Gesammelte Schriften: Band 1 [Reprint 2020 ed.]
 9783112345948, 9783112345931

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Gesammelte Misten von

Ludwig Samberger

Verlin )9)3 Verlag von veorg Veimer

Studien und Dditstionen Bus fünfunOOreiljig Jabren

von

Ludwig Bamberger

Berlin J9)3 Verlag von ßeorg Beimer

Inhalts -Verzeichnis Sette

Weihnachtsbriefe

1.

Die Kunst zu schenken

2.

Etwas über das Briesschreiben

3.

Ein Weihnachtsbrief

4.

Über Toaste

5.

Fragen an die ewigen Sterne

6.

Über einige Formen des geselligen Verkehrs

7.

Über das Alter

Tie Französelei am Rhein, wie sie kam und wie sie ging

....

Ein Vademecum für deutsche Unterthanen Die deutsche Kolonie in Paris

. •...................................................................

Das Reich und die Wissenschaft Verdirbt die Politik den Charakter? Staatsmännische Indiskretionen

Die wahre Militärpartei Dunkle Vorstellungen

Die Aera der Toaste Fleisch und Brot — oder Papier?

Der staatserhallende Beruf der Hölle

Unsere Neuesten Die neueste Aera der Spekulation Bor 25 Jahren

Frankreich und Rußland.............................................................................................453

Weihnachtsbriefe.

Ludwig Barnberger'S Ges. Schriften.

L

1

Weihnachtsbriefe. darf ich die hier folgenden sieben Stücke im Sinne ihrer Entstehung und Stimmung wohl nennen. Um die Mitte Dezember des Jahres 1888 redete mich mein Freund, der Herausgeber der „Nation",

darauf an, ob ich nicht für die Festwoche einen Beitrag liefern wolle.

Mich reizte der Gedanke, mit unserem Publikum, wie die Jahreszeit es nahe legte, mich einmal von Dingen zu unterhalten, die etwas abseits vom gewohnten Wege lägen und zugleich durch die Intimität des Stoffes den Autor und seine Leser etwas menschlicher zusammen­

führten.

Auf diese weise kam mir das erste Stück „über die Kunst

zu schenken" in die Feder.

Und da es Beifall fand, ward die Bitte,

das Experiment zu wiederholen, jedes Jahr gegen die Festzeit hin er­

neuert und erfüllt,

von den auf diese Weise bis zu Weihnachten 1896

erschienenen neun Briefen folgen hier nur sieben, weil der vom Jahre 1889 über „Die Aera der Toaste" an eine spätere Stelle dieses Bandes gerückt worden ist, und der vom Jahre 1891 „In Ferienstimmung"

schon in dem II. Band dieser Sammlung, den „Eharakteristiken", Auf­ nahme gefunden hat.

August 1897.

L. V.

I.

Vie Kunst M schenken. La fa$on de donner vaut mieux que ce qu’on donne. Corneille,

schenken ist keine Kunst,

aber gut und richtig zu

schenken ist ein Stück aus der höchsten aller Künste, Kunst des Lebens. besonderen

Warum gerade

Feinheiten

Schwierigkeiten hat,

und

der

dieses Kapitel seine

demzufolge

seine

besonderen

begreift sich schon aus dem Umstand,

daß das Geschenk seiner genetischen Natur nach eine Wohl­ that ist.

Wie aber Liebe und Haß, so grenzen Wohl- und

Wehethun trotz oder wegen ihres Gegensatzes hart anein­ ander.

Hier kommt das zur Geltung, was wir Takt nennen,

eines jener Fremdwörter,

welches sicherlich auch der Herr

General-Postmeister des Deutschen Reichs nicht für entbehr­

lich erklären zu wollen den Takt hat.

Takt bedeutet die

gerechte Ausgleichung zwischen dem eigenen Gefühl und dem

des anderen, mit der Maßgabe, daß im Zweifel das Recht des eigenen Ich dem Recht des anderen zu weichen hat. Takt ist die Blüte der Humanität oder, wenn man sich den

modernsten deutschen Jargon aneignen wollte, das praktische Christentum im gesellschaftlichen Verkehr,

auf welchem Ge-

6 biete übrigens die orientalischen Völker den abendländischen

über sind. Nichts wäre irriger, als ihn zu verwechseln mit der Kunst, die Menschen zu behandeln, welche ja auch zu der Kunst des Lebens gehört, aber in ein ganz anderes Kapitel. In diesem spielt umgekehrt das Wehethun eine hervorragende Rolle. Die Kunst der Menschenbehandlung wird geschichtlich erwiesenermaßen auch sehr erfolgreich aus­ geübt durch Mißhandlung. Die Menschen haben von jeher am meisten Verehrung gezeigt für die, welche sie verachteten und zum Schemel ihrer Füße machten. Nicht nur die Er­ oberer, Herrscher und Staatsmänner haben dies Geschäft mit Virtuosität betrieben, sondern durch alle Abstufungen des Lebens hindurch läßt sich die Erscheinung beobachten. An dem Willensstärken Künstler, welcher die neueste Epoche der deutschen Musik in sich verkörpert hat, habe ich stets die konsequente und raffinierte Kunst, sich Anbetung durch Mißhandlung zu schaffen, angestaunt, und der Philosoph des Pessimismus, welcher durch eine bedeutsame innere Ver­ kettung der Liebling dieser musikalischen Schule geworden ist, hat zugleich in seiner Lehre den spekulativen Schlüssel zu diesem Geheimnis den Jüngern als sein Vermächtnis hinterlassen. Vor etlichen Jahren hat ein Engländer ein Büchlein geschrieben, in welchem er die Summe der Regeln des guten Anstandes unter dem Titel Don’t! zusammenfaßte. Was man alles thun soll, wenn man ein ordentlicher Mensch sein will, findet nach der lakonischen Formel, über welche diese praktische englische Sprache verfügt, seinen besten Weg­ weiser in der Erkenntnis dessen, was man nicht thun soll. Zwar sagt der, auch nicht unpraktische, Italiener chi non fa non falla, wer nicht thut irrt nicht, im entgegengesetzten Sinn, damit ausdrückend, daß man nicht aus Furcht zu irren vor dem Thun zurückschrecken sollte. Aber bei der

7 außerordentlichen Fehlsamkeit der menschlichen Natur und den tausend Schlingen, welche ihr der Versucher auf Weg und Steg bereitet, ist dem Thu' nicht! die größere Arbeit Vorbehalten. Nein sagen ist in der Regel schwerer und und führt seltener zur Reue. Man würde daher vielleicht die Kunst zu schenken auch am ersten ergründen, wenn man den Ausgang nähme von der Kunst nicht zu schenken. Je länger ich über die Sache nachdenke, desto mehr wird mir das einleuchtend. Wie manches Herzeleid wäre schon in der Welt vermieden worden, wenn manches Geschenk ungeschenkt geblieben wäre, und wie hätte die zur rechten Stunde und am rechten Ort

geübte Kunst, etwas nicht zu thun, sich da gelohnt ! Eigent­ lich ruht doch sogar das ganze Geheimnis aller Fehler un­ serer heutigen Gesetzgeberei in dem Verkennen der Kunst: nicht zu schenken. Unsere ganze Steuer- und Wirtschafts­

politik seit einem Jahrzehnt ist nichts als eine fortlaufende und im Gehen wachsende Reihe von Verstößen gegen diese Kunst, und der Mann, welcher ein kurzes ausdruckvolles Don’t für Parlamentarier und solche, die es werden wollen, zu verfassen unternähme, könnte seine meisten Sätze be­ ginnen mit den Worten: „Schenke nicht!" Z. B. schenke nicht aus den Taschen der armen Leute die Pfennige, welche

sie für Brot brauchen, den großen Herren, welche tausende von Morgen Feldes, mit Palästen und Jagdgründen darauf, ihr Eigen nennen —; oder schenke nicht einigen hundert wohlhabenden Branntweinbrennern eine Milliarde, welche wir für andere Dinge viel nötiger gebrauchen könnten. Am schwersten aber versündigt sich unsere heiß besungene Sozial­ politik an den Grundregeln der Kunst, nicht zu schenken. Noch eher dürfte man aus den Taschen der armen Leute die Pfennige nehmen, um den großen Herren zehntausend­ weise zu schenken, als um ihnen, diesen Armen selbst, die

8 aus ihrer Tasche genommenen Pfennige als Geschenk zurück­ zugeben. Jenes nimmt dem Armen und giebt dem Reichen, dieses nimmt dem Armen und vergiftet ihn mit dem, was

es ihm genommen. Es liegt ein Sinn darin, daß unser Gift im Englischen das Wort für Gabe ist, und im Deut­ schen selbst wird „Vergeben" für Vergiften gebraucht. Auch Gift ist nützlich, aber mit größter Vorsicht zu gebrauchen. Darum sollte man das Schenken am allerwenigsten in die Hand des Staates legen, d. h. desjenigen Wesens, dessen Verstand und Ehrlichkeit im selben Maße zurückgehen als seine Macht (nicht zu verwechseln mit Ausdehnung) wächst. Die Weisheit, welche heutzutage in allen Gassen gepredigt wird, die Weisheit vom sogenannten positiven Programm, ist die größte Thorheit der Zeit. Sie verlangt, das Thun immer mehr aus der verantwortlichen und sachverständigen

Fülle des millionenfältigen einzelnen Wissens und Gewissens in die eine unverantwortliche und beschränkte Einsicht des über dem Ganzen schwebenden Staates zu verlegen. Aber der Ruf zum positiven Thun hat einen so verführerischen Klang, daß immer mehr die Zahl auch der Kaltblütigen sich einschüchtern läßt. Einst kurierte die Arzneikunst des positiven Thuns in allen Fällen mit Blutentziehung, heute kurieren dre Politiker des positiven Thuns mit endlos an­ wachsenden neuen Gesetzen, die auf immer mehr Aderlässe hmauslaufen: neue Steuern, neue Beamte und neue Strafen.

Deutschland freut sich in diesen Tagen wieder seiner Weihnachtsbäume, und jeder sorgt nur, was und wie er schenke. Das Massenschenken zum Feste, wie jedes zu be­ stimmten Zeiten und nach vorgeschriebener Richtung, ist des Schenkens duftigste Blüte nicht. Was ihm abgeht, ist just die Freiheit: des Lebens höchste Gestaltung. Es läuft auch etwas Kindisches und etwas Barbarisches mit unter in

9 diesem tollen Rennen nach Einthun und Weitergeben; und

einer der niedrigsten aller Triebe, der der Nachahmung, entfesselt es immer mehr zum Unsinn. Auch hat die Ver­ zweiflung des Schenken-müssens und -nicht-wissens bereits eines der prosaischsten Hilfswerkzeuge in diesen Frohndienst der Liebe eingeführt: den „Wunschzettel". Ein Wunsch­ zettel unter Erwachsenen — ein Schritt weiter und der Schenknehmer kauft sich ohne vorheriges Fragen und Ant­ worten das Gewünschte selbst, läßt nur dem Schenkgeber einfach die Rechnung schicken. Der Wunschzettel unter Er­ wachsenen grenzt schon an die Tabaksdosen, welche gekrönte Häupter nach ihren Besuchen unter den Höflingen zurück­ lassen. In jeder Tabatiöre liegt ein Zettel, auf dem ver­ zeichnet steht, um welchen Preis das Geschenk beim Hof­ lieferanten wieder zu Geld gemacht werden kann.

Die Massenleistung treibt alles, was an Kunst erinnert, aus dem Spiel der Seelenkräfte heraus in das mechanisch

dahinwirbelnde Rad der Fabrikthätigkeit hinein. Wie un­ endlich mehr Wert hat ein einziges, in der Stille aus eigenem freien Antrieb dargebrachtes Geschenk, sinnig aus­ gewählt nach sorgfältiger Prüfung von Sache und Person! Das nur ist ein Zeichen wahrer Huldigung, und in der Wahl des Gegenstandes spiegelt sich das verständnisreiche Wohlwollen des Gebers für den Empfänger. Denn ein Geschenk soll weder etwas ganz Überflüssiges, noch etwas

ganz Nützliches sein. Jst's ganz überflüssig, d. h. auch zur Befriedigung des letzten Luxus- und Verschönerungsbedürf­ nisses nicht zu brauchen, so ist es lästig (man denke an die hunderttausend gänzlich sinn- und zwecklosen Stickereien und Häkeleien, die in solchen Tagen durch die Lüfte schwirren) — und ist es ganz nützlich, so ist es erstens prosaisch und zweitens sinnwidrig. Das Schenken soll aber poetisch sein, wenn auch nur ein bischen. Sein Vaterland ist im Be-

10 reich der Poesie des Lebens. Schon daß es an den Christ­ abend anknüpft, giebt Zeugnis davon, und eigentlich ist es ja das Christkind, welches die Gabe bringt aus dem fernen Morgenlande den lieben Kindlein. Alles wunderschön und eins zum andern stimmend. Kindern und Armen kann man immer schenken, beide sind unselbständig und abhängig, die Kinder unersättlich an kleinen Freuden, die Armen ver­ waist daran. Die Feststimmung der Erwachsenen, die sich

um den beladenen Tisch sammeln, hat ihre Wurzeln einzig und allein in den Erinnerungen der Kindheit. Wer erst in reiferen Jahren an diesen Brauch herantritt, kann dessen Zauber nur unvollkommen nachfühlen. Einst waren es ge­ wiß nur die Nüsse und Äpfel, die später vergoldeten, die Pfeffer- und die Mandelkuchen, welche an den Baum ge­ hängt wurden. Aber wie hat sich das ausgewachsen und bis in die derbste Prosa hinaus! Was kann man nicht alles heute ausgebreitet sehen unter den Tannenzweigen, die den Geistergruß aus dem

germanischen

Walde

und

unter den Lichtlein, welche den Himmelsgruß vom Stern des Morgenlandes bedeuten? Dinge habe ich liegen sehen, welche sogar die Feder zu bezeichnen sich sträubt, Dinge, die das Auge nur hinter den verschlossensten Thüren zu sehen bekommt, freilich Dinge nicht überflüssiger, man kann nicht einmal sagen, nnluxuriöser Art. Und woher das alles? Nur weil aus dem sinnigen Erfreuen ein alles umwühlender Völkersturm geworden ist. Das Ideal eines Geschenkes ist ein über das alltäg­ liche Bedürfnis hinausgehendes, das Leben verschönerndes, der Person des Empfangenden möglichst sorgfältig ange­ paßtes Objekt. Das Nützlichste schafft sich ein bemittelter

Erwachsener am besten selbst an.

Die landläusige Thor­

heit, daß ein wildes Schenken unnötiger Dinge das Gute habe, „Geld unter die Leute zu bringen", thut das Ihre,

11

um dergleichen Auswüchse zu fördern. Dasselbe Geld würde doch ausgegeben, nur zu gelegener Zeit, für den Käufer wie für den Verkäufer richtiger gewählt und ver­

teilt. Aber die Theorie von der Nützlichkeit der Verschwen­ dung für Handel und Wandel ist den Menschen nicht aus dem Kopf zu bringen, wie so vieles. Preise dem Kinde die Puppen, wofür es begierig die Groschen Hinwirft; wahrlich du bist Kindern und Krämern ein Gott.

Wenn doch einmal auf Einen Moment das Schenken entfesselt werden soll und keiner sich der Sitte entziehen mag, so ist das rein symbolische Schenken das wahre. In romanischen Ländern schenkt man nicht am Christabend, sondern auf Neujahrstag, und obwohl auch hier die Sitte auszuarten anfängt, bewahrt doch die sinnbildliche Natür

der Gabe die Herrschaft.

Blumenspenden, Konfekt, Lecker­

bissen, Vergängliches, Schönes und Süßes, den Kindern und den Frauen, um deren Huld geworben wird. Das Sprüchwort sagt dort: Die kleinen Geschenke unterhalten die Freundschaft, les petits cadeaux entretiennent l’amitie. Das Wort cadeau bedeutet auch seinem ursprünglichen Sinn nach nichts anderes als geringfügige Verzierung. Bis zum sechzehnten Jahrhundert ward es

lediglich gebraucht zur Bezeichnung der Arabesken, mit welchen die Schreiblehrer ihre großen Anfangsbuchstaben auf den Vorlegeblättern verzierten, und der Sinn war der einer Windung oder Kette, vom lateinischen Catellus, wo­ raus im Provenyalischen cadel und im Französischen ca­ deau geworden war. Erst im sechzehnten Jahrhundert kommt die Bedeutung von lieblicher futiler Kleinigkeit hinzu. Faire des cadeaux hieß soviel als sich mit nich­ tigen Dingen die Zeit vertreiben. Im mariage force von Mokiere heißt nod). J anne les visites, les cadcauxj

12 les promenades, en un mot toutes les choses de plaisir. Im siebzehnten Jahrhundert bekam das Wort sogar ganz

besonders den Sinn eines den Frauen gegebenen Festes, und man bediente sich der Wendung donner aux femmes un cadeau de musique et de danse. So giebt der Ausgangspunkt des romanischen Wortes selbst Zeugnis für den richtigen Sinn feinfühligen Schenkens. Wo die Region des Ernstes beginnt, wird überhaupt das Schenken ein Geschäft eigener Art. Es kommt der Regel nach nicht zwischen Gleichen vor, sondern geht ent­ weder von oben nach unten als ein Gnadengeschenk oder von unten nach oben als eine Huldigung. Letzteres über­ wiegt. Darum schon ist es mit Vorsicht zu üben. Wer einem Gleichstehenden regelmäßig schenkt, kommt leicht in

den Schein, sich um dessen Gunst zu bewerben. Daher darf man den Frauen unbedenklich immer schenken, weil diese Bewerbung nie herabdrückt. Bekanntlich wird, nicht ohne Fug, behauptet, kein Verhältnis zwischen zwei Men­ schen beruhe auf völliger Gleichheit, und je gleicher ein­ ander Zwei sind, desto eher kann eine Reihe mehrdeutiger Handlungen das Zünglein der Wage ins Schwanken bringen. Die kleinen Geschenke unterhalten die Freund­ schaft, die großen können ihr gefährlich werden. Schenken ist nicht bloß ein Akt zärtlicher Aufmerksamkeit, es ist auch ein Akt des Vertrauens. Schenke nicht wo du fürchten mußt, der Empfänger sehe darin eine Pflicht der Huldi­

gung. Sofort wirst du sein Untergeordneter, und wo er nur Pflicht sieht, erntest du keinen Dank. Darum soll man sich auch nur sehr mit Auswahl auf das Schenken zu regelmäßigen Terminen einlasfen. Die Vergangenheit bindet die Zukunft, und die anmutige Freiheit wird verdrängt von der steifen Pflicht. Das älteste Schenken war zweifelsohne der Tribut.

13 Alle die vielgestaltigen Formen, welche der Starke erfand, um den Schwachen zu brandschatzen, oder der Schwache, um sich vom Starken Schonung auszuwirken, von den Opfer­ tieren, welche vor Vieltausend Jahren auf den Altären der gefürchteten Götter geschlachtet wurden, bis zu dem Trut­ hahn, den der Bauer dem Pfarrer noch heute in die Küche bringt, sind nur verschiedene Gestaltungen desselben Ge­ dankens. Bei den orientalischen Völkern gehört das Schen­ ken der Kleinen an die Großen von jeher zu den Formen des Staatsverkehrs, und die regelmäßigen Zwangsgeschenke des Vasallen an den Lehnsherrn spielen dieselbe Rolle in unserem Fendalwesen. Zwar sind die Philologen darüber uneinig, ob das romanische Regalo, welches im Italienischen noch heute das Hauptwort für Geschenk und aus dem Spanischen ins Italienische, von da ins Deutsche und Fran­ zösische übergegangen ist (regaler, regalieren) vom lateini­ schen Rex und regalis abstamme. Jedoch stimmt die Sache dem Sinn nach so ganz und gar zusammen, daß man sich

durch kleine Zweifel, die aus den Gesetzen der Lautum­ bildung gezogen werden, daran nicht irre machen zu lassen braucht. An die größten Sultane und die kleinsten Neger­ fürsten tritt man bis auf diesen Tag zur ersten Anbahnung der Beziehungen mit Geschenken heran. Jedes Palaver mit König Coffi und König Bell, welche wir vor vier Jahren zur Zeit der seligen Lüderitz-Begeisterung auf Händen trugen und auf allen Jahrmärkten im Bild verehrten, wurde mit einem Geschenk eröffnet. Zwar auch Geschenke geben ist fürstlich, besonders aber doch Geschenke nehmen, so sehr, daß es nicht einmal zu Dank verpflichtet, unter Umständen zur Ungnade ausschlagen kann. Als Isabella von Kastilien eines Tages auf einer Reise von katalanischen Webern ein Dutzend seidener Strümpfe überreicht wurde, herrschte sie die Deputation zornig an mit den Worten: eine Königin

14

von Spanien hat keine Beine. Ob die Camarera mayor nicht die Strümpfe behalten und die Königin sie schließlich getragen hat, weiß die Geschichte nicht zu erzählen. Ich vermute es aber. Umgekehrt zu diesen Strümpfen sind in alten Zeiten Handschuhe eines der beliebtesten Geschenke bei Königinnen und sogar bei Königen gewesen.

Namentlich

in den Aufzeichnungen des englischen Hofhaltes nimmt diese Besonderheit einen großen Platz ein. Die ersten parfü­

mierten Handschuhe brachte Edward Vere, Graf von Ox­ ford, der Königin Elisabeth aus Italien im fünfzehnten Jahre ihrer Regierung mit. Stow, der Chronist, beschreibt sie ausführlich; sie waren bestickt mit vier Rosetten aus bunter Seide, der Parfüm aber, mit dem sie versehen waren, hieß von da an Lord Oxfords Essenz. Die Königin fand an diesem Luxus solchen Geschmack, daß sie, die im Nehmen sehr stark war, immer von neuem zu solchen Ge­ schenken ermunterte. In Nichols Progresses of Queen Elizabeth sind von 1577—78 verzeichnet: zwei Paar von Lady Mary Grey; ein Paar, parfümiert, mit 23 Gold­ knöpfchen, von Lady Mary Sidney; von Petro Lupo, von Joseph Lupo und von Caesar Caliardo je ein Paar. Auch unter der Königin Maria kehren die Verzeichnisse der ge­ schenkten Handschuhe immer wieder. Antonio Perez, der nach der Ermordung Escovedos nach Paris geflüchtete Minister Philipps II., begleitete seine Bettelbriefe an Heinrich IV. mit Geschenken parfümierter Handschuhe. Spanien, nicht Italien, hatte diesen Luxus zuerst ein­ geführt, guantes de polvillo. In Spanien sagt man statt Trinkgeld und Pourboire auch para guantes, für ein Paar Handschuhe. Geschenke hießen ferner in Frankreich die großen Steuern, welche von weltlichen und geistlichen Körper­ schaften eingetrieben wurden; ja sie wurden sogar ausdrück-

15 lich in der Amtssprache als nicht geschuldete, freiwillige Geschenke bezeichnet, dons gratuits — ein Beweis, wie Botmäßigkeit und Schenken zusammengehen. Auf diesem Gebiet des Tributgebens verdiente die Besonderheit des Geldschenkens eine eigene Betrachtung. Aber sie würde uns zu sehr in die Breite führen, und einen großen Ab­ schnitt daraus hat überdies Jhering in seiner Studie über die Trinkgelder behandelt. Auch hier gilt die Regel des Lebens, daß, was im kleinen herabdrückt, im großen ehrt, wie der Unterschied vom Einstecken silberner Löffel und ganzer Länder bekanntlich lehrt. Eine ansehnliche Bezah­ lung heißt Honorar, und viele Hunderttausende, als Ge­ schenk überreicht, werden zur glänzenden Huldigung. Aber dennoch steckt in der Annahme von Geld wieder so sehr die Gefahr des Abhängigerscheinens, daß auch der Höchstgestellte eine Million nicht von einem benannten Lebenden, sondern nur von ungenannten Bielen annehmen könnte. Das Anonymat entbindet von Dank und Abhängigkeitsgefühl. L’ingrätitude est l’independance du coeur. Eine große Er­ leichterung für zartes Geldschenken hat die moderne Erfin­ dung des Papiergeldes verschafft, welche von der plumpen Darreichung des schweren Metalls entbindet. Talleyrand erbat sich eines Abends die Erlaubnis, der Sängerin Da­ moreau - Cinthie die Locken aufwickeln zu dürfen. Als sie des Morgens ihre Papilloten löste, waren es lauter Bank­ noten von tausend Franken. Merkwürdig ist, wie verschieden die verschiedenen Be­ weggründe zum wohlthätigen Schenken wirken. Dauerndes stilles Elend regt lange nicht so sehr zur Freigebigkeit an, wie einmalige große Katastrophen. Überschwemmt oder ver­ brannt zu werden, ist beinahe ein vorteilhaftes Geschäft. Zwei Umstände wirken hier zusammen: einerseits die Dank­ barkeit des Publikums für die genossene Sensation, anderer-

16 das hätte auch dir passieren können. Die Sammlungen nach dem Brand des Wiener Theaters brachten bekanntlich so viel auf, daß man in Versuchung kam, die entferntesten Verwandten der Opfer damit aus­

feite der Gedanke:

zustatten. Das Zuvielgeben hat nicht nur in dem Massengeben

feilte Gefahr, auch in dem wohlbedachten Geschenk des Einen an den Andern lauern Klippen. Ein süddeutsches Volkssprichwort sagt: Zu viel Ehr' ist eine halbe Schänd', und der Dichter führt das aus mit den Worten: Un Service au-dessus de tonte recompense ä force d’obliger tient presque Heu d’offense.

Man darf den Empfänger nicht unter der Wucht des Wohl­ wollens erdrücken. Auch zu viel Dank ist eine Quelle von Undank. Die deutsche Sprache ist von den großen europäischen nebst der griechischen die einzige, welche ein besonderes Zeit­ wort für Schenken hat. Die Lateiner wie die Romanen gebrauchen dafür nur das Wort Geben, wogegen es an Substantiven nicht fehlt, wie present, cadeau, regal u. a. m. Die Deutschen haben die Bezeichnung für die Freigebigkeit von ihrem Lieblingsgeschäft, dem Trinken, hergenommen. Schenken ist dasselbe wie Einschenken, der ältesten und nächstliegenden Art der Altvordern, einen Liebesdienst zu erweisen. Der Stamm des Wortes ist das ausgehöhlte Bein, sceonca, welches als Laufrohr am Faß diente, wo­ von das Zeitwort scencan, einschenken (derselbe Stamm ist in Schenkel und in Schinken). Im alten Französischen kommt, dem nachgebildet, das Wort chinquer vor, gleich­ bedeutend mit Zechen, ohne Zweifel durch die deutschen reitres eingebürgert, wie trinquer, Zutrinken, und un Wiedercome, ein Humpen. Auch Echanson, der Mund­

schenk, kommt aus dem Deutschen.

17 Nun hab ich aber so viel vom Schenken geredet, daß es unangenehm auffallen würde, wollte ich selbst dem Leser nichts schenken. Ich schenke ihm also den Rest dessen, was ich über dies interessante Thema noch sagen könnte, und ich bin gewiß, dafür wird er mir dankbar sein. Im übrigen wünsche ich ihm, mit der Inkonsequenz, die von wahrer Lebensweisheit zeugt, daß ihm zum Feste viel ge­ schenkt werde und, was noch schöner, daß er selbst viel schenke. Sollte er aber nach der einen oder anderen Rich­ tung hin nicht mit seinem Schicksal zufrieden sein, so empfehle ich ihm jenes Gedicht, welches schließt: Braver Mann! er schafft mir zu Effm! Will es ihm nie und nimmer vergeffen!

Schade, daß ich ihn nicht küffen kann!

Denn ich bin selbst dieser brave Mann.

n. Etwas über öas Vrieffchreiben. Ein Mann, der sich „Giotto“*) nannte — die an­ deren nennen ihn wohl anders — hat vor etlichen Monaten

Reihe von Betrachtungen über das Buch des Eng­

eine

länders Sir John Lubbock, welches von den „Freuden des Lebens" handelt,

diesen Blättern veröffentlicht.

in

drei Artikel waren meines Erachtens

an Form und Inhalt.

Diese

ein wahres Kleinod

Es ist zwar gegen das Herkommen,

den Mitarbeiter eines Blattes

in diesem selbst zu loben.

Aber ich meine, ungewöhnliche Dinge berechtigen zu unge­ wöhnlichem möchte

Des

Thun.

denke ich gewiß

zu

Einverständnisses

sein.

ich diesen Giotto,

jetzt wieder

des öfteren

Muster empfehlen.

Uns

stand.

den

unserer

Leser

Schreibenden,

dem ich zu meinem Vergnügen

in diesen Blättern begegne,

zum

Das beste läßt sich ja nicht lediglich

mit gutem Willen nachahmen, Wissen,

aber,

weder der Geist noch

das

weder der gute Geschmack noch der gesunde Ver­ Aber in Einem läßt sich wenigstens nacheifern, ich

meine in der Schreibweise, ein Wort, das noch etwas mehr besagt, als Stil.

So oft ich

etwas

aus Giottos Feder

*) DirS war das Pseudonym Otto Gildemeisters in der „Ration".

19 zu Ende gelesen habe, klingt mir's in den Ohren, wie die Schlußworte eines ehrwürdigen Attinghausen — man

braucht ja nicht notwendig zu sterben, um ehrwürdig zu sein —: „Seid einfach, einfach, einfach!" Und die Mah-

uung scheint mir immer mehr nachdrücklicher Wiederholung zu bedürfen. Wo ich ein neues Talent auflommen sehe und mich über eine erste Leistung freue,

zwingt mich Er­

fahrung, sofort zu fürchten, daß ich beim zweiten Male schon einen Ansatz zur Verbildung in der Schreibweise ge­

wahren werde, und beim dritten Male trifft es meistens zu. Man hat den deutschen Schriftstellern so lange ihre Form­ losigkeit vorgehalten, daß sie sich zu einem großen Teil in die Manier hinübergeschraubt haben. Mehr will ich für diesmal nicht sagen, und ich hätte auch so viel nicht als Introduktion bei den Haaren herbeiziehen dürfen, wenn nicht mein Gegenstand, das Briefschreiben, ganz besonders geartet wäre, jene Mahnung zu empfehlen. Weder beim Schriftstellern noch beim Reden kommt man mit der Ein­ fachheit allein aus. Zwischen beiden in der Mitte steht der Brief. Hier hängt das Gelingen lediglich davon ab, einfach und natürlich nur aus sich selbst zu gestalten. Jene drei Artikel über die Freuden des Lebens hatten noch ein ganz besonderes Verdienst. Ich sage Artikel. Heut­

zutage nennt man das Aufsätze. Ich finde das Wort in dieser Anwendung entsetzlich. Es führt unmittelbar auf die Schulbank zurück. Allen Respekt vor ihr, aber ihre Ver­ längerung ins Leben hinein scheint mir bei uns nicht Be­ dürfnis.

Ob man,

wie jetzt gemeint wird, das Leben in

der Schule lernen kann, ist mir zweifelhaft. Vitae non scholae dischnus heißt: wir sollen für das Leben, aber nicht das Leben lernen in der Schule. Mir ist bang, es geht alles auf mehr Dressur hinaus, und wir haben davon schon eher zu viel als zu wenig. Kann man Menschen zu

2*

20 Freien dressieren? Ich meine: zu innerlich Freien? Das sollen sie doch werden, nicht politisch, — Gott bewahre! Das besondere Verdienst besagter drei Artikel bestand darin, daß sie einen der Mühe überhoben, das in ihnen besprochene Buch zu lesen. Nach dem großen Dank, den sich ein Mensch dadurch erwirbt, daß er uns ein schönes Buch verrät, kommt gleich derjenige, den wir ihm dafür schulden, daß er uns die Mühe spart, ein wenig schönes zu lesen, besonders wenn der Titel verführen könnte. Giottos Betrachtungen über die gewiß viel köstlicher als und indem sie uns vor nach bekanntem Rezepte Sir John Lubbock

Freuden des Lebens waren ganz der Inhalt des englischen Buches, demselben warnten, verbanden sie ein Vergnügen mit einem Nutzen. beging den Fehler, daß er etwas beweisen wollte. So verstehe ich auch dem Grunde nach Giottos Kritik. Hätte jener sich damit begnügt, die Freuden des Lebens zu beschreiben, und wären es auch nur die Freuden seines Lebens gewesen, so hätte er uns er­ freuen und belehren können. Aber das Leben ist schon zu

alt, um ihm noch ein Leumundszeugnis, ein gutes oder ein böses, auf den Weg zu geben. Man braucht es gar nicht zu verteidigen gegen die, welche uns beweisen wollen, daß es noch schlechter sei, als wir meinen. Was soll mit letz­

terem Beweise bezweckt werden? Daß wir uns weniger vor dem Tode fürchten? Ich bezweifle die Wirksamkeit dieser Methode. Und wie der alte Montaigne sagte: schließ­ lich können wir's ja doch alle, das Sterben nämlich, und brauchen es nicht zu lernen. Wenn die großen Pessimisten, Sakia Muni, Pascal oder Schopenhauer gegen die Freuden des Lebens predigten, so war eben das ihre Freude am Leben. .Tot hätten sie dies Vergnügen nicht haben können.

Bei all dem giebt es doch etwas wie Lebensweisheit. Aber es gilt von ihr das Wort, womit jener Professor der

21 Weltweisheit sein Kollegium vor den Studenten zu eröffnen pflegte: Meine Herren, Philosophie kann nicht gelehrt und nicht gelernt werden. Es wird niemals entschieden werden, ob das Leben gut oder schlecht sei, ob es mehr Leiden oder mehr Freuden biete, wie gleich oder wie ungleich diese und jene verteilt seien. So viel aber steht fest: es giebt Freu-

den, und da unser Leben viel mehr aus Kleinem als aus Großem zusammengesetzt ist, so giebt es auch der kleinen

Freuden viel mehr als der großen, und die kleinen zu ehren

ist Lebensweisheit. Zu den großen unter den kleinen Freuden gehört das Briefschreiben. Ich verstehe darunter den schriftlichen Aus­ tausch von Gesinnungen und Gedanken unter Menschen, die sich einander nahestehen, ohne jeden anderen Hauptzweck; ein alter Hegelianer würde sagen: das Briefschreiben in seiner schlechthinigen Anundfürsichlichkeit. Unter den neun­ hundertneunzehn Millionen Briefen, welche die deutsche

Reichspost im vorigen Jahre befördert hat, gehörte wohl nicht eine Million dieser Gattung an. Kaum, daß man die Liebesbriefe dazu rechnen kann, es seien denn die einem sicheren und vergnüglichen Herzensbesitze dienenden. Wer sie nicht kennt die schönen Stunden, in denen nach des Tages voller Arbeit oder des Abends leerer Ge­ selligkeit die weihevolle Sabbathstille sich herabsenkt auf einen schönen Bogen weißes Papier, welcher einlädt, sich selbst im Hindenken zu einem ganz nahe verständnisvollen

Zweiten Sinn und Gemüt zu öffnen, der kennt nicht einen der lieblichsten Genüsse unseres beschränkten Daseins. Ist

doch der Monolog eigentlich die edelste und erhabenste Form der Rede. Das Tiefste und Bedeutendste, was der Dichter im Drama zu sagen hat, verlegt er in das Gespräch, welches

der Held mit sich selbst führt. Freilich ist der Monolog ein Geschöpf der Abstraktion, nicht der Wirklichkeit ent-

22 sprechend.

Das Leben kennt keinen gesprochenen Monolog,

höchstens einen kurzen, unwillkürlichen Ausbruch. Ganz konsequent haben auch unsere Realisten, Naturalisten, Im­ pressionisten schon verlangt, den Monolog von den Brettern als unwahr zu verbannen. Aber wer möchte „Sein oder Nichtsein" hergeben für alle Schätze der freien Bühne?

Wenn man's genau bedenkt, so redet der Mensch eigentlich weniger anderen als sich selbst zuliebe. Daß die Sonne scheint oder der Regen strömt, teilen wir dem Begegnenden mit, der es doch gerade so gut weiß wie wir, und in der Erwiderung bekräftigt er uns, was gar keiner Bestätigung bedarf. Auf die Begrüßungsformeln, welche in fragende Wendung eingekleidet sind, wird gar keine Antwort er­ wartet. Auf das schnell hingeworfene „Wie geht's Ihnen?" wird ein Mann von Welt gar keine oder nur die aller­ flüchtigste Antwort geben. Eine gute Deutsche aus der Provinz, die, ohne Englisch zu können, nach London kam, legte sich den wahren Sinn des stereotypen How do you do nach ihrer das Wünschen gewohnten Begrüßungsweise

ganz konsequent aus, indem sie die Leute anredete: I wish you a very good how do you do. Die Frage zu entscheiden, ob der Mensch nur ver­ möge der Sprache zu denken imstande sei, wie meistens be­ hauptet wird, will ich mir nicht herausnehmen. Aber das

ist sicher: wie wir einmal sind, sind wir gewohnt in Worten und nicht bloß in Bildern oder Affekten zu denken und auch zu

träumen,

was ja die häufigste Art des Denkens

ist. Und da wir nun bei lebendigem Gehirn gezwungen sind, immer zu denken, oder schlafend oder wachend zu träumen, so ist eigentlich stets der Antrieb zum Monolog vorhanden. Einzig die Gewöhnung an die Anwesenheit anderer erzieht den Menschen dazu, daß er nicht beständig laut mit dem Munde, sondern nur in den vier Wänden

23 seines Schädels spricht. In der Zerstreutheit, in der Be­ trunkenheit oder im Paroxysmus denkt der Mensch mit der Stimme sprechend, weil der Zwang der Gewohnheit auf­

hört. So liest der des Lesens Ungewohnte mit den Lippen, weil er mit den Augen ohne die Ohren das lautlose Wort nicht in die Gedanken aufnehmen kann. viel öfter als wir meinen ein Monolog,

Dialog.

Aber um unserer Redelust

Die Anrede ist nicht ein Stück den Lauf zu lassen,

braucht unsere Einbildung die Gegenwart eines Hörers. Ein schlagender Beweis dafür ist auch, wie die Menschen mit den Tieren reden. Es giebt ja Haustiere, wie beson­ ders Pferde und Hunde und sogar Vögel, welche einzelne Worte verstehen lernen, aber auch der unwissendste oder dümmste Kutscher oder Knecht muß eigentlich wissen, daß sein Tier ganze Sätze nicht verstehen kann. Nichtsdesto­ weniger kann man jeder Zeit sogar gebildete Menschen und

besonders Frauen sich in langen zierlichen Perioden mit

ihren Schoßhunden oder Kanarienvögeln besprechen hören. Der Monolog ist die Elementarbewegung der Rede, in ihm begegnen sich die niedrigste und die höchste Stufe des Denkens. Darum läßt der Dramatiker seinen Helden in den feierlichsten Augenblicken seine verborgensten und subtilsten Betrachtungen für sich allein sprechen — freilich mit dem stillen Nebengedanken, daß ihm gegenüber ein Publikum sitzt, welches ihm zuhört — ein Nebengedanke, welcher der Grundgedanke des Dramatikers ist, und daher den sogenannten Realismus des buchstäblich Wahren von vornherein aus Thaliens Tempel hinausweist, wie eigentlich

aus aller Kunst. Solche schönsten Momente des dramati­ schen Helden genießt nun der unheroische Mensch in aller

Stille,

wenn er sich hinsetzt,

con amore einen Brief zu

schreiben, einen reinen Luxusbrief, nur um der Freude willen laut zu denken und zu empfinden, im stillen Be-

24 wußtsein,

daß ihm sein Publikum lauscht.

