamentarische Prinzip des Artikels 17 der Reichsverfassung voll zur Geltung gebracht hat. Denn nach der früheren preußischen Regelung bestand die Möglichkeit, dass die Minderheit des Landtags durch das Mittel eines Stichentscheids einen Ministerpräsidenten wählte, der von der im Voraus feststehenden Mehrheit des Landtags ein sofortiges Misstrauensvotum erhielte; dieser Präsident würde, ohne je das Vertrauen der Landtagsmehrheit gehabt zu haben, einem Geschäftsministerium vorstehen. Sieht aber das parlamentarische Prinzip den Behelf des Geschäftsministeriums überhaupt vor, so wahrt es dessen Kontinuität mit dem Parlament doch dadurch, dass es als unumstößliches Prinzip für das Geschäftsministerium ein mindestens früher einmal gegebenes Vertrauen der Landtagsmehrheit voraussetzt. Es kann also keine Rede davon sein, dass die preußische Geschäftsordnungsänderung mit der Reichsverfassung in Widerspruch stünde. Dass sie auch nicht mit der Landes15 Carl Schmitt in »Deutsche Juristenzeitung« 1932, Spalte 957[, Carl Schmitt: Die Verfassungsmäßigkeit der Bestellung eines Reichskommissars für das Land Preußen, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin 1932, Sp. 953-958]; andere Autoren (Graf Westarp in »DJZ.« 1932, Spalte 574, Braatz in »DJZ.« 1932, Spalte 978 f.) unterscheiden zwischen der moralisch-verwerflichen und der verfassungsrechtlich zulässigen Seite dieser Handlung. [Kuno von Westarp: Zur Wahl des preuß. Ministerpräsidenten, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin 1932, Sp. 574-576; Braatz: Das Geschäftsministerium in Preußen, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin 1932, Sp. 978-981.] Für die Verfassungsmäßigkeit siehe auch Giese, »DJZ.« 1932, Spalte 1021. [Friedrich Giese: Zur Verfassungsmäßigkeit der vom Reich gegen und in Preußen getroffenen Maßnahmen, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin 1932, Sp. 1021-1024.]
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verfassung oder auch nur mit dem Willen der derzeitigen Landtagsmehrheit konfrontiert werden kann, geht aus der oft übersehenen Tatsache hervor, dass die die Wiederherstellung des früheren Zustandes betreffenden Anträge im neuen Landtag von den Antragstellern zurückgezogen worden sind. Die preußische Geschäftsregierung Braun besaß also den gleichen Legalitätsgrad wie alle andern deutschen Geschäftsregierungen. Die Behauptung, dass die Geschäftsregierung schlechthin eine Verletzung des Artikel 17 der Reichsverfassung darstelle, die vereinzelt aufgestellt worden ist, wird sich die Reichsregierung aus leicht verständlichen Gründen selbst nicht zu eigen machen wollen. Im Übrigen schreibt Artikel 17 nur die Einhaltung des parlamentarischen Prinzips vor, das durch die Tatsache einer Geschäftsregierung nicht verletzt wird.16 Die Sonderbehandlung der preußischen Geschäftsregierung stellt somit eine schwere Verletzung des Satzes von der notwendigen Gleichbehandlung aller Länder durch die Reichsgewalt dar. Nun ist aber die Reichsregierung keine unbedingte Anhängerin des Prinzips der gleichen Chance, sondern will es auf die Parteien beschränkt wissen, die nicht außerhalb der »nationalen Lebensgemeinschaft« stehen. Es ist eine tragikomische Tatsache, dass es der preußischen Regierung zum Verhängnis geworden ist, den Unterschied zwischen der in der Idee des Parlamentarismus begründeten vorbehaltlosen Chance und der Chance bei Wohlverhalten und auf Abruf aus einem gewissen fundamentalen Gerechtigkeitssinn heraus anscheinend nicht begriffen zu haben. Ihr von vielen kritisiertes Verhalten bestand somit darin, aus dem Bewusstsein der Grundlagen parlamentarischer und zugleich rechtsstaatlicher Institutionen heraus keine Diffamierung der Kommunistischen Partei vorgenommen, sondern jede einzelne Handlung nach dem für alle gleichermaßen geltenden Gesetz und nicht nach einer der Verfassung unbekannten Unterscheidung zwischen Staatsbürgern erster und solchen zweiter Klasse beurteilt zu haben. In die Reihe der Einzelvorwürfe, die zur Rechtfertigung des Vorgehens der Reichsregierung herangezogen worden sind, gehört auch der Empfang kommunistischer Abgeordneter durch den Staatssekretär des 16 Vergleiche dazu die diesbezüglichen Ausführungen bei Gmelin, Arch. f. öff. Recht, N. F., Bd. 22, S. 236, und Nawiasky in »Deutsche Juristenzeitung« 1932, Spalte 194. [Hans Gmelin: Die Frage der Wirkung eines Misstrauensvotums gegen ein zurückgetretenes Ministerium oder eines seiner Einzelmitglieder, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 22, Tübingen 1932, S. 224-238; Hans Nawiasky: Geschäftsregierungen in den Ländern und Reichsverfassung, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin 1932, Sp. 518-521.]
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Innenministeriums. Diese Episode verdient hier nur wegen einer gewissen Parallelität der historischen Ereignisse festgehalten zu werden. Bekanntlich war der äußere Anlass, mit dem die Abberufung Bismarcks mit inszeniert wurde, der Empfang Windthorsts. Die Antwort des vorparlamentarischen Staatsmanns an den ihn interpellierenden Kaiser, warum er Windthorst nicht die Tür gewiesen habe, sei hier angeführt: »Ich habe ihn empfangen, wie ich es mit jedem Abgeordneten, dessen Manieren ihn nicht unmöglich machten, als Minister stets gehalten habe und zu tun verpflichtet bin, wenn ein solcher sich anmeldet.«17 Ganz kurz sei darauf hingewiesen, dass in dem weiteren Vorwurf parteipolitischer Betätigung von Ministern und anderen höheren Staatsbeamten jene grundsätzliche Verwerfung der demokratischen Institutionen enthalten ist, die zum Aufbau einer Verfassungstheorie der Präsidialdiktatur nun einmal gehört. Die Prätention, dass die Abstinenz von einer konkreten politischen Partei die Voraussetzung der starken Überparteilichkeit schaffe, ist eine viel zu billige Kritik der Gesetzmäßigkeit massendemokratischer Erscheinungsformen, als dass sie noch besondere Beachtung zu finden brauchte. Nur der Kuriosität halber sei erwähnt, dass im halbamtlichen Reichsverwaltungsblatt noch im Juni dieses Jahres die Stellung der parlamentarischen Minister im Wahlkampf folgendermaßen gekennzeichnet wurde: »Ihre eigene Sache wird im Wahlkampf ausgefochten, und gerade infolge ihrer Parteirichtung sind sie zum Ministeramt gelangt. So ist es nicht unzulässig, sondern gerade die Regel, daß sie sich am Wahlkampf besonders stark beteiligen; ihre Stellung als Minister ist nicht etwas, was sie hindert, dies zu tun, sondern was sie ganz besonders dazu berufen macht.«18
Eine grundsätzliche Frage ist es, die sich hinter dem Konflikt zwischen Preußen und dem Reich verbirgt und die in ähnlicher Weise schon im Vorgehen des Reichs gegen Thüringen und Sachsen im Jahr 1923 aufgeworfen wurde. Die große Frage der staatlichen Homogenität tritt hier sichtbar hervor. Auch wenn man die föderalistische Haltung, die die Nichtintervention des Reichs in die inneren Angelegenheiten der Länder als unumstößliche Grundthese aufstellt, als mit der tatsächlichen Entwicklung Deutschlands in Widerspruch stehend ablehnt, so muss doch darauf hingewiesen werden, dass eine gewisse verwaltungs17 Gedanken und Erinnerungen, Bd. 3, S. 81. [Otto von Bismarck: Gedanken und Erinnerungen, Band 3, Stuttgart 1919.] 18 Ball in »Reichs- und preußisches Verwaltungsblatt 53«, S. 562. [Kurt Ball: Die parlamentarischen Minister im Wahlkampf, in: Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt, Jg. 53, Berlin 1932, S. 561-563.]
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mäßige Unabhängigkeit von dem politischen Kurs des Reiches erst die organisatorische Selbständigkeit der Länder auf den ihnen verfassungsmäßig vorbehaltenen Verwaltungsgebieten gewährt. Es handelt sich hier darum, ob es zulässig ist, von den Ländern mehr als nur die prinzipielle Einhaltung der Verfassungsgrundlagen im Rahmen der in den weitaus meisten Fällen vom Reich vorgezeichneten Gesetze zu verlangen. Muss darüber hinaus auch der jeweilige verwaltungsmäßige Regierungskurs im Reich von den Landesregierungen positiv unterstützt werden? Wer dies verlangt, beraubt die Bestimmungen der Reichsverfassung, die nun einmal mit vorhandenen Ländern rechnet, jedes Sinnes. Die Homogenität der politischen Grundhaltung, die jeder Bundesstaat, und insbesondere eine so abgeschwächte Form des Bundesstaates, wie das Deutsche Reich sie darstellt, verlangt, setzt zwar im 20. Jahrhundert eine gewisse Gleichförmigkeit sozialer und kultureller Institutionen voraus, aber das nordamerikanische Beispiel des La Follette-Staates Wisconsin in seinem Verhältnis zu den andern Bundesstaaten der USA, das österreichische Beispiel des Verhältnisses der Stadt Wien zu den übrigen Bundesmitgliedern zeigt, dass ein aus selbständigen Gliedern bestehendes Staatengebilde solche heilsamen Diskrepanzen gerade im Interesse der Kontinuität seiner Zukunftsentwicklung zu tragen verstehen muss. Sie liegen deshalb auch durchaus im Bereich der »staatsrechtlichen Möglichkeit«.19 Die Aktion der Reichsregierung hat es jedoch in Preußen unmöglich gemacht, den Willen großer Bevölkerungsteile innerhalb der Verwaltung in gesetzmäßiger Weise zum Ausdruck kommen zu lassen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass dazu die Weimarer Verfassung weder in Absatz 1 noch in Absatz 2 des Artikel 48 die Befugnis erteilt. Das Ziel einer Reichsexekution kann nur sein, die konkrete Gesetzesoder Pflichtverletzung der Landesorgane abzustellen und so rasch wie möglich den verfassungsmäßigen Zustand des selbständigen reichsverfassungsmäßigen Funktionierens der Landesorgane wiederherzustellen. Das Ziel des Ausnahmezustands kann nur sein, die gestörte Sicherheit und Ordnung in ihrem früheren verfassungsmäßigen Bestand wieder aufzurichten. Bei diesem Vorgehen muss das »organisatorische
19 Diese staatsrechtliche Möglichkeit, von der Giese, »DJZ.« 1932, Sp. 1022, spricht, ist im Rahmen der geltenden Verfassung demgemäß keineswegs negativ zu bewerten. [Friedrich Giese: Zur Verfassungsmäßigkeit der vom Reich gegen und in Preußen getroffenen Maßnahmen, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin 1932, Sp. 1021-1024.]
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Existenzminimum«20 des Landes, dessen Vorhandensein die Reichsverfassung in Artikel 17 zwingend vorschreibt, immer gewahrt bleiben. Dazu gehört aber neben einem selbständigen Landtag auch die Existenz einer selbständigen Landesregierung. Es sind nicht nur »Landesbelange«, die die Wahrung einer selbständigen Landesregierung erforderlich machen; denn die Reichsverfassung, die den Reichsrat und seine Zusammensetzung aus Vertretern selbständiger Länder zwingend vorschreibt, beruft diese Körperschaft als notwendiges Organ zur Mitwirkung an Verwaltung und Gesetzgebung des Reiches. Damit macht sie das Funktionieren des Reichsorganismus vom Vorhandensein selbständiger Landesregierungen, die in der Lage sind, den Reichsrat zu beschicken, abhängig. Demgegenüber kann man sich nicht auf die Ansicht berufen, dass die Diktaturkompetenz des Reichspräsidenten als eine selbständige Zuständigkeitsregelung sich auch über die Artikel 17 und 63 der Reichsverfassung hinwegsetzen könne.21 Die Ausübung dieser selbständigen Kompetenz findet vielmehr ihre Schranke an dem Inhalt der Reichsverfassung; sie gestattet dem Reich, sich innerhalb der Kompetenz der Länder zu betätigen, muss aber dem Land eine selbständige Landesgewalt belassen, womit die Ausübung der Vertretung im Reichsrat durch die auf landesverfassungsmäßige Weise zustande gekommenen Organe der Länder verbunden ist.22 Deshalb mag allenfalls, die notwendigen Voraussetzungen einmal unterstellt, die preußische Polizei vorübergehend der Leitung eines Reichsorgans unterstellt werden können. Der Innenminister selbst kann nicht vom Amt entfernt werden, da er außer polizeiliche auch noch andere Funktionen ausübt, in die sich einzumengen das Reich aus Artikel 48 keine Befugnis herleiten kann. Im Übrigen ist schon auf Grund des Vorgehens der Reichsregierung gegen Sachsen im Jahre 1923 festgestellt worden, dass die Absetzung des Gesamtministeriums ebenso wie die Anstellung von Ersatzfunktionären auf Rechnung des Landes in der Reichsverfassung 20 Vergleiche Löwenstein, Arch. f. öff. Recht, N. F. 20, S. 155, und Lympius, »Reichsverwaltungsblatt« 1932, S. 582. [Karl Loewenstein: Zur Verfassungsmäßigkeit der Notverordnungen vom Juli und August 1931, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 21, Tübingen 1932, S. 124-158; Wilhelm von Lympius: Die gegenseitigen Rechtsverhältnisse von Reich und Ländern bei der Handhabung des Art. 48 der Reichsverfassung, in: Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt, Jg. 53, Berlin 1932, S. 581-584.] 21 Dies behauptet Bilfinger, »DJZ.« 1932, Spalte 1020. [Carl Bilfinger: Die deutschösterreichische Zollunion vor dem Ständigen Internationalen Gerichtshof im Haag, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 36, Berlin 1931, Sp. 1205-1212.] 22 So ausdrücklich Grau, Handbuch des Staatsrechts, § 80, S. 280/81. [Richard Grau: Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten, in: Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg.): Handbuch des Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1932, § 80.]
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keinen Stützpunkt finden.23 In Preußen sind aber nicht nur alle Minister ihres Amtes entsetzt und eine Unzahl von Ersatzfunktionären angestellt worden, sondern der Reichskommissar hat zweifellos durch weitgehende organisatorische Maßnahmen wie Zusammenlegung von Gerichtsbehörden und Landkreisen bewusst organisatorische Änderungen vorgenommen. Es ist unerfindlich, in welchem Zusammenhang diese Änderungen mit der angeblichen Pflicht- und Rechtsverletzung durch das preußische Staatsministerium stehen sollen. Es liegt hier ein so schwerer Fall des Ermessensmissbrauchs vor, dass demgegenüber eine Vermutung der subjektiven Gutgläubigkeit der Reichsregierung nicht mehr Platz greifen kann.24 Jene verfassungsrechtliche Seite des Rechtsstreits Preußen contra Reich zeigt – gleichgültig welche praktische Wirkung die Entscheidung des Staatsgerichtshofs post festum noch zu erzeugen vermag –, dass die Reichsregierung auf die Aufrechterhaltung jenes Teils der staatlichen Rechtsgemeinschaft, der nach dem Versagen des Parlaments als Gesetzgebungsfaktor nicht zu bestehen aufhörte, keinen Wert legt. Denn die über der Gesetzgebungsmacht eines Parlaments stehenden grundlegenden innerorganisatorischen Bestimmungen der Weimarer Verfassung, die damit auch dem Zugriff der parlamentsvertretenden Präsidialdiktatur entzogen sind, unterliegen ebenso wie die wesentlichen sozialen Grundrechtspositionen einem planmäßigen Vernichtungsprozess durch die derzeitige Reichsregierung. Daraus ergibt sich notwendig eine veränderte Stellung der Arbeiterklasse zu staatlichen Dingen. Denn dieser Staat des 20. Juli ist weder ein parlamentarischer Gesetzgebungsstaat mit potentiell gleicher Chance für alle Klassen, noch ein neutraler
23 Vergleiche Nawiasky in Arch. f. öff. Recht, N. F. 9, S. 52. Die hier erfolgte Umgrenzung der Diktaturbefugnisse gegenüber den Landesregierungen ist beachtlicherweise schon 1925 niedergeschrieben. [Hans Nawiasky: Die Auslegung des Art. 48 der Reichsverfassung, in: Archiv für öffentliches Rechts, N. F. 9, Tübingen 1925, S1 -55.] 24 Dass auch bei reinen Regierungsakten die Ermessungsgrenzen vom Staatsgerichtshof zu überprüfen sind, betont Smend, Annuaire de l'institut international de droit public, 1931, vol. 3, p. 211. Mit besonderem Hinweis auf den Staatsgerichtshof als dafür zuständige Instanz Grau, a. a. O., S. 295. Im Zusammenhang mit dem vorliegenden Rechtsstreit ausdrücklich aufgezeigt bei Giese in »DJZ.« 1932, Spalte 1022. [Rudolf Smend: Les actes de gouvernement en Allemagne, in: Annuaire de l'institut international de droit public, tome 2, Paris 1931; Richard Grau: Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten, in: Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg.): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1932, § 80; Friedrich Giese: Zur Verfassungsmäßigkeit der vom Reich gegen und in Preußen getroffenen Maßnahmen, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin 1932, Sp. 1021-1024.]
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schiedsrichterlicher Beamtenstaat unter der Herrschaft einer nur vermittelnden Elite-Bürokratie. Die Tatsachen zeigen, wie wenig die offizielle Doktrin von der überparteilichen Präsidialgewalt der wirklichen Sachlage entspricht. Denn die Fülle dieser in jeder Hinsicht verfassungswidrigen Maßnahmen, der verwirklichten wie der geplanten, hat ein zentrales Ziel: die gesamte politische Machtfülle an Stellen zu zentralisieren, bei denen eine auch nur entfernte Einflussnahme der werktätigen Bevölkerung nicht mehr vorhanden ist. Diesem Zweck dient die gewaltsame Ausschaltung der einem gewissen Maß von Einfluss der Arbeiterschaft zugänglichen preußischen Regierung. Diesem Zweck dient auch jede einzelne in sich verfassungswidrige Maßnahme dieser verfassungswidrigen Ersatzregierung, von der widerrechtlichen Entfernung nicht politischer Beamter bis zu dem neuen Projekt der prinzipiellen Aufhebung der Selbstverwaltung durch Einsetzung eines allmächtigen bürokratischen Organs mit völlig willkürlichen Kompetenzen. Dem dient schließlich die große angekündigte Verfassungsreform der Reichsregierung: Wahlreform und Oberhaus. Die wirkliche Bedeutung der Abschaffung des Verhältniswahlrechts liegt nicht, wie auch in sozialistischen Kreisen leider noch oft übersehen wird, in einer technischen Verbesserung der Führerauslese und in einer Intensivierung der Beziehungen zwischen Wählern und Gewählten. Hier handelt es sich vielmehr um den Versuch, den massendemokratischen Parteienstaat seiner der Wirkung nach plebiszitären Ausdrucksform zu entkleiden.25 Durch die Wiederbelebung repräsentativer Gedankengänge soll künstlich die politische Lebensform des 19. Jahrhunderts, die nicht zufälligerweise in dem Verschwinden der bürgerlichen Parteien sich als unserer Zeit inadäquat erwiesen hat, fröhliche Urstände feiern. Es ist unendlich charakteristisch, dass diese Art von Wahlreform in ideeller Einheit mit der Einführung eines Oberhauses erscheint. Denn während das Parlament, wie Karl Marx es nennt, die politische Existenz der bürgerlichen Gesellschaft verwirklicht, bedeutet die Einsetzung eines Oberhauses in Wahrheit den Schritt von der politischen Existenz der Gesellschaft zurück zur Konstituierung des »Privateigentums als Basis des Staats«.26 Die neue Totalität 25 Vergleiche die instruktiven Darlegungen von Leibholz über die Grundlagen der Wahlrechtsreform, Veröffentlichung der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer, Heft 7, 1932. [Gerhard Leibholz: Die Wahlrechtsreform und ihre Grundlagen, in: Veröffentlichung der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer, Heft 7, Berlin 1932, S. 159-190.] 26 [Karl] Marx: Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie, in Historischer Materialismus I, [Wien 1926, ] S. 161 ff.
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dieses autoritären Staates hat nichts mehr mit der Totalität des souveränen demokratischen Nationalstaats gemein. Dieser »nachdemokratische Staat« bringt in Wirklichkeit höchst vordemokratische Elemente zum Vorschein. Seine Grundlage ist die Totalität des Vetorechts gegen jede massendemokratische Erscheinungsform der politischen Gesellschaft. Hierzu dient das angemaßte Schiedsrichteramt ebenso wie Oberhaus und wiedererstandene Pluralwahlrechtskünste. Dieser neue Staat verkörpert daher nicht die »transpersonale Dauer und Einheit der Nation«, sondern verdeckt nur dürftig die sehr reale Herrschaft seiner privaten und amtlichen Monopolisten. Es war lange Zeit eine der tragenden Ideen des deutschen demokratischen Sozialismus, im organischen Umbau des bestehenden Staates die Voraussetzungen für sozialistische Neugestaltung zu sehen. Die Möglichkeiten der Selbstverwaltung, die Benutzung der historisch überkommenen Formen der selbständigen Landesverwaltung schienen hierfür nicht ungünstige Voraussetzungen zu liefern. Aber die weitgehende Notwendigkeit zentraler Regelung auf dem Gebiet der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik hat den materiellen Bereich selbständiger Herrschaftsübung in Ländern und Selbstverwaltungskörpern auch schon vor der derzeitigen Wirtschaftskrise stark eingeengt. Hierdurch hat sich schon früh ein Zwiespalt zwischen der personellen Durchdringung des Verwaltungsapparats, dem Besitz politischer Stellungen und der relativen Beschränktheit des verbleibenden sozialen Spielraums ergeben. Der Staatsstreich des 20. Juli hat insoweit der gesamten Notverordnungspraxis einen ebenso gewaltsamen wie eindeutigen vorläufigen Abschluss gegeben, der mindestens den Vorzug unmissverständlicher Klarheit besitzt. Die Zentralisierung staatlicher Macht, unter welchen äußeren Formen sie sich auch immer verbergen mag, nimmt dem Teilbesitz staatlicher Macht praktische Bedeutsamkeit. Sie zwingt der Arbeiterklasse neue Kampfformen auf. Es wäre aber eine irrige Bewertung, im Verhältnis von Staat und Gesellschaft jedweden Staat schlechthin als höhere Organisationsform anzusehen. Der Staat, der seine jeden verfassungsmäßigen Rechtstitels bare Ordnung auf die Zwangsgewalt weniger politischer und ökonomischer Monopolisten stellt, ist unfähig, jene Einheit von Staat und Gesellschaft zu vollziehen, die heute als greifbares Ergebnis eines sozialen Prozesses von gewaltigem Ausmaß hergestellt werden muss. Hier liegt die aus der Dialektik des geschichtlichen Geschehens heraus begreifbare Leistung, die vor unseren Augen der wiedererwachte Feudalismus vollbringt, der wider Willen dabei ist, die Einheit zweier geschlossener Fronten – den feudalisierten Staat gegen die proletarisierte Gesellschaft – zu konstituieren. Daher steht
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auch seine Preußenaktion unter dem Gesetz jenes inneren Zusammenhangs zwischen Freiheit und Notwendigkeit, wie es Tocqueville bei der sorgfältigen Beobachtung bundesstaatlicher Entwicklungstendenzen beschrieben hat: »Le législateur ressemble à l’homme qui trace sa route au milieu des mers. Il peut [aussi] diriger le vaisseau qui le porte, mais il ne saurait en changer la structure, créer les vents, ni empêcher l’océan de se soulever sous ses pieds.«27
27 De la démocratie en Amerique t. l. »Der Gesetzgeber gleicht dem Mann, der das Meer überquert. Er vermag sein Schiff zu steuern, kann aber weder den Bau des Schiffes verändern, noch die Winde erzeugen, noch den Ozean hindern, sich zu seinen Füßen zu erheben.« [Alexis de Tocqueville: De la Démocratie en Amerique, Paris 1835, p. 257. Die Übersetzung stammt von Otto Kirchheimer.]
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[31.] Nazis, Auslandsdeutsche und Proleten* [1932] Die Nationalsozialisten bilden heute für weite Teile rechtsbürgerlicher Intellektueller die letzte Hoffnung, ihre Ideen und Ideologien einmal, wenn auch nur teilweise, verwirklicht zu sehen. Deshalb ist es sehr interessant, sich damit zu beschäftigen, was eigentlich diese in Deutschland zwar zahlenmäßig kleine, aber politisch deshalb nicht bedeutungslose Gruppe, die in fast allen akademischen Berufsständen über einen großen Anhang verfügt, vom Nationalsozialismus erwartet. Darüber haben wir jetzt durch den Sammelband, herausgegeben von Albrecht Erich Günther unter dem Titel »Was wir vom Nationalsozialismus erwarten«, der bei Eugen Salzer in Heilbronn 1932 verlegt worden ist, Näheres erfahren. Um es im vornherein zu sagen: Die in diesem Band zusammengefassten Aufsätze sind keinesfalls einheitlich, und viele der darin behandelten Themen haben aktuelle politische Bedeutung höchstens dadurch, dass sie das alte Lied von der Ablösung des liberalen, demokratischen Staates durch den Staat der nationalen Autorität mit einigen neuen Phrasen versehen, ohne konkrete Angaben über die Art der Verwirklichung zu machen. Aber zwei Aufsätze sind es vornehmlich, die die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in hohem Maße verdienen. In einem Aufsatz, betitelt: »Was erwarten die Auslandsdeutschen vom Nationalsozialismus«, unternimmt Wilhelm Mannhardt [es], dem Nationalsozialismus einige Lehren zu geben, die es verdienen, auch der breiteren Öffentlichkeit bekanntzuwerden. Mannhardt sieht sich vor die Aufgabe gestellt, zu untersuchen, wie die Nationalsozialisten nutzbare Auslandsdeutschenpolitik betreiben könnten. Der Aufsatz wird – statt sein Wegbereiter – zu der vernichtendsten Kritik des Nationalsozialismus von fachkundiger Hand. Es wird dem Nationalsozialismus bescheinigt, dass das Auftreten der nationalsozialistischen Studenten in Siebenbürgen die begeisterte Zustimmung der rumänischen Nationalsozialisten gefunden habe, und dass die Rumänen – frei nach Hitler – den Standpunkt vertreten haben: »Wenn Brot da ist, das auch für die * [Erschienen in: Das freie Wort, Jg. 4, Heft 21, Berlin 1932, S. 17-20. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 97-98. ]
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anderen reicht, mögen sie mitessen, wenn nicht, müssen sie fort. Der Rumäne darf in seinem Lande nicht verhungern, denn er ist Schaffer, Träger und Schützer des Staates.« Es ist wohl verständlich, dass die rumänischen Nationalisten mit den Hitler‘schen Lehren sehr zufrieden gewesen sind. Die Frage aber, ob die siebenbürgischen Gastfreunde der nationalsozialistischen Studenten mit jenen Auslassungen zufrieden gewesen sind, kann Mannhardt beim besten Willen nicht bejahen. Und wir unterscheiden uns von Mannhardt nur dadurch, dass wir dieses Auftreten der Nationalsozialisten in Siebenbürgen, das die Interessen der dort ansässigen deutschen Bevölkerung schwer geschädigt hat, nicht als Mangel an Fingerspitzengefühl, sondern als das bei den Nationalsozialisten schon bekannte Zurücktreten nationaler Interessen hinter ihren Parteiinteressen bezeichnen müssen. Die gleiche Verurteilung findet Mannhardt für die Haltung der Nationalsozialisten gegenüber Südtirol, und es ist sehr interessant, dass in einem Buche, das eigentlich der geistigen Vorbereitung der nationalsozialistischen Machtergreifung dient, den Beamten des Auswärtigen Amtes bescheinigt werden muss, dass sie ihre Aufgabe auf diesem Gebiet gut gelöst haben. Endlich weist Mannhardt noch sehr interessanterweise darauf hin, welche unerwünschte außenpolitische Auswirkung die Stellung des Nationalsozialismus zum Judentum haben kann; denn das Judentum kämpft in den außerdeutschen Ländern Schulter an Schulter mit den Deutschen als nationale Minderheit gegen nationalistische Bedrückung, aber noch weitergehend, das Judentum ist in den ostdeutschen Ländern geradezu ein Träger deutscher Zivilisation. Und Mannhardt sagt unmissverständlich, dass die Auslandsdeutschen im Osten erwarten, dass dieser Zustand des vertrauensvollen Einvernehmens zwischen Judentum und Deutschtum auch fernerhin nicht gestört wird. Nach diesen Betrachtungen kann man wirklich die Frage nicht unterdrücken, die der Verfasser in dieser Präzision trotz seiner sichtbar schweren Sorgen über die außenpolitische Wirkung des Nationalsozialismus leider zu stellen unterlässt: Welchen Nutzen sollen die Auslandsdeutschen eigentlich vom Nationalsozialismus haben? Oder vielmehr: Ist der Nationalsozialismus nicht gerade geeignet, alles das, was die Auslandsdeutschen in mühevollen Jahren aus eigener Kraft und mit Unterstützung der Reichsregierung erreicht haben, durch seinen maß- und ziellosen Nationalismus zu vernichten? Und die innenpolitischen Methoden des Nationalsozialismus sind es doch, die einem nationalsozialistischen deutschen Regime bei jeder deutschen Minderheitenbeschwerde entgegengesetzt werden. Denn darüber müssen sich auch rechte Politiker klar sein: Es wird wenig Überzeugungskraft haben, wenn wir etwa von
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den Polen und Litauern unter Hinweis auf allgemeine Grundsätze zivilisierter Staaten eine liberale Behandlung der deutschen Minderheiten verlangen, wenn wir im innerdeutschen Gebiet solche Grundsätze aufs gröbste missachten. Von anderem Charakter ist der Beitrag des bekannten nationalsozialistischen Professor Ferdinand Plate, Jena, »Die Forderung der Biologie an den Staat«. Dieser Aufsatz, der bei der Autorität Plates als Universitätsprofessor nicht als Darlegung eines Außenseiters, sondern als nationalsozialistischer Programmpunkt bewertet werden muss, verdiente in Millionen von Exemplaren unter der deutschen Arbeiterschaft verteilt zu werden. Werden sie doch erst durch diesen Aufsatz darüber aufgeklärt, dass sie nicht nur einer sozial benachteiligten Schicht angehören, sondern dass sie rassisch und eugenisch eine durchaus minderwertige Angelegenheit darstellen. Für Herrn Plate sieht die Welt so aus: Oben gibt es eine dünne geistige Führerschicht, dann kommt die Mittelschicht des Mittelstandes und des Bauerntums, deren hehre Aufgabe es ist, dem deutschen Volk seine Oberschicht zu ergänzen. Damit ist es aber aus. Die Unterschicht, von der Plate die qualifizierte Arbeiterschaft gnädigst in die Mittelschicht versetzt, »schwillt« – so heißt es wörtlich – »sehr schnell an, zumal ihre Zeugungskraft ungebrochen ist und namentlich in ihren minderwertigen Teilen nicht in dem Maße, wie in ihren anderen Schichten, durch verstandesmäßige Erwägungen beschränkt ist. Überdies enthält die Unterschicht auch den ganzen Haufen der irgendwie Anbrüchigen, der Psychopathen und des Verbrechertums. Sehr gering ist ihr Gehalt an wertvollen Kräften mit unausgeformten Zukunftsmöglichkeiten.«1
Was soll man mit dieser Unterschicht machen? Dass sie nur Objekt der Politik der Oberschicht ist, das ist für unseren Biologen so selbstverständlich, dass es überhaupt nicht der Erwähnung wert ist. Verhungern lassen kann man die nicht völlig, also muss man die Löhne so staffeln, dass sich ein niedriges Lebenshaltungsniveau der Unterschicht ergibt. Und wie niedrig muss nun dieses Lebenshaltungsniveau sein? Ganz einfach: Es muss so niedrig sein, dass die Unterschicht keine Lust mehr zur Fortpflanzung verspürt. Sollte sie aber dennoch so asozial sein, sich
1 [Ferdinand Plate: Die Forderung der Biologie an den Staat, in: Albrecht Erich Günther (Hg.): Was wir vom Nationalsozialismus erwarten, Heilbronn 1932, S. 134. – Die Hervorhebungen in diesem Zitat stammen von Otto Kirchheimer. Im Originaltext heißt es »beschränkt wird«.]
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[31.] Nazis, Auslandsdeutsche und Proleten [1932]
fortpflanzen zu wollen, nun denn, so müssen sie eben sterilisiert werden. Wir sind Herrn Plate zu Dank verpflichtet. In manchen anderen Aufsätzen dieses Buches wird versucht, das Problem des Proletariats dadurch zur Lösung zu bringen, dass man die industrielle Struktur Deutschlands zerschlägt und so ein Reich von Kleinbauern schafft, das vom Nationalsozialismus in Zucht gehalten werden kann. Aber das Rezept von Herrn Plate ist viel einfacher. Die Arbeiter müssen eben verhungern, sie müssen eben so niedrig entlohnt werden, dass eine neue Generation von Arbeitern gar nicht mehr heranwachsen kann. Reverend Malthus war gegen Herrn Plate ein phantasieloser Intellektueller. Er hat sich lediglich bemüht, ein ökonomisches Gesetz zu formulieren, und niemals ist über seine Lippen gekommen, welche Politik zu treiben wäre, wenn sein Gesetz etwa nicht stimmen sollte. Herr Plate hat nicht so viel Interesse aufgebracht, sich für Zwangsläufigkeiten innerhalb ökonomischer Erscheinungen zu interessieren. Für ihn handelt es sich lediglich darum, wie man einen für seine Schicht, nämlich die Oberschicht, die er sich dediziert, unliebsamen Tatbestand am besten und schnellsten aus der Welt schafft. Dabei verbindet er biologische Kenntnisse mit psychischen Einblicken. Da es sich die Untermenschen nicht gefallen lassen würden, stillschweigend zu verhungern, macht man die Sache mit dem folgenden Kniff: Man gibt ihnen gerade so viel zu fressen, dass sie nicht verhungern, aber doch auch so wenig, dass es in der nächsten Generation keine neuen Untermenschen gibt. Fürwahr, die Frage der deutschen Politik ist damit trefflich gelöst. Nur schade, dass die »Untermenschen« auch noch etwas zu sagen haben!
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[32.] Verfassungsreaktion 1932* [1932] Die öffentliche Meinung wird gegenwärtig mit der Frage der Verfassungsreform beschäftigt. Da sich im heutigen Deutschland die Organisationen dieser öffentlichen Meinung unauffällig von ihren Produkten zu distanzieren wissen, kann der außenstehende Beobachter über den Mischungsgrad von Spontaneität und zentralem Plan nur recht vage Vermutungen hegen. Vorläufig klingt das allgemeine Rufen nach Verfassungsreform so dringlich, als ob die Umorganisierungsgeschwindigkeit der parlamentarischen Demokratie die Voraussetzung für eine entsprechende Zunahme des Beschäftigungsgrades bilde. Mindestens könnte man dies meinen, wenn man nicht wüsste, dass dieser Regierung die »Sanierung der Seelen« – um ein Wort Seipels zu gebrauchen – ebenso wichtig erscheint, wie die Sanierung der Wirtschaft. Oder handelt es sich vielleicht um die Sanierung ihrer Herrschaft? Jedenfalls naht die Zeit, wo die Regierung gezwungen ist, zur Konkretisierung ihrer politischen Metaphysik zu schreiten. Bisher wusste man nur, dass diese Regierung zum polemischen Instrument gegen die Weimarer Verfassung bestimmt war. Aber ihre institutionellen Konsequenzen waren deshalb schon problematisch, weil sie zu einem nicht geringen Teil auf die Person des gegenwärtigen Reichspräsidenten abgestellt sind. Mag die Regierung der autoritären Staatsführung noch so stark die Leerform der Demokratie, die Unmöglichkeit anonymer Parlamentsmehrheiten, heterogener Interessenparteien als Prinzip ablehnen (so spiegelt sich hier die Demokratie wider) und ihre Legitimierung mit dem hic et nunc der Person des gegenwärtigen Reichspräsidenten verbinden – schon die Prätention, »vier Jahre an der Macht zu bleiben«, muss sie darauf führen, dass es eine zwar nicht hinreichende, vielleicht aber notwendige Bedingung ihrer Existenz ist, dem deutschen Volk die Illusion zu geben, als könne eine seinen politischen Bedürfnissen entsprechende, auf Dauer berechnete Reform der politischen Seinsordnung unter Führung der durch sie repräsentierten Schichten und Ideen stattfinden. Man geht dabei von dem richtigen Gedanken aus, dass * [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Politik, Jg. 9, Heft 11, Berlin 1932, S. 415-427. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 100-102.]
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[32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932]
Dauer ein wesentliches Element jeder Verfassungsintention ist. Man scheint aber zunächst über die Tatsache hinwegzusehen, dass sowohl für den Moment der Einführung wie für die Dauer eine soziale Basis, die die legale Introduktion und das legale Funktionieren einer solchen Verfassung gewährleisten würde, nicht ersichtlich ist. Allerdings scheint es nach der Münchner Rede des Reichskanzlers (jede Verfassungsreform hat eben im heutigen Moment ihre gegenrevolutionäre Logik) zweifelhaft, ob die Regierung auch nur auf die Legalität der Einführung Wert legt. Scheint es doch für die Regierung bereits festzustehen, dass zur Legitimierung des Reichstags seine Erwähltheit gar nicht, seine »Arbeitsfähigkeit« im Sinne der Existenz irgendeiner Regierungsmehrheit (wie es im September hieß) auch nicht mehr ausreicht; gefordert ist jetzt die Anpassung an den Willen der bestehenden Regierung. Die angebotene Gegenleistung geht allerdings gegenüber dieser Institution der Demokratie nicht einmal so weit, wie sie der preußische Adel früher dem Landesherrn gegenüber für notwendig erachtete: »Und der König absolut, wenn er uns den Willen tut.« In Gestalt der Reform wird die Aufhebung der Legalität als Bedingung der Legalität der Aufhebung gesetzt. Die Verdünnung des ideologischen Überbaus, die man als eines der entscheidenden Strukturmerkmale Nachkriegsdeutschlands ansehen kann, und die sich auch in der – auf die ideologische Ebene übertragen – zeitweilig rein tagespolitischen Einstellung der Arbeiterschaft gezeigt hat, ist in der hier interessierenden politischen Sphäre markant festzustellen. Es herrscht hier eine erstaunliche Disproportionalität zwischen der Massenhaftigkeit der Verbreitung faschistischer Ideologiesurrogate und dem geringen Umfang der geistig selbständigen Produktion. Vergleicht man die großen, über den eigentlichen Daseinsbereich der Bourgeoisie weit hinauswirkenden Ideen, die die französische Periode der Verfassungsbildungen am Ende des achtzehnten und im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts entscheidend beeinflusst haben, mit dem Amalgam ständisch-konservativ-neumodisch-faschistischer Grundsätze von heute, so wäre man auch hier versucht, die objektive Größe eines historischen Prozesses am Gehalt seiner ideologischen Manifestationen zu messen. Der Niveauunterschied, auf den wir hinweisen, zeigt deutlich den fast postum anmutenden Charakter jener Episode, deren Zeugen wir sind. Wenn eine spätere Zeit den geistigen Bestand dieser Epoche sichtet, so wird sich ihr das Buch von Carl Schmitt über Legali-
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tät und Legitimität1 als eine Schrift darbieten, die sich aus diesem Kreis sowohl durch ihr Zurückgehen auf die Grundlagen der Staatstheorie als auch durch ihre Zurückhaltung in den Schlussfolgerungen auszeichnet. Carl Schmitt teilte mit der Mehrheit der Verfassungsreformer des Jahres 1932 die Aufnahme der Wahlparole des Jahres 1925: Mehr Macht dem Reichspräsidenten! Allerdings ist aus der Differenz der konkreten Intentionen von damals und heute die im demokratischen Sinn rückläufige Bewegung des dazwischen liegenden Intervalls, der ersten Amtsperiode des Herrn von Hindenburg, erkennbar. War der erste Ruf an Hindenburg der nach einer Verfassungsreform innerhalb der Weimarer Verfassung, so handelt es sich heute um Verfassungsrevolution. Ging es damals deutlich um die Auseinandersetzung zweier Legalitätsfaktoren im strittigen Grenzbereich, so wird heute die Forderung laut, durch die präsidiale Legitimität die parlamentarische Legalität aufzuheben. Darüber darf auch nicht hinwegtäuschen, dass demjenigen Organ, dem im Schmitt‘schen Verfassungsbild (das aus der genannten Schrift sich freilich nur in großen Umrissen ergibt) eine beherrschende Rolle zukommt, nämlich dem unmittelbar auftretenden Volk auch in der Reichsverfassung eine maßgebende Stellung eingeräumt ist. Handelt es sich doch nicht nur um unmittelbar verschiedene Gehalte in der bestehenden und der geplanten Verfassung. Heute überträgt sich die herrschende Rolle der Parteien bei den Parlamentswahlen auch auf das Plebiszit und prägt ihm, sowohl der Form als auch dem Inhalt nach den Charakter einer Partei- oder Klassenaktion auf. Dass die Parteien das Volk nicht nur intermittierend für die Wahlzeiten organisieren wie in den USA, wo sie den Charakter einer bloßen Wahlplattform haben, zeigt sich auch darin, dass sie auch beim Volksbegehren entweder selbst die Initiative übernehmen oder ein anderswie eingeleitetes Volksbegehren stützen und ihm damit überhaupt erst eine Erfolgschance verschaffen. Bei Carl Schmitt dagegen besteht der demokratische Charakter des Plebiszits lediglich in einer unorganisierten Antwort, die das als Masse charakterisierte Volk auf eine Frage gibt, die nur von einer als vorhanden gesetzten Autorität gestellt werden darf. Konstruktion und Abhängigkeit dieser Autorität sind unbekannt, und nur ihre Existenz selbst ist ein deutlicher Punkt in dem sonst in überwiegend ideologischer Kritik verharrenden Bild. Dem gegenüber kontrastiert das Volk. Wenn in dem einen Fall ohne den Nachweis einer institutionellen Garantie angenommen wird, dass der Magistrat das Gute will, so in dem andern Fall, dass das Volk dieses Gute, dessen 1 Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, Duncker u. Humblot[, München/Leipzig], 1932.
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Bestimmbarkeit in einer antagonistischen Klassengesellschaft als problemlos vorausgesetzt wird, nicht wollen, sondern nur billigen kann. Die verfassungsrechtliche Position dieses Volkes ist in diesem neuen Verfassungsbild genau auf seine anthropologischen Charaktere zugeschnitten: »Das Volk kann nur ja oder nein sagen, es kann nicht beraten, deliberieren oder diskutieren. Es kann nicht regieren und nicht verwalten, es kann auch nicht normieren, sondern nur einen ihm vorgelegten Normierungsentwurf durch sein Ja sanktionieren. Es kann vor allem auch keine Frage stellen, sondern nur auf eine ihm vorgelegte Frage mit ja oder nein antworten.«2
Sofern diese Schmitt‘sche Beschreibung für das Deutschland der Zukunft gelten soll, scheint sie an einem doppelten Anachronismus zu leiden. Dieses Volk wäre das Volk einer nachdemokratischen Verfassung – aber die westeuropäische Demokratie war nur möglich, indem sich in einem langen und schmerzhaften Prozess, der mit der wachsenden Industrialisierung parallel ging, die Masse von einem rein passiven Träger des geschichtlichen Geschehens zu aktiven Organisationsformen entwickelte. Die Demokratie hat mit einer Geschwindigkeit, die allen Thesen über die Unveränderlichkeit der Menschennatur widerspricht, den strukturellen Charakter der Masse entscheidend verändert: »In der europäischen Geschichte wenigstens hat sich bis zum heutigen Tage das Volk noch niemals eingebildet, »Ideen« über irgend etwas zu haben. Es hatte Glaubenslehren, Überlieferungen, Erfahrungen, Sprichwörter, Denkgewohnheiten. Aber es dünkte sich nicht im Besitz theoretischer Einsichten in das Sein oder Sollsein der Dinge – in Politik etwa oder Literatur. Was der Politiker plante oder tat, erschien ihm gut oder schlecht. Es stimmte für oder gegen. Aber es beschränkte sich darauf, im einen oder anderen Sinn den Resonanzboden für die schöpferische Tat anderer abzugeben. Den Ideen des Politikers seine eigenen gegenüberzustellen, ja sie auch nur vor das Tribunal anderer »Ideen« zu ziehen, die es zu besitzen glaubte, wäre ihm niemals eingefallen. Die selbstverständliche Folge war, dass das Volk auch nicht entfernt daran dachte, auf irgendeinem Gebiet der öffentlichen Tätigkeiten Entscheidungen zu treffen. [...] Heute dagegen hat der Durchschnittsmensch die deutlichsten Vorstellungen von allem, was in der Welt geschieht und zu geschehen hat. Dadurch ist ihm der Gebrauch des Gehörs abhanden gekommen. Wozu hören, wenn er schon alles, was nottut, selber weiß? Es ist nicht mehr an der Zeit zu lauschen, sondern zu urteilen, zu befinden, zu entscheiden. Im öffentlichen Leben gibt es
2 C. Schmitt, ebda., S. 93.
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keine Frage, in die er sich, taub oder blind wie er ist, nicht einmischte, seine Absichten durchsetzend.«3
Wie immer man auch diesen von Ortega y Gasset als »Aufstand der Massen« bezeichneten Vorgang bewerten mag, klar scheint zu sein, dass der Tatbestand, den man je nach seiner weltanschaulichen Einstellung als Selbstbescheidung oder Selbstunterwerfung der Masse bezeichnen kann, der Vergangenheit angehört. Jener sozialpsychologische Habitus, unzweifelhaft ein Merkmal auch noch des Anfangsstadiums der Massendemokratie, ist in der Zäsur des großen Krieges und der mit ihm verbundenen Umwälzungen zurückgetreten. Die Krise der Demokratie, gerade jene Tatsache also, auf deren historischem Hintergrund Schmitt die Theorie entwirft, die wir betrachten, hat die Entwicklung nur beschleunigt. Nichts wäre falscher als, eine momentane Ebbe der politischen Massenspannungen verabsolutierend, zu glauben, dass etwa gleichlaufend zur Konzentration der Macht von Bürgertum, Armee und Bürokratie im deutschen Staatsapparat eine Diffusion des politischen Masseninteresses eingetreten sei. Es scheint deshalb, dass die Geburtssituation der schwerste Fehler dieser neuen Verfassung wäre. Es stößt sich die vordemokratische Grundlage dieser Schmitt‘schen Theorie mit ihrer Intention, eine entfaltete Demokratie zu liquidieren. Aber selbst wenn man die Möglichkeit einer auf längere Zeit berechneten Realisierung dieser neuen Machtverteilung einmal unterstellt, so scheint, dass im Umriss der neuen Verfassungsordnung das Problem der verfassungsrechtlichen Dynamik, der Normierung des Machtwechsels, ungelöst geblieben ist. Hat der Magistrat zurückzutreten, wenn er sich bei einer wenn auch richtig gestellten plebiszitären Frage einen Misserfolg holt? Oder würde hier nicht nach aller geschichtlichen Erfahrung die von Schmitt früher einmal als Jakobinerlogik4 bezeichnete Ideologie, die dem subjektiven Meinen der Volksmasse ihr objektives Meinensollen substituiert, die Lücke der Verfassungstheorie auch heute ausfüllen müssen? Wie viele Vorwürfe man der modernen Demokratie auch machen kann, immerhin ist sie die einzige Staatsform, die in einer Zeit wachsender sozialer und mitunter auch nationaler Heterogenität das Zusammenwirken bzw. den Wechsel verschiedener Gruppen verfassungsmäßig ermöglicht. Sie allein fasst durch ein allgemeines, gleiches und geheimes Wahlrecht sowie durch die Garantie der 3 Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, [Stuttgart] 1932. S. 75, 76. 4 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Grundlage des heutigen Parlamentarismus. 2. Aufl.[, Berlin 1926.]
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politischen Freiheitsrechte das Problem einer politischen Entsprechung zu bestimmten sozialen Strukturveränderungen ins Auge. Für eine »nachdemokratische« Verfassung jedoch entstehen hier die größten Schwierigkeiten, die bisher keine der modernen cäsaristischen Spielarten der Demokratie zu lösen vermocht hat. Denn für eine fixierbare Institutionalisierung des persönlichen Charismas fehlt in einer von allen Traditionsbindungen befreiten Zeit jede Bedingung. Eine verlorene Schlacht, ein misslungener ökonomischer Plan oder der Tod des bisherigen Amtsinhabers bringt einen nicht nur in der sozialen Dynamik begründeten, sondern in erster Linie aus der veränderten politischen Institution folgenden Umsturz, der bei dem gewaltigen Amtsapparat des 20. Jahrhunderts – anders als in früheren Jahrhunderten – nicht nur politische, sondern unabsehbare soziale Folgen haben müsste. Aber neben diesen allgemeinen Gründen, die die Unmöglichkeit einer Normierung des Machtwechsels in einer cäsaristischen Herrschaftsordnung dartun,5 gibt es einen speziellen Umstand, der es im gegenwärtigen Deutschland verbietet, über allgemeine Antithesen hinauszukommen. Denn man kann den Versuch, ein persönliches Charisma zu institutionalisieren – die Geschichte Mussolinis hat dies ja gezeigt – erst dann unternehmen, wenn eine gewisse sinnfällige Bewährung des Charismas eingetreten ist. Solange dies nicht der Fall ist – unter dem Horizont des Übergangs zum nachdemokratischen Zeitalter in Deutschland ist bekanntlich der Streit, wer der Träger des Charismas sein solle, noch nicht einmal ausgetragen –, kann man lediglich das Bild einer zugleich autoritären wie plebiszitären Gewalt entwerfen, ohne über deren Daseinsbedingungen etwas Konkretes aussagen zu können. Denn es ist einzig und allein die Leistung, die hier eine legitimierende Wirkung erzeugen könnte. Zur Institutionalisierung einer neuen, vom Volke unabhängigen Macht, deren Bewährung durch kein auch noch so äußerliches geschichtliches Ereignis ersichtlich ist, würde selbst eine als vorhanden vorausgesetzte antidemokratische Massenstimmung nicht ausreichen können. Ist es doch nicht die Güte unpersönlicher Institutionen, sondern gerade die unbezwingbare Macht persönlicher Faktoren, die hier erst einmal vorhanden sein müsste, um gebilligt werden zu können. Denn erst dann kann ja bei einem solchen System der Versuch einer Institutionalisierung gewagt werden, dessen Erfolg allerdings jenseits aller möglichen Berechenbarkeit und Voraussicht liegt.
5 Vergleiche die Bemerkung von [Rudolf] Smend, Verfassung und Verfassungsrecht[, München/Leipzig 1928], S. 111, Anm. 3, über die contradictio in adjecto einer charismatischen Verfassung.
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Der festgestellten Unmöglichkeit, in der heutigen Situation das Bild einer grundsätzlich neuen antidemokratischen Verfassung für Deutschland zu entwerfen, widerspricht auch die Tatsache nicht, dass der juristische Praktiker Schiffer ein 38 Punkte umfassendes Programm, das er als Vorschlag einer neuen Verfassung bezeichnet, vorlegt.6 Stellt doch dieser Entwurf im Wesentlichen nur eine Kodifizierung des heutigen Verfassungszustandes dar. Seine beherrschende Gestalt ist nämlich der Reichspräsident, der nicht nur Chef der Exekutive ist, nicht nur das Recht zum Erlass von Maßnahmen besitzt, sondern dessen heutige gesetzesvertretende Notverordnungspraxis im gesamten Umfang legalisiert wird. Stellt man, wie Schiffer es tut, den Reichspräsidenten im Abstand von vier Jahren einem Volke zur Wahl, dem außerhalb dieses Prozesses in einer bis zur antidemokratischen Willkür gesteigerten Willensvereinheitlichung keinerlei Befugnis bleibt, so ergeben sich zwei Möglichkeiten. Entweder korrumpiert die Armee zusammen mit der Bürokratie, der der Autor folgerichtig in seinem Entwurf einzig und allein eine unabhängige Stellung zuweist, auch noch diese Wahl und schaltet dadurch das letzte Stück realen Volkseinflusses aus, oder aber es gelingt dem Volk, einen von der Bürokratie unabhängigen und unbeeinflussbaren Präsidenten zu wählen: das Verfassungssystem bricht im Kampf zwischen Bürokratie, Armee, Inhabern antiquierter Eigentumstitel einerseits, und dem lediglich vom Reichspräsidenten repräsentierten Volk andererseits zusammen. Das lapidare »Umgekehrt«, das Marx dem Hegel‘schen Satz: »Die Regierung ist keine Partei, die einer anderen gegenübersteht«,7 entgegenstellt, würde auch für die Illusionisten des autoritären Staates, die nicht sehen wollen, dass der Staat eine Einrichtung der Gesellschaft ist, handgreifliche Gestalt annehmen. Aber auch wenn ein allseitig legales Vorgehen aller Beteiligten einmal vorausgesetzt würde, wäre wahrscheinlich die inhaltliche Variabilität und damit Instabilität größer als im parlamentarischen Gesetzgebungsstaat. Denn eine derart weitgehende Willensvereinheitlichung des plebiszitären Faktors in der Person des Reichspräsidenten müsste dazu führen, die Politik viel größeren Schwankungen zu unterwerfen, als diese
6 Eugen Schiffer, Die neue Verfassung des Deutschen Reiches[. Eine politische Skizze], Berlin 1932. 7 Marx, Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie, in: »Der historische Materialismus«, Frühschriften I., S. 105. [Karl Marx: Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie, in: Siegfried Landshut, Jacob-Peter Mayer (Hg.): Der historische Materialismus. Die Frühschriften, Band 1, Leipzig 1932, S. 105.]