Und welch ein

Publikum! Das beste, ein besseres als je Hamlet oder Faust eines gehabt haben, nämlich ein ganz bestimmter ein­ zelner Mensch, dankbarbereit und tief verständnisvoll, dem Wort des Schreibenden zu lauschen. Wenn etwas imstande

ist, den Geist produktiv zu machen, so ist es die Richtung auf ein so geartetes Publikum, von so ganz bestimmter, deutlich vorstellbarer, williger Natur. Wie gewinnen da­ durch die eigenen Hirngebilde an treffender Gewißheit und Aktualität! Entrinnen kann es auch nicht, dies vortreff­ liche Auditorium. Ich halte es fest, unwiderstehbar fest mit der Feder auf dem Papier vor meinem inneren Auge; und da ich mich behaglich gehen lasse, so unterliege ich in der Stille auch dem Zauber der Einbildung, daß der im Geist gesehene Hörer beifällig und dankbar zulächelt. Fern von mir, Philinens Lied von der Herrlichkeit friedenssicherer Schäferstunden auf ein anderes, minder himmlisches Gebiet irdischer Freuden herüberzuziehen. Aber dennoch etwas von jener Lampe süßer Dämmerung, etwas von jenen Ruh' und Sicherheit versprechenden zwölf bedäch­ tigen Schlägen ist hineingewebt auch in die stillen Stunden, in denen mit sanften Worten der Geist eines lieben Men­ schen heraufbeschworen wird, um unser trauliches Bekenntnis zu vernehmen. Auch hier ruht, wenn schon nicht der lose Knabe, der sonst rasch und feurig eilt, doch der Genius edler Menschlichkeit vom streng gebundenen Ernst und Gang des Lebens bei kleinen Spielen aus. Denn ein Spiel, ein zwangloses Thun um des freien Genießens willen muß der Brief sein, soll er seiner wahren Natur entsprechen. Er muß gehen und verweilen, abwechselnd beim Großen und beim Kleinen, wie ihn der Zufall am Wege vorüberführt. Das ist das Geheimnis, man dürfte wohl sagen, die Kunst

des Briefschreibens. Sie gehört in die Gattung des Humors,

25 welcher bekanntlich den Ernst und sogar die Traurigkeit nicht ausschließt, aber allerwegen das beflügelte Hinschweben über und das Abschweifen von dem regelrechten Pfade vor­ aussetzt. Vom Hundertsten ins Tausendste der Außenwelt mag ein wohlgemuter Brief sich hinschlängeln, um an der nächsten Ecke sich in das eigene Ich des Schreibenden zu versenken. Manchmal endet ein Brief, der viel von diesem Ich erzählt hat, mit den Worten: „Entschuldigen Sie, daß ich soviel von mir gesprochen habe", worauf die Antwort gebührt: „aber warum denn nicht, darum schreiben Sie mir ja!" Alles ist besser, als jene stehenden drei Formeln, mit denen gedankenfaule Menschen ihre vier Seiten ausfüllen: zuerst die Entschuldigung, daß man so lange nicht ge­ schrieben, mit Angabe von Gründen, die ganz überflüssig, weil immer die nämlichen und falschen sind. Dann ein Hoffen, daß es dem Adressaten gut geht, dann ein Wünschen, daß es so weiter gehe, mit einer schönen aus der höchsten „Möchte-"Tonart gehenden Schlußwendung — ach, ich sehe sie schon wieder um die Jahreswende nahen, die so beredtes Zeugnis geben, daß sie nichts zu sagen wissen! Wer hätte nicht schon einmal in stimmungsvollen Tagen den Gedanken ausgesprochen, wie schön es wäre, wenn man vereint mit einer kleinen Zahl auserlesener sicherer Freunde (oder Freundinnen), so die Tücke des Schicksals über die Länder zerstreut hat, in einem um­ friedeten Orte sein Leben verbringen könnte! Ein Wunsch, der immer unerfüllt bleibt und vielleicht zu unserem Glück. Was aber in dieser vollkommenen und darum unmöglichen Weise das Leben versagt, das gewährt es in bescheidener Gestalt dem Brieffchreiber. Er stellt sich seine Gemeinde in freiet Wahl, unabhängig von Zeit und Ort zusammen, ruft jeden zu der ihm passenden Stunde herbei, entläßt ihn, wenn gerade ein Hindernis eingreist, und ruft ihn

26 wieder, wenn die Stimmung zurückkehrt. Alle Freunde der weitesten Tafelrunde vertragen sich brüderlich mit­

einander, denn keiner bekommt den anderen zu sehen. Der Brief steht zwar zwischen der Konversation der Schriftstellerei, aber näher dieser als jener. Er hält aus der Konversation das monologische Element, der Schriftstellerei verbindet ihn nicht nur äußerlich Verfahren, sondern auch innerlich die Absicht, den

und ent­ mit das das

eigene Ich bewegenden Gedanken einen formvollendeten Aus­ druck mit der Richtung auf ein Publikum zu geben, welches nur statt eines vielköpfigen unbekannten, ein individuelles, bekanntes ist. Die Menschen versammeln sich gesellig, weniger, um Konversation zu machen, als um beisammen zu sein; statt zu reden, machen oder hören sie auch Musik, oder spielen Karten, und vor allen Dingen essen und trinken sie. Die mündliche Unterhaltung ist, wie schon das Wort sagt, am öftesten nur ein Hilfsmittel, um die Zeit des Zusammenseins angenehm auszufüllen. Der Verkehr der deutschen Kneipe besteht vorwiegend darin, daß eine Anzahl Menschen trinkend und rauchend nebeneinander sitzen,

ohne sich besonders mit Reden zu bemühen oder für ein­ ander zu interessieren. Die berühmte Gemütlichkeit ist eine Vertraulichkeit ohne Inhalt und ohne gegenseitige Teil­ nahme, deren höchste Form in der gänzlichen Formlosigkeit besteht. Der Brief hingegen verlangt, möglichst viel zu geben und zu leisten. Er macht an sich selbst den Anspruch der vertraulichen Offenheit, verbunden mit der Anstrengung, welche das schriftliche Auftreten vor einem Auditorium be­ gehrt. Aus dieser Mischung von Sichgehenlassen und An­ stand, von Intimität und kunstgerechter Arbeit setzt sich ein eigentümliches Gebilde zusammen, in welchem Opfer und Genuß sich einander begegnen und die Wage halten. Der

27 Genuß besteht darin, daß ich mir eine schriftstellerische Auf­ gabe setze, der ich von Natur ganz gewachsen bin, weil ich lediglich sagen darf und soll, was mir im Sinn liegt, und weil ich in genauer Kenntnis meines Lesers seiner dank­ barsten Aufmerksamkeit gewiß bin. Das Opfer besteht darin, daß ich die Arbeit des Schriftstellers, welche von der Vor­

aussetzung eines großen und bleibenden Leserkreises, wenig­ stens der Fiktion nach, ausgeht, für einen einzigen Leser, der sie in wenigen Minuten verbraucht, aufwende. Reine Freundschaftskorrespondenzen sind daher eine Mischung von Selbstverleugnung und Sybaritismns, von unverhältnis­ mäßiger Kraftansgabe und intellektueller Gourmandise, so­ fern man den Maßstab des privatthätigen oder des öffent­ lich wirkenden Lebens daran legt. Man kann es praktischen Menschen nicht gerade übel nehmen, wenn sie solches Korre­ spondieren mit einiger Verachtung behandeln, es dem weib­ lichen Geschlecht überlassen wollen. Sieht man aber einmal das Schriftstellern überhaupt nicht als einen müßigen Be­ rus an, so kommt der Unterschied doch nur auf einen quantitativen hinaus. Es ist meine Sache, ob der, an den ich schreibe, ob meine Freude, mich ihm zu offenbaren, mir mehr wert ist, als ein ganzes, unbestimmtes, ungewisses, unbekanntes Publikum. Mancher hält sich zu gut, um Briefe zu schreiben, weil er meint, es sei schade, seine Ge­ danken einem Einzigen zu schenken; ein anderer dagegen zweifelt an seinem Beruf, die große Zahl zu beglücken und ergiebt sich dem behaglichen Vergnügen, einen Vertrauten zu erfreuen. Nicht selten würden wohl beide besser die Rollen vertauschen. Eine besondere Spielart des Motivs für die Bevorzugung des Briefschreibens erwähnt Macaulay in seinem Essay über Walpoles Briefe an Sir Horace Mann. Ein Mann von Stande fürchtete damals, seinem Charakter als Gentleman etwas zu vergeben, wenn er ein

28 Buch schrieb. Dahingegen: There was nothing vulgär in writing a letter. Renan dagegen rühmt sich einmal, daß er auch mit seinen besten Freunden — er nennt den ihm seit langen Jahren verbundenen Berthelot — nie einen Brief gewechselt habe. Das soll heißen: wenn Renan doch einmal schreibt, so wäre es ein Raub an der Welt, nicht

für die Welt zu schreiben.

Aber am Schluß einer Vorrede

sagt er auch wieder, sein Ideal wäre, sich vorzustellen, wie vielleicht dereinst seine Studien über Religion, in Saffian und Goldschnitt gebunden, zwischen fein behandschuhten Fingern zur Kirche getragen würden. Wer so sein Publi­ kum individualisiert, ist nicht weit davon, auch ein ganz persönliches seiner Ansprache wert zu halten. Er denkt im Schreiben an bestimmte Leser — wer weiß, ob nicht an

eine bestimmte Leserin? Ich habe im Leben manchen guten Schriftsteller gekannt, dessen ungedruckte Briefe an Inhalt und Form das Beste waren, was er je hervorgebracht hatte.

Die Persönlichkeit bleibt stets das Mächtigste. Wem es ge­ lingt, die seinige auf die Höhe zu bringen, daß sie für die Welt eine große Bedeutung erlangt, den wird diese gerade in seinen Briefen am liebsten belauschen. Wenn ich mich mit Bismarcks Geist versöhnen will, greife ich nach seinen Briefen und vergesse über dem Zauber seiner persönlichen Virtuosität alles, was ich ihm in seinen Thaten vorzu­

werfen habe. So wirken freilich nur Briefe, die mit der vollendeten Subjektivität und der freien Sicherheit des sich unter vier

Augen Ergehenden geschrieben sind. Nichts schrecklicher, bekanntlich, als die sogenannten schönen Briefe. In ihrem Hintergründe verbirgt sich der Gedanke, daß sie weiter gezeigt werden sollen. Es giebt Menschen, welche ihre schriftstellerische Befriedigung nur darin suchen, daß sie Briefe schreiben, unter dem stillen

29 Eindruck: das wird herumgezeigt werden, ja wer weiß, ob es nicht wird einst gedruckt werden? Ich kenne Briefwechsel,

die in der That diesen ihren Zweck erreicht haben, weil ihre Urheber sich in der Litteratur einen Namen gemacht hatten. Aber weil man ihnen anmerkt, daß sie in dieser Neben­ absicht entstanden sind, haben sie allen Reiz verloren. Die besten Briefe sind die, an deren Schluß es

heißt:

„Um

Gotteswillen verbrenne ihn sofort." — Die Grenze zwischen dem wahren und dem „schönen" Brief liegt in dem Unter­

schied zwischen dem Schreiber, der sich giebt und dem, der sich bespiegelt. Das Sicherste ist schon, mit dem eigenen Selbst möglichst sparsam auch in der Expektoration unter vier Augen umzugehen. Aus dem, was wir von den Men­ schen und den Dingen sagen, muß sprechen was wir sind, nicht aus der Selbstmalerei, gerade wie in der Dichtung. Mit der Selbstmalerei beginnt die Selbstbespiegelung und mit dieser die fadeste aller Korrespondenzarten, die der Seelenselbstverschönerung. Man hört manchmal sagen, das Briefschreiben sei nicht

mehr Mode, weil die Pflege der Korrespondenz mit der Schönseligkeit, dem Gefühlskultus des vorigen Jahrhunderts verschwunden sei. Ganz will ich das nicht bestreiten. Männer vergießen auch jetzt weniger Thränen als damals,

wie mau aus vielen wahrheitsgemäßen Schilderungen jener Epoche entnehmen kann, und ein gewisser lyrischer Sinn gehört zur Freude an brieflicher Vertiefung. Die Männer sind heutzutage beschäftigter und damit härter und trockener geworden, als ehemals. Gerade wie diesem Umstand der Luxus der Kleidung hat weichen müssen, die Seide, der Spitzenjabot und die gefälteten Manschetten, so auch etwas vom Luxus der Gefühle. Aber wenn auch die Empfind­ samkeit abgenommen hat, das Empfinden und das Denken besteht nach wie vor. Man liebt und sogar man verliebt

30 sich glücklicherweise noch so viel wie ehemals, wie mangels einer öffentlichen Liebes-Statistik, welche das Reich bis jetzt nicht liefert, die der Selbstmorde ausweist. Und man hat sich noch so viel und mehr zu sagen als je. Denn wenn

die Welt eiliger geworden ist, so ist sie auch bewegter und angeregter. Die besten Briefe der älteren Zeit sind gerade wie heute die, welche nicht Bekenntnisse, sondern Menschenund Lebensstudien geben, und auch das nicht didaktisch und

pedantisch, sondern spielend und umherschweifend. Wenn für irgend eine Gattung, so für diese, gilt das köstliche Wort: Grlissez, mortels, n’appuyez pas. Eine schwere Hand kann keinen guten Brief schreiben, und in den besten der Gattung führt die Heiterkeit das Ruder. Es hängt mit der Heiterkeit ihres Naturells zusammen, daß die Fran­ zosen die meiste Anlage für die Konversation und auch für den Brief haben. In der Brieflitteratur haben sie uns

reichlich so viel Schätze gestiftet als alle anderen Nationen zusammen. Selbst ein Mann von so finsterer Philosophie wie Joseph de Maistre schreibt launige Briefe aus dem kalten Petersburger Exil, und ein Verbannter wie St. Evremvnd thut desgleichen aus dem nebligen England. Ihre angeborene Heiterkeit, und eng verwandt damit, ihr Sinn für die Beobachtung des Seelenlebens sind die Quellen ihres

Talents für die mündliche und briefliche Unterhaltung, wie für den Roman und die Sittenkomödie und die Me­ moiren. Die berühmten Briefsammlungen,

mit welchen sie die

Weltlitteratur bereichert haben, die besten Vorbilder der Gattung, sind gleich weit entfernt vom schönseligen wie vom

lehrsamen Ton; die Frauen, die in ihrer Gesellschaft herr­ schen, behaupten auch in dieser besonderen Litteratur einen

hervorragenden Platz. Die ihnen zunächst kommenden Briefschreiberinnen deutscher Nationalität hatten enge Be-

31 Ziehungen zum französischen Leben, so Elisabeth Charlotte und Katharina II., und die großartigste aller deutschen auf diesem Gebiete, Caroline Michaelis, war in der encyklopädistischen Bildungssphäre der Zeit ausgewachsen. Mit dem Ernst und der Tiefe des Schatzes, welcher in der Brief­

litteratur der deutschen Klassiker und ihrer Freunde nieder­ gelegt ist, können die Korrespondenzen der berühmten Fran­ zosen nicht wetteifern. Aber was dem Brief seinen Reiz giebt und den Stempel eigenartiger Gattung aufdrückt, die muntere Beweglichkeit und Schalkhaftigkeit, ist in den Korre­ spondenzen eines Guy Patin, Galiani, Diderot, Paul Louis Courier, Doudan, um nur wenige zu nennen, in unüber­ trefflicher Vollendung niedergelegt. Am meisten Ähnlichkeit mit deren Art haben die Briefe eines vor etlichen Jahren verstorbenen Deutschen, die als die des „Unbekannten" er­ schienen sind. Merkwürdigerweise war aber der sächsische Diplomat Villers der Sohn eines Franzosen. Was seinen

Episteln einigermaßen schadet, ist, daß der Verfasser Brief­ schreiber von Beruf ist, und das widerspricht der Natur der Sache. Briefschreiben ist für beschäftigte Menschen ein Luxus der schönsten Art, aber auch der schönste Luxus ent­ artet, wenn er zum Geschäft wird. Wie vieles wäre noch zu sagen! Vom Briefempfangen ist noch gar nicht die Rede gewesen und doch gehört es als wesentliche Ergänzung zum Schreiben. Nur das Eine möchte ich dazu bemerken: Es giebt Menschen, die das Briefempfangen herrlich finden, aber das Schreiben hart. Das sind nicht die rechten Brüder unserer Gemeinde. Auch hier heißt es vielmehr: Geben ist seliger denn nehmen. Berlin.

In den Weihnachtsferien 1890.

ui. Em Weihnachtsbrief. (24. Dezember 1892.)

An den Herausgeber der „Nation". Lieber Freund!

Sie meinen, es sei etwas wie ein Herkommen, daß ich zu Weihnachten vorspreche, und unser Publikum erwarte das von mir. Es ließe sich manches sagen bei dieser Ge­ legenheit über die Art, wie Rechte und Pflichten entstehen. Kennen Sie die Geschichte von dem armen Mann, der jähr­ lich von einem Reichen am bestimmten Tag eine Gabe empfing, und als er durch einen Zufall zu Gelde kam und natürlich auch zu dem Entschluß, künftig auf diesen Zu­ schuß zu verzichten, sich doch zuguterletzt wieder anders be­ sann mit der Erwägung: warum soll ich jenem das Geld schenken, das er mir bisher gab, was denn schenkt er mir? — Ich bin nun gar nicht der Ansicht, daß der Autor dem Publikum etwas schenkt. Meines Erachtens verhält sich die Sache eher umgekehrt. Von den Unsterblichen ab­ gesehen, von den Shakespeare, Mozart und Goethe, welche

der Menschheit mehr Freudenquellen eröffnet haben, akS. die größten Staatsmänner und Feldherren aller Zeiten, wo sind die Schriftsteller, welche nicht das Publikum missen

33 könnte, während doch der Schriftsteller ohne sein Publikum, sein wenigstens eingebildetes, nicht denkbar ist. Wer sich lange vor der Öffentlichkeit Herumgetrieben hat, gerät natürlich

von Zeit zu Zeit ins Nachsinnen über die Geheimnisse dieses Begriffs „Publikum". Geht's ihm schlecht damit, so steht ihm der Trost jenes Mannes zu Diensten, der die berühmte Frage aufgeworfen hat: Combien faut-il de sots pour faire un public? Versagt ihm die Lust oder die Kraft, so kommt ihm der Vers zu Hilfe: „Es versteht nicht solch ein Maulheld, Warum der Mensch zuletzt das Maul hält."

Aber das Beste an Trost und Hilfe ist immer, wenn man sie nicht braucht. Da lobe ich mir schon viel mehr jene andere Bemerkung des großen Selbstironikers: „Der

Schriftsteller gewöhnt sich allmählich an sein Publikum, als wäre es ein vernünftiges Wesen." Alles Reden und Schreiben ist doch das reine Nichts, so lange wir uns nicht dabei vorstellen, wie es in anderen Köpfen wiederklingt. Es ist im Grunde dasselbe wie mit dem Entspringen aller nicht rein sinnlichen Genüsse aus der Wechselwirkung, auf der die ganze Ökonomie des Ge­ dankenlebens beruht. Ein Sprichwort sagt: Nichts schmeckt besser, als was man selbst ißt. Auch das sogar halte ich für grundfalsch. Nehmen wir einen Kochkünstler oder eine gute Hausfrau. Schmeckt ihnen, was die Gäste mit Appetit und Verständnis genießen, nicht unendlich viel besser, als was sie selbst verzehren? Warum? Weil in ihrer Vor­ stellung die Empfindung des anderen Genießenden sich viel vollständiger ausdrückt als in der eigenen Wahrnehmung. Nichts ist so ganz und vollkommen wie der Gedanke, das an sich selbst Erlebte kann damit gar nicht Schritt halten. Karoline Michaelis, beiläufig gesagt meines Erachtens die Ludwig Bambergens Ges. Schriften.

I.

o

34 gescheiteste Frau der deutschen Litteratur,

wirft bei ähn­

lichen Betrachtungen einmal die Bemerkung hin, nichts sei so fürchterlich, wie man es sich vorstelle, und wahrscheinlich

würde

sich das auch als richtig bewähren für

den Fall,

daß man einmal plötzlich von Mörderhänden angefallen aus Wer einmal vorübergehend in

dem Schlaf auffahren sollte.

großer Gefahr geschwebt hat, wird das bestätigen.

ist so schlimm, vorstellt.

Nichts

wie man sichs

nichts aber auch so schön,

Hier denke ich an das Wort Bismarcks an Arnim:

„Sie werden nicht ruhen, bis Sie hier (am Schreibtisch

des Reichskanzlers) sitzen und sehen, daß es auch Nischt ist." Jetzt, wo er nicht mehr dran sitzt, stellt er sichs auch schon wieder schöner vor.

tige.

Die Vorstellung aber ist das Mäch­

Sie ist der Geist, und der Geist ist das Herrschende.

L'hemme

a beau faire,

sa vie est tonte spirituelle,

sagt der Materialist Proudhon.

Das eigene Empfinden ist

immer nur aus einer Reihe neben- und nacheinander wirken­

der Eindrücke zusammengesetzt.

Einzig und allein der vor­

stellende Gedanke faßt alles zugleich in einen kulminierenden Moment zusammen. schen

das Leben

Darauf beruht alles, was dem Men­

lebenswert macht,

Liebe,

Kunst,

Ehre,

Ruhm bis zu den kleinsten Freuden der Geselligkeit herab. Erwachsene

und Kinder werden von

eigenes Weh oft erst ergriffen,

mitleidet werden.

Rührung

über

ihr

wenn sie von anderen be­

Ich behaupte, wie gesagt, selbst die Reize

der Tafel entspringen auf diesem Grunde.

Es ist nicht die

Unterhaltung allein, die als Würze des Mahls dient; denn weder der König von Frankreich, der, von seinem Hof um­

geben,

allein aß, noch die Mönche,

die

im Refektorium

essend sich vorlesen lassen, haben trotz der Unterhaltung die höheren Tafelfreuden.

Die Mitredenden müssen die Mit­

essenden sein, damit jeder Gast den Wohlgeschmack des Ge­ nossenen in der höchsten Potenz dadurch gewinne,

daß er

35 sich ihn gleichzeitig auch im anderen vorstellt. Vor langen Jahren besuchte ich einmal eine berühmte deutsche Schrift­

stellerin — natürlich ist sie nicht mehr unter den Leben­ den, — die für die materielle Dürftigkeit ihrer Thee­ abende berühmt war. Ich fand sie gerade beim Frühstück. Sie lud mich zur Beteiligung ein, indem sie mir ein Ei und eine Semmel anbot. Da nichts anderes da war, war

nichts dagegen zu sagen. Aber sie fügte mit schmelzender Emphase hinzu: „man kann sich in mein Herz hinein essen",

und das wirkte komisch. Nicht weil der Gedanke an sich falsch war, sondern weil die Hyperbel so drollig im Gegen­ satz zu ihrer stofflichen Repräsentation stand.

Nichts rückt das Verständnis für das höhere Leben mittelst der Vorstellung in anderen näher, als der Sinn für den Nachruhm. Es wäre ein Irrtum zu meinen, daß er mit dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele zusammen­ hänge. Wer sich als ein rein geistig abgelöstes Wesen in himmlischen Regionen der Zukunft zu denken vermöchte, müßte gerade am gleichgiltigsten sein für das, was die irdische Menschheit da unten später von ihm halten werde. Der Wunsch, Unsterblichkeit unter den nachgeborenen Ge­ schlechtern zu erwerben, ist gerade eine der allersterblichsten Begierden. Er entspringt aus der den Lebenden übermächtig beherrschenden Vorstellung, daß und wie das Beste seiner Existenz in den Ideen aufgeht, welche die anderen von ihm haben. Dies Spiegelbild, das wir aus dem Geist der Nebenmenschen reflexweise von uns selbst zurück empfangen, ist erst das bewußte Leben. Ob die Magd im Plitz am Sonntag über die Straße geht im Gefühl, daß sie gesehen wird, ob der Held auf dem Schlachtfeld stirbt im Gefühl, daß der höchste Ruhm ihn überlebt — das alles entspringt aus derselben Grundeigenschaft der Seele. Ernst

Rtnan macht einmal zum Kapitel des Nachruhms die sehr

3*

36 treffende Bemerkung, der Gedanke, daß die in der nächsten Zeit ihn Überlebenden etwas Schlimmes von ihm erfahren

könnten, bedrücke den Sterbenden ungleich mehr, als was etwa nach fünfhundert Jahren von ihm an den Tag kom­

und doch sei er in der ersten Minute nach dem Hinscheiden gerade so tot und unempfindlich, wie nach fünfhundert Jahren. Nur die Vorstellung ist eben die leb­ haftere für die nächste als für die entferntere Nachwelt. Und wie der Mensch das beste seines eigenen Ich erst aus dem gewinnt, was er von den anderen auf sich zurück­ strahlen fühlt (wenn auch nur in der Einbildung), so schätzt er auch das Eigene am höchsten, nur indem er es sich im Besitz des anderen vorstellt. Wie oft hört man von men könnte,

Menschen, namentlich von vereinsamten Frauen, die melan­ cholische Äußerung, sie wüßten nicht, wozu sie noch auf der Welt seien, es sei kein Mensch da, dem sie nützen könnten. Logisch genommen ist das der reine Unsinn. Denn der Mensch, dem sie nützen könnten, ist nicht mehr ein Mensch als sie selbst. Vom vernünftigen Standpunkt gesehen ist der Mensch A. genau derselbe wie der Mensch B., und man weiß nicht, warum der A. nicht so viel Grund haben soll für den A. zu leben, wie für den B. Jene melancholische Reflexion, so oft ich sie anstellen höre, er­ innert mich immer an die Damen, welche in ihrer Mädchen­ zeit zahllose Stunden mit Klavierüben verbracht haben,

um es später in der Ehe liegen zu lassen. Sagt man denen, es sei doch schade um alle die Mühe und Zeit ge­ wesen, so bekommt man die Antwort: aber der große Vor­

teil ist doch geblieben, daß ich den Musikunterricht meiner Töchter überwachen kann. Und die Töchter machen es wieder so, et sic in infinitum. Wie im Kleinen und Ge­ ringen, so im Großen und Erhabenen. Das Vollgefühl des Lebens wird von der Liebe in das geliebte Objekt verlegt,

37 sei es nun Weib, Kunstwerk, Vaterland oder ein anderes Ideal. Einzig und allein die Idee ist „voll und ganz", um ein viel mißbrauchtes Wort anzuwenden; alles sich nur in

sich selbst Verzehrende ist Stückwerk. Auch die Verirrungen wurzeln zuletzt in dieser Bewandtnis. Ist es nicht richtig, daß selbst der, bewußterweise, falsche Schein mit seiner Macht über die Phantasie des schwachen Sterblichen ganze Ge­ biete des gesellschaftlichen Daseins beherrscht? Wie viele ziehen das Glücklichscheinen dem Glücklichsein vor, oder gar halten es dafür? In der Nouvelle Heloise, wenn ich nicht irre, ist der Gegenstand schön behandelt und belegt mit einem sinnigen Poem, welches beginnt mit den Worten: „Wenn jedem sein trauriges Innere auf dem Gesicht zu lesen wäre, se a ciascun in viso scritto si leggesse l’intemo affanno, und schließt: „Ihr uns andern glücklich Scheinen ist ihr ganzes Glück", il parer’ a noi felici e loro tutta felicitä.*) Ich kannte vor Zeiten eine Familie von reichen Emporkömmlingen, eine der snobbischsten im Ursprungs­ die sich für ihr neues Wappen den Spruch wählte: Esse quam videri, lieber sein als scheinen. Da hatte der Schein sich selbst übertroffen, er verleugnete sich, um zu höheren Ehren zu kommen.

lande der Snobs,

Noch ein Exempel aus der schlechten Praxis des ge­ meinen Lebens für das Bedürfnis der Spiegelung im

anderen Gehirn möchte ich anführen. Ich halte die Pro­ zedur des Überraschens im ganzen für ein grausames Spiel der eigennützigen Phantasie. Der Überraschende geht von der Selbsttäuschung

aus,

daß er dem Überraschten eine

*) Die Verse sind von Metastasio und lauten wörtlich:

Se a ciascun l’intemo affanno Si leggesse in fronte scritto Quanti mai, ehe invidia fanno Ci farebbero pieta ?

Si vedria ehe i lor nemici Hanno in seno, e si riduce NeV parere a noi felici Ogni lor felicitä.

38 Lust bereite. Das Gegenteil ist aber der Fall. Der Genuß geht im Gehirn dessen vor, der die Überraschung bereitet, in ihm spiegeln sich die Gegensätze langsam und behaglich voraus, er kredenzt sie sich in seiner Vorstellung vom an­ deren auf dessen Gemütskosten, in anima vili! Das Über­

raschen ist eine gemeine Bewucherung; wie viel höher steht die Morgenröte der Vorfreude als der Mittagssonnenstich der plötzlichen Blendung. Frau von Girardin hat das psychologische Problem sehr fein behandelt in dem berühmten

Stück la joie fait peur. Lessing hat in der Dramaturgie schlagend nachgewiesen, welchen Mißbrauch der Dichter treibt, wenn er sich aufs Überraschen des Publikums verlegt. Weil in Art und Unart der Mensch nur im anderen lebt, giebt es nichts Falscheres als Menschenverachtung. Großen Gewaltigen hat man sie von jeher nachgesagt, und doch, wie stünde ein Trachten nach Weltherrschaft und Weltruhm im Widerspruch zur Verachtung derer, auf deren Vorstellung allein es damit abgesehen sein kann? Konse­

quent ist nur, die misanthropische Stimmung in den Timon, zu verlegen, der sich in die Wildnis zurückzieht, den aber der Dichter dennoch ad absurdum führt. Und der „Jn-

differentist", der da spricht: „Ob nichts dein langes Leben war hienieden

Als für's Gewürm des Grabes eine Mast;

Ob du, der Menschheit Fesseln anzuschmieden. Ein toller Held die bange Welt durchrast, Ist just so wichtig als: ob nur im Kreise

Einförmig stets das Aufgußtierchen schwimmt, Ob es vielleicht nach rechts die große Reise,

Vielleicht nach links im Tropfen unternimmt. —"

Auch dieser Gleichgiltige ist ein Dichter, der der Mensch­ heit nicht sein Absagelied sänge, wenn er nicht voraussetzte,

daß ihn die Menschheit hörte.

39 Der Meister aller Meister, der nicht in Wüsten fliehen mochte, weil nicht alle Blütenträume reifen, hat, wie über­ all, auch hier das Richtige getroffen: „die schlechteste Ge­ sellschaft läßt dich fühlen", und: „ich weiß mir keine größere Pein, als im Paradies allein zu sein". Ins anspruchlos Liebliche übersetzt lautet es: „Les arbres parlent peu, dit le bon Lafontaine, Et ce-qu’un bois m’inspire, J’aime avoir pres de moi Quelqu’un ä qui le dire.“

Am besten aber verweilt sich's bei dem anderen, schönen,

schlichten, tiefen Goethe-Spruch: „Die Welt ist so leer, wenn man nur Berge, Flüsse und Städte darin denkt; aber hie und da jemand zu wissen, der mit uns übereinstimmt, in dem wir auch stillschweigend fortleben, das macht uns dieses Erdenrund zu einem be­ wohnten Garten." Auf solchem Bilde sucht der Mensch und findet er Zu­ flucht, wenn ihm über dem Schreiben, oder auch vor oder nach demselben das brutale Wort des brummigen Samuel Johnson in die Ohren klingt: der sei ein rechter Esel, welcher aus anderen Gründen schriftstellere als ums liebe Brot. Eine schöne Entschuldigung bleibt es immer, das soll garnicht bestritten werden, ein „mildernder Umstand" für viele litterarische Vergehen. Aber gewiß hätten wir

nie den Faust bekommen, wenn der alte englische Brumm­ bär unbedingt recht hätte. Und so, mein lieber Freund, bin ich nach mancher Irrfahrt angekommen, wo ich landen wollte — etwas spät,

aber was macht das? „Man darf immer seine Worte suchen, vorausgesetzt, daß man sie finde", sagt Talleyrand. Ich wollte Ihnen nämlich zu Weihnachten erklären, warum

40 Sie diese Wochenschrift in die Welt gesetzt haben, warum ich Ihnen darin mit Vergnügen zur Hand gehe, und warum ich endlich mich nach etlichem Sträuben sogar von Ihnen bereden lasse, es sei meine Schuldigkeit, an diesem Tage vor unserem Publikum zu erscheinen. Als Sie vor beinahe einem Jahrzehnt den Entschluß faßten, dies Blatt ins Leben zu rufen, dachte mancher von

uns, es würde eine Stimme in der Wüste werden. Doch es kam anders! Nach etwas mühevollen Anfängen ist es immer mehr geworden, was es werden sollte: der Resonanz­ boden, der uns Kunde giebt, daß vieler Orten an Bergen, Flüssen und in Städten jemand wohnt, der mit uns über­ einstimmt und dessen Lebensfreude und Lebensmut im Aus­ tausch der Stimmen gehoben wird, so daß ein gut Stück­ chen Garten erblüht ist. Das Belehren zwar ist schwer, und wer nicht Mephistos Rat befolgen will, sich aufs Ver­ wirren zu legen, muß mit Geduld sich rüsten. Bald, nach wenigen Jahren, hatten wir die Hauptsache erreicht: wir

waren eine Gemeinde. Und immer mehr hat sie sich aus­ gebreitet. Immer mehr klingt es wieder, klingt es zurück, bald aus der Nähe, bald aus der Ferne, wie in der offenen Presse, so in verschlossenen Zuschriften. Diese Zuschrifteu insbesondere sind von Wert. Sie brauchen sich garnicht zu entschuldigen, lieber Leser, und vor allem nicht Sie, ver­ ehrte Leserin, daß Sie Ihren Gefühlen, besonders den zu­ stimmenden, Luft machen in einem Privatbrief. Die Kinder, sie hören es gerne. Auch ist es so hübsch, wenn man draußen auf Reisen, zumal im Sommer, darauf angeredet wird. Auch’io sono pittore, auch ich gehöre zum Leser­ kreis der „Nation". Die Menschen von einer Meinung zu anderen herüberzubringen gelingt vielleicht noch eher im Reden als im Schreiben. Denn im gesprochenen Wort, wenn es den rechten Ton trifft, liegt etwas vom elektrischen

41 Fluidum, welches, wie der stehende Ausdruck lautet, zündet und fortreißt, obwohl es nicht gerade die weisesten Reden sind, die dies vollbringen. Das Geschriebene thut es, mit seltenen Ausnahmen, darin dem Reden nicht gleich. Aber in einer anderen Richtung ist es mächtiger. Es vermag zu sammeln, denn seine Tragweite ist unbegrenzt, es dringt

weit hinaus, sucht die vielen, die wenigen und den einzelnen auf, und wenn es regelmäßig wiederkehrt in bestimmter Ge­ stalt und gleichartig fortfließendem inneren Zusammenhänge, so gelingt ihm mehr und mehr, die Übereinstimmenden zu

verbinden, zu wecken, zu befestigen und jedem der Gesammelten neue Kräfte zur Expansion und Weiterwirkung zu geben. Diesen Erfolg haben wir im Laufe der Jahre durchgesetzt,

und dessen dürfen wir uns freuen. Was wir denken und erstreben, wird lebendig, indem es in Tausenden abgespiegelt zum deutlichen Bewußtsein kommt. Eine Zeit, in welcher dunkle Mächte ihre Fittige über das Leben der Nation aus­ breiten, ruft das Begehren nach einem gegenseitigen Er­ kennen wach zwischen denen, die wüster Verwirrung ent­ gegenzutreten für ihre Pflicht halten. Aus solchem Drang heraus sehen wir den Versuch einzelner Männer von edler Denkungsart entstehen, durch Vereine und Versammlungen einen Kern zu bilden für das Zusammenstehen in rein menschlicher Gesinnung. So sehr man ihnen Erfolg wün­ schen möge, er ist auf diesem Wege kaum zu hoffen. Mehr als auf jedem anderen Boden ist nach dem Dichterwort das Niederträchtige das Mächtige besonders da, wo es gilt, Helle

Haufen zusammen zu rufen. Die Massenpolitik hat wie die Massenproduktion ihre Entwicklungskrankheiten durchzu­ machen. Wir sehen sie jetzt aller Orten in trüber Gährung. Hier giebt es keine Umkehr. Nur vorwärts zu arbeiten ist Leben, und diese Arbeit heißt Klärung. Es geht jetzt ein Klagen durch Deutschland. Nichts ist ansteckender, und

42 wenn es unter dem Vortritt eines seine Zeit beherrschen­ den Mannes zu Gunsten seiner Standes genossen in der Gesetzgebung ausgenützt worden ist, so treibt das natürlich zur Nachahmung an. Das Klagen wird ein Gewerbe und es lernt sich leicht. Es ist ja wahr, die Geschäfte liegen vielfach darnieder, und zwar in der ganzen Welt. Aber ist das ein Wunder? Endlich mußte doch die Häufung rasender Thorheit, die seit anderthalb Jahrzehnten der wirtschaftlichen Thätigkeit der Völker alle erdenklichen Steine in den Weg gewälzt hat, ihren Effekt hervorbriugen. Und jetzt wundert man sich! Widersinnige Handelspolitik, Ge­ werbepolitik, Steuerpolitik, Sozialpolitik und dazu ein Wüten mit unproduktiven Ausgaben für Land- und See­ wehr, welche die Ersparnisse der Völker auffrißt, eine Ver­ schwendung von Geld, Zeit und Kraft in gesetzlichen Neue­ rungen, so wurde die Kerze an beiden Enden abgebrannt; und man wundert sich, wenn es endlich jeder am eigenen Leibe fühlt. Da wird der Gerechte mit dem Ungerechten getroffen. Auch das noch relativ vernünftige England muß gerade so mit leiden, wie die anderen. Was in Deutschland den Klagen jetzt einen neuen besonderen Ton gegeben hat, ist, daß sie auch aus einer Region ertönen, die sich zu Lobliedern verpflichtet und gestimmt fühlte, so lange ihr unfehlbarer Gebieter am Ruder stand. Jetzt, seit bald drei Jahren, gelangen auch seine Verehrer allmählich wieder zu eigenen Empfindungen und Wahrnehmungen, und mit ihren Klagen verbinden sie weiter den Zweck auch einer Huldigung für ihn und eines Tadels für seinen Nachfolger. Gar vieles von den Trauertönen, die sich jetzt in das Weherufen der Zeit mischen, kommt von denen her, die ihre Harfen aufgehängt haben an der Saline zu Kissingen oder auf dem Marktplatz zu Jena. O hätten wir doch keine anderen Schmerzen!

43 Ich habe einen alten Bekannten. Er gehört zu den­ jenigen, denen es Gesundheitsbedürfnis ist, sich zu entrüsten, nicht um Bismarcks willen von wegen etwa eines abge­ sondern aus ehrlichem, demokratischem Gemüt „für Freiheit und Recht". Von Zeit zu Zeit besucht er mich. Mit finsterer Miene tritt er ein und sieht mich an, als wäre ich an allem schuld. Dann entwickelt sich folgender Dialog: Er: Nun, was sagen Sie jetzt? Ich: Was soll ich sagen? Er: Soll das alles so weiter gehen? Ich: Wissen Sie ein Mittel dagegen? Er: Das Mittel will ich von Ihnen hören. Sie sind ein Mann in öffentlicher Stellung. Ich: Glauben Sie mir, wenn ich es wüßte, wüßten Sie's auch. Er (immer zorniger): Also muß man es aushalten? Ich: Mir scheint's; es ist wohl auch von jeher in der Welt nicht viel besser gewesen. Er: Ist das Ihre Ansicht? Ich: Ganz gewiß. Wir sahen's nur für andere Zeiten nicht so in der Nähe. Er: Und soll man nichts thun, um's zu bessern? lehnten zweiten Büreaudirektors,

Ich: O sicherlich. Er: Was denn? Ich: Man soll sich wehren. Er: Das thu' ich jetzt schon mein Leben lang. Ich: Und dabei sind Sie alt geworden und befinden

sich wohl. Er: Wenn aber das Wehren nicht hilft? Ich: Es hilft doch Ihrer Gesundheit, und die ist die Hauptsache. Er? Und Besseres wissen Sie mir nicht zu sagen?

44 Ich:

Sobald mir was Besseres einfällt, lasse ich Sie

es wissen. Aber, glauben Sie mir, sich wehren gehört schon zum Besten, was die Menschheit je erfunden, so lange es ihr, wie von je, schlecht gegangen ist. Wer weiß, ob sie viel Besseres vertrüge. Ein berühmter Dichter des Landes, das uns in diesen Dingen um etliche hundert Jahre voraus

ist, hat das in den Vers zusammengefaßt: As you all know1 security Is mortals’ chiefest enemy, das heißt auf deutsch:

Wie Ihr All' wißt, ist Sicherheit Des Menschen größte Fährlichkeit. Seien Sie mir nicht böse und grüßen Sie Weib und Kind.

mich.

Ich glaube, jedesmal, wenn er fortgeht, verachtet er Aber er kommt doch immer wieder. Ihr

L. Bamberger.

P. 8. Ich will mich auf keine Weise hiermit für nächste Weihnachten verpflichtet haben.

Uber Toaste. XOte erklärt es sich, daß die Verbindung von Reden

und Trinken gerade unter englischer Firma zu uns ge­ kommen ist, und nicht nur zu uns, sondern auch zu anderen Völkern, die weniger geneigt sind, sich vom Fremdartigen reizen zu

lassen?

Das Trinken brauchten wir nicht von

außen zu importieren, und die Redseligkeit suchen wir nicht gerade bei den Engländern. Ist es nicht merkwürdig, daß ein Land, dessen Boden keinen Tropfen Wein erzeugt,*) den rebenbauenden Galliern der Gironde, den Winzern des

Rheins und der Mosel die Formel für die Eloquenz des liebevollen weinumkränzten Bechers diktiert hat? Aller­ dings haben in neuester Zeit die Franzosen neben dem be­ reits eingebürgerten Ausdruck „un toast“ auch das Wort „un punch“ von jenseits des Kanals eingeführt. Das läßt sich jedoch einigermaßen erklären. Die Hauptbestand­ teile des Punsches, Rum oder Arak, werden in den eng­

lischen Kolonien erzeugt; und da man doch einmal einen absonderlichen Namen für eine neue Art von Gasterei *) In alten Zeiten soll auch in England, wie in der Mark, ein saurer Wein gezogen worden sein.

46 brauchte, die sowohl der Tageszeit als dem Stoff und dem Sinn nach schwer unterzubringen war, so stellte sich das den dampfenden Wohlgeruch versinnlichende Wort nicht un­

gelegen ein. Wenn ich nicht irre, ist es zunächst für Offiziersgelage angewendet worden und möchte vielleicht von der Marine abstammen. Bei der jüngsten franko-

russischen Verbrüderung, die mit sechzehn Frühstücken und Mittagseffen unmöglich ihren Herzensdrang befriedigen

konnte, wurden auch die „Punch“ noch in die schwer zu findenden Lücken eingeschoben. Den five o’clock tea, wel­ chen die französische Damenwelt auch schon von drüben her­ über geholt hatte — das dritte englische Wort also für ein gemeinsames Trinken — konnte man den nordischen See­ helden nicht wohl anbieten, und die fünfzig Millionen russi­ scher Weiblichkeit — alles bewundernswerte Geschöpfe! — mußte man sich begnügen, aus der Ferne zu feiern und zu verehren. Dabei fällt mir ein, wie merkwürdig es ist, daß

großer Dichter bei seinem berühmten Lied auf den Punsch in einen etymologischen Widerspruch geraten ist. Denn während er bekanntlich die Verherrlichung der ele­ mentaren Vierzahl seinem Gesang zu Grunde legt, bedeutet unser

das Wort Punsch ganz genau die Zahl fünf, und Punsch­ lied müßte eigentlich übersetzt werden: Fünflied. Unser deutsches Wort fünf so gut wie das griechische penta und das lateinische quinque mit allen ihren Ableitungen kommt nämlich direkt vom sanskritanischen Pancha her, das, wie wir aus unserem geographischen Unterricht wissen, auch dem

Land der fünf Ströme, dem Pendschab, seinen Namen ge­ geben hat. Punsch heißt das Getränk, weil es ursprüng­

lich aus fünf, nicht aus vier Ingredienzien gebraut wurde. Dies Fünfte war nämlich der Zimmt, welcher also schon zu Schillers Zeit der Vergessenheit anheimgefallen sein mußte. Der Zimmt ist überhaupt von der Höhe seines

47 früheren Ruhmes herabgestiegen. Noch vor fünfzig Jahren spielte er in der Küche und in der Zuckerbäckerei eine wichtigere Rolle als heute, wie denn überhaupt ohne Zweifel mit einer Verfeinerung der Nerven eine Menge von Ge­

würzen teils ganz ausgeschieden, teils in ihrer Verwendung sehr eingeschränkt worden sind. Bei unseren Großmüttern galt es noch für sehr fein, etwas Vanille dem Thee zuzu­ fetzen, und wer die teuren Stengel nicht erschwingen konnte,

half sich ganz verschämt mit Zimmt, ein Gedanke, der heute wohl einer Waschfrau Schauder erregen würde. Es kam auch vielfach vor, daß die Krämer dem Thee, um ihm einen edlen Parfüm zu geben, einen leisen Anflug von Bergamottöl beibrachten. Wenn man die Geschichte des Ge­ schmacks in allen Dingen zurückverfolgen will, kann man viel aus der Beobachtung auf dem platten Lande schöpfen, wo die Wandlung erst auf Distanz nachfolgt. Kommt man bei uns auf ein Dorf, so wird in dem Maß, als der Gast

geehrt werden soll, die Suppe mehr oder minder stark nach Muskatnuß schmecken, wie das ehemals wohl allgemein der Fall war. Muskat, Cardamom, Ingwer, Coriander, das alles gehörte zum eisernen Bestand einer guten bürgerlichen Küche, an Nelken wurde nicht gespart — lauter Dinge, die heute nur in ganz bescheidenen Dosen figurieren. Es mag sein, daß die Mannigfaltigkeit und Stärke der Gewürze in der Zeit, da der Handel des Mittelalters sie zuerst aus dem Orient nach Europa brachte — und man weiß, welche Rolle sie in diesem Handel spielten — einen größeren Zauber auf den Gaumen ausübten und daß sich das die Jahrhunderte lang fortpflanzte, nur ganz allmählich sich abstumpfend, oder vielmehr der Verfeinerung des Nerven­ systems weichend. War es doch nicht anders mit den Wohl­

gerüchen und Schminken! Vermutlich würde man uns mit den Bisambüchsen des siebenzehnten Jahrhunderts heute

48 Meilen weit hinweg jagen, und die tollste Kokette würde nicht wagen, sich so viel Rot aufzulegen, wie eine würdige

Dame am Hofe des fünfzehnten Ludwig. Je mehr die Kultur voranschreitet, desto schonsamer haust sie mit den Eindrücken — siehe auch das Strafverfahren! — und wo wir ein Bedürfnis nach Verschärfung wahrnehmen, können

der Kultur auf dem beson­ deren Gebiete ahnen, so z. B. in der modernen Belletristik

wir eine Rückwärtsbewegung

und Dramatik mit ihrer grausamen Nervenbehandlung des Publikums; demselben vergröberten Triebe entstammt die

Sehnsucht mancher Gesetzgeber nach Wiedereinführung der Prügelstrafe.

Mit all dem ist meinen Leserinnen nicht klarer ge­ worden, warum die englische Institution der Toaste sowohl dem Namen als der Sache nach eine weltbeherrschende ge­ worden ist. Gerade so erging es nämlich mir. Ich hatte mir darüber den Kopf zerbrochen, mit all den Abschwei­ fungen, auf die man gerät, wenn man sich vergeblich be­ müht, einer Sache bücher, die ich zu großen Werkes aus Trinkens*), führten

beizukommen. Auch alle Nachschlags­ Rate zog, einschließlich des neuesten englischer Feder über die Geschichte des mit unsicheren Andeutungen nicht weiter

zurück, als etwa in den Anfang des vorigen Jahrhunderts

und auf bekannte Erklärungen über die Entstehung des sonderbaren Wortes „Toast". Da brachte mir eines Tags die Post einen Brief und ein Buch. Das letztere führt

den Titel „The history of Toasting or Drinking of Healths in England“ und der Brief war von einer Dame, welche mir etwa Folgendes schrieb: Sie haben vor längerer Zeit einmal bei Tische in meiner Gegenwart den

*) The history of Drink, zweite Auflage, London 1880, von James Samuelson.

49 Wunsch geäußert, etwas Genaueres über die Geschichte des Toastens in England zu erfahren. Ich habe mich bei meinem längeren Aufenthalt in diesem Lande bemüht, diesen

Dingen nachzugehen, und schicke Ihnen als Ergebnis bei­ liegende Sachen. Außer dem Buch befand sich bei der Sendung

noch eine Anzahl sehr sorgfältig gemachter Ab­

schriften aus anderen Werken über dasselbe Thema. Daß ich von solcher Aufmerksamkeit lebhaft gerührt war, wird die gütige Leserin verstehen (darum habe ich mich oben

speziell an sie gewendet), wenn schon ich aus natürlicher Diskretion alle die edle Geberin im übrigen zierenden Vor­ züge verschweige. Mit begreiflicher Spannung machte ich mich an die nähere Bekanntschaft mit dem neuen Material. Als Verfasser stand auf dem Titel des Buches genannt: The Reverend Richard Valpy French D. C. L., F. S. A.

Rector of Clanmartin and Wilcrich. Der Mann ist also ein Geistlicher, Doktor und Mitglied einer illustren Gesellschaft, er amtiert im englischen Welschland. Der Verlag befaßt sich mit der Spezialität der Mäßigkeits­

vereine, und in deren Sinn und Dienst ist die Abhandlung geschrieben, doch tritt der heilige Abscheu gegen die geistigen Getränke erst am Schluß hervor. Bis dahin ist das Thema eher mit Liebe behandelt. Soweit war alles gut. Aber bei näherer Besichtigung entdeckte ich, daß der Verfasser an einem schrecklichen Fehler litt, den ich nur zu gut kenne, weil er auch zu den meinen gehört. Er hat sich nämlich von seinem Gegenstand verführen lassen, zu weit auszuholen. Bei der litterarischen Behandlung eines Stoffes geht es nicht wie sonst im Leben, wo sich der Arme beschränken muß und der Reiche sich gehen lassen kann. Hier gilt das Umgekehrte. Wer einen reichen Stoff unter den Händen hat, muß sich beschränken lernen, wer es mit einem bescheidenen zu thun hat, darf sich gehen Lud.vig Bamberger's Ges. Schriften.

I.

«

50

lassen. Und wie groß war gerade bei diesem Stoff die Versuchung, vom einen zum anderen, vom Hundertsten ins Tausendste zu geraten! Man denke sich: Hauptthema das Reden beim Trinken, oder vielmehr das Trinken mit Reden. Die ganze Geschichte des Trinkens und die ganze Geschichte des Redens öffnete ihre Pforten rückwärts bis zur Sint­ flut. Und unser Mann Gottes hat sich nicht einmal von der Sintflut aufhalten lassen. Umgekehrt wie jener Richter im Stücke Racines, der den seine Rede mit der Schöpfung anhebenden Advokaten drängt, wenigstens bis zur Sintflut vorwärts zu kommen:

Advokat: Avant la naissance du monde . . . Richter: Avocat, ah! passons au deluge geht er in seinem Entdeckungseifer hinter dieselbe zurück. Die Frage ist freilich eine höchst interessante: Hat Noah erst nach der Sintflut angefangen Wein zu pflanzen? Gemein­ Aber einige theologische und sprachliche Sachkenner sind anderer Ansicht. Gestützt auf den Wortlaut der Genesis (IX. 20), insbesondere in Verbindung gebracht mit einer Stelle in Matthäus (XXIV. hin wird die Sache so aufgefaßt.

37—39), die mir entschieden zu ihren Gunsten zu sprechen scheint, behaupten sie lesen zu müssen, Noah habe lediglich fortgefahren, seinen Wein zu bauen wie ehedem. Und so schließt daraus nun unser Mäßigkeitsapostel ganz fein: hat Noah schon vorher Wein gepflanzt,

so hat er auch schon

vorher getrunken, und hat er getrunken, so guckte er wohl auch zuweilen etwas zu tief ins Glas — kurz und gut, er war ein Säufer, daher ein Sünder, und darum schickte Gott, um die Welt und ihn zu strafen, die Flut, in der olles andere begraben wurde. Schon damals hätte, recht­ zeitig organisiert, eine richtige Mäßigkeitsgesellschaft alles Unglück verhüten können — also homöopathisch ausgedrückt:

51 Wasser, zu rechter Zeit angewendet, hätte vor dem Unter­

gang durch Wasser bewahrt. Staun es ein schöneres quod erat demonstrandum geben? Und auch die für uns Neuere so interessante Seite, die strafrechtliche, kommt da­ bei auf ihre Kosten. Noah war rückfällig, als er sich später in so bedenklicher Weise besoff, nach der harten Strafe der

Sintflut, die freilich mehr die andern als ihn, den Haupt­ schuldigen, getroffen hatte, wie das seitdem noch öfter in der Welt passiert ist. Wie schwer ist es doch, in diesem Kapitel bei der Stange zu bleiben! Und war es nicht ver­ zeihlich, daß ein Mann, der ansing über die Gebräuche beim Trinken nachzudenken und der ihren Spuren in seinem christlichen Zeitalter und Vaterland nachging, auf denselben Gedanken geriet, wie der deutsche Dichter, der Noahs erstes Gespräch mit Gott nach verlaufenen Wassern belauscht hat? Aber es giebt bekanntlich neben der heiligen Geschichte auch

noch eine profane. In der Bibel ist unzähligemal vom Wein die Rede, bei den Propheten nicht minder. Dazu nun das ganze Altertum des Orients und des Occidents, und die ganze Poesie des Weins, und wer Poesie sagt, sagt Liebe — Weib, Wein und Gesang, wer will sie trennen? „Kaum daß ich Bacchus, den göttlichen, habe —". Hier ist kein Ende! Leider hat sich der reverend Richard Valpy von dieser Gefahr nicht abschrecken lassen. Er hat es gemacht wie ich, ehe ich sein warnendes Beispiel kennen lernte, er hat vielerlei nachgelesen, was er eben auftreiben konnte über die Trinksitten vom grauen Altertum bis auf diesen Tag,

und darum erzählt er uns zwar auch manches über die der Engländer, aber noch mehr über die aller Zeiten. Wer sich aber nicht zur Aufgabe setzt, ein umfassendes Werk dar­ über zu schreiben — und das wäre eine gewaltige Auf­ gabe — der fange lieber garnicht an ; es wird doch nur

4*

52 Stückwerk. Denn das Reich des Trinkens geht natürlich in alle Anfänge zurück, in die Jahrtausende Egyptens, Indiens und Chinas und in alle Breiten hinaus, und überall findet sich zum Durst die Poesie, sei es die der Re­ ligion, sei es die der Freundschaft oder der Liebe. Be­ kanntlich liefert die Sittengeschichte der Griechen und Römer das Vorbild beinah zu allen Einzelheiten der noch heute in Übung befindlichen Bräuche. Man könnte von den Toasten sagen, was einst einer meiner Mitschüler auf dem Gym­ nasium in tiefsinnigen Worten an den Eingang eines Auf­ satzes über Träume schrieb: „Schon die Alten kannten sie, wie folgende Stelle aus Homer beweist." Nicht nur die Träume kannten sie, sondern sogar das Zutrinken und

zwar die verfeinerte Art desselben: erst nach Tisch.

Denn erst „nachdem die Begierde des Tranks und der Speise ge­ stillt war" füllte der edle Odysseus den Becher, um dem Peliden zuzutrinken. Wer sich über das Toasten bei den Alten belehren will, findet Aufschluß in den bekannten Werken von Becker und Guhl, dem Charikles und Gallus, welche auch unser Walliser Pfarrer benützt hat, oder in Friedländers Sittengeschichte Roms und in anderen Schriften dieser Art. Die Griechen und die Römer toasteten. Sie tranken sich gegenseitig zu, sie ließen die Mächtigen, sie ließen die Frauen leben. Es gab schon festliche Gelegen­ heiten in Rom, bei welchen nur auf den Kaiser getrunken werden durfte, und das Trinken auf das Wohl der Geliebten war so ausgebildet, daß z. B. eine besondere Art desselben darin bestand, so viele Becher zu leeren, als Buchstaben zum Namen der Herzensdame gehörten. Die meisten Zere­ monien dieser Art hatten die Römer von den Griechen über­

nommen,

und einzelne charakteristische

nannten sie:

„auf

griechische Weise trinken", so die unter dem „König" Basileus, auf lateinisch Magister bibendi, dem heutigen Toast-

53 meister Englands, ein Brauch, der übrigens bereits 1100 Jahre vor Christi Geburt aus chinesischen Erzählungen an­ geführt wird. Was bei dem raffinierten Luxus der antiken Welt besonders auffällt, ist die Sitte, beinah liegend nicht

nur zu essen, sondern auch zu trinken, und das Merkwürdige dabei ist, daß diese Gewohnheit nicht eine primitive war, sondern wie die Forschung bezeugt, das Sitzen ursprünglich im Gebrauch war und erst später dem des Liegens ge­ wichen ist. Wie langsam hat sich überhaupt in der Mensch­

heit gerade der Teil der Kultur entwickelt, welcher aus den zwei wichtigsten Elementen zusammengesetzt ist, Bequemlich­ keit und Reinlichkeit. Die Gabel ist kaum seit dreihundert Jahren beim Essen im Gebrauch. Wie muß man in früheren Jahrhunderten int Winter gefroren haben! Am Hofe des prachtliebenden Ludwigs XIV. litt man in den großen Sälen bei Tisch bittere Kälte; bei einem Fest, das

die Mutter des Regenten beschreibt, fror der Wein in den Gläsern. Die Verfasserin berühmter Memoiren, Frau von Staat, geb. de Launay, die Vertraute der Herzogin von Maine, schildert den Schlafraum, welchen sie in einem königlichen Schloß bewohnte, der Art, daß gewiß ein heu­ tiger Berliner Hängeboden noch ihren Neid erregt hätte. Und erst die Reinlichkeit! Das unnennbar Unentbehrlichste ist erst in diesem Jahrhundert aus England nach dem Fest­ land herübergekommen, kaum vor dessen zweiter Hälfte und bis auf den heutigen Tag relativ eine Seltenheit in vielen Städten des Nordens, in Kapitalen des Südens. Dampf und Elektrizität haben schneller ihren Weg gemacht,

die einfachsten Bedingungen

der Gesundheit

und

als

Rein­

lichkeit. Schon aus Dankbarkeit für jene Erfindung müßte man den Engländern verzeihen, daß auch das Toasten mit seinen Schrecken von ihnen zu uns gekommen ist. Denn trotz

54 Luthers Tischreden bleibt doch die Vermutung bestehen, daß,

wie das Wort auch die Sitte in ihrer heutigen Gestalt von drüben stammt. Die alten Germanen tranken redlich, aber von den Reden, die sie dabei hielten, berichtet uns Tacitus nur, daß sie sich zankten und rauften. Gesungen haben wohl die Deutschen beim Trinken schon im frühen Mittel­ alter, aber Reden gehalten auch damals schwerlich. Auch die Franzosen lernten das Toasten erst von den Engländern. Voltaire führt es als eine Nachahmung ihrer Sitten an, und am meisten scheint es in Schwung gewesen zu sein zur Zeit, da die vertriebenen Stuarts in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts noch eine weitverbreitete Anhängerschaft in Großbritannien besaßen. Es war damals unter den Gegnern der neuen Dynastie eingeführt, sich mit geheimen Andeutungen auf das Wohl des Prätendenten ein­ ander zuzutrinken. Um nicht hochverräterischer Ausdrücke bezichtigt werden zu können, trank man schlechthin „auf den König", aber man stellte vorher ein Gefäß mit Wasser auf die Tafel, womit angedeutet werden sollte: auf den König jenseits des Wassers. Manche führen die ganze Sitte erst auf diesen Ausgangspunkt zurück. In einem von einem gewissen Brown im Jahre 1702 an die Irländer gerichteten Pamphlet wird denselben ausführlich nachgewiesen, daß es gottlos sei, auf die Gesundheit eines Königs zu trinken und gar auf das Andenken eines verstorbenen. Doch aus zahl­ reichen Belegen läßt sich nachweisen, daß der Brauch viel älter ist und wahrscheinlich germanischen Ursprungs. Die ersten Spuren führen auf dänische und angelsächsische Sitten zurück, Legenden, Redeweisen und Lieder, in welchen die sprachliche Form auf die ältesten Einwanderungen der Dänen und Sachsen hinweist. Der Zutrinkende sprach die Worte: „Was heil" (mit a oder e) und der Dankende ant­ wortete: „Drink heil". Aus dieser Sprachweise ward die

55 Bezeichnung Washail auf das Zeremoniell und die es be­ gleitenden Reden und Gesänge bei volkstümlichen Umzügen an bestimmten Tagen des Jahres, der twelfth night (Epi­ phanias, Dreikönigstag) Weihnachten und Neujahr über­ tragen. Da zogen die Mädchen (mit einem Gefäß, die WasHail-Bowle genannt, singend von Haus zu Haus. Das darin befindliche Getränk war aus Ale, Muskatnuß, Zucker, geröstetem Brot und gebratenen Äpfeln gebraut, also eine

Art Kaltschale. Für das Zutrinken auf das Wohl der Be­ wohner ließen sie sich natürlich beschenken. Es giebt noch Abbildungen solcher Bowlen, welche die Inschrift Washail tragen. Ganz besonders auf Neujahrsnacht ward das Hoch ausgebracht, und hier kommt auch schon in alten Liedern der Ausdruck Toast vor, welcher mit der Zeit an Stelle des Washail trat. Folgendes ist die erste Strophe aus einem alten Liede der Gattung:

„Wassail Wassail over the town, Our toast is white, our ale is brown Our bowl is made of the maplintree, We be good fellows all; I drink to thee*. Die Erklärung für die auffallende Bezeichnung des Wortes Toast ist bekannt. Man weiß, daß es noch heute ein Stück geröstetes Brot bedeutet, wie in obigem Lied, und einfach aus dem im Lateinischen das Rösten bezeichnen­ den Ausdruck abgeleitet ist. Unzweifelhaft ist, daß vor alter Zeit der Brauch bestand, die vergorenen Getränke mit dieser Zuthat zu genießen. Die englischen Trinksitten, ebenso wie die des Orients, knüpfen sich ursprünglich nicht an den Rebensaft an, sondern an Meth und Bier (Ale), in Indien an Soma und Sura, wie ja auch die alten Ger­ manen noch nicht Wein genug hatten, um sich damit so reichlich zu besaufen. Sobald einmal der Rebensaft zu den

56 Gelagen ausreichte, verschwand in England auch der Bei­

satz von geröstetem Brot. Andere Völker kennen ihn nicht. Daß nun für diese besondere Sitte des Trinkens auf das Wohl einer anderen Person das Wort Toast angewendet worden und so siegreich sich behauptet hat, wie der Über­

gang in die anderen europäischen Sprachen zeigt, soll nach der meist verbreiteten Auffassung auf Rechnung jener zu­ nächst poetischen Formbildung kommen, welche den Teil für das Ganze setzt (pars pro tote). Etwas gezwungen er­ scheint die Ableitung, aber eine bessere ist eben nicht da. Einzelne Sprachforscher behaupten, das Wort Toasten sei

eine Umbildung des deutschen Wortes „Anstoßen", eine Konjektur, die nicht minder gewagt erscheint als die allge­

mein geltende. Die Versuchung, alles, was mit dem Trinken zusammenhängt in fremden Sprachen, auf deutschen Ur­ sprung zurückzuführen, liegt so nahe.*) Das häufig vor­ kommende englische Wort carouse, Trinkgelage, wird all­ gemein von Gar aus, bis auf den letzten Tropfen aus­ trinken, abgeleitet. Wird doch von den meisten auch an­ genommen, daß der italienische Ausdruck für Toast „Brin­ disi“ vom deutschen „Bring dir's" herkomme. Unter den mannigfaltigen Erläuterungen, welche zur Entstehung des Ausdrucks Toast gegeben werden, möge nur noch eine Er­ wähnung finden, weil sie höchst kurios ist und in verschie­ denen Abhandlungen wiederholt wird, seitdem sie zum ersten­ male in der Zeitschrift „The Tatier“ int Jahre 1709 auf­ tauchte. In der ausgelassenen Gesellschaft, welche sich nach dem Sturz des puritanischen Regimentes unter Karl II. wieder von den strengen Sitten der republikanischen Ära

erholte, war es unter anderem nicht ausgeschlossen, daß die *) In meinen Betrachtungen

über „Die Kunst

zu schenken" (Weih­

nachten 1888) habe ich den Gegenstand ausführlicher behandelt.

57 vornehmen Damen ihre Verehrer empfingen, während sie im Bade saßen. Als eines Tages eine berühmte Schön­ heit solchermaßen eine Schar von Kavalieren um ihre Wanne versammelt sah, ergriff einer ihrer Getreuen ein Glas, schöpfte es aus dem Bade voll und trank den Inhalt auf die Gesundheit der Herrin. Ein Anderer der Bei­ stehenden sagte aber, die Flüssigkeit lasse ihn kalt, was er

haben möchte, sei der Toast, das feste Stück, das drin stecke. Als er Miene machte, hineinzuspringen, um sich den Toast zu holen, hielten ihn die Freunde mit Gewalt zurück. Was die Dame selbst zu dem Beginnen gesagt hat, wird nicht berichtet. Von jener Zeit und Anekdote her soll das Wort besonders in Aufschwung gekommen sein. Eines hat mich immer gewundert, daß noch niemand darauf verfallen ist, das Wort von dem Namen des egyptischen Gottes Toth abzuleiten, welcher als Gott der Beredsamkeit verehrt wurde. Auf seinen Abbildungen wird er als ein Mensch mit dem Kopf eines sehr langschnabeligen Vogels dargestellt. Übri­ gens haben die Engländer neben diesem technischen Aus­

druck einen noch älteren für dieselbe Sache, welcher sich ebenfalls bis auf die neue Zeit erhalten hat. Eine Gesund­ heit ausbringen heißt auch to pledge a health. Das Wort pledge bedeutet so viel wie verpfänden, gewähr­ leisten, und es fehlt natürlich nicht an Kommentaren, welche für diese Formel eine historische (Erläuterung haben, z. B. daß man sich in Faustrechtszeiten mit Leib und Leben für

die Sicherheit der beim Zutrinken angerufenen Person ver­ bürgte. Obgleich unser Weihnachtsgespräch sich ungewohnter­ weise nun schon aufs Neujahr fortgesponnen hat,*) muß ich mir doch versagen, noch tiefer in die vielerlei Bräuche ein« *) Die Abhandlung zog sich durch zwei Nummern der „Nation".

58 zudringen, die sich im Lauf der Zeiten auf diesem frucht­ baren Gebiete der Lebensfreuden bei den verschiedenen Nationen herausgebildet haben. Auch in der deutschen Litteratur ist natürlich reiche Belehrung darüber zu finden. Eines jedoch bleibt unerläßlich, daß wir uns die eigentliche Kardinalfrage stellen: Worauf beruht der offenbar aus der Grundanlage der menschlichen Natur entsprungene Drang, den Genuß geistiger Getränke mit einer Demonstration zum Heil oder zur Ehre eines Nebenmenschen zu verbinden? Ich sage Nebenmenschen, denn ein Toast z. B. auf die Presse, welchen weder die Alten noch die Stuartschen Ka­ valiere kannten, ist doch auch eigentlich immer nur ein Toast auf die beim Bankett anwesenden Herren Journa­ listen, welche so gütig sind, zunächst das Fest und ferner­ hin das Jahr über die Festgeber freundlich zu behandeln. Bei unseren großen Zweckeffen folgt regelmäßig nach dem Hoch auf die Damen das auf die Presse, man erinnert sich dann sofort, daß man nicht bloß den ersteren, sondern auch der letzteren den Hof machen muß. Wahrscheinlich hat der englische Dichter Sheridan das Richtige getroffen, wenn er in all diesen Liebenswürdig­ keiten als den wahren Kern die Excuse for drinking her­ ausfindet, eine schöne Ausrede fürs Trinken. Daher kommt auch, daß alle diese Sitten sich ausschließlich an den Genuß der gegorenen Getränke anlehnen, weil eben nur die im Übermaße, über den Durst, genossen werden. Für die

anderen sucht man nach keiner Ausrede. Obwohl Thee und Kaffee zuträglicher für die Gesundheit sind als Wein und Bier, bestand und besteht doch kein Brauch, Gesund­ heiten darin auszubringen. Der einzige, welcher hier er­ wähnt werden könnte, wäre der in einem Teil des bayeri­ schen Frankenlandes bestehende, demgemäß bei großen Damen­ kaffees am Schluffe die Vornehmste der Gesellschaft sich er-

59 hebt und in feierlicher Rede sich so vernehmen läßt: „Wir danken für die treffliche Bewirtung und bedauern die ver­ ursachten Unkosten." Daß der Wein für ein der Gesund­

heit besonders zuträgliches Getränk gilt, ist wohl auch nur eine Excuse for drinkmg, und daß man ihn nicht seiner Heilkraft wegen auf die Gesundheit anderer trinkt, erhellt schon daraus, daß, wie beschrieben, die Toaste ursprünglich gar nicht beim Wein, sondern bei anderen Spirituosen auf­ gekommen sind. Von Schnapstoasten ist glücklicherweise in der zivilisierten Welt noch nicht die Rede. Das spricht deutlich 'zu Ehren des Weins, dessen unbestreitbar einge­ borenes poetisches Element im Bunde mit der guten Aus­ rede das Fundament der Trinksitten geliefert hat. Es giebt aber neben der Poesie des Trinkens auch eine des Essens, eine höchst ehrenvolle, ja menschlich höher stehende als die des Trinkens. Eine der höchsten Freuden des Daseins, ein behagliches Gespräch zu mehreren, fließt am schönsten beim Mahle dahin, und das Wesen des Mahles ist eben das Essen, nicht das Trinken, wenn auch das letztere dazu gehört. Die Nation, welche am meisten Sinn für Konversation hat, die französische, hat auch am meisten Sinn für die Küche. Bei den berühmten Soupers des achtzehnten Jahrhunderts spielte das Trinken keine Rolle. Das hängt auch schon damit zusammen, daß die Damen­ welt an ihnen beteiligt war, die glücklicherweise bis ans den heutigen Tag dem Genuß geistiger Getränke int ganzen gleichgiltig gegenübersteht — ein Gesichtspunkt, welcher bei den Bestrebungen nach völliger Gleichstellung der Geschlechter nicht übersehen werden sollte. Zwar kann wohl überhaupt als ausgemacht angesehen werden, daß das weibliche Ge­ schlecht im ganzen weniger Wert nicht nur auf das Trinken, sondern auch auf das Essen legt, als das männliche. Auf zehn Frauen kommt höchstens eine, die viel darauf hält,

60 und solche, die es im Übermaß treiben, sind höchst seltene

Ausnahmen. Ob sie nach anderen Richtungen hin sich da­ für schadlos halten, ist eine Frage, die begreiflicherweise hier nicht untersucht werden soll. Man behauptet zuweilen, ihre Gleichgiltigkeit gegen das Essen rühre von ihrer Be­ schäftigung mit der Küche her. Dieser naheliegende Ein­ wurf hält aber nicht Stich. Denn auch Frauen, die nach ihrem Stande garnichts mit der Küche zu thun haben, gleichen darin allen anderen, und ihre Gleichgiltigkeit gegen den Wein erklärt sich gewiß nicht auf diese Weise, da sie doch beinah nie die Aufsicht über den Keller führen. Am meisten trinken die Damen von jeher in England. Aus vergangenen Jahrhunderten wird Schlimmes darüber be­ richtet, und auch heutigen Tages soll ihre Leistungsfähig­ keit über die ihrer Schwestern vom festen Lande bedeutend hinausgehen. Vielleicht hängt damit zusammen, daß sie auch an der Politik viel mehr Teil nehmen und z. B. bei Wahlbewegungen jetzt sich gewaltig in eigener Person her­ vorthun. Alles in allem möchte ich behaupten, daß wohl­ verstandenes Essen und wohlverstandene Unterhaltung zu­ sammen gehören, und in beidem leisten da, wo sie über­ haupt dazu begabt sind, die Männer das Höhere. Zu einer vollendeten kleinen Tafelrunde gehören gewiß auch Damen, aber sie haben mehr begleitende Funktionen dabei. Zunächst soll ihre äußere Erscheinung das Ganze ver­ schönern, und dann sollen sie sozusagen den Taktstock dabei

führen. Wer das Glück hatte, in seinem Leben angenehme Erfahrungen auf diesem Gebiete zu sammeln, weiß, welche hohe Kunst eine sachverständige Herrin des Hauses üben kann, indem sie den Gang der Unterhaltung ohne sichtbare

Eingriffe, und vor Allem ohne Pedanterie zu leiten und zu beleben versteht. Sobald man's merkt, wird's unaus­ stehlich. Zu einer guten Tafelrunde gehört eine Mehrzahl

61 von Männern und eine kleinere Anzahl Damen, schon da­ mit die Versuchung der Galanterie nicht bei Tisch rege werde, wo sie nicht hingehört. Die Soupers des achtzehnten Jahrhunderts waren so zusammengesetzt. Das Essen als Kunstgenuß und zugleich als ein Element des verfeinerten geselligen Verkehrs nimmt überhaupt im französischen Leben

einen breiteren Platz ein als bei irgend einer Nation. Auch die nördlicheren lassen es am Schmausen nicht fehlen, z. B. vor allem die Belgier, aber sie betreiben es einseitiger. Die Italiener legen weniger Gewicht aufs Essen und Trinken

als auf den allerdings nicht zu verachtenden Luxus der Be­ dienung der Tafel. In Frankreich am meisten gelangen Sinnlichkeit und geistige Bewegung bei Tafel zu gleich­ mäßiger Geltung. Achte man auf die französische Komödie. In ihren Stücken kommt so häufig eine Szene vor, in der man sich zu Tisch setzt, und wer die Memoirenlitteratur kennt, wird beobachtet haben, wie oft einer erzählt, das und jenes sei passiert, als er gerade bei dem und jenem zu Gaste

gewesen sei; auch zu Zeiten größter Aufregung und von Katastrophen hört man nicht auf, sich einander einzuladen. Diese Art wohltemperierter Geselligkeit verträgt sich aber nicht mit einer, bei der man vom zweiten Gang an sofort aus dem Fluß der Unterhaltung und aus dem Gleich­ gewicht des Gemüts gerissen wird, dadurch, daß einer der Gäste an ein Glas klopft, sich erhebt und eine mehr oder minder feierliche Anrede beginnt, wie dies leider bei uns furchtbar überhand genommen hat. Ich weiß nicht, ob es andern ähnlich geht, aber meine erste Bewegung in solchem Fall ist immer die, daß ich unter den Tisch kriechen möchte. Und das ist gar nicht unnatürlich. Eine ebenmäßig und ebenbürtig zusammengesetzte, behaglich plaudernde Tafelrunde wird mit einem Schlag umgewandelt in ein Publikum und einen Schauspieler; es ist, als wenn alle Sitze auseinander-

62 gerückt würden und ein Podium aus der Mitte aufstiege,

und als wenn die vier Wände fielen, um in ihre behagliche Atmosphäre die kalte Luft von draußen hereinströmen zu lassen. Aber nicht nur das, der ganze moralische Zustand der Gesellschaft wird sofort verschlechtert durch zersetzende psychologische Elemente, die sich aus der neuen Szenerie entwickeln. Ein Ehrgeiziger und ein Parterre von Kritikern schießen auf, da, wo vor einer Minute noch unbefangene nur aufs Genießen bedachte Menschenkinder beisammen saßen. Auch wer nur aus Gefälligkeit oder aus Unvermeid­ lichkeit eine Tischrede hält, kann sich von dem Wunsch, seine Sache gut zu machen, nicht frei halten, und selbst jener Mann, den ich einmal seinen Speech so einleiten hörte: „Ich weiß zwar, daß ich stecken bleiben werde", war nicht

frei von der Anwandlung relativen Ehrgeizes. Nichts ist aber der Lebensfreudigkeit feindlicher als Ehrgeiz. Daß einer mit einer Rede im Leibe sich am Genuß des Weines ergetze, ist denkbar, ja er wird eine Art Trockenheit der Zunge empfinden, die von der Erwartung erzeugt wird; aber mit der Würdigung der Speisen, zu welcher ein vollkommenes Gleichgewicht der Seele erfordert wird, ist die Bereitschaft zum Ergreifen des Wortes un­ vereinbar. Mit der Konversation geht es nicht anders. Während der Redner in spe scheinbar sich mit seiner Nach­ barin unterhält, wiederholt er sich im Stillen die Knall­ effekte oder den Anfang oder den Schluß seiner kurz oder lang vorher präparierten Ansprache. Wenn nur einer reden wollte, das ginge noch an, und darum stelle ich mir z. B. die feierlichen Geburtstagsessen, bei denen nur eine hohe Gesundheit ausgebracht wird, unbekannterweise, recht schön vor. Aber bei minder erhabenen Anlässen erfaßt ja der Redeteufel einen nach dem andern, und so bildet sich um die Wette eine Kette innerer Bewegung, welche auf die Ge-

63 samtheit der Unterhaltung und Verdauung störend einwirkt. Da, wie in der gesamten Schöpfung, auch unter den Rednern es mehr schlechte als gute giebt, so ist die Zu­ hörerschaft, obwohl die Passive Rolle für sie die bei weitem glücklichere ist, von Pein auch nicht frei. Es gehört zu den elendesten Momenten, wenn bei Tisch ein ungeschickter Redner zu stolpern und zu holpern beginnt. Und nun

erst die Mißhandlung, welche die Hauptsache, die Speisung, dabei erfährt, die Gerichte, die durch Warten verderben, der Appetit, der durch lange Unterbrechungen vergeht, die endlose Länge des Stillsitzens zwischen den zwei nämlichen

Nachbarn, mit denen sich der Gesprächsstoff, wenn er über­ haupt bei solchen Unterbrechungen aufkommen kann, doch schließlich erschöpfen muß, endlich die indiskreten oder ein­ fältigen Gesichter der zuhörenden Aufwärter. Ein gräu­ licher Unfug ist ferner das Aufstehen nach jedem Toast, um die am Schluß derselben genannte Person noch mit persön­ lichem Anstoßen zu feiern. Das wird ein tumultuarisches Umherlaufen und ein gegenseitiges Begießen mit über­ fließenden Gläsern, welches auch den letzten Rest von Kom­ fort zerstört. Da jeden Redner mehr oder weniger der Toast, den er im Leibe hat, inkommodiert, so sucht er ihn möglichst früh los zu werden. Die anerkannten Staatsredner haben dabei den Vorteil, daß sie ihre Last zuerst abladen und dann in Ruhe essen können. Um ihr Privilegium auszu­ nützen, stehen sie meistens auch schon gleich nach der Suppe auf; und hat das Unheil einmal angefangen, dann folgt natürlich Schlag auf Schlag. Jeder will sobald als möglich auf seinen Lorbeeren ruhend schmausen. Zu den Lasten eines öffentlichen Berufs gehört die manchmal nicht zu um­ gehende Notwendigkeit, an einem Zweckessen teilzunehmen. Alle bereits geschilderten Qualen erreichen hier ihren Höhe-

64 punkt. Da die Sache gewöhnlich so eingerichtet ist, daß die Getränke von den Gästen je nach Verbrauch dem Unter­ nehmer bezahlt werden, so hat derselbe ein doppeltes Inter­ esse, durch sparsam bemessene Bedienung lange Pausen ent­ stehen zu lassen, die durch Reden und Trinken ausgefüllt werden. Je weniger kultiviert die Völker sind, desto länger

sind ihre Ceremonien. Ein mehrere Tage. Die Tischberedsamkeit ist man beileibe nicht verächtlich Kunst ist sie schwer und hat

afrikanisches Palaver dauert eine besondere Art, von der sprechen soll. Wie jegliche ihre Feinheiten. Jeder, der

überhaupt Reden halten kann, ist auch imstande, eine Tisch­ rede und sogar eine gute zu halten, wenn er einigermaßen vorbereitet ist, was ich überhaupt für die Regel bei guten Reden halte. Gewiß, es giebt vortreffliche Improvisationen, aber keine unfehlbaren Improvisatoren. Der gewissenhafte Redner wird, wenn er kann, sich immer lieber vorher be­ sinnen auf das, was er zu sagen hat. Das ist er sich und seinen Hörern schuldig. Die Leute, die immer aus dem Handgelenke reden können, sind meistens Flachköpfe. Die Franzosen, welche doch gewiß eine redebegabte Nation sind, extemporieren nicht nur selten, sondern sie sprechen selten frei. Ich habe Viktor Hugo und Louis Blanc in einer großen Volksversammlung ihre Reden aus geschriebenen Heften ablesen sehen. Sie lasen nicht gerade jedes Wort, aber den Anfang jeder Periode und, nachdem sie sichtbarer­ weise das Ende derselben noch rasch ins Auge gefaßt hatten, erhoben sie den Blick nach den Zuschauern (sie sprachen nämlich von der Bühne eines der größten Theater aus) und rezitierten den Rest auswendig. Die Gestikulation, welche den deklamatorischen Vortrag begleitete, half einiger­ maßen über die Schwerfälligkeit einer solchen Diktion hinaus und gab ihr etwas mehr Leben. In Deutschland wäre

65 eine derartige Prozedur unter solchen Umständen nicht denk­

bar,

und

der

deutsche Geschmack scheint mir hierin

der

Der Grundgedanke der rednerischen Wir­

bessere zu sein.

kung liegt in der Vorstellung, daß sie einem lebendigen, im Dem wider­

Augenblick hecvorsprudelnden Quell entspringe.

spricht der Eindruck mechanischer Abhaspelung voraus auf­ gewundener Vespinnste.