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durch die typischen Differenzen zwischen den Parlamentsparteien erfahren könnte.8 Das Schiffer‘sche Parlament hat mit der Institution, die man vom 19. Jahrhundert bis auf unsere Tage unter diesem Begriff verstand, ungefähr ebensoviel zu tun wie das Parlament des vorrevolutionären Frankreich, bloß dass das »lit de justice« im nachweimarischen Reich durch das selbständige Gesetzgebungsrecht des Reichspräsidenten zur normalen Funktion umgestaltet wird. Und der Fortgebrauch dieses Wortes ist nur aus jener selben ideologischen Taktik zu erklären, aus der heraus die nachdemokratischen Verfassungen sich selbst als »wahre Demokratien« anpreisen. Denn wie auch immer das Parlament seit der Begründung seiner Eigenständigkeit in der glorious revolution zusammengesetzt gewesen sein mag, welche sozialen Strömungen in ihm privilegiert oder ausgeschlossen wurden, eine Eigenschaft wurde ihm seit jener Zeit kaum mehr streitig gemacht: die seiner notwendigen Mitwirkung bei der Gesetzgebung. Wenn das neue Parlament nicht nur durch das Recht des Diktatorpräsidenten, Maßnahmen zu erlassen, und durch dessen selbständiges Gesetzgebungsrecht beschränkt wird, sondern ihm dazu auch noch die Möglichkeit, diese Präsidialgesetze aufzugeben, praktisch genommen wird,9 so wird damit die legislative Funktion des Parlaments beseitigt. Dies aber tritt dadurch ein, dass bei der juristisch noch möglichen eigenartigen Konkurrenz zwischen Präsident und Parlament dieser einzigartige Verfassungsentwurf auch noch eine Personalunion zwischen neutralem Dritten und Präsidenten schafft, insofern Verfassungskontrolle und Verfassungsanwendung bei
8 Die gleiche Befürchtung spricht auch Meinecke in seinem Aufsatz »Ein Wort zur Verfassungsreform« (Vossische Zeitung vom 12. Oktober 1932) aus. [Friedrich Meinecke: Ein Wort zur Verfassungsreform, in: Vossische Zeitung, 12. Oktober 1932, Berlin, S. 1.] 9 Art. 14 Satz 2: »Er [der Reichspräsident] kann auch ohne einen Beschluß des Reichstags ein Gesetz verkünden, wenn sein Erlaß unaufschiebbar ist und der Reichstag sich außerstande erweist, es rechtzeitig zu beschließen.« Art. 15 Satz 2: »Sie [die Gesetze und Maßnahmen des Reichspräsidenten] sind außer Kraft zu setzen, wenn der Reichstag es verlangt und zugleich feststellt, daß sie des begründeten Anlasses entbehren. Trifft der Reichstag diese Feststellung, so hat er darüber abzustimmen, ob gegen den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und die verantwortlichen Reichsminister Anklage wegen schuldhafter Verletzung der Reichsverfassung zu erheben ist. Trifft er sie nicht, so sind die beanstandeten Maßnahmen nur dann außer Kraft zu setzen, wenn der Reichstag an ihrer Stelle andere demselben Zweck dienende Maßnahmen beschließt.« [Die Einschübe stammen von Otto Kirchheimer.]
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ihm vereinigt sind. 10 Eine Faktizität des Gesetzgebungsrechts des Parlaments ist nur mehr als Gnadenakt des Präsidenten möglich. Da diesem Parlament noch dazu die Möglichkeit, dem Ministerium ein Misstrauensvotum zu erteilen, so beschnitten wird, dass es wohl im normalen Betrieb dieses Staates nie zustande kommen kann,11 so liegt in Wirklichkeit hier nur noch ein Parlament im Sinne des von Max Weber für das zaristische Russland von 1905 bis 1917 geprägten Begriffs des Scheinkonstitutionalismus vor. Aus der Theorie des 19. Jahrhunderts – um im Sprachgebrauch unserer neuesten Soziologenschulen zu bleiben –, dass die Regierung und nicht das Parlament die Exekutive handhabe, wird bei Herrn von Papen die Theorie, dass »die Regierung und nicht das Parlament die Staatsgewalt handhabe«. In den Begriff »Staatsgewalt« müsste man doch eigentlich, wenn man nicht die faschistische Theorie »l’atto procede la norma« (die Handlung geht dem Gesetz voraus) zur äußersten Konsequenz der Eliminierung genereller Normen überhaupt treiben will, die Gesetzgebung mit einbeziehen. Die Funktion eines Parlaments vom Typ des Scheinkonstitutionalismus besteht bekanntlich lediglich in einer allerdings im Erfolg sehr zweifelhaften Konservierung des Glaubens an seine Funktion. Die Existenz eines solchen Parlaments ohne Funktionsbereich wird gnädigst gestattet. Diese Kategorie des seigneuralen gnädigen Gewährens, die in einer hier wirklich inadäquaten Denaturierung Kant‘scher Begriffe als sittliche Pflicht erscheint, beherrscht nicht nur die Einrichtung dieses Parlaments. Sie ist durchgehend eine Grundkategorie nicht nur des politischen, sondern auch des sozialen Aufbaus des neuen Regimes. So wie der Versorgungsstaat nicht nur deshalb kritisiert wird, weil er der Arbeiterklasse zu viel gab, sondern vor allem, weil er ihr ein Recht auf dieses Viele gab, so wird die Demokratie nach außen hin nicht vor allem deshalb kritisiert, weil sie dem Volk zu viel gab, sondern weil sie ihm Rechte und damit die Möglichkeit zu fordern gab, wo es nur – und hier berührt sich diese Theorie mit der Schmitt‘schen Anthropologie der Masse – die Qualitäten des Empfangens oder Verwerfens gibt. Es wäre aber nach allen Erkenntnissen der Ideologien10 Art. 7: »Der Reichspräsident ist der Hüter der Verfassung. Er kann jede Verletzung der Verfassung rügen und gegen ein verfassungswidriges Verhalten [...] einschreiten.« 11 Art. 30: »Der Reichstag kann in einem mit einer Begründung versehenen gemeinschaftlichen Ersuchen beider Häuser die Entlassung der Regierung verlangen. Lehnt der Reichspräsident die Entlassung ab, so kann der Reichstag die Absetzung des Reichspräsidenten durch Volksabstimmung beantragen. Der Beschluß des Reichstags erfordert Zweidrittelmehrheit jedes der beiden Häuser.«
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lehre erstaunlich, wenn sich diese Vertauschung von Recht und Sitte vollziehen würde, ohne dass dabei an den realen Prozessen des Gebens und Nehmens, sei es in der ökonomischen, sei es in der politischen Sphäre, eine wesentliche Veränderung eintritt. Als rationale Begründung für eine solche Abdikation des parlamentarischen Gesetzgebers wird darauf hingewiesen,12 dass in der gegenwärtigen Epoche Individualität und Mangel an Dauer diejenigen Normstrukturen darstellen, die sich allein mit dem vorliegenden Substrat decken und von ihm gefordert sind. Man könnte dieser These beistimmen, dürfte dabei aber nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, dass es zwei verschiedene Veränderungen des Substrats sind, die hier zugrunde liegen:13 einerseits die Organisierung der Gesellschaft in ihrer ökonomischen und sozialen Sphäre, die die infinitesimal geringe Bedeutung des Individuellen aufhebt, andererseits die besondere Schnelligkeit der sozialen Dynamik in bestimmten, aber durchaus nicht allen Zeitabschnitten dieser Geschichtsepoche der »Organisierung«, die ja sowohl »Spätkapitalismus« wie »Frühkapitalismus« umfassen dürfte. In jedem Fall aber erscheint das »bis hierher und nicht weiter«, das von diesen Kritikern dem Parlament zugerufen wird, wenn es sich über die Grenzen des generellen Gesetzesbegriffs hinauswagen will, nicht schlüssig. Mit besonderer Emphase versucht man heute, den generellen Charakter, der in einer bestimmten Epoche der kapitalistischen Entwicklung aus sozialen, nicht aus unmittelbar politischen Gründen zu einem (damals übrigens unbeachtet gebliebenen) Strukturbegriff des parlamentarischen Gesetzes wurde, als ein begriffsnotwendiges Merkmal jedes Parlamentsgesetzes hinzustellen und daraus den Schluss herzuleiten, dass heute das Parlament, dem sein Korrelatbegriff des generellen Gesetzes verloren gegangen ist, natürlicherweise dem Diktator des Verwaltungsstaates weichen müsse. Aus dieser Beweisführung ergibt sich auf jeden Fall, dass eine auf ganz andere (sub specie dieser Epoche zum großen Teil zufällige) Ursachen zurückführbare Funktionsunfähigkeit des Parlaments dem Wandel des sozialen Substrats selbst zugerechnet und damit eine hoffnungslose Prognose der maladie parlementaire gestellt wird. In Wirklichkeit ist keineswegs erwiesen, dass erstens die Allgemeinheit ein notwendiges Begriffsmerkmal des Gesetzes überhaupt ist und zweitens die Bürokratie in der Lage ist, den gegenwärtigen Zuständen entsprechendere Regelungen zu finden als 12 C. Schmitt, Legalität und Legitimität[, München/Leipzig 1932], passim. 13 Vergleiche hierzu die diesbezüglichen Ausführungen von Ernst Fränkel, in »Die Gesellschaft«, Oktober 1931. [Ernst Fraenkel: Die Krise des Rechtsstaats und die Justiz, in: Die Gesellschaft, Jg. 8, Heft 10, Berlin 1931, S. 327-341.]
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das Parlament. Dass diese bei der Unbeschwertheit ihres Verfahrens die Regelungen schneller und kaleidoskopartiger und ohne jenes parlamentarische Minimum an Schutz für den Betroffenen vornehmen kann, dürfte bis in weite Kreise des Bürgertums hinein nicht mehr als Vorteil angesehen werden. Die Einschränkung der Parlamentsrechte erfolgt jedoch nicht nur durch die Präsidialgewalt als durch einen deutlich vom Parlament unterschiedenen Faktor, sondern dem Parlament sollen überdies ihm wesensfremde Elemente in der historisch bekannten Gestalt des Oberhauses eng zugeordnet werden. Neben die hier antidemokratisch gewendete plebiszitäre Legitimität des Reichspräsidenten tritt das uranfänglich antidemokratische Element der Legitimation der sogenannten Sachberechtigten. Es ist eine eigenartige Mischung von Cäsarismus und Ständestaat, von Erwartung des Durchbruchs der persönlichen Integration und der genauen Festlegung einer Ordnung der Lebensbereiche und der in ihnen Berechtigten.14 Fragt man sich, welches von den bei Schiffer in roher Form genommenen Elementen von der deutschen Reaktion in Zukunft bevorzugt werden wird, die Institutionalisierung des heutigen politischen Status quo oder der Ausbau des Ständeparlaments, so muss die Antwort zugunsten des Ständeparlaments lauten. Denn während die Normen der Präsidentenwahl bei der sozialen Struktur Deutschlands keine Gewähr dafür bieten, dass das Volk den »Würdigen« trifft, bedeutet jene Abbildung der herrschenden sozialen Machtverhältnisse, wie sie der Ständestaat in der politischen Ebene eo ipso darstellt, eine Garantie für die Erreichung der eigentlichen materiellen Ziele dieser Verfassungsreform. Wie bei einer Beibehaltung der bisherigen plebiszitären Selbstlegitimierung dieser neuen Regierung ihre Krise im Moment der früher oder später notwendig werdenden Abhebung von dieser Basis fällig wird, so wird auch in diesem Moment die zweite und im Sinne dieses Regimes wohl endgültige praktische und verfassungstheoretische Fundierung erfolgen müssen. In diesem Moment wird neben dem Oberhaus die von jeder Volkswahl unabhängige Bürokratie das spezifische Gewicht ihres Legitimierungsbeitrags steigern, aber auch ihre funktionelle Bedeutung im Rahmen des wiederum veränderten Staatssystems erhöhen. Indem der Ständestaat das Problem der Willensvereinheitlichung nicht löst, sondern nur verschiebt, bedingt er als ein Korrelat eine als pouvoir neutre eingreifende 14 Art. 19: »Die Mitglieder des Länder- und Ständehauses werden von den Regierungen der Länder, den Obrigkeiten der Gemeinden und Gemeindeverbänden und den Organisationen des wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebens bestimmt.«
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Bürokratie, die hier der wirkliche deus ex machina ist.15 Dann fällt auch der legale Ansatzpunkt der Revolution, der in der Wahl eines unabhängigen Präsidenten gegeben sein könnte, fort. Statt des fehlenden Massenventils der Wahl tritt eine allseitige Korrumpierung ein. Das Wort »Alles ist Pfründe und nichts lebt«, das Carl Schmitt auf den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat angewandt hat, würde in adäquaterer Weise für eine Staatsordnung gelten, in der alle Dynamik zugunsten einer illusionären Statisierung ausgelöscht wird. Wenn diese noch in der Unabänderlichkeit der Verfassung selbst (außer durch ein pouvoir constituant, dessen legale Herkunft allerdings nirgendwo angedeutet wird) verankert ist, so wird damit die letzte Chance einer Kontinuität der Rechtsordnung ausgeschlossen.16 Die Kritiker, sowohl Theoretiker wie Praktiker, glauben sich heute über das Verfassungswerk von Weimar erhaben. Sie beweisen damit die Wahrheit des Hegel‘schen Satzes, dass das einzige, was man aus der Geschichte lernen kann, das ist, dass die Menschen nichts aus ihr lernen. Was Weimar versagen ließ, scheint in erster Annäherung die durch die Selbstverständlichkeit demokratischen Verhaltens nicht gemilderte soziale Heterogenität, die einen bisher historisch unbekannten Grad erreichte. Aber dieses Versagen beweist nicht, dass diese Heterogenität durch den autoritären Staat das zweite wesentliche Instabilitätselement der Weimarer Demokratie, ein ihr unverbundenes Heer und Beamtentum, an sich zu binden vermag. Freilich ist das in der plebiszitären Spielart wiederum nur eine sehr unsichere Chance. In der ständischen Gesellschaft wächst die instabilisierende Kraft der von jeder Reformmöglichkeit des Status quo der sozialen Machtverteilung abgesperrten und von der Suche nach einem eigenen Kompromiss entbundenen 15 Mit vollem Recht hat Thoma in seinem Artikel »Staat« im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 6, S. 743, hervorgehoben, dass ein Berufsständeparlament den Konstitutionalismus mit selbstregierender Bürokratie erfordere: »Man muß beides wollen oder auf beides verzichten.« [Richard Thoma: Staat (Allgemeine Staatslehre), in: Ludwig Elster, Johannes Conrad (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Band 7, Jena 1926, S. 724-756.] 16 Wenn Schiffer in Art. 38 seines Entwurfs die Unabänderlichkeit dieser seiner Verfassung vorsieht und ihre Aufhebung oder Abänderung nur durch eine neue Nationalversammlung zulassen will, so kann er sich hierfür übrigens nicht auf Schmitt berufen. Denn Schmitt nimmt in seinem zitierten Buch gerade eine bewusste Minderbewertung aller Organisationsformen vor und legt sich nur auf die unabänderlichen materialen Werte des zweiten Hauptteils der Weimarer Verfassung fest, während Schiffer es bewusst unterlässt, Grundrechte aufzunehmen, weil alles im Fluss sei und es schon mehr als gewagt sei, sich heute hinsichtlich der künftigen Gestaltung der Ehe, des Familienlebens oder gar der Wirtschaft festzulegen. (S. 33.) [Eugen Schiffer: Die neue Verfassung des Deutschen Reiches, Berlin 1932, S. 33.]
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widerstrebenden gesellschaftlichen Kräfte. Kann diese Verfassungsreform nicht einmal von dem subalternen Standpunkt der reinen Stabilität aus als zureichend angesehen werden, so liegt das an der simplen Tatsache, dass eine Lösung des politischen Stabilitätsproblems unter Absehen vom sozialen Strukturproblem nicht unternommen werden kann. Soll die Staatsgewalt nach den Münchner Worten des Herrn von Papen wie ein rocher de bronce stabilisiert werden, wovon seit jeher Militär, Bürokratie und ihre sozialen Annexe träumen, so darf sie nicht unabhängig von den Parteien gestellt sein. Denn auch die Ideologen des neuen Regimes werden sich darüber klar sein, dass die Kontrastierung von Parteien und Volk nur eine Parole der »Präsidialpartei« ist, nicht aber eine soziologische Realität darstellt. Versucht die Regierung über die Parteien hinweg das Volk zu erreichen und zu repräsentieren, so wird nach aller geschichtlichen Erfahrung diese »richtige Verbindung der Regierung mit dem Volk« (Papen in München) nach der Absicht der Regierung eine ewige Verbindung zwischen ihr und dem Volk sein. Wieviel enger ist aber doch die Bindung von Massenpartei und Volk, in der auch die widerstrebendste Parteibürokratie im politischen Konkurrenzsystem der Demokratie bei Strafe des Untergangs gezwungen wird, sich zum Transformator der Massenenergien zu machen. Sie muss sich ihre Autorität täglich neu vom Volk bestätigen lassen – eine Regierung betont aber im allgemeinen nur dann ihren autoritären Charakter, wenn die freiwillige Anerkennung ihrer Autorität prekär erscheint. Aber mag diese Ersetzung der Volkslegitimierung durch die Selbstlegitimierung für antidemokratisches Denken befreiend wirken, zum Ziel, die »Aufgaben, die die Wirklichkeit stellt, in harter positiver Arbeit zu lösen« (Papen in München), hat dieser Legitimierungswechsel keine Beziehung. »Zum Besten des abendländischen Kulturkreises arbeiten« – bei dieser allgemeinsten Zielsetzung hört allerdings unsere Übereinstimmung mit Herrn von Papen bereits auf – heißt, scheint uns, die Idee der Demokratie in der politischen und sozialen Ebene als regulatives Prinzip des Handelns nehmen. Nicht nur erhält von diesem Blickpunkt aus das Ziel der Stabilität, dem – in ihrer Ideologie wenigstens – die Regierung vor allem nachstrebt, reinen Fetischcharakter, man könnte darüber hinaus meinen, dass so wie der soziale Konservativismus in Widerspruch zu diesem seinem Ziele die soziale Instabilität in Permanenz setzt, ebenso die politische Stabilität nur ein »bien de sucroît« – ein zusätzliches Gut – der sozialistischen Revolution sein könnte. »Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es
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keine Klassen und keine Klassengegensätze gibt, werden die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören, politische Revolutionen zu sein.«17
17 Marx, Das Elend der Philosophie. [Karl Marx: Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons »Philosophie des Elends«, in: MEW Band 4, Berlin 1972, S. 63-182.]
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[33.] Die Verfassungsreform* [1932] Im Ruf nach Verfassungsreform finden sich heute in Deutschland die entgegengesetztesten Bestrebungen zusammen. Viele Wünsche, Hoffnungen vieler politischer und sozialer Gruppen verlangen die Reform des Weimarer Werks. Bevor deshalb über Verfassungsreform diskutiert, bevor die Frage der Erwünschtheit einer Verfassungsreform mit Ja oder Nein beantwortet werden kann, muss zunächst das Ziel dieser Verfassungsreform klargestellt werden. Als Anhaltspunkt dieser Verfassungsdiskussion dienten in erster Linie die Verlautbarungen des Ministeriums Papen-Gayl. Die Verfassungsreform dieses Ministeriums war der Versuch, eine bestimmte politische Situation für die konkreten Ziele einer festumrissenen sozialen Schicht auszunutzen. Diese – nennen wir sie einmal nach der Intention ihrer Urheber autoritäre Verfassungsreform – hatte das primäre Ziel, die gegenwärtige politische und soziale Machtstellung einer bestimmten begrenzten Bevölkerungsschicht, nämlich der höheren Bürokratie, des Großgrundbesitzes und der Industrie nebst ihrer sozialen Annexe, zu einem ausschlaggebenden verfassungsrechtlichen Faktor zu erheben. Diese verfassungsmäßige Sicherung sollte durch die Schaffung eines Oberhauses, das gleichberechtigt dem Reichstag zur Seite treten und an dessen Zustimmung die gesamte Tätigkeit des Reichstags geknüpft werden sollte, gewährleistet werden. Seine Zusammensetzung sollte je zu einem Drittel aus Vertretern der Landesregierungen (als Ersatz für den Reichsrat), Vertretern der wirtschaftlichen Interessengruppen (als Ersatz des Reichswirtschaftsrats) und aus vom Reichspräsidenten frei nach dem Würdigkeitsprinzip ernannten Vertretern erfolgen. Es fällt in die Augen, dass der ausgeprägt konservative Charakter dieses Oberhauses mindestens so lange gewährleistet ist, als für die sogenannten Wirtschaftsvertreter an den Auswahlprinzipien, die für die Bestellung des Reichswirtschaftsrats maßgebend waren, festgehalten wird.
* [Erschienen in: Die Arbeit. Zeitschrift für Gewerkschaftspolitik und Wirtschaftskunde, Jg. 9, Heft 12, Berlin 1932, S. 730-742. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 102-104.]
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Ist schon allein die Bindung des Reichstags an ein konservatives Oberhaus geeignet, die demokratische Staatsstruktur zu zerstören, so geschieht dies noch nachdrücklicher durch die Strukturänderung, die sich im Reichstag selbst durch Änderungen der Wahlrechtsbestimmungen vollzieht. Hinaufsetzung des Wahlalters auf 25 Jahre, Einführung von Zusatzstimmen für Kriegsteilnehmer und Familienväter bedeuten praktisch die Ausschaltung der männlichen Jugendlichen bis zu 30 Jahren und die Herabdrückung des Frauenstimmrechts zu fast völliger Bedeutungslosigkeit. Nimmt man dazu noch den Gedanken, die Exekutivrechte des Reichspräsidenten in ihrem heute in Anspruch genommenen Umfang verfassungsrechtlich zu verankern, die Einführung des Pluralwahlrechts für die Selbstverwaltungskörper und die Umrisse einer Reichsreform, die lediglich den Handstreich vom 20. Juli verfassungsmäßig sanktionieren soll, so rundet sich das Bild einer Verfassungsreaktion. Sie trägt nichts dazu bei, die Problematik der gegenwärtigen Schwierigkeiten durch eine etwa mögliche Verbesserung der demokratischen Methoden zu beheben. Sie ist vielmehr nur das getreue Wunschbild einer sozialen Schicht, deren positiver Beitrag zur Verfassungsreform allein darin bestehen könnte, dass sie den Vergangenheitscharakter ihrer politischen und sozialen Position erkennt. Da aber diese restaurierten Kräfte im heutigen Deutschland noch keineswegs ihre politische Rolle ausgespielt haben, ist es vor weiteren Erörterungen möglicher positiver Änderungen der Verfassungsordnung lehrreich, einen Blick auf die Verfassungsreform zu werfen, die unser österreichisches Brudervolk im Jahre 1929 vorgenommen hat. Hervorgegangen ist diese Verfassungsreform bekanntlich aus dem Bestreben der bürgerlichen Mehrheitsparteien, den Drang der damals mächtigen Heimwehrbewegung nach Abschaffung des Parlamentarismus überhaupt in geordnete Bahnen zu lenken. Die Verfassungsreform entstand aus einem Kompromiss der sozialdemokratischen Minderheitspartei mit den parlamentarischen Mehrheitsparteien der Christlichsozialen und Großdeutschen.1 Für den hier behandelten Zusammenhang sind folgende zwei Fragen von grundsätzlicher Bedeutung: Welche Bestimmungen der österreichischen Bundesverfassung konnten im Wege des Parteikompromisses ohne Antastung des grundsätzlich demokratischen Charakters der Verfassungsordnung geändert werden? Wie haben die vorgenommenen Änderungen auf die Funktionsfähigkeit der Verfassung eingewirkt? Der Verfassungskompromiss enthält in 1 Vergleiche die ausführliche Schilderung Kelsens im Jahrbuch des öffentlichen Rechts 1930, Band 18. [Hans Kelsen: Die Verfassung Österreichs, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Band 18, Tübingen 1930, S. 130-160.]
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seinen wichtigsten Bestimmungen neben einer Heraufsetzung des aktiven Wahlrechts von 20 auf 21 Jahre, des passiven von 24 auf 29 Jahre durchgehend Kompetenzerweiterungen des Bundes gegenüber den einzelnen Bundesgliedern. Dies bedeutet praktisch, da die übrigen Landesregierungen insoweit politisch mit der Bundesregierung konform gehen, die Ausschaltung der selbständigen Polizeigewalt der Gemeinde Wien und mindestens eine starke Beschränkung ihrer Tätigkeit auf den übrigen Vorbehaltsgebieten. Dazu kommt noch, dass der Präsident nicht mehr vom Parlament, sondern vom Volk gewählt wird, wobei übrigens eine interessante Bestimmung eingefügt wurde. Bei einem notwendig werdenden zweiten Wahlgang können nur diejenigen Wählergruppen Kandidaten benennen, deren Wahlbewerber bei der ersten Wahl die höchsten Stimmenzahlen erreicht haben. Schließlich ist noch die Einführung eines bisher dort unbekannten Notverordnungsrechts von Interesse. Es wird ausdrücklich nur für den Fall gewährt, dass das Parlament nicht versammelt ist, und darf sich nicht auf Arbeiterrecht, Angestelltenschutz, Sozialversicherung, Kammer für Arbeiter und Angestellte, Koalitionsrecht und Mieterschutz beziehen. Außerdem zieht jedes Gebrauchmachen vom Notverordnungsrecht verfassungsmäßig die sofortige Einberufung des Parlaments innerhalb einer Frist von acht Tagen nach sich. Praktisch bedeutungslos ist die Teilung der Wahlperioden in getrennte Sessionen, da der Minderheit das Recht zur Einberufung außerordentlicher Sessionen gewährt ist. Überblickt man die Grundzüge dieser Verfassungsreform, so ergibt sich, dass die Ausnahmestellung Wiens als eines selbständigen, politisch abweichend strukturierten Bundesgliedes nicht ganz gewahrt bleiben konnte. Mit Hinblick auf unsere deutschen Verhältnisse und auf die Rechtlosmachung Preußens durch den Staatsstreich vom 20. Juli ist aber wichtig zu betonen, dass Wien nicht wie Preußen eine Entrechtung im Vergleich zu den anderen Bundesländern erfahren hat, sondern dass sich alle materiellen Änderungen und Einschränkungen der Landeskompetenzen auf sämtliche Bundesländer gleichmäßig beziehen. Insbesondere der politisch bedeutungsvollste, neu eingeführte Absatz 2 des Artikels 15 der Bundesverfassung, der ein unmittelbares Anweisungsrecht der Bundesregierung in den Angelegenheiten der örtlichen Sicherheitspolizei statuiert, ist kein Wiener Ausnahmerecht, sondern bezieht sich auf alle sicherheitspolizeilichen Organe des gesamten Bundes. Der demokratische Charakter der österreichischen Verfassung ist grundsätzlich nicht angetastet worden. Die Stellung des Präsidenten wird zwar, wie die Geschichte lehrt, durch eine Volkswahl immer gehoben, und es bestehen, wie die jüngsten deutschen Erfahrungen zeigen, theoretische
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wie praktische Ansatzpunkte für den Übergang von der Demokratie zum Cäsarismus; aber der in unseren Erfahrungen erprobte Satz, dass immer erst das Versagen der legalen demokratischen Organe den Weg zum Cäsarismus ebne, gilt noch mehr für die österreichische Verfassung; diese beschränkt auch noch nach ihrer Änderung die selbständige Kompetenz des Präsidenten außerordentlich, wie das Beispiel des Notverordnungsrechts zeigt. Was nun die Funktionsfähigkeit der so geänderten Verfassung anbetrifft, so muss man bei einem Urteil die Kürze der seither verflossenen Zeit, insbesondere aber auch die Tatsache, dass bisher noch keine Volkswahl des Bundespräsidenten stattgefunden hat, berücksichtigen. Dann ergibt sich, dass an den Grundzügen des österreichischen Staatslebens kaum eine Änderung eingetreten ist. Weder die Klassen- noch die Herrschaftsverhältnisse sind grundlegend verändert worden. Und auch das Ansehen der österreichischen Sozialdemokratie in den breiten Volksmassen ist nicht dadurch geschwächt worden, dass in vielen Fällen Maßnahmen der Wiener Stadtverwaltung nicht nur wegen der durchgehenden finanziellen Notlage der Stadt, sondern auch deshalb unterbleiben mussten, weil die verfassungsrechtlichen Kompetenzen inzwischen geschmälert worden waren. An der Agonie der sozialen Verhältnisse Österreichs hat – fast scheint es überflüssig, dies zu sagen – auch diese Verfassungsreform nichts geändert. Die Geschichte der österreichischen Verfassungsreform zeigt uns so einerseits, dass es gewisse Reformen gibt, denen die politische Vertretung der wirtschaftlich abhängigen Bevölkerungsschicht in konkreten Fällen zustimmen kann, dass aber auf der anderen Seite nicht genug vor Illusionen gewarnt werden kann, die sich an eine Änderung unserer verfassungsrechtlichen Verhältnisse knüpfen. Hermann Heller hat in einem Aufsatz in den »Neuen Blättern für den Sozialismus« mit Recht auf den »Kurzschluß des Denkvermögens« derer hingewiesen, die die schlechte außen- und innenpolitische Verfassung Deutschlands in einen ursächlichen Zusammenhang mit den Mängeln der Weimarer Verfassung bringen.2 Der Versuch, den insbesondere Carl Schmitt in seiner Schrift über Legalität und Legitimität unternommen hat, die Fehler unserer gegenwärtigen Staatsordnung konkreten Unstimmigkeiten innerhalb der Weimarer Verfassung zuzurechnen, hat zwar eine Reihe interessanter verfassungstheoretischer Gesichtspunkte ergeben; doch 2 Neue Blätter für den Sozialismus 1932, Heft II, S. 576. [Hermann Heller: Ziele und Grenzen einer deutschen Verfassungsreform, in: Neue Blätter für den Sozialismus, Jg. 3, Heft 2, Potsdam 1932. Im Original lautet die Formulierung: »Der Kurzschluß dieses Denkvorganges liegt auf der Hand.«]
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hat er den Beweis dafür, dass konkrete Fehlerquellen der deutschen politischen Verhältnisse ihren Ursprung in nur der Weimarer Verfassung eigentümlichen Verfassungsnormen hätten, kaum erbracht.3 Zwar lässt sich das Erfordernis der Volkssouveränität aus dem Gang der gesellschaftlichen Entwicklung ableiten, doch die Entwicklungsrichtung des staatlichen Lebens innerhalb des Rahmens einer demokratischen Verfassung ist schwerlich im Voraus fixierbar. Hat nicht – um hier ein konkretes Beispiel anzuführen – der oberste Bundesgerichtshof der Vereinigten Staaten in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine so ungeheure Machtfülle erlangt, obwohl ihm die Verfassung nicht die Kompetenz zur Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen gibt? Diese Rechtsprechung beruht auf der Tatsache, dass die liberal-individualistischen Grundsätze einer von der Mehrzahl als gültig anerkannten Gesellschaftsordnung hier ihren prägnantesten Niederschlag finden konnten. Beruht nicht anderseits die Schwierigkeit der deutschen Staatsführung auf der Tatsache, dass es sich hier um ein im Zustand eines gesellschaftlichen Umbruchs befindliches Land handelt, das nicht nur mit der Schwierigkeit seiner sozialen, sondern auch seiner religiösen und regionalen Verhältnisse aufs äußerste belastet ist? Ist es doch nicht die Böswilligkeit seiner Parteien, Konfessionen und Verbände, sondern die objektive Schwierigkeit dieser bestimmten geschichtlichen Epoche, die selbst eine demokratische Staatsführung fast zum Erliegen zu bringen droht. Bis zur Unerträglichkeit gesteigert werden diese Bedrängnisse durch das Dazwischentreten der Privilegienträger, der Industrie und des Großgrundbesitzes, die wie jede zum Untergang verurteilte Schicht ihre überkommene Stellung nicht freiwillig zu räumen gedenken und durch die Verbindung mit anderen sozialen Gruppen auch heute noch über bedeutende, durch die allgemeine Not gefestigte Positionen verfügen. Ist man aber der Überzeugung, dass ein Abweichen vom demokratischen Weg diese Schwierigkeiten nicht überwinden, sondern nur noch steigern kann, will man also ehrlich die großen Grundlinien einer demokratischen Verfassung, Volkssouveränität, Parlament, persönliche Freiheitsrechte und soziale Grundrechte aufrechterhalten, so ist der mögliche Spielraum einer Verfassungsreform sehr begrenzt. Es hat sich in der Geschichte des letzten Jahres gezeigt, dass eine Kompetenzverschiebung zuungunsten des Parlaments und zugunsten der Exekutivgewalt die demokratische Vertrauensbasis der Regierung aufs äußerste 3 Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, Duncker und Humblot[, München/Leipzig] 1932.
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schmälert. Deshalb ist es nicht möglich, etwa wegen erwiesener Unfähigkeit des Parlaments eine Reform der Demokratie durch eine verfassungsgesetzliche Sanktionierung der gegenwärtigen Machtstellung des Präsidenten mit seinem gesetzesvertretenden Notverordnungsrecht vorzunehmen. Die Errichtung einer plebiszitären Demokratie durch weitestgehende Ausschaltung der interessengespaltenen Vertretungskörperschaft kommt daher nicht in Betracht. Eine Präsidialdemokratie bleibt nur in einem sozial weitgehend homogenen Land Demokratie; in den deutschen Verhältnissen würde sie zur Diktatur eines Mannes oder einer Schicht über politische und soziale Gegner ausarten und so, wie das Beispiel der Regierung Papen gezeigt hat, die demokratischen Möglichkeiten der deutschen Entwicklung aufs äußerste gefährden. Als Aufgabe der Verfassungsänderung bleibt also – vom Problem einer vernünftigen Reichsreform einmal abgesehen – nur der Versuch übrig, auf Grund verfassungsrechtlicher Bestimmungen alles zu tun, was den Parteien und sozialen Verbänden ein weitgehendes Zusammenwirken ermöglicht, und anderseits alles zu vermeiden, was die Parteien, sei es aus eigenem Antrieb, sei es gezwungenermaßen, zu Agitationsverbänden herabdrückt. Von den ernsthaften Vorschlägen, die eine Wiederbelebung der parlamentarischen Demokratie auf dem Wege der Verfassungsreform erstreben, sind diejenigen, die dieses Ziel durch Änderung des Art. 544 erreichen wollen, die gewichtigsten. Dabei geht man von der Erwägung aus, dass eine Einschränkung der möglichen Misstrauensvoten gegenüber der Regierung zu einer Gesundung der parlamentarischen Verhältnisse führen könne und dadurch auch die Oppositionsparteien veranlasst werden könnten, eine Regierung nur dann zu stürzen, wenn sie in der Lage sind, eine neue zu bilden. Der erste in verschiedenen Veröffentlichungen, zuletzt noch von Hans Simons5 in den »Neuen Blättern für den Sozialismus« geäußerte Gedanke läuft darauf hinaus, dass man das Misstrauensvotum mit einfacher Mehrheit des Parlaments nur noch alljährlich einmal bei der Generaldebatte über den Haushalt zulassen, im Übrigen aber sein Zustandekommen an die Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit oder einer anderen Körperschaft knüpfen will. Dieser Vorschlag übersieht die Struktur des parlamentarischen Systems, deren wesentlichste Ausdrucksform auch heute 4 »Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muss zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluss sein Vertrauen entzieht.« 5 Neue Blätter für den Sozialismus 1932, Heft II, S. 586. [Hans Simons: Verfassungsreform! Wie soll sie aussehen? In: Neue Blätter für den Sozialismus, Jg. 3, Heft 11, Potsdam 1932, S. 580-588.]
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noch darin besteht, dass jede Regierungstätigkeit eine unmittelbare Reaktion durch die Volksvertretung hervorrufen kann. Diese unmittelbare Reaktionsmöglichkeit, die ja der öffentlichen Meinung und den Volksmassen einen sofortigen Einfluss auf jeden Regierungsakt verschafft, ist eine Voraussetzung für die Existenz des Parlaments als öffentliche Einrichtung. Ein Misstrauensvotum, das am 1. April eigentlich fällig ist, aber erst am 1. Januar, zu einem Zeitpunkt also, wo bei dem kaleidoskopartigen Wandel aller unserer Institutionen der Vorfall vom 1. April längst vergessen ist, erteilt werden könnte, entfernt das Parlament und seine Parteien vom Volkswillen. Hierdurch würde die Kontrolle des Parlaments über die Bürokratie – in einem Staat mit immer weiter zunehmenden Verwaltungsaufgaben vielleicht der wichtigste Aufgabenkreis des Parlaments überhaupt – weitgehend erschwert: das Parlament wäre ja genötigt, eine Blankovollmacht für ein ganzes Jahr auszustellen. In die gleiche Richtung, das Parlament durch eine Änderung des Art. 54 wieder flottzumachen, zielt ein Vorschlag, den Ernst Fränkel neuerdings in der »Gesellschaft«6 gemacht hat. Von dem Gedanken ausgehend, dass ein Parlament nur dann das Recht zum Sturz einer Regierung habe, wenn die Oppositionsmehrheit in der Lage sei, eine neue Regierung zu bilden, will er eine Pflicht des Kabinetts zum Rücktritt nur dann festgelegt wissen, wenn die Oppositionsparteien dem Präsidenten positive Vorschläge für die Bildung eines neuen Mehrheitskabinetts machen können. Dieser Gedanke, der von manchen schon früher als geltendes Recht bezeichnet wurde,7 hat unbestreitbar den technischen Vorteil, dass der Präsident nicht genötigt wäre, zur Auflösung des Reichstags zu schreiten, sondern das nunmehrige Minderheitskabinett, ohne mit der Verfassung in Widerspruch zu geraten, ruhig weiterregieren lassen könnte. Es würde also auch im Reich der Zustand eintreten können, der in der Mehrzahl der deutschen Länder schon lange Zeit besteht. Die Regierung besitzt zwar ein effektives Misstrauensvotum der Volksvertretung, regiert aber als geschäftsführende Regierung ruhig weiter. Dieser Vorschlag hat die Folge, dass das Parlament, das zur neuen Regierungsbildung nicht fähig wäre, eine Kontrolle über die Tätigkeit der Regierung nicht mehr ausüben könnte. Denn dass ein Parlament, das nicht mehr die Regierung stürzen kann, 6 Verfassungsreform und Sozialdemokratie, »Gesellschaft«, Dezember 1932. [Ernst Fraenkel: Verfassungsreform und Sozialdemokratie, in: Die Gesellschaft, Jg. 9, Heft 8, Berlin 1932, S. 109-124.] 7 Vergleiche [Heinrich] Herrfahrdt: Die Kabinettsbildung nach der Weimarer Verfassung [unter dem Einfluss der politischen Praxis, Berlin] 1927.
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auch nicht mehr in der Lage ist, ihre Verwaltungstätigkeit maßgebend zu beeinflussen, tritt in fast allen deutschen Ländern mehr und mehr hervor. Theoretisch würde diesem Parlament freilich das ungeschmälerte Recht der Gesetzgebung bleiben. Praktisch aber erscheint es ziemlich ausgeschlossen, dass ein zur Regierungsbildung unfähiges Parlament seine Gesetzgebungsbefugnis auszuüben imstande wäre. In die gleiche Richtung, trotz seiner Arbeitsunfähigkeit die Institution des Parlaments und damit ein verfassungsmäßiges Funktionieren des Staatsapparates aufrechtzuerhalten, zielt ein weiterer Vorschlag von Fränkel. Bekanntlich war der Reichspräsident, wollte er seine Notverordnungen nicht preisgeben, gezwungen, den Reichstag vor dessen Eintritt in die sachliche Beratung aufzulösen. Man musste so zu einer immer weitherzigeren Interpretation des die Auflösung enthaltenden Artikels 25 der Reichsverfassung schreiten, um dem Recht des Reichstages, gemäß Artikel 48, Absatz 3 RV die Aufhebung der Notverordnungen zu verlangen, zuvorzukommen. Fränkel lehnt nun zwar die von manchen empfohlene8 Einschränkung dieses Rechtes ab. Er bemerkt richtig, dass eine Bestimmung, die dem Reichstag das Recht zur Aufhebung von Notverordnungen nur dann geben will, wenn dieser gleichzeitig die notwendigen Ersatzgesetze beschließt, nur eine Quelle neuer endloser Verfassungsstreitigkeiten bilden würde. Stattdessen schlägt er eine Erweiterung des Artikels 73 der Reichsverfassung vor. Dort ist bestimmt, dass der Reichspräsident ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz vor seiner Verkündung binnen einem Monat zum Volksentscheid stellen kann. Fränkel will nun diese Bestimmung dahingehend erweitert wissen, dass der Reichspräsident auch bei einem Reichstagsbeschluss, der darauf zielt, eine Notverordnung aufzuheben, berechtigt sein solle, einen Volksentscheid herbeizuführen. Auch hier entfällt dann die Notwendigkeit für den Reichspräsidenten, den Reichstag aufzulösen, bevor dieser einen Beschluss über die Aufhebung der Notverordnung fassen kann. Hierdurch würde zweifellos für den Reichspräsidenten ein gewisser legaler Spielraum gewonnen, der praktisch jeder Notverordnung eine verfassungsmäßige Unaufhebbarkeit von mindestens 3 bis 4 Monaten sichern würde. Sieht man aber von diesem Zeitgewinn einmal ab, so drängt gerade dieser Vorschlag dazu, das verfassungsmäßige Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative zum Bruch zu bringen. Denn bei diesem Volksentscheid bestehen zwei Möglichkeiten: entweder – und dies ist nach den reich8 Vergleiche [Eugen] Schiffer: Die neue Verfassung des Deutschen Reichs[. Eine Politische Skizze], Berlin 1932, dessen Artikel 15 einen sehr weitgehenden Vorschlag in dieser Richtung enthält.
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haltigen Erfahrungen, die wir mit den autoritären Reichstagsauflösungen gemacht haben, der wahrscheinlichere Fall – finden sich über 22 Millionen der Bevölkerung, ihren insoweit einheitlichen Parteiparolen folgend, zusammen, um gegen den Reichspräsidenten zu votieren; oder aber die allgemeine Lethargie erreicht einen so hohen Grad, dass die Wahlbeteiligung zur Aufhebung der Notverordnungen nicht genügt. Im ersten Fall werden Reichspräsident und Bürokratie, solange die Parteien nur in der Negation sich zusammenfinden, zur Aufrechterhaltung ihrer Notverordnung und damit zur offenen Verfassungsverletzung getrieben. Im zweiten Fall aber birgt gerade die Offenkundigkeit des geringen Widerstandes der Volksmassen den höchstmöglichen Anreiz, die faktische Diktatur auch noch in rechtliche Formen zu bringen. Daher scheint auch die rechtliche Konsequenz, die Fränkel aus seinen beiden Vorschlägen zieht, mindestens in ihrer faktischen Auswirkungsmöglichkeit recht problematisch. Er meint, dass nunmehr durch Misstrauensvoten und parlamentarische Notverordnungsaufhebung für den verfassungsmäßigen Gang der Regierungsgeschäfte keine Gefahr mehr bestünde und dass deshalb der Artikel 25 der Reichsverfassung abgeändert werden könne. Nunmehr soll dem Reichspräsidenten nur noch gestattet sein, beim Sturz des Kabinetts das Parlament mit Hilfe des neuen, von der Parlamentsmehrheit präsentierten Reichskanzlers aufzulösen. Er soll weiterhin erst dann das Recht zur Reichstagsauflösung erhalten, wenn er nicht mehr in der Lage ist, die Aufhebung einer Notverordnung durch das Parlament mit den Mitteln des Volksentscheids zu bekämpfen. Hiermit wären die Prinzipien der Demokratie gerettet. Aber diese Rettung ist doch nur sehr theoretischer Natur. Es wird eine Verfassungspraxis sanktioniert, in der Präsident und Bürokratie verordnen und verwalten können, solange das Parlament keine positiven Mehrheitsmöglichkeiten aufweist. Hierbei bleibt dem Parlament theoretisch die Möglichkeit, seine Machtfülle wiederzuerlangen, wenn es arbeitsfähig ist. Der verfassungsmäßige Spielraum von Reichspräsident und Bürokratie wäre groß genug, um theoretisch die ungehinderte Weiterexistenz des Parlaments und der Parteien, auch wenn diese zu positivem Tun nicht fähig wären, zu ermöglichen. Gewiss, für eine zeitlich begrenzte Schwierigkeit der Mehrheitsbildung würden solche Verfassungsänderungen Garantien gegen eine Kompetenzüberschreitung der Exekutive bilden. Als Dauereinrichtung ist ein solcher Zustand unmöglich. Das arbeitsunfähige Parlament, zu einem gesetzlichen Schattendasein verurteilt, würde bei passender Gelegenheit, etwa beim ersten Volksentscheid über die Aufhebung einer Notverordnung, unter der politischen Resignation weiter Bevölkerungs-
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schichten zu Grabe getragen. Hieran würde sich auch dann nichts ändern, wenn der Präsident in Zukunft im Zuge gewisser Vorschläge nicht mehr vom Volk, sondern vom Reichstag gewählt würde. Denn hier handelt es sich, wie man nicht verkennen sollte, keineswegs in erster Linie um eine Personenfrage. In diesem Entwicklungsprozess würde der Präsident, je nach persönlicher Stellung und Eignung, eine mehr oder minder aktive Rolle spielen. Er könnte selbst mehr vorwärtstreiben oder mehr der Getriebene sein, ohne dass hierdurch eine Änderung des Gesamtbildes eintreten würde. Diese Fragenkomplexe mussten hier anhand konkreter Änderungsvorschläge ausführlicher erörtert werden, denn dadurch ist die Beantwortung der grundlegenden Frage möglich, ob durch die Änderung und Verschiebung der organisatorischen Bestimmungen innerhalb einer bestehenden demokratischen Verfassung an den politischen und sozialen Strukturverhältnissen etwas Entscheidendes geändert wird. Gewiss ist es richtig, dass durch die Vorschläge, wie sie Fränkel macht, auf einen flüchtigen Augenblick Verfassung und politische Wirklichkeit zur Deckung gelangen. Aber im Ganzen gesehen handelt es sich um einen aussichtslosen Wettlauf. Man kann der Diktatur nicht durch einen demokratischen Rahmen den Drang nach einer sicheren Legitimierung ihres Wirkens nehmen. Die Demokratie als Rechtsordnung, die als Schatten der Wirklichkeit folgt, würde bei der nächsten Etappe der Ineinssetzung von Recht und Wirklichkeit nur noch ein Schatten der Demokratie sein. Organisatorische Änderungen der Verfassung werden es deshalb kaum fertigbringen, die Schwierigkeit zu beheben, die die Herstellung einer vom Mehrheitswillen getragenen Regierung in einem Land mit in jeder Beziehung so zwiespältigen Interessen wie Deutschland verursacht. Es fragt sich, ob dieses Urteil auch gegenüber den Änderungsvorschlägen gilt, die sich mit der Einführung einer neuen Art von Wirtschaftsvertretung und der Abkehr vom proportionalen Wahlrecht befassen. Die Pläne, die auf die Einführung einer neuen Wirtschaftsvertretung hinzielen,9 sind nicht mit den offiziellen Plänen für die Errichtung einer Ersten Kammer zu verwechseln. Sie unterscheiden sich von ihnen durch den Versuch, eine den sozialen Verhältnissen Deutschlands angepasste Vertretung der wirtschaftlichen Interessen zu ermöglichen. Man erhofft davon eine Auflockerung der politischen Fronten. Denn durch 9 Vergleiche etwa die insoweit charakteristischen Ausführungen von Simons, a. a. O., S. 585. [Hans Simons: Verfassungsreform! Wie soll sie aussehen? In: Neue Blätter für den Sozialismus, Jg. 3, Heft 11, Potsdam 1932, S. 580-588.]
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eine Wirtschaftsvertretung, die alle Berufsgruppen in gerechter Weise berücksichtigen könnte, wäre die Möglichkeit gegeben, einheitliche Fronten auf bestimmten Wirtschaftsgebieten herzustellen, die im Parteienparlament nicht zu verwirklichen sind. Aber wer sollte ein solches Wirtschaftsparlament errichten? Wenn die Mehrzahl der deutschen Parteien sich zur Konstituierung eines solchen Wirtschaftsparlaments zusammenfinden könnte, würde sie es nicht mehr benötigen; denn dann könnten diejenigen sozialen Sachgebiete, über die ein solches Wirtschaftsparlament in Übereinstimmung mit dem Reichstag Gesetze erlassen könnte, von dem insoweit einigen Reichstag auch selbst geschaffen werden. Wäre aber im Wirtschaftsparlament die politische Bindung stärker als das sozial möglicherweise gleichgerichtete Interesse der Volksvertretung, dann wäre es eine unnötige Widerspiegelung der Volksvertretung und Komplizierung des Gesetzgebungsverfahrens. Hinzu kommt übrigens noch, dass eine in diesem Wirtschaftsparlament mögliche Front, nämlich die Konsumentenfront, kaum geeignet sein dürfte, vorhandene Schwierigkeiten zu beheben. Die theoretische Spekulation, als ob der Mensch in Staatsbürger und Wirtschaftswesen auseinanderfiele, mit der die Notwendigkeit einer besonderen Wirtschaftsvertretung begründet werden soll, ist verfehlt. Denn es ist gerade die spezifische Position der deutschen Parteien in der Ausgeprägtheit ihres einheitlichen Weltbildes, ihren politischen Vorstellungskreis mit dem konkreten Bild eines geforderten und erstrebten wirtschaftlichen Zustands zu verbinden. Solange also die Demokratie in Deutschland mit den ihr spezifischen Parteigebilden aufrechterhalten werden soll, ist für eine von ihr getrennte, ihr wesensverschiedene Wirtschaftsvertretung kein Raum. Dass auch bei bestehender und funktionierender Demokratie es sich als notwendig herausgestellt hat, Rechts- und Ausführungsverordnungen, die sich auf soziale Fragen beziehen, nicht mehr dem Ermessen der Bürokratie anheimzustellen, sondern an die Zustimmung einer solchen Wirtschaftskörperschaft zu knüpfen, sei nur am Rande bemerkt, bedarf aber übrigens keiner Verfassungsänderung; es handelt sich hier um ein Stück Einflussmöglichkeit, das durch entsprechende Vorbehalte der einzelnen Gesetze der Bürokratie abgewonnen werden kann. Eine Wahlrechtsreform, deren Hauptziel die Abschaffung des Proporzsystems, die Wiedereinführung des Einmannwahlkreises mit Stichwahl ist, mag sicher manche Vorteile bieten. Aber diese Vorteile weisen nicht in die Richtung der Wiederherstellung einer aktionsfähigen Demokratie. Die Möglichkeit, eine Regierung durch demokratische Mehrheit zu bilden, wird in Deutschland durch die Abschaffung des Proportional-
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wahlrechts nicht gefördert. Zwar würden hierdurch alle kleineren Parteien in Wegfall kommen, und lediglich die Deutschnationalen könnten in einigen östlichen Agrarprovinzen einige nicht ins Gewicht fallende Mandate gewinnen. Ein oder zwei Arbeiterparteien und die Nationalsozialistische Partei würden weiterexistieren; die katholische Partei, die bei der konfessionell bestimmten Geschlossenheit ihrer Rekrutierungsgebiete und bei der unüberbrückbaren Kluft zwischen den anderen Parteien durch ein solches Wahlrecht begünstigt würde, würde wiederum zum ausschlaggebenden parlamentarischen Faktor werden. Eine grundsätzliche Änderung der gesamtpolitischen Situation würde aller Wahrscheinlichkeit nach nicht eintreten, umso mehr, als durch die geringere Zahl der Parteien die unüberbrückbaren Divergenzen der weltanschaulich und sozial verschieden strukturierten Parteien hier noch mehr in den Vordergrund rücken würden. Demgegenüber stehen möglicherweise einige positive Wirkungen einer solchen Wahlrechtsänderung, die aber nicht auf eine Erleichterung der demokratischen Regierungsbildung hinzielen. Auf Nachbarparteien von annähernd gleicher sozialer Struktur mag so ein Zwang zur Verständigung ausgeübt werden, wie dies der leidenschaftliche Bekämpfer des deutschen Proportionalwahlsystems, der verstorbene Chefredakteur der »Wiener Arbeiter-Zeitung«, Friedrich Austerlitz,10 mit Bezug auf die Sozialdemokratische und Kommunistische Partei Deutschlands erwartete. Es wird auch innerhalb der Parteikörperschaften selbst, durch die Verkleinerung der Wahlkreise und die dadurch den Wählern gegebene Möglichkeit, individuelle Vergleiche zwischen den zwei oder drei in Betracht kommenden Wahlbewerbern anzustellen, für eine Verbesserung des Funktionärbestandes gesorgt. Man darf allerdings auch diese Auslesefunktion nicht allzu sehr überschätzen; denn der Wähler wird auch dann seine Auswahl regelmäßig mehr nach sozialen und weltanschaulichen, als nach persönlichen Gesichtspunkten vornehmen. Aber selbst wenn man die Verbesserung der innerparteilichen Auswahlprinzipien und die ungeheuer wichtige Möglichkeit einer Annäherung der beiden Arbeiterparteien mit in Betracht zieht, eine Verlagerung der politischen Kräfte wird auch hierdurch nicht stattfinden.11 10 Vergleiche den Aufsatz über Proportionalwahlrecht, in der »Gesellschaft«, Oktober 1931. [Friedrich Austerlitz: Über und gegen das Proportionalwahlrecht, in: Die Gesellschaft, Jg. 8, Heft 10, Berlin 1931, S. 298-310.] 11 Vergleiche die sehr vorsichtig abwägende Stellungnahme von Leibholz in der Sondernummer des Reichsverwaltungsblattes zur Reform der Reichsversicherung, Heft 47, S. 930 f. [Gerhard Leibholz: Die Wahlreform im Rahmen der Verfassungsreform, in: Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt, Band 53, Berlin 1932, S. 927-930.]