Vorlesen

Reden

von

geschlossen.

Im deutschen Parlament ist das nach

der

Geschäftsordnung

aus­

Die Franzosen legen so großen Wert auf die

korrekte Form,

daß sie der Sicherheit halber die schriftlich

präparierte vorziehen.

Aber hierbei wird die wahre Natur

der Aufgabe allzusehr der Formvollendung geopfert.

In

Frankreich gestattet es die Sitte sogar, an der Bahre des Verstorbenen eine Rede auf denselben abzulesen.

Bei uns

würde das geradezu verletzend auf das Gefühl wirken, und

dies Gefühl ist im Rechte.

Aber was hier gegen die im

voraus in allen Einzelheiten festgelegte Rede gesagt wird, soll nicht umgekehrt

der Improvisation zu gute kommen.

Die Regel für eine gute Rede, wie für einen guten Feldzug ist, daß sie im voraus wohl überlegt seien, was nicht aus­

schließt,

daß die Umstände zu richtigen Eingebungen des

Moments

sollen.

wie zu glücklichen Gefechten führen können und

Die Debatte,

also vor allem die parlamentarische

Verhandlung mit ihrer Aufgabe, dem meist erwarteten, aber auch dem unerwarteten Angriff zu begegnen, drängt ja von selbst auf die Improvisation hin.

beste Improvisator der sein,

Aber auch hier wird der

der schon lange vorher alle

Seiten einer Frage in sich überdacht und mit Pfeilen für

alle

solche innere Vorbereitung

dingung

für jede

seinen Köcher

denkbaren Fälle ersehen hat.

Eine

allgemeiner Natur ist die Be­

ernste rednerische Qualifikation,

sie ist

ihrem Wesen nach verwandt mit dem, was man sich unter Übung denkt. Dieser Übung darf natürlich, um auf unseren Ludwig Bambergens Ges. Schriften.

I.

t

66 besonderen Fall zurückzukommen, auch der Tischredner nicht entbehren. Ja, wenn für irgend eines, so ist für dieses Genre die Leistung aus dem Stegreif nicht nur die erlaubte, sondern die erwünschte. Die Stimmung ist es, welche hier Inhalt und Form der Rede geben soll, und wenn schon

mancher gute Toast auch von einem „unvorbereitet wie er sich hatte" gehalten worden ist, so verdient doch als der Tischredner von Talent und Beruf nur der bezeichnet zu werden, welcher wenigstens im Effekt den Eindruck der Un­ mittelbarkeit hervorbringt. Denn natürlich nur auf den Effekt kommt es an, nicht auf das, was ihm im Stillen vorangegangen ist. Ich glaube, auch die guten Tischredner sammeln in ihren Mußestunden einen Vorrat von humoristi­ schen Wendungen bei sich an, die sie im richtigen Moment als augenblicksgeborene Raketen aufsteigen lassen. Das geht aber niemandem etwas an. Wie eine Sache zustande gekommen, verschwindet vor der Thatsache, daß sie gelungen ist. Schon der alte Goethe, der alles gesagt hat, sagt: Was gut gemacht ist, scheint leicht gemacht zu sein. Die Deutschen sind im großen und ganzen als Nation nicht unter die mit der Redegabe besonders gesegneten zu rechnen, aber ich wüßte doch unter Verstorbenen und Lebenden eine stattliche Zahl gerade vorzüglicher deutscher Tischredner auf­ zuzählen, und es ist nicht schwer zu erklären, warum wir gerade in dieser Spezialität uns auszeichnen. Nur das glaube ich auch bemerkt zu haben, daß hervorragende Tisch­ redner auch sonst in ihren Vorträgen etwas haben, was an die farbenfrohe Produktivität der Weinlaune erinnert. Unsere großen politischen Redner haben nie bei Tische sich besonders hervorgethan. Ich kann mich nicht besinnen, von irgend einem zierlich ausgesponnenen Toaste Bismarcks ge­ hört zu haben. Lasker war beinah niemals zu einem solchen zu bringen, und Eugen Richter verspürt, wenn ich

67 Umgekehrt Windthorst ließ sich keine Gelegenheit entgehen. Saß man auch nur ein halbes Dutzend bei Tisch, es dauerte nicht lange, der kleine, im buchstäblichen Sinne des Wortes leutselige, Schalk klopfte an sein Glas und hielt einen schnurrigen Vortrag.

nicht irre, dieselbe Antipathie.

Da man von vornherein geneigt war, der einflußreichen, bejahrten und hochstehenden Exzellenz dankbar zu sein, so war sie des Beifalls gewiß, und diese Gewißheit giebt be­

kanntlich die zum Gelingen sehr viel beitragende Seelen­ ruhe. Ein Redner in großem Stil war der überlegene Debater und Taktiker bekanntlich überhaupt nicht. Sein Pathos war meistens trivial und geschmacklos, und das Anziehendste in seinen Parlamentsreden waren auch seine guten, beißenden, improvisierten Scherze. Waren Damen bei Tisch, für deren dem berühmten Manne natürlich zu­ strömende Huldigungen er sehr empfänglich war, so galt gewöhnlich ihnen sein im Rokokostil der Galanterie ge­ haltener Toast. Mit all dem hat er unzählige Male seinen Wirten und Tischgenossen Freude gemacht, wie ihm, was man auch sonst von seiner Wirksamkeit denke, nie vergessen werden darf, daß er ein humaner, liebenswürdiger Mensch war — ein Zug, der in unserem politischen Leben täglich mehr dem anderen Extrem weicht. Da jede Geschichte eine Moral haben soll, so möchte ich diese lange mit folgender zum Schluß bringen. Toaste müssen sein, das beweist ihre uralte und ausgebreitete Existenz. Auch sie haben ihre Vernünftigkeit, und unter Umständen sogar ihre Annehmlichkeit. Aber für deutschen Brauch wäre außerordentlich wünschenswert, daß er auf die großen Vorbilder zurückginge, die ihm die klassischen Bräuche zeigen, die des Altertums und die der Engländer. Hier galt oder gilt als Regel, mit dem Trinken auf das Wohl erst anzufangen, wenn das Essen vorüber ist. Erst nach 5*

68 dem eigentlichen Gastmahl, dem Deipnon, begann das Sym­ posion, das Zusammentrinken mit dem Zutrinken. So auch bei den Engländern; erst wenn das Tischtuch abgenommen, fängt das Trinken und Reden an, weshalb der Toast auch der After-dinner speech heißt. Wenn dies auch bei uns eingeführt würde, so fiele die Versuchung weg, die aus dem Brauch einen Mißbrauch macht; der Mensch, welcher die wahre schöne Tafelfreude gern genießt, gut zu essen und sich dabei gut zu unterhalten, könnte ungestört sich dieser Gottesgaben freuen und dann, sofern er nach guten und schlechten Reden und nach Übermaß des Weins kein Be­ dürfnis fühlt, sich — lachend oder weinend — aus dem Bunde stehlen.

V.

Fragen an Sie ewigen Sterne. i. ^as erste politische Ereignis, dessen Eintritt mir deut­ lich vor der Erinnerung steht, war die Juli-Revolution zu Paris im Jahre 1830. Ich hatte damals eben das siebente Jahr erreicht, aber es wurde in meiner nächsten Umgebung so viel politisiert, daß der kindliche Sinn schon lebhaft auf die Weltbegebenheiten hinhorchte. In dem dem Elternhause gegenüberliegenden Laden des allen Junggesellen, der ein Geschäft mit Schreibmaterialien betrieb, gingen täglich be­ schäftigte und unbeschäftigte Leute aus und ein, die sich beim Zusammentreffen über die neuesten Begebenheiten unterhielten und — ich vermute — mit mehr oder weniger Weisheit darüber kannegießerten. Wir Knaben hatten unser Hauptquartier da aufgeschlagen, um zuzuhören und die Bilder zu betrachten, vor allem die Schlacht bei Navarin und Kaspar Hauser an der Thorwache zu Nürnberg. Es waren damals fünfzehn Jahre seit dem Mschluß der Napo­ leonischen Ära vergangen. Ehedem hätte man das für

einen langen Zeitraum gehalten und gemeint, danach müßte das Biertelsäkulum der vorausgegangenen Umwälzungs­

periode tief in den Untergrund historischer Vergangenheit

70

Aber wir, die wir die Jahre 1870

versunken gewesen sein.

und 1871 erlebt haben, wissen das jetzt besser.

In den

nächsten Sommer fällt die fünfundzwanzigjährige Wieder­

kehr der großen Kriegszeit,

und wem, der dabei gewesen,

ist alles nicht noch gegenwärtig, als wäre es gestern ge­

schehen?

Im Jahre 1830 waren seit dem zweiten Pariser

Frieden erst fünfzehn Jahre vorübergegangen und viel stillere als die, welche uns heute vom letzten großen Völkerkampfe

trennen.

So erkläre ich mir,

daß

bei der ersten Kunde

von der Verjagung Karls X. in der Stadt Mainz, die mit

ersten Sturz der Bourbonen und

ihrem Schicksal in den

dann wieder

in den des

wickelt worden war,

kaiserlichen Eroberers eng ver­

auch die Bilder

und, mit ihnen verbunden,

vergangener Zeiten

die Fragen

an das Schicksal

wieder unter ähnlichen Zeichen auftauchten.

Da kamen sie

denn zu Häuf in jenen ersten Tagen des August, alle die Redseligen und Staatskundigen,

ältesten

oder

die

alten

in deren Gedächtnis die

Geschichten,

der Einmarsch

des

Generals Custine oder der Rückzug aus Rußland, getragen von dem Selbstgefühl, Zeuge großer Dinge gewesen zu sein,

lebendiger noch als sonst wieder emporstiegen.

Vor Allem

waren es die alten Soldaten der großen Armee, Veteranen

genannt, die sich berufen fühlten, ihre Stimme abzugeben. Manche von ihnen stehen mir noch deutlich vor Augen, ich

könnte sie malen, wenn ich malen könnte.

Einer besonders,

ein geborener Franzose, einer derer, die am Orte sitzen ge­

blieben waren mit Haus und Hof, als seine Landsleute ab­ zogen,

interessierte uns Knaben ganz besonders.

jetzt einen Biergarten vor das für Zeug

war,

was

dem Thor. uns

damals

Er hielt

(Gott weiß, als

was

schäumender

Gerstensaft aus steinernen Krügen geschenkt ward!)

Aber

er hatte ehemals bei den kaiserlichen Kürassieren gedient, ein baumlanger Kerl,

der natürlich auch nie menschliches

71 Deutsch reden gelernt hatte. Was unsere Ehrfurcht für ihn mehr als für die anderen seines gleichen steigerte, war, daß es hieß, ihm fehle, unter der Hülle des Stiefels, die große Zehe, die ihm in der Schlacht abgeschossen worden. Mit wahrer Andacht hafteten unsere Augen auf diesem historischen Oberleder. Was wird nun in Frankreich werden? lautete die schwere Frage ans Schicksal, und die Mehrzahl der Korona war überzeugt, demnächst würde wieder der große Invasionskrieg losgehen, würden „die Franzosen kommen", wie die stereotype Wendung lautete. — Aber was da kam, war genau das Gegenteil. Dem Bürger­ könig Ludwig Philipp lag nichts wärmer am Herzen, als seinen Kollegen auf den von Gottes Gnaden angestammten Thronen die Überzeugung beizubringen, daß er an alles eher denke als an die Erneuerung eines Heldendramas. So

ward die Periode vom Juli 1830 bis zum Februar 1848, welche nicht bloß in der guten Stadt Mainz (der Kaiser Napoleon hatte sie nämlich zur Würde einer der „bonnes villes de France“ zu erheben geruht), sondern in ganz Deutschland und weit darüber hinaus bei ihrem Anbruch als eine Ära des Krieges diagnostiziert worden war, zu dem friedlichsten Abschnitte, den die Annalen der Weltgeschichte zu verzeichnen haben — eine Zeit der Verzweiflung für die Lieutnants und die Hauptleute, die im stillen Familien­ leben des Garnisondienstes ergrauten. Ich höre noch, wie die Rede ging: Offiziere seien beschäftigte Müßiggänger. Zwar hatte die friedselige Stimmung durch die syrisch­ ägyptischen Wirren eine momentane Unterbrechung erlitten,

als das Ministerium Thiers mit seinen heroischen Geberden die kriegerische Muse des Niklas Beckerschen Rheinliedes herausforderte. Aber gerade dieser Zwischenfall hatte um so deutlicher gezeigt, wie wenig Ernst es dem vernünftigen, nüchternen Orleans mit der Lust nach militärischen Aben-

72 teuern war; und die Welt sah danach um so beruhigter in die Zukunft, als der Geschichtschreiber der republikanischen und imperialistischen Feldzüge dem Geschichtschreiber der Zivilisation seinen Platz an der Spitze des Kabinets hatte überlassen müssen. Da kam ein neuer Schlag von ganz anderer Seite durch einen grausamen, scheinbar tief in die Weltgeschicke eingreifenden Zufall. Ich erinnere mich deutlich des Mo­ mentes. Wieder war es ein heißer Julitag im Jahre 1842. Ich hatte in der Glut der Mittagsstunde während des zweistündigen eintönigen Vortrages im Kolleg über römische Institutionen mühsam gegen den Schlaf gekämpft. Beim Austritt empfing uns die Nachricht, daß der französische Thronfolger, der junge, schöne, vielgeliebte Herzog von Orleans, durch einen unglücklichen Sprung aus dem Wagen ums Leben gekommen. Auf ihn, auf die Volksgunst, die man ihm nachrühmte, hatten die politischen Berechnungen ihren Glauben aufgebaut, daß Ludwig Philipps Krone ohne Schwierigkeit auf den Nachfolger übergehen werde. Von nun an trat an die Stelle dieser Zuversicht die bange Frage für alle Staatsweisen: was wird einst aus der Ruhe Europas, wenn Ludwig Philipp die Augen schließt? Und als Ludwig Philipp 1850 in Claremont starb, kümmerte sich kein Mensch mehr um die Folgen seines Endes. Das Ereignis war absolut gleichgiltig für die Weltgeschichte, so­ gar noch gleichgiltiger als der Tod, der drei Jahrzehnte später den armen Sohn der Kaiserin Eugenie im fernen Afrika aus den Möglichkeiten französischer Überraschung mit

dem Assegai eines Zulukaffern herausstrich. Zum dritten Mal seit Waterloo tauchte der Gedanke auf, die Franzosen würden sich nach dem Rhein stürzen, als am 24. Februar 1848 die Republik ausgerufen ward. Doch galt dies mehr für Deutschland als für Frankreich.

73 Die Warnung sollte bei uns Dienste thun, um dem guten

Bürger vor seinen eigenen politischen Gelüsten bang zu machen. Die Lust, den angestammten Fürsten etliche Macht­ vollkommenheiten abzuknöpfen, sollte abgelenkt werden auf die Notwendigkeit, sich gegen den von außen drohenden

Erbfeind zu verteidigen. Aber der Erbfeind kam nicht, und die Hoffnung, welche das deutsche Volk auf die be­ rühmten und berüchtigten Bewilligungen jener Märztage gesetzt hatte, sollte nicht an solchen Erbfeinden deutscher Einheit und Freiheit, die jenseits des Rheines wohnen, zu Schanden werden. Da jedoch die Schrecken nicht aufhören, so kam nun ein neuer auf, mit dem wir erst in unseren Tagen intimere Bekanntschaft gemacht haben, das „rote Gespenst". Heute leben wir unter dem Eindruck, als sei die Ge­ fahr sozialer Umwälzung erst neuerer Zeit, sagen wir seit der Pariser Kommune und der Rückwirkung des allgemeinen Stimmrechts, der Welt ins Bewußtsein gedrungen. Das ist ein Irrtum. Wer sich des Jahres Achtundvierzig er­ innert oder dessen Annalen nachschlägt, muß konstatieren, daß schon damals jener Schrecken der Menschheit sofort ge­ waltig in die Glieder fuhr; sogar ehe noch die große von Cavaignac niedergeworfene Erhebung des Proletariats im Juni 1848 zum ersten Mal ein großes Blutbad unter Ent­ faltung der roten Fahne angerichtet hatte. Ein kleiner Vorgang aus meiner persönlichen Erinnerung giebt eine komische Illustration zu der ernsten Bestürzung, welche da­ mals die Menschen ergriffen hatte. Es war tm Mai 1848. Vor wenigen Wochen war ich aus der Stille der Studier­ stube in die Redaktionsstube der „Mainzer Zeitung" ein­ getreten und hatte mich lustig ins Getümmel gestürzt. Da bat mich der ehrbare Verleger der Zeitung, ein wohlgestellter und wohlbegüterter, gemütlicher Herr, um eine Unterhaltung.

74 Ihn verlangte, meinen weisen Rat zu haben über die Frage,

ob er fortfahren solle, die regelmäßigen Terminszahlungen an die Lebensversicherung zu machen, bei der er die Zu­ kunft seiner kleinen Töchter versorgt hatte. Er hatte eben einige Zeitungsartikel gelesen, welche allen diesen Einrich­ tungen philisterhafter Kapitalansammlung den Krieg er­ klärten, und stellte mir die Frage, ob ich ihm rate, sein gutes Geld weiter in bisheriger Weise solchen vom Umsturz bedrohten Kassen anzuvertrauen, oder es lieber bei sich in bestmöglichem Versteck aufzubewahren. Ich freue mich noch heute, daß meine Antwort nicht so dumm ausfiel, wie leicht hätte passieren können, denn ich hatte eifrig Louis Blanc und Proudhon studiert und, wenn auch ohne den wahren Glauben, doch nicht ohne Wohlgefallen kommentiert. Aber die Logik half mir über die Klippe hinweg. Von zwei Dingen eines, sagte ich, von dem Vertrauen des gesetzten Mannes in meine grüne Einsicht gerührt: entweder die bürgerliche Ordnung bleibt bestehen, dann werden Sie wohl gethan haben weiter zu zahlen und nicht Ihre bis­ herigen Einzahlungen verfallen zu lassen (mit dieser Strafe pflegten damals noch die Policen sehr streng versehen zu sein); oder der Kommunismus siegt, dann werden Sie doch des angesammelten Eigentums beraubt. Und er hat weiter gezahlt, seine Töchter sind zu wohlversorgten Müttern und Großmüttern geworden, und seine Urenkel, wenn deren vor­ handen sind, haben zu einem gewissen Teil nicht ohne mein Verdienst ein wenig von jenem schnöden Eigentum geerbt, das ihnen bis jetzt weder Bebel noch Vollmar konfisziert haben, und diese werden es auch sobald nicht konfiszieren, selbst wenn das geniale Werk, das man mit einem der schönsten deutschen Wortgebilde neueren Stils die „Umsturz­

vorlage" nennt, nicht demnächst seinen Einzug in die natio­ nale Strafgesetzgebung halten sollte. Einstweilen fühlen

75 alle Besitzenden in ihren Taschen viel eher die Finger des Finanzministers als die der Sozialisten oder Anarchisten. Und ich vermute, es wird noch lange so bleiben. Wenn ich lese, daß eine im Rate der Krone sitzende Exzellenz mit

einem neuen Plane zur Ausgleichung der irdischen Ge­ rechtigkeit, d. h. mit einer neuen Steuer, schwanger geht, so fühle ich die Heiligkeit meines Privateigentums viel mehr gefährdet, als wenn Herr Bebel ein neues Buch schreibt oder Herr Singer eine grimme Rede hält. Doch kehren wir einstweilen zurück zum roten Gespenst des Jahres Acht­

undvierzig. Die Rolle des Retters aus dieser Gefahr hatte zunächst Louis Napoleon übernommen. Nicht die Gespenster der Zukunft, sondern die der Vergangenheit, der französische Imperialismus und der deutsche Bund waren wieder aus ihren Gräbern herauf gerufen und in das Reich des Lebens eingesetzt worden, beides abermals gegen die Berechnung der klugen Leute beider Länder. Denn als das Parlament in die Paulskirche einzog, ließen sich die wenigsten unter den guten Deutschen träumen, der Bund, der alte Hund, sei nur auf kurze Zeit scheintot; und als der thörichte Abenteurer von Boulogne und Straßburg seine Kandidatur dem strammen republikanischen General Cavaignac gegen­ über stellte, wollten die Klügsten unter den Franzosen das nicht ernst nehmen. Das war ein schwerer Irrtum. Aber in einem Punkt irrte sich freilich niemand: sobald einmal der Prinz als Präsident aus der Wahlurne emporgestiegen war, blieb kein Zweifel, daß die Komödie nach wenigen Akten mit dem Neffen als Onkel enden müsse. Mit der Wahl war die Partie für ihn gewonnen; und, nun einmal der Kaiser auf seinem Thron saß und nicht Miene machte, sich wie Louis Philipp von einer Handvoll Barrikadenjungen ins Bockshorn jagen zu lassen, stand der Welt wieder die

76

eine Frage beständig vor Augen: was wird werden, wenn der glückliche Usurpator dereinst auf natürliche oder un­ natürliche Weise — diese lag besonders nahe — ums Leben kommt? Bis das geschähe, glaubte mau auf ruhige Tage zählen zu dürfen. Freilich an den Nachfolger mochte nie­

mand glauben, so oft und hartnäckig er auch dem gaffenden Volk in allem Prunk legitimer Ausstaffierung vorgeführt wurde. Jedesmal, wenn der kaiserliche Prinz in den Elysäischen Feldern in der großen offenen Karosse an mir vor­ über rasselte, vorn ein Trupp Kürassiere in Stahlpanzern, hinterher ein Trupp Dragoner mit fliegenden Helmbüschen, stieg in mir die Frage auf: in welchem Winkel Europas oder Amerikas wirst Du armer Junge als hoffnungsloser Prätendent dereinst vegetieren? Er war sich seiner Auf­ gabe, das Publikum an seine Thronfolge zu gewöhnen, so bewußt, daß er einmal, als sein Lehrer Filon ihm eine Strafe diktieren wollte, drohte: „wenn man mich straft, strecke ich bei der nächsten Ausfahrt dem Volk die Zunge heraus." „Si Ton me punit je tirerai la langue au peuple.“ Doch schon der Vater sollte sterben, ohne daß ein Hahn danach krähte, gerade wie Louis Philipp, in Eng­ land. Abermals sollten die Sterne die Frage an ungesuchter Stelle beantworten. Mit dem Jahre 1866 kam ein neuer Schicksalsmensch auf die Weltbühne, und wenn je einer darnach ausgesehen, daß er nicht zu entwurzeln und nicht zu entbehren sei, so war er es. Auf dem ganzen Erdenrund nannte man ihn den Eisernen, d. h. den, der nicht einmal von innen ge­ schweige von außen zu erschüttern wäre. Und abermals fragte die Klugheit: Was wird werden, wenn er einmal dem unentrinnbaren Los der Sterblichen verfallen wird? Aber auch er wird einstens, wenn seine Zeit gekommen, dahin gehen, ohne daß es am leisesten Krachen in den

77 Fugen des von ihm längst geräumten Staatsgebäudes sich

verraten wird. Wie anders doch hatte man sich das ge­ dacht! Welch ein Schreck fuhr den Leuten in die Glieder,

als der Unentbehrliche eines Morgens, ohne alles Eingreifen himmlischer Mächte, vom Schauplatz verschwand! Nicht bloß seine Anhänger, auch die Gleichgiltigen, ja viele seiner Gegner überfiel es wie ein Grauen vor dem Unbekannten, dem unnötigerweise die Thore aufgethan würden, und sie warfen die Frage auf, ob es zu verantworten sei, daß man dem Manne, der die größte politische Autorität in der Welt besaß und sie in den Dienst des Weltfriedens gestellt hatte, bei lebendigem Leibe zu den Toten werfe. Aber siehe da! Kein Sturm erhob sich, nicht die kleinste Welle kräuselte sich. Keinen Augenblick seitdem drängte sich die Versuchung auf, nach dem Steuermann zu rufen, den man gerade für den äußeren Frieden als unentbehrlich angesehen hatte. Ja, die Wahrheit zu sagen: Deutschlands Beziehungen zu den anderen Nationen sind unter Bismarcks Nachfolger bessere geworden, als sie es vorher gewesen. Die Welt sieht heute friedlicher aus als jemals in den drei Jahrzehnten, während derer der größte Diplomat seiner Zeit die auswärtigen Angelegenheiten des preußischen und des deutschen Staats­ wesens leitete. Sind wir damit die Fragen an die Sterne los ge­ worden? So lange Sterne über den Häuptern der armen Erdensöhne wandeln, wird auch der Quell der Fragen nicht versiegen. Heute weniger als jemals.

78

n. ANATKH. Da ist's berat wieder, wie die Sterne wollten: Bedingung und Gesetz und aller Wille Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten. Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille, Goethe. Ein Umschwung der allertiefften und breitesten Wir­

kung hat sich im letzten Vierteljahrhundert vollzogen, und am deutlichsten wird er erkennbar eben an der Art,

anders die Frage an die Zukunft sich jetzt gestaltet.

mehr an den Lebensfaden an.

wie Nicht

einzelner Menschen knüpft sie

Die Menschheit lacht der spinnenden Parzen; sie weht

nun selbst ihr künftiges Kleid.

eingetreten,

Demokratie

Wir sind ins Zeitalter der

nicht

der

kleinen

Demokratien

Griechenlands oder Roms, sondern der einen, weltumspannen­

den. Von den Schicksalen einzelner hängts nicht mehr ab, nicht mehr

von einem König oder Kaiser

der Franzosen,

und

auch nicht mehr von einem Kanzler, sei er einer von Eisen

minder hartem Stoff.

oder aus selbst

hat

Ja unter dem eisernen

die große Wendung begonnen,

eigener Person

nicht

wenig dazu

gethan.

und er hat in Unverkennbar

hat Deutschland nach dem großen Krieg und Sieg und unter

der weltbeherrschenden Fascination seines gewaltigen Staats­ mannes den tonangebenden Einfluß auf die Entwicklung der Staatsidee

in der ganzen Welt ausgeübt; und — trotz

aller Anstrengung, mit welcher die monarchische Idee jetzt

bei uns neu vergoldet werden soll, hat es den Ausschlag den Marsch hinaus nach der breiten Demo­

gegeben

für

kratie.

Indem

Fürst

Bismarck

in

Ausführung

Programms zum allgemeinen Stimmrecht griff,

seines

hat er —

dem Augenblick dienend, aber den ewigen Gesetzen gehorchend, — die Pforten geöffnet, durch welche die Schicksalsfrage des

79 sozialistischen Problems in die moderne Staatsgeschichte ein­ trat. Jetzt fragt man nicht mehr: Wer wird leben, wer wird sterben? sondern: was wird die breite Bewegung der Geister aus ihrem Innern und ihrer Tiefe heraus im Gang der Jahrzehnte, der Jahrhunderte herausgestalten? Zum Heil oder zum Untergang? Das ist die Frage an die Sterne, mit der wir ins neue Jahrhundert übertreten (wenn doch einmal an diese Kalenderzahlen das Horoskop anknüpfen

soll). Das allgemeine Stimm- und Wahlrecht ist keine deutsche Erfindung. Es ist vor uns dagewesen und wäre ohne uns weiter geschritten. Aber das ist unverkennbar: gerade indem das — bis dahin und zum Teil noch heute feudalistisch und patriarchalisch regierte — Deutschland seine Neugestaltung auf dieser Basis aufbaute, hat es damit einen durchschlagendeil Eindruck auf die politische Kulturwelt ge­ macht. Ist damit gesagt, daß der Griff nach diesem In­ strument ein Fehler gewesen? Von allen, die das jetzt andeuten, ist schwerlich einer, der da glaubt, der Schritt könne wieder zurückgethan werden. Nicht einmal für kurze Zeit, geschweige denn für lange. Er ist auch keine primäre Erscheinung, er ist selbst nur Produkt einer anderen uni­ verselleren Ursache, die da heißt: Ausbreitung des Lehrens, Lernens und Wissens. Deuffchland wurde tonangebend für die Ausdehnung des Wahlrechtes, weil es tonangebend geworden war für den obligatorischen Unterricht und den allgemeinen Heer­ dienst. Damit wurde die Intelligenz der Massen in den bewußten Staatsdienst gezogen. Das Stimmrecht konnte ihnen nicht Vorbehalten bleiben. Von dem Mal an aber, wo die Massen aufgefordert wurden, Mann für Mann am Staatswohl mitzuarbeiten, mußte auch der Gedanke, den Staat zum Werkzeug der allgemeinen materiellen Gleichheit zu machen, zum wahren Thronprätendenten werden. Das

80

hat man auf den Thronen und in ihrer Nähe so deutlich gefühlt, daß die Neigung, einen Ausgleich mit diesem Prä­ tendenten auf Kosten der besitzenden Klassen zu finden, immer stärker wird. Ist das Weisheit oder Irrtum? — Frage an die Sterne! Der alte Sir Francis Bacon sagt einmal: „In der menschlichen Natur steckt im ganzen mehr vom Narren als vom Weisen, und darum haben diejenigen Kräfte, welche auf den närrischen Teil des menschlichen Sinnes wirken, auch am meisten Gewalt über ihn." Nachdem einmal der Grundsatz der allgemeinen Volks­ bildung (bei uns sogar der Zwang zur höheren Fortbil­ dung), des allgemeinen Heerdienstes und damit des allge­ meinen Wahlrechts zum Grundgesetz der Staatsfunktionen gemacht ist, wird es immer klarer, daß das Rätsel der Möglichkeit eines sozialistischen Staates immer mehr Massen an sich heranziehen muß. Das Experiment ist im Weiter­ schreiten. Nur die engste Auffassung kann sich auf den Plan verlegen, hier mit Strafmitteln oder Polizei Einhalt zu thun. Selbst ein so großer, überzeugter und bis dahin optimistischer Individualist wie Herbert Spencer hat un­ längst in einem Brief den Ausspruch gethan: „Ein böses Wetter wütet durch die ganze Welt. Nach meiner Ansicht kommt der Sozialismus unausbleiblich. Er wird das größte Unglück sein, das je die Welt über sich ergehen sah." Doch auch er kann sich irren. Eins ist bei allem Fürchten und Hoffen auf' diesen Wegen vor Mißverständnis zu retten. Die Angst vor dem, was man im Jahre 1848 das rote Gespenst nannte, hat mit dem Ernst der Frage an die Zukunft nichts gemein. Wohl stört sie noch die Bewohner der Paläste und den be­ häbigen Bürger viel mehr im Schlaf als die Theorien der sozialen Frage. Aber die Unruhe der Großen und Kleinen beweist nichts. Sie sehen hier, wie in vielem anderen,

81 nicht selten falsch. Nur in der stillen Entwicklung von innen heraus steckt die Gefahr, wenn sie eine ist. So lange die Gesellschaft nicht an sich selbst verzweifelt, wird sie immer die Kraft haben, gewaltsame Einbrüche von außen nieder­ zuschlagen. Die Junikämpfe unter der zweiten französischen Republik, der Kommuneaufstand der dritten, die Rebellion im Lütticher Land, die wiederholten Ausbrüche in den Ver­ einigten Staaten, sie alle sind nach etlichen Konvulsionen zertreten worden. Der Anarchismus der That ist eine gräuliche Tollheit, für die der Ausgangspunkt Rußland charakteristisch ist. Mit Dynamit kann man einzelne Häuser und Menschen zerstören, aber nicht eine Staats- und Ge­ sellschaftsordnung. Das kann nur der falsche Geist, der sich des Ganzen bemächtigt. Am wenigsten unter allen Ländern hat Deutschland von gewaltsamen Umsturzversuchen zu fürchten. Es ist das sozialistischste und zugleich das wenigst revolutionäre Volk der Welt. Und dazu hat es die bei weitem bestdisziplinierte Armee. Der Kaiser hatte gar nicht nötig, den jungen Soldaten ausdrücklich zu sagen, daß sie zur Not auf ihre Väter und Brüder schießen müßten. Wenn Feuer kommandiert wird, thun sie es. Darum ist es ein so gründlicher Irrtum, zu wähnen, daß das Umsich­ greifen der sozialistischen Idee mit Waffen besiegt werden müsse und könne, die auf den anarchistischen Ansturm be­ rechnet sind. Ja, man setzt dem Irrtum noch die Krone auf, indem man sich schmeichelt, mit Konzessionen an die Idee ihr den schädlichen Stachel zu nehmen. Beinah könnte es den Anschein gewinnen, als ob der Staatssozialismus, der den Volkssozialismus austreiben will, die Theorien des Tuberkulins und des Diphtherieserums vorausahnend kopiert hätte. Man nimmt das sozialistische Gift, überträgt es auf das Professoren- und Mandarinentum und, nachdem es darin gezüchtet, spritzt man es in verdünntem Zustand dem Ludwig Bamberger'S Ges. Schriften.

I.

n

82 Volkskörper ein, in der Hoffnung,

ihn damit gegen die

große sozialistische Ansteckung immun zu machen. Dies Antitoxin hat sich jedenfalls nicht bewährt. Was es be­ wirkt hat, zeigen die Zahlen der Wahlresultate. Es ist merkwürdig und doch aus seiner ganzen Natur erklärlich, daß ein großer Mann wie Bismarck in diesen beiden Punkten sich so gründlich täuschen konnte, und es gehört diese Täuschung zum ganzen Verhängnis. Der Ge­ danke, daß man der Sache mit Gewalt beikommen könne, war das Ursprüngliche bei ihm und ist es bis zuletzt ge­ blieben. Die Idee, durch homöopathische Dosen des Krank­ heitsstoffes die Krankheit selbst zu töten, kam ihm erst all­ gemach und hat wahrscheinlich niemals sich bei ihm sehr festgesetzt. Durch Hermann Wagener und Bucher stand er von lange her unter dem Einfluß eines gewissen sozialisti­ schen Dämonismus. Beide haßten die Welt des prosaischen bürgerlichen Erwerbs. Bismarcks Staatssozialismus war lediglich eine opportunistische Diversion, wie seine Kolonial­ politik; beide wurden nur von seinen Nachbetern ernst ge­ nommen. Eine meiner letzten Unterredungen mit dem Kanzler, ehe die große Umkehr in der Handelspolitik eintrat, drehte sich um diesen Punkt. Ich hatte eben in der „Deutschen Rundschau" den ersten Teil einer Abhandlung über „Deutsch­ land und den Sozialismus" veröffentlicht, in welchem ich ausführte, wie die Deutschen am meisten von allen Völkern zum sozialistischen Experiment prädestiniert seien. Fürst Bismarck ließ mich, während er einer Reichstagssitzung bei­ wohnte, in sein Kabinet bitten. Es war mir schon vorher zu Ohren gekommen, daß er sich beifällig über die Arbeit ausgesprochen habe, und er wiederholte das jetzt unter vier Augen. Nachdem das Gespräch sich eine Zeit lang über den Gegenstand verbreitet hatte, gelangte er zu dem, worauf

83 es ihm eigentlich ankommen mochte.