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Als letzte bisher kaum erörterte Möglichkeit einer demokratischen Verfassungsänderung bliebe der Versuch, die Bestimmungen über Volksbegehren und Volksentscheid so zu ändern, dass durch das unmittelbare Volksgesetzgebungsverfahren die Möglichkeit aktiven Eingreifens organisierter Volksteile verwirklicht werden kann. Dies ist bekanntlich heute aus verschiedenen, in den Verfahrensvorschriften der Reichsverfassung begründeten Ursachen nicht der Fall. Man müsste also die heute einem wirksamen Volksentscheid praktisch entgegenstehenden Hindernisse beseitigen. Ein solches Hindernis stellt der Ausschluss der Haushalts- und Abgabengesetze vom Volksgesetzgebungsverfahren dar. Bei der Ausdehnungsfähigkeit dieser Rechtsbegriffe werden so viele Volksbegehren überhaupt unmöglich gemacht, zumal da der Reichsregierung das Entscheidungsrecht über die Zulässigkeit eines Volksbegehrens zusteht und hierdurch die Möglichkeit einer Zulassungsverweigerung, mindestens aber – wie die Geschichte des jüngsten von der Sozialdemokratischen Partei eingebrachten Volksbegehrens zeigt – die Möglichkeit unbegrenzter Verschleppung besteht. Weiterhin müsste das Verfahren dadurch abgekürzt werden, dass man davon absieht, in allen Fällen erst ein Volksbegehren vorangehen zu lassen. Es ist nicht einsichtig, warum Parteien, die bei der letzten Reichstagswahl über 15 Prozent der Wählerstimmen aufgebracht haben, erst im Volksbegehren den Nachweis der zehnprozentigen Beteiligungsquote erbringen müssen. Weiterhin müsste man bei verfassungsändernden Gesetzen – und jede Regierung wird behaupten, dass eine ihr unbequeme Volksvorlage verfassungswidrig sei – sich mit der Zustimmung der Hälfte derer, die an der letzten Reichstagswahl teilgenommen haben, begnügen und damit den Ballast der Nichtwähler auch für das Volksgesetzgebungsverfahren beiseiteschieben. Schließlich müsste man sich entschließen, die bisher obligatorische Einschaltung des Reichstags in das Volksgesetzgebungsverfahren in eine fakultative zu verwandeln und ihm nur das Recht zu geben, bis zur Beendigung des Verfahrens den Volksentscheid durch ein mit dessen Inhalt übereinstimmendes Parlamentsgesetz überflüssig zu machen. Hiermit wäre der Umkreis der Reformen beschrieben, durch die das Volksgesetzgebungsverfahren faktisch realisiert werden könnte. Aber würde hierdurch wirklich das Ziel erreicht, die divergierenden Parteien einander näher zu bringen? Würde es einen Druck von unten geben können, der nicht nur im Volksgesetzgebungsverfahren die Parteien zusammenzwingt, sondern sie auch zu weiterem gemeinsamem Handeln bringt? Gewiss, die hemmungslose Ausnutzung des so erleichterten Verfahrens durch eine politische Partei könnte für diese einmal einen überraschenden Erfolg brin-
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gen; eine geschickte Benutzung dieses Verfahrens könnte vielleicht auch erreichen, dass eine andere Partei zur Vermeidung eines ihr wegen seiner politischen Rückwirkungen unerwünschten positiven Ausgangs eines solchen Entscheids ein inhaltgleiches parlamentarisches Gesetz einbringt. Aber das große Problem eines kontinuierlichen Zusammenwirkens der politischen Kräfte zur planvollen Umgestaltung der sozialen Verhältnisse wäre durch die Möglichkeit solcher Einzelaktionen seiner Lösung nicht viel näher gebracht. Verfassungsprognosen leiden an der Schwierigkeit und Unlösbarkeit des verfassungsrechtlichen Zurechnungsproblems. Zwar ist es möglich, allgemeine Aussagen über die großen staatstheoretischen Prinzipien der Demokratie, der absoluten Monarchie und der Feudalaristokratie zu machen und sie bestimmten geschichtlichen Erscheinungen zuzuordnen. Welche einzelnen Verfassungseinrichtungen aber vielleicht den Anlass oder Ansatzpunkt größerer Umwälzungen bilden, welche Institution vielleicht blutige Auseinandersetzungen innerhalb eines Staates hätte vermeiden können, ist für den rückwärtsschauenden Betrachter schwer, für den verfassungspolitisch für die Zukunft bauenden unmöglich zu ergründen. Denn innerhalb einer gegebenen Rechtsordnung ist es eine Frage des historischen Zufalls, welche Macht von einer einmal gegebenen Verfassungsinstitution Gebrauch macht und sie nützt. Ob zum Beispiel ein neues Wahlrecht nicht die legale Besitzergreifung einer auch noch so geringfügigen faschistischen Mehrheit herbeiführen und damit indirekt die Wirkung haben würde, die Grundlagen der Demokratie endgültig zu zerstören, lässt sich ebenso wenig im Voraus beantworten wie die Frage, welchen sozialen Mächten im Einzelfall eine Änderung des Wahlmodus für das Reichspräsidentenamt zum Vorteil gereichen würde. Nur so viel lässt sich mit Bestimmtheit sagen: Eine Verfassung, die auf Schritt und Tritt Gefahr läuft, dass ihre jetzigen oder zukünftigen organisatorischen Positionen dazu missbraucht werden, die Demokratie selbst zu zerstören, leidet nicht an Fehlern, die Verfassungsreformen zu ändern vermögen. Gewiss wird die Arbeiterklasse die Grundinstitutionen der Demokratie, als da sind geheimes und gleiches Wahlrecht, das Vorhandensein einer darauf aufbauenden Repräsentativkörperschaft, die persönlichen und die sozialen Freiheitsrechte, jederzeit verteidigen. Der Grad der Ergiebigkeit, die weitere Ausgestaltung und Verbesserung dieser Einrichtungen hängen aber, wie uns die Erfahrung immer wieder zeigt, von der Richtung und Schnelligkeit des sozialen Umformungsprozesses ab, in dem wir uns gegenwärtig befinden. Die auseinandergehenden sozialen Auffassungen und Interessen, mehr aber noch die gegenwärtige Disproportionali-
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tät zwischen den großen sozialen Organisationen und den Inhabern der wirtschaftlichen, polizeilichen und militärischen Kommandogewalt ist es, die in Wahrheit auf die Demokratie zerstörend einwirken. Konkrete Schäden einer bestehenden, von der überwiegenden Mehrzahl aller Staatsbürger im Grunde bejahten Gesellschaftsordnung mag man durch die Einführung neuer oder die Abschaffung veralteter Verfassungsbestimmungen beseitigen. In Deutschland aber handelt es sich – sieht man einmal von der Reichsreform ab, von der es im Übrigen noch sehr fraglich ist, ob ihre endgültige rechtliche Gestalt nicht auch erst im Gefolge der sozialen Neuordnung gefunden werden kann – im Grunde um etwas anderes. Hier geht es nicht um Probleme, die primär eine neue Verfassungsordnung zu lösen vermöchte. Hier liegt auch der tiefgreifende Unterschied zu der Situation, die dem deutschen Bürgertum in dem zweiten Drittel des letzten Jahrhunderts gestellt und von ihm nicht bewältigt wurde. Dort ging es darum, für eine an sich unproblematische Gesellschaftsordnung die zugehörigen politischen Formen zu finden. Heute aber geht es um die Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst. An sich bietet hierfür die Demokratie eine durchaus brauchbare Rechtsform, da hier der staatliche Wille dem souveränen Volk entspringt und es keine andere Legitimitätsvoraussetzung außerhalb dieses souveränen Volkswillens gibt. In dem Augenblick aber, in dem einzelne Gruppen nicht mehr geneigt sind, sich diesem Volkswillen zu unterwerfen, und damit die Voraussetzungen der Demokratie zerstören, wäre eine Reform der Demokratie ein unzulängliches Aushilfsmittel. Dann eben muss der Durchbruch neuer sozialer Formen erst wieder die Voraussetzung für die Demokratie überhaupt neu erschaffen.
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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität«* [1933] Unter dem Titel »Legalität und Legitimität« behandelt Carl Schmitt Konstruktionsprinzipien der Weimarer Verfassung sowie Gegenwart und Zukunft der realen verfassungsrechtlichen deutschen Verhältnisse überhaupt.1 In einem großen Teil seiner Ausführungen sucht Schmitt zu beweisen, dass ein Widerspruch zwischen der Rechtfertigungsmöglichkeit der Demokratie einerseits und bestimmten in dieser Verfassung enthaltenen oder aus ihrer Anwendung sich ergebenden Elementen andererseits bestehe. Die Scheidung der Ebene der Rechtfertigung eines bestimmten Normensystems und der Ebene der politischen Realität wird dabei von Schmitt nicht unbedingt vollzogen. Die Sphäre der politischen Sollensideen mit den Kategorien der Folgerichtigkeit und des Widerspruchs einerseits, die Sphäre des spezifischen politischen menschlichen Verhaltens (das die Sollensideen intendieren kann), bei dem sich ein bestimmter Grad des »Funktionierens« des betreffenden Normsystems in seiner Anwendung ergibt, andererseits stehen bei Schmitt mithin in naher Berührung. Daher wird implizit von Schmitt die Annahme gemacht, dass der Widerspruchshaftigkeit eines politischen Ideensystems, das einem bestimmten Normsystem zugrunde liegt, eine »nichtfunktionierende« Wirklichkeit bei der Anwendung dieses Normsystems entspreche – ein begriffsrealistisches Element seiner Theorie.2 Da fast allen Behauptungen Schmitts eine gewisse These über die Begründung der Demokratie zugrunde liegt, scheint ein Eingehen hierauf geboten. Schmitt führt aus, Demokratie, definiert als Grundsatz der Entscheidung durch einfache Mehrheit, sei nur gerechtfertigt bei ihrer Anwendung in einer homogenen Gesellschaft. So heißt es Seite 31: »Die Methode der Willensbildung durch einfache Mehrheitsfeststel* [Co-Author Nathan Leites. Erschienen in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Band 68, Heft 4, Tübingen 1933, S. 457-487. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 91-93.] 1 Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, Duncker & Humblot, [München] 1932. 2 Vergleiche Vögelin in »Zeitschrift für öffentliches Recht« XI, S. 108/109. [Eric Voegelin: Die Verfassungslehre von Carl Schmitt: Versuch einer konstruktiven Analyse ihrer staatstheoretischen Prinzipien, in: Zeitschrift für öffentliches Recht, Band 11, Wien 1931, S 89-109.]
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lung ist sinnvoll und erträglich, wenn eine substantielle Gleichartigkeit des ganzen Volkes vorausgesetzt werden kann.« Es scheint jedoch, dass die Homogenität, ein Seinstatbestand, in sich keine letzte Rechtfertigung darstellt, vielmehr das Postulat, die Demokratie solle nur in einer homogenen Gesellschaft verwirklicht werden, nur eine Konsequenz einer tiefer liegenden Rechtfertigung ist. Die Bedeutung dieser erforderten Homogenität für die Demokratie begründet Schmitt des näheren in seiner Verfassungslehre3 durch den Rückgriff auf die Gleichheitsforderung, die die Voraussetzung jedweder Demokratie zu bilden habe. Demgegenüber muss daran festgehalten werden, dass die Gleichheit allein die Demokratie nicht rechtfertigen kann; aus der Gleichbewertung und dem Willen der Gesellschaftsmitglieder geht noch nicht hervor, dass die Mehrheit dieser Willen entscheiden soll.4 Da Schmitt eine solche Konstruktion versucht, muss notwendigerweise bei ihm der Satz: »Mehrheit entscheidet«, sinnlos sein.5 Vielmehr wird dieses Prinzip erst einsichtig, wenn die Forderung der Gleichheit in der der Freiheit, definiert als jeweilige Übereinstimmung des ungehindert gebildeten Subjektwillens mit dem Staatswillen, derart aufbewahrt wird, dass die Freiheitsforderung die Gestalt annimmt, es sollen möglichst viele frei sein.6 Des vieldeutigen Begriffs Freiheit bedient man sich in der Verfassungstheorie zur Bezeichnung zweier wohl historisch eine relativ lange Dauer hindurch zusammen vorgefundener, darum aber nicht minder voneinander verschiedener Bereiche. Zunächst kann sich der Begriff der Freiheit auf den Prozess der Normkreation beziehen. Dann aber auch auf das Verhältnis von Norminhalten zu individuellen Lebensbereichen. In der bisher erörterten Bedeutung handelt es sich, wie ersichtlich, um die erste Sphäre. Freiheit sei in dieser Bedeutung »politische Freiheit« (Freiheit im Staat), Freiheit, in Beziehung auf die zweite Sphäre, individuelle Freiheit (Freiheit vom Staat) genannt. Diese individuelle Freiheit, zu der herkömmlicherweise sowohl diejenigen Freihei3 Carl Schmitt, Verfassungslehre, [München/Leipzig] 1928, S. 169 und 235. 4 [Hans] Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl.[, Tübingen] 1929, S. 9. 5 [Carl Schmitt:] Verfassungslehre, [München/Leipzig 1928,] S. 278. 6 Über Freiheit und Gleichheit als Strukturprinzipien der Demokratie vergleiche die ausführlichen Erörterungen bei [Vladomir] Starosolsky, Das Majoritätsprinzip, Wien und Leipzig 1916, S. 84 ff. Neuerdings etwa die Bemerkungen bei [Dietrich] Schindler, Verfassungsrecht und soziale Struktur, [Zürich] 1932, S. 133. Vergleiche insbesondere G. Salomon, Verhandlung des deutschen Soziologentages, S. 106-109. [Gottfried Salomon: Verhandlungen des 5. Deutschen Soziologentages vom 26. bis 29. September 1926 in Wien, Tübingen 1927.]
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ten gerechnet werden, die die Freiheit des Einzelnen, als auch die, die die Freiheit der Gruppenbildung garantieren, besitzt nun Wirkungen von zweierlei Art. Einmal sichert die individuelle Freiheit die Ungehindertheit der politischen Willensbildung. In dieser Funktion sei sie staatsbürgerliche Freiheit genannt. Zu den staatsbürgerlichen Freiheiten gehören etwa die Pressefreiheit, die Freiheit der Meinungsäußerung, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.7 Sie bilden die notwendige Ergänzung zu den sogenannten politischen Rechten, die als Wahlrecht und Recht auf gleichen Zutritt zu den Ämtern selbstverständliche Bestandteile der Freiheit im Staat, das heißt des politischen Willensbildungsprozesses in der Demokratie sind.8 Zum andern aber sind diese individuellen Freiheitsrechte die Voraussetzung der privaten Freiheitssphäre des Einzelnen. Hierfür sind in erster Linie Eigentum und Religionsfreiheit zu nennen, wobei aber auch die anderen Freiheitsrechte, soweit sie nicht politischen Zwecken dienen, hierher gehören.9 Eine Koexistenz aller drei Freiheiten, der politischen, staatsbürgerlichen und privaten, ist historisch keineswegs immer gegeben.10 »Politische Freiheit« in der engen Bedeutung, die man mitunter mit dem Begriff der demokratischen Grundrechte verbindet,11 ist auch in nichtdemokratischen Staaten zum Teil vorhanden (Italien). Der Demokratie 7 Von der These aus, dass erst bei einer »menschenwürdigen« Existenz eine Ausübungsmöglichkeit der politischen Freiheit bestehen könne, erweitert sich der Kreis der staatsbürgerlichen Freiheiten beträchtlich; vergleiche Luiz Jimenez de Azua, Vorsitzender des Verfassungsausschusses der Cortes. Vergleiche Zeitschr. für ausländisches öffentl. Recht III, 3, 377. [Luis Jiménez de Asúa: Die Verfassung der Spanischen Republik, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht, Band 3, Teil 1, Berlin 1933.] 8 Ihre Beziehungen zur »Autonomie« und »Selbstverantwortlichkeit des Individuums« sind angedeutet bei Pribram, Verhandl. d. 5. deutschen Soziologentages, S. 100. [Karl Pribram: Verhandlung des 5. deutschen Soziologentages, Tübingen 1927.] 9 Über die notwendige Organisation dieser Freiheit in der Demokratie vergleiche [Heinz Otto] Ziegler, Die moderne Nation,[ Tübingen] 1931, S. 237. Freilich ist die dort vertretene These, dass die Demokratie anstelle der Freiheit des Individuums die »Freiheit des Kollektivs« setze, nur sehr bedingt annehmbar, weil eben jede notwendige Organisierung der Freiheit bestimmte Möglichkeiten garantiert, dem Kollektiv der Majorität sich zu entziehen und ihm gegenüberzutreten. 10 Über die Verschiedenartigkeit der Freiheitsbegriffe und die Möglichkeit ihres Auseinanderfallens vergleiche [James] Bryce, Modern Democracies, [New York] 1921, Band 1, S. 60 ff.; [Harold J.] Laski, Liberty in the modern State, London 1930, erkennt wohl die verschiedenartigen Funktionen der Freiheit, ohne von seinem pluralistischen Ausgangspunkt aus scharfe Unterscheidungen vorzunehmen; vergleiche auch seine Ausführungen in: »A grammar of politics«, [London 1930,] S. 146 ff. 11 Vergleiche etwa die Aufzählung bei Schmitt, Verfassungslehre,[ München/Leipzig 1928,] S. 168/69, Hbd. DStR. Bd. 2 S. 594 [Carl Schmitt: § 101. Inhalt und
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eigen ist die spezifische Verbindung von voller politischer und staatsbürgerlicher Freiheit, die erst die Voraussetzung für eine ungehinderte Willensbildung schafft. Einen notwendigen Bestandteil der Demokratie stellt dagegen die private Freiheit nicht dar, wie umgekehrt sowohl das Gegebensein der privaten wie auch in einem gewissen Umfang der staatsbürgerlichen Freiheit historisch unabhängig von dem Vorhandensein der politischen Freiheit ist.12 Im Schmitt‘schen Freiheitsbegriff wird vorwiegend auf die individuelle Freiheit abgestellt, wobei diese in die Freiheitssphäre des isolierten Einzelnen und in die Freiheitssphäre des Einzelnen mit anderen Einzelnen geschieden wird. Da Schmitt die Freiheitssphäre im Sinne der staatsfreien Sphäre13 des Individuums auffasst und nicht nach ihrer Beziehung oder ihrer Beziehungslosigkeit zur Meinungsbildung und damit – in der Demokratie – politischen Willensbildung fragt, tritt der Unterschied zwischen staatsbürgerlicher und privater Freiheit nicht hervor, wobei ja in unserem Sinne private Freiheit lediglich durch eine bestimmte Intention des individuellen Verhaltens bezeichnet wird, gleichgültig, ob diese Intention vom Einzelnen allein oder im Zusammenhang mit andern Einzelnen verfolgt wird. Die politische Freiheit wird bei Schmitt zwar ihrem Umfang nach gekennzeichnet, erhält aber ihre Bedeutung erst durch die Beziehung auf die Gleichheitsforderung, als deren Korrelat sie erscheint. Dabei wird also die Doppelfunktion jenes in sich heterogenen Vorstellungskomplexes, der mit dem Wort Freiheit bezeichnet wird, nicht gewürdigt, nämlich einerseits Begründung der von der demokratischen Organisation erforderten staatsbürgerlichen Freiheit, andererseits Begründung privater Freiheit zu sein. Daraus ergibt sich in der Weise, wie dies Kelsen14 ausgeführt hat, »Mehrheit entscheidet« als institutionelle Garantie eines größeren Freiheitsmaßes, als es ein anderer Abstimmungsmodus ergeben würde. Dabei ist davon auszugehen, wie auch Rousseau es darstellt,15 dass Sonderinteressen mit dem Tatbestand der Gesellschaft
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Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in: Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1930/32, S. 572-606]; neuestens [Franz L.] Neumann, Koalitionsfreiheit und Rechtsverfassung,[ Berlin] 1932, S. 16. Über die Koinzidenz von Absolutismus und individueller Freiheit vergleiche die Bemerkung von Tönnies in »Demokratie und Parlamentarismus«, Schmollers Jahrb. Bd. 51 S. 7. [Ferdinand Tönnies: Demokratie und Parlamentarismus, in: Schmollers Jahrbuch, Band 51, Heft 2, München/Leipzig 1927, S. 173-216.] Vergleiche dazu noch neustens Carl Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung, [in: Ders. (Hg.): Rechtswissenschaftliche Beiträge zum 25jährigen Bestehen der Handels-Hochschule Berlin, Berlin] 1931, S. 27 ff. [Hans] Kelsen, Wesen und Wert der Demokratie,[ Tübingen 1920,] S. 9-10. Vergleiche: [Jean-Jacques Rousseau,] Contrat social II, 3.
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immer gegeben sind. Es ist allerdings zuzugeben, dass, je geringer der Bereich der Sonderinteressen ist – und nur um quantitative Verschiebungen kann es sich hier handeln –, desto geringer auch der Bereich der möglichen Unfreiheit ist; denn dann sind die möglichen Meinungsverschiedenheiten und damit auch die Möglichkeit des Überstimmtwerdens desto geringer. Eine völlige Aufhebung der Meinungsverschiedenheiten ist jedoch nur als Utopie denkbar, weil hier die Aufhebung des Tatbestands der Individualität impliziert wäre. Nimmt man den evidenten Satz an, dass die Anerkennung eines Wertes auch dann zum Bemühen um den angesichts des Realitätswiderstandes und der etwaigen Kollisionen mit anderen Werten höchstmöglichen Realisierungsgrad verpflichtet, so folgt daraus für unseren Fall: Wenn ein beliebig hoher Grad von Heterogenität der Gesellschaft feststeht, muss, falls nur der Freiheits- und Gleichheitswert anerkannt ist, auch in einer solchen Gesellschaft nach dem Modus seiner maximalen Verwirklichung gestrebt werden. Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, den Nachweis zu versuchen, dass diese Rechtfertigung der Demokratie die historisch dominierende ist und demnach auch der Reichsverfassung zugrunde gelegt werden muss: lag doch ihr Pathos in ihrer Selbstlegitimierung als freiester Verfassung der Welt. Zum Nachweis soll nicht nur auf die oft zitierte Rede eines zeitgenössischen, für die damalige Zeit keineswegs radikalen Politikers, des damaligen Reichsinnenministers David, hingewiesen werden, sondern auf die Präambel der Verfassung selbst, die davon spricht, dass das deutsche Volk sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit erneuern und festigen wolle.16 Die hier gegebene Rechtfertigung ist allerdings nur eine aus der Vielheit der möglichen. Diese lassen sich in zwei Gruppen teilen, von denen die eine das demokratische Organisationsprinzip unabhängig von dem sachlichen Charakter der durch es verwirklichten Entscheidungen aus bestimmten »formalen« Werten (Freiheit und Gleichheit) rechtfertigt, die andere dieses Organisationsprinzip deshalb rechtfertigt, weil es und nur es solche Sachcharaktere der Entscheidungen ver16 Es handelt sich um die Rede vom 31. 7. 1919, 71. Sitzung, 2195 C. Die Präambel wird heute bekanntlich in weiterem Umfang zur Verfassungsinterpretation herangezogen, wofür etwa die Äußerungen von [Hans] Liermann, Das deutsche Volk als Rechtsbegriff,[ Berlin] 1927, S. 166 ff., ein Beispiel geben können. Vergleiche vor allem [Rudolf] Smend, Verfassung und Verfassungsrecht,[ München 1928,] S. 8,9. Für die staatstheoretische Interpretation der demokratischen Prinzipien sei auf die Bedeutung hingewiesen, die Richard Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts (HbdDStR.) Bd. 2, S. 190, Freiheit und Gleichheit im System der Demokratie zuweist. [Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1930/32.]
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ursacht, die wegen ihrer Sachrichtigkeit gebilligt werden. Der Auffassung Rousseaus und anscheinend auch Kelsens liegt neben der ersten Begründung auch die zweite zugrunde.17 Schmitt lehnt die Demokratie unter anderem auch mit der Begründung ab, dass »wer diese Mehrheit (nämlich die 51prozentige) hat, nicht mehr Unrecht tun würde, sondern alles, was er tut, in Recht und Legalität verwandeln würde. Mit solchen Konsequenzen führt das Prinzip eines inhaltslosen funktionalistischen Legalitätsprinzips sich selbst ad absurdum« (S. 33). Es scheint hier eine quaternio terminorum des Wortes Unrecht vorzuliegen; zwar würde eine 51prozentige Mehrheit im vorausgesetzten parlamentarischen Gesetzgebungsstaat dann keine Rechtswidrigkeit begehen, wenn sie beliebige materielle Normen in Übereinstimmung mit den im Augenblick existierenden Organisationsnormen schaffen würde, das verhindert aber natürlich nicht, dass diese legalen Normen, von bestimmten Subjekten aus gesehen, den Charakter der Ungerechtigkeit tragen können. Dies scheint auch der Tatbestand zu sein, den Schmitt mit den wiedergegebenen Sätzen intendiert. Die Subjekte, die die legalen Normen als ungerecht bewerten, werden die der Minderheit sein. Für einen nichtdemokratischen Staat ist der entsprechende Zustand dann gegeben, wenn die von dem Inhaber der Staatsgewalt subjektiv als gerecht empfundenen18 Normen von einer unbestimmten dissentierenden, aber hier möglicherweise über 49 Prozent hinausgehenden Zahl der Untertanen als ungerecht empfunden werden. Was also die von der Staatsgewalt selbst nicht als ungerecht empfundenen Normen betrifft, so wäre hier zwischen demokratischem und nichtdemokratischem Staat nur unter einer Bedingung eine Verschiedenheit festzustellen, dann nämlich, wenn im nichtdemokratischen Staat den dissentierenden Untertanen ein Appell an letztlich entscheidende Instanzen mit der Berufung auf Ungerechtigkeit gegeben wäre, obgleich hier natürlich das freilich unaufhebbare Problem: Quis custodiet ipsos custodes? in unverminderter Schärfe fortbestehen würde. Aber auch die Verfassungspraxis des Absolutismus kennt eine
17 [Jean-Jacques] Rousseau, Contrat social IV, 2; vergleiche dazu etwa Smend, a. a. O., S. 114. [Rudolf Smend: Verfassung und Verfassungsrecht, München 1928.] 18 Über das hier nicht zu behandelnde Problem der von der Staatsgewalt selbst als Unrecht empfundenen Normen vergleiche die Ausführungen bei [Gustav] Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl.,[ Leipzig] 1932, S. 82; im Rahmen eines soziologisch wohl begründeten, erkenntnistheoretisch aber problematischen Wertrelativismus erörtert bei Thoma, HbdDStR., Bd. 2, S. 142. [Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1930/32.]
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Instanz dieser Art nicht.19 Im Übrigen würde die Herstellung eines solchen Zustandes nicht nur die Demokratie, sondern auch die in der Schmitt‘schen Schrift erscheinende Möglichkeit neuer Mischformen eines autoritären und zugleich plebiszitären Staats letztlich nur in intermediäre Instanzen eines auch von Schmitt nicht wertbetonten20 Jurisdiktionsstaates verwandeln. Es sind bisher nur solche Rechtfertigungsmöglichkeiten betrachtet worden, die eine unmittelbare Bejahung um ihrer selbst willen verpflichtender Werte in sich schließen. Die Wertbeziehung der Demokratie kann jedoch auch mittelbar »instrumental« sein, und zwar derart, dass sich in der Demokratie eines bestimmten Zeitpunkts wohl nicht unmittelbar jene Werte realisieren, aber dass doch geglaubt wird, dass die Wirkungen der Existenz dieser Demokratie einmal dahin führen müssten, diese Werte zu verwirklichen. Hierbei kann für den Endzustand dieser Wertverwirklichung entweder die Beibehaltung der Demokratie oder ihre Abschaffung geplant sein. In beiden Fällen wird die aktuelle Demokratie jedoch als Mittel gerechtfertigt, während sie für die erste Gruppe von Rechtfertigungsmöglichkeiten als Zweck erscheint. Als Beispiel für die erste Abart der Mittelposition kann die politische Theorie des Marxismus, für die zweite die Theorie des Nationalsozialismus genommen werden. Schmitt behauptet jedoch nicht nur, die Demokratie sei für eine heterogene Gesellschaft nicht zu rechtfertigen, sondern auch, sie sei in ihr auch nicht funktionsfähig, das heißt es könne sich in ihr kein allseitig legales Verhalten aller ergeben (S. 43, 90). Es scheinen jedoch eine ganze Reihe von Phänomenen vorhanden zu sein, die mit dieser These kaum in Einklang zu bringen sein dürften. Man wird nicht behaupten können, dass das Frankreich vom Panamakonflikt bis zum Eisenbahnerstreik im Jahre 1910 in sozialer Hinsicht durch das erst einzuordnende 19 Für Frankreich vergleiche über das »lit de justice« als unanfechtbares Rechtsmittel des königlichen Absolutismus Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte 1910, S. 350. [Robert Holtzmann: Französische Verfassungsgeschichte von der Mitte des 9. Jahrhunderts bis zur Revolution, München 1910.] Der englischen Verfassungsgeschichte ist sogar die Problemstellung als solche nicht geläufig; sowohl [Albert Venn] Dicey‘s, Introduction to the study of the law of constitution, 8. Aufl.[, London] 1915, S. 224 ff., als [Frederic] Maitland, Constitutional history of England,[ Cambridge] 1908, S. 266 ff., als [Julius] Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte,[ München] 1913, S. 499 ff., befassen sich anlässlich des Streits zwischen Coke und der Krone lediglich mit der Frage des direkten Einwirkungsrechts der Krone gegen richterliche Handlungen (aber nicht umgekehrt) und der Frage der Gültigkeit administrativer Verhaftungsbefehle. 20 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung,[ Tübingen] 1931, Kap. I.
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Proletariat und in den für das politische Bewusstsein dieser Nation zentralen Fragen der »politique et idéologie pure« als homogene Gesellschaft anzusehen sei. Teilten doch unablässig seit der großen Revolution die Ideen von 1789 das Volk; wenn auch heute nach errungenem Siege diese Ideologien mehr die Funktion sachlicher Integration in einer sich statisierenden Gesellschaft erfüllen, so besaßen sie doch noch um die Jahrhundertwende in der kritischen Periode der Dritten Republik eine große Macht. Sie hatten die Kraft tiefgreifender Spaltung, und trotzdem wurde der demokratische Willensbildungsprozess nicht gestört.21 In Großbritannien offenbart sich das Wachsen der Heterogenität in der Transformationstendenz der Parteifronten zu Fronten ausgesprochener sozialer Schichtung, ein Prozess, der bekanntlich durch die Konsolidierung der Labour Party eingeleitet wurde. Dass sich Situationen ergeben, in denen die substantielle nationale Gleichheit als sachliches Integrationsmittel reflexiv in Anspruch genommen wird, könnte ebenfalls als Symptom einer Schwächung der selbstverständlichen Einigung durch nationale Homogenität gedeutet werden. Dieser Vorgang ist umso bedeutsamer, als er mit der für die englische politische Geschichte beispiellosen Tatsache der »hors de la nation« Erklärung einer großen Partei verbunden war und so die Ideologie der nationalen Homogenität ihren Geltungsbereich nur auf einen Teil der politischen Nation erstreckt wissen wollte. In Belgien scheint bisher trotz der ausgeprägten subjektiven Heterogenität nationaler und sozialer Art, die die belgischen Parteien zu typischen Integrationsparteien22 werden ließ, eine ernsthafte Bedrohung der Demokratie nicht eingetreten zu sein. Dass der Trend der Heterogenität im Allgemeinen eine Tendenz 21 Übrigens lässt das Dominieren der Problematik der Demokratie in den politischen Ideologien aller Richtungen die Tatsache merkwürdig zurücktreten, dass die demokratische Phase der Verfassungsentwicklung bisher – von U.S.A. abgesehen – im historischen Zeitablauf einen sehr geringen Raum einnahm. Ist doch das gleiche Wahlrecht in Frankreich endgültig erst seit 1852, in Italien seit 1911, in Großbritannien seit 1918 und in Belgien gar erst seit 1921 eingeführt. Die stark gesteigerte psychische Dynamik unserer Zeit zeigt sich auch darin, dass uns eine Institution bereits als antiquiert erscheint, deren reale historische Bewährungsfrist erst überaus kurz ist. Vergleiche dazu die Ausführungen von M. Jaffé über Demokratie und Partei in Arch.f. Sozw. Bd. 65, S. 106-108. [Moritz Jaffé: Demokratie und Partei, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 65, Tübingen 1931, S. 101-127.] 22 Über den Begriff der Integrationspartei vergleiche Sigmund Neumann, Die deutschen Parteien [; Wesen und Wandel nach dem Kriege, Berlin] 1932. Über den Trend der Heterogenität in Belgien vergleiche Bourquin, Jahrb. d. öff. R. 1930, S. 187, der von einer Substitution der »ministères homogènes« durch »ministères mixtes« spricht. [Maurice Bourquin: Les principales transformations du droit public belge, depuis 1914, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Band 18, Tübingen 1930, S. 186-207.]
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zum Ansteigen hat, dürfte daraus hervorgehen, dass die Inhalte der bewusstseinsmäßigen Gleichheiten, die heute noch existieren, in weitem Umfang sich mit der Realität nicht decken, ja ihren Abstand zu ihr verbreitern; es handelt sich also in weitem Maße um eine Fundierung der Homogenität auf Ideologien in dem zum Beispiel von Karl Mannheim23 diesem Wort gegebenen Sinn. Ein solches »falsches Bewusstsein« kann erzeugt worden sein erstens durch das Nachhinken des »Überbaus« gegenüber den Umwälzungen des sozialen Substrats. Eine Konstanz von Inhalten eines Bewusstseins, das sich in einem bestimmten Zeitpunkt in Deckung mit der Realität befand und deshalb »richtig« war, erhält den Charakter der »Falschheit«, wenn sich inzwischen Änderungen der Realität vollzogen haben. Bisher war zum Beispiel das egoistische Kalkül der Interessensolidarität infolge des grenzenlosen Vertrauens in seine Richtigkeit in den Vereinigten Staaten in selten reiner Weise ein Integrationsfaktor, dessen Mächtigkeit man am Vergleich des Assimilationsprozesses national heterogener Gruppen in Amerika einerseits, in Europa andererseits ermessen kann. Sollte es sich erweisen, dass mit der Krise des Jahres 1929 eine neue Epoche des nordamerikanischen Kapitalismus ihren Anfang nimmt, so müsste erst die Bewährung dieses zu einem Glauben verfestigten Kalküls bei dem Einsetzen des Realitätswiderstands eintreten; eine Bewährung, deren Chancen evidenterweise angesichts der pragmatischen Struktur dieses Kalküls sehr fraglich erscheinen. Mit einer bemerkenswerten soziologischen Folgerichtigkeit wird deshalb jetzt in den Vereinigten Staaten die Hoffnung auf neue prosperity als sozialer Integrationsfaktor benutzt. Was als eine jedem einzelnen Individuum sich aufdrängende Erwartungschance den sozialen Zusammenhang einst begründete, soll jetzt in ideologisch denaturierter Form diesen Zusammenhalt erhalten.24 Eine demokratische Ideologie kann aber nicht nur deshalb den Charakter der »Falschheit« tragen, weil sie hinter der gewandelten Wirklichkeit einherhinkt, sondern auch weil sie eine existierende demokratische Wirklichkeit nach dem Bild einer vorgefassten Utopie sieht, als deren Verwirklichung diese Demokratie fälschlich angesehen wird. Dies ist im ideologischen Entwicklungsgang zum Beispiel weiter Schichten der 23 [Karl Mannheim:] Ideologie und Utopie,[ Bonn] 1929. 24 Über die Transformierung der ehemals realen Frontierstimmung in bewusste Massenbeeinflussung vergleiche die instruktive Darstellung bei [Charlotte] Lütkens, Staat und Gesellschaft in Amerika,[ Tübingen] 1929, S. 176 ff. Ob man nun die »Leichenkondukte der Depression« von der Gesellschaft oder vom Staat oder von beiden zugleich veranstaltet wissen will, in jedem Fall handelt es sich um einen ideologischen Vorgang, bei dem die Anpassung an die Realität nur in der Form der Maskerade vollzogen werden kann.
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europäischen Arbeiterklasse gegeben, deren eigentlich die soziale Demokratie intendierende Bejahung sich auf die politische Demokratie überträgt. Parallel zu der sich teilweise bereits vollziehenden, teilweise noch zu erwartenden Schwächung der subjektiven Homogenität ist für die Existenz der Demokratie das Problem eines Grundlagenwechsels und damit auch einer »Grundlagenkrise« gestellt. Denn es wäre unmöglich zu leugnen, dass die Situationen, in denen dieser Grundlagenwechsel notwendig wird, kritische Situationen der Demokratie sind. Aber angesichts der Schmalheit der Induktionsbasis und der schon bei dem gegebenen Erfahrungsmaterial gegen die Behauptung der Ausweglosigkeit der Demokratie in dieser Situation sprechenden Phänomene erscheint die Behauptung Carl Schmitts über die Unmöglichkeit der Demokratie in einer heterogenen Gesellschaft nicht hinreichend begründet. Denn es zeichnen sich neue Möglichkeiten in der Realität ab, die auf ein Zunehmen der konsequenten »Mitteleinstellung« zur Demokratie hinweisen. Der bewussten Mitteleinstellung der verschiedenen sozialen Klassen zur Demokratie wurde, solange relativ einheitliche Klasseninteressen ihren verfassungsrechtlichen Niederschlag zu finden hatten, keine allzu große Beachtung geschenkt, obwohl neuerdings Charles Beard für die Verfassungsbildung der Vereinigten Staaten das Zusammengehen von »money, public securities, manufactures and trade and shipping« als Grundlage der amerikanischen Konstitution herausgestellt hat.25 Diese Mitteleinstellung manifestiert sich in den geschriebenen Normen der Verfassung heutzutage in gewissen materiellrechtlichen Bestimmungen, etwa von der Art, wie sie die im Wesentlichen auf der »Sozialkonvention« Legien-Stinnes beruhende Weimarer Verfassung, neuerdings aber auch die spanische Verfassung enthält, 26 besonders deutlich. In dieser Auffassung spiegeln sich Einstellungen der die Verfassung tragenden Parteien zur Demokratie wider, in denen diese lediglich als optimale politische Maschinerie einer notwendigen Willensvereinheitlichung in der heterogenen Gesellschaft bejaht wird. Und zwar wird hier die politische Optimalität dieser Staatsstruktur von den betreffenden Parteien darin gesehen, dass die demokratischen Machtchancen für jede einzelne von ihnen größer 25 Charles A. Beard, An economic interpretation of the constitution of the United States,[ New York] 1913, S. 324. 26 Vergleiche die Äußerung von Hugo Preuß im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung, Protokolle S. 185: »Bei uns herrscht eben nicht eine in sich einheitliche Richtung, sondern das Zusammenwirken verschiedener Richtungen, die aus ihren sonst auseinandergehenden Zielen einen Komplex herausnehmen können, der eine Verbindung ermöglicht.« [Reichstagsprotokolle 1919, Verfassungsgebende Nationalversammlung, Aktenstück Nr. 391, S. 185.]
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erscheinen als die außerdemokratischen. Dieses Dominieren der Mitteleinstellung zur Demokratie – ein stilidentisches Phänomen zur Verdrängung des Selbstzweck-Aspekts so vieler Dinge in der »Entzauberung der Welt«27 – macht allerdings die Demokratie insofern instabil, als bei einer Veränderung der Situation die Demokratie wesentlichen Parteien oder sonstigen Machtgruppen nicht mehr als das zweckentsprechende Mittel erscheinen mag. Ein solcher Fall scheint in Deutschland vorzuliegen; man könnte die Bedeutung dieser Ursache für die jüngste deutsche Entwicklung sehr viel höher einschätzen als die von Carl Schmitt angegebenen Krisenfaktoren.28 Eine allgemeine Aussage über das intertemporale Häufigkeitsverhältnis von positiver und negativer Mittelbewertung der Demokratie seitens der verschiedenen Gesellschaftsgruppen ist ersichtlich unmöglich. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass annähernde politische Stabilitäten sich aus der positiven Mittelbewertung ergeben können (Deutschland 1925-1929, Belgien, Tschechoslowakei, Australien, möglicherweise Spanien). Wenn bis jetzt von dem Funktionieren der Demokratie in einer heterogenen Gesellschaft gesprochen wurde, so wurde dabei den Fragen, die sich aus der Belastung der modernen Verfassung mit einer Anzahl materiellrechtlicher, über den überlieferten Bestand29 von Organisationsbestimmungen und Freiheitsgarantien hinausgehender Bestimmungen ergeben, keine Beachtung geschenkt. Aber Schmitt behauptet über die These von der Funktionsunfähigkeit eines rein parlamentarischen Gesetzgebungsstaates mit den herkömmlichen Freiheitsrechten hinaus, dass die Existenz materiellrechtlicher Bestimmungen (sei es nun, dass sie völlig eximiert, sei es, dass sie nur durch das Erfordernis qualifizierter Mehrheit bei Abänderung geschützt seien) noch einen weiteren Beitrag zu dieser Funktionsunfähigkeit leiste (S. 47). Bevor diese These selbst erörtert wird, ist es am Platze, eine lediglich auf die Zwecke der dann folgenden Ausführungen zugeschnittene Übersicht über die hier relevanten Haupttypen der materiellrechtlichen Normen der Verfas27 Freilich wird diese Mitteleinstellung für diejenigen, die im Endzustand die Demokratie bejahen, eben durch diese Tatsache der Bejahung gemildert, insofern in psychologischer Unwillkürlichkeit auch hier der Mittelcharakter abgeschwächt wird. Wesentlich ist hierbei, dass das oben behandelte Problem der Zielrechtfertigung der Demokratie auch zum großen Teil für diejenigen besteht, die die Demokratie in der gegenwärtigen Situation lediglich als Mittel bejahen. 28 Vergleiche die Ausführungen von Jovishoff in: Z. f. öff. R., Bd. 12, S. 625 ff. [Albert Jovishoff: Kapitalismus und Demokratie, in: Zeitschrift für öffentliches Recht, Band 12, Heft 4, Wien 1932, S. 609-628.] 29 Vergleiche die Ausführungen bei [Karl] Löwenstein, Erscheinungsformen der Verfassungsänderung,[ Tübingen] 1931, S. 3.
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sung von Weimar, die Schmitt vor allem vor Augen hat, zu geben.30 Die Normen, um die es sich hier handelt, sind einerseits solche, denen eine unmittelbare Verpflichtung der Verwaltung und Rechtsprechung zur Befolgung bzw. Konkretisierung entspricht (Fixierungsnormen,31 zum Beispiel Art. 143 Abs. 3, 144, 149 RV.), andererseits solche, aus denen sich eine solche Verpflichtung nicht ergibt. Diese können wiederum solche sein, durch die eine nicht einklagbare Aufforderung an den Gesetzgeber gerichtet wird (Programmnormen, zum Beispiel Art. 151, 161, 162 RV.), oder solche, in denen lediglich eine Ermächtigung an den Gesetzgeber ausgesprochen wird (Ermächtigungsnormen, zum Beispiel Art. 155 Abs. 2, 156 Abs. 1 und 2, 165 Abs. 5 RV.). Eine Ermächtigungsnorm wird nur dann sinnvoll aufgestellt werden können, wenn ohne sie die Zulässigkeit der in ihr gegebenen Ermächtigungen zum mindesten zweifelhaft wäre; eine Programmnorm wird jedoch auch dann einen Sinn haben – nämlich den »moralischen Druck« auf den Gesetzgeber –, wenn die Verfassungszulässigkeit ihrer Inhalte auch ohne sie unzweifelhaft ist. Indem die Fixierungsnormen im normgemäßen Rechtshandeln des Staates realisiert werden, entspricht ihnen ein reales Substrat. Den Programm- und Ermächtigungsnormen entspricht im Falle der Nichtausführung des Programms und des Nichtgebrauchmachens von der Ermächtigung kein realisiertes Substrat. Wie wirkt nun in bestimmten Verhältnissen die Existenz der einzelnen Normtypen auf den Grad des Funktionierens der Demokratie ein? Bei annähernd konstanter Machtverteilung erfüllen die Fixierungsnormen folgende Funktion: Sie erschweren dadurch, dass sie bestimmte Sachgebiete dem Zugriff der einfachen Mehrheit entziehen, deren Einbeziehung in den unmittelbar praktischen politischen Kampf. Sie vermindern so die Größe der aktuellen Reibungsfläche und tendieren so zur Erhöhung der Funktionsfähigkeit der Demokratie.32 Sie wirken, falls sie »richtig«, das heißt den Machtverhältnissen entsprechend gewählt sind, 30 Vergleiche dazu die Typologie, die Carl Schmitt im HbdDStR, Bd. 2, § 101, gegeben hat. [Carl Schmitt: § 101. Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in: Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1930/32, S. 572-606.] 31 Der Begriff ist hier in weiterem Sinn gebraucht als innerhalb der Schmitt’schen Terminologie, HbdDStR, Bd. 2, S. 604. [Carl Schmitt: § 101. Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in: Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1930/32, S. 572-606.] 32 Diese Eliminierung von Reibungsflächen kann als der Versuch, eine Sphäre politischer Bewusstseinshomogenität freizulegen, gedeutet werden (vergleiche den zitierten Ausspruch von Preuß) [Reichstagsprotokolle 1919, Verfassungsgebende Nationalversammlung, Aktenstück Nr. 391, S. 185]. Wenn man die These
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als die Antizipation der jeweils sonst erst im politischen Kampf erzielbaren Resultante. Die Fixierung erscheint also als die Einführung des Planprinzips in das Konkurrenzsystem der Demokratie. Andererseits verweigern die Fixierungsnormen einer einfachen Mehrheit, die zu dem von ihnen garantierten Besitzstand an Institutionen in Feindschaft steht, das Ventil der Durchsetzung ihrer Wünsche. Sie bewirken es, dass unbefriedigte Massenstrebungen an der hier besonders weit vorgeschobenen Schranke der Rechtsordnung scheitern und eventuell in antidemokratischen Tendenzen einen neuen Ausdruck finden; dies wird besonders bei einer eingetretenen Variation der sozialen Machtverhältnisse der Fall sein. Es ist jedoch gegenüber der zuletzt geschilderten Wirkung der Fixierungsnormen ein beachtenswertes Kompensationselement vorhanden. Diejenige Gruppe, die den durch die Fixierungsnormen garantierten Institutionen verbunden ist, wird tendenziell dadurch auch zu einem positiven Verhältnis zur Demokratie im Ganzen geführt. Für beide Tendenzen, die der Erhöhung und die der Schwächung der Stabilität, bietet die verfassungsrechtliche Garantie der Stellung der Beamten ein Beispiel. Zunächst wird durch die beamtenrechtlichen Garantien des Art. 129 RV (ebenso übrigens durch den Art. 41 der neuen spanischen Verfassung) die Beutegröße und damit die Intensität des Parteikampfes infolge der verringerten Möglichkeiten zur Ämterpatronage verringert. Dadurch aber wird auch die legale Einstellung von Parteien, die die Durchführung ihrer Ziele an eine schnelle personelle Umbesetzung des Staatsapparates gebunden glauben, auf eine harte Probe gestellt. Dieselbe Wirkung geht von den Programm- und Ermächtigungsnormen aus, solange sie bei konstanter Machtverteilung nicht realisiert werden. Hier können die möglichen Nutznießer der durch diese Normen gewährten realen Chancen durch eben diese Chancen und durch die in diesen Verfassungsnormen implizierte Bejahung der betreffenden ideellen Werte in ein positives Verhältnis zur Demokratie gebracht werden (Art. 156, 165 Abs. 2). Wie ist die Frage der Funktionsfähigkeit zu beurteilen, wenn bei variabler Machtverteilung die Realisierung der in den Ermächtigungsnormen gegebenen Chancen von einer bestimmten annimmt, wonach allein »Homogenität« ein Funktionieren der Demokratie ermögliche, scheint jedoch diese Homogenität dafür nicht zu genügen. Insofern ist die Ansicht Ernst Fränkels (Gesellschaft 1932, Heft 10, S. 308) [Ernst Fraenkel: Um die Verfassung, in: Die Gesellschaft, Jg. 9, Heft 10, Berlin 1932, S. 297-312], der zweite Teil der Reichsverfassung sei, was die hier betrachtete Funktion angehe, eine conditio sine qua non ihres Funktionierens, ebenso zweifelhaft wie die entgegengesetzte These von Carl Schmitt.
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Mehrheitsgruppe in Angriff genommen wird? Hier erhöht sich die Funktionsfähigkeit insofern, als die gesteigerte Machtstellung der betreffenden Gruppe in legaler Weise zustande kommt, das heißt die Legalität der Machterweiterung gesichert ist. So wäre nach der Reichsverfassung ebenso wie nach der neuen spanischen Verfassung der Übergang von einer Agrarverfassung, die noch weitgehend vom Großgrundbesitz bestimmt ist, zu einer solchen rein bäuerlicher Art als normaler Gesetzgebungsakt möglich (Art. 155 RV., Art 44 der spanischen Verfassung). Zusammenfassend muss gesagt werden, dass die materiellrechtlichen Bestimmungen des zweiten Teils der Reichsverfassung keine eindeutige Feststellung hinsichtlich ihrer Einwirkung auf die Funktionsfähigkeit der Demokratie erlauben. Je nach Inhalt und sozialem Milieu werden die integrierenden oder desintegrierenden Wirkungen überwiegen. Mit einem »non liquet« muss man sich hier wohl auf die Skizzierung der Möglichkeiten beschränken. Schmitt behauptet weiter, dass durch die Einführung eines zweiten Teils eine Veränderung der Organisationsstruktur des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates eintrete, in der die Höchstinstanzlichkeit des Parlaments zugunsten jurisdiktioneller Elemente aufgehoben werde (S. 57, 58, 61). In der Wirklichkeit kommen – hierin ist Schmitt beizupflichten – die geschilderten Entwicklungen vor, jedoch vor allem dort – und das ist entscheidend –, wo die von Schmitt für sie angegebenen Ursachen nicht gegeben sind. Nach Schmitt sind solche Strukturwandlungen gerade dann vorhanden, wenn Verfassungen mit »speziellen materiell-rechtlichen Verfassungsverankerungen, welche unter [dem »]Vorbehalt[«] des verfassungsändernden Gesetzes stehen« (S. 60), vorliegen. Der bedeutsamste Fall der Verwirklichung einer Art von Jurisdiktionsstaat liegt jedoch in den Vereinigten Staaten vor. Sieht man einmal vom 18. Amendment ab, so stellt diese Verfassung gerade den Typus einer »auf die organisatorisch-verfahrensmäßige Regelung und auf allgemeine Freiheitsrechte beschränkten Verfassung« (S. 60) dar. Bekanntlich ist es die ihrem ursprünglichen Gehalt nach rein verfahrensrechtlich ausgelegte Klausel33 des »due process of law« im 5. und 14. Amendment, mit deren Hilfe der Supreme Court und ihm fol33 Vergleiche [John R.] Commons, Legal foundations of capitalism,[ New York] 1924, S. 333; neuerdings die polemische Darstellung bei Louis B. Boudin, Government by judiciary, New York 1932, Kapitel 33/34. Und die deutsche Darstellung bei Rommen in Grundrechte, Gesetz und Richter in USA 1931, S. 89. [Heinrich Rommen: Grundrechte, Gesetz und Richter in den Vereinigten Staaten von Nordamerika: ein Beitrag zur angelsächsisch-nordamerikanischen Staatsrechtskunde, in: Deutschtum und Ausland, Heft 42, Münster 1931.]
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gend die Instanzgerichte eine umfassende Nachprüfungstätigkeit der Parlamentsgesetze sowohl des Bundes als insbesondere der Staaten vornehmen. Die interpretatorische Bewertung dieses jurisdiktionellen Staatselements geht so weit, dass man nicht mit Unrecht von einer »supremacy of the federal judiciary in matters involving persons and property«34 spricht. In einem entsprechenden Grad wird hier die Höchstinstanzlichkeit des Parlaments auf allen irgendwelche Eigentumstitel und -chancen berührenden Gebieten faktisch beseitigt. Eine Verminderung der Funktionsfähigkeit der so umgebildeten Organisationsstruktur trat übrigens – und auch keiner der Gegner der »usurpation« des Supreme Court hat auf diesen Punkt Wert gelegt – nicht ein, obwohl hier nicht, wie Carl Schmitt meint,35 die Gerichte »als Hüter einer prinzipiell nicht bestrittenen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung dem Staat gegenübertreten«, sondern es sich hier um die bewusste Schaffung eines konservativen Oberhauses36 zur Vertretung von Eigentumsinteressen gegenüber dem aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Parlament handelt. Während sich in den Vereinigten Staaten so die Konturen einer jurisdiktionellen Suprematie herausgebildet haben, erscheint das Ausmaß, in dem in Deutschland eine Nachprüfung der Parlamentstätigkeit stattfindet, gering, obwohl doch hier nach Schmitt im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten alle, aber auch alle Bedingungen dafür gegeben wären. Hat doch in Deutschland eine über das rein Interpretatorische hinausgehende Heranziehung von Grundrechtsbestimmungen nur bei dem politisch nicht relevanten Art. 131 und bei Art. 153 der Reichsverfassung stattgefunden. Die Auslegung des Eigentumsartikels weist allerdings gewisse Berührungspunkte mit der Rechtsprechung des Supreme Court auf, von der sie sich jedoch durch die Verwendung eines viel engeren Eigentumsbegriffs grundlegend unterscheidet. Überdies – und das ist in diesem Zusammenhang entscheidend – gehört gerade die Eigentumsgarantie 34 Vergleiche Charles Beard, American govemment and politics, New York 1931, S. 49. Siehe auch die zwar sehr vorsichtige, aber im Endergebnis doch positive Bewertung dieser Praxis in dem aufschlussreichen Aufsatz von Ernst Freund über »constitutional law« in Encyclopaedia of the Social Sciences IV, S. 254. [Edwin R. A. Seligman, Alvin S. Johnson (Hg.): Encyclopaedia of the Social Sciences, Volume 4, New York 1931.] 35 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung,[ Tübingen] 1931, S. 14. 36 Trotz verschiedener Bewertung wird der Tatbestand selbst nicht angezweifelt; vergleiche Burgess in: Political Science Quarterly X, S. 420 [John W. Burgess: The Ideal of the American Commonwealth, in: Political Science Quarterly vol. X, no. 3, New York 1895, S. 404-425]; Charles Warren in: Congress, the Constitution and the supreme court,[ Boston] 1925, S. 176/177; kritisch Boudin, opere citato, passim, insbesondere II, 474 ff. [Louis B. Boudin: Government by judiciary, New York 1932.]
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nicht zu den neuen materiellrechtlichen Grundrechtsbestimmungen, sondern zu den geläufigen Freiheitsrechten. Von der Möglichkeit, den Art. 109 RV als den Ansatzpunkt einer jurisdiktionellen Suprematie zu verwenden, haben das Reichsgericht und, ihm folgend, die Instanzgerichte keinen Gebrauch gemacht.37 Gegenüber einem »Verwaltungsstaat«, wie man mit Schmitt wohl das jüngste deutsche Notverordnungsregime bezeichnen kann, wird die jurisdiktionelle Nachprüfungsmöglichkeit ein weit höheres Ausmaß annehmen können. Es eröffnet sich da die Perspektive einer spezifischen Verbindung von Verwaltungs- und Jurisdiktionsstaatselementen; aber das ist ein Prozess, der über den Rahmen der hier behandelten Fragenkomplexe hinausgeht und der auch nach Schmitt zum großen Teil in einem nur durch Gewohnheitsrecht legitimierten Widerspruch38 zu den positiven Verfassungsnormen steht. Daher ist in diesem Zusammenhang auf den gesamten Fragenkomplex, den Carl Schmitt unter dem Titel »Der außerordentliche Gesetzgeber ratione necessitatis« (S. 70-87) behandelt, nicht einzugehen. Schmitt folgert nun, wie eingangs dargelegt, aus seiner Begründung der Demokratie die Existenz einer Reihe von Widersprüchen zwischen ihr einerseits und der Begründung einer Anzahl tragender Verfassungselemente andererseits. Mit dem Aufweis, dass in einer heterogenen Gesellschaft Demokratie wohl zu rechtfertigen ist, ist zugleich erwiesen, dass für eine zu rechtfertigende Demokratie ein Anlass zur Einführung materiellrechtlicher Bestimmungen mit der Begründung des Schutzes spezieller Interessen am Platze sein kann. Denn Heteroge37 Zu dem Ganzen vergleiche die Übersicht bei Hensel in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, Bd. I, S. 1 ff. Über Art. 109 [Albert Hensel: Grundrechte und Rechtsprechung, in: Otto Schreiber (Hg.): Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben. Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts (1. Oktober 1929) in 6 Bänden, Berlin/Leipzig 1929, S. 2-32,] und die Rechtsprechung vergleiche die Übersicht bei Leibholz in: Arch. f. öff. R., N. F. 9, S. 428 [Gerhard Leibholz: Höchstrichterliche Rechtsprechung und Gleichheitssatz, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 19, Tübingen 1930, S. 428-442] und die typische Behandlung des Art. 109 durch die höchstrichterliche Rechtsprechung in: Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen [RGZ], Bd. 136, S. 221. 38 Vergleiche [Carl Schmitt:] Legalität und Legitimität[, München 1932], S. 71 ff. Darüber, dass diese Notverordnungspraxis kein Provisorium in einer bestehenden demokratischen Verfassungspraxis ist, sondern eine »schwebende Verfassungslage«, vergleichbar der staatsrechtlichen Situation 1848/49, darstellt, vergleiche Heckel in: Arch. f. öff. R., N. F., 22, S. 309. [Johannes Heckel: Diktatur, Notverordnungsrecht, Verfassungsnotstand, mit besonderer Rücksicht auf das Budgetrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 22, Tübingen 1922, S. 257-338.]
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nität schließt Schutzbedürftigkeit ein. Schmitt behauptet nun, wenn auch in einer heterogenen Demokratie ein Anwendungsfall des Schutzmotivs gegeben sei und die Schutzbedürftigkeit tatsächlich sehr groß sein könne (S. 43), so schaffe die Einführung von Schutznormen doch einen Widerspruch zwischen dem ersten Teil der Weimarer Verfassung und seinen Begründungsprinzipien, abgesehen von Art. 76, einerseits und ihrem zweiten Teil und dessen Begründungsprinzipien andererseits. Die Begründung des ersten Teils verlange eine Unbeschränktheit des Funktionalismus, also eine Reichsverfassung, die lediglich Organisationsnormen mit Ausnahme der Garantie der Freiheitsrechte enthalte. Eine solche Demokratie nennt Schmitt, falls sie gesetzgebungsstaatlichen Charakter trägt und ihren entscheidenden Ausdruck in vom Parlament gegebenen Normierungen findet, einen parlamentarischen Gesetzgebungsstaat (S. 7). Andererseits erfordere die dem zweiten Teil zuzuordnende Begründung die Aufhebung des Art. 76 in Beziehung auf ihn, und zwar so, dass er entweder völlig zu eximieren sei oder nur durch die ständestaatlich kompetenten Organe abgeändert werden könne. »Folgerichtig zu Ende gedacht, müßte die Anerkennung solcher Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit bestimmter, von der Mehrheit bedrohter Interessen oder Gruppen dahin führen, daß diese Interessen oder Gruppen der Jeweiligkeit des Funktionalismus parlamentarischer und demokratischer Abstimmungsmethoden überhaupt ganz entzogen werden. Konsequent wäre demnach volle Exemtion mit itio in partes oder Anerkennung des Rechts auf Exodus und Sezession« (S. 44).
Es ergibt sich also, dass Art. 76 im Widerspruch zu den Begründungsprinzipien nicht nur des ersten, sondern auch des zweiten Teils steht. Schmitt schließt schlechthin die Möglichkeit eines Kompromisses zwischen den Forderungen des Funktionalismus und den Forderungen des Sachschutzes aus und verwirft insbesondere den Kompromiss von Weimar als unvernünftig, indem er ihn als Versuch des Neutralbleibens zwischen Neutralität und Nichtneutralität charakterisiert. Es handelt sich hier aber nicht um eine Neutralstellung zwischen diesen Alternativen schlechthin, sondern um eine Bereichsabgrenzung zwischen erschwerter und nicht erschwerter Neutralität. Abgesehen hiervon scheint die Folgerung, die Schmitt zieht, nämlich dass dieses Neutralbleiben eine Entscheidung für Neutralität, mithin ein Nichtneutralbleiben bedeute, nicht richtig. Schmitt fällt hier dem Pascal‘schen Irrtum zum Opfer, den Voltaire schon korrigiert hat, »et ne point parier que Dieu est, c’est parier qu’il n’est pas«. Voltaire bemerkt hierzu, es sei offenbar falsch, dies zu sagen; denn der, welcher zweifle und Aufklä-
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rung suche, wette gewiss nicht, weder für noch wider. Entscheidend aber ist: Es ist nicht einsichtig, warum es gestattet sein soll, totale Exemtionen, das heißt definitive Bereichseinschränkungen des Funktionalismus, gegenüber jenem nach Schmitt eine Unbeschränktheit fordernden Funktionalismus des ersten Teils vorzunehmen, nicht aber bloße Erschwerungen in der von der Weimarer Verfassung gewählten Gestalt. In beiden Fällen handelt es sich um Kompromisse zwischen dem Formwert der Demokratie und bestimmten Sachwerten, wobei sich die Weimarer Verfassung durch eine stärkere Bewertung des demokratischen Formwerts auszeichnet. Die durchgehende Aufrechterhaltung des demokratischen Formwerts wird ihrem Inhalt nach lediglich dergestalt abgeschwächt, dass unter Beibehaltung des Abstimmungsverfahrens selbst dessen Modus für einen bestimmten Bereich geändert wird. Man würde sich allerdings entschließen müssen, diesen Einschränkungen eine Höchstgrenze zu setzen, bei deren Überschreitung der erhalten gebliebene Demokratierest zu gering wäre, um sinnvollerweise, lediglich mit der Tatsache seiner verbliebenen Existenz, die faktische Aufhebung der Demokratie rechtfertigen zu können.39 In Bezug auf das System des zweiten Teils der Weimarer Verfassung wird man wohl nicht behaupten können, dass diese Grenze erreicht sei. Nach der hier gegebenen Begründung der Demokratie besteht somit eine prinzipielle Vereinbarkeit der Existenz des Art. 76 mit dem zweiten Teil der Verfassung unter Ausschluss des Komplexes der Freiheitsrechte. Anders verhält es sich jedoch mit der Anwendbarkeit des Art. 76 auf den Organisationsteil der Weimarer Verfassung. Schmitt hat schon früher in seiner Verfassungslehre anlässlich der grundlegenden Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz40 die Ansicht vertreten, dass es unabänderliche Verfassungsnormen gebe, die er nach ihrer Zugehörigkeit zu den grundlegenden Gesamtentscheidungen der Verfassung festlegt. Wenn man die letzte Entscheidung der Demokratie 39 Wenn [Hans] Kelsen, Wesen und Wert der Demokratie[, Tübingen 1920], S. 55, die qualifizierte Mehrheit als eine noch größere Annäherung an die Idee der Freiheit bezeichnet, als das Majoritätsprinzip sie darstelle, so ist das wohl nur deshalb möglich, weil Kelsen hier zugleich politische und private Freiheiten im Auge hat. Über die Notwendigkeit dieser Unterscheidung siehe oben. 40 Carl Schmitt, Verfassungslehre[, München 1928], S. 26 ff. Vergleiche auch Bilfinger in: Arch.f. öff R., N. F. 11, S. 118 [Carl Bilfinger: Verfassungsumgehung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 11, Tübingen 1926, S. 164-191], und Nationale Demokratie als Grundlage der Weimarer Verfassung,[ Halle] 1929, S. 12 ff. Zur Literaturübersicht vergleiche Thoma in HbdDStR, Bd. 2, S. 154 [Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1930/32], und Walter Jellinek, Grenzen der Verfassungsgesetzgebung, [Berlin] 1931.
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in Freiheit und Gleichheit erblickt, so ergibt sich bei prinzipieller Bejahung der Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz allerdings eine andere konkrete Gestaltung der Unabänderlichkeiten, als sie bei Carl Schmitt auftritt. Von der hier erörterten Rechtfertigung der Demokratie ausgehend, kann man die Frage der Unabänderlichkeit unter zwei konkurrierenden Gesichtspunkten betrachten. Das erste Axiom könnte sein: Die Anwendung des Art. 76 darf nur zu solchen Variationen des Normsystems führen, bei denen folgenden Bedingungen Genüge getan ist: Form- und Sachwertkompromisse erstrecken sich weiterhin nur auf einen (durch Verfassungsaufhebung, Ergänzung oder Erweiterung41 in seinem Umfang variierten) zweiten Teil (unter Ausschluss der Freiheitsrechte). Variationen des organisatorischen Teils und des zugehörigen Komplexes von Freiheitsrechten erfolgen nur insoweit, als sie notwendig sind, um den größtmöglichen Freiheitsund Gleichheitsgrad auch dann zu realisieren, wenn durch strukturelle Veränderungen im Volksganzen neue organisatorische Formen notwendig werden. Dabei wird sich ergeben, dass es Normen oder Normteile gibt, die unter allen Umständen conditiones sine qua non des betrachteten Prinzips, mithin unabänderlich sind. Es sind das diejenigen Normen, die einen bestimmten Grad der Identität von 51 Prozent des Staatsbürgerwillens mit dem Staatswillen sichern, das heißt das allgemeine, gleiche, geheime, proportionale Wahlrecht für Repräsentationsorgane mit einem bestimmten Minimum an Personen und einem bestimmten Maximum der Wahlperiode. Dagegen können unter bestimmten Umständen Änderungen des aktiven und passiven Wahlrechts sich dann rechtfertigen lassen, wenn ein Fall der oben angeführten Strukturänderungen vorliegt. So könnte zum Beispiel eine durchschnittliche Verlangsamung oder Beschleunigung des persönlichen Reifeprozesses ein begründeter Anlass zur Änderung des Art. 22 der Reichsverfassung sein, da das in ihm festgesetzte Wahlalter offenbar nur als Ausdruck eines bestimmten erreichten Reifegrades gemeint ist. Dagegen würde jede Durchbrechung der Gleichheit des Wahlrechts eine Aufhebung und jede »unbegründete« Heraufsetzung des Wahlalters eine Minderung der politischen Freiheit bedeuten. Unabänderlich sind weiterhin alle diejenigen Normen, die die ungehinderte Willens-
41 Diese Ausdrücke sind hier im Sinn der von [Karl] Löwenstein, Erscheinungsformen [der Verfassungsänderung. Verfassungsrechtsdogmatische Untersuchungen zu Artikel 76 der Reichsverfassung, Tübingen 1931], S. 114 ff., verwandten Terminologie zu verstehen.
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bildung sichern, das heißt die staatsbürgerlichen Freiheiten.42 Dagegen sind alle »privaten« Freiheiten abänderbar. Dem Hobbes‘schen Theorem, nach dem die Aufhebung der politischen Freiheit sich demokratisch begründen lasse, widerspricht die oben gegebene Bestimmung der Freiheit als einer unveräußerlichen institutionellen Chance für jeden Staatsbürger, seinen Willen mit dem des Staates in Einklang zu setzen – der Freiheit und Gleichheit also als jeweiliger Freiheit und Gleichheit. Demnach kann eine Abdikation dieser Art nicht demokratisch gerechtfertigt werden. Anstelle der hier angegebenen Systematik der Unabänderlichkeiten ließe sich möglicherweise aber noch eine andere Richtlinie für sie aufstellen. Nämlich: Die Anwendung des Art. 76 darf zu einem solchen Normsystem führen, bei dem sich zwar die Form-Inhaltskompromisse auf jeden beliebigen Teil der Verfassung beziehen können, also auch auf den organisatorischen Teil und den Komplex der Freiheitsrechte, bei dem jedoch ein solches Minimum der Realisierung des Freiheitsund Gleichheitsprinzips gewahrt bleibt, dass die vollzogenen Kompromisse noch als »Kompromisse« und nicht als »Vergewaltigung« jener Prinzipien erscheinen. Man könnte von diesem Standpunkt aus wohl eine geringe Verlängerung der Wahlperiode des Reichstags rechtfertigen;43 die Einführung der Erbmonarchie erscheint jedoch auf legalem Wege unmöglich. Und auch eine solche Variation der Verfassung, wie Schmitt sie in dem letzten Kapitel seiner Schrift andeutet, würde wohl nicht mehr das erforderliche Minimum an Freiheit und Gleichheit enthalten. Bei der Entscheidung zwischen den beiden Möglichkeiten, eine 42 Von diesem Standort aus ist auch die Aufhebung des Volksgesetzgebungsverfahrens durch Zweidrittelmehrheit nicht zulässig; ähnlich Walter Jellinek in: HbdDStR, Bd. 2, S. 185. [Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1930/32.] Die Meinung [Richard] Thomas, ebenda S. 114, und Jacobis in: »Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben«, Bd. I, S. 257/58 [Erwin Jacobi: Reichsverfassungsänderung, in: Otto Schreiber (Hg.): Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben. Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts (1. Oktober 1929) in 6 Bänden, Band 1, Berlin/Leipzig 1929, S. 233-277], dass Abänderung zwar zulässig sei, aber das Abänderungsgesetz selbst noch dem Volksentscheid unterliege, verkennt, dass das Volk als Staatsorgan nicht die Rechte hat, die dem Volk als »pouvoir constituant« zukommen. 43 Ähnlich Walter Jellinek in: HbdDStR, Bd. 3, S. 185 [Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 3, Tübingen 1930/32], jedoch mit einer Begründung, die sich auf den Willen des Verfassungsgesetzgebers beruft. Vergleiche hierzu auch die Ausführungen Gmelins in: Arch. f. öff. R., N. F., Bd. 19, S. 270 ff. [Hans Gmelin: Die Verlängerung der Legislaturperiode des hessischen Landtags in ihrer verfassungsrechtlichen Bedeutung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N.F. 19, Tübingen 1930, S. 270-284.]
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Zulässigkeit von Abänderungen zu begründen, scheint das erste Prinzip der Idee der Demokratie mehr zu entsprechen. Hier wird klargestellt, dass bei allen Kompromissen, die die Demokratie zu schließen hat, das Prinzip einer gleichen Beteiligung aller an der Willensbildung gewahrt bleiben muss. Hieraus ergibt sich, was ja auch aus der Position Schmitts mit aller Klarheit hervorgeht, dass vom Standpunkt der Demokratie aus der Organisationsteil der Verfassung mit dem ihr wesensmäßig zugehörenden Bestand an staatsbürgerlichen Freiheiten im Allgemeinen ein »relativistisches Heiligtum« bildet, dessen Zerstörung die Demokratie selbst vernichtet.44,45,46 Aus den Schmitt‘schen Ausführungen geht hervor, dass für ihn die Gleichheit nicht hinreicht, die Demokratie zu rechtfertigen. Neben sie muss die Offenhaltung der gleichen Chance, 51 Prozent zu erreichen, als »Gerechtigkeitsprinzip dieser [nämlich der demokratisch-parlamentarischen, d. Verf.] Art Legalität« (S. 36) treten. Es sollen zunächst die verschiedenen Bedeutungen, die diesem vielleicht in dem erwähnten Zusammenhang noch nicht genügend geklärten Worte »gleiche Chance« beigelegt werden können, erörtert werden. Daraufhin soll geprüft werden, wieweit die ihnen entsprechenden Tatbestände zur Rechtfertigung der Demokratie erforderlich sind. Zuletzt soll dann zu der von Carl Schmitt besonders akzentuierten Frage der 44 Weder Thoma noch Jellinek, die Schmitt, Legalität und Legitimität, zitieren (S. 50), kommen aus prinzipiellen Erwägungen heraus zu Unabänderlichkeiten von Organisations- und Freiheitsrechtsnormen. Thomas Äußerung über die Prinzipien der Freiheit und Gerechtigkeit in »Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung«, 1929, Bd. 1, S. 47 [Hans Carl Nipperdey (Hg.): Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Band 1, Frankfurt am Main 1929], bezieht sich nur auf die Frage unzulässiger Einzelmaßnahmen, wird doch ausdrücklich von einer »bill of attainder« gesprochen. Prinzipielle Unabänderlichkeiten erkennt Thoma, wie aus HbdDStR, Bd. 2, S. 154 , klar hervorgeht, nicht an. 45 Zur Abänderungsfrage siehe auch Anschütz, Kommentar zur Reichsverfassung, 1932, S. 385 ff. [Gerhard Anschütz: Kommentar zur Reichsverfassung, Berlin 1932], der seine ablehnende Stellungnahme zu der »neuen« Lehre darauf stützt, dass auf diese Weise ein obligatorisches Verfassungsreferendum in die Verfassung hinein gedeutet werde. Dieses Argument ist deshalb nicht haltbar, weil das Verfassungsreferendum »pouvoir constitué« wäre, es sich aber hier ersichtlich um den Vorbehalt des »pouvoir constituant« handelt. 46 Der ganze Problemkreis dient in erster Linie zur Herausarbeitung allgemeiner Strukturen von Verfassungen überhaupt. Jene »inherent limitation upon legislature« besitzt dagegen nicht dieselbe politische Relevanz wie etwa die Formel des »due process of law« für eine konkrete, als aufgegeben angesehene Wirtschaftsstruktur; vergleiche dazu E. Freund, a. a. O., S. 251. [Ernst Freund: Constitutional Law, in: Edwin R. A. Seligman, Alvin S. Johnson (Hg.): Encyclopaedia of the Social Sciences, Volume 4, New York 1931.]
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Vereinbarkeit der Existenz dieser Tatbestände mit der Existenz und der Funktionsfähigkeit der Demokratie Stellung genommen werden. Das Wort »gleiche Chance« wird, wie es scheint, vor allem zur Bezeichnung von zwei Gruppen von Tatbeständen gebraucht. Erstens kann es bedeuten die Gleichbehandlung aller Personen, beziehungsweise Parteien und Normvorschläge in bestimmten Situationen des demokratischen Normschöpfungsprozesses. Zunächst bei der Wahl: die gleiche Chance wäre hier dann gegeben, wenn alle Einzelkandidaten beziehungsweise Listen – dem würden bei der Volksabstimmung die Normvorschläge entsprechen – unterschiedslos zugelassen würden. Der zweite Anwendungsfall des Prinzips ist bei der Auswertung der Stimmabgabe für die Bildung der Repräsentationskörperschaft – bei der Volksgesetzgebung würde dem der Entscheid entsprechen – gegeben. Die Realisierung der gleichen Chance verlangt hier einerseits, dass die Stimmen untereinander gleich gewertet werden, das heißt gleiches Wahlrecht besteht, andererseits, dass die Parteien gemäß ihrer Gesamtstimmengröße gewertet werden, was ihre Vertretung in der Repräsentationskörperschaft anbelangt, das heißt proportionales Wahlrecht besteht. Endlich berührt das Prinzip der gleichen Chance auch unmittelbar das parlamentarische Verfahren. Es verlangt hier einerseits, dass für alle Normvorschläge die gleiche Majorität erfordert ist und dass für jede Partei eine gleiche rechtliche Möglichkeit, sich an der Mehrheit zu beteiligen, besteht. Dies ist offenbar dann der Fall, wenn entweder ein absolutes Koalitionsverbot oder eine unbeschränkte Koalitionserlaubtheit gilt. Diejenigen Vorschläge zur Parlamentsreform, die darauf zielen, die Zulässigkeit eines gemeinsamen Vorgehens von Parteien bei Misstrauensvoten von der inneren Einheit ihrer Begründungen abhängig zu machen, würden die Möglichkeiten jeder der beiden »Flügelparteien« – denn nur wo eine solche innere Gespaltenheit der Opposition besteht, haben solche Vorschläge einen Sinn – zu einer Mehrheit zu gehören, vermindern und diese Möglichkeiten für die ihnen benachbarten Mittelparteien, soweit sie nach beiden Seiten optieren können, erhöhen. In der zweiten Hauptbedeutung ist die gleiche Chance, die Mehrheit zu erreichen, dann gegeben, wenn für eine jede Partei die Wahrscheinlichkeit, dieses Ziel zu realisieren, durch die Wirkungen der Existenz gewisser Normen nicht berührt wird. Diese Normen sind erstens die materiellen Normen der Reichsverfassung und zweitens die »politischen Normen«. Als solche sollen hier alle diejenigen, gleichgültig wo sie kodifiziert sind, bezeichnet werden, die unmittelbar die politischen
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Organisationen und die Staatsbürger in ihrer Meinungsbildung betreffen. In Bezug auf sie soll anhand der Darlegungen Carl Schmitts vor allem angedeutet werden, wieweit durch ihre Existenz die Wahrscheinlichkeiten, die Mehrheit zu gewinnen, für die jeweiligen Regierungsund Oppositionsparteien gegeneinander verschoben werden. Eine solche Verschiebung wird zugunsten der Regierungsparteien zunächst immer dann eintreten können, wenn inhaltlich unbestimmte Normen gegeben sind – und sie sind ja in jedem Rechtssystem vorhanden –, die bei der für sie notwendig werdenden Ermessenshandhabung dazu dienen können, die Aktivität der Oppositionsparteien zu beschränken. Bei diesem Tatbestand, aus dem Carl Schmitt im Verein mit noch zu kennzeichnenden anderen Tatbeständen die Existenz dessen ableitet, was er als »politische Prämie auf den legalen Machtbesitz« bezeichnet, weist er besonders auf folgende Begriffe hin: »öffentliche Sicherheit und Ordnung, Gefahr, Notstand, nötige Maßnahmen, Staats- und Verfassungsfeindlichkeit, friedliche Gesinnung, lebenswichtige Interessen« und anderes mehr (S. 35). Eine zweite Ursache der oben gekennzeichneten Begünstigung der Regierungsparteien ist dann gegeben, wenn gewisse näher zu charakterisierende Normen bestimmten Inhalts fehlen. Es handelt sich hier zunächst um diejenigen Verfassungssätze, die oben als staatsbürgerliche Freiheiten bezeichnet wurden, andererseits um solche Normen, die geeignet wären, die Erzielung von »spoils« für die herrschenden Parteien zu verhindern. Als Beispiel sei der Versuch angeführt, auf gesetzlichem Wege eine Kontrolle über die Wahlfonds herbeizuführen.47 Endlich wird drittens eine »ungleiche Chance« zwischen Regierungsparteien und Oppositionsparteien jeweils dann herbeigeführt, wenn die herrschenden Gruppen Normwidrigkeiten vollziehen. Es wird dann mit Hilfe der Legalitätsvermutung ein »fait accompli« gesetzt, das auch bei jurisdiktioneller Revision nicht rückgängig gemacht werden kann (siehe dazu Carl Schmitt, S. 36). Nachdem versucht worden ist, die verschiedenen Bedeutungen des hier behandelten Wortes zu unterscheiden, soll jetzt auf das von Schmitt aufgeworfene Problem, welche Rolle der »gleichen Chance« in der Rechtfertigung der Demokratie zukommt, eingegangen werden. Schmitt behauptet hier, es handele sich um das »materielle Gerechtigkeitsprinzip der Demokratie«. Es soll im Folgenden versucht werden, soweit überhaupt die Notwendigkeit der »gleichen Chance« zur Recht47 Über die mögliche gesetzliche Beschränkung der Wahlausgaben vergleiche [Edward Mc Chesney] Sait, American parties and elections,[ New York] 1927, Kapitel »Corrupt practices acts«.
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fertigung der Demokratie behauptet wird, diese Notwendigkeit »monistisch« aus den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit zu erweisen. Es erscheint ohne weiteres einsichtig, dass die unterschiedslose Zulassung aller Einzelkandidaten beziehungsweise Parteien bei der Wahl wie auch das gleiche Wahlrecht aus der oben gegebenen Begründung der Demokratie gefordert werden. Aber dasselbe gilt auch vom Proportionalwahlrecht; denn nur dieser Wahlmodus gibt eine institutionelle Garantie dafür, dass, sowie bei ihm einer bestimmten Wählerquote eine annähernd gleiche Repräsentantenquote entspricht, so auch 51 Prozent der Repräsentanten von annähernd 51 Prozent der Wähler gewählt werden. Das aber ist für das Parlament als »plebiszitäre Zwischenschaltung« erfordert. Was nun die »gleiche Chance« in der zweiten Hauptbedeutung angeht, so entspricht es der »Ungehindertheit« der Meinungsbildung, die oben als Wesensmerkmal der Freiheit angesprochen wurde, dass die Oppositionsparteien weder durch Ermessenshandhabung unbestimmter Normen noch durch die Ausnutzung der oben besprochenen bestimmten Normen benachteiligt werden. Es ist ferner evident, dass vom Standpunkt der Rechtfertigung eines Normsystems aus Normwidrigkeiten – also die dritte Ursache der betreffenden Chancenungleichheit – nicht gerechtfertigt sein können. Was das zwischenparteiliche Chancenverhältnis anlangt, so verlangt unmittelbar die oben gegebene Rechtfertigung der Demokratie keineswegs solche materiellrechtlichen Normen – weder innerhalb noch außerhalb der Verfassung –, die eine diesbezügliche Chancengleichheit realisieren. Das hindert natürlich nicht, dass solche Normen vom Postulat der »sozialen« Gleichheit und der »sozialen« Freiheit gefordert werden. Gerade in der historischen Realität spielt das Zugleichgegebensein von politischem und sozialem Freiheits- und Gleichheitspostulat die größte Rolle. Sowohl der Liberalismus48 als auch der Sozialismus nennt es sein eigen. Von hier aus führt ein gerader Weg zu der These, dass in der Gegenwart Freiheit und Gleichheit nur total, das heißt sowohl in der politischen als in der sozialen Sphäre, oder gar nicht verwirklicht werden können. Es besteht jedoch ein unmittelbares Ursachverhältnis zwischen zwischenparteilicher Chancengleichheit und Freiheits-Gleichheits-Realisierung in der politischen Sphäre: insofern erst diese Chancengleichheit 48 [Richard Henry] Tawney, Equality, London 1929, S. 125.
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zur »formalen« Unbehindertheit der Meinungsbildung, das heißt Unmöglichkeit ihrer rechtlichen Behinderung, ihre »materielle« Unbehindertheit hinzubringt. Es handelt sich hier um einen Tatbestand, der in polemischer Form von allen Richtungen sozialistischen Denkens aufgegriffen wird und zum Beispiel bei Lenin in »Staat und Revolution« die Hauptrolle spielt. Erschien, wie oben angeführt, für Carl Schmitt die Existenz der »gleichen Chance« als notwendig für die Rechtfertigung der Demokratie, so erscheint sie ihm andererseits als mit der realen Existenz der modernen Demokratien unvereinbar. Demokratie hat so nur die Wahl, unverwirklicht oder ungerechtfertigt zu sein. Es soll im Folgenden diese These Carl Schmitts an den verschiedenen von ihm aufgestellten Typen von Demokratie erörtert werden. Wie verhält es sich mit dem hier behandelten Gegenstand in einem parlamentarischen Gesetzgebungsstaat mit einer eximierten »Freiheitsrechts«Sphäre? Es besteht in ihm kein Hindernis dafür, dass die »gleiche Chance« im ersten Hauptsinn dieses Wortes verwirklicht ist, mit Ausnahme der Differenzierung zugelassener und nicht zugelassener Normen, die aus der Existenz der Exemtionssphäre hervorgeht. In Bezug auf die Beeinflussung des Verhältnisses von Regierungspartei und Oppositionspartei durch die Existenz »politischer Normen« ist zu sagen, dass die Möglichkeit des Normenmissbrauchs zweifellos in diesem Staatstypus besteht; aber diese Möglichkeit für irgendeine Staatsform ausschließen zu wollen, müsste wirklich als »normativistische Illusion« bezeichnet werden. Dasselbe gilt – wie Carl Schmitt auch feststellt (S. 35) – für einen bestimmten notwendigen Grad von Normunbestimmtheit; aber gerade die typischen Normstrukturen der historischen Verwirklichung dieses Staatssystems gingen ja darauf, diesen Unbestimmtheitsgrad möglichst zu verringern. Was jedoch das Fehlen gewisser bestimmter Normen als Ursache der hier interessierenden Chancenungleichheit angeht, so ist die eine Gruppe dieser Normen gerade in diesem Verfassungstypus – und das macht eines seiner Unterscheidungsmerkmale gegenüber andern Demokratietypen aus – unangreifbar gesichert. Die Verfassung enthält das, was historisch als Freiheitsrechte bezeichnet wird und was oben in der hier interessierenden Funktion der betreffenden Artikel als staatsbürgerliche Freiheiten bezeichnet wurde. So kann hier Eigentum im Verhältnis von Staat und Opposition die Funktion der Garantie des
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Besitzes der oppositionellen Organisation, das heißt die ihrer meinungsbildenden Aktivität ausüben. Gerade am Beispiel des Eigentums ist jedoch zu sehen, dass dasselbe Freiheitsrecht, das die Chancenverhältnisse zwischen Staat und Opposition in der Richtung zur »gleichen Chance« hin beeinflusst, auch in das zwischenparteiliche Verhältnis, und zwar hier in entgegengesetzter Richtung, eingreift. Denn das Eigentum bewirkt ebenso wie die Freiheit der Person auf dem Umweg über seine Wirkungen auf die Wirtschaftsstruktur eine Ungleichheit der demokratischen Machtchancenverhältnisse der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen. Wäre die Behauptung des demokratischen Sozialismus gerechtfertigt – was hier nicht zu prüfen ist –, dass einerseits seine ja ebenfalls durch eine Rechtsordnung sanktionierte Wirtschaftsstruktur eine »equality of opportunity« schaffen, andererseits seine Staatsstruktur alle staatsbürgerlichen Freiheiten enthalten könne, so wäre hier ein Typ mit einem konkretisierbaren Norminhalt angegeben, in dem eine maximale Annäherung an die »gleiche Chance« in allen Bedeutungen dieses Wortes gewährleistet wäre. Wenn im parlamentarischen Gesetzgebungsstaate dagegen keine gleiche Chance im Ganzen gesehen zu verwirklichen ist, wie Schmitt mit Recht behauptet, so kann man dies vorzugsweise nicht mit Schmitt auf die Organisationsstruktur des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates, sondern auf die konkreten Norminhalte der privaten Freiheiten und etwa anderer materiellrechtlicher Bestimmungen zurückführen. Der zweite hier zu untersuchende Typ ist ein parlamentarischer Gesetzgebungsstaat mit »Freiheitsrechten« und materiellrechtlichen Normen noch zu definierenden Inhalts der oben bereits angeführten Typen, welche mit einer qualifizierten Mehrheit aufhebbar sind. In diesem Staatstyp gilt für die »gleiche Chance« im ersten Hauptsinn dasselbe, was über sie bei dem vorher behandelten Staatstyp gesagt wurde, nämlich dass sie mit Ausnahme der Bestimmungen über die qualifizierte Mehrheit realisiert werden kann. Für das Verhältnis von Regierungsparteien und Oppositionsparteien ergibt sich zunächst daraus eine größere Ungleichheit der Chancen als beim oben erwähnten Typus, dass zu den unbestimmten Normen, die dort schon gegeben waren, noch Unbestimmtheiten des materiellrechtlichen Teils im engeren Sinn hinzukommen können. Wenn zum Beispiel Art. 137 Abs. 5 der Reichsverfassung bestimmt, dass Religionsgesellschaften, die noch nicht von früher her Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind, diese Qualität nur dann neu erwerben können, »wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder eine Gewähr für
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Dauer geben«, so liegt in der Unbestimmtheit der hier verwandten Worte die Notwendigkeit der Ermessenshandhabung mit ihren geschilderten Konsequenzen beschlossen. Andererseits wirken jedoch die materiellrechtlichen Festlegungen der Verfassung im Bereich ihrer Bestimmtheit zugunsten einer größeren Gleichheit der Chance zwischen Regierungsparteien und Oppositionsparteien. Jede von ihnen beinhaltet einen Schutz vor Eingriffen in den durch sie garantierten Besitzstand einer Institution, einen Schutz, der effektiv wird in einer Situation, in der die betreffende Institution in Opposition zu den Regierungsparteien steht, das heißt einer Oppositionspartei (in hier nicht näher zu schildernden Weisen) verbunden ist. Sofern die angeführte Verbindung der betreffenden Institution mit einer Partei für die Wahlchancen dieser Partei – und nur hierauf kommt es ja in diesem Zusammenhang an – von Belang ist, werden diese Wahlchancen im Maße der Fixierung des Besitzstandes jener Institutionen von der Oppositions- oder Regierungsstellung jener Partei unabhängig. Es ergibt sich eine Tendenz zur Gleichheit der Chance, indem sonst mögliche politische Normen ausgeschlossen werden. Das gilt zum Beispiel in Bezug auf die Institutionalisierung der Gewerkschaften in den Artikeln 159 und 165 RV. Zwischenparteilich wirken dieselben Fixierungsnormen zur Ungleichheit oder Gleichheit der betreffenden Chancen hin, je nachdem, ob sie zwischen den Parteien beziehungsweise ihren institutionellen Annexen »ungleichmäßig« oder »gleichmäßig« verteilt sind, so zum Beispiel das Koalitionsrecht, das einerseits die Stellung politischer Arbeiterparteien von ihrer jeweiligen Stellung zum Staat unabhängiger macht, andererseits diese Stellung gegenüber anderen Parteien, die (sei es nun direkt oder indirekt) »weniger« oder »mehr« in der Verfassung bedacht sind, verschiebt. Wie steht es demgemäß um Carl Schmitts Behauptung, die die Existenzmöglichkeit der »gleichen Chance« in der Demokratie schlechthin verneint? Im Verlaufe der angestellten Begriffsdistinktionen ergab sich, dass Carl Schmitt mit dieser These in erster Linie die, um in der hier angeführten Terminologie zu sprechen, »gleiche Chance zwischen Regierungsparteien und Oppositionsparteien gegenüber der Existenz politischer Normen« meint. Bei zweien der möglichen Ursachen der Ungleichheit dieser Chance, nämlich dem Vorhandensein unbestimmter Normen einerseits und normwidrigem Handeln der Herrschenden andererseits, ergab sich der auch von Schmitt anerkannte Satz, dass diese Phänomene, weil ohne sie »kein Staatswesen auskommt« (S. 35), auch im
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Staatswesen der Demokratie nicht fehlen können.49 Darüber hinaus eliminiert aber die Demokratie, soweit in ihr die »Freiheitsrechte« Geltung haben, einen der wesentlichsten Ursachenkomplexe dieser Ungleichheit der Chancen, und es ist fernerhin nicht einsichtig, weshalb es ihr nicht möglich sein sollte, durch geeignete Spezialnormen in gewissem Umfang sonstige illegitime Vorteile des Machtbesitzes auszuschalten. Vergleicht man daher die »gleiche Chance«, 51 Prozent in der Demokratie zu erreichen und damit den Besitz der politischen Macht zu erlangen, mit den möglichen Chancen der Machterlangung oppositioneller Gruppen im nichtdemokratischen Staat, so erscheint die Demokratie dem behandelten Prinzip angemessener. Obgleich sie die Utopie einer völligen Realisierung der »gleichen Chance« – die ja, wie oben im Anschluss an Schmitt gezeigt wurde, wesentliche Eigenschaften jedweden Staates aufheben würde; denn Legalitätsvermutung und sofortige Vollziehbarkeit sind doch bekanntlich wesentliche differentia specifica des öffentlichen Rechts – nicht verwirklichen kann, ist sie die einzige Staatsform, die eine institutionelle Garantie eines noch so einschneidenden Machtwechsels bei völliger Kontinuität der Rechtsordnung vorsieht. Darüber hinaus vermag sie sich in der angegebenen Weise dem Ziel der »gleichen Chance« weitgehend anzunähern.50 Schmitt stellt die Behauptung auf, dass die Rechtfertigung der Parlamentsgesetzgebung und die der Volksgesetzgebung gemäß Art. 73 Abs. 3 der Reichsverfassung zueinander im Widerspruch stehen.
49 Vergleiche die Bemerkungen bei Lester Ward, Reine Soziologie I, [Innsbruck 1907 - 1909,] S. 305, die Roffenstein in: Schmollers Jahrbuch 1921, S. 109[, Gaston Roffenstein: Das soziologische Problem der Gleichheit, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Jg. 45, Berlin 1921, S. 67-119], dahingehend zusammenfasste: »Jedes erreichte Plus an Macht gibt einen weiteren Vorsprung zum Erwerb einer weiteren Machtzunahme.« 50 »Der demokratische Rechtsstaat der Gegenwart beruht dem Rechte nach vor allem auf der Freiheit und Gleichheit der politischen Werbung, auf der für alle Gruppen und Parteien rechtlich gleichen Möglichkeit, ihre Ideen und Interessen politisch durchzusetzen. Diese rechtlich gleiche Chance kann zwar durch tatsächliche Ungleichheit von Bildung und Besitz in einem Maße unglaubhaft werden, daß eben dieser Gleichheitsforderung die proletarische Diktatur mehr zu entsprechen scheint als der heutige Rechtsstaat. In wie hohem Maße aber trotzdem diese gleiche politische Betätigungsmöglichkeit auch gesellschaftliche Wirklichkeit ist, zeigt im Nachkriegsitalien die Entstehung der katholischen Popularipartei mit ihren sehr radikalen sozialen Forderungen.« Hermann Heller, Europa und der Faschismus, Berlin 1931, S. 100. Analoga hierzu werden sich im Nachkriegsdeutschland unschwer finden lassen.
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»Die Doppeltheit der beiden Arten von Gesetzgebung und Gesetzgeber ist nämlich eine Doppeltheit von zwei verschiedenartigen Rechtfertigungssystemen, dem parlamentarisch-gesetzgebungsstaatlichen Legalitätssystem und der plebiszitär-demokratischen Legitimität; das zwischen beiden mögliche Wettrennen ist nicht nur eine Konkurrenz von Instanzen, sondern ein Kampf zwischen zwei Arten dessen, was Recht ist « (S. 69; vergleiche auch S. 66).
Diese These basiert auf einer Auffassung des Parlaments, die seine Existenz nicht durch die sozial-technische Notwendigkeit der Arbeitsteilung, sondern durch spezifische materielle Charaktere der von ihm typischerweise geschaffenen Normen gerechtfertigt sieht.51 Aus dieser Begründung ergibt sich ein spezifischer Qualitätsunterschied zwischen Parlamentsnormen und unmittelbaren Volksäußerungen sowie, wenn man die angedeuteten Qualitäten52 der Parlamentsnormen anerkennt, ein Ausschluss des Volkes von der unmittelbaren Gesetzgebung. Auf der anderen Seite geht Schmitt nicht so weit, bei einem auf unmittelbarer Demokratie beruhenden Staat jegliche Repräsentation auszuschließen, da es niemals einen Staat ohne Elemente der Repräsentation geben könne.53 Auf die Weimarer Verfassung angewandt, ergibt sich für das neuerdings weniger um seiner juristischen Eigenbedeutung als um des zentralen Erkenntnisgehalts willen aufgeworfene Problem des Verhältnisses von volksbeschlossenem und parlamentarischem Gesetz aus der Schmitt‘schen These Folgendes: Es kann im Rahmen der Weimarer Verfassung eine nachträgliche Aufhebung eines im Wege des Volksentscheids ergangenen Gesetzes durch ein Parlamentsgesetz stattfinden, da bei der vorausgesetzten Inkommensurabilität ihres Ranges und der Gleichheit der Funktionen beider Gesetzgeber die Nichtexistenz einer Norm, die die Aufhebung verbietet, von entscheidender Bedeutung ist (S. 63, 69). Wie hieraus hervorgeht, steht und fällt diese These des Widerspruchs der Rechtfertigungen von Parlamentsexistenz und Volksgesetzgebung mit einer bestimmten Rechtfertigung dieser Parlamentsexistenz. Wenn man im Sinn einer hergebrachten und jüngst noch von 51 Über den ganzen Problemkreis der Parlamentsrechtfertigung vergleiche Leibholz, Wesen der Repräsentation 1929, S. 67 ff., insbesondere S. 71. [Gerhard Leibholz: Das Wesen der Repräsentation unter besonderer Berücksichtigung des Repräsentativsystems: ein Beitrag zur allgemeinen Staats- und Verfassungslehre, Berlin 1929.] 52 Als Qualitäten, auf denen seine ganze Daseinsberechtigung als législateur beruht, werden auf S. 68 Vernunft und Mäßigung bezeichnet; vergleiche auch S. 13 und 15. 53 Vergleiche dazu Leibholz, a. a. O., S. 170, Anm. 3. [Gerhard Leibholz: Das Wesen der Repräsentation unter besonderer Berücksichtigung des Repräsentativsystems: ein Beitrag zur allgemeinen Staats- und Verfassungslehre, Berlin 1929.]
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Jacobi in Bezug auf die hier interessierende Rechtsfrage angewandten Gedankens das Parlament als »plebiszitäre Zwischenschaltung« ansieht – für Schmitt wäre das nur die »korrupte« Entartungsform des Parlaments –, so ergibt sich daraus erstens eine widerspruchslose Begründung sowohl der Volks- als auch der Parlamentsgesetzgebung in demselben Verfassungssystem, zweitens die Entscheidung der aufgeworfenen positiven Rechtsfrage dahingehend, dass der Vertreter, das heißt das Parlament, nicht gegen den Willen des Volkes handeln darf,54 und zwar nach dem Argument, dass der Vertreter zu schweigen hat, wenn der Vertretene spricht. Bloß dass dieses Argument nicht wie bei Carl Schmitt nur auf die unmittelbare Demokratie, das heißt aber auf die Exekutive in ihr (eine andere Repräsentation gibt es ja dort nicht), sondern auch auf das Parlament angewandt werden kann und muss (S. 64). Es erscheint demnach richtig, »die Einrichtungen der unmittelbaren Demokratie als eine unvermeidliche Konsequenz des demokratischen Staates55 den Einrichtungen der sogenannten ›mittelbaren‹ Demokratie des parlamentarischen Staats überzuordnen«56 (wie Schmitt es formuliert, ohne dies für die Weimarer Verfassung anzunehmen). Schmitt nämlich, der das »Legalitätssystem des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates als ein ideenmäßig und organisatorisch eigenartiges Gebilde, das keineswegs aus der Demokratie und dem jeweiligen Volkswillen abgeleitet ist«57, bezeichnet, lehnt diese Deduktion für die Reichsverfassung mit der Begründung ab, diese ließe »neben den Fällen des außerordentlichen plebiszitären Entscheids in ihrer Gesamtorganisation den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat bestehen« (S. 63). Diese Begründung würde nur zutreffen, wenn die Weimarer Verfassung ein parlamentari54 Dies würde jedoch nur dann gelten, wenn im Moment des jeweiligen Parlamentsbeschlusses sich keine wesentlichen neuen Erfahrungen gegenüber dem Zeitpunkt des Volksentscheids ergeben hätten, die als bedeutsames Material für die Urteilsbildung gelten könnten. Ist das der Fall, so erfordert gerade die Repräsentativfunktion des Parlaments, sich diese Frage im Geiste des vorausgegangenen volksbeschlossenen Gesetzes noch einmal vorzulegen. Ein dem im Volksgesetzgebungsverfahren beschlossenen Gesetz widersprechendes Parlamentsgesetz könnte dann zustande kommen, wenn eine neue Situation eine auch in diesem Punkt geänderte Volksmeinung glaubhaft machen würde; vergleiche die Ausführungen von Jellinek in: HbdDStR, Bd. 2, S. 181/82 [Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1930/32], dessen Beispiel aber nicht glücklich gewählt sein dürfte. Denn es ist nicht evident, in welcher Weise eine veränderte Gesetzgebung des Auslands in Bezug auf die Todesstrafe einen unmittelbaren Rückschluss auf die veränderte Einstellung der Mehrheit des deutschen Volkes zulässt. 55 [Im Original bei Carl Schmitt heißt es auf S. 65: »Denkens« statt »Staates«.] 56 [Carl Schmitt: Legalität und Legitimität, München 1932, S. 65. Hervorhebungen von Otto Kirchheimer.] 57 [Ebenda.]
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scher Gesetzgebungsstaat im Schmitt‘schen Sinne wäre, das heißt ein Gesetzgebungsstaat, in dem die zentrale Rolle des législateur durch die Schmitt‘sche Parlamentstheorie gerechtfertigt wäre, so dass seine völlige Unabhängigkeit von irgendeiner demokratischen Grundlage bestehen würde. Was die Rechtfertigung des Parlaments angeht, so lässt sich jedoch in neuerer Zeit ein Zurücktreten (entsprechend der Zurückdrängung ursprünglich liberaler Theorien überhaupt) derjenigen Rechtfertigung des Parlamentarismus, die von Carl Schmitt in seiner Schrift über »Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des heutigen Parlamentarismus« klassisch dargelegt worden ist, feststellen. An ihre Stelle tritt zunehmend jene Rechtfertigung, die die Legitimation des Parlamentarismus in dessen Charakter als plebiszitäre Zwischenschaltung erblickt.58 Für diese ideologische Entwicklung bildet den Hintergrund die Tatsache, dass die Eigenbedeutung der Parlamentsherrschaft sich ständig vermindert,59 wobei über dessen Eignung als demokratisches Transformationsorgan nichts ausgesagt ist.60,61 Jene Anklagen gegen das Chaos von »Machtklumpen«, die die Literatur der ganzen Welt durchziehen, treffen insofern einen wirklichen Tatbestand, als sich im Parlament nicht mehr die Meinungen bilden, sondern lediglich vorhan58 In der liberaldemokratisch ausgerichteten Literatur erscheint dieser Prozess als »distrust to parliament«, wobei dann nicht die technische Funktion, sondern die Eigenständigkeit der bezeichneten Institution gemeint wird. Für die Stellung des Parlaments in der Demokratie gilt hier, dass »distrust« eine eminent demokratische Tugend ist; vergleiche etwa [Harold J.] Laski, A grammar of politics[, London 1925], S. 321, oder Agnes Headlam-Morley, The new democratic constitutions of Europe, Oxford 1926, S. 32. 59 Darüber vergleiche die grundlegenden Darlegungen von Löwenstein in seiner Soziologie der parlamentarischen Repräsentation nach der großen Reform, in: Arch. F. Sozw. Bd. 51 [Karl Loewenstein: Soziologie der parlamentarischen Repräsentation nach der großen Reform, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Tübingen 1924, S. 614-708]; insbesondere aber Annalen des Deutschen Reichs 1923-25, S. 4. »Seit dem Beginn der Massendemokratie nach der zweiten Wahlreform ist das jeweils amtierende Kabinett nur mehr formell dem Unterhaus verantwortlich. Die ruling power liegt also bei der Wählerschaft. Das Unterhaus ist nicht mehr die Herrin des Staates, sondern lediglich das Vollzugsund Kontrollorgan der Wählerschaft.« [Karl Loewenstein: Minderheitsregierung in Großbritannien, in: Anton Dyroff (Hg.): Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 1923/25, München 1925, S. 1-71.] 60 Seine Ersetzbarkeit in einem weiterbestehenden demokratischen Staat wird diskutiert bei Graham Wallas, The great society[, New York 1914], und bei Tönnies, Parlamentarismus und Demokratie, in: Schmollers Jahrbuch Bd. 51. [Ferdinand Tönnies: Parlamentarismus und Demokratie, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Berlin 1927.] 61 Unter anderem erkennt James Bryce zum Beispiel bei aller Kritik die technisch notwendige Funktion des Parlaments an: Modern democracies II[, New York 1921], S. 377.
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dene Meinungen dort registriert werden.62 Damit wird die im Zentrum der Problematik stehende Institution nicht mehr das Parlament als technische Apparatur, sondern die Parteien selbst als die unmittelbaren Ausdrucksformen des massendemokratischen Staatslebens. Wenn schon diese allgemeine ideologische Entwicklungsrichtung eine entsprechende Interpretation63 der Nachkriegsverfassungen und damit auch der Reichsverfassung nahelegt, so kommt noch bei der Reichsverfassung hinzu, dass der Verfassungsgesetzgeber zu mehreren Malen seine Übereinstimmung mit einer unmittelbaren demokratischen Rechtfertigung des Parlaments dargelegt hat. Anlässlich des behandelten Rangproblems ist dies ausführlich von Jacobi unter besonderem Hinweis auf Art. 1 Abs. 2 der Reichsverfassung dargelegt worden. Eine solche Rechtfertigung des Parlaments würde es zwar nicht erfordern, aber es würde ihr auch nicht widersprechen, dass zur Schaffung einer Norm auf dem Weg der Parlamentsgesetzgebung mehr Stimmen erfordert werden als zu ihrer Durchsetzung im Wege des Volksgesetzgebungsverfahrens. Insofern löst sich auch der Widerspruch, den Schmitt in den jeweils erforderten Beteiligungsziffern beider Gesetzgebungsverfahren findet (S. 67), auf. Darüber hinaus scheint aber die behauptete Tatsachengrundlage nicht erwiesen. Es handelt sich hier um drei Fälle: Für das verfassungsändernde Gesetz wird im Wege der Volksgesetzgebung gemäß Art. 76 der Reichsverfassung die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten erfordert (mindestens 51 Prozent). Beim parlamentsbeschlossenen Gesetz wird gemäß Art. 76 eine Zweidrittelmehrheit erfordert, wobei mindestens zwei Drittel der Mitglieder des Reichstags anwesend sein müssen. Gegenüber Schmitts Behauptung, dass »im Parlament für Verfassungsänderungen die Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit erforderlich ist, während beim verfassungsändernden Volksentscheid auf Volksbegehren die einfache Mehrheit
62 Diese Verschiebung von einer substantiellen Rechtfertigung der Parlamentsexistenz zu einer sozialtechnischen beschreibt [Hans] Ziegler, Die moderne Nation, [ Tübingen] 1931, S. 285 ff., ohne freilich diese sozialtechnische Wendung als Rechtfertigungsmotiv anzuerkennen. 63 Vergleiche Jacobi, a. a. O., S. 244/45 [Erwin Jacobi: Reichsverfassungsänderung, in: Otto Schreiber (Hg.): Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben. Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts (1. Oktober 1929) in 6 Bänden, Band I, Berlin/Leipzig 1929, S. 233-277]; vergleiche auch Thoma, HbdDStR, Bd. 2, S. 114. [Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1930/32.]