Er sei begierig zu

hören, welches Mittel der Abhilfe ich im noch ausstehenden zweiten Teil der Arbeit Vorschlägen werde. Dem praktischen Staatsmanne war das nicht zu verdenken. Aber der schrei­ bende Beobachter hatte ihm keine Kurmethode zu bieten. Falsche Ansichten, meinte ich, seien nur durch Verbreitung

der richtigen zu bekämpfen. Nicht doch, meinte er: „wenn man keine Kücken haben will, muß man die Eier zerschlagen". Das war die Quintessenz der Sozialistengesetze. Ich habe später bedauert (bereuen ist in der Politik ein falscher Ausdruck), daß ich in den ersten Stadien diesem Gesetze meine Stimme gegeben habe. Aber hinterher läßt sich nicht abwägen, wozu der Moment schließlich nötigte. Und das Experiment war unvermeidlich. Wäre es nie an­ gestellt worden, so würde man noch heute triumphierend behaupten, es hätte gelingen müssen. Es giebt Dinge, vor denen man keine Ruhe hat, bis sie einmal probiert wor­ den sind. Man hat, nicht mit Unrecht, behauptet, die Verfol­ gungen hätten die Sozialdemokratie gestärkt. Aber auch dies war nur eine Frage der Zeit. Wenn Dinge in der Luft liegen, so hilft ihnen eben Alles, die Gewalt wie die Nach­ sicht. Am wenigsten zweifelhaft ist, daß der gouvernementale Sozialismus sich an der Propaganda sehr wirksam mit­ beteiligt hat. Es liegt eine sonderbare Verkennung der ganzen Natur dieser Dinge darin, daß der Staat sich zum sozialistischen Prinzip bekehrt und mit Strafgesetzen die Ziehung der Konsequenzen verbieten will. Doch, will man ganz gerecht sein, so muß man zugeben: auch dieser Irrtum trägt nur einen Teil der Verantwortung, weil, mit ihm oder ohne ihn, das Einrücken der Massen in die Mitbe­ stimmung der Politik zum sozialistischen Experiment hin­ drängt.

Das zeigen uns selbst so relativ gesunde Staats­

tz*

84 wesen wie die Schweiz und England. Und erst Belgien! Wo war das Reich der individualistischen Selbstherrlichkeit fester stabiliert als da? Beide regierende Parteien, liberale wie klerikale, gehörten ihm auf gleiche Weise mit Leib und Seele an. Vor vielen Jahren fand ich mich einmal in einer Gesellschaft zu Brüssel mit dem noch heute im Amte befind­

lichen Bürgermeister der Stadt, Herrn Buls, einem Manne von hoher Einsicht und Bildung zusammen. Es war die Zeit, wo die neue staatssozialistische Richtung der Bismarckschen Politik mit Macht verkündet ward. „Sonderbar!"

sagte Herr Buls zu mir, „erklären Sie mir doch das Rät­ sel: als ich in Heidelberg studierte, galt es als ein Axiom, daß die deutsche Nation den Individualismus verkörpere. Jetzt sehe ich sie an der Spitze der entgegengesetzten Rich­ tung marschieren." Wie ich ihm die Sache erklärte und ob es mir gelang, ist mir nicht mehr gegenwärtig. Aber heute hat es Herr Buls, noch immer Bürgermeister, erlebt, das;

der damalige Ministerpräsident und altangestammte Vertreter des Lütticher Landes, Fröre-Orban, einer der festesten und begabtesten Vertreter der individualistischen Weltanschauung, von seinem alten Sitz in der Kammer durch einen So­ zialisten verdrängt worden, und — sofort mit einem Sprung — ist das Land von der hintersten Front der sozialistisch bedrängten Länder in die vorderste gerückt. Ebenfalls in

Folge des ausgedehnten Wahlrechts. Aber auch dies Wahl­ recht wurde von den bisherigen Parteimächten nicht frei­

willig eingeräumt,

sondern ihnen durch einen elementaren

Druck entwunden. Es steht eben in den Sternen geschrieben, daß wir in eine Zeit der vollen demokratischen Entwicklung eingetreten

sind, und daß diese auf dem einen oder anderen Umweg, auf dem republikanischen, dem konstitutionellen oder dem abso­ lutistischen zum sozialistischen Experiment hindrängt. Aber

85 die Sterne, in denen das geschrieben steht, geben uns wohl­ weislich keine Antwort auf die Frage, wie es ausfallen wird. Sie behalten sich vor, uns oder vielmehr unsere Nachkommen

mit der Lösung zu überraschen, in einer Weise und an einer Stelle, die kein Lebender ahnt, ähnlich so, wie sie es mit

den Vorgängern gemacht haben. Sie haben Zeit vor sich, die Sterne, mehr als die kurze Spanne jener Menschen­ leben, wegen derer man früher sie zu Rate zog. Im Stillen denkt jetzt mancher: wohl dir, daß du kein Enkel bist! Aber ganz ernst ist es ihm damit doch nicht. Hinge es von ihm ab, die Neugier hielte ihn doch immer wieder vom letzten Schritt zurück, damit er einst noch erfahre, was aus all dem werden muß. Das Glück ist ein so fraglich

Ding, das Leben schon schön, wenn es nur interessant ist. Wer möchte nicht gar so gerne wissen, wie es auf dieser

tollen Erde anssehen wird in Hunderten von Jahren, wenn selbst seine Asche nicht mehr davon bewegt wird! Jüngst, ehe der Reichstag das alte Haus verließ, in dem ich ein Vierteljahrhundert mit ihm geliebt, gelitten und gestritten (viel weniger gehaßt, als der Vulgus meint), ging ich noch einmal in die bescheidene Wandelhalle, die zum Rednersaal führt, von ihr Abschied zu nehmen, auf Nimmer­

wiedersehen. Und es blickten von den Wänden rings um­ her die Bilder volkstümlicher, freisinnniger Männer, die Bilder von Schiller, Uhland, Psitzer, Humboldt, Arndt, Stein, Scharnhorst, Mathy, Dahlmann, Fichte, mit ihren Kernsprüchen verziert, auf mich wehmütig herab. Das war der Schmuck im Geiste des Jahres 1870. Dann ging ich von dieser stillen Stätte mit ihren bürgerlichen Namen und Reden hinüber zu jenem Prachtbau, in dem mir zahllose Wappen, Untiere mit Kronen, Schnäbeln und Krallen ent­ gegengrinsten, dazu geharnischte Ritter mit offenem und geschlossenem Visier, Lanzen und Schwertern und Namen



von Fürsten und Herren.

86



Und mancherlei ging mir durch

den Sinn, was hier besser verschwiegen bleibt.

Draußen

am Eingang fand ich dann den bereits berühmten unbe­

schriebenen Stein,

den tacite loquentem.

Es heißt,

er

wäre bestimmt gewesen zur Inschrift: „Dem deutschen Volke".

Wie

wäre

es, wenn — ein Vorschlag zur Güte — die

Worte hineingemeißelt würden: Deo ignoto ?

VI.

Uber einige Formen Ses geselligen Verkehrs. Ais

Liebe Freundin! ich Ihnen jüngst klagte, daß unser Schoßkind

„Die Nation", sich auf alten Brauch berufend, wieder einen Weihnachtsartikel von mir verlange, ich aber fürchte, gerade vom alten Brauch aufgebraucht zu sein, meinten Sie, ich sollte es doch noch einmal wagen und gaben mir obiges Thema dazu. Ich gehorche, wenn auch nicht ohne Zagen, denn das ist ein klippenvolles Gestade. Zwar hab ich ein­ mal vor Zeiten in einer politischen Tischrede unter dem Beifall meiner Zuhörer (Mitesser sind meistens ein gütiges Publikum) den Satz ausgeführt, der Mensch solle, was er etwa durch Alter an Autorität erworben habe, dazu ver­ wenden, um sich zu kompromittieren, d. h. um Wahrheiten auszusprechen, die ein Jüngerer nicht wagen dürfte, ohne sich seinen Weg in die Zukunft zu erschweren. Aber im weiteren Fortschreiten der Jahre kommt der Mensch, der sich bekanntlich immer ändert, wenn er nicht zu dumm dazu ist, auch wieder von diesem Übermut seiner dritten oder vierten Jugend zurück und zu der Einsicht, daß er besser

thue, das kleine Kapital an gutem Namen, welches er zu-

88 sammengespart haben möchte,

leichtsinnig zu verthun.

nicht auf seine alten Tage

Mit anderen Worten: ich bitte nm

Nachsicht. Da Sie mir empfohlen haben,

ich solle,

um

meine

Befangenheit los zu werden, aufs Geratewohl drauf los­

schreiben, wie mir der Schnabel gewachsen ist, so folge ich diesem Rat,

indem ich gleich an die zwei Worte anknüpfe,

die zu Häupten dieses Schreibens stehen.

Ich habe nämlich eine gewisse Antipathie gegen das

Eigenschaftswort

da,

„verehrt"

wo es

bei uns auch im

freundschaftlichen und intimen Briefstil als Form der An­

rede allgemein üblich ist.

Nun sind zwar Formen, oder,

wie man hier vielleicht besser sagen könnte, Formalien in

der Hauptsache dazu da, daß man nicht nachzudenken braucht, und sie verlangen daher auch gar nicht, daß man sich bei ihnen etwas denke.

Damit bin ich grenzenlos einverstanden,

so sehr, daß mir alle Wahrheitsfanatiker im menschlichen

Verkehr von Grund aus zuwider sind, heißen sie nun Ibsen

das

gemeinsame Leben

wäre nicht eine Stunde zu ertrage»,

wenn jeder jedem

oder nur Nordau.

Ich behaupte,

jeden Augenblick alles oder nur das sagen müßte, was er

denkt.

Als der Mensch, nachdem er vom Baume der Er­

kenntnis gegessen,

entdeckte,

daß er nackt sei, beschloß er

wohlweislich, sich Kleider anzuschaffen, nicht um sich vor

Kälte, sondern um sich und die anderen vor der nackten

Wahrheit seiner körperlichen Erscheinung zu schützen.

Ebenso

brauchen wir auch für unsere Gedanken und Gefühle Kleider. Der Anstand verlangt, daß wir sie nicht nackt zeigen, und

die Gewohnheit,

sie nur in Verhüllung zu geben und zu

empfangen, erzieht uns dazu, daß wir unsere eignen nicht mehr in ihrer Nacktheit sehen und uns vorstellen, sondern

nur in der Form, in der sie zu sehen uns die gute Sitte zur zweiten Natur gemacht hat.

89 Wie überall, kommt

es bei der Anwendung eines

Prinzips auch hier darauf an, die richtige Grenze zu ziehen. Wie stark soll man, mit Mephisto zu reden, lügen, wenn man höflich ist? Hier fängt das Reich des guten Geschmacks an, und ihm ist auferlegt, die Schattierungen anzubringen. Ich habe nichts dagegen, daß man in der kühlen Zone des

brieflichen Verkehrs zur einfachen Ehrsamkeit seine Zuflucht nehme. Je banaler desto besser. Ehre ist im Grunde bei­ nah das gesetzlich vorgeschriebene Maß von Anerkennung, das ich meinem Nebenmenschen schulde bei Strafe der Be­ leidigung, und da es in keinem Lande der Welt so viele Beleidigungsklagen aller Dimensionen bis in die vierte des Dolus eventualis hinein giebt wie in Deutschland, so ist es auch ganz folgerichtig, daß unvertraulicher Weise einer den andern als „Geehrter Herr" oder „Geehrte Frau" apostrophiert. Um so unnatürlicher ist das, sobald die Be­ ziehung eine etwas wärmere Temperatur annimmt. Wenn ich, wie das täglich geschieht, von einem lieben alten Kame­ raden, mit dem ich seit Jahrzehnten mich vertragen oder auch gestritten habe, ein Handschreiben erhalte, an dessen Kopf steht „Geehrter Freund", so ist mir immer, als würde mir ein Eimer Wasser über den Kopf geschüttet; und wenn ich das Vergnügen habe, an eine junge hübsche Dame zu schreiben und soll oben aufsetzen „Geehrte Frau" oder „Ge­ ehrtes Fräulein", so kommt mir das immer vor, als wenn ich ihr eine Matronenhaube aufftülpte. So fürchterlich steif und zugeknöpft! Man rückt auf zehn Schritt ab. Freilich, die Titel, mit> denen wir uns das Leben erschweren, legen sich schon vorher absperrend in den Weg. Denn, um abermals mit Mephisto zu reden, der Doktortitel, der die Weiber vertraulich macht, ist genau das Gegenteil vom Geheimratstitel in weiblicher Gestalt. „Liebe Frau Geheime Rätin", das kann man doch ohne Schaudern einer Dame

90 unter, sagen wir, sechzig Jahren nicht schreiben, und es giebt deren, mit diesem Titel versehene, die kaum die Hälfte

dieses Wegs zurückgelegt haben.

Es ist ja das Unglück für

unsere Sitte, und ein bezeichnendes, daß wir nicht, wie Franzosen, Engländer, Italiener, Spanier, von lange her

die Gewohnheit haben, uns einfach mit.Herr und Frau anzureden, und je nach der Ferne oder Nähe der Beziehung diesen Titel mit dem Ehren oder dem Lieben bekränzen

können. Aber dem ist nun einmal nicht abzuhelfen. Das Ohr hat sich daran gewöhnt, in „Mein Herr" einen belei­ digenden Unterton zu hören; wer einen Brief so über­ schrieben empfängt, denkt zunächst, daß ihm ein Duell auf den Leib rückt. „Meine Frau" ist vollends unmöglich. „Lieber Herr" und „Liebe Frau" klingt bald ironisch herab­ lassend, bald unterwürfig zudringlich. In Ladengeschäften und sogar auf öffentlichen Märkten habe ich in neuerer Zeit von Verkäufern öfter die Anrede vernommen: „Mein Herr" oder „Meine Dame", und es wäre ganz gut, daß das sich ausbreitete; es könnte sich allmählich so einbürgern, daß das ungewohnte possessive Fürwort „mein" nicht mehr unsanft berührte, weil man sich nichts mehr dabei dächte. Daß wir so weit noch nicht gekommen, erfuhr ich jüngst, als ein vornehmes Fräulein ganz entrüstet nach Hause kam und sich verschwor, in den bewußten Laden nie wieder den kleinen Fuß zu setzen, denn der Kommis habe sie angeredet: „Meine Dame" und dieses untergeordneten Menschen Dame sei sie doch nicht. Ist unser Ohr nicht an die kurze Formel anderer Nationen gewöhnt, so ist es« dagegen ganz vertraut mit der Einflechtung des Familiennamens in die Anrede. Das ist zwar auch nicht schön, aber doch weder unbequem noch steif, und wenn wir uns nur damit befreunden könnten, die Titulaturen wegzulassen, so könnten wir schon einen Schritt nach der Seite anmutigerer und wärmerer Formen

91 thun, indem wir uns gewöhnten zu schreiben: „Lieber Herr oder Liebe Frau Soundso", und „Liübtt Freund oder Liebe Freundin". Ich habe selbst im Kleinen erprobt, daß man durch hartnäckige Anwendung seine Korrespondenten zu dieser Formel erziehen kann. Das große Kapitel von den Titulaturen hier anzuschneiden, habe ich nicht den Mut, so sehr es reizen könnte, die tiefgehende Frage zu untersuchen, welche von den zwei Narrheiten die praktischere sei, die

französische des roten Bändchens oder die deutsche

des

„Rats" in allen seinen Abstufungen. So weit meine Beobachtung geht, kommt der Herr oder die Frau Kommerzien- oder Regierungsrat mit ihren höheren Potenzen des Geheimen und Wirklichen Geheimen in der Konversation ein wenig aus der Mode; ein Gefühl für das unendlich Zopfige der Sache scheint sich allmählich Bahn zu brechen. Ob es auch mit den Amtstitulaturen so geht, vermag ich nicht zu beobachten, beispielsweise ob in juristischen Kreisen die Anrede „Frau Erste Staatsanwalt" gebräuchlich ist. Als ich vor einem halben Jahrhundert in Gießen studierte, gab es da eine „Frau reitende Försterin". Soll man sagen: Frau Geheime Rätin? oder Frau Geheime Rat? Darüber wäre Daniel Sanders zu konsultieren. Seit einiger Zeit haben sich die „Exzellenzen" so kaninchenhaft vermehrt, daß man auch über diese Bezopfung allerwegen in der Kon­ versation stolpert. Wie viele Exzellenzen Wert darauf legen mögen, daß man alle zwei Minuten ihnen dieses Epitheton im Zwiegespräch an den Kopf wirft, weiß ich nicht; sicher

ist, daß es eine Menge Krähwinkler beiderlei Geschlechts giebt, welche eine stille Wollust durch ihre Glieder rinnen fühlen,

wenn sie nicht nur jedem Satz diesen Titel als Vokativ ein­ fügen, sondern auch in der dritten Person von solch einem erhabenen Wesen redend sagen können: „Exzellenz Soundso ist mir im Tiergarten begegnet".

92 Wenn dieser unschönen Dinge gedacht wird, so sollen auch die schönen nicht unerwähnt bleiben. Da ist z. B. der biedere Händedruck nach Tisch mit ausdrücklicher oder stillschweigender Segnung der genossenen Mahlzeit. Früher nur in Norddeutschland gebräuchlich hat er sich, seitdem Berlin Reichshauptstadt geworden, mit großer Schnelligkeit über ganz Deutschland ausgebreitet, und die Ausländer, welche den Brauch hier kennen lernen, finden sich mit Ver­

gnügen darein. Es liegt etwas Natürliches und Gutartiges zu Grunde. Nachdem der Mensch sich in Speise und Trank gütlich gethan, fühlt er sich auf der Höhe seines Wohl­ wollens. Nicht selten kommt auch noch das beseligende Gefühl dazu, nach ach! manchmal mehr als zweistündiger Festgebanntheit auf demselben Stuhl zwischen den zwei selben Nachbarn endlich erlöst zu sein. Es giebt wenig Dinge, über welche die Menschheit so einig ist, als darüber, daß Mahlzeiten mit zahlreichen Gästen und massenhaftem Aufmarsch von Speis' und Trank eigentlich vom Übel sind.

Jedermann preist die Vorzüge der kleinen Tafelrunde mit gemeinsamer Unterhaltung und wenigen Gängen, aber nirgends trifft mehr das video meliora proboque, deteriora sequor zu als darin. Die Prunkmahlzeit im großen Stil ist so tief in der üppigen Geselligkeit begründet, daß ihre Herrschaft nie aufhören wird, wie sie besteht, seitdem es Luxus und Gesellschaft giebt. Je nach dem Geist der Zeiten herrscht die Mahlzeit oder das Gespräch in der Form der geselligen Zusammenkunft vor. Das, was man den „Salon" nennt, trägt vorwiegend das Gepräge der Konversation und ist, in diesem seinem engeren Sinne genommen, bekanntlich

eine Schöpfung der Pariser Aristokratie aus dem Anfang des siebzehnten Jahrhunderts. Das Hotel Rambouillet mit seinen geistreichen Spielereien bildet den Ausgangspunkt. Unter der Regentschaft bekam mit der Ausgelassenheit der

93 Sitten das sinnliche Element das Übergewicht.

Die Soupers

Regence sind sprichwörtlich geblieben. Die Gesellschaft der letzten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ist durch ihre unabsehbare Memoirenlitteratur die bekannteste von allen.

Sie ist das getreue Kaleidoskop jener interessanten Epoche, in welcher alle höfischen und aristokratischen Fehler und Vorzüge, Verfeinerung, Galanterie und Intrigue, sich mit den gewaltigsten vulkanischen Gährungen mischten und über die ganze Welt ihre Anziehungskraft ausübten. Bereits im siebzehnten Jahrhundert kam der Gebrauch auf, den Salon „die Welt" zu nennen, le monde, und die kleinste aller Welten heißt le grand monde. Als Madame Recamier 1849 starb, meinte Sie. Beuve, mit ihr sei die letzte Per­ sonifikation dieser schönen Überlieferung zu Grabe gegangen. Hier hatte ganz das geistige Element das luxuriöse über­

wogen, ohne das der weiblichen Herrschaft auszuschließen. Etwas Ähnliches in verjüngtem Maßstab bot die kleine Berliner Gesellschaft, die sich um Rahel und einige Damen dieses Kreises sammelte. Unter dem Direktorium drang die Politik gleichberechtigt mit der Litteratur in die Salons ein und erstreckte von da ihren Einfluß auf die Staats­ geschäfte. Während des zweiten Kaiserreichs waren die Salons einer der fühlbarsten Mittelpunkte für die Oppo­ sition. Da mit wenigen Ausnahmen die ganze gute Ge­ sellschaft entweder legitimistisch, oder orleanistisch, oder republikanisch war, sammelte sich hier alles, was dem bonapartistischen Regiment widerstrebte, und gereichte diesem zu unaufhörlichem Mißbehagen. In diesen Kreisen lernte ich beinah alle interessanten Persönlichkeiten der Epoche kennen und damit den Wert dieser Art des Verkehrs schätzen. Die beliebteste Form war die von Mittagessen von beschränktem Umfang, selten über ein Dutzend, zu welchen am Abend Besucher in großer Zahl stießen. Das letztere war eigentlich

94 der Hauptzweck, das vorausgehende Diner nur ein Mittel, sich einen festen Stamm zu sichern, während der abendliche Zufluß der offenen Thüre ohne feste Verabredung dem Zufall

anheimgestellt war. Die Essensstunde war damals noch sechs Uhr, jetzt ist sie auf acht hinausgerückt. In Berlin

beschränkt sich dieser Modus bis jetzt auf wenige schüchterne Versuche. Man scheut sich, seinen Freunden zuzumuten, daß sie erst nach aufgehobener Tafel kommen, en cure-dents, als Zahnstocher, wie man es scherzhaft im Französischen, aber ohne bösen Nebengeschmack, ausdrückt. Nach meiner Erfahrung hat diese Form sehr viel für sich. Sie schützt vor der Unannehmlichkeit, einen Abend zu eröffnen, an dem niemand kommt oder nur eine Zahl von Personen, die nicht gut zusammenpassen. Das Dutzend wohl zusammengestellter Hauptfiguren verbürgt den guten Verlauf des Abends, der zum Zweck vielfacher Bewegung und beweglicher Unterhaltung doch die Hauptsache bleibt. Allerdings legt er den Gast­ gebern und namentlich dem aktivsten Teil, der Hausfrau, eine große Anstrengung auf. Sie muß von der ersten Stunde bis nach Mitternacht unter den Waffen bleiben. Aber ohne Anstrengung wird nichts gut gemacht, am wenigsten die Gesellschaft, und unter Anstrengung ist hier nicht bloß die Mühe, sondern die geschickt angebrachte Mühe zu verstehen. Die verantwortliche Herrin eines Salons muß stets auf dem „Qui vive“ bleiben, wie ein Schlachten­ lenker, und dabei dürfen die Gäste von der Aktion nicht die Arbeit, sondern nur den wohlthuenden Effekt merken. Bekanntlich hängt vom Terrain, auf dem man sich gesell­ schaftlich begegnet, alles ab. Dieselben Personen werden sich in dem einen Salon vortrefflich amüsieren, die sich in dem anderen tötlich langweilen. Der Geist des Hauses ist das Entscheidende, und dieser Geist geht von der Herrin

aus.

Zum Ganzen dieser sozialen Institution gehört eben

95 darum eine gewisse Herrschaft des Weiblichen, wenn sie auch besser nicht, wie in Frankreich, so weit geht, daß die Gunst einflußreicher Damen bei Besetzung einträglicher Ämter wirksam eingreift. Diese Macht der weiblichen Per­ sönlichkeit erklärt sich zwar aus dem besonders lebhaften geschlechtlichen Sinn der Nation, beruht aber seiner all­ gemeineren Natur nach auf dem Sinn für das Persönliche

überhaupt, aus welchem die Veranlagung des französischen Ingeniums für Gespräch und Geselligkeit entspringt. Auch die Männer unter sich kommen leichter in Fluß und halten länger dabei aus. Bekanntlich giebt es in Paris eine Menge von regelmäßig alle Monate an einem bestimmten Tag wiederkehrenden Diners, bei denen sich eine bestimmte Gesellschaft zusammen findet. Den Kern bildet gewöhnlich das Schriftstellerpersonal. Zu einer gewissen Berühmtheit gelangten die Diners Ste. Beuve, auch Diners du vendredi genannt, weil sie ihre Freigeisterei (bezeichnend für Frank­ reich) in der Sünde gegen das Gebot der Fastenspeisen zur Schau stellten. — Vor vielen Jahren kam einem unserer berühmtesten Gelehrten der Gedanke, etwas Ähnliches in Berlin zu versuchen. Er wendete sich um Beistand an mich, und ich sagte, mit einigem Zweifel in das Gelingen, zu. Wir brachten, ich darf wohl sagen, das Beste, was die Hauptstadt bot, zusammen. Gelehrte, Künstler, Schriftsteller, Männer des praktischen Lebens, Parlamentarier u. s. w.; um nur von seitdem Verstorbenen einige zu nennen: Helm­ holtz, Werner Siemens, Wilhelm Scherer, Max Maria von Weber, Adalbert Delbrück, Heinrich Homberger waren dabei; im Ganzen ungefähr ihrer dreißig. Im ersten Winter ging es so ziemlich. Ein recht frischer Zug kam nie hinein. Im folgenden zögerte ich mit der Einberufung, aber Scherer, der — vielleicht dank seinem österreichischen Naturell — einen lebhaften Unterhaltungs- und Umgangstrieb hatte,

96 verlangte eine Wiederholung des Versuchs. Doch im Ver­ lauf dieses neuen Anlaufs erwies sich, daß die Sache weder

einem Bedürfnis entsprach, noch Befriedigung eintrug. Es kam keine rechte Annäherung und auch keine angeregte

Unterhaltung in Fluß. Der Besuch wurde immer lücken­ hafter, der Geist erlahmte. Als im Beginn des dritten Winters Scherer mich aufsuchte, um die Einladungen von neuem zu erlassen, sagte ich ihm, wenn sich außer ihm noch ein Zweiter meldete, der nach dem Wiederbeginn begehre, würde ich vorgehen. Aber dieser zweite erschien nicht, und so ging es klanglos zu Ende. Obwohl das nur ein isolierter Vorgang, ist er als charakteristisch erwähnenswert. Zwar giebt es in Berlin eine Reihe von festen Tafelrunden, so­ genannte Kränzchen, von Gelehrten, Künstlern u. s. w.: aber der Sammelpunkt vereinigt immer nur Vertreter be­ stimmter Berufszweige oder Interessen. Das allgemein Menschliche, das nur auf die freie weltliche Unterhaltung geht, genügt nicht; die einzelnen interessieren sich nicht genug für einander, um an ihrer Begegnung lebhafte Freude zu haben und dieselbe durch Mitteilung zu nähren. Hier liegt offenbar eine Verschiedenheit der Naturanlage der beiden Rassen zu Grunde, und wenn Sie mich darüber noch ein wenig weiter plaudern lassen wollen, thue ich das nächste Woche in einem zweiten Briefe. Ihr L. Bamberger.

(Zweiter Brief.) Liebe Freundin!

Gewiß giebt es unter den Deutschen ebenso viele gute Freundschaften als unter den Franzosen. Aber da, wo das beste aufhört, und das Mittelgut des menschlichen Zu«

97 sammenhangs beginnt, ist der Deutsche kälter, das heißt unpersönlicher als der Franzose. Die Dinge interessieren

ihn mehr als die Menschen. Sachliche Zusammenhänge ziehen ihn mehr an als persönliche. Selbst das Institut

der Kneipe, von seiner burschikosen Urform an bis in seine verschiedensten Auszweigungen ins spätere Leben, scheinbar ein so geselliges und für seine „Gemütlichkeit" besungenes, bestätigt nur die Thatsache, daß das Persönliche in den Hintergrund tritt. In diesen langen Reihen nebeneinander sitzender, mit Trinken und Rauchen beschäftigter Gäste fließt selten die Unterhaltung und wird selten das individuelle

Interesse vom einen zum anderen erweckt. In der Kneipe braucht man nur die Zahl, nur den Anblick des Versammelt­ seins zu haben, und die Gemütlichkeit ruht wesentlich auf der Formlosigkeit, mit der man sich gehen lassen kann. Die Kneipe ist aus Zählern ohne Nenner zusammengesetzt, und dieser Mangel an persönlicher Vertraulichkeit bei einer nach Vertraulichkeit aussehenden Ungeniertheit ist mir im Laufe einer mit der Studentenzeit beginnenden und mit einer langen parlamentarischen Laufbahn abschließenden Erfahrung immer deutlicher zur Erkenntnis gekommen. Es ist mir anfänglich ein Gegenstand des Erstaunens gewesen, bis ich

mich allmählich — wenn auch nur unvollkommen — daran gewöhnte, daß so wenig menschlicher Zusammenhang aus z. B. langjähriger politischer Zeltgenossenschaft unter den Mitgliedern einer Partei erwuchs. Mit wenig Ausnahmen weiß einer um den andern, kümmert sich einer um den

andern, nur wenn er ihn vor Augen hat. Es braucht einer noch gar nicht von der Bühne abzutreten, um vergessen zu werden. In den Jahren, wo ich eine gewisse Parteiaufsicht führte, kam mir das mehr als sonst zum Bewußtsein. Wenn einen Kollegen irgend ein Ungemach nach Hause rief, sei es, daß er krank ward, oder ihm ein Unglück in der Familie Ludwig Bamberger's Ges. Schriften.

I.

7

98 widerfuhr, wartete ich ab, ob die Rede auf den Abwesenden kommen, ob jemand sich nach seinem Schicksal erkundigen werde. Nur in den seltensten Fällen geschah es. Ich hatte mir zur Regel gemacht, fiktiver Weise im Auftrage der Fraktion an den Abwesenden zu schreiben, aber die ob solch seltener Teilnahme gerührte Antwort behielt ich still für mich in der Tasche. Das Alles beruht vielleicht weniger auf Verschiedenheit des Innern als auf Verschiedenheit der Epidermis. Die Haut ist der Sitz der Höflichkeit, das Herz der Sitz der Güte. Ganz zu trennen sind sie bekanntlich nicht, sie stehen in Wechselwirkung. An Politesse du coeur fehlt es dem Deutschen. Selbst aus der Verschiedenheit der Zustände, nach den Temperaturen von Zeit und Ort läßt sich ermessen, wie sogar dieselben Subjekte bald mehr bald weniger lebendig und warm in persönlicher Berührung reagieren. So war in den ersten Jahren nach der Gründung des Deutschen Reichs, wo das Leben frischer und wärmer pulsierte, auch der soziale Zusammenhang in der politischen Welt ein viel schönerer. Zum Beispiel vereinigten sich alle Parteien des Reichstages zu gemeinsamen Abendunterhaltungen, über denen eine Stimmung gegenseitigen Wohlwollens lag. Da­ mals trugen Fürst Bismarcks feste Samstagsabende den Stempel einer großartigen eleganten Geselligkeit. Angeweht von der Courtoisie, die er in der vollendetsten Weise des guten Tons zu entfalten weiß, verbreitete sich über die bunt zusammengesetzte Gesellschaft eine Atmosphäre, die ich euro­ päisch nennen möchte. Nur im Vorzimmer erinnerte der für die Trinkgelder der Dienerschaft aufgestellte Teller an nicht europäischen Brauch. Später, als der Geist des Reichs abwärts ging, wurden aus den europäischen Abenden bayerische Frühschoppen, die sich im Lauf einer Stunde ab­ spielten, auch ohne den Schmuck des Damenflors, der in

99 der früheren besseren Zeit den Vereinigungen ihr großwelt­ liches Gepräge gab. Der politische wie der musikalische Salon haben ihre Bedeutung für die Geselligkeit. Ihnen gebührt jedoch nicht die erste Stelle, weil sie nur einen spezifischen Charakter tragen und, wo sie vorherrschen, das allgemein Menschliche, welches das wahre Fundament bilden soll, zurückdrängen. Gerade umgekehrt dazu verhält sich das Litterarische. Es ist kein Zufall, daß der französische Salon, welcher Europa das Vorbild geliefert hat, schöngeistigen Liebhabereien seine

Entstehung verdankt. Wenn er auch schon nach nicht langer Zeit ins Kraut der Precieuses Ridicules schoß und bis auf den heutigen Tag von einzelnen Damen immer wieder mit ähnlicher blaustrümpfiger Affektiertheit betrieben worden ist, so sind doch die litterarischen Interessen das wahre und wirksame Fluidum, um eine gute Gesellschaft zu beleben und zu erhalten. Wir stehen in diesem Punkt hinter Frank­ reich und England zurück aus demselben Grunde, weshalb in Deutschland so viel weniger Bücher gekauft und Zeit­ schriften gehalten werden als in anderen Kulturländern. In Paris gehört zum guten Ton, daß man nicht in eine größere Gesellschaft gebildeter Männer und Frauen geht, ohne wenigstens oberflächlich über die litterarischen Neu­ heiten Bescheid zu wissen, und umgekehrt erscheint kein belletristisches Werk, ja kein gelungenes Feuilleton, ohne Gegenstand allgemeinen Gesprächs in diesen Zirkeln zu werden. Desgleichen reißt man sich da um einen Schrift­ steller, sobald er mit irgend einer die Aufmerksamkeit er­ regenden Produktion hervorgetreten ist. Wahrscheinlich steht in Wechselwirkung damit, daß im Roman wie im Schau­ spiel unsere Schriftsteller so selten den Ton des leibhaftig

Lebendigen zu treffen wissen. Sie und die Gesellschaft, so­ weit wir eine solche haben, berühren einander zu wenig. 7*

100 Eitelkeit ist ein unentbehrliches Element größerer Ge­ selligkeit. Hier, mehr als sonst wo, trifft das Goethesche Wort zu, daß sie sich mitten hineinstellt, um Großes und Kleines zu verbinden. Wo sollte sie am Platze sein, wenn nicht hier, im Aufwand der Gastgeber, vor Allem im Putz der Damen? Bei uns können diese ihn ja nicht einmal mehr im Theater zeigen, seitdem nach Bayreuther Vorbild die alberne Sitte eingeführt ist, während der Vorstellung das Haus in ägyptische Finsternis zu versenken, damit das

Publikum gezwungen werde, unablässig, auch während der gleichgültigsten Szenen, auf die Bühne zu starren, wie die

Schulkinder auf die Tafel, an der der Herr Lehrer doziert. Übrigens scheint mir, daß in vielen Stücken die Ber­

liner Gesellschaft eher im Voranschreiten als im Rückgang begriffen ist. Man wird kaum mehr auf die unbrauchbar frühe Stunde von vier oder fünf Uhr zum Mittagessen ein­ geladen, und das leidige Abendbrot, welches lange späte Stunden hin an den Tisch festnagelt, verschwindet sichtbarer­ weise. Etwas anderes kommt auch ein wenig in Abnahme, doch noch lange nicht genug: das Vorstellen. Für die Herrschaft des Unpersönlichen ist nichts so bezeichnend. Gerade unter dem Vorwand allgemein gebotener persönlicher Annäherung sinkt die Prozedur zum wesenlosesten Schein herab, und nicht zum schönen. Welch ein langweiliges, hölzernes, mechanisches und unbequemes Verfahren! Ich habe den Verdacht, es stammt aus irgend einer Vorschrift her, die im Kadettenhaus gelehrt wird, und dieser Eindruck erneuert sich mir jedesmal, wenn ich jüngere Leute zu solcher Vorstellung einzeln oder in Massen antreten sehe. Daß man mit anständigen Menschen zusammen sein werde, kann man voraus wissen, ehe man ein Haus betritt. Aus der Vorstellung erfährt man nichts dazu. Bekanntlich hört man auch den Namen, der doch gar nichts besagt, wenn er nicht

101 ein berühmter ist und zugleich deutlich artikuliert wird, — beides gehört zu den Ausnahmsfällen — beinahe niemals.