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genügt«,64 ist festzustellen, dass in gewissen Umständen die Zahl der Mindeststimmen beim parlamentsbeschlossenen Gesetz geringer als die Zahl der Mindeststimmen beim volksbeschlossenen Gesetz sein kann. Erstens immer dann, wenn die Anwesenheitsquote eine bestimmte Größe unterschreitet; denn wenn die gesetzliche Maximalgrenze ausgeschöpft wird, genügen etwa 44 Prozent der Abgeordneten für ein verfassungsänderndes Gesetz. Dabei wird von 100prozentiger Wahlbeteiligung ausgegangen und Stimmenverluste unberücksichtigt gelassen. Zweitens genügen aber weniger als 51 Prozent der Stimmberechtigten im Parlament immer dann, wenn bei 100prozentiger Anwesenheit der Abgeordneten Wahlenthaltung und Stimmenverluste eine bestimmte Größe überschreiten.65 Beim einfachen Gesetz erfordert im Fall eines Konflikts mit dem Reichstag (wann dieser Konflikt als existierend angenommen werden muss, braucht hier nicht erörtert zu werden; vergleiche Schmitt, Legalität und Legitimität, S. 67, 69) ein Parlamentsbeschluss mindestens die Mehrheit von mindestens 50 Prozent der Abgeordneten. Die Durchführung des Volksentscheids gegen diesen Beschluss erfordert die Zustimmung der Mehrheit der abgegebenen Stimmen, falls sich die Mehrheit der Stimmberechtigten an der Abstimmung beteiligt (Art. 75 RV). Die Mindestbeteiligung am Parlamentsbeschluss ist hier immer dann geringer als die Mindestbeteiligung an dem ihm entgegentretenden volksbeschlossenen Gesetz, wenn erstens die Wahlbeteiligung weniger als 100 Prozent beträgt und zweitens Stimmen verloren gehen, das heißt auf einen Kandidaten abgegeben sind, der kein Mandat erhält. Allerdings wendet Schmitt hiergegen ein, dass es faktisch nicht nur auf die Mehrheit der Abstimmenden im Volksgesetzgebungsverfahren ankomme, weil alle, die sich gemäß Art. 75 an einem erfolgreichen Volksentscheid beteiligen, auch diesem zustimmen würden (S. 67). Deshalb entfalle praktisch jeder Unterschied zwischen einfachem und verfassungsänderndem Volksentscheid. Dagegen ist auf die Möglichkeit – und Wirklichkeit – des Terrors gegenüber Nichtzustimmenden hinzuweisen, welcher diese zwingt, ihr an sich durch Stimmenthaltung am wirksamsten zum Ausdruck kommendes materielles Nein in ein formelles Nein umzuwandeln. Dieses verwirklicht so lange das Gegenteil seiner Intention, als die Zahl der Terrorisierten geringer ist als die Zahl der Terroristen und die absolute Zahl der letzteren höher als 25 Prozent der Stimmberechtigten. 64 [Vergleiche: Carl Schmitt: Legalität und Legitimität, München/Leipzig 1932, S. 67.] 65 Die Berücksichtigung der Abwesenden bei dieser Aufstellung mag damit gerechtfertigt werden, dass sie auf politischen Gründen beruhen kann.
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Sind diese Bedingungen nicht gegeben, ist Terror sinnlos, allerdings auch unschädlich.66 Beim einfachen Gesetz sind, wenn ein Konflikt mit dem Reichstag nicht vorliegt, auf dem Weg des Parlamentsgesetzes mindestens 60 000, auf dem Weg des volksbeschlossenen Gesetzes mindestens eine Stimme notwendig. Von dieser ernsthaft nicht in Betracht kommenden Minimaldifferenz abgesehen, scheint für ein volksbeschlossenes Gesetz keine bestimmbare Verschiedenheit des erforderlichen Stimmquantums gegenüber dem parlamentsbeschlossenen Gesetz vorzuliegen. Denn der Offenhaltung einer beliebigen Wahlbeteiligung und Anwesenheit innerhalb bestimmter Grenzen bei der Reichstagswahl entspricht die Offenhaltung der Volksentscheidsbeteiligung, da hier – im Unterschied zum Fall 2 – das Wahlgeheimnis effektiv gewahrt ist. Von der hier gegebenen Rechtfertigung aus hebt sich die für Carl Schmitt so dezisive Differenz zwischen Legalität und Legitimität auf. Es scheint, dass diese nicht ausdrücklich definierten Begriffe bei Carl Schmitt dahin zu verstehen sind, dass unter »Legalität« das Rechtfertigungssystem des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens – eben weil diese Rechtfertigung mit dem immanenten und behaupteten Charakter der »lex« des Parlaments zusammenhänge –, unter »Legitimität« die Rechtfertigung des unmittelbaren Volksgesetzgebungsverfahrens gemeint ist. Für die Rechtfertigung jedoch, die eben für die Reichsverfassung aufgezeigt wurde, liegt die Ratio der Existenz des Parlaments nicht in der materialen, sich selbst tragenden Ratio seiner Tätigkeit, sondern in denselben Gegebenheiten, die das Volksgesetzgebungsverfahren rechtfertigen. Es handelt sich somit um verschiedene Organisationsformen derselben Legitimität. Über die schon behandelte Frage der Aufhebbarkeit hinaus besteht keine Strukturdifferenz zwischen dem im Rahmen der Verfassung sich betätigenden Volk und dem Parlament; denn beide sind »pouvoirs constitués«. Anders verhält es sich freilich in dem Moment, in dem es sich nicht mehr um die Interpretation der Weimarer Verfassung oder einer ähnlich strukturierten demokratischen Verfassung, sondern um die ideelle Konstitution eines dem Wert- und Rechtfertigungssystem Carl Schmitts entsprechenden Staatssystems handelt. Hier können Legalität und Legitimität auseinandertreten; hier kann Legalität durch Legitimität vollständig verdrängt werden. Die Ausschaltung der parlamentari66 Vergleiche zur Terrorfrage beim Volksentscheid [Carl] Tannert, Die Fehlgestalt des Volksentscheids[: Gesetzesvorschlag zur Änderung der Art. 75 und 76 Abs. 1 Satz 4 der Reichsverfassung, Breslau] 1929.
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schen Legalität ergibt sich aus der Aufzeigung der Nichtevidenz ihrer Begründungsprinzipien in unserer Zeit. An ihre leer gewordene Stelle tritt der Monolith der plebiszitären Legitimität. Wenn auch in einer solchen Verfassung das höchste Staatsorgan auf demokratischem Wege gewählt werden kann, so könnte sie, wenn man dem Sprachgebrauch folgen will, doch nicht mehr als »demokratisch« bezeichnet werden. Es kommt hierin zum Ausdruck, dass für diesen weitverbreiteten Sprachgebrauch Demokratie wenn schon nicht an die Existenz eines Parlaments, so doch an eine Vielheit von Repräsentanten gebunden ist. Dieser Terminologie liegt ein bestimmter Sinn zugrunde, dass nämlich der Grad der Realisierung von Freiheit und Gleichheit sich umgekehrt verhält wie der Konzentrationsgrad der Repräsentation. Die Herbeiführung der Wahl eines mir genehmen Reichstagsmitglieds setzt meine Einigung mit 59 999 Bürgern voraus; die Beteiligung an der Wahl des Reichspräsidenten setzt angesichts des faktischen Zwanges zur Reduzierung der Kandidaten (für den Fall, dass alle Wähler wirklich den Erfolg ihres Kandidaten beabsichtigen, von Demonstrationskandidaturen also abgesehen) meine Einigung mit einer weit größeren Zahl voraus. Die Präsidentenwahl stellt deshalb gegenüber der Reichstagswahl eine Willensvereinheitlichung auf weit breiterer Ebene dar; je größer aber der Umfang der Willensvereinheitlichung, desto größer der durchschnittliche Abstand der eigentlichen Einzelwillen vom Kandidatenwillen, desto geringer infolge dieser Intensivierung des Kompromisses – der Freiheitsgrad. Die gleiche Erscheinung der Verminderung der politischen Freiheit durch Hypertrophie der Willensvereinheitlichung zeigt sich auch bei der zweiten politischen Chance, die Schmitt dem Volk reservieren will, der Ja-Nein-Entscheidung über eine von den Staatsorganen vorgelegte Frage (S. 93 f.). Nur ist hier die Zahl der Alternativen, die bei unverändert bleibenden Normen für die Präsidentenwahl lediglich auf zwei hinstrebt, starr auf zwei festgelegt. Ob man nun die rechtliche Beschränkung der politischen Aktivitäten des Volkes auf die angegebenen Funktionen seinen anthropologischen Charakteren67 angemessen und so durch sie gerechtfertigt hält oder nicht – in jedem Fall erge67 Es ist jedoch theoretisch für die Vielheit der Rechtfertigungsmöglichkeiten eines identischen Normensystems bemerkenswert, dass die These von der rechtlichen Vorrangstellung des Volkes innerhalb der Verfassung in der Theorie Jacobis, a. a. O., S. 243, 247 Anm. 30 [Erwin Jacobi: Reichsverfassungsänderung, in: Otto Schreiber (Hg.): Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben. Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts (1. Oktober 1929) in 6 Bänden, Band I, Berlin/Leipzig 1929, S. 233-277], und einer analogen Stellung außerhalb der Verfassung, wie sie sich bei Schmitt vorfindet, sich mit konträren Thesen über die Charaktere des Volkes verbinden kann.
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ben sich die gekennzeichneten Wirkungen auf die Realisierung des Freiheitsprinzips. Könnte aber nicht auch von der hier aufgezeigten Rechtfertigung der Demokratie aus ein Übergang von dem Typ, den die Weimarer Verfassung darstellt, zu einem Typ der eben angedeuteten Art sich begründen lassen, weil in ihm eine größere Stabilität des staatlichen Lebens gewährleistet wäre? Hier werden eine Reihe von Thesen Carl Schmitts berührt, in denen seine allgemeinen Theoreme auf die verfassungsgeschichtliche Entwicklung im Nachkriegsdeutschland angewandt werden. Als Kernthese ließe sich hier nennen: die Zurechnung jener Entwicklung, die in der politischen Diskussion summarisch als Zusammenbruch der Weimarer Verfassung bezeichnet zu werden pflegt, zu den zahlreichen Widersprüchen, deren Prüfung den Hauptinhalt dieser Arbeit bildete. Dieser diagnostischen These schließt sich eine prognostische an, die einer Verfassung der angedeuteten Art eine mutmaßlich größere Stabilität zuspricht. Beide Verfassungstypen, die übliche parlamentarische Verwirklichung der Demokratie wie auch ihre cäsaristische Abwandlung, ermöglichen in ihren Normensystemen innerhalb der Grenzen der materiellrechtlichen Verfassungsbestimmungen als wertneutrale Ordnungen eine weitgehende inhaltliche Variabilität. Die auf solchen Verfassungen aufbauenden Gesetzessysteme zeichnen sich durch die gemeinsame Teilhabe an dieser großen Erfindung der modernen Demokratie scharf von älteren Ordnungen ab. Damit ist aber die Frage ihrer faktischen Stabilität, das heißt die Frage, ob die historische Entwicklung von den für sie bereitgestellten Leerformen Gebrauch macht, noch offen gelassen. Freilich scheint uns – und da liegen wohl die Grenzen dieser Schrift, ohne damit sagen zu wollen, dass die Fülle der in ihr aufgeworfenen Probleme auch nur im Entferntesten hier hätte ausgeschöpft werden können – die Entscheidung über diese Frage von allen aber auch allen Faktoren, die das politische Verhalten der Menschen bestimmen, abzuhängen. Ihrer aller gegenseitige Abhängigkeit und die unproportionale Gleichgewichtsstörung, die die Variation schon eines von ihnen zuwege bringt, lassen Prognosen so überaus schwierig erscheinen, sogar dann, wenn man jene Antinomie der Prognose außer Acht lässt, die ihren Charakter als arcanum zur Bedingung ihrer Richtigkeit macht. Würde man heute die üblichen Aussagen über die Stabilität und Konstanz der französischen Demokratie machen können, wenn nicht der Nachfolger Karls X. die Treue zum Lilienbanner einer
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zweiten Restauration vorgezogen hätte,68 wenn nicht Boulanger der Prototyp eines »dictateur manqué« gewesen wäre,69 wenn der intakte, antidemokratische Fremdkörper der Armeeführung zur Dreyfuß-Zeit die eigentliche Bedeutung dieses Justizfalls erkannt hätte?70 Würde man nicht heute von den günstigen Bedingungen für die Konstanz einer russischen Demokratie in der relativen Homogenität einer diesem System durch die Agrarrevolution verbundenen Bauernmasse sprechen, wenn das Februarregime den Losungen der Bolschewiki zuvorgekommen wäre? Diese Fragen stellen, heißt durchaus nicht, sie bejahen. Es heißt nur, die Fülle der verfassungsrechtlichen Entwicklungsmöglichkeiten, die nicht der Verfassungssphäre selbst, sondern anderen Bereichen entspringen, einkalkulieren. Es scheint, dass die Verfassungstheorie solche Probleme nur in einer engen Kooperation71 mit fast allen anderen Disziplinen, die sich um die Erforschung der sozialen Sphäre bemühen, einer wohl auf lange Zeit nur bei generellen Aussagen bleibenden Lösung wird zuführen können.
68 Vergleiche die charakteristische Bemerkung bei [Georges] Bernanos, La grande peur des bien-pensants, Paris 1931, S. 104. 69 Vergleiche Histoire de la France contemporaine: l’évolution de la 3ième république par E. Seignobos, 1921, S. 139. [Charles Seignobos, Ernest Lavisse: Histoire de la France contemporaine depuis la révolution jusqu'à la paix de 1919, Paris 1921.] 70 Seignobos, a. a. O., S. 202 ff. [Charles Seignobos, Ernest Lavisse: Histoire de la France contemporaine depuis la révolution jusqu'à la paix de 1919, Paris 1921.] 71 Vergleiche dazu die Ausführungen bei [John] Dewey, The public and its problems, London [1927], S. 171.
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[35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie* [1933] Friedrich Engels hat einmal die juristische Weltanschauung die klassische Weltanschauung der Bourgeoisie genannt, eine »Verweltlichung der theologischen Weltanschauung«, in der »an Stelle des Dogmas des göttlichen Rechts das menschliche Recht und an die Stelle der Kirche der Staat trat«.1 Es kann nicht geleugnet werden, dass die halb spöttische Warnung, die aus diesem Satze klingt, nicht immer genügend Berücksichtigung gefunden hat. In allen Spielarten des Sozialismus, im kommunistischen Russland wie auch im staatlichen Denken des mitteleuropäischen Reformismus, hat auf langen Strecken eine gewisse Hypostasierung des Staates stattgefunden. Aber jede marxistische Staatslehre muss, wie immer auch – taktisch und zeitlich bedingt – ihr Aussehen sein mag, für alle Staatseinrichtungen der vorsozialistischen Zeit die durchgehende Bewertung aller politischen Kategorien als Mittel aufrechterhalten. Die marxistische Lehre der Demokratie wie die der proletarischen Diktatur ist nicht verständlich, wenn man jene durchgehende Mediatisierung des Betrachtungsmaßstabs aller staatlichen Dinge ungenügend berücksichtigt. Niemals konnte deshalb marxistische Staatstheorie mit einer Betrachtungsweise in Einklang gebracht werden, die apriorische Erkenntnisse staatlicher und gesellschaftlicher Dinge jenseits und unabhängig von der konkreten gesellschaftlichen Erfahrung zum Ausgangspunkt staats- und verfassungstheoretischer Diskussionen nahm. Mag es sich nun um Theorien der Repräsentation oder der Autorität handeln, mag es um eine Theorie der Nation oder des Volkes gehen, erst der konkrete soziologische Standort jeder dieser Theorien erhellt ihren Geltungsbereich beim Aufbau einer konkreten Staatsordnung. Stets hat die marxistische Betrachtungsweise staatlicher Dinge die Möglichkeit und das Erfordertsein bestimmter staatlicher Einrichtungen aus konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen gefolgert. Mit Recht hat Hilferding in seinem Referat auf dem Kieler Parteitag betont, dass sich die Sozialdemokratie immer gehütet habe, in die Kon* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Politik, Jg. 10, Heft 1, Berlin 1933, S. 20-35. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 104-106.] 1 Juristensozialismus in »Neue Zeit«, 1883. [Friedrich Engels, Karl Kautsky: Juristen-Sozialismus, in: Die neue Zeit, Jg. 5, Heft 2, Berlin/Stuttgart 1887, S. 49-62.]
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struktionen der bürgerlichen und namentlich der deutschen Staatsphilosophie zu verfallen. Die marxistische Methode verlangt, so heißt es dort, dass wir bei all den gesellschaftlichen Erscheinungen den Fetischismus dieser Erscheinungen auflösen durch die Analyse der Realität. Demnach stellt sich auch das hier angezogene Referat des Kieler Parteitags,2 das sich ausführlich mit den Fragen der Staatsmacht beschäftigt, als eine konkrete politische Schlussfolgerung, hervorgegangen aus einer Analyse der politischen und sozialen Kräfteverhältnisse in den Jahren der Stabilisierung dar. Dieses Referat behandelt die Frage der Diktatur vom Hintergrund einer Bedrohung der Demokratie aus, da ihm die Vorstellung einer funktionierenden Demokratie zugrunde liegt. Es geht von einer allseitigen Befolgung der verfassungsmäßig niedergelegten politischen Spielregeln aus, und nur am Rande erscheint die Frage: »Was aber, wenn die Herrschenden die Demokratie nicht respektieren?« Diese Frage hat dort dieselbe Beantwortung gefunden wie in dem bekannten Referat Otto Bauers, das er dem Linzer Parteitag erstattete.3 In dem Augenblick, in dem versucht wird, die Grundlagen der Demokratie zu zerstören, bleibt nur das Mittel der Gewalt. Diese Ausführungen sind von der Überzeugung getragen, dass für die Sozialdemokratie aus den Bedingungen unserer mitteleuropäischen Zivilisation heraus eine Unterwerfung des politischen Gegners, der sich im Rahmen der Legalordnung hält, im Wege eines Offensivbürgerkriegs nicht sinnvoll erscheint. Hierbei steht die Erwägung im Vordergrund, dass ein mit den heutigen Mitteln einer hochqualifizierten Rüstungsindustrie durchgeführter Bürgerkrieg nicht etwa deshalb vermieden werden solle, weil am endgültigen Sieg des Proletariats irgendein Zweifel bestünde,4 sondern weil ein solcher Sieg mit all seinen sozialen Wirkungen zu teuer für eine Partei erkauft sei, die im Sozialismus nicht lediglich eine neue Machtordnung, sondern vornehmlich das Heraufkommen einer neuen Lebensordnung sieht. Hierbei wird also nicht von einer abstrakten Idee der Demokratie ausgegangen, sondern es wird die konkrete Frage gestellt: Was bringt der Sache des Sozialismus im Endergebnis die größten Chancen, was verbürgt am ehesten das Heraufkommen einer sozialistischen Staatsordnung, die nicht nur die wirtschaftlich notwendige Neuordnung vornimmt, sondern auch die per2 Protokoll des Kieler Parteitages, S. 170 ff. [Sozialdemokratischer Parteitag 1927 in Kiel, Berlin 1927.] 3 Protokoll des Parteitags der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs[, Wien 1926], S. 255 ff. 4 Vergleiche Karl Renner, »Kampf«, Oktober 1932, S. 402. [Karl Renner: Versagt oder bewährt sich die Demokratie? Bemerkungen zur politischen Krise in Deutschland, in: Der Kampf, Wien 1932.]
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sönliche Freiheit des Individuums als einen unvergänglichen Bestandteil unserer europäischen Kulturordnung aufrechtzuerhalten imstande ist? Eine sozialistische Wertung der Demokratie stellt es deshalb nicht in erster Linie auf den juristischen Normenbestand einer demokratischen Verfassung ab, sondern sie muss ihre Stellungnahme zur Demokratie davon abhängig machen, ob sie mit einem allseitig legalen Verhalten der anderen politischen Machtfaktoren rechnen kann, ob die anderen Parteien und sozialen Machtgruppen bereit sind, die grundlegenden demokratischen Institutionen auch dann anzuerkennen, wenn sie dazu angetan sind, ihre Herrschaftsaspirationen zu begrenzen und ihren politischen Gegnern Spielraum zu gewähren. Wenn deshalb heute bis zu einem gewissen Grad durch die Veränderung der gesamten sozialen und politischen Situation keine sichere Verbürgung mehr für ein allseitig legales Verhalten gegeben ist, muss sich auch die Stellung der Sozialdemokratie zur konkreten Verfassungsordnung wandeln. Eine Verfassung, deren »demokratisches« Funktionieren nicht mehr gewährleistet ist, zerfällt für jeden einzelnen Partner in ein Bündel möglicher Positionen. Je nach der Einstellung des jeweiligen Partners zur Demokratie überhaupt mag die Gewinnung einer überragenden Position wieder den Weg zu einer funktionsfähigen Demokratie öffnen oder aber für ihn den Ansatzpunkt für eine faschistische Diktatur begründen. Vorläufig jedenfalls wird die Sozialdemokratie mit diesem Zerfall einer zentralen Verfassungsvorstellung zu rechnen haben. Deshalb ist die Feststellung Ernst Fränkels,5 dass Weimarer Verfassung und Sozialdemokratie keine siamesischen Zwillinge seien, durchaus richtig, ja darüber hinaus muss ganz allgemein betont werden, dass die Sozialdemokratie auf die Dauer mit keiner Verfassung der vorsozialistischen Gesellschaft ein ewiges Bündnis wird eingehen können. Denn auch die bestmögliche dieser Verfassungen kann, wie die Erfahrung lehrt, durch Deformationsprozesse, die ein verändertes soziales Substrat in der Staatsordnung auslöst, ihren demokratischen Charakter verlieren. Fränkel entfernt sich aber von seiner eingangs eingenommenen Position erheblich, wenn er an die Stelle der Garantie einer allseitigen Legalität und damit des möglichen Nutzeffekts der Verfassungsordnung für die Sozialdemokratie die ganz allgemeine, am Staat schlechthin orientierte Frage stellt: Ist diese Verfassung überhaupt noch Verfassung? Da er diese Frage verneint und deshalb den immanenten Zweck der Ver5 Verfassungsreform und Sozialdemokratie, »Gesellschaft«, Dezember 1932. [Ernst Fraenkel: Verfassungsreform und Sozialdemokratie, in: Die Gesellschaft, Jg. 9, Heft 12, Berlin 1932, S. 486-500.]
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fassung, eine Ordnung des staatlichen Daseins darzustellen, für bedroht ansieht, rät er uns, unsere liebgewordenen Vorstellungen über die Schönheit der Verfassung abzulegen und uns um solche Änderungen der Verfassungsordnung zu bemühen, die ein Funktionieren der Verfassung erst ermöglichen. Wenn Fränkel nun, um die gefährliche Spannung zwischen Legalordnung und tatsächlicher Machtausübung zu überwinden, eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, die die Möglichkeit eines funktionierenden Staatssystems auf Kosten der Schönheit unseres Verfassungssystems herstellen wollen, so liegt dieser Vorstellungsweise – gleichgültig wie man zu der Stichhaltigkeit seiner einzelnen Vorschläge stehen mag – ein prinzipieller Fehler zugrunde. Der Formwert des Funktionierens wird durchgehend verselbständigt, und es wird – wenn wir die freilich nicht ganz adäquate Vorstellung von der Schönheit der Verfassung einmal beibehalten wollen – übersehen, dass eine sozialistische Partei nicht am Funktionieren einer Verfassung schlechthin interessiert ist, sondern nur dann, wenn die Verfassung selbst »schön« ist. Fränkel selbst wird sicherlich mit der Banalität übereinstimmen, dass zum Beispiel die Arbeiterschaft kein Interesse daran hat, dass ein faschistisches, also ein nach den Intentionen der Arbeiterschaft »hässliches« Verfassungssystem reibungslos funktioniert. Fränkel selbst wird mit uns jede Zersetzungserscheinung des faschistischen Staatsapparates freudig begrüßen, gerade weil das reibungslose Funktionieren des faschistischen Verfassungssystems dadurch in Frage gestellt wird. Wenn dies aber der Fall ist, scheint der Frageansatz von Fränkel nicht richtig gewählt. Gewiss, die Frage der bestmöglichen Organisierung der proletarischen Demokratie nach der Überwindung der spezifischen Erscheinungsformen unserer anarchisch-kapitalistischen Sozialverfassung ist eine Frage der technischen Zweckmäßigkeit; hier kann jede Institution unter dem Gesichtspunkt des optimalen Nutzens für das Funktionieren der Demokratie betrachtet werden. In einer Verfassung aber, die nicht auf einer relativ einheitlichen Sozialstruktur beruht, sondern in der jede Gewichtsverschiebung innerhalb der Staatsorgane eine Verlagerung der Herrschaft von einer sozialen Schicht zur anderen bedeuten kann, kann es ein allgemeines Interesse am Funktionieren schlechthin nicht geben. Aus diesem Grunde erscheint die Tendenz Fränkels, durch Änderungen der Verfassungsordnung um des Staats und der Verfassung willen alles zu tun, was die Spannung zwischen Legalordnung und den konkreten Machtverhältnissen auf ein erträgliches Maß zurückführen könnte, bedenklich. Es ist selbstverständlich richtig und bedarf keines weiteren Beweises, dass es der Sinn jeder Politik ist, solche Spannungs-
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verhältnisse aufzulösen. Aber diese Auflösung kann bekanntlich auf zweierlei Weise erfolgen; man kann die Legalordnung jeweils den tatsächlichen Machtverhältnissen anpassen, man kann aber die Machtverhältnisse auch so umzugestalten versuchen, dass eine sinnvolle Ausfüllung der Legalordnung möglich ist.6 Entscheidend ist doch dabei, dass in Wirklichkeit die Lösung dieses Spannungsverhältnisses durch Anpassung, das heißt im konkreten Fall Zurückschiebung der Legalordnung nicht erreicht wird und die Verengerung der Legalordnung auf Bahnen drängt, die außerhalb der Rechtsordnung liegen. So besteht zum Beispiel im faschistischen Verfassungssystem durchaus ein Deckungsverhältnis zwischen Legalordnung und tatsächlichen Machtverhältnissen. Die Verfassungsordnung ist eben den tatsächlichen Machtverhältnissen auf den Leib zugeschnitten, indem sie den faschistischen Großrat mit der beherrschenden Person des Duce zum ausschlaggebenden Faktor erhebt. Niemand wird behaupten, dass in dieser Deckungseinheit eine Lösung der sozialen Problematik unserer Zeit enthalten sei. Es ist der große Unterschied einer solchen autokratischen zu einer demokratischen Verfassungsordnung, dass nur in dieser eine legale Entwicklung, bis zu einem gewissen Grad allerdings um den Kaufpreis einer unvermeidbaren Spannung zwischen Legalordnung und Machtordnung, garantiert wird. Daher kann es in einem demokratischen Staatssystem sehr leicht der Fall sein, dass – um einmal diese Terminologie zu gebrauchen – der ideologische Überbau der Rechtsordnung den tatsächlichen Machtverhältnissen »vorhinkt«. Die tatsächliche Macht kann in den Händen einer mit feudalen Schichten durchsetzten Bürokratie sein, obwohl nach der Verfassungsordnung durchaus die Möglichkeit besteht, dass eine »Volkspartei« die politische Macht übernimmt. Formal, juristisch gesehen kann dann ein Konflikt zwischen der Exekutive und dem Parlament bestehen, wobei man auf beiden Seiten selbstverständlich mit dem Vorwurf der Pflichtverletzung operiert und die Stelle der tatsächlichen Macht, das heißt der Exekutive unter dem Motto »Regiert muss werden« die Gesamtentwicklung im Sinne ihrer sozialen und ökonomischen Interessen zu beeinflussen sucht. Dabei ist die staatsrechtliche Deduktion, die Fränkel, insoweit
6 Vergleiche des Verfassers »Weimar und was dann«, [Entstehung und Gegenwart der Weimarer Verfassung, Berlin] 1930, S. 38, wo auf diese Disproportionalität hingewiesen ist. Dort ist der Gesichtspunkt vertreten, dass diese Spannung nicht durch eine Änderung der Staatsordnung, sondern durch eine Neuordnung der ökonomischen Machtverteilung ihre Lösung zu finden habe. [In diesem Band S. 239.]
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Carl Schmitt7 folgend, vornimmt, ebenso unbestreitbar juristisch haltbar wie soziologisch im entscheidenden Punkt irrelevant. Es ist vollkommen richtig, dass die geltende Reichsverfassung einem mehrheitsund handlungsfähigen Reichstag alle Rechte und Möglichkeiten gibt, um sich als den maßgebenden Faktor der staatlichen Willensbildung durchzusetzen, dass aber auf der andern Seite das Parlament, falls es dazu nicht imstande ist, nicht das Recht hat zu verlangen, dass auch alle anderen verantwortlichen Stellen handlungsunfähig werden. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass, was staatsrechtlich Ausfüllung einer Leerstelle mit Hilfe einer ja zum eisernen Bestand des Staatsrechts gehörenden Notstands- oder Lückentheorie heißt, soziologisch gesehen durchaus eine Machtusurpation durch eine sonst nicht zum Zuge gelangende gesellschaftliche Klasse darstellen kann. Von der juristischen Seite aus ist der auch von Fränkel angeführte Aufsatz von Heckel am weitesten zu jener Bruchstelle vorgedrungen. Dort heißt es: »Das Recht zur Notstandsaktion folgt aus der Treuepflicht gegenüber der Verfassung als einer Totalität. Durch ihre Verfassungsintention unterscheidet sich die Notstandsaktion von dem Verfassungsbruch und insbesondere vom Staatsstreich.«8 Für die Frage, ob und wann ein Rettungsbedürfnis besteht, haben aber augenscheinlich in der Sphäre des politischen Notstands bisher dieselben Maßstäbe obgewaltet wie bei der strafrechtlichen Notstandsaktion, 7 In Nr. 24, S. 1144, des »Roten Aufbau« [Bela Kuhn: Der Kommunismus im Kampfe gegen die Sozialdemokratie, in: Unsere Zeit: Beiheft 1, aus: Der rote Aufbau, 5 (1932)22, Berlin 1932, S. 7-20] wird von »theoretischen Querverbindungen« zwischen dem »faschistischen Staatstheoretiker« Carl Schmitt und dem offiziellen theoretischen Organ der SPD, der »Gesellschaft«, gesprochen, die besonders anschaulich im Fränkel‘schen Aufsatz zutage treten sollen. Sollte der neuartige Begriff der »theoretischen Querverbindung« bedeuten, dass Ernst Fränkel Anlass genommen hat, sich mit den staatstheoretischen Positionen Carl Schmitts zu beschäftigen, so würde die Verwendung des Begriffs Querverbindung nur beweisen, dass für kommunistische Schriftsteller schon die Beschäftigung und Prüfung nicht-kommunistischer Gedankengänge unzulässig erscheint; sollte aber die »theoretische Querverbindung« auf eine Einheitlichkeit der politischen Zielrichtung hinweisen, so handelt es sich um eine haltlose Behauptung. Die Behauptung, dass aus den Fränkel‘schen Ausführungen mit logischer Konsequenz sich die Aufforderung zum Staatsstreich ergebe, die Fränkel nur nicht offen auszusprechen wage, stellt eine absichtliche Entstellung der Fränkel‘schen Ausführungen dar; der ganze Artikel gibt in altgewohnter Weise aus der gesamten staatsund verfassungstheoretischen Diskussion nur solche entstellte Bruchstücke wieder, die den Beweis für die »neurevisionistische Staatsauffassung« liefern sollen. 8 »Archiv für öffentliches Recht«, Neue Folge, Bd. XXII, S. 311. [Johannes Heckel: Diktatur, Notverordnungsrecht, Verfassungsnotstand mit besonderer Rücksicht auf das Budgetrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 22, Tübingen 1932, S. 257-338.]
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die letzthin der zweite Strafsenat des Reichsgerichts für die ostpreußischen Grundbesitzer unternahm. Sowohl die individuelle Notstandsaktion, die dieser Strafsenat für die Versteigerungsverhinderung durch Grundbesitzer mit einer etwas neuartigen Schau ökonomischer Zusammenhänge begründete, wie auch die generelle Notstandsaktion, die Herr von Papen für dieselben Schichten durchführte, kann sich wohl schwerlich auf eine solche Verfassungsintention stützen. Aber selbst wenn man einmal unterstellt, dass der Nachfolger des Herrn von Papen wirklich gewillt wäre, eine Resultante aus den vorhandenen politischen Richtungen zu bilden, wäre der eigentliche Sinn der Verfassung geschwunden. Denn sie beruht auf dem Prinzip der Selbstregierung des Volks, und es wird sich bald herausstellen, dass die Resultante, die der bürokratische Staat zieht, mit der Verfassungsintention der Demokratie nichts mehr gemein hat. Es handelt sich daher hier nicht um Zuständigkeitsverschiebungen von schlechter zu besser funktionierenden Organen, sondern um die Feststellung, dass so, wie die Notstandsaktion eine tatsächliche soziale Gewichtsverlagerung bedeutet, erst recht die Kodifizierung dieser tatsächlichen Gewichtsverlagerung eine Modifizierung der demokratischen Verfassung bedeuten würde. Daher sollen die Fränkel‘schen Änderungsvorschläge daraufhin untersucht werden, ob sie, die ein reibungsloses Funktionieren der Verfassung gewährleisten wollen, zugleich ein Staatsgrundgesetz aufrechterhalten, das Staatssouveränität, Parlament und Grundrechte zu Zentralpunkten der Verfassungswirklichkeit macht. Fränkel setzt bei dem Artikel 54 der Reichsverfassung ein, der unbestreitbar seinen Ausgangspunkt von der Vorstellung nimmt, dass bei Annahme eines Misstrauensvotums durch das Parlament der Führer der siegreichen Opposition mit der Leitung der Regierungsgeschäfte betraut wird und sodann ein Kabinett mit einer sicheren Reichstagsmehrheit bildet. Im Deutschen Reich hat diese einfache Handhabungsmöglichkeit des Artikel 54 aus den verschiedensten Gründen nie stattgefunden, wie es auch bekanntlich zu offenen Misstrauensvoten in der gesamten Weimarer Parlamentsgeschichte nur zweimal gekommen ist. Mit der Entstehung einer nationalsozialistisch-kommunistischen Mehrheit wuchsen die Schwierigkeiten der Regierungsbildung noch mehr, so dass auf lange Sicht hinaus die Bildung eines Mehrheitskabinetts überhaupt unmöglich wurde und der Reichspräsident infolgedessen in die Lage kam, Minderheitskabinette bilden zu lassen, die gar nicht einmal die Absicht hatten, eine Mehrheit des Reichstags zu erreichen, sondern den Reichstag, schon bevor ihm Gelegenheit zum Sturz der Regierung gegeben war, auflösten. Fränkel will nun dem Misstrauensvotum der Reichstags-
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mehrheit nur dann die Wirkung der Kabinettsdemission beilegen, wenn die Oppositionsparteien in der Lage sind, dem Reichspräsidenten einen positiven Vorschlag für die Person eines über eine Mehrheit verfügbaren Reichskanzlers zu machen. Würde diese Fassung Gesetz, so würde damit der Reichspräsident in der Lage sein, das alte Kabinett weiterregieren zu lassen, bis sich eine solche Mehrheit findet, und er wäre nicht genötigt, den Reichstag so häufig aufzulösen. Dann kann der Artikel 25 der Reichsverfassung auch dahin abgeändert werden, dass der Präsident das Parlament nur mit Gegenzeichnung des vom Parlament präsentierten neuen Kanzlers auflösen dürfe. Auf diese Weise will Fränkel auch für die Zeit, in der der Reichstag nicht in der Lage ist, aus sich heraus ein neues Mehrheitskabinett zu bilden, ihm seine Existenz und damit die Möglichkeit der Gesetzgebung und der Verwaltungskontrolle sichern. Der Vorschlag führt also für die Zeit einer nach Motiv, sozialer Herkunft und politischem Ziel uneinheitlichen Opposition zu einer Legalisierung bürokratischer Herrschaftsmethoden: einer nicht nur de facto, sondern nunmehr auch de jure vom Parlament unabhängigen Regierung, der auf der Gegenseite ein handlungsunfähiger Reichstag gegenübersteht. Bei diesem Vorschlag mögen Reminiszenzen der Verfassungsentwicklung des Vorkriegsdeutschlands mitgewirkt haben; was dort von den Mehrheitsparteien nur widerwillig bis zur vollen Errichtung der parlamentarisch-demokratischen Verantwortung ertragen wurde, soll jetzt in weiser Selbstbescheidung von den divergierenden Mehrheitsparteien so lange geübt werden, bis sie selbst über die aktive Herrschaftsausübung übereinkommen können. Als Lohn für diese Selbstbescheidung bleibt der moralische Einfluss des Reichstags und das Recht zur Verwaltungskontrolle erhalten. Vergleicht man aber einmal die heutige mit der damaligen politischen Entwicklung, so wird sich zeigen, dass es in der Verfassungsgeschichte eine »organische Rückentwicklung« nicht geben kann. Der Reichstag der Vorkriegszeit hatte trotz fehlender Einwirkungskompetenzen auf die laufende Regierungshandhabung deshalb eine seine juristischen Machtbefugnisse weit übersteigende Autorität, weil in ihm der Träger einer von der Mehrheit des Volkes ersehnten und erwünschten Entwicklung der innerpolitischen Verhältnisse Deutschlands gesehen wurde. Deshalb hatten Reden eines oppositionellen Politikers eine starke Resonanz und eine gewisse Wirkung. Da jeder Fehlgriff das monarchische System selbst unmittelbar belastete und die sozialen Träger dieses Systems bloßstellte, war in gewissen Grenzen eine laufende Verwaltungskontrolle durch die politische Instanz, den Reichstag,
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gegeben. Der künftige Herr warf seinen Schatten voraus. Wer möchte aber glauben, dass ein Reichstag, der freiwillig auf seine Kompetenzen Verzicht leistet, weil er nicht mehr in der Lage ist, sie ordnungsgemäß zu erfüllen, im Volke auch nur einen Bruchteil jenes Widerhalls finden könnte, der das bedeutsamste Moment in der Geschichte der Vorkriegsreichstage war. Wer möchte in einem solchen Reichstag, der aus Schwäche Verzicht leistet, die Ansatzpunkte zu einer künftigen verfassungsrechtlichen Entwicklung Deutschlands sehen? Die Vorstellung, dass ein solcher Reichstag sowohl moralisch wie faktisch in der Lage wäre, den ungeheuer komplizierten Verwaltungsapparat, der sich in der Hand einer einheitlichen, fest geschlossenen Bürokratie befindet, zu beeinflussen, ist irrig. Gerade weil die Innehabung des staatlichen Machtapparates im Zeitalter einer weitgehenden direkten Einflussnahme des Staates auf die Gesamtgebiete sozialen Lebens wichtiger geworden ist als der allgemeine moralische und kontrollierende Einfluss, den eine parlamentarische Instanz auf dem Gebiete der Verwaltung auszuüben vermag, hat sich die Funktion des Parlaments überhaupt in der Nachkriegszeit durchgehend gewandelt. In allen Ländern demokratischer Verfassung, die einen ausgeprägten Klassencharakter tragen, liegt der entscheidende Akzent der Demokratie vor der Tätigkeit des Parlaments. Das unmittelbare Ergebnis der Wahl und die in einer normal funktionierenden Demokratie daraus resultierende Zusammensetzung der Regierung ist es, die den entscheidenden Einfluss auf die laufende Verwaltungsausübung garantiert. In Deutschland ist dies noch viel ausgeprägter der Fall gewesen als in den anglo-amerikanischen Ländern; denn im Deutschen Reich ist die Einrichtung ständiger, vom Parlament eingesetzter, aber nicht lediglich aus dessen Mitgliedern bestehender Kommissionen, die dem Parlament die Mühe der Fixierung der allgemeinen Regeln für fast alle Gebiete der Sozialverwaltung abnehmen, unbekannt geblieben.9 Will eine soziale Klasse in Deutschland auf die laufende Verwaltung Einfluss nehmen, so muss sie selbst in den bürokratischen Körper einzudringen versuchen. Schaltet man aber diese Möglichkeit praktisch aus, so hilft auch die Aufrechterhaltung eines Reichstags, demgegenüber die Verwaltung nun auch formell unabhängig ist, nichts. Ein Reichstag, der nicht in der Lage ist, eine Regierung zu bestellen, kann auch eine ergiebige Gesetzgebungsarbeit, die durch detaillierte Gesetzesbestimmungen den mangelnden Einfluss auf die direkte Verwaltungsübung wieder wettmachen könnte, nicht leisten.
9 Vergleiche für die Vereinigten Staaten Charles Beard, American Government and Politics,[ New York] 1931, S. 210 ff.
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Passt man aber die Verfassungsnormen der Verfassungswirklichkeit so an, wie dies Fränkel vorschlägt, und legalisiert man die Herrschaft des bürokratischen und militärischen Machtapparats, so wird nach aller geschichtlichen Erfahrung eine solche Teilung der Staatsgewalt nicht lange andauern. Das preußische Beispiel sollte uns darüber belehren, dass es in der politischen Geschichte eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gibt. Denn diese würde keinesfalls lediglich vom Willen der Reichstagsmehrheit abhängen. Die Behandlung, die Herr Hitler durch den Reichspräsidenten erfahren hat, die Begründung, mit der man Herrn Hitler Reichsaußen- und Reichswehrministerium vorenthalten wollte, zeigt, dass Bürokratie und Reichswehr selbst unter der gegenwärtigen Verfassung zu einer Restituierung des Parlamentarismus nicht bereit sind. Was sollte aber aus der parlamentarischen Demokratie erst werden, wenn man den Artikel 54 RV so umgestaltete, dass der Reichspräsident jederzeit in der Lage wäre, eine Nachprüfung darüber zu veranstalten, ob eine im Sinne der Bürokratie arbeitsfähige Mehrheit vorhanden sei.10 Es ist kein Anlass dafür sichtbar, warum die Sozialdemokratie einer Verfassungsänderung zustimmen sollte, die die Existenz der Demokratie bis zu einem gewissen Grade rechtlich, mindestens aber faktisch in das Belieben der Bürokratie stellt und dieser die Möglichkeit gibt, auf so billige Weise eine demokratische Attrappe zu erwerben. Der weitere von Fränkel gemachte Vorschlag ist in diesem Zusammenhang besonders deshalb bemerkenswert, weil er zeigt, dass selbst die vorgeschlagene Beschränkung der Reichstagsrechte nicht ausreicht, um den drohenden Konflikt zwischen Reichstagsmehrheit und verselbständigter Exekutivbürokratie zu vermeiden. Denn immer noch bleibt dem Reichstag die Möglichkeit, präsidentielle Notverordnungen aufzuheben, und immer noch hat der Präsident zwar nicht im Rahmen des geltenden Verfassungsrechts, aber – wie sich doch gezeigt hat – faktisch die Möglichkeit, den Reichstag vor der Aufhebung der Notverordnungen aufzulösen. Um auch das zu verhindern, will Fränkel dem Reichspräsidenten das Recht geben, in Erweiterung des Artikels 73 der Reichsverfassung einen Volksentscheid darüber zu veranstalten, ob die Notverordnung gemäß dem Beschluss des Reichstags aufgehoben werden soll. Auch hier entfällt dann die Notwendigkeit für den Reichspräsidenten, den Reichstag aufzulösen, bevor noch dieser einen Beschluss 10 Über anderweitige Konstruktionen zur Einschränkung des Art. 54 vergleiche die Ausführungen des Verfassers in »Die Arbeit«, 1932, Heft 12. [Otto Kirchheimer: Die Verfassungsreform, in: Die Arbeit, Jg. 9, Heft 12, Berlin 1932, S. 730-742. In diesem Band S. 443-457.]
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über die Aufhebung der Notverordnungen gefasst hat; auch hier kann der Artikel 25 der Reichsverfassung dementsprechend geändert werden, dass, falls der Reichstag die Aufhebung einer Notverordnung begehrt, eine Reichstagsauflösung so lange nicht erfolgen kann, bis das Volksentscheidsverfahren zur Durchführung gelangt ist. Bei der Möglichkeit, durch Ausnutzung aller Fristen das Ergebnis des Volksentscheids zu verzögern, bliebe so der Bürokratie eine gewisse Zeit, die lang genug ist, um ihre in der Zwischenzeit in Gültigkeit bleibenden Notverordnungsmaßnahmen sich auswirken zu lassen. Kommt es aber dann zur Abstimmung, so ist das Schicksal der Demokratie ungewisser als jemals; denn die Verwerfung der Notverordnungen würde wieder auf den Weg des offenen Staatsstreichs drängen, den Fränkel gerade durch die Abschaffung der Letztinstanzlichkeit des Reichstagsvotums hier vermieden sehen will. So bedeuten die Fränkel‘schen Vorschläge zur Verfassungsänderung lediglich eine Legalisierung der gegenwärtigen Herrschaftsverteilung, wobei die Verfassung nur deshalb funktionieren kann, weil ihre demokratischen Parlamentsrechte als gegenwärtig nicht anwendbar mit einer Wiederauflebensklausel zur Disposition gestellt sind. Man wird deshalb schwerlich der Sozialdemokratie Verfassungskonservativismus vorwerfen können, wenn sie gegenüber Änderungsvorschlägen, die lediglich eine ihr ungünstige Herrschaftsverteilung sanktionieren wollen, an der Weimarer Ordnung festhält. Aber darüber hinaus muss und kann selbstverständlich diskutiert werden, ob es konkrete Möglichkeiten gibt, die Weimarer Normen so zu ändern, dass aus einem Bündel isolierter Rechte, die durch den gegenseitigen Antagonismus der Parteien untereinander und der Parteien mit der Bürokratie jedweder beteiligten Partei nur einen höchst geminderten, mehr zufälligen als berechenbaren Nutzen bringen, wieder eine sinnvolle Verfassungsordnung entsteht. Die Verfassungsreformpläne der verflossenen Reichsregierung haben, wie heute allgemein anerkannt wird, dafür keinerlei Grundlage geboten. Sie hätten auch niemals die verfassungsmäßige Zustimmung des Reichstags gefunden. Von dieser aber konnte die Reichsregierung niemand entbinden. Für die verfassungsmäßige Zulässigkeit eines Pairschubs durch präsidentielle Verordnung, wobei nach dem Vorschlag Walter Jellineks die Nichtwähler für eine Präsidialliste in Anspruch
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genommen werden sollten,11 hat sich keine Stimme erhoben. In der sozialistischen Literatur sind bisher verschiedene Einrichtungen als Gegenstände für eine erwünschte Verfassungsänderung bezeichnet worden. Heller und Simons12 haben den Gedanken eines Rechts des Reichspräsidenten, von sich aus durch Volksentscheid gegen das Parlament an das Volk zu appellieren, ebenso wie die Frage einer berufsständischen Vertretung und einer Wahl des Reichspräsidenten durch den Reichstag in die Debatte geworfen. Von anderer Seite wird uns die Wiedereinführung des Mehrheitswahlrechts als Ausweg aus unseren politischen Schwierigkeiten warm empfohlen. Freilich ist dieser Autor, der bekannte katholische Schriftsteller Hermens,13 so vorsichtig, die Heilwirkung dieser Wahlrechtsänderung davon abhängig zu machen, »daß eine gewisse Beruhigung eintritt«. Formulieren wir aber einmal diese Voraussetzung der »Beruhigung« positiv, so ist damit die prinzipielle Frage angeschnitten: Ist eine isolierte Verfassungsreform, auch wenn ihre Intentionen noch so richtig und billigenswert wären, sinnvoll? Liefern nicht gerade die verheißungsvollsten Artikel der Weimarer Verfassung, die Artikel 156 und 165 den Beweis dafür, dass ideologische Ansatzpunkte eines neuen Wirtschaftssystems zwar unendlich wertvoll sind, aber die Verfassung doch im Wesentlichen ein Monument der unausgeglichenen sozialen Spannungen bleibt, wenn ihr die soziale Wirklichkeit die Ansatzpunkte zu ihrer Umgestaltung verwehrt. Deshalb gilt es, sorgfältig abzuwägen, welche Verfassungsänderungen heute, ohne dass die von uns als dringlich empfundenen sozialen Umgestaltungen stattgefunden haben, die Demokratie in unserem Sinn auszugestalten vermögen. Die Zahl der Normen, die durch eine bloße Änderung der politischen Mechanik solche Vorteile bringen könnten, ist nicht allzu groß. Als Hauptproblem bleibt hier die Wahlrechtsreform. Hier scheint bisher die Ansicht, dass das Proportionalwahlrecht das dem Zeitalter der Massen11 Jellinek: »Reich und Länder«, Band 6, S. 270 ff. Kritisch siehe dazu Leibholz in »Reichsverwaltungsblatt«, Bd. 47, S. 930. [Walter Jellinek: Verfassungsreform im Rahmen der Möglichkeiten, in: Reich und Länder, Jg. 6, Heft 11; Gerhard Leibholz: Die Wahlreform im Rahmen der Verfassungsreform, in: Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt, Band 53, Berlin 1932, S. 927-930.] 12 »Neue Blätter für den Sozialismus«, November 1932. [Hermann Heller: Ziele und Grenzen einer deutschen Verfassungsreform, in: Neue Blätter für den Sozialismus, Jg. 3, Heft 11, Potsdam 1932, S. 576-580; Hans Simons: Verfassungsreform? Wie soll sie aussehen?, in: Neue Blätter für den Sozialismus, Jg. 3, Heft 11, Potsdam 1932, S. 580-588.] 13 Hermens: Wahlrecht und Verfassungskrise, »Hochland«, November 1932, S. 110. [Ferdinand Aloys Hermens: Wahlrecht und Verfassungskrise, in: Hochland, Jg. 30, Heft 2, Kempten 1932.]
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demokratie zugehörige Wahlrecht sei, noch nicht widerlegt, und es muss bis auf weiteres noch als offene Frage gelten, ob an den sozialen Klassen- und Schichtungsverhältnissen Deutschlands durch ein geändertes Wahlrecht solche Umordnungen entstehen könnten, dass die Schwierigkeiten der Regierungsbildung dadurch irgendwie gemildert würden. Es scheint, dass man, ohne die Argumente zu übersehen, die zum Beispiel in unseren Reihen Austerlitz gegen das deutsche Wahlverfahren erhoben hat, vielfach die Wirkungen solcher staatsrechtlichen Eingriffe überschätzt. Was nun die weiteren auch in sozialistischen Reihen erörterten Vorschläge zur Verfassungsänderung betrifft, so muss in erster Linie geprüft werden, welche Wirkungen diese Vorschläge, wenn sie Verfassungsbestandteile werden sollten, in der konkreten Situation, in der wir uns heute befinden, auslösen würden. Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass die deutsche Arbeiterklasse heute nicht nur mit dem in sich nicht stabilisierten Organisationsgebilde der Nationalsozialistischen Partei zu rechnen hat, sondern dass von mindestens derselben Bedeutsamkeit die steigende Tendenz zur Verselbständigung des bürokratischen Staats- und Heeresapparats ist. Man würde die Aktion des 20. Juli unterschätzen, wenn man in ihr nur den Willen zur Abschüttelung der Sozialdemokratischen Partei und nicht auch den Willen zum Ausbau einer selbständigen bürokratischen Macht zur Sicherung gegen die Nationalsozialisten erblicken würde. Die Ausschaltung der SPD, die erfolgreiche Gegenwehr gegen die Nationalsozialisten bedeuten einen gewaltigen Schritt vorwärts in dem Verselbständigungsprozess des Staatsapparats, der nun seinerseits die einzelnen Bevölkerungsgruppen an sich binden und nach Bedarf gegeneinander ausspielen will. Dabei ist die Einheitlichkeit der Bürokratie gewachsen. Hatten früher die Gerichte versucht, durch Betonung ihrer rechtsstaatlichen Kontrollbefugnisse, sich einen selbständigen, sowohl von der Verwaltungsbürokratie als auch von der Legislative unabhängigen Einfluss zu sichern, so hat sich das in der letzten Zeit geändert. Durch die Zuteilung eines weitgehenden Ermessensspielraums an die Justiz auf dem heute besonders wichtigen Gebiete des Liegenschaftszwangsvollstreckungsrechts ebenso wie durch den Abbau der rechtsstaatlichen Garantien im Strafrecht – beides Folgen der Notverordnungspraxis – sind Justiz und Verwaltung im Aufgabenkreis wie in der gemeinschaftlichen Einschätzung ihrer Funktionen im Staatsganzen einander erheblich nähergekommen. Die Feststellung, dass ein »verringerter Druck der parlamentarischen Gewalten auf die Regierungsgewalt für das freundnachbarliche Verhältnis zwischen Regierungsgewalt und Rechtspre-
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chung und für die Achtung der gegenseitigen Grenzen erforderlich ist«,14 drückt allzu bescheiden die wachsende Vereinheitlichung und Zusammenfassung der bürokratischen Staatsmacht aus. Auf ideologischem Gebiet spiegelt sich dieser Prozess in den theoretischen Versuchen wider, das Beamtentum als unmittelbaren selbständigen Träger der Nation hinzustellen, dessen politische, aber natürlich nicht parteipolitische Haltung ihm eine höhere Rangstufe als den politischen Parteien verschafft.15 Wie schwach diese ideologische Stellung freilich ist, zeigt sich in dem ebenso krampfhaften wie vergeblichen Bemühen, den Begriff des Hoheitsbeamten von dem Zufallsbeamten der Wirtschaftsverwaltung abzugrenzen. Mit dieser Macht, deren für die Entwicklung eines demokratischen Sozialismus gefährliche Rolle heute klar zutage tritt, müssen auch die Verfassungsreformpläne rechnen. Es ist nicht sinnvoll, heute Institutionen zu empfehlen, die im gegenwärtigen Augenblick die Vormachtstellung dieser Bürokratie nur zu unterbauen imstande sind, wie dies etwa dann der Fall ist, wenn man dem Reichspräsidenten die Befugnis, einen selbständigen Volksentscheid gegen das Parlament durchzuführen, geben will. Was in einer sozialistischen Staatsordnung mindestens theoretisch sinnvoll ist, da hier zwei nicht vorwiegend von divergierenden Interessen beseelte Körperschaften die Entscheidung des Volkes anrufen, sondern tatsächlich um die sachliche Richtigkeit einer Maßnahme gekämpft würde, bedeutet im heutigen Staat eine durch nichts gerechtfertigte Machtsteigerung der selbständigen Bürokratie. Man liefert ihr damit die Ansatzpunkte zu einer plebiszitären Diktatur, die ja nach bekannten geschichtlichen Erfahrungen am Volksentscheid nur so weit Interesse hat, als sie dadurch ihre usurpierte Machtstellung sich vom Volk nachträglich legitimieren lässt. Die Frage der Ersetzung der Volkswahl des Präsidenten durch eine Vertretungskörperschaft, quasi als Gegengewicht gegen die durch die Verleihung eines selbständigen Rechts zum Volksentscheid vermehrte Unabhän14 Gebhard: »Der Vorrang der Regierungsgewalt« in »Zeitschrift für Politik«, November 1932. [Ludwig Gebhard: Der Vorrang der Regierungsgewalt, in: Zeitschrift für Politik, Jg. 22, Köln 1933, S. 497-509.] 15 Diese Tendenzen treten klar hervor in dem Referat Köttgens über die 8. Tagung der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer, »Archiv für öffentliches Recht«, Neue Folge 21. Band, 3. Heft. Über die Rolle des Beamtentums, insbesondere über die Versuche, seine Institutionalisierung in den althergebrachten Formen 1918 zu verhindern, vergleiche die aufschlussreichen Bemerkungen bei Holborn, »Historische Zeitschrift«, Bd. 147, Heft 1. [Arnold Köttgens: Die achte Tagung der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 21, Tübingen 1932, S. 404-431; Hajo Holborn: Verfassung und Verwaltung der deutschen Republik, in: Historische Zeitschrift, Band 147, Heft 1, München/ Berlin 1933, S. 115-128.]