Höchstens wird noch der Name des einen Teils vernehmlich gesprochen; beim zweiten fällt meistens die Stimme des Vorstellenden tonlos zu Boden. Der Zweck, dem die Vor­ stellung vernünftigerweise dienen soll, kann nur darin liegen, daß die Vorgestellten wissen, welches besondere Interesse sie an einander haben können. Darüber klärt der Name gar nicht auf, auch nicht der Titel. Der „Herr Direktor" kann mit der Leitung einer Ziegelei oder einer Abteilung im Ministerium des Innern betraut sein. Zur Unterhaltung auf gesellschaftlichem Boden ist es auch nicht nötig, in die Stellung der an derselben Teilnehmenden ein­ geweiht zu sein. Ein gebildeter Mensch wird es vermeiden, seine Ansichten über heikle Dinge in einem nicht vertrau­ lichen Kreise scharf auszusprechen. Er wird weder seinen religiösen noch seinen politischen Glauben zum besten geben und sogar mit seinen Ansichten über Homöopathie oder Wagnersche Musik zurückhalten, um keinen Nebenmenschen unsanft zu berühren; auch wird er nicht, wie der glückliche Philister, der ein Eisenbahngespräch anbindet, von den Ruhmesthaten seines Erstgeborenen in der Tertia des Gymnasiums erzählen. Die ersprießliche Art der Vorstellung verlangt, wie jede gesellschaftliche Aufgabe, nicht fabrikmäßig in Bausch und Bogen, sondern mit Takt im konkreten Fall behandelt zu werden. Auch da ist alles Arbeit, und be­ sonders für die Hausfrau. Sie hat jeden der beiden Vor­ zustellenden mit einigen Worten unter vier Augen über die Person des anderen Teils aufzuklären und dann den Schluß­ akt zu vollziehen, nachdem sie des gegenseitigen Einver­ ständnisses gewiß geworden, was nicht immer überflüssig ist. Einem meiner Bekannten passierte es einmal in einem Pariser Salon, daß die Dame des Hauses ihn frug: „Darf

102 ich Sie dem Herzog von N. vorstellen?" worauf er dankend ablehnte mit den Worten: „Lieber nicht, ich bin zu meinem

Vergnügen hier." Eine der scheußlichsten Lagen, in die man öfter durch den Mißbrauch dieser Ceremonie kommt, ist die folgende. Man steht im Gespräch mit jemandem; man hat sich, vager physiognomischer Erinnerung nach, mit Freundlichkeit als Bekannte begrüßt, ohne sich gegenseitig des Namens zu erinnern, und redet auf gut Glück fernerer Jdentitätsermittelung weiter. Da tritt plötzlich ein Dritter feierlich heran mit den Worten: „Bitte, wollen Sie mich dem Herrn vorstellen". Aber der so Aufgeforderte weiß weder den einen noch den anderen beim Namen zu nennen: Tableau! Das Sichselbstvorstellen ohne Kommentar wirkt

grotesk, aber es ist nicht so fatal wie das, was ich die Mitrailleusenvorstellung nenne. Man tritt in eine Gesell­ schaft. Zwanzig oder mehr Personen stehen oder sitzen in der Runde. Eine Sekunde, nachdem man guten Tag gesagt hat, setzt sich der Vorstellungsapparat in rasende Bewegung die ganze Reihe herum, und nun ist man der Voraussetzung überliefert, das Alles zu kennen. Es giebt Menschen, die es sogar für einen Mangel an gutem Ton halten und übel aufnehmen, wenn man sie nicht aufs schnellste dieser Kanonade aussetzt. Eher fühlen sie kein Recht aufs Dasein im neuen Kreise. Aus derselben Ursache wie den des Sinnes für das Persönliche entbehrenden Vorstellungsformalismus leite ich den Brauch her, Familienexeignisse, mit den intimsten Gefühlsäußerungen geschmückt, durch die Zeitung anzu­ kündigen. Am ersten läßt sich die einfache Benachrichtigung auf dem Wege des Inserats noch bei einem Todesfall mo­ tivieren. Hier ist schnelle Meldung angezeigt, und der Kreis der sich dafür Interessierenden nicht leicht festzustellen ; aber freilich wäre nur die Thatsache und nicht die Art und

103 das Maß der dadurch hervorgerufenen Gemütsbewegung zur Kenntnis eines geehrten Publikums in Stadt und Land zu bringen. Und sonderbar, während die innigste Rührung hier sich vor den Augen der gleichgültigen Menge

Luft macht, bleibt wieder die Persönlichkeit der Gerührten im tiefsten Dunkel. „Heute Morgen 9 Uhr gefiel es Gott dem Allmächtigen, unseren innigst geliebten Gatten, Vater,

Bruder und Schwager Herrn N. N. nach langen schweren Leiden aus dem tiefgebeugten Kreise seiner Familie in ein besseres Jenseits abzuberufen. Um stille Teilnahme bitten die Hinterbliebenen." Selbst in Briefform, nicht nur in Zeitungsmeldungen, kommt diese Anonymität häufig vor. Wer sind die Hinterbliebenen? Wenn man doch auf Teil­ nahme, sei es auch nur auf stille, rechnet, so mögen die „Hinterbliebenen" wenigstens sich nennen, damit der, welcher ihnen diese Teilnahme beweisen will, sie sich vorstellen und sie zur Not finden kann. Gar nicht selten geschieht es,

daß man auf diese Weise den Tod eines Menschen erfährt, den man vor Zeiten schätzen gelernt hat, ohne seine Familienverhältnisse verfolgt zu haben. Man möchte das den „Hinterbliebenen" sagen, aber im Dunkel dieser Namen­ losigkeit ist das oft schwer zu erreichen. Der Appell un­ bekannter Verkünder an ein ihnen zum allergrößten Teil unbekanntes Publikum steigert sich nun gar ins Komische bei den wehmütigen Nachrufen, welche einem Verstorbenen in dem Inseratenteil der Zeitung gewidmet werden, nicht um seinen früher bekannt gemachten Tod zu melden, sondern um die Zeitungsleser in die Gefühlswelt einiger ihm nahe­ stehenden Überlebenden einzuweihen, beispielsweise seiner Angestellten oder seiner Geschäftsteilhaber oder anderer in ähnlichen Beziehungen zu ihm gewesenen Personen. Sie gehorchen dem Drange aus ihrem tiefsten Innern, sich vor den Abonnenten der Zeitung auszuweinen; sie müssen diesen

104 die Gewißheit geben, daß ihr Schmerz um den Hinge­ schiedenen Büreauvorsteher oder Mitverwaltungsrat in ihrer Seele nie ausklingen wird. Damit dies allgemein beherzigt werde, gelangt es auf dem sicheren Wege und auf derselben

Seite zum Ziel, auf dem neueste Matjesheringe oder die Kunst, sich unfehlbar das Haar zu färben, empfohlen werden. Nicht selten erhebt sich der Schmerzensschrei in so stimmungs­ voller Gesellschaft sogar zur dichterischen Form, zu lyrischen Versen erhabenen Stils. Daß die Trostlosigkeit ihre Stimme ins Weite hinaus­ schallen läßt, mag immerhin noch einige Entschuldigung finden. Aber die heiße Liebe zu einem lebenden Wesen,

von deren bester Sorte „niemand nichts weiß", wie kommt die dazu, es auszuposaunen? Will man eine Geburt, ob­ gleich das gar nicht solche Eile hat, möglichst schnell herum­ bringen, gut! so lasse mans in die Zeitung setzen. Aber daraus folgt noch nicht die Notwendigkeit, bei diesem An­ laß zu inserieren, daß man seine Gattin „innigst liebt", und daß sie einen „beglückt" hat, was sich beides eigentlich von selbst verstehen sollte. Doch es ist ja sogar gebräuchlich, in die Zeitung zu setzen, daß man sich verlobt, d. h. mit Erfolg verliebt hat. Mag es hingehen, daß eine Heirats­ anzeige eingerückt wird, denn das Gesetz will die Öffent­ lichkeit durch das Standesamt wegen der Standesverände­ rung. Aber eine Verlobung, das kaum den Lippen ent­ sprungene Bekenntnis gegenseitiger, zum Vorsatz eines Ehe­ bundes gesteigerter Zuneigung, der Schlußakkord einer Liebes­ erklärung, die sich eben erst von den Banden des Geheim­ nisses befreit hat, durch Maueranschlag zu verkünden, ist in der That eine Verletzung des Schamgefühls. Zwar: „Ich schnitt' es gern in alle Rinden ein" aber, ob wohl ein Dichter, ähnlich wie Frau Marthe Schwerdtlein, singen möchte: ich rückt' es gern in alle Blätter ein? — Die Ehen

105 werden, im Anfang wenigstens, auf Lebenszeit geschlossen. Aber Verlobungen können rückgängig werden, und das ist sogar keine Seltenheit. Dann verlangt die Konsequenz, daß auch diese Vergänglichkeit von Lieb und Treu im Blättchen zu jedermanns Nachachtung gebracht werde, ansonst jeder­ mann bis dahin zum Festhalten an dem alten Glauben be­ rechtigt bleibt. Wie lieblich sich das für die Beteiligten lesen muß: „Mein Verlöbnis mit Fräulein N. N. ist wieder aufgehoben, was hiermit zur Kenntnis gebracht wird". Wie

das die Phantasie der Leser anregt, sie einlädt, nachzu­ denken über die gewechselten Eidschwüre, Briefe, Geschenke, Händedrücke und Küsse! Ach, die Händedrücke und Küsse. Da wäre ein Kapitel zu schreiben über die berechtigten oder unberechtigten Eigentümlichkeiten von Brautpaaren und jungen Eheleuten, die sich vor aller Welt Augen an der

Table d’hote, in der Eisenbahn, und wie erst in Freundes- und Bekanntenkreisen, mit recht sichtbaren Zärt­ lichkeiten dem unbewußten Triebe ihrer sinnlichen Erregung hingeben. So oft man dies von Deutschen sehen kann, so niemals sieht man es bei anderen civilisierten Nationen. Man sagt, es käme von der Unschuld her. Schade nur, daß nicht das richtige Gefühl für das, was man den anderen schuldet, die Unschuld davor behütet, zur Unart auszuschreiten. Dies, liebe Freundin, sind so einige von vielen Be­ merkungen, die sich mir im Laufe der Jahre angesammelt haben. Indem ich sie niederschreibe, fällt mir ein, daß ich vorher Albertis Komplimentierbuch hätte nachsehen sollen, ob sie nicht darin erledigt sind, denn leider kenne ich es nicht. Doch jetzt ist es zu spät, der Brief ist geschrieben, und unsere Freundin „Die Nation" läßt mir keine Zeit zum Aufschub. Der Henker, in Gestalt des Druckerbuben, steht vor der Thür. Darum breche ich ab. Ich hätte noch

106 manches, Schlimmeres oder Besseres, aus verwandten Ge­ genden anzuführen. Zum Beispiel, warum gehört es in Deutschland zu den seltenen Ausnahmen, daß auf eine er­ wiesene Aufmerksamkeit, Gefälligkeit, ja mühevolle Dienst­ leistung ein dankendes Echo zurückschallt? Ich habe darin die närrischsten Erfahrungen gemacht, namentlich in dem ersten Jahrzehnt meiner öffentlichen Laufbahn, da ich noch naiver war als später. (Wer kann sagen, daß er nicht mehr naiv ist?) Erst allmählich gewöhnte ich mir ab, zu antworten, wenn ich von einem mir gänzlich unbekannten Familienvater eine vertrauliche Anfrage bekam, z. B. wie ich ihm rate, seines Sohnes Ausbildung zu lenken, oder sein Vermögen anzulegen, und hundert ähnliche Dinge. Auf einen gewissenhaften Bescheid ging in der Regel nicht die einfachste Empfangsbescheinigung ein. Der am Fuße des Briefes ausgedrückte „Dank im Voraus" hatte Alles ge­ regelt. Merkwürdig ist, daß unter den Charakterzügen der Germanen schon Tacitus diesen hervorhebt: gaudent muneribus, sed nec data imputant nee acceptis obligantur. Von Zeit zu Zeit, in ganz besonders verlockenden Fällen reizt es mich noch immer, wieder einmal ein Experiment anzustellen, ob vielleicht ein Fortschritt zu konstatieren sein möchte. Leider bis jetzt ohne Erfolg! Meine zwei letzten Versuche wurden bei folgendem Anlaß gemacht. Kurz nach­ einander wandten sich zwei Personen, jede in ansehnlicher Stellung, der eine sogar eine Berühmtheit, an mich mit der Bitte, ihnen den Wert einer bestimmten Art und Zahl Geldstücke älterer Zeit auf heutigen Wert umzurechnen. Die Sache ist nicht einfach. Man muß viel nachschlagen und rechnen. In beiden Fällen ließ ich mich zum Experiment verführen und gab sorgfältigen Bescheid. Mein Vertrauen auf Meister Stephans Apparat ist so groß, daß ich sicher bin, die beiden Herren haben meinen Brief erhalten. Aber



107



von ihnen selbst habe ich es nie erfahren. Und das sind nur zwei Exempel aus Erlebnissen ohne Zahl. Erklären Sie mir, wie kommt es, daß in diesen Stücken gewiß nicht alle, aber doch viele biedere Deutsche so wenig empfinden, was dem natürlichen Gefühl entspricht. Aber Sie werden mirs nicht erklären, wenigstens nicht vor Zeugen. Sie hüten sich vor der offensio gentium, zu der Sie mich verlockten. Sie sind, — das weiß ich längst — klüger als

Ihr Ergebener L. Bamberger.

VII.

Über Sas Akter. i. Einstmals trat ich bei einer Freundin zum Besuche

ein und

fand sie in

verdrießlicher Stimmung.

Frage nach der Ursache gestand sie: zürne mir — das

ist ja der

Auf die

„Sie haben recht, ich

bestberechtigte Grund, ver­

stimmt zu sein, denn nur über seine eigenen Fehler, nicht

über die der anderen soll man sich

soeben etwas sehr Dummes gethan. ja, die langweilige,

schwerfällige,

lang auf dem Halse gesessen.

ich

mich

noch

wußt'

ich

hat mir zwei

Stunden

In der ersten Stunde hab'

durchgequält mit

aber in der zweiten

grämen — ich habe Frau N., Sie wissen

dem alltäglichen Klatsch,

gar nichts mehr zu sagen,

und in der Verzweiflung hab' ich ihr alle meine Geheimnisse

erzählt!" So geht mirs nach der Hand mit dem Brauche, auf

den ich

mich eingelassen habe,

Weihnachtsgabe zu erscheinen. rakterschwäche,

alljährlich

hier mit einer

Mir ist bang, meine Cha­

die es mir schwer macht,

eine freundliche

Bitte abzuschlagen, verleitet mich zu demselben Fehler, dessen sich obenerwähnte Dame bezichtigte,

und

ich thäte besser,

mich des Meisters zu erinnern, der mich vor langen Jahren

109 in die Geheimnisse der praktischen Finanz einführte.

Die

Hauptkunst für einen Bankier, belehrte er mich nämlich, ist, Nein sagen zu können. Ich glaube sogar, der Spruch ließe sich noch auf andere, wenn nicht auf sämtliche Gebiete

des praktischen Lebens übertragen. Nun ist es bereits das neunte Mal, daß ich der Versuchung erliege, meine stillen Gedanken auszuplandern, und ich könnte nicht sagen, daß es mir besonders gut bekommen wäre. Mehr als einmal, wo es mir nicht paßte, wurde ich schon mündlich oder noch öfter brieflich an etwas erinnert, was ich da früher ge­ schrieben habe. Ich hätte mich so und so über das Brief­ schreiben oder über das Schenken geäußert, oder ich sei zwar gegen das Vorstellen oder gegen das Toasten, und nun habe ich doch selbst vorgestellt oder — Gott sei's geklagt! nicht selten — toastet. — Ja, rufe ich dann, Liebster oder Liebste, wenn Sie mich beim Wort nehmen, kann ich über­ haupt nicht schreiben. Es ist schon an sich genugsam eine brotlose Kunst; soll man auch noch gar gehalten sein, immer vor Augen zu haben, was man einmal hat drucken lassen, dann hole der Teufel das Handwerk. Vor Zeiten sagte mir einmal eine Dame nach jahrelangem freundschaftlichem Verkehr (sie entstammte der alten feinsinnigen Generation des Faubourg St. Germain): „Was Ihnen bei unserer ersten Begegnung meine Sympathie verschaffte, das war:

ich merkte alsbald, Sie sind nicht auf Ihre Ideen versessen, je remarquais que vous ne teniez pas ä, vos idees." Dies Bekenntnis fand ich sehr schmeichelhaft, und ich habe mich bemüht, seiner würdig zu bleiben. Unter diesem Vorbehalt also, und ohne Verpflichtung für die Zukunft, fragte ich mich, worüber ich mich wohl diesmal ergehen könne. Man kann doch nicht immer über Silber und Gold schreiben. Die Sache war schon lang­ weilig für die meisten, als sie anfing, und nun sie schon

110 so lange gedauert hat — hoffentlich am längsten — wird

sie ihnen unerträglich. Einmal verfiel ich auf den Ge­ danken, über das Radeln zu schreiben. Es hätte den Vor­ teil, daß es zum allerneuesten gehört, und daß ich gar nichts davon verstehe; aber es ist schon so verbreitet und beliebt,

daß ich fürchten müßte, vielfach da anzustoßen, wo es mir schlecht bekäme, meine stillen Gedanken darüber laut werden zu lassen. Der Mensch lernt doch mit den Jahren be­ greifen, daß zwischen dem Verlangen nach Weltverbesserung und dem nach eigener Ruhe ein gewisses rationelles Ver­ hältnis einzuhalten wohlgethan sei. Darum hab' ich mir

schon seit einiger Zeit zur Regel gemacht, nichts über Homöopathie, nichts über Wagners Musikdrama und neuer­ dings nichts über das Radeln zu sagen, wenn ich nicht ein ganz sicheres, kleines Auditorium vor mir habe. Schließlich, ich weiß nicht wie, verfiel ich darauf, über das mir nahe liegende Thema des Alters oder Altwerdens einiges in beschaulichen Stunden Bedachtes zu Papier zu bringen. Um damit ans Werk zu gehen, lagen zwei Wege vor mir. Es giebt Leute, die, wenn sie über etwas schreiben wollen, grundsätzlich ablehnen, nachzuschlagen, was andere vor ihnen darüber gesagt haben. Sie sind der Ansicht, die Aufnahme fremder Gedanken verstopfe die Quelle der eigenen Inspiration, leite sie wenigstens in fremde Geleise, ans denen sie schwer zum Ausgangspunkt spontaner Erzeugung zurückkehren könne. Solche Erwägung hat augenscheinlich etwas für sich, aber sie übersieht die Gefahr, daß, wer igno­ riert, was vor ihm gesagt worden ist, Unnötiges wiederholt oder Widerlegtes behauptet. Und wenn den einen das vor ihm Gedachte gefangen nimmt, so giebt es andere, die es anregt und zum eigenen Anlauf in Gang setzt. So geht es mir.

111 Also entschloß ich mich,

den alten Cicero, den alten

Grimm und den jüngeren Lasker wieder herbeizuholen, deren Betrachtungen über das Thema ich vor längerer oder kür­ zerer Zeit gelesen hatte. Die beiden ersten sprachen aus

ihrer Erfahrung heraus, der letztere, damals erst in der Mitte seiner viorziger Jahre stehend, aus seiner Dialektik; doch nicht ganz ausschließlich, denn er war sich des Vor­ wurfs, dem er damit Raum gab, bewußt; darum bemühte er sich, seine an anderen gemachten Beobachtungen und insbesondere Beispiele aus der Geschichte beizubringen, wie es schon vor ihm Cicero gethan hatte. Bezeichnend für ihn war, daß er, abweichend von den beiden anderen, meinte, es ließen sich Vorschriften finden, wie man den Gebrechen des Alters, namentlich in der Jugend, vorbeugen könne. Auch war die Abhandlung nur eingeflochten in eine größere unter dem Titel: „Über Anlagen und Erziehung"?) Der große Optimist bildete sich ein, man könne selbst in diesem Punkt das Leben korrigieren; wenn man's nur wohlüber­

legend einrichtete, könne man auch planmäßig auf ein be­ hagliches Alter lossteuern. Er stand damals im Zenith

seiner glänzenden Laufbahn, auf Händen getragen durch ganz Deutschland, geehrt von Hoch und Niedrig, im harm­ losen Glücksgefühl einer unablässig angeregten Wechsel­ beziehung zur Öffentlichkeit. (Wie schwer wird es, sich das

heute vorzustellen!) Kaum hatte er die Feder aus der Hand gelegt, welche die Kunst, sich vernunftgemäß ein schönes Alter zu bereiten, gelehrt hatte, so befiel ihn die tückische Krankheit, die seine Gesundheit für immer untergrub, und ihn nach schweren Leiden und noch viel schwereren Ent­ täuschungen im besten Mannesalter dahin raffte. Die ver­ ständige Fanny Lewald dagegen, welche seiner optimistischen *) „Deutsche Rundschau," I. Jahrgang 1874/75.

112 Doktrin widersprochen und dem bösen Alter bittere Wahr­ heiten gesagt hatte,*) brachte es zu hohen Jahren (achtundsiebenzig) in denen sie sich bis kurz vor ihrem Tode noch redlich die Früchte ihrer Arbeit und ihres Ruhmes schmecken ließ. Such is life! Von meinen drei Gewährs­ männern ist, wie natürlich, der vortreffliche Grimm der bestberatene. Er wandelt schlicht auf dem Wege milder

Weisheit. Weder lobsingt er, wie der alte Schönredner, in schwunghaften Tönen, noch verbessert er, wie der eudämonistische Dialektiker die Natur. Im Grunde sind doch alle die Verherrlichungen nur eine Verteidigung des Alters. Man könnte sagen: qui l’excuse l’accuse. Letzteres thut nämlich die allgemeine Sinnesart der Menschen und ihre tägliche Redeweise ganz ungekünstelt seit ewigen Zeiten, und wer das in sein Gegenteil umkehren will, läuft ins Gebiet der Paradoxie hinaus. Drum hübsch bei der Stange bleiben, und wer was Gutes zu sagen weiß, der sage es mit Maß und nur nach der Melodie: es ist nicht so schlimm, wie man meint. So hat es der brave Grimm gehalten, der wahre Jakob. Wer sich näher damit bekannt machen will, kann es im ersten Band seiner kleinen Schriften nach­ lesen. Alle drei genannten Schriftsteller ergehen sich in Betrachtungen über die wirklichen oder nur scheinbar rück­ läufigen Bewegungen des Lebens und über die ansgleichenden Vorteile, die den Verlusten entgegenzuhalten sind. Sie er­ schöpfen das Thema vollständig, und Neues bleibt darüber nicht zu sagen. Dagegen, was keiner der Genannten ins Auge gefaßt hat, ist das Phänomen des seelischen Verhaltens des Individuums zu sich selbst. Mich dünkt, hier liegt der wahre Prüfftein der Sache und zugleich der Punkt, bei dem *) Ebenfalls in der „Deutschen Rundschau" 1875.

113 die optimistische Auffassung, an der wir doch aus Selbst­ erhaltungstrieb am meisten interessiert sind, am besten ein­ setzt. Ich behaupte nämlich, der alternde Mensch hört nie auf, auch der junge zu sein, der er einst gewesen. Dies ist das Geheimnis der Kontinuität des Ich. Beide Teile sind untrennbar. Ohne die Kontinuität, die ununterbrochen sich fortsetzende Einheit des Bewußtseins, gäbe es überhaupt kein Ich. Diese Einheit ist seine Quintessenz. Der andere erblickt in uns immer nur den Menschen des gegebenen Zeitpunktes, darum in fertigen Jahren den Mann, in nieder­ gehenden den Greis. Wir selbst tragen jedoch in unserm

lebendigen Bewußffein den ganzen Menschen in der un­ trennbaren Totalität seines Daseins, für welche die Zeitfolge als eine untergeordnete Form der Anschauung zurücktritt, wie sie es für das abstrakte Denken thut, nur noch un­ mittelbarer, weil unabhängig von aller Reflexion. Darum sagt mit Recht eine oft gebrauchte Redewendung: es kommt gar nicht darauf an, wie alt man ist, sondern wie alt man sich fühlt; und das nicht durch Krankheit gebrochene Alter

(es handelt sich hier überhaupt nur vom gesunden, sagen wir, um allen Einreden vorzubeugen, vom relativ gesunden Alter) fühlt sich daher immer auch nicht gänzlich unjung. Selbst das Vermissen dessen, was vordem eine entschwundene Jugend geboten hatte, ist noch ein Band mit dem Gefühl derselben, und wer im Alter Enttäuschungen erlebt, empfindet damit in seiner Weise jugendlich. In unserem Gehirn, d. h. in unserem Denkleben, sitzt doch noch, wenn auch vielfach von der Zeit verändert, der erste Ansatz des Organs, mit dem wir znr Welt kamen, und daß gerade diese erste Grundlage am meisten der Zerstörungsarbeit der Zeit Wider­ stand leistet, geht daraus hervor, daß die Gedächtnis­ eindrücke der Kindheit und frühen Jugend am stärksten haften und die späteren vielfach überdauern. Wenn diese Ludwig Bambrrger's Ges. Schriften.

I.

q

114 ohne Zweifel an substantiellen Merkmalen im Gehirn haf­

tenden Erinnerungen so lebendig erhalten bleiben, so liegt nahe, daß auch Jugendgefühle uns ins Alter begleiten, natürlich mutatis mutandis. Der Traumzustand, der un­ bewußt Vorhandenes im unkontrolierten Verstandeszustand auf die Oberfläche kommen läßt, liefert einen besonderen Beleg für die Richtigkeit dieser Behauptung. Wie oft

träumen wir uns jung, erneuern weit zurückliegende Ein­ drücke, die sich tief ins Gehirn eingegraben haben. Alte Leute träumen noch manchmal, daß sie im Examen stehen, und freuen sich beim Erwachen, daß es nur ein Traum war. Und wie unschuldig waren zu ihrer Zeit die Examina, und wie leicht nahm man sie! Wie schwer muß erst der Alp einst auf den Unglücklichen liegen, die heute durch dies Fegefeuer gehen! Damals hatten doch die Exa­ minanten noch die Hauptaufgabe, die jungen Leute zuzu­ lassen, heute dagegen, sie abzustoßen. Dies Beispiel vom Examenstraum, das ich hier herausgreife, fällt mir zunächst deshalb ein, weil es jüngst in einem Zwiegespräch mit einem berühmten Nervenpathologen zu meiner Belehrung dienen mußte. Die Unterhaltung drehte sich um die be­ liebten Themata des Hypnotismus und der Suggestion. Wir haben uns ja alle mehr oder weniger mit diesen Dingen als natürlichen Erscheinungen befreundet, die nicht bloß nichts Spiritualistisches oder Mystisches an sich haben, sondern umgekehrt der sogenannten materialistischen Auf­ fassung durchaus zu Hilfe kommen. Bei einer gewissen Wendung des Gesprächs sagte ich zu meinem Professor, es gebe Dinge, die ich trotz allem nicht glauben könne. So z. B. wenn der gelehrte Psychiater von Krafft-Ebing be­ haupte, er hätte einer in mittleren Jahren stehenden Frau im Zustand der Hypnose mit Erfolg suggeriert, sie sei ein siebenjähriges Kind. Ich meinte, durch einen künstlich her-

115 vorgebrachten Traum könne das Bewußtsein nicht bis zu dieser niedrigen Stufe hinabgeschraubt werden. — Aber

warum nicht? warf mein Freund ein. Haben Sie nicht manchmal noch in späteren Jahren geträumt, Sie ständen im Examen? — Ich mußte bejahen, und so waren wir dahin gekommen, zu bekennen, daß das übrige nur ein Quantitätsunterschied sei. Dies nie ganz entschwindende Stück Jugend ist nicht ein Geschöpf des reflektierenden Verstandes; es ist lebendige Wirklichkeit, und jeder gesunde Mensch in höheren Jahren

kann es an sich erproben. Man thut auch ganz gut, es in sich zu nähren, man muß nur sich hüten, es sehen zu lassen. Denn es macht auf den dritten, der nur unsere Gegenwart sieht, einen etwas komischen Eindruck. Ich be­ merke das manchmal an einem ganz unverfänglichen Vor­ gang. Wenn ein alter Mensch in seiner Erzählung etwas von seiner Mutter oder gar Großmutter einflicht, so sehen ihn jüngere Leute mit einefti gewissen, verwunderten Lächeln an. Ihnen erscheint als etwas Sonderbares, daß jener auf einen Zustand zurückgreift, der so weit hinter ihnen und — wie sie meinen — auch hinter ihm liegt; ihm jedoch scheint er nah und natürlich nah zu liegen. Das Eigenste und damit oft das Beste in sich muß der Mensch in sich verschließen, ebenso wie er nach des Dichters Rat das Dümmste und Schlimmste geheim in der Brust halten muß. Das ist ein Kapitel aus dem Abschnitt von der Schamhaftigkeit und berührt sich mit dem Satz, daß der Mensch lernen müsse, alt zu werden, d. h. unter Umständen zu verbergen, wie jung er innerlich noch sei, ein Satz, der aus der Lebenskunst wieder in die Ästhetik hinüberführt. Man hört oft sagen, daß besonders den schönen Frauen es schwer ankomme, alt zu werden. Ich verstehe das. Eine bewunderte schöne Frau zu sein, ist gewiß eine der herr-

8*

116 lichsten

Berufsarten dieser schlechten Welt, und,

diesem

Beruf zu entsagen, muß eine harte Aufgabe sein. Je ver­ feinerter eine Kultur ist, desto mehr hat sie Verständnis

für diese Eigentümlichkeit.

Man kann bemerken, daß mit

der Sänftigung der Sitten und der Hebung des Wohl­ standes die Grenzen der Jahre für die Anerkennung der weiblichen Grazie sich erweitern. Die Franzosen, in welchen der Sinn dafür am meisten ausgebildet ist, haben das von lange her kultiviert. Die Diane de Poitiers, Ninon de l'Enclos, Räcamier, die noch in hohen Jahren durch ihre weiblichen Reize herrschten, sind historische Typen, denen im Privatleben Tausende an die Seite getreten sind. Man kann auch die Maintenon dazu rechnen, denn ihre geistige Überlegenheit war von ihrer Weiblichkeit nicht zu trennen.

Eine französische Herzogin schickte der Kur­

fürstin Sophie von Hannover zu ihrem siebenzigsten Ge­ burtstag einen rosenfarbenen Schlafrock und schrieb dazu:

a soixante - dix ans on reprend le rose. In großen Städten genießt die Lebensdauer weiblicher Reize längeren Spielraum als in kleinen oder auf dem Lande, und in der Gegenwart mehr als zur Zeit unserer Mütter und Großmütter. Zu den mannigfachen Unarten unserer neusten Jour­ nalistik gehört es, mit dem Adjektiv „greis" bei jeder

Gelegenheit um sich zu werfen, ohne Zweifel, weil das An­ wenden von Adjektiven überhaupt zu den beliebtesten Griffen des Handwerks gehört. Kaum hat ein Mann die „Sechzig" hinter sich, so heißt er schon der „greise Künstler", der „greise Akademiker" u. s. w. Ich vermute, mancher noch recht muntere berühmte Mann schüttelt sein unehrwürdiges Haupt, wenn er sich mit diesem Ehrentitel verziert in seiner Zeitung findet. Der Unfug kommt wohl auch davon her, daß die Journalisten oft noch gar so jung sind, oder daß

117 die berühmten Leute nach neuerem Stil sich schon beim erfüllten neunundfünfzigsten Jahre als Jubilare anfeiern

lassen.

n. Bietet die Kontinuität des Ich dem Druck des Alters ein Gegengewicht, so mildert sie auch die Wirkung der Entbehrungen, die es auferlegt. Der Verlust an Genüssen, den die Jahre mit sich führen, wird übertrieben, weil nicht bedacht wird, daß an dem Genuß das Kennen einen großen Anteil hat. „In dem Genuß verschmacht ich nach Begierde." Mit dem Kennenlernen des Genusses verliert derselbe für

den Menschen einen Teil des Reizes, den er für ihn hatte. Ein Glück gekannt zu haben, ist ein unverlierbares Stück dieses selbigen Glückes, aber es lang und genau gekannt zu haben, ruft Sättigung hervor. In dem „Ich besaß es doch einmal, was so köstlich ist! daß man doch zu seiner Qual nimmer es vergißt!" enthält die erste Zeile einen Trost, den die zweite verleugnet, und auch in dem „nessun* maggior dolore ehe ricordarsi del tempo felice nella miseria“ liegt ein Irrtum. Ein Mädel, das alle Toure» durchgetanzt hat, geht viel leichteren Herzens vom Ball als eine, die den Schimmel halten mußte. Ein Leben, das nicht ein verfehltes war, wird den Abgang der Genüsse, den das Alter mit sich bringt, viel weniger schmerzlich

empfinden, als die Reflexion es sich ausdenkt. Es liegt etwas Charakteristisches darin, daß gerade Fanny Lewald es war, die ihren Freund Lasker wegen seines Alters» optimismus ziemlich scharf abkanzelte. Gewiß hatte sie kein verfehltes Leben hinter sich, als sie zu vierundsechzig Jahre» ihm nachwies, was man alles mit den Jahren einbüßt. Aber sie hatte erst zu dreiundvierzig Jahren geheirachet.

118 und ein etwas anempfundenes retrospektives Jugend-Liebes­ glück begleitete sie durchs Leben. Das erschien ihr nun, vorüber, um so unersetzlicher, als sie es nur in der Sehn­

sucht gekannt hatte. Ihr starkes Plaidoyer gegen das Alter war eine Jugendrache. Ihr wirkliches Alter war sehr be­ friedigt, und sie sah als Matrone auch besser aus als in jüngeren Jahren. Sie hatte sich mit den dunklen Augen, dem vollen Kinn, der würdevoll bewußten Haltung und den, wenn auch nicht autochthonen, weißen Locken einen hübschen Kopf zurecht gemacht. Eine oft gemachte Beobachtung lehrt, daß Menschen, welche einst im Vollbesitz aller Überflüssigkeiten des täg­ lichen Lebens gewesen, deren Entbehrung leichter tragen als solche, die nur wenig davon genossen haben. Alle Welt war z. B. erstaunt, mit welcher heiteren Resignation die französischen Emigranten den Übergang aus hoher Stellung und raffiniertem Luxus zu dürftiger Existenzweise Hinnahmen. Sie hatten den Überfluß in vollem Maße kennen gelernt und an sich erfahren, daß er zum Glück nicht so viel beiträgt, wie der dieser Genüsse Unerfahrene sich einbildet. Das Gegenstück dazu liefert der Mensch, der, wenn er im Alter die Fülle dessen erreicht, was er in der Jugend sich gewünscht hat, doch findet, daß die Zeit der unerfüllten Wünsche die bessere war. C’etait le beau temps, j’etais bien malheureuse, lautet das sinnige Wort

der alten Schauspielerin Sophie Arnould. Das Gesetz der Ausgleichung, welches viel tiefer in die Rechnung von Glück und Unglück eingreift, als gemeinhin bedacht wird, spielt auch in der Abwägung von Vorzügen und Mängeln des Alters seine wichtige Rolle. Jeder Lebensgenuß unterliegt in seiner Wertschätzung dem Ab­ wägen von Anstrengung und Bestiedigung. Das verständige Alter, welches weniger Ansprüche an sich selbst und an die

119 Anderen macht, kommt mit weniger aus, als die jungen

Jahre, welche die Welt im Sturm erobern wollen und mit ihren Ansichten durchdringen zu müssen meinen, bis daß

sie endlich dahin gelangen, mit dem alten Goethe zu sagen, daß man über das allmächtige Niederträchtige sich nicht be­ klagen dürfe, oder mit dem alternden Heine: „es begreift nicht solch ein Maulheld, warum der Mensch zuletzt das Maul hält". Nachdem die am Ende der siebziger Jahre vom Fürsten Bismarck eingeleitete, rückläufige Bewegung

der Geister im Laufe von anderthalb Dezennien auf dem

Tollpunkt von Krähwinkelei angekommen war, auf dem unsere wirtschaftliche Gesetzgebung dermalen sich noch weiter belustigt, hatte ich mir als Gegengift gegen den Unmut, der mich beim Anhören gewisser Reden im Reichstag er­ faßte, eingeprägt, mich daran zu erinnern, von wieviel Aberglaube die Menschheit sich von jeher auf anderen Ge­ bieten hat beherrschen lassen, sich bis auf diesen Tag be­ herrschen läßt und wahrscheinlich, wenn nicht in alle, doch noch lange Zeiten wird beherrschen lassen; und daß es dennoch geht und weiter gehen wird, hauptsächlich deshalb, weil die einzelnen in ihren persönlichen Angelegenheiten so viel besser und klüger sind als die Gesamtheiten in den ihnen überlassenen. Bringt das Alter seine Kompensationen gegen desperate Anstrengungen und desperate Stimmungen, so darf es diesen Vorteil auch wiederum nicht zu fatalistischer Unter­ werfung unter die dunklen Mächte verwenden. Dadurch würde es gerade das Beste einbüßen, die Erhaltung des Teils von Jugend, der dank der Kontinuität des Ich in uns fortlebt, und dessen Strom möglichst lang und stark fortzuleiten das Geheimnis des relativen Jungbleibens aus­

macht. Ich sage: das Fortleiten des Stroms, vor zwanzig Jahren hätte ich noch gesagt: den Zufluß von Öl auf die

120 Lampe. So müssen auch die Bilder Schritt halten mit der Zeit. Es giebt wirklich Mittel, die zu diesem Ziele fördern helfen. Der Mensch, welcher sich möglichst jung erhalten will, möge vor allen Dingen den Schuljungen in sich kon­ servieren. Wir sinds doch alle einmal gewesen, und die

meisten recht gründlich. Drum ist es nicht schwer, den ersten alten Adam weiter zu züchten. Jeden Tag was lernen zu wollen, jeden Abend eine Aufgabe gefertigt zu haben und, wenn nicht mehr vor dem Professor auf dem Katheder, doch vor dem Zuchtmeister im eigenen Busen zu zittern, wenn die schöne Zeit vertrödelt worden ist. In

einem soeben zum ersten Mal publizierten Briefe der George Sand an Ste. Beuve schreibt die sechsundfünfzigjährige: „Trotz allem scheint mir, daß es ein immenses Vergnügen ist, im Altwerden seine Erziehung von neuem zu beginnen: man hat Momente, wo man sich ganz jung glaubt und ganz naiv Schülerbetrachtungen in kleine Hefte einträgt". (Revue de Paris vom 1. Dezember 1896.) Unter den Schatten, die auf das Alter fallen, hört man immer auch aufzählen, daß das meiste, was uns lieb war, eben ins Reich der Schatten dahin geht und uns vereinsamt zurückläßt. Es ist wahr: Leben heißt Über­

leben. Aber Leben heißt auch Erleben, und wollen wir nur die Augen offen halten, es giebt dessen so viel und immer mehr, und „wo ihrs packt, da ist es interessant". Selbst die Dummheiten der Regierten und der Regierenden tragen zu unserer Unterhaltung bei, und dieser Stoff ver­ sagt nie. Gerade im und am Alter rächt sich ein be­ schränkter Egoismus, der für Menschen und Dinge außer dem Kreis seiner nächsten Angehörigen und Interessen keinen

Sinn hat. Man kann beobachten, daß Menschen solche« Kalibers am meisten im Alter sich gelangweilt und ver­ einsamt fühlen, d. h. am frühesten alt werden. Es giebt

121 ja auch ein Jungbleiben oder Jungbleibenwollen, das zur Karrikatur wird. Alter schützt vor Thorheit nicht, sagt ein Sprichwort. Sehr mit Recht Pflegte dagegen eine kluge Frau meiner Bekanntschaft hinzuzusetzen: „Doch Thorheit schützt vor Alter". Eine vorsichtige Dosis Jugendeselei mit sich zu führen, ist gar so übel nicht. Selbst das so ost des Schwindens angeklagte Gedächtnis kann durch Übung

länger bei Kräften gehalten werden, als wenn man es widerstandslos einrosten läßt. Man muß es nicht außer Gang kommen lassen, gerade wie die Gliedmaßen. Beides finde ich bei Cicero bestätigt; Cato, dem er seine Ansichten in den Mund legt, beruft sich auf seine eigene Übung im

hohen Alter, und an einer anderen Stelle sagt er: der Greis, in dem noch etwas Jugendliches ist, gefällt mir. „Senem, in quo est aliquid adolescentis, probo.“ Wo von den Leiden des Alters die Rede ist, darf das Kapitel vom Sterben und Tod nicht fehlen. Das nahe Ende soll seinen Schatten auf die Tage voraus werfen, die ihm immer näher rücken. Dagegen wird in der Regel der Trost gespendet, daß dies auch für das jüngste Menschen­ leben gelte, worauf der Pessimist jedoch mit der gesteigerten Wahrscheinlichkeit repliziert. Der Heide Cicero nimmt in ziemlich ausgedehnter Betrachtung den Trost der Unsterb­ lichkeit der Seele zu Hilfe, während Grimm, der Christ, sich sachte an ihr vorbeidrückt. Aber auch Cicero zeigt nicht frei von Skepsis; er flicht dieselbe Bemerflmg welche so viel später Pascal in sein bekanntes Bild kleidete: wenn ich doch über Unbekanntes wetten soll,

sich ein, ein­ will

ich auf das wetten, was mir zu gute kommt, falls ich ge­ winne, und nicht auf meinen Schaden. Die Angst vor dem Sterben ist natürlich, die Angst vor dem Totsein ist eine Gedankenlosigkeit. Wahrscheinlich ist auch in den meisten Fällen die Angst vor dem Sterben unberechtigt.