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gigkeit der Exekutive, dürfte keine allzu große Bedeutung besitzen. Hat eine Bürokratie in einem klassengespaltenen Land wie Deutschland eine so starke Möglichkeit zur Verselbständigung, so wird ihr theoretisches Rüstzeug durch die Berufung auf die zugleich »plebiszitäre und autoritäre Rolle des Reichspräsidenten« (Carl Schmitt)16 zwar gestärkt, praktisch aber wird in einer solchen Situation auch ein von einer Vertretungskörperschaft gewählter Präsident auf die Dauer den Verselbständigungstendenzen der Bürokratie keinen entscheidenden Widerstand entgegensetzen. Die deutsche Nachkriegsgeschichte kennt genugsam Beispiele von Politikern, die, Minister geworden, als Chefs ihrer Verwaltung, obwohl sie doch mehr unmittelbare Verbindung zu Parlament und Partei bildeten als der Reichspräsident, lediglich das parlamentarische Vertretungsorgan ihrer jeweiligen Bürokratie geworden sind. Die Einsetzung berufsständischer Körperschaften wird bekanntlich auch in Sozialistischen Reihen verschieden beurteilt. Zu der Frage ob für eine sozialistische Demokratie solche Körperschaften sinnvoll sind, soll hier nicht Stellung genommen werden;17 hier ist lediglich zu fragen: Können der Sache einer sozialistischen Demokratie unter den konkreten deutschen Verhältnissen durch die Einführung einer solchen Körperschaft Vorteile erwachsen? Es scheint utopisch zu glauben, dass dort, wo politische, also der Intention nach doch immer auf das Ganze gerichtete Parteien kaum einen Ausgleich finden können, eine Zusammensetzung berufsständischer Interessenvertreter, die keine andere Aufgabe haben können, als jeweils das Maximum des für ihre Gruppe Erreichbaren zu erkämpfen, hier entscheidenden Wandel schaffen könnten. Dazu kommt noch, dass, selbst wenn man den Arbeitnehmern den Einfluss sichert, auf den sie ihrer Organisationsstärke nach Anspruch erheben können,18 lediglich der Status quo unserer heutigen Wirtschaftsverfassung sich dort widerspiegeln kann. Hieran dürfte die organisierte Arbeitnehmerschaft am allerwenigsten ein Interesse haben. Die Sozialdemokratie wird daher von einer Verfassungsreform, die sich im Rahmen der gegenwärtigen Machtvertretung vollzieht, nicht viel zu erwarten haben. 16 [Vergleiche: Carl Schmitt: Der Hüter der Verfassung, 3. Auflage, Tübingen 1931, S. 156-159.] 17 Carl Landauer: Planwirtschaft und Verkehrswirtschaft,[ München/Leipzig] 1931, S. 148 ff. 18 Vergleiche die dahin zielenden Erörterungen bei Simons in »Neue Blätter für den Sozialismus«, 1932, S. 585. [Hans Simons: Verfassungsreform? Wie soll sie aussehen?, in: Neue Blätter für den Sozialismus, Jg. 3, Heft 11, Potsdam 1932.]
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Der programmatischen Forderung, dass wir in den neuen politischen Kampf mit einem Gesamtprogramm des Staats- und Wirtschaftsumbaus eintreten müssten (Simons), wird man der Tendenz nach jedoch durchaus zustimmen können. Nur wird man dabei nicht vergessen dürfen, dass das Bild eines zukünftigen sozialistischen Staatsaufbaus nicht heute schon die konkreten Formen wird annehmen können wie ein sozialistisches Wirtschaftsprogramm. Dass eine sozialistische Verfassung die Herrschaft der Gesamtheit über die Wirtschaft, die Vertretung der Arbeiter und Angestellten in der Leitung ihrer Betriebe, die Ersetzung der höheren Bürokratie durch verantwortliche Funktionäre der breiten Bevölkerungsschichten, für die Zukunft gesichert durch die Vernichtung des bürgerlichen Bildungsmonopols, mit der Erhaltung der persönlichen Freiheit des Individuums verbinden muss, steht außer Streit. Dieses, unser Programm des demokratischen Sozialismus sollen und wollen wir überall verkünden. Aber die Erfahrungen aller großen Revolutionen haben uns gelehrt, dass, wie unwandelbar auch heute schon diese große Linie einer zukünftigen Staatsgestaltung feststeht, es ein unmögliches Unterfangen darstellen würde, die konkrete Ausgestaltung der sozialistischen Staatsführung heute schon programmatisch feststellen zu wollen. Hängt doch jegliche konkrete Staatsgestaltung entscheidend davon ab, unter welchen außen- und innenpolitischen Umständen solche Umformungsprozesse sich vollziehen. Bisher war die Überzeugung vorherrschend, dass eine kontinuierliche Entwicklung unserer politischen Institutionen in dem weiten Rahmen der Weimarer Verfassung möglich sei. Die Geschwindigkeit des bürgerlichen Zerfallsprozesses hat in unserer gegenwärtigen Krisensituation das Werk von Weimar erschüttert. Denn wir müssen feststellen, dass das wirkliche Legalitätsinteresse großer politischer Schichten sehr Not gelitten hat. Da die soziale Entwicklungstendenz sich in der letzten Zeit zu deutlich nach der sozialistischen Richtung hin abgezeichnet hat, glaubten manche soziale Gruppen, die geordnete Rückzugsstellung, die ihnen die Weimarer Verfassung gewährt, verlassen und die Möglichkeit zu einer letzten Offensive nicht verstreichen lassen zu dürfen. Es wäre falsch zu verkennen, dass die konkrete Verfassungsentwicklung nur das Produkt eines solchen Kampfes sein kann. Denn letztlich sind nicht die Revolutionen Geschöpfe der Verfassung, sondern die Verfassungen meistens das Denkmal einer gelungenen Revolution.
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[36.] [Rezension:] Adolf Grabowsky: Politik* [1933] Dr. Adolf Grabowsky. »Politik.« Industrieverlag Spaeth & Linde. [Wien] 1932. 342 S. Der Bereich dessen, was man herkömmlich »Politik« nennt, wird von der Wissenschaft in einer Vielzahl von Disziplinen behandelt; Geschichte und Staatslehre, Wirtschaftspolitik und Soziologie – um hier nur die wichtigsten Sachgebiete zu nennen – vermitteln Erkenntnisse, die für den Politiker die Grundlage seines Handelns abgeben können. Ist es deshalb zweckmäßig, in einer Zeit, in der die Fülle neu andrängenden Tatsachenstoffes allen Wissenschaftszweigen fast allzu viel Rohmaterial zuführt, eine gesonderte »Politikwissenschaft« aufzustellen? Über diese methodische Frage kann man umso mehr geteilter Meinung sein, als man hört, dass die Aufgabe dieser Wissenschaft nicht über das Sachgebiet der bisherigen Disziplinen hinausgehen soll, sondern nur ihre Zusammenfassung für einen unmittelbar praktischen Zweck darstellt, nämlich den: Gestaltungsprinzip zu sein für die Bildung der Führerschicht. Man kann diese methodischen Zweifel nicht mit dem Hinweis auf die Tatsache zum Schweigen bringen, dass es Hochschulen und Zeitschriften für Politik gibt. Dies sind sicherlich sehr verdienstvolle und notwendige Institutionen; aber sie erfordern keine neue Wissenschaft, sondern beschäftigen sich mit ausgewählten Stücken aus den verschiedenartigsten Wissenschaftsdisziplinen. Hierbei kommt sicher der in Deutschland lange Zeit nicht genügend gewürdigten deskriptiven Erfassung außenpolitischer wie auch allgemein staatspolitischer Vorgänge eine große Bedeutung zu. Schon das Auswahlprinzip der behandelten Gegenstände lässt sich aber nicht einmal allgemein als politisch definieren, da der Charakter des Politischen sich bekanntlich einer eindeutigen Feststellung entzieht und in verschiedenen Ländern hierüber recht verschiedene Meinungen bestehen. Auch das vorliegende Werk konnte bei dem Charakter dieser »Wissenschaft« eine gewisse Willkür in der Auswahl der behandelten Sachge* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Politik, Jg. 10, Heft 2, Berlin 1933, S. 173-175. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 111.]
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biete nicht vermeiden. Es bietet sich deshalb auf weiten Strecken das Bild einer bunten Fülle der behandelten Sachgebiete, die untereinander nur in losem Zusammenhang stehen. Bei der unerschöpflichen Zahl der behandelten Objekte kann so eine große Anzahl interessierender und geistreicher Fragen aufgeworfen werden, ohne dass es auch nur möglich wäre, den Objektzusammenhang der einzelnen Sachgebiete ausreichend zu klären. Der Verfasser meint, dass die »Politikwissenschaft« mehr sein solle als Kontemplation, nämlich »Aufruf zur Tat«. Er betont deshalb durchweg den dynamischen Charakter dieser Wissenschaft. Im Gefolge dieser Anschauung wird die Festlegung auf eine bestimmte wissenschaftliche Methodik abgelehnt. Dafür wird versucht, durch Einbeziehung jeder weltanschaulichen, politischen und sozialen Problematik ein möglichst seinsadäquates Bild zu liefern. Ob aber auch durch den Methodensynkretismus, der durch dieses Vorgehen in einem gewissen Maße bedingt ist, bei aller erfreulichen Offenheit gegenüber jeglicher Zeitproblematik das vom Verfasser erstrebte »Führungswissen« erreichbar ist, bleibt fraglich. Allen Erfahrungen zufolge war es stets die Geschlossenheit von Welt- und Lebensanschauung auf allen dem jeweiligen Autor zugänglichen Gebieten der Erfahrung, die immer im höchsten und besten Sinne »bildend« gewirkt hat. Gerade die Schriften des vom Verfasser so herb kritisierten Jakob Burckhardt mit seinem durchgehenden kontemplativen Idealismus, der »Kontemplation als Freiheit im Bewußtsein der Gebundenheit«, ist eine nicht zu unterschätzende Quelle politischer Bildung, deren Bedeutung im heutigen Deutschland noch immer im Anwachsen begriffen scheint. Was nun die einzelnen behandelten Sachgebiete angeht, so kann hier nur auf einen kleinen Teil der fast alle geisteswissenschaftlichen Gebiete berührenden Ausführungen eingegangen werden. Der erste Teil, zusammenfassend die »theoretische Politik« genannt, bringt eine Auseinandersetzung mit den Hauptströmungen der modernen Staatslehre. Aus der besonderen Situation dieser dynamischen »Politikwissenschaft« heraus muss unter Ablehnung der reinen Rechtslehre eine organizistische Staatstheorie vertreten werden, die aber offensichtlich nur den Unterbau für die theoretische Behandlung der dem Verfasser am meisten am Herzen liegenden außenpolitischen Probleme liefert. Hier versucht der Verfasser, Staatstypen je nach ihrer mehr außen- oder innenpolitischen Einstellung herauszuarbeiten. Dabei wird die Problematik der klassengespaltenen Gesellschaft, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in unserer Zeit, keineswegs übersehen. Die vielgebrauchten Wendungen von Pluralismus und Polykratie werden mit vollem Recht auf die dualistische Sozialgrundlage unseres Staates zurück-
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geführt. Aber diese ganze Problematik tritt für Grabowsky doch hinter dem Gedanken des Staates als außenpolitischer Einheit zurück. Gerade bei der Behandlung Sowjetrusslands und Italiens wird der Gesichtspunkt der angeblichen Überwindung dieses Dualismus scharf hervorgekehrt. Im Zusammenhang mit dieser betont außenpolitischen Sicht steht wohl eine gewisse Überschätzung aller intellektuellen Faktoren. Insbesondere lässt das Kapitel über Religion, Fiktionen und Mythen eine Auseinandersetzung oder auch nur Erwähnung des Mannheim‘schen Buches über »Ideologie und Utopie«1 vermissen, die zu einer generellen Klärung des für den Verfasser so wichtigen Führungsproblems sowie der Problematik der intellektuellen Elite sehr nützlich gewesen wäre. Die betont außenpolitische Einheitsvorstellung kehrt besonders deutlich im zweiten Teil »Weltpolitik« wieder. Auf eine sozialgeschichtliche Darstellung der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung folgt ein Deutungsversuch des Imperialismus, für den der Verfasser ein Dreistadiengesetz bereithält, das vom Feudal- über den Kommerzial- zu einem durchaus nicht negativ wertbetonten Sozialimperialismus führt. Dieses Kapitel, das zu den interessantesten und geistreichsten des ganzen Buches zählt, beruht nicht auf einer Analyse ökonomischer Faktoren, sondern auf einer rein subjektiven Sinndeutung des geschichtlichen Geschehens. Umso mehr scheint der Verfasser gerade an dieser Stelle bemüht, einen notwendigen Entwicklungszusammenhang aufzuzeigen. Die folgenden Kapitel über die deutsche Politik enthalten eine vorurteilsfreie Studie über die Sozialstruktur des Vor- und Nachkriegsdeutschlands. Hieran schließen sich höchst problematische Erörterungen über die Frage einer Zentralpartei und die Führerelite in einer »nicht vulgärdemokratischen Demokratie« an. Wie in dem ganzen Buch, so werden speziell in diesem Kapitel die innerpolitischen Probleme vom Einheitsdrang der nationalen Außenpolitik überschattet. Nur von diesem Standpunkt aus ist die Weitherzigkeit der Bewertung verständlich, die für Demokratie, bündische Gemeinschaft und den »großen Heilbringer« im Grunde gleich offen ist. Es ist ersichtlich, dass das Verhältnis von innerstaatlicher Struktur und Außenpolitik, obwohl gerade hier eines der Hauptinteressengebiete des Verfassers liegt, durch die Überbetonung eines Faktors nicht gelöst werden kann. Die Position Stresemanns wird gut und keineswegs zu scharf im Gesamtbild des verflossenen Jahrzehnts gezeichnet. Die Möglichkeiten der deutschen Außenpolitik, als deren ständiger und aufmerksamer Beob1 [Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, Bonn 1929.]
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achter der Verfasser längst bekannt ist, sind sorgfältig abgewogen, wobei besonders die Warnung vor einer Überschätzung der italienischen Freundschaft ins Auge fällt. Nur ungern sieht man in diesem außenpolitischen Rahmen eine eigenartige Behandlung des Kolonialproblems. Obwohl der Verfasser klar sieht und betont, dass eine Rückgabe sowohl der asiatischen als auch der Südseekolonien und auch der Gebiete Deutsch-Ostafrikas und Deutsch-Südwestafrikas aus politischen Gründen nicht in Betracht kommen kann, wertet er die Möglichkeit, eventuell Teile von Kamerun oder Togo zurückzuerlangen, positiv. Dabei ist der Verfasser so ehrlich, die Unmöglichkeit von Massensiedlungen dort zuzugeben und kommt in Verfolg der »seelischen Behandlung« des Kolonialproblems auf den Gedanken, dort die überschüssige Intelligenz unterzubringen. Wie man auch zum Kolonialproblem stehen mag, man sieht an diesem Beispiel, dass es selbst einem hervorragenden außenpolitischen Schriftsteller manchmal schwer fällt, offizielle außenpolitische deutsche Thesen mit rationalen Erwägungen zu begründen. Hingewiesen sei noch auf das interessante Bild der angelsächsischen Weltmächte, das der Verfasser am Schluss des Buches entwirft und das ein gelungenes Gegenstück zu dem im Handwörterbuch der Soziologie vom Verfasser gegebenen Russlandbild2 darstellt
2 [Adolf Grabowsky: Bolschewismus, in: Alfred Vierkandt (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 81-90.]
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[37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats* [1933] In einer Zeit, in der das Bekenntnis zu dem Marxismus als Zeichen nationaler und menschlicher Minderwertigkeit angesehen wird, übernimmt die öffentliche Diskussion in weitem Maße den Begriff der Diktatur, der seine entscheidende Prägung im marxistischen Denken empfangen hat. Der Begriff der »Diktatur des Proletariats« im Marxismus bezeichnet einen bestimmten Punkt der gesamten Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse. Die proletarische Diktatur stellt nur die äußere Sichtbarmachung und endgültige Durchsetzung eines unter der Decke der bisherigen Verhältnisse schon vollendeten Prozesses dar.1 Bei einer solchen Fassung des Marx‘schen Diktaturbegriffs wird das Schwergewicht mit Recht von einer formalen Begriffsbestimmung hinweg zur Kennzeichnung eines bestimmten sozialen Entwicklungsstadiums verlegt. Diese Rolle der Diktatur im Aufbau der Marx‘schen Dialektik2 und die spezifische Stellung der Arbeiterklasse in ihr ergibt sich unmissverständlich aus jener Schrift von Karl Marx, die die Frage der Diktatur des Proletariats am konkretesten angefasst und durch eine manchmal ungenügende Berücksichtigung ihres besonderen Zwecks zu weittragenden Missverständnissen Anlass gegeben hat. In der Adresse des Generalrats über den Bürgerkrieg in Frankreich wird darauf hingewiesen, dass die Arbeiterklasse kein Wunder von der Kommune verlangte, dass sie nur, um ihre eigene Befreiung und mit ihr jene höhere Lebensform herauszuarbeiten, der die gegenwärtige Gesellschaft durch ihre eigene ökonomische Entwicklung unwiderstehlich entgegenstrebt, lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen habe, durch die die Menschen wie die Umstände gänzlich umge* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Politik, Jg. 10, Heft 3, S. 230-239. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 106-108. ] 1 Vergleiche die Erörterung über den Begriff der Diktatur des Proletariats, die [Ernst] Troeltsch in »Der Historismus und seine Probleme« anstellt. [Tübingen] 1922, S. 333. 2 Dass der Marx‘sche Diktaturbegriff keineswegs formaljuristisch zu erfassen sei, wird von [Arcadius Rudolf Lang] Gurland in seiner Polemik gegen Otto Bauer und Max Adler »Marxismus und Diktatur«, Leipzig 1930, S. 66 ff betont.
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wandelt würden. Das dem Begriff eigene mit der Marx‘schen Gesamtkonzeption in engstem Zusammenhang stehende Moment ist damit die notwendige Verknüpfung der Aktion des Proletariats mit einem bestimmten ökonomischen Reifezustand der Gesellschaft. Beides ist untrennbar und bedingt sich gegenseitig. Darüber hinaus ergab sich für Marx die Vorstellung der Diktatur aus dem Sprachgebrauch seiner Zeit, der von ihm schon im Kommunistischen Manifest aufgenommen und insbesondere in den historisch-politischen Schriften, in denen er sich mit den französischen Verhältnissen beschäftigte, verwendet wurde. Diktatur bedeutet hier das rein tatsächliche Moment der Herrschaft einer Klasse oder einer Gruppe über die andere, unabhängig wiederum von den Rechtsformen, in denen sich diese Herrschaft vollzieht. Diese letztere Bedeutung des Wortes Diktatur kommt vorzüglich in der Einleitung zum Ausdruck, die Paul Levi zu Rosa Luxemburgs nachgelassenen Bemerkungen über die russische Revolution geschrieben hat. Dort heißt es: »Diktatur des Proletariats, jetzt können wir sehen, was sie ist. Sie ist kein Zustand, der in den breiten Regionen der Sozialphilosophie sich abspielt, sie ist keine patentierte Staatsform, die eine geheime Kraft in sich birgt. Sie ist die eroberte Staatsgewalt dann und so lange, als der Wille, die Kraft, die Begeisterung, die Siegeszuversicht der proletarischen Klasse hinter ihr steht.«3
Der Auffassung der Diktatur bei Marx ist jedoch im Widerstreit der Interessen und Meinungen innerhalb der Arbeiterparteien der Welt immer viel weniger Beachtung geschenkt worden als dem Fragenkomplex, der sich mit dem Verhältnis von Demokratie und Diktatur im formalpolitischen Sinne, mit der Möglichkeit der Demokratie als Rechtsform, in der sich die proletarische Diktatur vollzieht, beschäftigt. Hierbei hat man auf die Engels‘sche Formulierung der Demokratie als der spezifischen Form der Diktatur des Proletariats sehr oft Bezug genommen, ohne dass freilich immer mit erwähnt wurde, dass Engels an dieser Stelle der Kritik des Erfurter Programmentwurfs in erster Linie den Begriff Demokratie als antithetischen Gegensatz zur halbfeudalen Militärmonarchie in Deutschland im Auge hatte. An keiner Stelle der MarxEngels‘schen Erörterungen findet sich aber ein Hinweis darauf, dass die Staatsform der Demokratie mit den für sie typischen Einrichtungen im Prozess der dialektischen Zuspitzung der Entwicklung zur Diktatur des Proletariats eine notwendige Vorform der proletarischen Diktatur 3 Rosa Luxemburg, »Die russische Revolution«. Eine kritische Würdigung. Herausgegeben und eingeleitet von Paul Levi. Berlin 1922. S. 59.
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gebildet hätte. Marx geht seit dem Kommunistischen Manifest ständig von der Tatsache aus, dass die Herrschaft des Proletariats die Herrschaft der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl bilden müsse. Daraus ergibt sich, dass dort, wo eine historisch meist unter entscheidender Mitwirkung des Proletariats erkämpfte Demokratie besteht, eine maximale Chance für die friedliche Umwandlung des bürgerlichen in einen proletarischen Staat gegeben ist. Diese Chance ist von Land zu Land, je nach der ökonomisch-politischen Situation verschieden und ist zu verschiedenen Zeiten und für verschiedene Länder von Marx und Engels unterschiedlich gewertet worden. Sicher ist für Marx lediglich, dass die Demokratie des 19. Jahrhunderts die typisch letzte Staatsform ist, das heißt die, die nach ihren Entstehungsbedingungen – sowohl was die politisch bereits erreichte Organisation des Proletariats, als auch die ökonomische Reife der Gesellschaft anlangt – eine solche Form der bürgerlichen Gesellschaft darstellt, in der der Klassenkampf – wie Marx in der Kritik des Gothaer Programmentwurfs bemerkt – definitiv ausgefochten werden muss. Über die Möglichkeit, diese Umwandlung innerhalb einer bestehenden Demokratie friedlich durchzuführen, haben selbstverständlich auch Marx und Engels nur Vermutungen aufstellen können. Auch die bekannte Engels‘sche Einleitung zu Marx’ »Klassenkämpfen in Frankreich« enthält auch bei Zugrundelegung des vollständigen Engels‘schen Textes, nur Betrachtungen über die mögliche Entwicklung, die an konkrete Erfahrungen der letzten Lebensepoche Engels’ anknüpfen. Hierbei ist selbstverständlich, dass das Proletariat als Vertreter des Entwicklungsinteresses der Gesamtgesellschaft an einer Gestalt des Übergangs interessiert ist, die die Konflikte auf ein Minimum herabdrückt; ein Gedanke, den Marx einmal in die Form kleidet, es wäre schön, wenn man die Landlords aufkaufen könnte. Nicht nur die Frage nach der Form des Übergangs von der bürgerlichdemokratischen Republik zur Diktatur des Proletariats bleibt eine dem konkreten historischen Ablauf überlassene Frage. Die Erscheinungen, die wir gemeinhin unter dem Schlagwort Faschismus zusammenfassen, lassen es überhaupt fraglich erscheinen, inwieweit zunächst für rückständigere Verhältnisse noch der bürgerlich-parlamentarisch-demokratische Staat mit einem gewissen Anspruch auf Allgemeingültigkeit als die der Diktatur des Proletariats vorhergehende Staatsform angesehen werden kann und ob die Übergangsepoche vom Kapitalismus zum
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Sozialismus die Demokratie überhaupt als eine Konstante aufweisen wird. Jede marxistische Analyse enthält Aussagen über die Rolle des Mittelstands sowohl als auch des Lumpenproletariats im Prozess der Revolution. Schon im Kommunistischen Manifest haben Marx und Engels auf die Möglichkeit der Wahl, die der Mittelstand im politischen Prozess hat, hingewiesen. Mit einer fast prophetischen Gabe wird dort erkannt, dass das Lumpenproletariat als passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, einmal durch die proletarische Revolution in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach dazu bereit sein wird, sich zu reaktionären Umtrieben kaufen zu lassen. Auch in den »Klassenkämpfen in Frankreich« und im »18. Brumaire des Louis Napoléon Bonaparte« wird die gesellschaftliche und die politische Rolle jener Schichten eingehend beleuchtet und ihnen im Ablauf der politischen Geschehnisse der ihnen gebührende Raum angewiesen. So sehr also der Historiker Marx den Anteil jener Schichten in Rechnung stellt – in der Gesamtkonzeption der dialektischen Entwicklung erhalten sie keinen selbständigen Platz; sei es, dass sie im geschichtlich entscheidenden Moment, wie dies Marx in der »Adresse des Generalrats über den Bürgerkrieg in Frankreich« für das Pariser Kleinbürgertum feststellt, sich der Klasse unterordnen, die als einzige noch einer gesellschaftlichen Initiative fähig ist; sei es deshalb, weil die Gestalten der Verwirklichung bei Marx überhaupt nur nebenbei und skizzenhaft, meist mit polemischer Absicht erscheinen, wie dies etwa in der Gothaer Programmkritik von 1875 zum Ausdruck kommt. Hier stehen von der Realität immer wieder erneut aufgegebene Fragen im Vordergrund, die auch Marx nur jeweils von den konkreten Ansatzpunkten, die ihm seine Zeit bot, beantworten konnte und wollte. Hier weiter zu gehen, wäre ihm als utopische Phantastik erschienen; denn bekanntlich übernahm er es keinesfalls, die politischen Formen der Zukunft zu entdecken. Heute ist jedoch nicht nur eine objektive Verschärfung der Klassengegensätze zu beobachten. Es bilden sich vielmehr selbständige bewaffnete politische Privatarmeen, die nicht primär als Partei, sondern als bewaffnete Kampftruppe entstehen. Sie stoßen zu dem ausschließlichen Zweck politischer Machtgewinnung zu bestimmten sozialen Gruppen hinzu, um mit ihrer Hilfe und Unterstützung die Staatsmacht in ihren ausschließlichen Besitz zu nehmen. Die Tendenz ihrer Führerschichten geht dabei zunehmend nicht auf soziale Veränderung; vielmehr geschieht die Unterstützung bestimmter sozialer Gruppen lediglich mit
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der Berechnung, dadurch ihre politische Herrschaft zwecks der Ausbeutung des staatlichen Machtapparates zu stabilisieren. Damit ist aber der Mechanismus der parlamentarischen Demokratie, der auf der Balancierung sozialer Kräfte unter Berücksichtigung ihrer Veränderungen durch die jeweiligen Wahlentscheidungen beruht, zerstört. Nunmehr vollzieht sich die politische Entscheidung nicht nur außerhalb des Parlaments, wie dies durch selbständige Vereinbarung der sozialen Gegenspieler unter entscheidender Mitwirkung der Bürokratie an sich möglich wäre; sie enthält überhaupt nicht mehr die Tendenz zur jeweiligen Ausgleichung der sozialen Kräfte, die offenbar heute kein anderes technisches Mittel zur Verfügung haben als das Parlament. Denn jene Gewalt, die jetzt nach der Herrschaft greift, kann aus ihrem eigensten Lebensinteresse heraus der Arbeiterschaft nicht mehr den Freiheitsraum gewähren, den diese zur Organisierung ihrer Kräfte gebraucht und den ihr auch ihr schärfster Gegenspieler, das Großbürgertum, aus eigener Kraft bisher niemals entziehen konnte. Der Faschismus hat hierin keine Wahl. Er muss diese Kräfte nach dem Gesetz, nach dem er angetreten, durch den schärfsten bürokratischen Zwangsapparat niederhalten. Damit ist aber für die Länder, die in der Perspektive der faschistischen Herrschaft stehen, der offene Antagonismus zwischen der sich hier durchsetzenden politischen Form und dem ökonomischen Reifegrad in den Fällen ausgebrochen, in denen jene Länder (wie Deutschland) sich nicht mehr im Stadium eines erst zu schaffenden, sondern eines bereits entfalteten Kapitalismus befinden.4 Die Möglichkeit eines doppelten Fortschritts, eines Schritthaltens der politischen mit der ökonomischen Entwicklung, wie er sich in der Vorstellung des Übergangs von einer inhaltlich von bürgerlichen zu einer inhaltlich von proletarischen Kräften beherrschten Demokratie ausdrückt, ist damit in Frage gestellt. Dort, wo eine bewaffnete Gewalt selbsttätig in die soziale Entwicklung eingreift und die erlangte Macht für und gegen gewisse soziale Schichten in die Waagschale wirft, wird dem Proletariat unter Umständen der demokratische Weg versperrt. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zeichnet sich dann die Konstellation ab, die das Linzer Parteiprogramm der deutsch-österreichischen Sozialdemokratie 4 Es sei hier auf den Aufsatz von [Franz] Borkenau »Zur Soziologie des Faschismus«, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 68, Heft 5, [ Tübingen 1932, S. 513-547] hingewiesen. Dort finden sich eingehende Erörterungen über das Verhältnis von Großbourgeoisie und Faschismus. Von der These aus, dass der echte Faschismus wie jede Diktatur ein Übergangszustand zur Schaffung des industriellen Kapitalismus ist, wird die Unvergleichbarkeit des deutschen Nationalsozialismus mit den Diktaturen der kapitalistisch nicht vollentwickelten Länder aufgewiesen.
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ausdrücklich als möglich vorsieht, dass die Arbeiterklasse die Staatsmacht nur noch in einem ihr aufgezwungenen Bürgerkrieg erobern kann. Damit aber verlegt sich das Schwergewicht der Diskussion von der Frage des demokratischen Übergangs, wie sie die Auseinandersetzung des letzten Jahrzehnts beherrschte, wiederum zur die Frage der proletarischen Diktatur. Der Ort der Auseinandersetzung zwischen west- und mitteleuropäischem Sozialismus und russischem Bolschewismus erleidet damit eine Verschiebung. Die Diskussion selbst wird sich aber umso intensiver gestalten müssen, als im Bolschewismus eine geschichtlich wirksam gewordene Ideologie sich vorfindet, bei der sowohl theoretische Aussagen wie praktische Erfahrungen zu berücksichtigen sein werden. Ihre theoretische Gestalt findet die Lehre von der Diktatur des Proletariats in Lenins »Staat und Revolution«. Diese Schrift stammt aus dem Sommer 1917, jener kurzen, aber geschichtlich entscheidenden Zeitspanne, die den Raum zwischen der bürgerlichen und der kommunistischen Revolution Russlands umfasst. Sie kann deshalb noch nichts von den praktischen Erfahrungen der zweiten russischen Revolution enthalten und ist gerade deshalb besonders interessant, weil in ihr die Lenin‘sche Konzeption des proletarischen Staates unabhängig von ihrer Realisierung in den russischen Verhältnissen sich ausprägt. Von ihr auszugehen ist auch deshalb gerechtfertigt, weil sie in der sowjetrussischen Literatur, übrigens nicht nur in ihr,5 bekanntlich als geradlinige Fortsetzung der Marx‘schen Lehre von der Diktatur des Proletariats immer wieder angesehen wird und in Russland der Ausgangspunkt der offiziellen Staatstheorie geworden ist. Ihre Eigenart liegt in dem antithetischen Verhältnis zwischen dem Element der Gewalt nach außen im sozialen Raum und dem Element der Herrschaftslosigkeit nach innen, das sich in der ganzen Beweisführung offenbart. Mit Wohlgefallen und besonderer Betonung zitiert Lenin den Engels‘schen Satz von der Revolution als der autoritärsten Sache, die es gibt, als einem Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung seinen Willen dem andern Teil durch Flinten, Bajonette und Kanonen aufzwingt. Und er überschüttet die parlamentarisch-demokratische Ideologie, die 5 Diese Neigung zur Identifizierung von Marx und Lenin kommt stark zum Ausdruck in einer beachtenswerten Darstellung der marxistischen Staatstheorie durch Shermann H. M. Chang: »The Marxian Theory of the State«, Philadelphia 1931. Interessanterweise betont sowohl [John Roger] Commons im Vorwort zu dieser Arbeit wie der chinesische Verfasser selbst die ungeheure Wichtigkeit der richtigen Erfassung der Marx‘schen Lehre für die konkreten chinesischen Verhältnisse.
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damals in West- und Mitteleuropa wie auch in den entsprechenden Parteien Russlands in Blüte stand, mit dem Hohn des Politikers, dem die Zeitgeschichte den Beweis des Gegenteils bündig geliefert zu haben scheint. Dabei erweist sich Lenin, den revolutionären französischen Traditionen folgend, als Anhänger des Zentralismus und bezeichnet den Hang zur föderativen Republik als »kleinbürgerliches Vorurteil«. Demgegenüber steht aber die Vorstellung, dass, wenn die Mehrheit des Volkes selbst die eigenen Bedrücker unterdrückt, hierfür eine besondere Gewalt nicht mehr nötig sei. Unter ständiger Bezugnahme auf die Marx‘sche Schilderung der Pariser Kommune von 1871 wird auf die notwendigen Veränderungen in der Struktur des Beamtentums durch Wählbarkeit und Absetzbarkeit, auf die generelle Gleichstellung der Beamten mit den Angestellten und Arbeitern und auf die unermessliche Bedeutung der Abschaffung des stehenden Heeres hingewiesen. Durch diese mit der Expropriation der Expropriateure zu verbindenden Maßnahmen wird nach der Anschauung Lenins selbst wieder der Zustand einer primitiven Demokratie, einer – wie er mit Hinblick auf die Interessen der Bauern sagt – »billigen Regierung« herbeigeführt. Diesen naiven Demokratismus sieht Lenin durch die Umwandlung vom Kapitalismus zum Sozialismus als realisierbar an. Diese »primitive Demokratie«, wie er sie selbst nennt, ist die einzige seinem theoretischen Horizont eigene Vorstellung von der Verwirklichung der proletarischen Demokratie. Er stellt an seine Kritiker ausdrücklich die Frage: »Wie anders soll denn sonst der Übergang zur Ausübung der staatlichen Funktionen durch die Mehrheit der Bevölkerung, durch das Volk selbst erfolgen?«6 Diese Primitivität der proletarischen Demokratie im Rahmen der Diktatur des Proletariats ist ihm nicht Übergangsmaßnahme für die Zeit der proletarischen Machteroberung; seine Ausführungen lassen vielmehr keinen Zweifel daran, dass er damit sofort mit einem dialektischen Sprung jenes Stadium erreicht zu haben glaubt, wo aus der Herrschaft über Personen Verwaltung der Sachen wird. Denn durch den geschilderten Wegfall jener Attribute des bürgerlichen Staates sollen die Staatsfunktionen auf ihre technischen, jedermann zugänglichen Bestandteile zurückgeführt werden. Es ist das ausdrücklich herangezogene Vorbild der Post als eines Apparates von höchster technischer Vollkommenheit, nach dem nunmehr alle Arbeitenden je nach den ihnen gemäßen Funktionen Verwaltung ausüben werden.
6 [Wladimir Iljitsch Lenin: Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, zweite unveränderte Auflage, Berlin 1919, S. 35.]
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In diese demokratische Schilderung des politischen Objekts der Revolution bringt nun die vorausgesetzte Struktur ihres Subjekts, der proletarischen Partei, eine gegensätzliche Note hinein. Denn in der Parteitheorie Lenins wird jeder Gedanke an unmittelbare Demokratie ausgeschlossen. Die bekannte Auffassung von der Notwendigkeit der konspirativen Natur einer hierarchischen Gruppe von Berufsrevolutionären, jener »mit der Organisation der klassenbewussten Arbeiter verbundenen Jakobiner«, beherrscht die Lenin‘sche Parteitheorie. Es ist die Lehre von der Notwendigkeit einer heteronomen Disziplin, die nicht auf einem vorhandenen Massenbewusstsein aufbaut. Es ist jene berühmte Lehre, die zur Spaltung der russischen Arbeiterbewegung mit all den schwerwiegenden Folgen, die uns heute die Geschichte zeigt, führte,7 wie sie Lenin aus den besonderen Erfordernissen des russischen Absolutismus ableitet. Gegen diese Lenin‘sche Parteitheorie hat Rosa Luxemburg, damit den Standpunkt des west- und mitteleuropäischen Proletariats aufgreifend, schon im Jahre 1904 Front gemacht. Die schroffe Abgrenzung des organisierten Kerns der Partei von dem ihn umgebenden revolutionären Milieu erschien ihr als Versuch der Übertragung Blanquistischer Organisationsprinzipien auf die sozialdemokratische Bewegung der Arbeitermassen.8 Ihr ist die Sozialdemokratie nicht mit der Organisation der Arbeiterklasse nur verbunden, sondern sie ist die eigene Bewegung der Arbeiterklasse. Mit großer Schärfe kritisiert Rosa Luxemburg die mechanische Übertragung der Prinzipien kapitalistischer Fabrikdisziplin auf die autonome Disziplin der Arbeiterklasse, wie sie bei Lenin übrigens nach der Revolution noch viel plastischeren Ausdruck gewinnt als in dem theoretischen Bekenntnis des Jahres 1902.9 Für Rosa Luxemburg gewinnt das Moment der Spontaneität einen alles überragenden Einfluss. Die Partei beschränkt sich hier auf die Zusammenfas7 Vergleiche Lenins Aufsatz »Was tun?«, der 1902 erschien und in dem Sammelband »Ausgewählte Werke« wieder abgedruckt worden ist. [Wladimir Iljitsch Lenin: Organisation der Arbeiter und Organisation der Revolutionäre (Aus: »Was tun?«, 1902), in: Ausgewählte Werke, Band 1, Der Kampf um die soziale Revolution, Berlin 1935, S. 64-79.] 8 Die Auseinandersetzung erschien in deutscher Sprache in der »Neuen Zeit«, 1904, Band 22, 2. [Rosa Luxemburg: Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, in: Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Band 2, Stuttgart 1904, S. 484-449 und S. 529-535.] Vergleiche dazu auch [Julius] Martows »Geschichte der russischen Sozialdemokratie«, Berlin 1926, S. 74 ff. 9 Vergleiche etwa Lenins Schrift über die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, 1918, wo von der widerspruchslosen Unterordnung der Massen unter den einheitlichen Willen der Leiter des Arbeitsprozesses gesprochen wird. [Wladimir Iljitsch Lenin: Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, Berlin 1918.]
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sung des Willens der Arbeiterschaft. Je höher der Grad der Spontaneität, desto vermeidbarer die doppelte Gefahr des Rückfalls in die Sekte und des Umfalls in die bürgerliche Reformbewegung. Man mag hier bei Rosa Luxemburg eine allzu geringe Bewertung des immer notwendigen Stücks hierarchischer Verselbständigung sehen. Die tiefe Kluft jedenfalls, die in der Frage des Organisationsstreits klafft, kehrt wieder in der Beurteilung des von Rosa Luxemburg noch miterlebten Teils der russischen Revolution. Der dialektische Sprung von dem Gewaltstaat der proletarischen Diktatur zur Primitivität der proletarischen Demokratie, wie ihn Lenin unter Berufung auf die Kommune10 theoretisch entwickelte, hat in der Wirk10 Wenn sich Lenin hier sehr oft auf die Erfahrungen der Kommune, wie sie Marx im »Bürgerkrieg« beifällig beschrieben hat, beruft, so muss doch darauf hingewiesen werden, dass seine Betrachtungsweise eine wesentliche Differenz gegenüber Marx aufweist und Lenin übrigens auch von seinen eigenen früheren Äußerungen über die Kommune hier abweicht. [Arthur] Rosenberg, »Geschichte des Bolschewismus«,[ Berlin] 1932, S. 25, hat neuerdings wieder mit Recht auf die wesentlichen Differenzen hingewiesen, die zwischen der Auffassung von Marx und der der Kommune bestanden. Wenn Marx sich nach der Niederlage der Kommune im Bürgerkrieg vor der Öffentlichkeit bedingungslos zu ihr bekannt hat (was bekanntlich briefliche Kritik nicht ausgeschlossen hat) und ihre einzelnen Taten für alle Zeiten dem Proletariat als leuchtendes Beispiel vorhielt, so besagt das nichts für sein Urteil über die Zweckmäßigkeit ihrer Handlungen und darüber, ob er einen Erfolg unter den gegebenen Bedingungen überhaupt für möglich gehalten hatte. Es liegt im »Bürgerkrieg in Frankreich« in erster Linie eine moralische Wertung, die unmittelbaren politischen Charakter durch die scharfe Abhebung jedes einzelnen Akts vom Horizont der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts, der Welt der Herren Thiers und Bismarck, erhält. In diesem Rahmen bewegen sich auch alle früheren Äußerungen Lenins über die Kommune, die übersichtlich in der Kleinen Lenin-Bibliothek, Band 5, unter dem Titel »Lenin: Über die Pariser Kommune« zusammengestellt sind. [Wladimir Iljitsch Lenin: Über die Pariser Kommune, in: Kleine Lenin Bibliothek, Band 5, Wien/Berlin 1931.] In einem Aufsatz aus dem Jahre 1911 [Wladimir Iljitsch Lenin: Dem Andenken der Kommune, in: Rabotschaja Gaseta, Nr. 4/5, 28. (15.) April 1911, St. Petersburg,] hat Lenin ausdrücklich auseinandergesetzt, aus welchen Gründen die Kommune nicht zu einer siegreichen sozialen Revolution werden konnte (a. a. O. A. 15 [Wladimir Iljitsch Lenin: Dem Andenken der Kommune, in: Wladimir Iljitsch Lenin: Über die Pariser Kommune, in: Kleine Lenin-Bibliothek, Band 5, Wien/Berlin 1931, S. 13-18]). Er weist dort auf die fehlenden beiden Bedingungen der notwendigen Entwicklungsstufe der Produktivkräfte und damit zusammenhängend, der Reife des Proletariats hin. Man kann aber selbst das heroischste geschichtliche Vorbild, dessen ungeheure moralische Bedeutung für den Emanzipationskampf des Proletariats man heute weniger denn je unterschätzen sollte, nur dann für die Fragen der proletarischen Staatsstruktur heranziehen, wenn man die strukturellen Unterschiede und die ungeheure Verschiebung der sozialen Grundlagen, die seit jener Zeit erfolgt sind, bei jedem konkreten Vergleichspunkt berücksichtigt. Hiervon nimmt Lenin in »Staat und Revolution« kaum Notiz.
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lichkeit Russlands keine Bestätigung gefunden. Für die erste Zeit nach der Revolution entsprachen allerdings die tatsächlichen russischen Verhältnisse bis zu einem gewissen Punkt der Lenin‘schen Lehre von der primitiven Demokratie, aber mit einer charakteristischen und wesentlichen Differenz. Während Lenin in dem Heimfall aller Funktionen an die proletarische Masse den Anfang und den Übergang zum Aufbau einer proletarischen Demokratie sah, bildeten die russischen Sowjets in ihrer Blütezeit lediglich Organe zur Liquidierung des bisher Bestehenden und zur notdürftigen Regelung der nächsten Tagesbedürfnisse. Die in ihnen erfassten Bevölkerungsschichten, organisierte wie unorganisierte Arbeiter sowie Bauern bildeten zwar mit die wesentlichen Träger der russischen Revolution, ohne die der Petrograder NovemberUmsturz zur Isolierung und damit zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Aber Ansatzpunkte für die proletarische Demokratie sind sie doch nicht geworden. Als der Bürgerkrieg mit seiner unabweislichen Notwendigkeit zur zentralen Zusammenfassung aller Kräfte beendet war, war praktisch die Staatsstruktur in die Parteistruktur zurückgenommen. Die Sowjets waren zu leerlaufenden Attrappen geworden, die Staatstheorie Lenins mit ihrem dialektischen Gegensatz zwischen der autoritären Revolution und der primitiven Demokratie endgültig zugunsten der eindeutig autoritären Parteilehre abgewandelt. Und die autoritäre Partei hatte im faktischen Staatsaufbau ihre geradlinige Fortsetzung gefunden. Damit ist aber die entscheidende Bedeutung der vorrevolutionären Organisationsform für die Ausgestaltung des proletarischen Staats selbst außer Zweifel gestellt. Gewiss, viele Mächte und Kräfte wirken auch hier auf die endgültige Gestaltung der Dinge ein. Neben der Organisation der proletarischen Partei spielt die Art ihrer Verbindung mit anderen Volksschichten und deren eigene Organisationsreife bei der Machtergreifung eine entscheidende Rolle. Je schwächer organisiert aber jene anderen Schichten sind, desto größer ist die Möglichkeit, sie baldigst wieder auszuschalten, wie dies der immanenten Tendenz einer hierarchischen Partei entspricht. Desto größer ist aber auch die Möglichkeit für eine demokratisch organisierte Partei, vom ersten Augenblick ab die demokratische Grundlage des proletarischen Staates zu erweitern. Das russische Beispiel, für das man nicht lediglich außenund militärpolitische, also zwangsläufige Tendenzen verantwortlich machen soll, sondern ebenso die naturgegebene Entfaltung und Übertragung der Partei- auf die Staatsstruktur ist ein klassisches Beispiel für jene Verengung der staatlichen Basis, die die schwerste Gefahr für die Möglichkeit einer proletarischen Demokratie darstellt, wie dies Rosa
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Luxemburg ebenso wie etwa Martow und Dan immer wieder ausgeführt haben. Mit Recht bemerkt Rosa Luxemburg zu diesem Punkt, dass die proletarische Diktatur in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft bestehe, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen lasse.11 Gewiss, die Verdrängung der Lenin‘schen Staatstheorie durch seine Parteitheorie findet ihre tatsächliche Grundlage nicht nur in der Stärke dieser autokratischen Parteiorganisation; der Primitivismus der Lenin‘schen Demokratievorstellung selbst, die allzu sehr in den Ideengängen der Kommune steckenblieb, trägt der technischen Kompliziertheit der Herrschaftsapparatur im 20. Jahrhundert kaum Rechnung. Gerade das russische Beispiel hat gezeigt, dass die primitive Demokratie bald von einer oligarchischen, Staat und Partei beherrschenden Bürokratie verdrängt wird. Deshalb ist die Frage des Ausmaßes der Bürokratie, ihrer notwendigen Beschränkung auf technische Funktionen und die Verhinderung ihres Übergreifens auf politische Entscheidungen zugleich eine Frage nach der Möglichkeit und Verwirklichung einer proletarischen Demokratie. So prägt die Parteiorganisation nicht nur die Formen für den Gegenwartskampf des Proletariats; sie kann, wie das russische Beispiel zeigt, auch für die Ausgestaltung des proletarischen Staates selbst ausschlaggebend werden. Gerade an diesen russischen Organisationserfahrungen wird die mitteleuropäische Arbeiterschaft nicht achtlos vorbeigehen dürfen. Lenins Partei lehrt uns die nicht zu unterschätzende Bedeutung einer fest gefügten, von einem zentralen Willen beherrschten politischen Organisation für besonders schwierige Kampfepochen der Arbeiterklasse. Sie lehrt uns aber auch, dass der Mangel der demokratischen Grundstruktur nicht nur dauernd innere Konflikte für die Partei heraufbeschwört, sie zeigt, dass dort, wo die Vertrauensbasis zu schmal ist, die Verbindung und Heranziehung weiter proletarischer Schichten unmöglich ist und durch einen desto stärkeren Druck der staatlichen Repressivgewalt wettgemacht werden muss.
11 Vergleiche a. a. O., S. 116 [Rosa Luxemburg: Die russische Revolution, Berlin 1922, S. 59], und Martows »Thesen über die soziale Weltrevolution und die Aufgaben der Sozialdemokratie«, in: »Der Kampf«, Jahrgang 20, S. 237. [Julius Martow: Über soziale Revolution, Demokratie, Diktatur, in: Der Kampf, Jg. 20, Nr. 5, Wien 1927, S. 236-242.]
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Damit wird aber die proletarische Demokratie innerhalb der Partei ebenso in Frage gestellt wie die Übergangsmöglichkeit zu demokratischen Institutionen für die großen Massen des arbeitenden Volkes innerhalb des Staatsgefüges selbst. Es wird die große geschichtliche Aufgabe der europäischen Arbeiterklasse sein, hier jene »Mitte« zu finden, die ebenso Gewähr bietet für die ausschlaggebende Rolle einer festgefügten proletarischen Organisation im Endstadium des Kampfes um die Macht wie für die so notwendige Bewahrung der breitesten Vertrauensbasis des ganzen arbeitenden Volkes. Denn nur beides zusammen verbürgt nach den reichen Erfahrungen des letzten Jahrzehnts den Endsieg einer proletarischen Demokratie, die das Ausgangsmotiv aller Marx‘schen Betrachtung, die Herrschaft des Proletariats als die Herrschaft der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl Wirklichkeit werden lässt.
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[38.] The Growth and the Decay of the Weimar Constitution* [1933] German democracy evolved from the Reichstag of the World War, in the characteristic form to which it adhered until its end, a number of parties of equal standing, representing the different social and political strata of the population. Already at that time the Catholic, SocialDemocrat and Liberal parties of the Reichstag performed the functions of a shadow cabinet. In 1917, when the military situation of Germany did not yet seem hopeless, Erzberger’s peace resolution, which unfortunately met with no response abroad, expressed the real opinion of the majority of the population. The organisational basis of this majority, which under the Ludendorff military dictatorship remained without influence, was formed by the mass of the Social-Democrat workers in the trade union, the working class, peasant and middle-class followers of political Catholicism, and the less numerous but culturally important Liberals and intellectuals. The political aims of this majority converged in some ways, and diverged in others. What united them was the mutual enmity against a régime which even towards the end of the war disregarded their political ambitions. They were the natural heirs of the defeated military dictatorship, and it was Ludendorff himself who, after recognising the unavoidable loss of the war, called his former opponents into power. In October 1918 these majority parties transformed the old imperial Constitution into a parliamentary one. They created responsible government but left in his place the Kaiser, who during the war had voluntarily ceased to be an effective factor in political life. Economic understanding between the most important social factors went parallel to the progress of parliamentary democracy. In October 1918, before the outbreak of the November Revolution, Karl Legien, then leader of the German trade unions, concluded the general co-operation agreement with Hugo Stinnes, leader of the employers. This became of paramount importance for the future development of Germany; for while the employers gave way to the inevitable recognition of the power of the trade unions, they obtained from the trade * [Erschienen in: The Contemporary Review, Volume 144, No. 815, London/New York 1933, S. 559-567. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 111-112.]
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unions the withdrawal of their demand for immediate socialisation. This constituted a concession of immeasurable import and resulted in grave dangers for the future of German democracy. The November Revolution, which trailed behind the actual coming into power of the majority parties, had no considerable influence upon the Weimar Constitution. For the fundamentals of parliamentary democratic government were laid down in October, without the question of Monarchy or Republic figuring elsewhere than in popular discussions. The later constitutional development, however, was strongly influenced by the last phase of the revolution, in which workers took up weapons against workers. After this fight the entire working class was split and internally weakened for the next decade. On the other hand, the responsible leaders of that period laid the basis for the perpetuation of military power. Preferential treatment of the military bodies is a wellknown feature of German history. A comparison of the experiences of the Third French Republic and of the First German Republic shows conclusively that at a certain point the alternative arises either of safeguarding the Republic and subordinating the army, or of maintaining the privileged position of the army at the risk of the Republic. The Weimar Constitution itself embodied the traditional philosophy of democratic Liberalism. It was indebted to the system of thought, at once liberal, national, and democratic, to the great tradition of 1789, which in France displayed such extraordinary efficiency during the World War. Hugo Preuß, entrusted by President Ebert with the task of drafting the Constitution, was the dignified representative of a liberal mind, conscious of the social exigencies of the period. He was also fully conscious of the fact that a steady and progressive democratic development in so great a country demands a unified system of government instead of numerous bureaucratic regional entities. Preuß, however, being a disciple of that great theorist of German Genossenschafts (cooperative) law, Otto von Gierke, and a passionate partisan of municipal self-government, was anxious to endow the single member states with a certain amount of responsible autonomous administration. But the regional obstacles he had to face were so strong that he did not even succeed in relaxing the clumsy machinery of Prussian administration. The necessary powers of legislation and to a certain extent also of administration were, however, conceded to the central government. Based upon these powers legislation and the leading principles of administration were progressively unified. When much later the enlightened civil service despotism of Brüning gave way to Hitler’s ter-
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roristic party dictatorship, there was nothing left but to choose the legal shape for a development already completed in fact. The foresight of Preuß is shown by his attempt to give democratic colour to a necessary trend which now has to end with political measures of a dictatorial nature, tending not to reconcile the many regional interests but to increase anti-centralistic tendencies. The fathers of the Weimar Constitution were fully conscious of the fundamental difference which existed between the traditional type of a Liberal nineteenth-century Constitution based upon property and education and a modern twentieth-century constitution entrusted with the task of building a bridge between the two »nations« within the State. The late Friedrich Naumann, a representative leader of middle-class democracy, pointed out that it was one of the main purposes of the Weimar Constitution to compete with the Bolshevist constitutional construction. In order to carry through this »competitive effort« and to harmonise a people of comparatively highly trained individuals with the exigencies of a more and more collectively organised society, Naumann was anxious to create a body of fundamental rights and duties, largely different from the traditional type of rights of man. It was the aim of the second part of the Weimar Constitution, as of many other Constitutions since, to build up in daily life the ideal of a »Social State« as opposed both to extreme liberal individualism and to radical communist collectivism. For this reason individual liberty and property were guaranteed, but at the same time the protection of property had to yield to an enlarged right of the State to eminent domain, and, moreover, the protection of the working class and a scheme of a new social organisation were provided for. The part of the Constitution concerning workers councils, which has been the object of serious struggles within and without the Constituent Assembly, embodied the postulate of equal participation of employers and employees in deciding conditions of work and production. Socialisation of production and reform of landed property were also provided for, but practical steps in this direction were left for later legislation. The fact that the Reichstag, elected in 1920 and 1924, omitted to pass any legislation fulfilling the promise of socialisation and land reform given in the Constitution, is to be regarded as one of the most fatal mistakes made by the Republic. It must be borne in mind, however, that during this period the Republic was burdened with the triple weight of the Treaty of Versailles, the inflation which ruined the middle class, and the embittered enmity of the ever-rebellious Junkers. The Bavarian Government and the Hitler movement were beginning their underhanded work. At the same time, increasing
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masses of the working class became disappointed with the Republic and strengthened the communist ranks. The typical parliamentary politicians of this period confined themselves to making it possible for the Government to do its daily routine work. When at the end of 1924 economic and political conditions became stabilised, the State had undergone a thoroughgoing alteration of structure. The decisive steps which had to be taken by the coalition of Socialists, Centre and the progressively vanishing group of middle-class democrats, had compelled the members of the coalition to an evergrowing amount of responsibility and sacrifice. Thus, every political decision could only be arrived at after increasingly difficult negotiations. It happened quite often during this period that President Ebert anticipated parliamentary action by his own presidential measures, which, however, always received the final sanction of Parliament. At one of the most critical moments in 1923, Parliament availed itself for the first time of the legal means called the Empowering Act. By this Act important parts of legislation were left to administrative bodies, which were, for instance, enabled to alter fundamentally the constitution of the Courts, and to replace the traditional jury by a tribunal composed of professional and lay judges, virtually led by the professional members of the Bench. It is significant for this period that all the legislative alterations initiated by the bureaucracy were strictly within the frame of the Constitution, and therefore quite different from the measures taken after 1930. Psychologically, however, the passivity of Parliament contributed to the increasing disappointment of the population with the Reichstag. This growing disappointment was shared not only by the middle class, but also by the communist and even by a large number of socialist workers. The rigidity of the German party system, combined with the increasing concentration of economic power in mighty associations like the Federation of German Industries and the German Trades Union Federation, brought about a system of government by agreement between parties and federations representing economic interests. Under this system of government by economic and social agreements and party compromises behind the scenes, the public significance of Parliament was bound to diminish. The material provisions of these agreements were decisively influenced by the distribution of social and economic power as it had been effected by the profound changes during the period 1920 - 4. The relationship between organised capital and organised labour, once fixed by the Legien-Stinnes agreement mentioned above, had been thoroughly modified. State regulation of conditions of production, as far as it had been applied immediately
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after the revolution, had disappeared in the chaotic post-war period. Inflation had tended to weaken organised labour and to strengthen the owners of industrial plant and big landed properties as they got rid of their mortgages and other debts. When the wave of prosperity started in 1926 organised labour succeeded in securing significant advantages in the field of labour conditions, but no attention was paid to the question of altering the conditions of ownership in big industrial and agricultural enterprises. It was typical that the Workmen’s Councils created by a law of 1920, which had to fulfil economic and social functions at the same time, proved a failure as far as their economic tasks were concerned, but worked efficiently in the social field.1 They had the support of judicial and administrative bureaucracy, especially in their activities with regard to prevention of arbitrary dismissals. Bureaucracy in this case, as in most other questions, became more and more adapted to the task of reconciling divergent interests, and so fulfilled one of the original functions of Parliament. Government action had become the product of various collective economic and social forces struggling one against another; but this struggle could not have yielded any creative action without the powerful intervention of a bureaucracy becoming all the more vigorous as the vitality of Parliament vanished. By and by the central administration of the Reich was able to control the member states’ (Länder) administrations by issuing executive orders, and by disposing of the necessary funds accumulated with the central government. The army and navy had an even more independent position than any other branch of administration, as from the first days of the Republic they had succeeded in evading substantial parliamentary control and in increasing their political influence, which developed to the same extent as parliamentary action failed. The spirit of bureaucracy was essentially identical with the attitude of the middle class, as they still enjoyed the monopoly of higher education, and as members of the civil service taken (by request of Parliament) from other classes of the population nearly always underwent a process of adaptation to the dominating atmosphere.
1 Erik Reger's novel, Union der festen Hand, describes in a masterly way the various social groups of the post-war period in the mining district of the Ruhr, their views and actions, and forms one of the most important contributions to the history of post-war Germany. A translation would be welcomed by every student of German political developments. [Erik Reger: Union der festen Hand. Roman einer Entwicklung, Berlin 1931.]
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Whereas in the economic and social fields bureaucracy sincerely tried to reconcile opposing interests and to extend the influence of the government into new spheres of action, they remained in all political questions the faithful allies of the middle class. The judiciary, before the war the most liberal, after the war the most reactionary branch of the administration, had become a stronghold of middle-class tendencies, as their members had to a large extent come from small civil-service families. Judges in general viewed with suspicion the growing power of organised labour and of concentrated industrial capital, and with antipathy the political adherents of the Weimar Constitution. Protected by the weapon of judicial independence they falsified honest political strife into the contrast of nationally minded and anti-national citizens, thus preparing the idea of national and social exclusiveness which was to be prevalent in the Nazi régime. In spite of all these factors, which to a certain extent are not genuine German features but may be found in many responsible governments of our time, until 1928 the majority of the German people were in favour of political and religious liberty and of democratic civilisation as a whole. This is proved by the fact that at the 1928 elections more socialist members were returned than before. But at this moment, before the beginning of the depression, the crucial antagonism between the nation’s political wishes and the powerful collective bodies became clear. If elections in Germany had had any decisive effect at all, the influence of the agrarian and industrial federations could have been overcome and the burning question of landed property could have been solved at this moment. But according to the political practice of government by coalition, which had been followed since 1919, it was regarded as the government’s task to maintain the existing distribution of power between the members of the coalition, whatever the number of members of Parliament belonging to the various coalition groups. The existence of numerous parties, and the States being split up not only into social classes but also into various religious denominations, made it difficult to achieve any far-reaching political decisions by popular consent. These facts prevented the loss of prestige incurred by Parliament in almost all countries from being balanced by a clear popular vote for homogeneous democratic government. But for the economic depression it would not have been at all impossible for German democracy to overcome all the checks and the original misconstructions of its party system, and to fulfil a popular demand for clear decisions in the social and economic fields. The economic crisis, however, and the middle-class faith in National-Socialist leadership and its capacity to
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restore the pre-war middle-class position, brought about the NationalSocialist upheaval of 1930. After the elections of 1930, the only possible form of government was the bureaucratic system of Brüning, keeping up such an amount of political liberty as there is in every community which is looking for its master, who is yet to come. But while political liberty was still alive, democracy had gone with Brüning’s coming into power. Unable to go on with parliamentary legislation and unable to form any coalition for any positive goal, he availed himself for legislative purposes exclusively of that famous Article 48 of the Constitution which had played its part in the early days of the Republic. But whereas in those days presidential orders had always been made under parliamentary control, Brüning developed Article 48 into a dictatorial system of legislation leaving Parliament entirely out of the game. His government, by its mere existence and by its practice of violating the spirit and the wording of the Constitution, was no longer dependent on Parliament but only on the President. The extent of this dependence became clear when he attempted to tackle the crucial problem of landed property, a measure which would have encroached upon the power of the big landowners, but which would have commanded almost unanimous popular consent. This led to his dismissal by the Reichspräsident. The very presidential power, by which not only Brüning himself but also jurists had tried to justify the unconstitutional practice of government by orders of emergency, put an end to his liberal-minded dictatorship. The occasion and the form of his dismissal in May 1932 were symptomatic of the transition from democracy to dictatorship, and what followed was only the final struggle of the various competitors for dictatorship. Political doctrine followed the course of events by constructing a system of political thought, according to which it was the destiny of democratic government to be split up into a number of independent social powers struggling one against another, until finally all those anti-governmental and quasi-governmental forces would be crushed by dictatorship and by the erection of a totalitarian State, which would leave no sphere of human life outside the scope of a central and powerful governmental will. Professor Carl Schmitt, who is the theorist of the Nazi Constitution just as Hugo Preuß was the theorist of the Weimar Constitution, developed the doctrine of the totalitarian State amalgamating the ideas of its being the necessary and the ideal goal of historical evolution. Before the trend of German politics had become quite clear yet, his sympathy with the totalitarian idea was of so formal and general a nature that it equally favoured the Bolshevist and Fascist forms of gov-
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ernment. The fact that Carl Schmitt, when he was still nothing but a political theorist and not a Nazi partisan and official framer of Nazi constitutional laws, conceived the totalitarian idea in a way that would justify even the fiercest enemies of his actual party, shows more clearly than anything else that the totalitarian idea does not represent any substantial political conception at all. Every government which lays stress upon its own power, and works for a preponderance of the State over any other social force, may be regarded as totalitarian. That might even be true of a democracy, leaving a reasonable sphere of political freedom to the individual. So far as the genuine contribution of National-Socialism to German political theory is concerned, it is nothing but the attempt to base all government institutions upon a theory of race. It is, in other words, the attempt to retrace the history of our civilisation which led from the tribal community of early times to the feudal and religious community of the Middle Ages and finally to modern citizenship, founded upon common participation in a national civilisation, national language and a national destiny. According to the Nazi idea nothing but community of blood is to be the basis of a State and of its Constitution. This vision is connected with the idea of the leader, which is reduced to the primitive conception of giving obedience and receiving protection, and which ignores all the sociological assumptions connected with the phenomenon of political leadership. If primitivity of thought in itself was any guarantee for the constructive power of a political creed, all the problems arising out of the necessity to reserve a sphere of creative liberty to the individual in a powerful community would be solved. The fallacy of this primitive idea has been clearly set out by Lord Acton, who was not only very familiar with the special problems of Germany, but also quite prepared to accept the factor of race as an important contributory element of a nation. Lord Acton wrote sixty years ago:2 »Our connection with the race is merely natural or physical, whilst our duties to the political nation are ethical. One is a community of affections and instincts infinitely important and powerful in savage life, but pertaining more to the animal than to the civilised man. The other is an authority governing by laws, imposing obligations and giving a moral sanction and character to the natural relation of society.«
2 History of Freedom, and other Essays, pp. 292-3. [John Emerich Edward DalbergActon (Hg.): Nationality, in: History of Freedom, and other Essays, London 1907.]
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[39.] [Rezension:] Otto Geßler: Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit* [1959] Das Hauptinteresse an führenden Regierungspolitikern der Weimarer Zeit (1919 - 1933) hat sich bisher auf Stresemann (1923 Reichskanzler, 1923 - 1929 dann Reichsaußenminister; wesentliches Ziel seiner Politik war die Verständigung mit Frankreich) gerichtet. Ihm gegenüber ist eine andere Hauptfigur des damaligen Regierungsapparates, der langjährige Reichswehrminister Otto Geßler, 1920 bis Anfang 1928, bisher etwas in den Hintergrund geraten. Sein kürzlich erschienenes Memoirenwerk1 kann umso mehr Beachtung beanspruchen als es in einer Zeit erscheint, in der das Verhältnis der bewaffneten Gewalt zu den Regierungsträgern in einer ganzen Reihe von Ländern aufs Neue im Scheinwerfer des politischen Gegenwartsinteresses steht. Geßlers Memoiren mögen vom Standpunkt des Historikers viel zu wünschen übrig lassen. Der süddeutsche Verwaltungsfachmann, der 1919 den Oberbürgermeisterposten Nürnbergs mit der politischen Bühne in Berlin vertauschte, ist kein Mann der Feder und allzu tief gehender Selbstreflektion gewesen. Weite Partien des Buches verdanken daher ihre endgültige Gestalt der Arbeit des Herausgebers. Aber in entscheidenden Punkten spiegelt das Buch trotzdem getreulich die Geisteshaltung und Amtsführung des Verfassers wider. Geßler, der der Naziverfolgung nicht entging und der sein Ministeramt 27 Jahre überlebte, hat sein Weltbild und seine politischen Ansichten niemals berichtigt. Was er an Erklärungsmotiven und Selbstrechtfertigung vorbringt, bleibt dem Bann und Gesichtskreis der zwanziger Jahre verhaftet. In einer glücklicheren Gesellschaftsordnung wäre er ein konzilianter und sprachgewaltiger Torypolitiker geworden. Im Weimarer Deutschland ist er, wie sein von ihm verehrter Weggenosse Friedrich Ebert (Sozialdemokrat, erster Präsident der Weimarer Republik von 1919 bis 1925) ein * [Erschienen in: Der Gewerkschafter. Monatsschrift der Funktionäre der IG Metall, Jg. 7, Heft 8, Frankfurt am Main 1959, S. 39. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 112-113.] 1 Otto Geßler: »Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit«. Herausgegeben von Kurt Sendtner. Mit einer Vorbemerkung von Theodor Heuss. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, 1959, 582 S., 29,50 DM.
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[39.] [Rezension:] Otto Geßler: Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit [1959]
rastloser und nicht überall willkommener Wanderer zwischen den Rängen der schnell wieder etablierten Vorkriegsgewalten der Bürokratie, der Militärführung und der Industrie und der Schattenwelt der Berufspolitiker geblieben.
Geßler hatte nur geringen Einfluss auf die Militärpolitik Geßler übernahm 1920 das Reichswehrministerium. Von Anfang an hat er seine Aufgabe in der Perspektive eines aufgeklärten Selbstverwaltungsfachmannes gesehen. Regieren kann nur, wer sich des Vertrauens seiner Schutzbefohlenen erfreut. Geßlers Schutzbefohlene waren das Offizierskorps der Reichswehr, die er mit aller Energie sowohl gegenüber ihren Untergebenen, die nach den gemachten Erfahrungen ihren Offizieren nicht trauten, als auch gegen Versuche, die Offiziere für ihr politisch zweideutiges Verhalten zur Rechenschaft zu ziehen, abschirmte. Diese Auffassung von seinem Amt musste Geßler von Anfang an in Widerspruch zu weiten Teilen der Bevölkerung und ihrer Parlamentsvertreter bis hinein in die Reihen der Demokratischen Partei, der Geßler formell angehörte, bringen. Auf der anderen Seite hat Geßler niemals mehr als nur am Rande Einfluss auf die Heeresorganisation und Militärpolitik gewonnen. General von Seeckt (von 1920 bis 1926 Chef der Heeresleitung) ließ es sich gefallen, dass Geßler als eine Art Unterstaatssekretär mit dem Amtsbereich der Parlamentsvertretung fungierte und die Reichswehrinteressen, soweit sie ihm mitgeteilt wurden, im Parlament vertrat. Bei Fragen von größter politischer und militärischer Bedeutung – zum Beispiel der militärischen Zusammenarbeit mit Russland – wurde er kaum gehört oder informiert. Dabei mag dahingestellt bleiben, ob dieses Verhalten einfacher Willkür Seeckts entsprang oder ob darin ein Stück Berechnung lag: Ein nichtinformierter Minister kann das Parlament mit größerer Seelenruhe an der Nase herumführen als ein Minister, der genau weiß, dass seine Behauptungen nicht stimmen.
Von Seeckt, der tatsächliche Herrscher Auf weiten Strecken ist das Buch der Auseinandersetzung mit Seeckt gewidmet. Geßler besaß eine Art von Hassliebe für Seeckt und hat zweifelsohne unter den fortwährenden Demütigungen, die Seeckt ihm
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zufügte, schwer gelitten. Die Art, wie sich die weiterwirkende Faszination Geßlers durch seinen Quälgeist Seeckt mit gelegentlichen Seitenhieben und Entschleierungen paart, ist für die noch aus der Wilhelminischen Zeit stammende Einstellung des Amtsbürgers zum Berufsmilitär aufschlussreich. Aber für die Nachwelt interessanter ist die Tatsache, dass Geßler die offizielle Reichswehrtheorie, die ihn in eine oft peinliche Nebenrolle abdrängte, auch rückschauend voll bejaht und sie mit einem historischen und vergleichenden Mäntelchen zu bekleiden versucht: Die Reichswehr als eine über den Parteien stehende unabhängige und nur dem Staat als solchem, nicht seinen wechselnden Regierungen dienende Kraft. Diese Theorie stellt nicht nur das Verhältnis von Zivilgewalt und Militär im demokratischen Staat auf den Kopf und macht die demokratische Regierung, wie Geßler oft selbst genug am eigenen Leib spüren musste, vom jeweiligen Vertrauen oder Misstrauen der Militärs abhängig. Diese Theorie hat weder beim, wenn auch gescheiterten, Hitlerputsch 1923 in Bayern, noch bei der Abwehr der Nazidiktatur die Probe aufs Exempel bestanden. Geßler hat zwar die Vorwürfe, die sich auf den zuletzt genannten Punkt beziehen, mit einem Seitenhieb auf die ebenso unrühmliche Resignation der preußischen Polizeigewaltigen pariert, aber nicht widerlegt. Geßler hat sein Ministeramt als eine Art Hilfsstellung für die Armee betrachtet, mit dem Ziel, ihren jeweiligen Wünschen und Bedürfnissen die Wege zu ebnen und sie gegen unwillkommene Kritik abzuschirmen. Wie viele seiner Zeitgenossen hat sich der ehemalige bayerische Beamte, der in der Tiefe seines Herzens stets Anhänger eines monarchistisch verbrämten Beamtenstaatsideals geblieben ist, über die Auswirkungen einer solchen Politik auf die Geschicke der Demokratie kaum den Kopf zerbrochen. Leitvorstellung bleibt das Reichswehrinteresse, das unbesehen mit dem Staatsinteresse gleichgesetzt wird. Das erlaubte ihm zwar eine durchaus sachliche Beurteilung seiner Kollegen und Konkurrenten wie etwa Stresemann, die mit ihm am selben politischen Strang zogen. Aber gegenüber politischen Strömungen und Personen, die der Politik Geßlers mit ihren fast sprichwörtlich gewordenen Beschönigungen, Verschleierungen und – zugestandenermaßen – Unwahrheiten gegenüber dem Parlament ablehnend gegenüberstanden, bricht seine volle Gereiztheit durch. Die sozialdemokratischen Führer werden daher nach einem abgegriffenen Schema in »verantwortungsbewußte Mitarbeiter am Staatsaufbau« – solche die sich wie Ebert, Bauer, Müller und Radbruch Reichswehranliegen gegenüber gefügig
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[39.] [Rezension:] Otto Geßler: Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit [1959]
zeigen, – solche, die wie Braun und Severing ohne viel öffentliches Aufheben der Reichswehr manchmal Schach bieten und die »verantwortungslosen Agitatoren« eingeteilt. Mit Vorsicht ausgewertet stellt das Buch eine Fundgrube für den Prototyp des Halb-Beamten, Halb-Politikers der bürgerlichen Welt der 20er Jahre dar; persönliche Sauberkeit und Unbestechlichkeit, Fleiß, Hingabe an das Amt, Patriotismus mit einem seltsam isolierten Verantwortlichkeitsbegriff und fehlende Einsicht in die moralischen und politischen Grundlagen eines demokratischen Staatswesens formen sich zu einem unentwirrbaren Ganzen.
Aktuelle Lehren für heute Für die Nachwelt bleibt die Frage des Verhältnisses von Reichswehrminister, Heeresführung und Parlament das wichtigste. Wie weit war Geßlers Amtsführung als politischer Interessenvertreter einer von ihm weitgehend unabhängigen Armeeführung in den Bedingungen der damaligen Zeit begründet? Wie weit hat der zunehmende Schwund einer genügend breiten demokratischen Grundlage die Rolle der Heeresführung als Behüterin und letztinstanzliches Auslegungsorgan von nationalen Interessen, als Pflegestelle des offiziellen Patriotismus und als Garant der Sozialordnung unvermeidlich in den Vordergrund gerückt? Wie weit war Geßler dabei aktiv Mithandelnder, wie weit Attrappe? Was auch immer die Antwort auf diese Fragen sein mag, Geßlers Erinnerungen liefern das klassische Beispiel, an dem künftige Generationen zu lernen haben, wie sich das Verhältnis von Parlament, Minister und Militärgewalt in einer Demokratie nicht entwickeln darf.
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[40.] [Rezension:] Friedrich Karl Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz Ein staatsrechtlich-politischer Vergleich* [1960] Friedrich Karl Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz[: die verfassungspolitischen Folgerungen des Parlamentarischen Rates aus Weimarer Republik und nationalsozialistischer Diktatur], Tübinger Studien zur Geschichte und Politik, Bd. 12. XII, 243 S., J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1960. Aus der Ahnenreihe des Bonner Grundgesetzes sind weder der NSStaat noch die Weimarer Republik hinwegzudenken. Es war deshalb ein glücklicher Gedanke, den Zusammenhang zwischen dem Werk des Parlamentarischen Rates und den früheren Ordnungen oder Unordnungen einer näheren Prüfung zu unterziehen. Eine solche Prüfung konnte naturgemäß für das NS-System kürzer und gedrungener ausfallen als im Bezug auf das Weimarer System. Gegenüber dem ersteren hat das GG, wie die vorliegende Studie mit Recht bemerkt, schlechthin die Rolle einer Antiverfassung. Die Auseinandersetzung mit dem Weimarer System ist vielschichtiger. Da es sich sowohl in der Weimarer Verfassung als auch im GG um eine im Ansatz demokratische Ordnung handelt, hat das letztere zunächst den Charakter einer Parallelverfassung. Aber gleichzeitig liegt eine Absicht des Besserns und Korrigierens auf der Hand. Solchermaßen, wie der Verfasser es nennt, historisch bedingte Modifikationen erzeugend, kommt dem GG auch gegenüber dem Weimarer Werk der Charakter einer besonderen Antiverfassung zu. Der weitaus größere Teil der wohldurchdachten, klar entwickelten, oft einprägsam formulierten und durch ein beispielhaftes Einarbeiten der zum Verständnis der politischen Diskussion notwendigen staatsrechtlichen Gesichtspunkte gekennzeichneten Studie beschäftigt sich mit den Problemgebieten, auf denen der Abstand gegenüber Weimar und die kritische Fort- und Gegenentwicklung im GG am klarsten zum Vor* [Erschienen in: Neue Politische Literatur, Jg. 5, Frankfurt am Main, S. 1100-1104. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 113.]
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[40.] F. K. Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz
schein kommt: das ist die Stellung des Präsidenten, die Organisation der Regierungsgewalt, die Methodik des Regierungswechsels, Notgesetzgebung und Verfassungsschutz. Die Themen Volksgesetzgebung, Organisationsgewalt und Bundesexekutive sind in gedrungener Form behandelt. Die kürzeren Ausführungen, die sich mit dem Verhältnis von GG zu den vorhergehenden nationalsozialistischen Zuständen beschäftigen, gruppieren sich naturgemäß um Grundgesetzschutz gegen Verfassungsänderungen im Legalrahmen, Grundrechtsschutz und Organisation der Rechtsstaatlichkeit. Was verarbeitet wird, sind sowohl der Weimarer Normenbestand, die institutionelle Entwicklung in der Weimarer Republik und die jeweiligen Konsequenzen, die der Parlamentarische Rat daraus – als auch aus dem NS-System – für seine eigenen Arbeiten und Formulierungen gezogen hat. Nun hat die Gunst der Verhältnisse, oder wie es der Verfasser nennt, die Tatsache, dass die verfassungsrechtlichen Rollen stets mit denselben Personen besetzt geblieben sind, dazu geführt, dass auf keinem der Gebiete, mit denen sich der Verfasser am intensivsten beschäftigt hat, es je zu einer Bewährungsprobe der unter dem GG anders gestalteten verfassungsrechtlichen Mechanismen gekommen ist. Die soziale und politische Ausgangsposition ist so verschieden, dass die von F. aufgeworfene Frage nach den besseren Bewährungschancen des Normenbestandes im Ernstfall mit Recht offen bleiben muss. Vielleicht hätte es sich bei dieser Sachlage empfohlen, in die Arbeit einige Betrachtungsfelder etwas niederen Ranges einzuziehen, in denen Erfahrungsvergleiche möglich gewesen wären, wie zum Beispiel Probleme des Föderalismus. Für einige der von F. behandelten Komplexe kann man möglicherweise zu etwas vorgeschobeneren Fragestellungen vordringen. Die Ausführungen zum Verfassungsschutz sind durch die Ersetzung der aus der Interpretation des Art. 48 stammenden Notbehelfe durch neue verfassungskonforme Zwangsmittel bestimmt. Dabei ist sich F. sowohl der praktisch-politischen Problematik des Verbots von Volksbewegungen als auch der theoretischen Rechtfertigungschwierigkeiten im Rahmen einer demokratischen Staatsordnung voll bewusst. Wenn schon das Verbot von Volksbewegungen problematisch erscheint, wie verhält es sich mit dem Verbot von Splittergruppen, denen höchstens ein nuisance-Wert zukommt? In einem anderen Zusammhang (S. 219) gibt der Verfasser darauf eine Antwort, die sich für die radikale Rechte auf den »Sog der selbstverschuldeten Niederlage« und für die radikale Linke auf das »Verspielen der Teilhaberschaft am Verfassungsleben durch die
[40.] F. K. Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz
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Errichtung einer Diktatur in einem Teile Deutschlands« beruft. Aber die moralische Rechtfertigung einer Politik hebt deren institutionelle Fragwürdigkeit nicht notwendigerweise auf. Das andere Gebiet betrifft den Volksentscheid, zu dem der Parlamentarische Rat eine Art negative Entscheidung getroffen hat, die dann durch das im Juni 1958 gefällte Urteil des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts, wenn auch mit einschränkender und das Hauptproblem nicht berührender Begründung, noch unterstrichen worden ist. Unter dem Einfluss weit verbreiteter Darstellungen und Lehrmeinungen scheint F. der Ansicht zuzuneigen, als ob die Weimarer Regelung der Volksgesetzgebung mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zur demagogischen Denaturierung der Institution führen musste. Aber diese Denaturierung war nicht eine Folge der Verfassungsgesetzgebung selbst, sondern Ausfluss einer von Lehre und bürokratischer Praxis befürworteten einschränkenden Verfassungsinterpretation. Dadurch, dass diese Lehre, die keineswegs den Intentionen des Verfassungsgesetzgebers entsprach, die Beteiligung der Mehrheit der Stimmberechtigten als notwendig erachtete, gab sie nicht nur den jeweiligen Gegnern der Volksbefragung mit der bequemen Parole des Zuhausebleibens einen illegitimen Vorsprung, sondern verwandelte damit auch den Volksentscheid in einen Akt der öffentlichen Stimmabgabe. Erst diese, einer praktischen Unmöglichkeit des Obsiegens gleichkommende Erschwerung hat dann den Volksentscheid mit Notwendigkeit von einem legitimen Mittel der Politik in ein Werkzeug der Demagogie verwandelt. In der gleichen Abdrängungslinie liegt die vom Verfasser bei seiner Charakterisierung der frühen Präsidentschaftsjahre Hindenburgs als »parlamentarischen Monarchen« (S. 40) übersehene verfassungswidrige Einmischung in den Volksentscheid über die Fürstenenteignung. Nun deutet F. zwar an, dass sich die Bundestagswahl faktisch zu einer unmittelbaren Volkswahl des Bundeskanzlers entwickeln kann. Aber ein solches, notwendigerweise ganz im Vagen bleibendes Personalplebiszit ist kein Ersatz für Sachplebiszite, die möglicherweise den offiziösen Betriebscharakter der deutschen Politik etwas auflockern und zu einer größeren Intensität der Beteiligung des Volkes an der politischen Willensbildung auch außerhalb des Weges über die Interessenverbände führen könnte. Aber das sind Einzelheiten, die das Verdienst einer bei aller Beschränkung, oder vielmehr gerade wegen der Beschränkung der Themenstellung vollgelungenen Schrift in keiner Weise schmälern sollen.
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[41.] [Rezension:] Walter Z. Laqueur: Young Germany* [1963] Young Germany. By Walter Z. Laqueur. Basic Books. 253pp. 6$. Yesterday’s Germany was not only the Germany of Wilhelm II, Hindenburg and Krupp; it was, strangely enough, also the world of the youth movement. Unlike the present day younger generation, which does not form a world apart from its elders, youth of the German middle class through the first three decades of the century often lived in a world of their own. It was a world of protest against the conventionalism of the older generation. It was full of dream images, of unique and non-repetitive communal experience, of ephemeral groupings, and of almost mythical leaders who could count on an intensely personalized following. How can a member of a later generation, measuring with the yardstick of a harsher and more practical-minded world convey the meaning of this irretrievably lost generation? Laqueur, in analyzing the most significant of these youth groups, inquires how they measured up to the political and social responsibilities of their own times. Yet, while commenting incisively on their obvious shortcomings, he does not commit an act of injustice toward their memory. He searchingly describes their sufferings from meeting social reality without being able to participate meaningfully in its transformation. In the complexity of German history this book throws light on one of its less well known, but most revealing aspects. It is a tragic aspect, if visualized as the political failure of a generation; it had a most satisfactory aspect if measured by the yardstick of personalized experience.
* [Erschienen in: The Washington Post, 30. Juni 1963, Washington. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 113-114.]
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[42.] [Rezension:] Gotthard Jasper: Der Schutz der Republik Die Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik* [1963] Besprechung von Gotthard Jasper: Der Schutz der Republik, Studien zur staatlichen Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik 1922-1930, Tübinger Studien zur Geschichte und Politik, Nr. 16. VIII, 337 S., J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1963. Allmählich mehren sich die Studien, die in die Details der Weimarer Periode vordringen. Auf dem Gebiet der Gesetzgebungs-, Verwaltungsund Justizpolitik befindet man sich jedoch noch weithin auf einer terra incognita. Umso verdienstvoller ist der Versuch von Gotthard Jasper, in die Geschichte der Entstehung und praktischen Verwirklichung des im Jahre 1922 erlassenen Republikschutzgesetzes hineinzuleuchten. Der Verfasser hat dazu viele bislang nicht zugängliche Materialien benützen können, die besonders für die vielfach verschlungenen Wege der Politik der deutschen Länder in der Weimarer Zeit sehr aufschlussreich sind. Wenn dabei die Berichte des Württembergischen Gesandten in München viele Schlaglichter auf die »bayrischen Zustände« der zwanziger Jahre werfen, so bleibt doch zu bedauern, dass die Akten des bayrischen Staats- und Justizministeriums (noch?) nicht zugänglich sind. Aber auch ohne die bayrischen »Kronstücke« und ohne die zurzeit unzugänglichen, in Potsdam befindlichen Akten des Staatsgerichtshofes bringt das Bild, das sich abzeichnet, selbst für den, der die zwanziger Jahre politisch miterlebt hat, sehr viel Interessantes. Die Studie J.s gibt zunächst einen Überblick über die politischen und parlamentarischen Entstehungsbedingungen des Republikschutzgesetzes. Sie tritt dann in eine hochinteressante Diskussion der Verwaltungsund Justizpraxis unter dem Gesetz in seiner Frühzeit ein. Dabei werden besonders die Prozesse gegen die Erzberger- und Rathenau-Mörder sowie die im ganzen vergeblichen Versuche, gegen die Drahtzieher der * [Erschienen in: Neue Politische Literatur, Jg. 8, Heft 3, Frankfurt am Main 1963, Sp. 609-613. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 114.]
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[42.] [Rezension:] Gotthard Jasper: Der Schutz der Republik
»Organisation Consul« strafrechtlich vorzugehen, eindringlich beleuchtet. Liegt in diesem Teil der Hauptakzent auf der Darstellung des Prozessverlaufs, so wendet sich das 6. Kapitel mehr dem Zusammenspiel zwischen Reich, Ländern und den parteipolitischen Instanzen auf dem Felde des Kampfes gegen republikfeindliche Organisationen zu. Nach einem kurzen Überblick über die sattsam bekannten Vorgänge in Sachen politischer Ehrenschutzverweigerung durch die Gerichte ist der Verf. auf die gute Idee gekommen, sich mit dem, was er »positive Maßnahmen zum Schutz der Republik« nennt, zu befassen. Dazu gehören Beamtenpolitik, Verfassungsfeiern, Flaggenpolitik, Schulpolitik und Verwendung von Mitteln aus dem Etat zum Schutz der Republik. Das eigentlich Neue an den Ergebnissen des Buches liegt in der sorgfältigen Darlegung des Ineinandergreifens zwischen landespolitischen »Belangen« und der Reichspolitik. Beide waren immer kräftig beeinflusst von den wechselnden politischen Interessen der Koalitionskabinette bei der Durchführung, aber ebenso oft auch bei der Verhinderung von Schutzmaßnahmen. Die preußische Politik weist eine nur geringfügig von parteipolitischen Erwägungen beeinträchtigte klare Linie auf: Gleichmäßige und wirkungsvolle Ausführung von verfassungsmäßig vertretbaren Maßnahmen gegen Rechts- und Linksradikalismus. In einigen anderen Ländern verbinden sich partikularistische Belange der Länderbürokratie mit den politischen Interessen maßgebender Politiker und Parteien oder, wie in Bayern, politisierender Beamter, um der radikalen Rechten nicht wehe tun zu müssen. Dabei handelt es sich in der Entstehungs- und ersten Anwendungsperiode des Gesetzes mehr um Fragen der Gesetzesvorbereitung, der Personalpolitik und des Anlaufens größerer Prozesse, während in der Spätzeit der Nachdruck mehr auf der Frage der Verbotspolitik gegenüber republikfeindlichen Organisationen liegt. Gleichzeitig beschäftigt sich der Verfasser mit den Gründen für die Verhinderung wirksamen Eingreifens gegen rechtsradikale Putschisten und Mörder. Behutsam, aber im Allgemeinen mit Eindeutigkeit und Entschiedenheit zeigt J. dabei das Maß der Schuld sowohl der Reichswehrpolitik wie der damit teils direkt zusammenhängenden, teils auf der ideologischen Basis der ja im Wesentlichen unverändert übernommenen deutschen Vorkriegsbürokratie und des Vorkriegsrichtertums beruhenden offenen Parteilichkeit nicht nur der Verfolgungsbehörden, sondern auch der maßgebenden Elemente unter der Richterschaft. Allerdings dürfte die Lektüre der Memoiren wie auch der Prozessakten den Oberreichsanwalt Ebermayer mit größerer Eindeutigkeit, als dies
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durch den Verfasser geschieht, als einen der Verantwortlichen an den Fehlleistungen der damaligen Justizpolitik ausweisen. Wenn ich mir einige kritische Bemerkungen zu diesem in vieler Hinsicht so verdienstvollen Buch erlauben darf, so ist wohl vor allem dies auffällig: J. legt seinen Urteilen meist unbesehen die Maßstäbe der heutigen Bundesrepublik Deutschland zu Grunde. Dabei fällt dann nicht nur mit Recht ein kritisches Schlaglicht auf die zahlreichen Unterlassungssünden des Justiz- und Beamtenpersonals sowie — mit sorgfältig vorgenommenen Abstufungen und Ausnahmen — des politischen Personals der Weimarer Zeit, sondern es wird der relativistischen Demokratie als solcher der Prozess gemacht. Insbesondere wird ihr zur Last gelegt, dass einzelne politische Organisationen zwar wegen konkreter Verstöße verboten werden konnten, dass aber Verwaltung, Justiz und Politik die Aufrechterhaltung der mit ihnen koordinierten parlamentarischen Apparate — einschließlich Wahlbeteiligung und Agitation — duldeten und daher die republikfeindliche Tätigkeit dieser Gruppen nie völlig lahmgelegt werden konnte. Wenn die Differenzierung zwischen konkreten Verstößen gegen die Strafgesetze und allgemeiner politischer Agitation gegen die bestehende Ordnung eine relativistische Angelegenheit ist, dann fällt aber nicht nur die Praxis der Weimarer Zeit, sondern auch die fast sämtlicher heutigen europäischen Demokratien — de Gaulles Frankreich eingeschlossen — mit alleiniger Ausnahme der Bundesrepublik unter dasselbe Verdammungsurteil. Die Weimarer Republik wäre wohl überhaupt ohne die auf der Länderebene unterschiedlich durchgeführten und daher praktisch nicht eben sehr wirkungsvollen Organisationsverbote ausgekommen, wenn sie sich, wie der Verfasser mit Recht betont, dazu verstanden hätte, alle paramilitärischen Verbände ihres militärischen Charakters zu entkleiden. Solche Radikalkur, die freilich auch das verfassungstreue Reichsbanner betroffen hätte, wäre aber nur dann gerechtfertigt gewesen, wenn die Polizei- und Justizorgane in allen Ländern unparteiisch geschützt und bestraft hätten. Davon konnte jedoch, wie J. im Einzelnen nachweist, damals keine Rede sein. Das Übel lag also nicht eigentlich in der von J. beklagten mangelnden Koordinierung zwischen Straf- und Verfassungsrecht, die eine umfassendere Verbotspolitik ermöglicht hätte. Denn in einer Demokratie kann man zwar kleine, wirkungslose Gruppen unterdrücken, nicht aber solche, die für ein Viertel, ja für die Hälfte der Bevölkerung maßgebende Leitbilder aufzustellen vermögen. Diese unglückliche Demokratie litt vielmehr daran, dass in ihr zu viele Leute und Bewegungen
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[42.] [Rezension:] Gotthard Jasper: Der Schutz der Republik
ihr Interesse daran sahen, die Kluft zwischen breiten Bevölkerungsschichten mehr aufzureißen denn zuzuschütten. Dass alle Versuche, gemeinsame Grundlagen zu betonen, in den offiziellen Anläufen steckenbleiben mussten — denen der Verfasser im letzten Teil seiner Studie so liebevoll nachgeht —, daran trägt die für jeden Staatsbürger weitgehend sichtbare Verwaltungs- und Justizpolitik der Weimarer Zeit, die verschiedenes politisches Recht für verschiedene Bevölkerungsgruppen austeilte, ihr gerüttelt Maß an Schuld.
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[43.] [Rezension:] Gerhard Schulz: Zwischen Demokratie und Diktatur* [1965] Zwischen Demokratie und Diktatur: Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republic. Vol. 1 Die Periode der Konsolidierung und der Revision des Bismarck‘schen Reichsaufbaus 1919-1930. By Gerhard Schulz. (Berlin: Walter de Gruyter, 1963. Pp. 678.) The profusion of subtitles of this book indicates that Schulz had difficulties in determining exactly its subject matter. Did the author want to write the political or the administrative history of the Weimar Republic? Or was he mainly concerned with one particular aspect of both: the practice of German federalism under the Weimar Republic? At any rate, using very profitably the mass of hitherto unknown official documents and autobiographical material, Schulz begins by presenting various plans and projects for the future constitutional and administrative organization of the Weimar Republic, as seen from the vantage point of the closing days of 1918 and the first half of 1919. In this period the bureaucracy, which had remained intact from before the war, and its new social democratic rulers found an easy meeting ground in their common desire to uphold and defend continuity and order against all suspicious attempts to experiment with new forms of organization. It was not only Kurt Eisner who – to quote a famous dictum of Meinecke – slipped into the temporarily empty mansion of the Bavarian state.1 In his later chapters the author demonstrates convincingly how Eisner’s more skillful Prussian colleague, Otto Braun, without the burden of any intellectual baggage, and more favored by circumstances of time and place, performed successfully a similar feat. Once the framework of the Reich-Länder organization had been reestablished, even without Bismarck’s effective linkage of the Reich and Prussian political and administrative machinery at the command level, * [Erschienen in: American Political Science Review, Volume 59, Washington D.C./New York 1965, S. 503-504. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 114.] 1 [Friedrich Meinecke: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, München 1957.]
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[43.] Gerhard Schulz: Zwischen Demokratie und Diktatur [1965]
the question of its adequacy for the political life of the new state arose. To answer this question the author is compelled to describe in some detail much of the history of the political conflicts of the early twenties. His survey includes the occupation of Saxony and Thuringia by the Reichswehr, the effective ejection of their deviant governments, and the tortuous methods by which the military, political, and bureaucratic leaderships of the Reich and of Bavaria were able to reach an accommodation. His description frequently corrects previous more partisan and partial accounts. To this part belongs the story of the divisive and unitary tendencies present in both the Rhein and the Ruhr, and described for the first time, as having occurred in East Prussia as well. The author’s presentation continues to emphasize both thrust and counterthrust tendencies affecting the rights of various bureaucratic apparatuses, and making their influence felt through constitutional formulae, ministers’, and civil servants’ memos, conferences and committees. In evaluating Schulz’s first volume, it is important to differentiate between the early period and the period of consolidation from 1924 to 1928. During the earlier years the history of federalism is so closely interwoven with substantive problems of the period that constitutional theorems and bureaucratic strategems appear simply as by-products of major political and social struggles. But with the beginnings of consolidation in 1924, those in power in the territorial governmental units became actors in their own right. Therefore, if one considers the staying power of the administrative structure, the later period is the more revealing. For despite the impetus received from the financial plight of the Länder, reform of the federal structure was frustrated by the resistance of the Prussian S.P.D. leadership. The author shows convincingly how at that late stage Prussian political leaders lost interest in a Prussian-Reich merger which could not guarantee them a permanent share of political power. Whatever one might think of the author’s organization of his material, his book will long remain indispensable for the analysis of two problems: 1) the relative weakness of federal structures in dealing with major problems of a socially heterogeneous society; 2) the conditions and chances of successful collaboration between higher bureaucracy and the conservative leadership of various mass parties and protest movements.
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[44.] Die Justiz in der Weimarer Republik* [1968] »Die Justiz«, deren erste Nummer 1925 im Herbst und deren letzte Nummer im April 1933 erschien, bezeichnet sich als die Zeitschrift des Republikanischen Richterbundes. Schon ein Grund, um stutzig zu werden: Richterbund, ja, aber warum republikanisch? Ist es nicht selbstverständlich für jemanden, der in einer Republik ein Amt bekleidet, dass er mit den republikanischen Institutionen auf genügend gutem Fuß steht, um sie nicht gleichsam als Aushängeschild zu benützen oder sie zum Gegenstand eines politischen Glaubensbekenntnisses zu machen? Die Antwort lautet: keineswegs im Deutschland der Weimarer Republik. Die von der Republik 1918 unbesehen übernommenen Richter waren in ihrer Mehrzahl Richter in der Republik, aber sie waren keine republikanischen Richter. Viele von ihnen bezogen offen oder heimlich Kampfstellung gegen die Republik, die überwiegende Mehrzahl hat jedenfalls nie den Versuch unternommen, zu dieser Republik, die ihnen Wirkungskreis und Besoldung gab, ein inneres Verhältnis zu finden. Diejenigen, die mit dieser Mehrzahl in der Ablehnung und Feindschaft zur Republik einer Meinung oder mindestens willens waren, über die republikanischen Staatseinrichtungen als einer Belanglosigkeit zur Tagesordnung überzugehen, fanden das völlig in Ordnung. Aber es gab auch in weiten Bevölkerungskreisen andere Ansichten; sie sahen ein Richtertum ohne Bindungen an die Republik als eine schwere Bürde für das Staatswesen und als ein ständiges Ärgernis an. So tat sich 1925 eine Anzahl Richter, Anwälte, Beamte und Universitätsprofessoren zusammen und gründete den Republikanischen Richterbund. Dieser Republikanische Richterbund war keine Standesvereinigung, die die Verbesserung oder Verteidigung juristischer Standesinteressen auf ihre Fahnen geschrieben hatte, es war eine lose Gesinnungsgemeinschaft, die dem Übelstand einer Republik ohne republikanische Richter abhelfen wollte. Ihre Mitgliederzahl konnte sich zahlenmäßig in keiner Weise mit der der althergebrachten juristischen Organisationen messen, und ihr Organ, »Die Justiz«, war nicht eine juristische Zeitschrift wie die unzähligen anderen, die irgendein Spezialgebiet oder eine bis dahin * [Erschienen in: Hugo Sinzheimer, Ernst Fraenkel: Die Justiz in der Weimarer Republik. Eine Chronik, herausgegeben von Thilo Ramm, Neuwied/Berlin 1968, S. 7-15. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 115-116.]
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[44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968]
nicht genügend berücksichtigte juristische Strömung oder Lehrmeinung vertraten. Ihr Schwerpunkt lag vielmehr, obschon sie gegenüber allen juristischen und geistigen Strömungen aufgeschlossen war, hauptsächlich auf rechtspolitischem Gebiet. Mit größerer Energie und Hingabe als jede andere Stelle hat sie sich zwei Aufgaben gewidmet: der Neugestaltung gesellschaftlicher Institutionen und der dazu gehörenden juristischen Formwelt. Ihr Repertoire war umfassend; es befasste sich gleichermaßen mit Reichs-, Staats- und Verwaltungsreform; mit Strafrecht, Strafprozess und Strafvollstreckung, mit Arbeitsgerichtsbarkeit, Tarifvertrag und Schlichtungsreform, mit Ehescheidung und Zivilprozessreform, mit Agrarpolitik und Sozialversicherung, mit Enteignungsrecht und Wohnungsbaupolitik. Die kritische Durchleuchtung von Gesetzgebungsversuchen auf allen diesen Gebieten setzt eine eindringliche Beschäftigung mit den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Tendenzen der diesbezüglichen Rechtsprechung als selbstverständlich voraus. Wir finden daher auch folgerichtig einen großen Teil der zivilistischen und arbeitsrechtlichen Entscheidungskritik von Rechtssoziologen wie Ludwig Bendix und dem nimmermüden Haupt der Freirechtsschule, Ernst Fuchs, in den Spalten der Justiz. Im Strafrecht und Strafprozess und insbesondere im politischen Strafrecht weitet sich die kritische Arbeit notgedrungen von der einer allgemeinen Gesetzgebungs- und Entscheidungskritik zur umfassenden Kritik der Tätigkeit aller an ihren Ergebnissen beteiligten Stellen, der Ministerien, Staatsanwaltschaften und Richtergremien, aus. Die Fieberkurve der politischen Justiz ist hier von Monat zu Monat aufgezeichnet. Hier finden sich die vergeblichen Versuche von Theoretikern wie Gustav Radbruch, Hermann Kantorowicz und E. Gumbel und von Praktikern wie Oborniker, Otto Landsberg und Wilhelm Kroner, diesem Krebsübel der Republik sowohl durch schonungslose Veröffentlichung der relevanten Dokumente wie durch ihre kritische Durchleuchtung zu wehren. Andere Zeitschriften, seien es solche von Interessenverbänden, seien es juristische Fachzeitschriften, haben die Rechtsprechungstendenzen unter den ihnen eigenen Vorzeichen von interessenpolitischen, rechtsdogmatischen oder rein persönlichen rechts-politischen Vorstellungen verfolgt, gelobt oder kritisiert. Keiner hat sich in systematischer Weise die Frage gestellt: was bedeutet diese oder jene Rechtsprechungstendenz, diese oder jene richterliche Stellungnahme in und außerhalb des Gerichtssaales für das Staatsgefüge der Weimarer Staatsgewalt und für das Verhältnis von maßgebenden Bevölkerungsschichten zum Weimarer Staat?