122 Die große Mehrzahl der Menschen stirbt, ohne daß sie es ahnt. Der Talmud sagt, das Sterben geht so sanft vor sich, wie wenn man ein Haar durch die Milch zieht. Leopardi läßt einen Mann in die Unterwelt hinabsteigen und sich mit den Einwohnern der Särge unterhalten, die er über ihr Ende ausfragt. Keiner weiß, wie es gekommen ist. Es giebt seltene Umstände, unter denen Menschen mit vollem Bewußtsein sterben und vorher noch eine schöne Anrede halten; aber am meisten geschieht dies auf der Bühne oder gar in der Oper, wo sie noch sterbend wunder­ schön singen. Das müßte eine herrliche Empfindung sein, solch ein stimmungsvoller Abgang. Auf jeden Fall brauchten sich die Menschen über das Totsein nicht den Kopf zu zer­ brechen, wenn sie nur das Eine bedenken wollten, daß sie

doch Aeonen tot waren, ehe sie auf die Welt kamen, und daß ihnen das gar keinen Kummer gemacht hat. Ich hatte eine Freundin, die ein stilles, aber sehr heiteres Dasein bis ans Ende ihrer fünfzig Jahre geführt hatte und dann oft mit mir über die Ungerechtigkeit des Aufhörens stritt. Ver­ geblich stellte ich ihr vor, daß sie das Leben gerade so leicht entbehren werde, wie sie es bis vor sechzig Jahren entbehrt hatte. Sie ließ es nicht gelten und meinte, es sei eine Schändlichkeit, nun man sie es habe kosten lassen, es ihr wieder zu entziehen. Wie schlecht berechnet, ohne die Not­ wendigkeit dessen, was wir Vergänglichkeit nennen! Das ist eine der bestverleumdeten Eigenheiten unseres endlichen Daseins. Zu welcher Folter würde der größte Genuß, wenn er, man braucht noch lange nicht zu sagen ewig währte! Die kluge Madame Du Deffant, obschon hoch an Jahren und trotz oder wegen ihrer Blindheit sehr lebens­ lustig, schrieb doch ihrem Freund: Je ne fais pas fi du neant. In der Hauptsache ist alles, was die Menschen über

123 ihren Tod denken und reden, nur Sache der Reflexion und nicht des Gefühls. Das Gefühl ist aber die Hauptsache. Das Nichts, das Nichtsein zu fühlen oder auch nur sich vorzustellen, geht über die Fähigkeiten des im Sein Ein­

gesperrten hinaus. Da sitzt auch die wahre Wurzel des Unsterblichkeilsglaubens. Die Unmöglichkeit, sich das Nichts

vorzustellen, zwingt das Gefühl, sich sein eigenes Sein in eine Ewigkeit hinaus, die es doch nicht begreift, zu pro­ jizieren. Dann übernimmt der Glaube, die bereits ins Unendliche Projizierte Vorstellung je nach Land und Leuten zu möblieren. Der Unterschied des Glücksgefühls zwischen denen, die an ein Jenseits und denen, die nicht daran glauben, ist lange nicht so groß, wie man gemeinhin an­ nimmt. Auf der einen Seite ist das Aufhören zu unmög­ lich vorzustellen, als daß es vorempfunden werden könnte; aber auf der anderen Seite ist auch die Ewigkeit etwas so Unfaßbares, daß der lebendige Glaube daran auf einer Selbsttäuschung beruht. Renan behauptet, die Märtyrer, die für ihren Glauben in den Tod gegangen seien, hätten diesen Glauben nicht allzu stark gehabt. Für etwas, dessen man ganz sicher sei, fühle man gar nicht die Versuchung, mit dem Leben zu zeugen. Es steckt etwas schalkhafte Wahrheit in diesem Verdacht, der an den Ausspruch Proudhon's erinnert: wenn ihm etwas fataler sei als die Henker, so seien es die Märtyrer. Der Mensch wurzelt so tief und unentrinnbar im Leben, daß er sich gar nicht herausdenken kann, und diesem unbewußten Seelenzustand ist es zu verdanken, daß wir nicht nur in die Breite, sondern auch in die Länge der Fortsetzung hinaus uns eins fühlen mit der Gesamtheit nicht nur der Gegenwart, sondern auch der Zukunft. Das ist in altruistischer Richtung das Näm­ liche, was in egoistischer der Idee des Nachruhms, des Fortlebens in der Geschichte zu Grunde liegt. Wie viele,

124 die einer gewissen Notorietät genießen, mögen nicht selten an den Nekrolog denken, der ihnen einst wird gewidmet werden! Wie viel schöne Stiftungen verdanken wir vielleicht dieser holden Schwäche! Von Lord Brougham, der ein raffinierter Lebemann war, erzählte man, er habe sich ein­ mal einige Wochen lang im südlichen Frankreich versteckt und tot sagen lassen, um sich den Genuß der Lektüre seiner Nekrologe zu verschaffen. Sein oder Nichtsein, das ist nicht die Frage, sondern der einzige entscheidende Unterschied. So lange der Mensch ist, und weil er ist, bleibt seinem Fleisch und Blut das Nichtsein unverständlich. Homo über de nulla re minus cogitat quam de morte, der vernünftige Mensch denkt an nichts weniger als an den Tod, sagt darum der große Philosoph und berührt sich darin mit dem in ihrer Leidens­ zeit ausgesprochenen Satz der zartsinnigen Madame de La Fayette: c’est assez que d’etre. Gesundes Alter quält sich nicht mit der Frage, wie nahe das Ende sein könnte. Einer der wenig berühmten, aber doch nicht ganz vergessenen Dichter des siebenzehnten französischen Jahrhunderts, jener wahren Blüthezeit des nationalen Ingeniums, Maucroix, dem Ste. Beuve ein liebevolles Andenken gewidmet hat (besonders im 8. Band der Causeries du lundi), hat unter anderen einen gereimten Weisheitsspruch hinterlassen, der in seinen einfachen Worten das Richtige über unser Thema zusammenfaßt. Maucroix war einer der letzten jener heiteren, feinsinnigen, gutmütigen Generation, als deren Typus uns der „gute" Lafontaine erscheint, sein Freund und, wie er, auch ein Freund des schönen Geschlechtes. Wie einstmals Rabelais, der muntere Pfarrer von Meudon, war Maucroix Geistlicher, Kanonikus an der Kathedrale von Rheims, und das hinderte bekanntlich nicht, ein Freund des schönen Geschlechtes zu sein. Ein anderer seiner Freunde, der aus-

125 gelassene Tallemant

des

Rsaux,

erzählt in seinen nichts

weniger als schämigen Anekdoten eine lange Geschichte von

der

eigentümlichen

Liebschaft

des

Kanonikus

mit

der

Marquise de Brosses, der Tochter des Herzogs von Joyeuse.

Eine

Reihe

unheiliger Zerstreuungen störte den

braven

Domherrn auch nicht in seiner Arbeit, in welcher verliebte Gedichte mit der Übersetzung frommer Kirchenväter, des Chrysostomus und Lactantius, abwechselten. Im Ganzen zog er das Übersetzen dem eigenen Schaffen vor, weil er mit weniger Kopfzerbrechen der lesenden Menschheit damit besser diene.

Er brachte es zu neunundachtzig Jahren, und

in seinem einundachtzigsten verfaßte er das artige Sprüchlein,

mit dem ich schließen will:

Chaque jour est un bien que du ciel je reqoi, Je jouis aujourd’hui de celui qu’il me donne, II n’appartient pas plus aux jeunes gens qu’ä moi, Et celui de demain n’appartient ä personne.

Die Iraryösekei am Rhein, wie sie Kam, und wie sie ging'.*) -Izie Erscheinungen

in ihrer allgemeinen Bedeutung

zu erfassen, das ist, worauf die Sehnsucht des Gedankens geht. Allein das Problem, um das er wirbt, gleicht der

Prinzessin im Märchen. Es sendet ihn erst weit hinweg nach mühsamen Arbeiten, ehe daß ihm bei der Rückkehr sein Lohn werde. Ins Einzelne sich zu vertiefen, um das Zu­ sammenwirkende zu begreifen, das ist der Weg des Erkennens. Um ein volkspsychologisches Rätsel zu entziffern, welches sich ein halbes Jahrhundert hindurch den ganzen Rhein entlang abspielt, vom Elsaß bis nach Holland hinunter, hab' ich einen einzigen Punkt — allerdings den inter­ essantesten — des Stromgebietes fixiert, und hoffe, was ich an Umfassung aufgegeben, vielfach an Sicherheit gewonnen zu haben. Beiläufige Schattierungen abgerechnet, entwickelt sich der nämliche Prozeß auf der ganzen Strecke, und der Teil ist der Spiegel des Ganzen. Mein Vorsatz ist, zu zeigen: wie der deutsche Sinn am Rhein, indem er zu Falle kam, ein Opfer des Feuda­ lismus war. Feudalistisch nenne ich schlechthin diejenige Staatsverfassung, welche Herrschafts- oder Regierungs­ gewalten auf etwas anderes zurückführt, als auf die ver­ nunftgemäß erkannten Bedingungen des Gemeinwohls; welche vielmehr Machtverhältnisse aus Privatrechten ab*) Aus den „Demokratischen Studien", herausgegeben von Ludwig Walesrode 1861.

127 leitet und ein politisches Eigentum bevorzugter Familien anerkennt. Auch heute noch ist Deutschland ein Feudal­ staat, und derjenige, welcher, zu Häupten ihrer Geschicke stehend, die Einigung der Nation nicht anders zu begreifen vermag als unter Schonung jener sogenannten Rechte Dritter, der macht uns jede Täuschung über die Nichtig­ keit seines Strebens unmöglich. Nur auf den Trümmern der Feudalherrschaft kann Deutschland die Geistesgröße finden, in der seine, wie jede Kraft ruht. Wer das Recht der Nation auf Selbsterhaltung und Wiedergeburt in eine Linie stellt mit dem Rechte Dritter, wer Deutschlands Sicherheit und Zukunft nicht heiliger hält als das longobardische Lehnrecht und das Jnstrumentum des osnabrückischen Friedens, der mag sich des Beifalls seiner hochge­ borenen Standesgenossen freuen. An Deutschlands Zukunft hat er keinen Teil. Das blutige Spiel des Kriegs besitzt eine tiefe Ge­ walt über die Gemütsart des Franzosen. Diesem Zug von Barbarei vermochte sogar die große Revolution nicht beizu­ kommen. Im Gegenteil, sie hat ihm — einzig in seiner Art — vielleicht neue Kraft und Nahrung eingegeben. Jede Kampfbegierde braucht aber ein Länderziel, wie jeder Roman eine Heirat braucht zum guten Ende. Das Lieb­ chen der französischen Schlachtenphantasieen alle ist und bleibt der Rhein. Die Kanonen, welche in den Zeug­ häusern schlafen, von Bayonne bis Metz, träumen Jahr aus Jahr ein vom Wiedersehen mit unseren grünen Reben­ hügeln. Und wie sie träumen, so denken von hundert Menschen neunzig in diesem Lande. Unter den zehn übri­

gen aber sind fünfe, welche nur mit Hilfe angestrengter Reflexion die gleiche Sinnesart überwinden. Sonderbar, daß man diesem Volke Beweglichkeit zum Vorwurf macht.

128 Bon allen Kultur tragenden ist keines so in Charakterein­ förmigkeit gebannt. Bei keinem gilt mehr Erblichkeit, mehr Allgewalt landläufiger Anschauungen. Zu letztern gehört

der Glaube an die Berechtigung des Wunsches nach dem Besitz der Rheinlande. Darin eben unterscheidet sich dies Kriegsgelüste von ähnlichen. Der Gedanke an eine Fehde mit England bringt das französische Blut in viel heftigere Wallung, aber es sitzt auf dessen Grund viel mehr blinde Leidenschaftlichkeit als politische Ansicht. Die Antipathie gegen England ist sozusagen bestialischer Natur. Es ist nicht mehr Rechtsbewußtsein in ihr, als in einem mit der Muttermilch eingesogenen Hasse sein kann. Noch weniger knüpft sich an sie die Vorstellung des dauernden Besitzes irgend eines Teils der britischen Inseln. Selbst an die Einbürgerung im katholischen Irland denkt Niemand ernst­ lich. Ganz umgekehrt verhält es sich mit dem Appetit nach einem Stück Deutschland, für welchen in den verschiedenen Abstufungen der Gesellschaft verschiedene Legitimitätsrech­ nungen den Ausgangspunkt bilden. Jede derselben hat sich in ihrem betreffenden Kreise die Geltung einer notorischen

Wahrheit verschafft. Die Massen, und dazu gehört auch der Soldat aller Grade (dies zu beider Ehre), knüpfen an den Besitzstand des Kaisertums und der Revolution an und leben in der naiven Entrüstung fort, daß die Ver­ träge von 1815 einen schändlichen Raub an Frankreich be­ gangen hätten. Die Leute von der Presse und der Politik

bearbeiten die Theorie der natürlichen Grenzen und der Abrundung in allen möglichen Tonarten; der profundeste Gelehrtenstand endlich, der sich mit dem Kultus des alten Galliertums ein Steckenpferd nach Art unserer Jahne und Arndte aufgezäumt hat, beweist Euch, daß die ganze Be­ völkerung des linken Rheinufers (geschweige denn die von Belgien bis ans Meer hinauf) echt gallischen Blutes und

129 nur durch oberflächliche Verfälschung etwas deutsch über­ tüncht worden sei! Die Mehrzahl der Anhänger dieser drei verschiedenen Anschauungen stimmen dahin überein, daß die Franzosen am Rhein willkommene Gäste sein würden.*) Früher wurde der Deutsche kaum über die Richtigkeit

dieser Voraussetzung befragt, heute thut man ihm wenigstens die Ehre an, ihn um Bestätigung derselben einigermaßen zweifelnd anzugehen. Immerhin bleibt es eine der de­

mütigendsten Mahnungen an bte Schimpflichkeit unserer heimischen Vergangenheit und Gegenwart, solchen Inter­ pellationen Rede stehen zu müssen, und rührten sie auch von dem Oberflächlichsten und Übermütigsten aller Franzosen her. Aber wenigstens haben wir doch jetzt den Trost, diesen Fragen mit gutem Gewissen einen feierlichen Protest entgegensetzen zu können, wenigstens vermögen wir ohne die Hilfe eines frommen Betrugs zu versichern, daß der Gedanke an einen Abfall von Deutschland in den Rhein­ landen heute gänzlich verpönt und unmöglich geworden ist. — Ist es immer so gewesen? Sind die französischen Vor­ stellungen von der Zuneigung ihrer Grenznachbarn jedes historischen Vorwands ledig? Dies ist eine Frage, die heute vorzunehmen erlaubt ist, heute, da die Spuk­ gestalten der undeutschen Gesinnung am Rhein tot und be­ graben sind, eingesargt in die Gruft der unverantwortlichen

*) Die drei obigen Theorieen in einer Person vereinigt, sehe man in dem kürzlich von H. Theophile Lavallde in der Revue nationale ver­ öffentlichten Aussatze „Les frontieres naturelles.“ Die Arbeit schließt

mit folgenden Worten: „La Revolution de 1789 fit de Fidde des fron­ tieres naturelles une idee tonte gauloise, qui devint comme on sait la passion de la foule et la pensee nationale.“ Herr Lavallee ist be­ zeichnenderweise Professor der Geschichte an der Militärschule von St. Cyr. Die jungen Offiziere empfangen ihre historischen Ansichten aus seiner Hand. Ludwig Bambergens Ges. Schriften.

L

n

130 Geschichte, so gut wie der Verrat des falschen Ganelon von Mainz. Aber es ist noch nicht so lange her, daß es mög­ lich gewesen wäre, diesen Verhältnissen zu Leibe zu gehen, ohne sich der Gefahr beschämender Geständnisse preis zu geben. Die Wetterscheide beider Zustände bildet einzig und scharf das Jahr 1848. So heilsam, so befruchtend ist alles, was den Namen Freiheit trägt, daß selbst eilt vergänglichster Hauch, ein traumhaftes Vorüber­ ziehen dankenswerte Keime des Guten ausstreut. Vom An­ beginn der neunziger Jahre bis zum ersten Erscheinen einer deutschen Volksvertretung treibt sich das Gebilde der Verschwisterung mit Frankreich in mannigfachen Schattier­

ungen am Rhein herum, und die geschichtliche Untersuchung dieses Phänomens ist nach unserem Erachten mehr als je­ mals heutigen Tages ein anziehendes und lohnendes Stu­ dium. Wie gesagt, ist es aber auch erst in unseren Tagen möglich geworden, diesen Gegenstand in verlautbarer Weise auszugreifen, weil er, von nun an erst aller Anfechtung entrückt, uns nicht mehr der Schmach aussetzt, in deutschen oder gar in fremden Augen den Anschein zu haben, als hielten wir es für notwendig, noch lebendige Abtrünnigkeits­ gelüste zu bekämpfen. Die Vergangenheit ist der Spiegel der Gegenwart. Schauen wir hinein, und wir werden gar zu oft mit Schrecken an dem, was wir waren, erkennen, was wir sind. Der erste Teil unseres Rückblickes wird uns ein Zerrbild deutscher Wehrverfassung vorführen, welches in seinen grö­ beren Zügen uns lebhaft die Schäden entgegenhalten muß, an denen wir noch heute so hilflos herumflicken. Nicht blos werden Zerfahrenheit der Kräfte und Verwahrlosung der Mittel uns an die Sorgen der Gegenwart erinnern. Es werden auch die abenteuerlichsten Bilder eines unglaub­ lich hohlen Selbstvertrauens und eines erbärmlichen Adels-

131 Übermutes uns lehren,

der Siegeszuversicht jenes dünkel­

haften Junkertums zu mißtrauen, welchem deutsche Re­

genten ohne Ausnahme die Führung ihrer Heere in allen Graden und damit die Kraft des Landes überantworteten. Noch weit mehr aber wird es unserer Aufmerksamkeit wert sein, zu beobachten, unter welchen Umständen der Abfall eines Teils der Nation von ihrem eigenen Ich vor sich

gehen konnte, und welcher Weise sie später wieder zu sich selbst zurückgekehrt ist. Nicht die äußersten Gegensätze werden dabei das Merkwürdigste sein, sondern die zwischen­ liegenden Übergänge; und diesen mit dem Auge folgend, werden wir aus dem Prozeß des Erkrankens, mehr noch aus dem Prozeß des Gesundens, die wahren Ursachen natio­ nalen Zerfalls und die Bedingungen nationaler Wieder­ geburt mit Händen greifbar vor uns sehen. Nur Frei­

heit gewährt uns Schutz und Macht. Auf Schritt und Tritt wird dieser Gedanke sich aufdrängen. Wir werden sehen, wie im Anbeginn keinerlei volks­ tümliche Überlieferung der Hinneigung zu einer fremden

Nation vorgearbeitet hat, und wie die unteren Massen teils kalt, teils heftig sich der zugemuteten Umgestaltung entgegenstemmen; wie aber die Kontraste von Freiheit, Auf­ schwung und Macht einerseits, von Botmäßigkeit, Zerfall und Fäulnis andererseits zuerst die besten Köpfe und die edelsten Gemüter der Bevölkerung zum ausländischen Ele­ mente hinziehen; wie von diesen sodann abwärts der herrschende Gedanke sich ausbreitet und Wurzel faßt; wie später, da unter dem Kaisertum das Anziehungsmittel der Freiheit verschwunden ist, der Vorzug einer geläuterten und gesicherten Rechtsverfassung und die politische Gleichheit noch hinreichen, die Hineinbildung in das französische Wesen zu befördern, und wie — abgesehen von jeglichem Inhalte — die äußere Thatsache des Zusammenstehens mit einem 9*

132 großen und gefürchteten Reichskörper noch verführerisch auf den Sinn ehemaliger Unterthanen eines Zwergstaates wirken muß. Wir werden ferner wahrnehmen, nicht nur, wie nach der Wiedervereinigung mit Deutschland dieselben Ursachen noch eine geraume Zeit lang in Erhaltung von Ab- und

Zuneigungen weiterarbeiten, sondern auch vornehmlich wie die undeutsche Gesinnung zuerst unter dem Einfluß der deutschen Kleinstaaterei und aller Folgen des Wiener Kon­ gresses ihre traurigste und abgeschmackteste Gestalt annimmt, indem sich die Mißgeburt des rechtsrheinischen Beamtenservilismus mit der Mißgeburt der linksrheinischen Fran­ zöselei zum Urbild der Charakterlosigkeit zusammenthut. Schließlich werden wir erleben, wie der Sturm von 1848 die Luft von diesen Unreinlichkeiten säubert; wie ein ein­ ziges Jahr halbwegs freier Regung das Nationalgefühl in einer Bevölkerung auferweckt, die unter dem Ekel an dem erbärmlichen Wesen engerer und weiterer Vaterländer dreißig

Jahre und darüber für deutsches Bewußtsein unempfäng­ lich geblieben war; wir werden den Trost erübrigen, daß die unerbittliche und gehässige Reaktion der fünfziger Jahre nicht alle im kurzen Freiheitslenz empfangenen Keime zu ersticken vermocht hat, indem ein guter Ansatz deutschen Nationalsinns zurückgeblieben ist: so zwar, daß — mit vereinzelten Ausnahmen — die lächerlichen Figuren ver­ schwunden sind, die alle Träume von Glück und Triumph in ein französisches Departement verlegt hatten. Der Staatsstreich und das daraus entstandene absolute Kaiser­ tum tragen schließlich das ihrige dazu bei, die alten Ver­

irrungen auszubrennen, denn es war durchschnittlich die Sympathie für französisches Wesen von liberalen Instinkten

ausgegangen, die sich nunmehr mit Entrüstung vom Nach­ barlande abwenden und damit das Bedürfnis politischer Existenz an den natürlichen Quell deutscher Wiedergeburt

133 zurückweisen. So wahr ist es, daß Nationalität und Frei­ heit nur zweierlei Formen einer und derselben Wesen­

heit sind.

Um die ersten Berührungen der französischen — oder

wie man damals sagte — der fränkischen Republik mit dem Kurfürstentum Mainz erschöpfend aufzufassen, müßte man

sich lebhaft versinnlichen können, wie das politische und bürgerliche Leben in einem deutschen Kleinstaate und dazu noch in einem geistlichen des achtzehnten Jahrhunderts be­ schaffen war. Der Rahmen gegenwärtiger Studie erlaubt nicht, sich dieser Schilderung hinzugeben, und dennoch kommt dem raschen Vorübergehen an solcher Aufgabe nicht — wie man zu glauben versucht sein könnte — die Beruhigung zu Hilfe, daß jene Zustände ihrem vorwiegenden Charakter nach als hinreichend bekannt vorausgesetzt werden dürften. Nirgends mehr als bei der Untersuchung staatlicher Miß­ bildungen gilt der Satz, daß nur aus der Beobachtung des Einzelnen die Erkenntnis des Allgemeinen hervorzugehen vermag. Stünde der Politik etwas zu Gebote wie die Re­ torte und das Mikroskop des Physiologen, so wäre kein Streit mehr darüber, ob Freiheit die unerläßliche Be­ dingung der Wohlfahrt sei. Aber mit der Erwerbung dieser Erkenntnis geht es dem Unterdrückten, wie dem Kurz­ sichtigen, der seine Brille vermißt. Um sie zu finden, müßte er vorerst eine Brille auf der Nase haben. Genug, wer sich nicht die ausführliche Schilderung irgend einer Episode des mittelalterlichen Europas (und dies Mittelalter dauert bis zur französischen Revolution) vor die Seele führt, der vergißt, wie rechtlos und elend in jenen Zu­ ständen der gemeine Mann war, wie übermütig beschränkt und pfuscherhaft die herrschenden Klaffen zu Werke gingen,

134 welche ihn bis in seine Nahrung und Kleidung hinein aus­

beuteten und bevormundeten. Hat doch noch heutzutage niemand den deutlichen Einblick in die Masse ökonomischer Verkehrtheiten und Verwüstungen, welche von den deutschen Kleinstaaten an sich selbst und ihren Nächsten begangen werden! An der Spitze unseres Kurfürstentums stand ein von den zwanzig Domkapitularen auf Lebenszeit erwählter ab­ soluter Herrscher. Bei solcher Verfassung konnte die Nicht­ erblichkeit der Allgewalt nur ihre schädliche Seite heraus­

kehren. Die privilegierten Mitglieder des Wahlkörpers sicherten sich bei jeder neuen Ernennung neue Zugeständnisse, und jeder Neuernannte benützte seine Herrschaft, um seine Verwandten und Günstlinge mit fetten Ämtern auszu­ steuern.

Es war dabei um so mehr Eile nötig, als der

Erkorene meistens schon alt ans Ruder kam. Wenn keine Stellen ledig waren, so schuf man das Amt für den Mann. Alles wie in Rom unter den Päpsten. Die ganze soge­ nannte Verwaltung natürlich in den Händen des Adels und der zumeist aus ihm rekrutierten hohen Geistlichkeit. Beide Stände im Genusse von zahlreichen Privilegien, von Ge­ rechtsamen an Land und Leuten, von Zehnten, und über­ dies vollständiger Steuerfreiheit. Zwischen dem Fürsten und den hohen Ständen eine Mittelstufe von ganz oder bei­ nahe souveränen Herrschaftlichkeiten, welche das patrimoniale Zaunkönigtum ins Unendliche hinein fortsetzen und jede das Ihrige zur Plackerei und Tributpflichtigkeit des Volkes mitwirken. Bei Gelegenheit der am 18. März 1793 abge­ gebenen Unabhängigkeitserklärung der ephemeren Rheinischen Republik erfahren wir, daß auf dem Landstreifen von Lan­ dau bis Bingen allein benebst dem Kurfürsten von Mainz noch 24 selbständige Regierungen walteten. Beim Klang jener endlosen Namen entsteigt dem vielgeknechteten Boden

135 vor unsern Augen das ganze Jammerbild der Feudalwirt­

schaft. Da galten noch außer dem Mainzischen die Rechte des Fürsten von Worms, des Fürsten von Speier, der Fürsten von Nassau-Weilburg und Usingen, des Markgrafen von Baden, des Fürsten von Salm, des Wild- und Rheingrafen vom Stein und zu Grumbach, des Fürsten von LeiningenDürkheim, der Grafen von Falkenstein, der Grafen von Leiningen-Westerburg, Dachsburg und Guntersblum, der Grafen von Löwenhaupt und Manderscheid, der Grafen von Wartenberg, Degenfeld, Sickingen, Hallberg, der Freiherren von Dahlberg u. s. w. Wie es uns bei dieser Aufzählung zu Mute ist, so mag es dereinst kommenden Geschlechtern sein, wenn sie die Kontingentenliste der heutigen deutschen Bundesmatrikel überlesen; und sie werden ihre Großeltern bedauern wie wir die unserigen. Zu allen von älterer Zeit überlieferten Mißständen hatte das achtzehnte-Jahrhundert seine kuriosen Eigentüm­ lichkeiten hiuzugefügt, jegliches noch bunter und verderb­ licher gemengt. Die Genußsucht der Mächtigen hatte die Formen des Übermuts und der Verfeinerung von den be­ kannten Vorbildern angenommen, Maitressen waren bei den geistlichen Herren — den Kurfürsten nicht ausgeschlossen — eine gewöhnliche Erscheinung; Freigeisterei, Jlluminaten-, Rosenkreuzer- und Freimaurerwesen durchflochten sich — manchmal in derselben Person und jedenfalls in derselben Regierung — mit Jesuitenherrschaft, Obskurantismus und Verfolgungssucht. Der vorletzte Kurfürst Emmerich Joseph (von Breitenbach) 1763—1774, ein Mann von guten Ab­ sichten und reinen Sitten, unterstützt von seinem wirklich strebsamen und thätigen Kanzler von Benzel hatte unter

dem Einfluß der Basedowschen Neuerungen den Grund zur Umbildung des Schulwesens gelegt, welches bis dahin in den Händen der unwissenden Mönche und Nonnen verrottet

136

war. Aber die Nachwirkungen eines verwahrlosten Volks­ unterrichts sind so schnell nicht zu beseitigen. Die Massen waren bigott und roh geblieben. Die Insassen von nicht weniger als zwanzig Klöstern hatten die Einwohnerschaft gegen die Aufklärungstendenzen fanatisiert, und beim Tode Emmerich Josephs wurde unter erbärmlichen Pöbeldemon­

strationen die Strenggläubigkeit wieder eingesetzt. Um diese Epoche und von ihr an fortwirkend machte sich nämlich eine durch den Klerus von unten aufgewühlte Reaktion gegen die Aufklärungsversuche Luft, denen das Empor­ kommen unserer ersten klassischen Literatur, die Regsamkeit zahlreicher Gelehrten und Publizisten, die Gönnerschaft einzelner bildungsfreundlicher Fürsten und schließlich die

modernisierenden Anwandlungen des Papsttums unter Ganganelli beträchtlichen Nachdruck verliehen hatten. Mit des letzteren famosem Breve Dominus ac Redemptor noster und der darin dekretierten Unterdrückung der Jesuiten (1773) waren endlich auch in Deutschland die Pfaffenfeinde zu einem praktischen Erfolg, aber gleichzeitig auch zu einem Wende­ punkt in ihrem Einfluß gediehen. Der Kurfürst von Mainz war einer der ersten, welche das Breve in Vollzug setzten; aber als die frommen Väter unter einer Kavallerie-Eskorte abzogen, folgte ihnen das Wehegeheul der Weiber, und zu den Fenstern des Schlosses stiegen die Verwünschungen der Dummgläubigen hinauf. Bald darauf starb Emmerich Joseph, und der Nachfolger machte Miene (er mußte es schon, um seine Wahl zu sichern), als Werkzeug jener Reaktion aufzutreten, welche von damals ab, wie im Vorgefühl der kommenden Dinge, jeden neuen Regenten ergriff, dem ein

Aufklärer vorausgegangen war. Karl Friedrich begann in Mainz als Frömmler und Verdammer seines Vorgängers, wie später in Baiern Karl Theodor — innerlich gleich dem Mainzer Karl ein

137 frivoler Weitling — die unter Maximilian Joseph beseitigte geistliche Oberherrschaft wieder einsetzte; wie Leopold von Toscana — sogar ein ehemaliger Lichtfreund — die Erb­ schaft Josephs II. dem Klerus und der Aristokratie wieder in die Hände lieferte; wie endlich Friedrich Wilhelm U. mit seinen Wöllner und Bischofswerder auf dem Grabe Friedrichs des Großen seinen Sabbath aufführte. Überall

Dunkelmänner mit der unzertrennlichen Maitressen- und Luxuswirtschaft als die instinktive Rückwirkung des Mo­ narchismus gegen sich selbst, insofern er in den freigeisterischen Fürsten seiner Natur untreu geworden war. Unser Karl Friedrich (von Erthal) jedoch hatte zum Despoten und Obskuranten kein rechtes Talent. Ob er auch damit begonnen, sich in süßliche Andächtelei zu hüllen, und eine kurze Periode von mystischer Sentimentalität einzuleitem, während welcher die Hofsitte den Ton zu gott­ verzückter Brünstelei zwischen Pfäfflein und Betschwestern angab, so dauerte es doch nicht lange, und es schlug der Wind von oben um. Die Triebfedern des jetzigen Fürsten waren andere als die seines Vorgängers. Lebsucht und Politik zogen ihn aus den Armen der finstern Orthodoxie. Er liebte Prunk, Jagd, Weiber und, zur Vervollständigung des Zeitbildes, freie Lektüre aller Art. Heinse, der Ver­ fasser des Ardinghello, war sein Vorleser. Die Favoritin, Frau von Coudenhoven, rezitierte ihm die Pucelle d'Orleans und die Lettres Persanes. Dies verhinderte nicht, daß in den Reihen der Geistlichkeit die gleichgültigsten Ketzereien blutig verfolgt wurden, während derselben Zeit, daß der Kurfürst den Plan in Ausführung setzte, Mainz zu einer imposanten Universität umzuschaffen. Der früher wegen seiner Freisinnigkeit verabschiedete Benze! ward zurückberufen und zum Kurator der Hochschule ernannt, Berühmtheiten wurden aus ganz Deutschland herbeigezogen, darunter zahl-

138 reiche Protestanten. Erinnern wir nur an die Namen, welche in der deutschen Wissenschaft sich ein bleibendes An­ denken erworben haben, als da sind: Sömmerring, Johannes von Müller, Georg Forster. Die Professoren Blau (Theo­

logie), Vogt (Mathematik — mit seinem noch lebenden be­ rühmten Namensvetter nicht verwandt), Wedekind (Arznei)

und Hofmann (Philosophie), wenn auch keine Größen ersten Ranges, doch ausgezeichnete Gelehrte, werden uns später mehr beschäftigen. Diese bizarre Mischung widerstreitender Elemente deutet in augenfälliger Weise an, daß der Umbildungs-Prozeß, welchem der Ausbruch in Frankreich entsteigen sollte, auch

in das deutsche Nachbarland (und in so manches andere) transpiriert hatte, etwa wie eine Feuchtigkeit, die über den Rand ihres eigentlichen Bodens tritt. Auch machte sich, sobald nur die ersten Geburtswehen der herannahenden Re­ volution fühlbar wurden, das Gesetz geltend, welches in solchen Fällen niemals zu beseitigen ist. Die politischen und sozialen Gegensätze, welche in einer Art von Unschuldsstand nebeneinander gelebt hatten, wurden sich sofort ihrer wechsel­ seitigen Feindseligkeit bewußt. Was die Wurzel seines Daseins im alten Moder fühlte, entbrannte in blindem Eifer gegen die französischen Neuerer und ihre Nachahmer. Ver­ gessen war die bisher dilettantisch betriebene Lichtfreundschaft, vergessen die beliebten Voltaire und Rousseau, vergessen Justinus Febronius und der Emser Kongreß, vergessen der kleindeutsche Fürstenbund (dessen Hauptförderer unser Kur­ fürst gewesen) und von nun an waren Jesuiten, Kaiser, Papst, König und Kurfürst, Alles wieder ein Herz und eine Seele, im instinktiven Haß gegen die Revolution.

139 Sehr bezeichnend hat der General Eikemayer (dessen Meinoiren durch den um die Schilderung jener Epoche so verdienten Heinrich König veröffentlicht worden sind) seiner Beschreibung der Übergabe von Mainz die Erzählung einer „rettenden That" vorausgeschickt, deren Einzelheiten das klassische Urbild des eigentümlichen Reaktionsgenies deutscher Fürsten und Ritter zusammensetzen. Die Geschichte des Lütticher Feldzugs ist ein historisches Museum der Arm­

seligkeit, Feigheit, Barbarei und Ruhmredigkeit, mit welchen eine Reichstruppe zu Gunsten eines beim ersten Schreck aus­

gerissenen Landesfürsten interveniert.

Es ist zum Ver­

wundern, wie der Erzähler — überhaupt ein ganz moderner Mensch — die interessante Seite jener Episode heraus­ gegriffen hat, gleich als ob er mit einer Art zweiten Gesichts die künftigen Wiederholungen ähnlicher Kreuzzüge vorher­ geschaut und seiner Nachwelt das Bleibende im Wechsel deutscher Junkerwirtschaft hätte vors Gewissen halten wollen. Im Jahre 1789 war nämlich — immer mit den Pariser Er­ eignissen im Zusammenhang — der Fürstbischof von Lüttich aus seiner Residenz entwichen, versteht sich, nachdem er Tags vorher den aufrührerischen Bürgern „Alles be­ willigt" und sich im Triumph von ihnen hatte umher tragen lassen, — ob mit oder ohne schwarz-rot-goldene Fahne, verschweigt unser Berichterstatter. Darauf ReichsExekution, um den gesetzlichen Landesherrn zurückznführen. Der Kurfürst von Mainz hatte die Ehre, sein Kontingent

dieser glorreichen Expedition beizugrsellen. Der Feldzug dauerte ein ganzes Jahr vom Frühling 1790 bis 91. Welch' ein Charakterbild vom ersten Anfang bis zum letzten Ende! Wie die Armee von 7000 Mann sich schwerfällig auf ängst­ lichen Umwegen zum Angriff begiebt; wie sie vor einem einzigen Kanonenschuß Reißaus nimmt; wie aber wehrlose Kirchenbesucher von ihr niedergesäbelt werden; wie sie dann,

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zur Erholung, in den Kantonierungen auf echt strafbayrisch*) sich mästet; wie unter kläglichen Vorwänden auf dem Rück­ zug einzelne Häuser niedergebrannt, Weiber und Kinder totgeschossen, Wagen voll unschuldiger mit Ketten beladener Bauern von heroischen Bewaffneten umringt eingebracht werden; wie der Kaiser durch Märzverheißungen die Häupter der Liberalen gewinnt und diese — schwach und geblendet — wiederum ihre Mitbürger zur Niederlegung der Waffen be­ schwatzen; wie darauf die „siegreichen" Truppen in der reaktionären Stadt Verviers sich von den vornehmen Damen mit Lorbeerkränzen und wehenden Taschentüchern empfangen lassen, und wie dann schließlich der nach Mainz zurück­ kehrende adelige Lieutenant seine Heldenthaten im Wirtshaus erzählt und bedauert, daß nicht wütiger gegen die Rebellen gehaust worden sei, — das Alles lebt einem beim Nach­ lesen so unter den Händen, daß man sich beständig fragt, ob denn nicht doch von 1849 statt von 1791 die Rede sei? Im starken Bewußtsein dieser Kriegsthat, trunken von jenem hohlen Übermut, welchen die Aristokratie auf allen Wegen, niemals aber so thöricht wie im Angesicht der großen Revolution, entfaltet hat, beschloß der erhabene Potentat von Mainz, Kriegsherr ganzer dreitausend Mann Soldaten, die französische Nation, welche ihm durch einen außerordent­ lichen Gesandten Frieden und Neutralität hatte anbieten lassen, aus freien Stücken anzugreifen, indem er seine Armee den bereits im Felde stehenden österreichischen Truppen zu Hilfe schickte. Der Grund zu diesem herausfordernden Be­ nehmen muß aber nicht in etwaiger Lehenstreue gegen den Kaiser gesucht werden (denn man kam ja eben erst von der preußischen Fürstenkoalition gegen das Reichsoberhaupt), *) Anspielung auf die im Jahre 1851 nach Hessen von Bundes­

wegen gesandten bayrischen Truppen.

141 sondern in der Beeinträchtigung, welche Karl Friedrich ver­ möge seiner Eigenschaft als Lehensherr einer Hanau-Lichten­ bergischen Landschaft im Elsaß durch die berühmten Dekrete

der Nationalversammlung vom 4. August erfahren zu haben glaubte. Leider vergönnt der Umfang dieser Arbeit nicht, alle die charakteristischen Details wiederzugeben von welchen

jene Demonstrationen begleitet waren, aber ich kann mir nicht versagen, einzuflechten, daß, während der französische

Gesandte oben vom Kurfürsten stolz abgewiesen wurde, unten am Schloß die Emigranten einen Scherenschleifer postiert hatten, der ihre Säbel abzog. Sollte man sagen, daß der Gardelieutenant so wenig ein Urgewächs der Mark Branden­ burg sei? Bei den ausgelassensten Festgelagen versammelte der Kurfürst die Häupter des französischen Adels, den Kaiser Franz II., den König von Preußen, viele deutsche Fürsten nebst dero Gemahlinnen und Kronprinzen zu einem Kongreß gegen die französische Nation; und Mainz, welches im neunten Jahrhundert die falscheil Dekretalen in die Welt gesetzt, im fünfzehnten das Konkordat des Baseler Konzils durch seine Kanzlei zu Gunsten der Päpste gefälscht, im achtzehnten den berüchtigten Bellarmin wieder aufgelegt und im neunzehnten die schwarze Kommission beherbergt hat, kann sich auch rühmen, die Wiege des braunschweigischen Manifestes zu sein. Allda schrieb der wackere Herzog in die Welt hinaus*), daß er Paris der Erde gleich machen werde. Allda aber — das vergaß er dabei, das macht alles gut — hatten auch einige Jahrhunderte früher die ersten Druckerpressen gestanden. Wir können nicht lange verweilen bei den militärischen Vorgängen, welche den kurzen Zeitraum zwischen jenen Sa-

*) Das Manifest ist bekanntlich nicht sein eigenes Werk.

ihm aufgezwungen vom adeligen Gelichter.