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Warum, so lautet die nächste Frage, sollen wir uns heute Dokumente dieser längst verklungenen Periode zu Gemüte führen? Wenn ihre Jurisprudenz in politischen Dingen oftmals problematisch war, wurde sie nicht in ihrem Unrechtsgehalt bei weitem von den juristischen Amtsträgern des Dritten Reichs übertroffen? Warum uns nicht eher mit dieser uns näherliegenden Zeit beschäftigen? Einmal sind die Fehler und Unterlassungssünden der Justizpolitik der Weimarer Zeit nicht ohne Einfluss auf die nachfolgende Periode geblieben. Die Untergrabung des Rechtsbewusstseins durch die von den Justizorganen teils geförderte und sicher nicht gewehrte Verlotterung der politischen Sitten hat bei dem Hineinschlittern von Bevölkerung und Staatsapparat in die Periode der »legalen« Machtergreifung Pate gestanden. Wer, wie die Mehrzahl der deutschen Richter dieser Jahre, auf weite Strecken selbst ein Parteigänger war, fühlte weder Drang noch Berufung, gegen eine Regierung zu frondieren, deren Ausgangsposition im Winter 1933 nicht zu weit von seinen eigenen politischen Vorstellungen und Einstellungen entfernt war. Zum anderen liegt das im Dritten Reich verübte Unrecht auf der Hand. Die meisten sind sich heute klar darüber, dass juristischer Hilfestellung zu politisch und rassemäßig motivierten Verfolgungen keinerlei Entschuldigung zur Seite steht. Was übrig bleibt, sind die Grenzfälle. Was war normale Ausübung der Staatsgewalt? Wann geht die Ausübung von Staatsgewalt in kriminelle Tätigkeit über? Wieviel Glauben verdienen Schutzbehauptungen in Bezug auf Gefahren, die aus Nichtteilnahme entstehen konnten? Der Jurist im Dritten Reich war ein mehr oder minder willkommener Handlanger, dessen man sich zur wirkungsvollen und zweckdienlichen Abfertigung bediente. Es wäre aber – und ist es oft – auch ohne ihn gegangen, und sein Gruppenbeitrag bleibt zweitrangig. Dies unterscheidet ihn von seinem Vorgänger oder seiner eigenen Rolle in der Weimarer Republik. Im Gegensatz zum Dritten Reich war die Weimarer Republik ein Verfassungsstaat, der auf Gewaltenteilung beruhte. Staatliches Vorgehen gegen einzelne oder Gruppen bedurfte der Sanktion der Gerichte; dieselben Gerichte standen einzelnen und Gruppen zur Austragung ihrer Streitigkeiten untereinander unbehindert zur Verfügung. Mit Ausnahme der Befugnis, neue Richter zu ernennen und in ganz wenigen Sonderfällen – wie beim Staatsgericht zum Schutz der Republik – auch in bestimmte Ämter einzuweisen, vollzog sich die Ausübung der Gerichtsbarkeit im Rahmen einer sich selbst verwaltenden und nur ihrem eigenen Gewissen unterworfenen Justizbürokratie. Diesem sich unabhängig im sozia-
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len Raum bewegenden und amtierenden Richtertum wuchs durch die Macht der Verhältnisse wegweisende und entscheidende Bedeutung zu, weit über die Rolle hinaus, die es in der Wilhelminischen Epoche auszuüben willens und in der Lage war. Parlament und Regierung, die die berufenen Gegenspieler der Verwaltungsbürokratie und der Justizbehörden sein sollten, sind über lange Strecken entweder ganz ausgefallen oder durch die Gegensätze zwischen den Parteien, die relative Kurzlebigkeit und den Autoritätsschwund der Regierungen kein wirkliches Gegengewicht gewesen. Unter der Weimarer Republik mehr als unter der ihr vorangegangenen Monarchie, in der das Richtertum in seinem politischen Einfluss und seiner gesellschaftlichen Stellung hinter der Verwaltung zurücktrat, und sehr viel mehr als in dem nachfolgenden Dritten Reich hat die Richterschaft einen in vieler Hinsicht durchaus selbständigen Beitrag zur Entwicklung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse geliefert. Aber nächster Einwand: Die Bedeutung der Richter einmal zugegeben, kann man von der Richterschaft als einem Kollektiv sprechen? Handelt es sich dem Charakter der Rechtsprechung entsprechend nicht lediglich um Einzelentscheidungen in konkreten Rechtsfällen, die immer nur dem einzelnen Richter oder einer ganz kleinen Gruppe zugeschrieben und schwerlich auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Zugegeben, es gab Unterschiede. Richter und Staatsanwälte in Baden oder in manchem Berliner Gericht haben auf politische und soziale Probleme oft anders reagiert als ihre bayerischen, schlesischen, mecklenburgischen oder ostpreußischen Kollegen oder ihre Vorbilder im Leipziger Reichsgericht und in der Reichsanwaltschaft. Aber die Notwendigkeit von Differenzierung und Schattierung hebt weder die Tatsache auf, dass es sich um eine nach sozialer Herkunft und Bildungsgang – übrigens heute noch – relativ einheitliche Schicht handelt, noch, dass die Rechtsprechung maßgebend von der Führungsgruppe in der Reichsanwaltschaft und Reichsgericht geprägt worden ist. Es waren die dort vorhandenen politischen und sozialen Vorstellungen und die dort erarbeiteten Begriffe und die dort konzipierte Strafverfolgungs- oder Einstellungspraxis, die den juristischen Horizont der Unterinstanzen gebildet und die Formen gegeben hat, mit denen das politische und soziale Geschehen gemessen wurde. Es sind diese Kreise, die den entscheidenden Beitrag zu der Fixierung des Verhältnisses zwischen Richtertum und dem Rechtsbewusstsein der Bevölkerung gegeben haben. Die Stellung der Justiz im Rechtsbe-
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wusstsein der Bevölkerung war von Anfang an durch die durch und durch unkritische Form, mit der die Richterschaft ihr Verhältnis zur Politik definierte, getrübt. Für die tonangebenden Richterschichten, deren Äußerungen in den Artikeln der Richterverbandszeitungen und der maßgebenden Juristenzeitungen Niederschlag fanden, ist das Verhältnis von Justiz und Politik kein Problem gewesen. Der Richter im Talar und in der Urteilsfindung stand demnach jenseits der Politik. Die über den Einzelfall hinausgehenden Leitideen, die seinem Urteil zugrunde liegen, ergeben sich – positivistische Lesart – aus einer gesetzestreuen Textinterpretation oder – naturrechtliche Spielart – aus den der Rechtsgemeinschaft vorgegebenen Rechtsgrundsätzen. Gegen die Berücksichtigung von Elementen persönlicher Art, wie sie sich aus seinem sozialen und politischen Milieu und seinen eigenen politischen Anschauungen ergeben und sich sowohl bei seiner Beweiswürdigung als auch bei seiner Auswahl von Subsumtionskategorien niederschlagen können, schützen ihn sein juristischer Werdegang und die Konventionen seines Standes. Abweichungen kommen nur vereinzelt und ohne typenbildende Wirkung vor – sie werden durch die Doppelkontrolle der oberen Gerichtsinstanzen und eine wirksame Standesdisziplin ohne die Notwendigkeit des Dazwischentretens sachfremder Stellen bereinigt. Die Existenz eines schwierigen Problems wird auf diese Weise geleugnet und jeder Versuch seiner Erhellung als Angriff aus der parteipolitischen Sphäre gebrandmarkt. Wenn demgegenüber weite Kreise der deutschen Bevölkerung die Richterschaft als eine zwar organisatorisch selbständige, aber in ihrer Politik mit den Rechtsparteien im Gleichschritt gehende Kraft ansehen, so wird das als durchaus unberechtigter Angriff gegen die Integrität und Standesehre des unabhängigen Richtertums hingestellt. Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig! Diese fehlende richterliche Einsicht in die psychologischen, sozialen und politischen Grundlagen der Justizkrise bildet das verhängnisvollste Element in der schwelenden Vertrauenskrise der Weimarer Justiz. Es ist diese Geistesverfassung und ihre konkrete Abwandlung in der Gerichtspraxis der Weimarer Republik, gegen die sich ein guter Teil der in der »Justiz« vorgetragenen Gedanken zur Wehr setzt. Die hier wieder abgedruckte Chronik dieser Zeitschrift spiegelt sowohl die objektiven Voraussetzungen wider, unter denen sie ihre kritische Aufgabe erfüllte, als auch die Persönlichkeit und Auffassung der Verfasser der Chronik, die mit geringfügigen Ausnahmen in den ersten fünf Jahren in den Händen des 1945 in der holländischen Emigration verstorbenen Hugo Sinzheimer und in den letzten Jahrgängen in den Händen von
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Ernst Fraenkel lag. Im Jahre 1925 war die Institution einer Chronik in einer Juristenzeitschrift keine Seltenheit mehr. Insbesondere die vielverbreitete wöchentlich erscheinende »Deutsche Juristenzeitung« hatte seit dem Frühjahr 1912 dem Mannheimer Rechtsanwalt Max Hachenburg eine juristische Rundschau anvertraut. Ein Vergleich zwischen den beiden Unternehmungen ist interessant und auch deshalb gerechtfertigt, weil die beiden Zeitschriften in den zwanziger Jahren mehr als einmal die Klingen kreuzten. Hachenburg war bis zu seiner eigenen Emigration ein angesehener Anwalt und eine Autorität als Kommentator auf dem Gebiet des Handels- und Gesellschaftsrechts. Er gab seinem juristischen Publikum, auf das er einen großen meinungsbildenden Einfluss ausübte, zunächst immer eine Gesamtüberschau über die welt- und außenpolitischen Geschehnisse der Berichtsperiode; daran schlossen sich gesetzespolitische Gedanken, die Behandlung von Standesproblemen aller Art, sowie eine Auswahl und Kommentierung der wichtigsten Prozesse und Urteile, wie sie gerade die Öffentlichkeit beschäftigten. Hachenburg hatte durch lange Übung eine große Meisterschaft darin erlangt, strittige weltanschauliche und politische Probleme hinter einem dreifachen Schutzwall von Sachkunde, Abgeklärtheit und scheinbarer Objektivität zielsicher im Sinne der Wahrung traditioneller juristischer Standesinteressen zu beantworten; dazu gehörte als eiserner Bestandteil im Hachenburg’schen Vorstellungskreis die Lehre von der Überparteilichkeit der Justiz. Da er jede Woche schrieb und vielen Gegenständen sein Augenmerk zuwandte und außerdem mehr in der Welt der umsichtigen und vielschichtigen kommerziellen Interessenabwägung als in der Welt der politischen und sozialen Ideen zu Hause war, ging es bei der Behandlung mancher Fragen nicht ohne die Übernahme von konventionellen Klischees ab. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen der Sinzheimer’schen1 und der Hachenburg’schen Chronik am prägnantesten. Nicht nur, dass Sinzheimer seine in größeren Abständen erscheinende Chronik auf weniger Gegenstände konzentrierte und sich nicht lediglich dem gerade anfallenden Material zuwandte; ihn fesselten in erster Linie Probleme der Rechtsgestaltung. Tatsächliche Abläufe waren ihm mehr eine Durchgangsstation zur Entwicklung seiner eigenen Ideen. In der schönsten und würdigsten Entgegnung, die der offiziellen NS- und teilweise Universitätspropaganda über die unheilvollen Einflüsse der Verjudung der deutschen Rechtswissenschaft zuteil geworden ist, – Sinzheimers 1938 1 Zur Persönlichkeit und Würdigung Sinzheimers siehe Ernst Fraenkels Berliner Gedächtnisrede, abgedruckt in Juristenzeitung Band 13, [Heft 15, Tübingen] 1958, S. 451 bis 461.
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in Holland erschienenen »Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft« –, finden wir eine besonders eindringliche Schilderung der geistigen Leistung des österreichischen Rechtssoziologen Eugen Ehrlich. Hier nimmt ein verwandter Geist die bei Ehrlich klar vorgezeichnete Ablehnung der Idee einer in sich geschlossenen Rechtsordnung auf: »Die Gesellschaftsordnung in ihrer unerschöpflichen Fülle hat solche Anschauungen mit dem ihnen innewohnenden Korrelat, daß der an den Rechtssatz gebundene Richter nur aus diesem seine Entscheidung finden könne, bis auf den Grund erschüttert«2. Und Sinzheimer fährt dann fort: »Wer begriffe nicht, daß der Gesetzgeber der Wächter sein soll, der hoch auf dem Turm stehend, vor- und überschauend, zur rechten Zeit das Kommende verkündet. Wer wüßte aber auch nicht, daß der Gesetzgeber nur allzu oft diese Wacht nicht hält? Da tut eine Wissenschaft not, die kraft ihres Berufes die Signale gibt, wenn drohende Flut im Anzug ist«.
Sinzheimer hat ein solches Wächteramt ausgeübt, bis die Flut ihn selbst überspülte. Seine Chronik in der »Justiz« erlaubt uns jedoch, ihre einzelnen Etappen nachzuzeichnen. Bei der Ausübung dieses Wächteramtes kamen ihm einerseits seine in seinen arbeitsrechtlichen Arbeiten gefundenen Einsichten über den direkten und unmittelbaren Zusammenhang von Rechtsentwicklung und Lebensformen zustatten. Andererseits hat ihn aber seine praktische Tätigkeit als Politiker und Anwalt den unzerreißbaren Zusammenhang zwischen Staats- und Rechtsordnung mit all den darin liegenden Problemen erkennen lassen. So wenig der Staat eine nicht existierende Rechtsordnung ersetzen kann, so sehr muss er sich bei Strafe seines eigenen Verderbens an ihrer Gewährleistung und Durchsetzung beteiligen. Sinzheimer war Pluralist in seinem stets aufs Neue erprobten Instinkt für die aus der Gesellschaftsordnung spontan erwachsenden und vom Juristen zu bewältigenden, in rechtliche Form zu überführenden Sachzusammenhänge. Aber gleichzeitig hat der Rechtssoziologe und Rechtspraktiker Sinzheimer viel zu oft und zu intensiv den fehlenden Einsatz der staatlichen Autorität erlebt – man denke nur an seine 2 [Hugo Sinzheimer: Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft, Frankfurt am Main 1953, S. 204. Im von Kirchheimer zitierten Kapitel über Eugen Ehrlich heißt es im Original: »Wer begriffe nicht, daß der Gesetzgeber der Wächter sein soll, der, hoch auf dem Turme stehend, vor- und überschauend zur rechten Zeit Kommendes verkündet? Wer wüßte aber auch nicht, daß der Gesetzgeber nur zu allzu oft diese Wacht nicht hält? Da tut eine Wissenschaft not, die kraft ihres Berufs die Signale gibt, wenn drohende Flut im Anzuge ist«.]
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bitteren Erfahrungen in dem Untersuchungsausschuss zur Erforschung der Ursachen des Ersten Weltkrieges und an seine vergeblichen Bemühungen um die Schlichtung des Eisenarbeitskonfliktes von 1929 –, um nicht an dem zentralen Charakter des rechtsgewährenden Staates festzuhalten. Oft treibt daher der Rechtspolitiker zur Eile, um die vordringlichsten Aufgaben, die die Integrierung der Bevölkerung in eine lebenswerte Staatsordnung stellt, endlich zu bewerkstelligen. Von zweien seiner mit gleicher Nachdrücklichkeit erhobenen Forderungen ist die eine, die Einigung Europas, aus dem Stadium der Utopie inzwischen in das der Teilverwirklichung getreten; die andere, die Reichsreform, auf die er so große Erwartungen und Hoffnungen setzte, ist durch den Gang der Geschichte überholt worden. Sie ist der Tatsache zum Opfer gefallen, dass eine der seherischen Mahnungen Sinzheimers aus dem Jahre 1929, Kriege entstünden nicht nur durch sogenannte geschichtliche Notwendigkeiten, sondern auch durch ganz gemeine Handlungen verbrecherischer und unfähiger Individuen, zwischenzeitlich blutige Wahrheit geworden ist. Anfang der zwanziger Jahre hatte sich der Rechtspolitiker Sinzheimer mit aller Macht für die Verwandlung des Arbeiters zu einem gleichberechtigten Mitglied der industriellen Gemeinschaft als einer wichtigen Etappe der von ihm bejahten und als notwendig erachteten Zusammenarbeit zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum eingesetzt. Der Chronist Sinzheimer wird in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre niemals müde, die zwei Voraussetzungen herauszustellen, an die solche erfolgreiche Einbeziehung geknüpft ist: Erstens, dass die den Arbeiter aus der Unfreiheit und dem Druck erlösende Sozial- und Arbeitsrechtspolitik durch eine korrespondierende kollektive Wirtschaftspolitik ergänzt und gesichert werde und zweitens, dass die parlamentarische Republik genug Willens- und Führungskräfte hervorbringen müsse, um diese Aufgaben zu meistern. Ein großer Teil seiner Ausführungen ist der Kritik und den wachsenden Zweifeln gewidmet, ob seine eigene Partei, die Sozialdemokratie der Weimarer Zeit, dieser Aufgabe gewachsen sei. Diese Kritik ist umso bemerkenswerter, als sie nicht von einem dissentierenden Splitterelement kommt, sondern von einem der ursprünglichen Hauptträger des Werkes der Weimarer Nationalversammlung. Im Jahre 1931, als er daran verzweifelt, dass die politischen Kräfte noch in der Lage sein könnten, diese Aufgabe im demokratischen Sinn zu bewältigen, und daher bereit ist, seine Arbeit an der Chronik niederzulegen, ruft er folgerichtigerweise die Sozialpartner selbst auf, Unternehmer und Gewerkschaften, an die Stelle der versagenden politischen
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Organe zu treten und die notwendigen sozialen und ökonomischen Reformen vorzunehmen. Was den Rechtspolitiker Sinzheimer angeht, so sei hier nur ein kennzeichnendes Beispiel aus seiner Chronik wiedergegeben; es betrifft Sinzheimers Reaktion zu einigen neuen Veröffentlichungen zum Dreyfuß-Prozess, aus denen hervorgeht, welche deutschen Stellen damals die französische Öffentlichkeit über den wahren Sachverhalt aufklären wollten und welche mächtigeren Personen, wie Sinzheimer es ausdrückt, »bewußt und planvoll« die Unklarheiten im Interesse der Schwächung Frankreichs aufrecht erhalten wollten und dadurch den Durchbruch der Wahrheit verhinderten. Für Sinzheimer, insoweit der Erbe einer liberalen Generation, war das ein verwerfenswertes Verhalten. Der Drang zur Wahrheit, besonders zur wahren Sachdarstellung im zwischenstaatlichen Bezirk, die Notwendigkeit, die Bevölkerung über die wirklichen Vorgänge und Zusammenhänge aufzuklären, die sich wie ein roter Leitfaden durch Sinzheimers Chroniken der letzten Jahre zieht, ist inzwischen mehr und mehr abhandengekommen, beziehungsweise in die Aktendeckel der Geheimnisträger oder im besten Fall in die Klause der Spezialisten entschwunden. Die zwei letzten Jahrgänge der Chronik werden unter der geübten Feder Ernst Fraenkels, des damaligen Anwalts des deutschen Metallarbeiter-Verbandes und jetzigen Senioren der politischen Wissenschaften an der Freien Universität zu Berlin, gleichsam zu einer Art fortlaufendem Kampfkommentar zu den Etappen der Auflösung des Rechtsstaates. Mit derselben Eindringlichkeit ficht Fraenkel gegen die Gedankengänge der geistigen Wegbereiter des deutschen Faschismus wie gegen die Herrschaftsgelüste einer von Gesetzes- und Parlamentsbildung befreiten Bürokratie. Aber sein härtester Kampf gilt der sich mit unheimlicher Geschwindigkeit ausbreitenden Totalverlotterung der politischen Sitten- und Moralbegriffe. Vom Nationalsozialismus bewusst in den politischen Körper injiziert, finden diese Übergriffe oft kaum ernstlichen Widerstand, oft sogar Hilfestellung in den Amtsstuben der Verwaltung und der Gerichte. Bis zum Ende geht der Chronist Fraenkel mit ihnen unbarmherzig zu Gericht. Wenn der Leser diese Blätter, die gelesen und nicht nur nachgeschlagen zu werden verdienen, am Ende nachdenklich aus der Hand legt, dann wird ihm der positive oder negative Beitrag, den der Jurist auf der Universität, in der Verwaltung und in der Rechtspflege zur Ausgestaltung menschenwürdiger Verhältnisse leisten kann, voll zum Bewusstsein kommen. Gerade weil des Juristen Tätigkeit so oft die weithin sichtba-
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ren Akzente einer Epoche setzt, verdient sein Beitrag erhöhte Aufmerksamkeit. Diese zeitgenössischen Berichte, die acht schicksalsschwere Jahre der jüngsten deutschen Geschichte an uns heranbringen, stellen dafür eine einzigartige Fundgrube dar.
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Abkürzungen AAC Arch. F. öff. R. N.F. BArch BArch R BGB DDP DDR ders./dies. DHfP DJZ DNVP DVP Dr. des. éd. HbdDStR JW Jg. Jun. KomIntern KPD m. E. MEW NSDAP OVG Rfar. RGBl. RGO RGZ RV SA
Academic Assistance Council Archiv für öffentliches Recht, Neue Folge Bundesarchiv Bundesarchiv, Abteilung Deutsches Reich Bürgerliches Gesetzbuch Deutsche Demokratische Partei Deutsche Demokratische Republik Derselbe/dieselben Deutsche Hochschule für Politik Deutsche Juristen-Zeitung Deutschnationale Volkspartei Deutsche Volkspartei Doktor designatus Edition (französisch) Handbuch des Deutschen Staatsrechts Juristische Wochenschrift Jahrgang junior Kommunistische Internationale Kommunistische Partei Deutschlands meines Erachtens Karl Marx – Friedrich Engels – Werke Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Oberverwaltungsgericht Referendar Reichsgesetzblatt Revolutionäre Gewerkschafts-Opposition Reichsgerichtsentscheidungen in Zivilsachen Reichsverfassung Sturmabteilung
560
SAPD SPD SS USA USPD usw. VerwBl. Z.f.öff.R. vgl.
Abkürzungen
Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel United States of America Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands und so weiter Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt Zeitschrift für öffentliches Recht vergleiche
561
Personenregister Abendroth, Wolfgang 83 Adler, Max 20, 26, 27, 32, 49, 50, 52, 55, 68, 70, 134, 217-219, 515
Brüning, Heinrich 58, 67, 68, 75-77, 83, 85, 86, 88, 93, 96, 112, 114, 202-205, 331, 352, 382, 394, 396, 400, 528, 533
Ananiadis, Grigoris 27
Bryce, James 460, 488
Angerbauer, Wolfram 17
Bucharin, Nicolai 144
Anschel, Eugene 16, 19, 20, 82
Buchstein, Hubertus 16
Anschütz, Gerhard 33, 62, 154, 196, 252, 265, 266, 281, 298, 299, 304, 313, 315, 319, 388, 390, 402, 403, 413, 420, 421, 461-463, 469, 475, 477, 478, 487, 489
Bumke, Christian 60
Anter, Andreas 90
Däubler, Wolfgang 35
Arendt, Hannah 66
Dilthey, Wilhelm 369
Aulard, Françios-Alphonse 135, 366, 385
Dimitroff, Georgi 81, 108, 109
Austerlitz, Friedrich 454, 507
Duguit, León 137, 271, 303, 403
Baer, Frederike 17 Bauer, Gustav 102
Ebert, Friedrich 68, 203, 243, 245, 246, 528, 530, 535, 537
Bauer, Otto 368, 496, 515
Ehrlich, Eugen 555
Bavaj, Riccardo 27, 32
Ehrmann, Heinrich W. 17, 33
Beard, Charles 100, 339, 363, 467, 472, 503
Eisfeld, Rainer 111
Bebel, August 358, 364
Eisner, Kurt 212, 213, 547
Beckerath, Erwin von 358, 364 Beer, Max 192
Engels, Friedrich 29, 51, 52, 105, 106, 132, 158, 159, 192, 228, 495, 516-518, 520
Bendix, Ludwig 550
Erd, Rainer 83, 109
Benjamin, Walter 66
Erzberger, Matthias 44, 114, 211, 527, 543
Beradt, Charlotte 39
Eschenburg, Theodor 113
Berdjajeff, Nikolaus 138, 140
Fabian, Dora 66
Bernstein, Eduard 142, 145
Fabian, Walter 112, 245
Bismarck, Otto von 17, 183, 187, 247, 418, 523, 547
Fischer, Benno 48
Blanke, Thomas 86
Forsthoff, Ernst 22, 84, 85
Borkenau, Franz 107, 519
Bracher, Karl Dietrich 95, 114
Fraenkel, Ernst 33, 35, 61, 66, 68, 80, 82, 83, 88, 90, 103-105, 108, 109, 115, 235, 242, 392, 438, 449, 470, 497, 549, 554, 557
Braun, Otto 77, 115, 417, 538, 547
France, Anatole 161
Breuer, Stefan 31-33, 65, 80
Frank, Hans Georg 17
Boudin, Louis 100, 471, 472 Bourquin, Maurice 465
Burckhardt, Jakob 303, 512 Caldwell, Peter C. 31, 32 Cunow, Heinrich 28, 136, 137, 269
Flechtheim, Ossip K. 17, 23, 78, 109
Frank, Tibor 110
562
Personenregister
Frankfurter, Felix 100 Freisler, Roland 65 Freytagh-Loringhoven, Axel August Gustav Johann 202, 203 Frick, Wilhelm 245 Friedrich Wilhelm II. von Preußen 542
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 267, 276, 367, 394, 422, 435, 440 Heines, Edmund 36-38 Heller, Hermann 60, 61, 73, 93, 95, 102, 103, 241, 254, 264, 289, 413, 414, 446, 485, 506
Friesenhahn, Ernst 22, 306
Henkel, Michael 60
Fromme, Friedrich Karl 113, 539-541
Hennis, Wilhelm 17, 21, 115, 349
Fuchs, Ernst 550
Hermens, Ferdinand Aloys 506
Garner, James W. 100
Herz, John H. 16, 17, 33, 34, 36
Gasset, Ortega y 433
Heuss, Theodor 535
Gayl, Wilhelm von 443
Hilferding, Rudolf 41, 42, 58, 66, 171, 495
Gebhard, Ludwig 508
Hindenburg, Paul von 58, 66-68, 75, 77, 93, 94, 101, 105, 106, 113, 243, 246, 330, 409, 431, 541, 542
Geiger, Theodor 370 Geßler, Otto 112, 113, 535-538 Gierke, Otto von 318, 337, 367, 528
Hirsch, Julius 137
Gneist, Rudolf von 157, 289
Hitler, Adolf 10, 33, 37, 38, 80, 93, 94, 99, 106-108, 112, 328, 372, 384, 409, 425, 426, 504, 528, 529, 537
Gooch, George P. 111
Hofacker, Wilhelm 298, 304
Göppert, Heinrich 24, 25, 272, 279
Hofmann, Hasso 90
Goslar, Hans 362, 363
Holborn, Hajo 66, 508
Grabowsky, Adolf 111, 511-514
Holmes, Oliver Wendell 100
Graf, Engelbert 68
Holstein, Günther 62, 284, 287, 321, 346
Groener, Wilhelm 88, 390 Grüneberg, Horst 382
Huber, Ernst Rudolf 22, 59, 65, 75, 85, 87, 89, 98, 99, 302, 384, 394
Guérard, Theodor von 46
Huber, Max 325
Guizot, François 216
Hugenberg, Alfred 38, 76, 167, 331, 332
Gumbel, Emil Julius 550
Hula, Erich 16
Günther, Albrecht Erich 98, 425, 427
Inselmann, Claus 66
Gurland, Arkadij 68, 73, 109, 515
Intelmann, Peter 109
Gusy, Christoph 59, 67, 98
Jaffé, Edgar 91
Hachenburg, Max 554
Jaffé, Moritz 462
Haentzschel, Kurt 387
Jakowlewitsch Danilewski, Nikolai 137
Hatschek, Julius Karl 154, 155, 464
Jasper, Gotthard 114, 543-546
Hauriou, Maurice 86, 388
Jaurès, Jean 29, 139, 269, 270, 366
Havenstein, Ernst 286
Jay, Martin 32
Heckel, Johannes 473, 500
Jellinek, Walter 284, 317, 318, 475, 477, 478, 487, 505, 506
Glockner, Karl Adolf 390
Hedemann, Justus Wilhelm 65, 365-368
Jescheck, Hans-Heinrich 34
Personenregister Jhering, Rudolf von 272, 280
Landauer, Gustav 212
Johannet, René 142
Landsberg, Otto 171, 352, 550
Kahl, Wilhelm 157, 252, 296, 300, 304, 305, 412
Landshut, Siegfried 267, 435
Kahn-Freund, Otto 35, 66, 82, 88, 393
Laski, Harold J. 30, 111, 149, 267, 292, 460, 488
Kantorowicz, Hermann 550 Karl X., Philipp 398, 401, 402
563
Laqueur, Walter Zeev 113, 542
Kautsky, Karl 29, 105, 139
Lassalle, Ferdinand 61, 253, 265, 276-279, 284, 285, 310, 320, 365, 366
Kecskemeti, Paul 110
Lavisse, Ernest 494
Kellogg, Frank Billing 332
Lederer, Emil 91
Kemmerer, Alexandra 32
Legien, Karl 212, 214, 243, 467, 527, 530
Kennedy, Ellen 31, 32 Kirchheimer, Anna 17
Leibholz, Gerhard 292, 422, 454, 473, 486, 506
Kirchheimer, Fanny 17
Leites, Nathan 90-93, 458
Kirchheimer, Friedrich 17
Lenin, Wladimir Iljitsch 20, 29, 31, 107, 139-141, 143, 144, 146, 360, 372, 482, 520-525
Kirchheimer, Israel Emil 17 Kirchheimer, Leo 17 Kirchheimer, Max 17
Levi, Paul 5, 20, 21, 39, 40, 42, 43, 49, 55, 106, 163-166, 173, 237, 516
Kirchheimer, Moses 17
Lévy-Bruhl, Lucien 31, 141
Kirchheimer, Peter 10, 17, 108
Liebknecht, Karl 35, 213
Kirchheimer-Grossman, Hanna 10, 16, 17, 19, 25, 34, 109, 110
Liebknecht, Theodor 35, 83
Klingsporn, Lisa 14, 16, 26 Koch-Weser, Erich 46 Koellreutter, Otto 85, 87, 387, 388, 391, 415 Kohlmann, Ulrich 31, 32 Kohlrausch, Eduard 21 Korovine, Eugene A. 78, 147, 149, 323-327, 374 Köttgen, Arnold 508
Liebknecht, Wilhelm 35, 43 Liesegang, Thorsten 79 Linne, Karsten 74 Livio, Tito 369 Llanque, Marcus 32 Locke, John 60, 267, 268 Loewenstein, Karl 420, 468, 476, 488 Lord Acton, John Emmerich Edward 534 Lösche, Peter 74
Krebs, Alfred 38, 129
Löwenthal, Leo 17
Krebs, Otto 38
Ludendorff, Erich 70, 210, 211, 527
Kroner, Wilhelm 550
Ludwig XVI., August 179
Krückmann, Paul 266, 308, 309, 344
Ludwig XVIII., Stanislas Xavier 397
Kunz, Josef Laurenz 148
Lüpke, Reinhard 42, 49
Laband, Paul 154, 410 Ladwig-Winters, Simone 21, 35, 81, 108, 109 Landauer, Carl 509
Luthardt, Wolfgang 71 Lütkens, Charlotte 339, 466 Luxemburg, Rosa 20, 21, 27, 55, 69, 106, 107, 173, 210, 213, 516, 522, 523, 525
564
Personenregister
Lympius, Wilhelm von 420
Oborniker, Alfred 550
Machiavelli, Niccolo 369
Ooyen, Robert van 16
Mac-Mahon, Patrice de 402
Ossietzky, Carl von 21
Maier, Hans 115, 349 Malaparte, Curzio 79, 80, 369-372
Papen, Franz von 89, 93, 94, 98-100, 102, 106, 437, 441, 443, 448, 501
Malberg, Raymond Carré de 379
Pareto, Vilfredo 140, 142, 354, 355
Mannhardt, Wilhelm 425, 426
Paul-Boncour, Joseph 164
Mannheim, Karl 110, 446, 466, 513
Perels, Joachim 32, 59
Marcuse, Herbert 66
Pfabigan, Alfred 27
Marx, Karl 15, 27, 29, 31, 35, 51, 52, 55, 102, 106, 132, 138, 139, 141, 143, 158, 159, 216, 218, 225-228, 237, 274, 394, 422, 435, 442, 515-518, 520, 521, 523, 526
Pius XI. 371
Mayer, Hans 310
Plate, Ferdinand 427, 428 Platon 20 Poetzsch-Heffter, Fritz 202, 402 Popitz, Johannes 240, 395
Mayer, Jacob-Peter 435
Preuß, Hugo 112, 157, 224, 405, 410, 413, 467, 469, 528, 529, 533
Mayer, Otto 253, 254, 265, 282-284, 294, 305, 306, 315, 319
Preuß, Ulrich K. 32, 86
Mehring, Reinhard 18, 19, 22-26, 32, 33, 84, 90, 99
Pross, Helge 100
Meinecke, Friedrich 212, 213, 436, 547 Meinel, Florian 60 Menger, Anton 367 Meyer, Georg Christian Wilhelm 154, 275 Michels, Robert 74, 354, 355, 359 Mirkine-Guetzevitch, Boris 147, 290 Moldenhauer, Paul 58 Montesquieu, Charles de 268, 289 Müller, Hermann 48, 49, 66, 171, 173, 237, 331, 537 Münzer, Friedrich 20 Mussolini, Benito 54, 80, 185, 219, 372, 434 Nagel, Irmela 36, 38 Naumann, Friedrich 55, 174, 179, 205, 223-225, 284, 406, 527 Neumann, Franz L. 33, 35, 61, 66, 68, 72, 73, 80, 82, 83, 100, 108, 109, 111, 242, 270, 343, 461
Prévost-Paradol, Lucien Anatole 396, 398 Proudhon, Pierre-Joseph 133, 442 Radbruch, Gustav 48, 78, 223, 243, 463, 537, 550 Ramm, Thilo 115, 349, 549 Rathenau, Walther 44, 114, 329, 543 Reger, Erik 531 Remmele, Adam 213 Rengstorf, Ernst 49 Renner, Karl 28, 65, 134, 136, 137, 139, 296, 333, 334, 342, 365, 496 Ridder, Helmut 59 Riegner, Heinrich 35, 43, 66 Riemkasten, Felix 361 Rodbertus, Carl 278 Roffenstein, Gaston 485 Rönne, Friedrich von 397, 403 Rosenberg, Arthur 70, 211, 523 Rosenfeld, Hilde 20, 21, 34, 46, 81, 109
Neumann, Sigmund 465
Rosenfeld, Kurt 21, 33-35, 43, 49, 66, 82, 83, 108
Neumann, Volker 32, 33, 60, 90
Rosenstock-Huessy, Eugen 136, 147
Personenregister Rosenthal, Ludwig 18, 25
Seipel, Ignaz 368, 429
Rothfels, Hans 114
Seydewitz, Max 49, 83
Rothstein, Theodor 56, 192-195
Siemens, Carl Friedrich von 362
Rotteck, Karl von 135
Siemsen, Anna 68
Rousseau, Jean-Jacques 50, 92, 134, 215, 268, 355, 461, 463
Simitis, Spiros 28
Salomon, Albert 66, 74
Simons, Walter 252, 313, 412, 413
Salomon, Gottfried 459
Sinzheimer, Hugo 28, 35, 61, 115, 181, 183, 279, 299, 349, 549, 553-557
Salzer, Eugen 425 Sassulitsch, Vera 31, 138
565
Simons, Hans 448, 452, 506, 509, 510
Schäffer, Albert 32
Smend, Rudolf 9, 21, 22, 30, 32, 33, 55, 72, 73, 80, 91, 93, 97, 99-102, 236, 288, 413, 421, 434, 462, 463
Schale, Frank 14, 16, 32, 72, 104
Smoljanski, Grigorij Borisovič 360
Scheidemann, Philipp 102
Söllner, Alfons 14, 16, 32, 83
Schelcher, Walter 62, 264, 295, 300, 306, 313, 315, 317, 405
Sombart, Werner 91
Scheler, Max 9, 20, 21
Spengler, Oswald 269
Scheuerman, William E. 31, 32
Stahl, Friedrich Julius 61, 253, 265, 274, 279
Schacht, Hjalmar 220
Schiele, Martin 331 Schiffer, Eugen 102, 435, 436, 439, 440, 450 Schifrin, Alexander 74, 354-357, 359, 360 Schleicher, Kurt von 93, 99, 104, 105 Schmid, Carlo 78 Schmidt, Willi 36, 37 Schmitt, Carl 9, 10, 15, 21-27, 29, 31-35, 50, 52, 55, 57, 60, 62, 63, 65, 68-73, 78, 80-82, 84-86, 89-96, 99-102, 104, 112, 135, 139, 144, 148, 196, 198, 204, 218, 230, 236, 251, 252, 254, 264, 266, 269, 289, 294, 302, 304, 313, 315, 340, 343, 378, 379, 388, 393, 398, 399, 401, 405, 411, 412, 415, 416, 430-433, 437, 438, 440, 446, 447, 458-494, 500, 509, 533, 534
Sorel, Georges 29, 31, 139-143, 372
Stählin, Karl 138 Stalin, Josef Wissarionowitsch 29, 143, 246, 371 Stein, Lorenz von 61, 132, 248, 253, 265, 269, 271, 274-276, 279, 365, 367 Steinle, Stephanie 78 Stephani, Anka 72 Stinnes, Hugo 213, 214, 234, 467, 527, 530 Stolleis, Michael 67 Strauss, Leo 82, 91 Stresemann, Gustav 40, 41, 95, 167, 177, 409, 513, 535, 537 Suhr, Susanne 83 Tannert, Carl 57, 196-198, 491 Teubner, Gunther 28
Schulz, Gerhard 114, 547, 548
Thälmann, Ernst 81, 109
Schulze, Rudolf 155
Thoma, Richard 215, 290, 388, 403, 420, 421, 440, 461-463, 469, 475, 477, 478, 487, 489
Schumpeter, Joseph 91 Schwarzenberger, Georg 78, 79, 373-375 Seeckt, Hans von 164, 536, 537 Seignobos, Charles 494
Thomas, Albert 211 Thomasius, Christian 268
566
Personenregister
Timascheff, Nikolaj S. 145
Wagner, Martin 206
Tirpitz, Alfred von 163
Warren, Charles 472
Toller, Ernst 68
Webb, Beatrice 192
Trefz, Bernhard 19
Webb, Sydney 192
Tribe, Keith 32
Weber, Adolf 334
Triepel, Heinrich 21, 62, 252, 292, 304, 313, 412, 413
Weber, Alfred 91
Trotnow, Helmut 35
Weber, Werner 22, 25
Trotzki, Leo 68, 80, 145, 371
Wegerich, Christine 65
Tucholsky, Kurt 21
Wertheimer, Egon 56, 57, 194, 195
Vagst, Alfred 66
Wiethölter, Rudolf 28
Vignerot du Plessis, Louis François Armand de 269
Windthorst, Ludwig 418
Voigt, Rüdiger 28 Vorländer, Karl 19, 20
Wolff, Martin 59, 62, 252, 295, 296, 299, 300, 304, 305, 334
Wagner, Adolf 265, 278, 284, 285
Wolzendorff, Kurt 149
Wagner, Erich 155
Würzburger, Fanny 17
Weber, Max 91, 158, 226, 248, 376, 437
Wolf, Erik 268
567
Sachregister Abtreibung 47, 200, 201
Charisma 102, 434
Achtstundentag 57, 183
China, chinesisch 374, 520
Allgemeine Arbeiterunion (AAU) 392
Condottieri 329
Anhaltisches Berggesetz 313
Demokratie
Arbeiterklasse 26, 28, 42, 52, 57, 97, 107, 132, 133, 167, 171, 179-186, 193, 213, 215, 229, 290, 291, 392, 421, 423, 437, 456, 467, 507, 515, 520, 522, 525, 526 Arbeiterräte (Arbeiter und Soldatenräte) 44, 145, 189, 214 Arbeitsrecht 81, 88, 392-394 Auflösungsrecht 94, 396-407 Aufwertungsgesetz 291, 304, 308, 312, 344 Baupolitik städtische 64, 206, 208, 251 Baurecht 64, 347 Belgien 92, 109, 465, 468 Berliner Fluchtlinienfall 345 Berufsbeamtentum 85, 86, 88, 108, 294, 377 Betriebsrätegesetz 54, 183, 235, 392 Bolschewismus 23-33, 80, 132-151, 222, 520 Bürgertum 40, 41, 43, 51-54, 56, 63, 70-72, 75, 76, 135, 137, 157-162, 165, 167-169, 176, 178, 180, 183-185, 188, 192, 193, 201, 211, 216, 218-222, 225, 226, 228, 230, 240, 242, 247-249, 252, 253, 267-273, 280, 281, 289-291, 301, 321, 328-332, 335, 339, 349-352, 357, 362, 376, 377, 394, 397, 406, 408, 433, 439, 457, 518, 556 Bürokratie 70, 86-89, 96, 107, 114, 184, 188, 210, 219, 249, 351, 377-379, 382, 394, 395, 409, 411, 433, 435, 438-441, 443, 449, 451, 453, 499, 503-505, 507-510, 519, 525, 536, 557 Cäsarismus 439, 446
formale 27, 29, 31, 134, 136, 139, 146 in Gefahr 215 parlamentarische 92, 138, 382, 410 soziale 27, 70, 134, 215, 216, 217, 467 sozialistische 53,181, 509 Denkmalschutz 63 Deutsche Juristenzeitung 405, 414-417, 419-421, 554 Diktatur bürgerliche 185, 218, 219 des Proletariats 27, 515-526 plebiszitäre 508 Präsidialdiktatur 33, 101, 104, 405, 408, 418, 421 proletarische 33, 101, 104, 405, 408, 418, 421 Direktionssphäre 71, 238, 239, 242 due process of law 338, 339, 471, 478 Eigentum Gemeineigentum 232, 297 Privateigentum 44, 55, 61, 79, 160, 176, 178, 182, 189, 206-208, 232-234, 253, 263, 268-271, 273, 279-281, 284, 286, 288, 294, 296-299, 315, 316, 321, 333, 344-346, 365, 366, 387, 422 England/Großbritannien 56, 92, 103, 148, 163, 168, 192, 193, 195, 214, 222, 226, 268, 272, 400, 402, 403, 464, 465, 488 Enteignung Enteignungsartikel 54, 183, 267 Fürstenenteignung 113, 197, 225, 303, 312, 541
568
Sachregister
Erklärung der Menschenrechte 55, 176, 252, 270
soziale Heterogenität 440 Homogenität
Ermächtigungsnormen 469, 470
soziale Homogenität 217
Erworbene Rechte 265, 271, 278, 280, 295, 303, 321, 344, 346
staatliche Homogenität 418
Expropriationsinstitut 252, 253, 271 Faschismus 11, 16, 41, 48, 70, 78, 79, 83, 106, 107, 168, 218, 372, 485, 517, 519, 557 Fememordprozesse 36, 127
Hüter der Verfassung 43, 44, 187, 188, 190, 345, 396, 437 Imperialismus 78, 325, 360, 513 Inflation 203, 304, 529, 531 Institutionelle Garantie 62, 92, 294, 431, 461, 481, 485
Fideikommiss 265, 320, 321
Integration 30, 439, 465
Fideikommissgüter 320
Interventionsrecht 150, 326
Fiume 127 Fixierungsnormen 469, 470, 484
Italien 41, 54, 70, 79, 215, 218, 222, 460, 465, 513
Fluchtliniengesetz 64, 206, 207, 208, 251-263, 306, 319
Jurisdiktionsstaat 92, 464, 471, 473
Fluchtlinienrecht 340 Föderalismus 96, 411, 540, 547, 548
Justiz politische Justiz 48 Kapitalismus
Formelkompromiss, dilatorischer 71, 340
liberaler 335
Frankreich 43, 92, 110, 132, 159, 161, 163, 164, 168, 173, 176, 179, 180, 182, 192, 214, 216, 221, 222, 225, 226, 228, 235, 239, 246-248, 253, 269-273, 329, 528
organisierter 41, 42, 171
Freiheit 27, 88, 92, 107, 132, 134, 215, 223, 228, 231, 244, 247, 267, 268, 279, 287, 289, 294, 299, 369, 372, 393, 394, 424, 459-462, 475-478, 480-483, 485, 492, 497, 510, 521 Freirechtsschule 550 Führerauslese 226, 227, 422 Geschäftsregierung 87, 383, 384, 416, 417 gleiche Chance 478, 479, 481-485 Gotteslästerung 47, 201 Grundrechte 53, 56, 59, 61, 69, 71, 72, 92, 103, 177, 178, 181, 227-230, 236, 247, 289, 291, 298, 311, 340, 440, 447, 460, 471, 473, 478, 501 Haager Konferenz 350 Heer 39, 40, 164, 165, 179, 440, 521 Heimwehrbewegung 444 Heterogenität
Kapp-Putsch 36, 37, 182, 329, 370 Katholisch 20, 95, 334-336, 408, 412, 454, 485, 506 Kindestötung 201 Kommunistische Partei Deutschlands – Opposition (KPO) 391 Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 20, 44, 49, 81, 83, 84, 87, 88, 97, 99, 104, 108, 189, 386, 389, 391, 454 Kompromiss 15, 27, 58, 71, 77, 83, 153, 173, 230, 241, 329, 351-353, 362, 440, 444, 474, 475, 477, 478, 492 Krieg 10, 39, 40, 70, 79, 134, 148, 163-165, 188, 193, 235, 326, 329, 371, 433, 527, 532, 556 Labour Party 57, 192-195, 465 Legalität 80-93, 100, 101, 248, 376-395, 417, 430, 431, 458-494, 497 Legitimität 80-93, 101, 376-395, 431, 439, 458-494
Sachregister
569
Liberalismus 24, 26, 27, 57, 132, 133, 135-137, 140, 146, 194, 228, 271, 275, 297, 389, 481
Notverordnungsrecht 380, 381, 445, 446, 448
Liquidationsabkommen, deutsch-polnisches 251, 252, 266, 302, 313, 346
öffentliches Wohl 233, 282, 286, 347
Lumpenproletariat 106, 518 Majoritätsprinzip 148, 217, 475
Oberhaus 404, 422, 423, 439, 443, 444, 472 Österreich, österreichisch 27, 57, 102, 107, 194, 216, 365, 398, 404, 419, 444-446, 496, 555
Marxismus 19, 26, 31, 72, 217, 218, 223, 464, 515-526
Panamerikanische Konferenz 326
Masse 52, 57, 101, 107, 139, 144, 158, 159, 165, 173, 180, 185, 193, 194, 212, 222, 225, 330, 354, 356, 360, 362, 363, 431-433, 437, 522, 524, 526
Pariser Kommune 219, 246, 521, 523
Maßnahme 43, 45, 46, 67, 68, 86, 87, 89, 114, 144, 154-156, 203, 204, 256, 258, 263, 286, 301, 307, 317, 322, 343, 345, 347, 380, 393, 396, 412, 421, 422, 435, 436, 446, 480, 508, 521, 544 Mehrheitssozialdemokratie 70, 210 Mexiko 70, 210 Militärdiktatur 70, 98, 210 Ministeranklage 384 Misstrauensvotum 77, 103, 239, 381, 403, 416, 437, 448, 449, 501 Monarchie konstitutionelle 94, 157, 159, 273, 289, 290, 397, 398, 401, 403, 405 Nation 51, 72, 158, 161, 169, 223, 243, 247, 399, 423, 465, 495, 508, 529, 532, 534 Nationalkonvent, französischer 385 Nationalliberal 177, 210, 409 Nationalsozialisten 76, 79, 98, 328, 330, 331, 372, 425, 426, 507
Panzerkreuzer 39, 48-50, 152-156 Parlament Parlamentsgesetz 394, 409, 439, 455, 472, 486, 487, 491 Ständeparlament 439 Parlamentarismus 16, 24, 48, 51, 52, 69, 73, 76, 86, 98, 102, 142, 157-162, 219, 226, 331, 417, 444, 488 parlamentarischer Gesetzgebungsstaat 92, 95, 421, 435, 440, 463, 468, 471, 474, 482, 487 Partei bürgerliche 42, 47, 49, 58, 76, 95, 200, 219, 328, 329, 442 demokratische 160, 536 Fraktionspartei 328, 329 Massenpartei 196, 328, 356, 441 revolutionäre 87, 387, 388 Paulskirche/Verfassung der Paulskirche 280 Plebiszit 101, 103, 402, 404, 431 Pluralismus 86, 379, 512 Polengesetz 285
Nationalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP) 37, 38, 76, 77, 85, 87, 88, 93, 97, 99, 105, 106, 389-391
Politikwissenschaft 9-11, 111, 511, 512
Nationalversammlung 63, 177, 181, 183, 203, 214, 224, 275, 288, 299
Portugal 402
Verfassungsausschuss 203, 288, 289, 299, 401, 404, 405 Naturzustand 267, 268
Polykratie 512 Pommern 127 pouvoir constituant 440, 477, 478 pouvoir constitué 478, 491 Presse 10, 36, 43, 45, 110, 129, 139, 148, 152, 154, 156, 158, 160, 167, 194, 200, 242, 249, 345, 351, 358-460, 527
570
Sachregister
Preußen 34, 45, 77, 89, 90, 94, 95, 97, 115, 153, 154, 168, 191, 206, 210, 221, 273, 274, 282, 286, 383, 397, 400, 408, 411, 412, 414-416, 418, 419, 421, 424, 445 Preußen-Konflikt 95, 97, 408-424 Privatarmee 107, 518 Programmnormen 469 Prohibition 322 Proletariat 27, 30, 40, 41, 52, 79, 106, 139-143, 146, 158, 160-169, 177, 192, 216, 218-222, 224, 226, 249, 328, 357, 372, 377, 428, 465, 496, 515-526 Rat der Volksbeauftragten 213, 214, 294, 341 Rechtsnormen 204, 478 Rechtsstaat -sgedanke 26, 132, 135, 161, 255, 272, 289, 387 Regierung
Reichsverfassung (RV) 62, 65, 96, 183, 187, 189, 202, 204, 207, 216, 224, 225, 233, 236, 243, 252, 261, 262, 265, 266, 287-297, 299-301, 304, 306, 308, 309, 311, 316, 317, 320, 321, 333-348, 381, 388, 402, 404, 408-424, 431, 436, 455, 461, 462, 469-471, 474, 478, 479, 487, 489, 491, 500 Reichsverfassung, Artikel Art. 1 489 Art. 22 476 Art. 25 94, 397, 399-402, 405, 451, 502, 505 Art. 48 67, 68, 70, 75, 76, 95, 202-205, 218, 220, 245, 349, 352, 380-384, 390, 412-415, 419-421, 450, 540 Art. 54 448, 449, 501, 504 Art. 73 450, 485, 504 Art. 75 196, 318, 490, 491
-sbildung 69, 102, 169, 236-239, 406, 449, 450, 454, 501, 507
Art. 76 196, 411, 474-477, 489, 491
-sführung 69, 236
Art. 131 399, 472
Art. 109 62, 265, 291-293, 299, 473
Reichsanwaltschaft 189, 190, 552
Art. 137 483
Reichsarbeitsgericht 88, 392, 393
Art. 153 44, 59, 60, 62-64, 207, 208, 232, 233, 251-322, 334, 337, 341-344, 347, 348, 367, 472
Reichsbankpräsident 220, 239 Reichsbanner 330, 545 Reichsfinanzhof 205, 288 Reichsgericht 37, 43-45, 54, 63, 64, 95, 115, 183, 187-191, 206-208, 233, 242, 251-266, 283, 292, 305-307, 309-322, 339, 340, 342-348, 386, 413, 414, 473, 477, 489, 492, 501, 552 Reichspräsident 67-69, 72, 75, 85, 88, 89, 93, 94, 96, 101-103, 106, 136, 203, 204, 224, 225, 236, 243-246, 255, 312, 376, 380-382, 389, 396, 397, 399, 400, 405, 409-415, 420, 421, 429, 431, 435-437, 439, 443, 444, 450, 451, 456, 492, 501, 502, 504, 506, 508, 509, 533 Reichstag -sauflösung 75, 94, 99, 103, 106, 396-407, 449, 451, 505,
Art. 155 59, 206-208, 233, 234, 261, 295, 469, 471 Art. 156 233, 295, 297, 308, 341, 367, 469, 470, 506 Art. 159 484 Art. 165 288, 469, 470, 484, 506 Reichswehr 37, 40, 44, 85, 88, 112, 127, 128, 166, 189, 238, 244, 245, 329, 504, 536-538, 548 (Schwarze) Reichswehr 44, 127, 190, 329 Reichswehrminister 88, 112, 390, 535, 538 Reichswirtschaftsrat 235, 443 Repräsentation 52, 220, 246, 476, 479, 486-488, 492, 495 Republikanischer Richterbund 64, 83, 108, 115, 549
Sachregister Republikschutzgesetz 87, 114, 385, 390, 543 Revolution französische 55, 60, 70, 133, 135, 176, 180, 210, 227, 228, 234, 248, 249, 252, 265, 268-271, 282, 322, 342, 346, 365, 366, 385, 436, 464, 465 russische 107, 137, 143, 145, 224, 248, 360, 370, 516, 520, 522-525 Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO) 392 Richterbund 251 rule of law 378 Russland, Sowjetrussland 29, 30, 44, 137, 138, 145, 147-150, 163, 182, 190, 221, 222, 228, 247, 324-326, 437, 495, 513, 514, 520, 521, 524, 536
571
Autoritärer 97 Staatsgerichtshof 95-97, 189, 207, 255, 260, 292, 315, 343, 380, 404, 411-415, 421, 543 Staatslehre marxistische 495 Staatsstreich 79, 89, 90, 95, 96, 99, 101, 104, 105, 369-372, 387, 416, 423, 445, 500, 505 Staatstheorie 20, 22, 23, 25, 26, 28, 29, 80, 136, 150, 290, 368, 378, 431, 495, 512, 520, 524, 525 Städtebaugesetz 208, 265, 305, 306, 318, 345 Stahlhelm 300, 331 Stettin 36-38, 127, 128 Steuernotverordnung 203, 204, 312, 344
Rüstungsausgabe 40, 165
Stimmgeheimnis 197, 198
Sachsen 34, 70, 218, 244, 245, 315, 383, 416, 418, 420
Strafgesetzbuch 46, 47, 130, 199-201, 385, 390
Scheinkonstitutionalismus 437
Strafjustiz 39, 47, 48, 130, 199
Sicherheit und Ordnung, öffentliche 67, 95, 202, 412, 414-416, 419, 480
Strafrecht 16, 38, 43, 47, 48, 189, 199, 200, 242, 309, 386, 500, 507, 544, 550
Sozialdemokratie 27, 29, 39, 76, 77, 95, 103, 104, 106, 107, 132, 138, 151, 155, 163-166, 171, 184, 185, 202, 204, 211, 212, 329-331, 350-353, 360, 364, 387, 408, 446, 495-510, 519, 522, 525, 556 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 9, 10, 19-21, 35, 39-42, 46, 48-51, 54, 58, 59, 66, 67, 74, 75, 77, 80, 81, 83, 84, 93-95, 97, 99, 105, 108, 109, 114, 165, 192, 210, 363, 500, 507 sozialer Rechtsstaat 291 Sozialisierung 65, 178, 182, 233, 234, 304, 308, 341, 342, 367 Sozialismus demokratischer 60, 94, 105, 397, 423, 483, 508, 510
Supreme Court 319, 471, 472 Thüringen 34, 36, 70, 127, 129, 163, 199, 202, 218, 244, 328, 387, 414, 415, 418 Todesstrafe 37, 47, 48, 201, 487 Unternehmer 67, 68, 89, 183, 202, 203, 213, 214, 234, 329, 556 Vereinigte Staaten (USA) 9-11, 17, 65, 75, 79, 81, 92, 100, 110, 137, 206, 214, 243, 262, 270, 310, 319, 339, 419, 431, 466, 467, 471 Verfassung Französische von 1791 55, 180, 248, 252, 322, 341, 342, 346, 364 Französische von 1793 53, 55, 180, 341, 342, 346, 364
Sozialistengesetz 43, 188
Mexikanische 322
Spanien 468
nachdemokratische 97, 101, 432, 434, 436
Staat
Paulskirche 280
572
Sachregister
portugiesische 401 preußische 207, 261, 265, 266, 277, 280, 286, 293, 339 sowjetische 53, 55, 56
Wahlkreiseinteilung 40, 167, 169, 223, 453, 454 Wahlrecht
sozialistische 177, 510
Dreiklassenwahlrecht 41, 159, 168, 169, 221
spanische 404, 467, 470, 471
faschistisches Wahlrecht 222
Weimarer
Klassenwahlrecht 40
Reichsverfassung
Verfassungsberatungen 177, 181, 228, 229 Verfassungsnormen unabänderliche 102, 440, 475-478
Proportionalwahlrecht 167-169, 222, 223, 452-454, 476, 479, 481, 506 Verhältniswahlrecht 40, 41, 159, 422
Verfassungsreaktion 100, 102, 429-442, 444
Wahlrechtsbestimmung 26, 215, 220-224, 433, 444, 456, 465, 479, 481
Verfassungsreform 98, 100-104, 167, 239, 422, 429-431, 436, 439, 441, 443-457, 495-510
Wahlrechtsreform 40, 52, 103, 167-170, 422, 453, 506
Verfassungstag 61, 179-186, 349-353
Zensuswahlrecht 41, 51, 158-160, 168, 221, 226
Verrechtlichung 15, 28, 136, 137
Wahlreform 223, 422, 454, 488, 506
Verteilungssphäre 71, 72, 238-242
Wehrfrage 163, 165
Verwaltungsstaat 89, 136, 137, 438, 473
Wehrpolitik 112, 163, 185, 219, 535-538, 544
Völkerrecht 16, 22-24, 30, 78, 79, 147, 148, 246, 323-327, 373-375
Widerstandsrecht 228, 378
Volksbegehren 49, 103, 196, 212, 225, 431, 455, 489
Wien 335, 337, 409, 419, 445, 446, 454
Volksentscheid 57, 98, 103, 113, 196-198, 225, 450, 451, 455, 477, 486, 487, 489-491, 504-506, 508, 541
Wirtschaftsvertretung 452, 453
Wahlen 27, 30, 38, 41, 74-77, 93, 94, 97, 106, 135, 145, 156, 214, 221, 222, 225, 238, 239, 328, 402, 472
Zentrumspartei 46, 48, 58, 67, 77, 94, 95, 180, 210, 211, 286, 329, 331, 332
Wilna 127 Wisconsin 419 Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG) 213
Zuchthaus Untermaßfeld 38, 129-131