Es wurde

142 turnalien einer aufgeblasenen Aristokratie und ihrer kläg­ lichen Demütigung ausfüllen. Da aber einmal die histori­ schen Aufzeichnungen, durch Vorurteil und Bequemlichkeit veranlaßt, uns über alles Soldatische ausführliche Berichte erstatten, so müssen wir einige der letzteren hier aufführen. Auch verfallen wir damit nicht in die Einseitigkeit, deren wir Andere bezichtigen, denn niemals konnte man so sehr über­ zeugt sein, aus dem Einen alles Andere kennen zu lernen. Bedenkt man, daß die vornehmen Herren ihren ganzen Ver­

stand auf das edle Soldatenspiel verlegten, erfährt man andererseits, in welcher Verfassung sich ihr Kriegswesen be­ fand, nachdem sie aus eigenem Antrieb sich in Feindseligkeiten eingelassen, so kann man — gewiß aber nicht ausreichend —

sich vorstellen, wie es mit der bürgerlichen Verwaltung be­ schaffen gewesen sein mag. Was nur jemals die Komik hat erfinden können, um ein Heer von Krähwinkel zu beschreiben, das begegnet uns hier auf Schritt und Tritt. Oben­ erwähnter Armeebestand von 3000 Köpfen erfreute sich des Befehls ganzer zwölf Generale aus den ersten adligen Häusern. Die Thätigkeit des Geniekorps bewährt sich haupt­ sächlich im Gemüsebau auf dem Glacis und in den Gräben der Festung. Daß beim Ausbruch der Feindseligkeiten meistens die Geschütze und die Kugeln durch unverträgliches Kaliber in Mißverständnis mit einander geraten, ist in den

Annalen der Bundesgarnisonen bis auf unsere Tage etwas so Herkömmliches, daß es uns für damalige Zeit nicht be­ fremden darf. Die Kopfzahlen, welche bei der thatsächlichen Kriegführung zur Sprache kommen, bleiben hinter denen zurück, welche heuer eine jede Hofoper beim Wallenstein

oder dem Nordstern zur Disposition hat. Da hören wir von 17 Husaren (ein starkes Drittteil der gesamten kur­ fürstlichen Kavallerie), welche dem anrückenden Feind ent­ gegengeschickt werden; ein andermal von 6 Jägern, welche

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am Rhein postiert bleiben, um den Rückzug aufs rechte Ufer zu sichern (man kann sich denken, mit welchem Er­ folg). Nach dem Gefecht bei Speier (30. September 1792), wo die Mainzer zum erstenmale an der Seite der Kaiser­ lichen im Felde gestanden hatten, verflog das kurfürstliche Heldentum in einem Atemzug. Es waren seine schönsten Leute mit den schönsten Aufschlägen — das gelbe Regiment geheißen, wie in reichen Bauernhäusern das vornehme gelbe Zimmer — welche der erhabene Kriegsherr ausgeschickt hatte, um die lumpigen Republikaner zu Paaren zu treiben, und der sie befehligende Oberst von Winkelmann hatte — mit Braunschweigs Manifest nicht zufrieden — einen eige­ nen Plan ausgedacht, wie man Paris verbrennen möchte, ohne auch nur einen Bewohner entrinnen zu lassen. Jetzt kam die Schreckensbotschaft, und jetzt erst dachte man an ernstliche Verteidigungsanstalten für die wichtigste Reichs­ festung. Natürlich abermals nur eine zweite und verstärkte Auflage von Tölpelei, Fastnachtsspiel und hohler Bär­ beißigkeit, die alles Frühere übertraf. Vor allen Dingen machten sich die hohen Herrschaften, den Kurfürsten an der Spitze, auf die Sohlen. Zu Wagen, zu Roß, selbst mit Ochsengespann, wälzte sich ein Zug von schwerbepackten Mainzer Adligen und französischen Emigranten über die Rheinbrücke nach Frankfurt, Homburg, Darmstadt, Heidel­ berg, Aschaffenburg, Würzburg, immer weiter und immer weiter, getrieben teils vom eigenen Schreck, teils gestoßen von der Angst der hohen Bundesgenossen, die jetzt ein Asyl geben sollten, die aber — vor einer Stunde noch in ge­ meinsamer Angriffswut schnaubend — sich jetzt die kom­ promittierenden Gäste verbaten und an ihren Frieden mit dem Reichsfeind dachten. Alle Schätze und Kleinodien des Staats und der Stadt, alle öffentlichen Kassen wurden in landesväterlicher Umsicht mit weggeführt, damit der zurück-

144 bleibende Bürger nachher allein die Ernährung des Feindes zu tragen habe. So weit ging die Bedachtsamkeit, daß

auch die städtische Waisenkasse „gerettet" wurde. Doch muß den Hofbeamten nachgerühmt werden, daß sie ihre

Anstrengung mehr auf Sicherung der eigenen Habe als auf diejenigen Schloßgerätschaften verwendeten, welche der Souverän nicht selbst hatte mitnehmen können und die um deswillen auch zurückblieben. Nach richtig abgesandter Ba­ gage und im Begriffe, selbst in den Wagen zu steigen, er­ ließ sodann jedweder hohe Beamte einen verzweifelten Auf­ ruf an die braven Bürger in dem noch heute üblichen Guts- und Blutsstyl. Und nun wurde aus allerhand Volks, einigen hundert Mann invaliden Österreichern, einigen kurmainzischen Soldaten, nassauischen und ysenburgischen Kon­ tingenten, Bürgern, Handwerksburschen, Lehrlingen, preußi­ schen Werbefeldwebeln u. s. w. u. s. w. ein Festungsdienst organisiert, der natürlich in Wahrheit nur ein Possenspiel war. Wenn die Jungen aus der Schule kamen, liefen sie nach den Wällen, und die sehr ermüdlichen Artilleristen

riefen ihnen zu: Kommt her, Ihr Buben, helft einmal die Kanon' richten! Das hab' ich mehr als einmal von Augenzeugen er­ zählen hören, und nicht minder jene bekannte Geschichte, wie der Festungskommandant General Freiherr von Gymnich des Vormittags zu Pferde am Neuthor hielt, auf dem Kopf eine baumwollene Nachtmütze und darüber gestülpt den Generalshut, und zu dem versammelten Volke sagte: Seid ruhig, Ihr Burger, forcht Euch nit, ich übergeb die Festung nit, bis mir das Sacktuch hier im Sack brennt; und wie am folgenden Morgen durch dasselbe Neuthor kraft der vom General unterzeichneten Kapitulation die Franzosen einzogen. Gleichermaßen hatte nach der Affaire von Speier der Staatskanzler Albini die Bürgerschaft ver-

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sammelt und zum Sterben oder Siegen angefeuert: als die Nachricht laut wurde, des Herrn Kanzlers Packwagen habe soeben glücklich die Brücke passiert. Beim ersten Alarm­ schuß, dem verabredeten Signal, daß jedermann sich auf seinen Posten begeben solle, hatte das Kontingent des

Fürsten von Nassau-Weilburg für gut befunden, sich aus dem Staube zu machen und in sein engeres Vaterland zu­ rückzukehren. Unter solchen und ähnlichen Karnevalsszenen vergingen etwa 14 Tage. Einmal kam ein besoffener Husar (drei Mann war der ganze Vorposten stark) mit verhängtem Zügel angesprengt und brachte alles in Alarm, ein ander­ mal wurde das Angebot eines preußischen Feldwebels acceptiert, der sich anheischig machte, ganz allein die Franzosen durch eine Kriegslist wegzutreiben. Bis daß der General Cüstine sich vor die Stadt legte und, von den Reichszuständen sattsam durch seine bisherige Er­ fahrung unterrichtet, mittelst einiger drohenden Anstalten und Zuschriften an den Kommandanten die Kapitulation durchsetzte, welche der Garnison freien Abzug bewilligte. (21. Oktober 1792.) So war das linke Rheinufer mit dem Bollwerk des Reichs von einer zusammengerafften, an allem notleidenden Armee von nicht 20 000 Mann ohne Belage­ rungsgeschütz und vor allem ohne tüchtige Führung ge­ nommen worden. Denn Cüstine hatte weder Feldherrngabe, noch Mut, noch jenen revolutionären Schwung, welcher in andern Menschen seiner Zeit manche technischen Fähigkeiten ersetzte. Er blieb den Republikanern stets als Ci - devant verdächtig, erwies sich unzulänglich nach der Einnahme von Mainz bei dem Zusammenstoß in Frankfurt, und noch viel gründlicher bei dem ganzen spätern Feldzug, den er, nebst Beauharnais, in Paris mit seinem Kopfe bezahlen mußte. Was aber mehr als alles unser Augenmerk auf sich ziehen muß, und was wir deshalb so oft hervorgehoben haben, Ludwig Bamberger's Ges. Schriften.

I.

146 das ist der bodenlose Übermut, mit welchem die Fürsten-

und Adelsklique durch Hegung der Emigranten, durch jed­ wede Anfeindung und schließlich durch direkten Angriff selbst den Sturm herauf beschwor, dem sie auf so unbe­ schreiblich jammervolle Art erliegen sollte; nicht ohne vor­ her durch ihr Maulheldentum, durch Guts- und Bluts­ geschrei und Säbelschleifen dem leichtgläubigen Bürger ein albernes Selbstvertrauen eingeredet zu haben. Von Dresden bis München geht eben so manches vor, zu dessen Beurteilung uns jene historischen Exempel dienen sollten, und nicht minder die sehr denkwürdige Thatsache, welche wir hier noch beifügen wollen. Während der kurzen Ver­ handlungen nämlich, welche der Kapitulation vorangingen, ließ der Kurfürst dem feindlichen General Einigungsvor­ schläge auf dem Fuß eines Separatfriedens, respektive eines Neutralitätsversprechens machen. Der General aber war damals nicht in der Lage, einen monarchischen Rheinbund verwenden zu können. Die hastige Schilderung, welche uns bis hierher von den Zeitverhältnissen und Ereignissen unmittelbar vor dem Übergang von Mainz zu geben vergönnt war, könnte — obwohl der Aufgabe im strengsten Sinne fremd — schon aus dem Gesichtspunkt der Analogie älterer und neuerer Zustände als berechtigt erscheinen. Sie war aber hier um so unvermeidlicher, als nur mittelst der ihr zu entnehmen­ den Einsicht die Phänomene zu verstehen und zu beurteilen sind, denen wir jetzt, als dem Mittelpunkt gegenwärtiger Darstellung, uns zuwenden wollen. Während nämlich der offizielle Kurstaat die Emigration beherbergt und seine Theaterblitze gegen die Pariser Rebellen geschmiedet hatte, war in den gebildeten Geistern und besonders im Ge­

lehrtenstande eine Strömung von gerade entgegengesetzter Richtung mächtig geworden.

147 Wir stehen an dem Momente, der uns den urplötz­ lichen Durchbruch einer unglaublich heftigen, entschiedenen, mächtig neuen Sinnesart enthüllt. Nichts Eigentümlicheres, als die von Kopf bis zu den Füßen gerüstete Schlagfertig­ keit, mit welcher die edelsten Bestandteile der kurmainzi-

schen Unterthanen — und darunter eine auffallend große Anzahl kurmainzischer Beamten — sich in Jakobiner und ihren kleinen Staat in eine Kolonie der französischen Re­ publik verwandeln. Vieles begreift sich dabei allerdings aus der Zauberkraft, welche in ihrer Heroenzeit die Pariser Revolution auf begeisterungsfähige Menschen ausüben mußte; Vieles begreift sich aus dem kosmopolitischen und darum so nachahmungslustigen Naturell des Deutschen. Aber nichts­ destoweniger glich die ganze Erscheinung an Inhalt und Gewaltigkeit einem vulkanischen Ausbruch und erklärt sich daher zureichend nur demjenigen, welcher beschaut, was vorher unter der Oberfläche sich begeben; wie so lange schon die mannigfaltigsten Schichtungen sich unterirdisch durcheinandergelagert und in gärendem Zusammenstoß einer Eruption zugearbeitet hatten. Es waren damals, wie sie es heute noch sind, Deutschlands Ehre und Deutsch­ lands Schmach dieselben: sein staatliches Rüstzeug unbrauch­ bar und rostzerfressen, sein Ideengehalt reif und großartig. Neben dem offiziellen Deutschland, welches, wie der General Gymnich, eine baumwollene Nachtmütze und darüber einen Dreimaster trug, den ellenlangen Zopf nicht zu vergessen, gab es ein gebildetes, angeregtes, modernes Deutschland, dessen klassische Litteratur seit zwanzig Jahren in mäch­ tigster Entfaltung begriffen und schier auf ihrer Höhe an­ gekommen war. Lessing und Kant waren mit ihrer Voll­ kraft durchgedrungen und neben ihnen die zahlreiche Schaar der so bedeutenden Zeitgenossen, deren Namen bei Nen­ nung jener beiden von selbst in unserem Andenken herauf« io*

148 kommen. Schiller und Goethe hatten ihre Weltherrschaft mit leuchtender Herrlichkeit angetreten. Dichterbünde, Ge­ lehrtenvereine, Zeitschriften hatten die Geister in lebhafte Wechselwirkung gebracht, und selbst das politische Bedürfnis hatte in einzelnen Organen, wie vor allen in Schlözers Staatsanzeigen sich lebendiger Befriedigung zu erfreuen gehabt. Während auf diese Weise das geistige Leben von den ernstesten Grundlagen aufwärts sich jugendlich empor­ gerungen, hatte der einmal aufgeregte Bildungs- und

Neuerungstrieb in vielfältigen, mehr oder weniger dilettan­ tischen Formen die größeren Massen in das Problem des Jahrhunderts hineingezogen. Wir haben bereits oben auf die Rolle hingedeutet, welche die humanistische Aufklärungs­ und Geheimbündelei bei der Vorbereitung des uns be­ schäftigenden Umschwungs gespielt haben. Sie hatten den Klubgeist eingeübt; sie hatten sozusagen zu der revolutio­ nären Gymnastik erzogen, während von der Philosophie und Litteratur die stoffgebende Nahrung aufgespeichert worden war. So fanden sich Form und Inhalt vorbereitet. Daß aber die Sachen, einmal so weit fertig, das französische Gewand annahmen, das würde sich schon hinreichend aus der verführerischen Leichtigkeit erklären, mit welcher die Umstände dasselbe herbeitrugen. In der That, so gewiß der Versuch dieser deutschen Wiedergeburt in französischer Gestalt ein Irrtum war, so gewiß war der Irrtum damals verzeihlich. Vergessen wir nicht, daß die ganze Nationali­ tätsfrage erst in unserm Jahrhundert Gegenstand des all­ gemeinen Nachdenkens geworden ist; und wie ungeweckt der nationale Instinkt auf dem Herzensgründe jener Deutschen schlafen mußte, welche seit Jahrhunderten halb dem Bischof von Mainz, halb etwa dem Grafen von Salm und Stein und so gut wie nicht dem Schattenkaiser angehörten. Über­ sehen wir nicht, wie die, welche hernach 'gern in der Not

149 des Augenblicks ein Deutschtum heraufbeschworen hätten, die Fürsten und Adeligen nämlich, selbst am meisten der

französischen Propaganda vorgearbeitet hatten. Denn was und wer hatte sich der französischen Art in den vornehmen Zirkeln entzogen? Der größte deutsche Regent dachte in der Sprache Voltaires, wie die kleinste gräfliche Maitresse im Stile der Dubarry lebte. Die gesamte Aufklärungs­ litteratur war von jenseits des Rheins herübergedrungen, und schließlich hatte der so vorwiegend humanistische Beruf des Jahrhunderts mit Recht die allgemeine Erlösungsauf­ gabe so sehr in den Vordergrund geschoben, daß über der Arbeit an den Menschenrechten die Arbeit an den Bürger­ rechten zurückgestellt werden mußte. Was heute wie Ab­ straktion aussieht, war damals eine sehr konkrete Kraft. Viel ausgesprochener aber noch als in der Gemein­ schaft der universellen Aufklärung hatten sich deutsches und französisches Wesen in jenen der Epoche eigentüm­ lichen Verbrüderungen gemengt, deren mächtigste die Frei­ maurerei war. Die herrschenden deutschen Logen standen unter französischem Einfluß und zeitweise unter direkter

französischer Leitung. Was Wunder also, wenn das revolutionäre Frank­ reich nur die Arme ausbreiten durfte, damit sich die der mittelalterlichen Hudelei entwachsenen Deutschen hinein­ stürzten? Denke man sich Menschen, entzündet vom Feuer der Wissenschaft und Freiheit, die noch von den Jesuiten als Neuerer verfolgt wurden, weil sie etwa Bürger statt Burger oder „an Gott" statt „in Gott glauben" zu schreiben wagten, oder auch weil sie das + in der Mathematik pro­ fanierten; versinnliche man sich, welchen Ekel und welche Ungeduld die falstaffische Verteidigungswirtschaft in ihnen zu allem bereits Vorhandenen aufgehäuft haben mußte: und man wird sich deutlich vorstellen können, wie es im

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gebildetsten Teile der Einwohner aussah, während die kur­ fürstlichen Truppen bei der ersten Annäherung des Feindes die Außenwerke ohne Widerstandsversuch räumten und mit ihren harmlosen Kanonen auf den inneren Schanzen ru­ morten, alles Herrschaftliche aber in wilder Flucht davon

rannte. Eben war der preußische Feldzug in der Cham­ pagne, so übermütig begonnen, aufs Kläglichste zu Ende ge­ gangen. Am 12. Oktober halte Verdun, am 18. Longwy

den Franzosen übergeben werden müssen. Am selbigen Tag begann Cüstine die engere Einschließung von Mainz. Worms war acht Tage früher ohne Schwertstreich in seine Hände ge­ fallen. Drei Tage darauf war alles fertig, und die Fran­

zosen rückten in die Stadt ein. Wie immer nach einer Niederlage durch eigene Un­ fähigkeit, schrie die kurfürstliche Partei hinterher über Verrat. Der Major Eikemayer sollte dem Kommandanten erst über­ triebene Angst eingeflößt und dann den Kriegsrat zur Übergabe beschwatzt haben. Eikemayer hat sich von dieser

schon in sich thörichten Anklage vollständig gereinigt und für wen, der mit uns einen Blick auf die Zustände geworfen, bedarf es erst noch des Beweises, daß für die etwaigen Franzosenfreunde in der Stadt jede Verratsanstrengung der purste Luxus gewesen wäre, und daß niemand, sollte er auch Lust verspürt haben, die Zeit gefunden hätte, zum Verräter zu werden? Ob Cüstine durch gleichgesinnte Mainzer von der Widerstandsunfähigkeit der Festung unter­ richtet worden oder nicht, ist, praktisch wie psychologisch be­ trachtet, ganz gleichgültig. Hauptsache bleibt, daß weder kalte noch glühende Kugeln, weder Bajonett noch Hunger an den General Gymnich herandrangen, sondern daß zwei bär­ beißige Briefe Cüstines, in welchen dieser den Jakobinischen Wauwau machte, hinreichten, dem gemütlichen Kommandanten alle Verteidigungslust zu benehmen.

151 Am 21. Oktober 1792 waren die Franzosen eingerückt, am 23. bereits ward ein Klub unter dem Namen „Gesell­ schaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit" im Akademie­ saale, des kurfürstlichen Schlosses eingeweiht. Kein Fremder

hatte die Hand dabei im Spiele, die Sommitäten der Mainzer Bevölkerung hatten auf ganz eigene Faust die Sache ins Werk gesetzt. Sie waren längst geschult in allem, was nach Pariser Muster dazu erheischt wurde. Es be­ durfte nur des Dekorationswechsels, damit die schon seit mehreren Zähren bestehende Lesegesellschaft sich in einen demokratischen Klub verwandelte. Vergebens hatte in der

letzten Zeit die Zensur die französischen Zeitungen und Flugschriften fern zu halten, vergebens hatten die emigrierten Adligen sich einzuschwärzen gesucht. Die Augen hingen an Paris, die Herzen an der Revolution. Eines Morgens schon ein Jahr zuvor hatte man in den Straßen der Stadt die Emigranten einander triumphierend in die Arme stürzen sehen. Es war die Nachricht eingetroffen, Ludwig XVI. sei aus Paris entronnen. Des Abends füllte die festlich gestimmte Adelsschaar die Logen des kurfürstlichen Theaters. Plötzlich bricht das Parterre in brausenden Jubel aus. Was ist geschehen? Die Kunde ist eingetroffen, daß Ludwig in Varennes gefangen in die Hauptstadt zurückgebracht worden: entsetzt verschwindet die vornehme Welt aus den Logen. Das geschah schon unter kurfürstlichem Scepter. Was Wunder also, daß unter dem Bürger-General der neu­ fränkischen Republik im Nu ein kleines Paris erstand? Freilich mischte sich unreife Selbgefälligkeit in den Eifer, mit welchem der revolutionäre Apparat aufgerichtet wurde. Man hatte sein Paris studiert und wollte zeigen, daß man dessen Grundsätze, Formen und Sprache vollständig los hatte. Aber sei man deshalb nicht ungerecht, und glaube, es sei nur äffische Nachahmungseitelkeit im Spiele gewesen.

152 Zeit und Menschen waren jugendlich, alles war so neu, so

unverbraucht, so unerprobt; denke man, welchen Zauber die pathetischen Formen noch heute auf unser erfahrungssattes,

nüchternes Geschlecht im gegebenen Augenblick zu üben ver­ mögen, und berechne man, wie sie damals packen mußten im Moment des grellsten Übergangs und der in Wahrheit inhaltreichen Begeisterung! Wie theoretisch rein und rein theoretisch die Triebfedern der ganzen Bewegung waren, erhellt am unzweifelhaftesten aus dem Umstande, daß die

Gelehrten aller Gattung und unter ihnen die ausgezeichnetsten an der Spitze standen. Wir haben Forster genannt; Gervinus

und Schlosser, gewiß zwei unverdächtige Zeugen, entheben uns der Mühe, seine Rettung zu unternehmen. Neben ihm stehen Andreas Hofmann, Professor der Philosophie, erst vor wenigen Jahren gestorben und bis zum letzten Augen­ blick seines hochbetagten Lebens ungebändigt in seinem starken ewigtreuen Freiheitssinn; Blau, Vorsteher des Seminars und erster Professor der Theologie, der liebenswürdigste, humanste Charakter aus jener Gruppe, den selbst die pöbel­ haftesten Gegner nicht zu verdächtigen wagen; Wedekind, Leibarzt des Kurfürsten und Professor der Medizin, später Oberarzt der französischen Armee, der regsamste und feurigste der Klubbisten, der Haupt-Redner und Journalist, überall gegenwärtig und zu allem geschickt; ihm ähnlich Metternich, Professor der Mathematik; Enthusiasten von leichterer Art; der Gymnasiallehrer Böhmer aus Worms und der ehemalige Mainzer Kanonikus Dorsch; sodann noch der Professor Vogt, der Hofgerichtsrat Hartmann und der edle Enthusiast Adam Lux, den ein Jahr darauf der Anblick der Pariser Blutwirtschaft zur Verzweiflung an seinem Freiheits­ ideale, zum Selbstmordsversuch und schließlich auf die Guillotine brachte, nachdem er absichtlich unter den Augen ihrer Richter die That der enthaupteten Charlotte Cvrday

153 Die wenigsten der genannten Männer waren geborene Mainzer. Lux gehörte zu diesen wenigen. Sein Vater trieb Landwirtschaft auf dem rechtsrheinischen Dorfe Kostheim bei Mainz. Er selbst hatte allda studiert. Die große Mehrzahl unserer deutschen Jakobiner gehörte zu den vom Kurfürsten aus andern deutschen Landen herbei­ gezogenen Universitätslehrern, zu ihren Schülern, den Studenten und zu den Beamten. Die profunde, man möchte sagen: wissenschaftliche Begeisterung, welche bei der ganzen Entpuppung obwaltete, liegt nicht in dem Charakter des Rheinländers. Er konnte sich mit seiner Beweg­ lichkeit und Anstelligkeit rasch in das neue Wesen hinein­ finden, auch dafür Feuer fangen, aber es Jahre lang aus der Ferne studieren, verfolgen, theoretisch anbeten, das war seine Sache nicht. Daher dominieren in der ganzen Be­ verherrlicht hatte.

wegung die deutschen Ausländer, dabei sehr viele Nord­ deutsche und Protestanten. Der Kern der Bürgerschaft, die Kaufleute, die Gewerke sträubten sich bis zum Ende der ersten Okkupation gegen die Französierung, vertraten den Stabilismus; um so begreiflicher, als Innungen und Zunft­ bann sie zu Bevorrechteten gemacht hatten, welchen die neue Ordnung zu nahe kam. Die „Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit" ward nun der Mittelpunkt des politischen Lebens, welches in jugendlicher Üppigkeit nach

allen Seiten hin Blätter, Blüten und auch viel Unkraut trieb. Beinah täglich Versammlungen im großen Akademie­ saale des kurfürstlichen Schlosses. Reden ohne Zahl und ohne Ende, meistens im Brutus- und Cassius-Stil der französischen Vorbilder. Selbst Forster, der oft präsidierte, obwohl in seinen Reisen und Briefen so wahr und liebens­ würdig, widersteht nicht der schlechten Mode pausbackiger Deklamation und universeller Überschwänglichkeit, nicht bloß

im Fluß der Rede,

sondern auch

in seinen zahlreichen

154 schriftlichen Veröffentlichungen, denn neben dem Klubwesen hatte sich alsbald auch eine lebhafte publizistische Thätigkeit entfaltet. Es regnete Journale, Wochenschriften, Brochüren. Wedekind, das wahre revolutionäre Faktotum, gab unter

Forsters lebhafter Mitwirkung in unregelmäßigen Heften den „Patrioten" heraus. Wenn uns heute schon die ihrer Zeit effektvollsten Reden der berühmten Konvents-Mitglieder bombastisch und unverdaulich im Magen liegen bleiben, so darf man sich nicht wundern, auch an den Ergehungen des „Patrioten", mögen sie nun von Forster oder von andern herrühren, keinen Gefallen finden zu können. Doch begegnet uns hie und da auch echter philosophischer Ernst und philo­ sophischer Gehalt; freilich mehr Rousseau als Kant, wie es eben natürlich und nützlich war. Von Gedichten ein un­ durchdringlicher Urwald. Drei verschiedene Übertragungen

des Marseiller Marsches; auch das deutsche 9a ira fehlt nicht. Um nicht hinter dem Pere Duchesne zurückzubleiben, erschien ein Almanach des Titels: „Vater Gerhard," eine Art von demokratischem Katechismus, in welchem die Haupt­ artikel der Freiheit und Gleichheit im Campeschen Dialog­ stil behandelt sind. Sehr bezeichnend für den naivradikalen Geist der Epoche ist eine ausführliche Anfrage der deutschen und holländischen Herrnhuter an den Bürger Anacharsis Cloots, des Endzwecks, sich von ihm in authentischer Weise über einige revolutionäre Dogmen beruhigen zu lassen, welche mit dem Bekenntnis ihrer Sekte in Widerspruch zu stehen schienen. Ein Auszug der französischen Verfassung erschien in fünftausend Exemplaren auf Betreiben und im Verlag eines der reaktionären Chronik besonders anstößigen Demagogen mit Namen Friedrich Cotta, „Sohn eines in Deutschland allgemein bekannten Nachdruckers," setzt unser boshafter Historiker hinzu. Auch das Theater blieb nicht müßig. Es sind uns Muster aufbewahrt geblieben. Halb

155 im pathetischen Ton der Zeit, halb im Platten Lokalstil,

lassen Stücke, wie: „Der Aristokrat in der Klemme, — die Despoten auf dem Lande, — die Aristokraten in Deutsch­ land" schon aus ihrem Titel erraten, daß sie hauptsächlich zum Gegenstand haben, die naive Entrüstung der höhern Stände über die neu proklamierten Menschenrechte zu schildern, welche ihnen im Kathederton von großherzigen Volksftguren beigebracht werden*). Endlich damit nichts fehle, hatte sich neben der Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit auch ein echter, sich so nennender Jakobinerklub gebildet und nach Abwicklung einer heißblütigen Korrespondenz mit dem Vorstande des Pariser Mutterklubs sich von dem

letzteren als integrierenden Bestandteil affinieren lassen. Neben ihm aber und zur letzten Vervollständigung des Zeit­ bildes gab es auch eine sich so bezeichnende Partei der „Feuillants" unter den Mainzer „Patrioten". Wie in der Mannigfaltigkeit der Formulierung, so in der Unerschrocken­ heit des Denkens wurde mit dem französischen Urbild ge­ wetteifert. Während die kurfürstlich Gesinnten mit Sicher­ heit darauf rechneten, daß die französische Garnison bei der Nachricht von der Enthauptung Ludwig's XVI. in Meuterei ausbrechen würde, feierte der Klub dies Todtenopfer mit allen erdenklichen Beifallsdemonstrationen, und ein gewisser Teuer hielt eine Rede zur Widerlegung derjenigen, welche de Svze, Ludwigs Verteidiger, vor dem Konvent gehalten hatte. Daß es bei dieser Verfassung der Köpfe nicht an *) Der Verfasser dieser zahlreichen Komödien ist beinah ausschließ­

lich der Maler Niklas Müller, erst vor einigen Jahren gestorben und bis dahin eine

dem Mainzer

encyklopädistischer

haltend.

bekannte

Vorurteilslosigkeit

Figur,

treu

in bis

altdeutscher in

Derbheit und

sein hohes Alter aus­

Er war zuletzt Zeichenlehrer am Gymnasium,

und

ich bewahre

ihm, wie wohl jeder seiner Schüler, nebst mancher andern guten Erinnerung,

auch die an seine höchst massiven und radikalen Handgreiflichkeiten.

156 symbolischen Auftritten mangelte, läßt sich bei der Richtung der Zeit und bei dem Charakter der zu dergleichen Ver­

anstaltungen besonders geschickten und eifrigen Bevölkerung erwarten. Insonderheit das Pflanzen der Freiheitsbäume gab den willkommensten Anlaß zu Feierlichkeiten. Heben wir einige der bezeichnendsten Figuren aus dem Zug hervor, welcher am 13. Januar 1793 den größten dieser Bäume nach dem Marktplatz führte. Burlesk, wie sie uns er­ scheinen, versinnlichen sie uns doch lebendiger als jede andere

Erzählung den Geist der Zeit und des Orts. Also hinter zahlreichen Trommlern und Tambourmajors schritt einher der Studiosus der Medizin Staudinger in französischer Nationalgardenuniform, die rote Mütze auf dem Kopf, und auf der Brust das für den Freiheitsbaum bestimmte Schild, mit der Aufschrift: „Vorübergehende, dieses Land ist frei, Tod demjenigen, der es anzugreisen wagt." Nach der

Musik, welche die Marseillaise spielte, nach dem General Cüstine, flankiert von zwei Bürgern mit Piken, folgten fünf Sklaven mit blechernen Ketten beladen: sie trugen aus Pappe und Goldpapier angefertigt Krone, Scepter, Reichs­ apfel, Kurhut und ein Adelsdiplom als Insignien des Des­ potismus. Unter den Klubbisten, welche die Bänder-Enden des Freiheitsbaumes hielten, befand sich auch der Pfarrer

Rumpel von der Kirche zum heiligen Geist. Es fehlte da so wenig, wie in Frankreich, an geistlichen Jakobinern. (Hat doch der deutsche Klerus einen der merkwürdigsten Terroristen geliefert in der Person des Eulogius Schneider, Hofpredigers zu Stuttgart, Verehrers der griechischen Klassizi­ tät, Übersetzers des heitern Anakreon und schließlich elsässischen

Wüterichs.) Auf einem inmitten des Marktes errichteten Altare brannte ein Opferfeuer, in welches Cüstine den Adelsbrief und die anderen Embleme warf. Mit diesem unblutigen Autodafe schloß das Schauspiel. Aber der Ernst

157 und die Konflikte der Wirklichkeit sollten nicht ausbleiben.

Was so leicht gewonnen worden, war doch schwieriger zu behaupten. Wie alle Eroberer, war auch Cüstine mit der Erklärung einmarschiert, daß er nicht erobern wolle. Die Bewohner des Rheinufers sollten nur sich selbst angehören, einer Freiheit auf eigne Faust genießen. Eben so falsch gemeint, wie unmöglich auszuführen. Die deutschen Heere standen an den Thoren von Mainz. Cüstine hatte Frank­ furt nicht länger behaupten können, als um eine halbe Million zu erpressen. In dem kleinen Freistaat, trotz seiner steifen

Reichsperücke,

war

doch

mehr

selbständiger und

nationaler Sinn möglich geblieben als bei den geplagten Unterthanen der geistlichen Monarchie. Als die Preußen wieder bis dicht an das rechte Rheinufer vorgedrungen waren, fühlte sich die antifranzösische Partei in Mainz er­ mutigt. Die Deutschgesinnten sorgten dafür, den Glauben an die baldige Wiedereroberung der Stadt zu verbreiten

und besonders die Furcht vor der schrecklichen Rache, welche jeglichem franzosenfreundlichen Menschen im voraus seitens des Königs von Preußen angedroht war. Dieser durfte man sich in solcher Voraussetzung allerdings versehen. Frühere Erfahrungen hatten es gelehrt, spätere bestätigten es. Der Widerstand, welchem die Umgestaltung aller Dinge im Innern der Stadt begegnete, ward bald stärker, als man anfangs hätte erwarten können. Cüstine erließ eine Proklamation über die andere gegen die Möglichkeit seiner Vertreibung aus der Sradt, ja er befahl, ans den öffentlichen Plätzen Galgen zu errichten, an welchen man die preußischen Alarmisten aufknüpfen möchte. Doch kam es im ganzen Verlauf der Dinge im Mainzer Lande zu keiner politischen Hinrichtung, etwa den einzigen Fall aus­ genommen, daß während der Belagerung ein französischer

Emigrant ertappt und erschossen wurde.

Der Konvent selbst

158 schickte von seinen fähigsten und thatkräftigsten Leuten in das neue Besitztum, dessen strategische Wichtigkeit, vom Mehrer des Reichs so leichtsinnig preisgegeben, dieselben alsbald vortrefflich begriffen. Es hatte ohne Zweifel eine wohlberechnete Absicht bei der Wahl dieser Kommissarien ob­ gewaltet, die alle deutscher Herkunft waren. Reubell und Hausmann waren Elsässer, Merlin von Thionville (Diedenhofen) war in dem sogenannten französischen Luxemburg geboren, das nach der Schlacht bei Rocroy vom Reiche losgelöst worden. Zu ihnen gesellte sich bald noch ein Elsässer, der General Kleber. Allen war im Laufe der Ereignisse noch eine ansehnliche Rolle Vorbehalten. Die Ultra-Gallier unter den rheinlüsternen Franzosen berufen

sich bis heute auf den patriotischen Eifer, welchen die Ein­ wohner des Elsasses bei jeder Gelegenheit bewiesen haben. Sie wollen damit den Beleg liefern, daß die Raffen-Gemein­ schaft trotz der Sprachverschiedenheit bis an die Ufer des

Stroms reiche. Aber wir könnten, wenn es nicht ein schimpfliches Argument wäre, ihnen entgegenhalten, daß nichts mehr den deutschen Ursprung verrate als diese Be­ geisterungsfähigkeit für die Fremde; wir können weiter aus der unleugbaren Thatsache jener elsässischen Anhänglichkeit an Frankreich absehen, welcher energischen und intelligenten Vaterlandsliebe die südwestdeutschen Naturen fähig wären, wenn ihnen einmal ein besseres Geschick ein politisches und

respektables deutsches Vaterland angedeihen ließe. Die ersten Versuche gegen die alten Einrichtungen hielten sich ziemlich schüchtern. Der Lehrstand hatte die Revolution gewollt, der Nährstand fühlte weniger Neigung zu ihr und hatte schnell das wenige, wie immer bei den ersten materiellen Prüfungen, eingebüßt. Der König von Preußen hatte den Mainzern den Besuch der Frankfurter Messe verboten, aus welcher der ganze Kleinhandel sich

159 alimentierte.

Die meisten Fahrzeuge der Schifferkorporation

waren in St. Goar festgehalten worden. Die Zünfte und Gewerke, ihrem Geist und ihrem Instinkt nach, hielten zum Alten, erklärten, nicht vom Reich und seiner Verfassung lassen zu wollen. „Giebt es etwas Wahnsinnigeres", sagt einer unserer Geschichtschreiber, „als daß man einem jeden er­ lauben will, ein Handwerk auszuüben, welches er sich aus­ wählt?" Die Metzger besouders blieben gut kurfürstlich, was auf bedeutenden Verfall der Fasten-Observanz unter den geistlichen Herren hindeutet. In jenen ersten Zeiten sahen sich daher die Neuerer bemüßigt, den Zünften ihren

Fortbestand zuzusichern, um ihre Gegnerschaft zu besänftigen. Später, als es während der Belagerung zu gewaltsamen Konflikten kam, wurden die Zünfte dann förmlich aufgehoben. Während die französischen Behörden so provisorisch mit den verschiedenen Klassen und Beamten-Kollegien zu vereinbaren suchten, arbeitete der von ihnen geleitete Klub oder die Ge­ sellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit einer viel radikaleren Umbildung zu. Er sprach gegen alle Bürger die Erwartung aus, daß sie sich ausdrücklich für oder gegen die demokratischen Grundsätze erklären sollten, und, immer

in derselben kindisch feierlichen Manier der Zeit, geriet man auf den närrischen Einfall, zwei große Bücher aufzu­ legen, in welche sich jeder nach seiner Gesinnung einzu­ schreiben hätte. Das Buch der Freiheit war stattlich in Rot gebunden, das der Sklaverei in Schwarz und mit schweren Ketten und Klammern beladen. In letzteres schrieb sich natürlich niemand ein, aber auch in das rote verfingen sich, wenn wir den meisten Erzählern glauben, trotz wieder­ holter Aufforderungen, nur einige Hundert Namen.

Man

hatte besouders und wohlweislich Angst, den deutschen Prügelstöcken mit dieser Liste künftig den Weg der Rache

zu bezeichne».

Nach allen diesen fruchtlosen Versuchen, eine

160 spontane Bewegung hervorznrufen, mußten sich endlich die französischen Delegierten, zu denen inzwischen zwei neue, Simon und Gregoire, gekommen waren, entschließen, die

Sache in entscheidender Weise in

die Hand

zu nehmen.

Es wurden Wahlen zu einer förmlichen Konstituante aus­ geschrieben, welche die Geschicke der kleinen rheinischen Re­

publik in definitiver Weise ordnen, respektive unbezweifelbar den Anschluß an Frankreich aussprechen sollte. Um aber wählen zu können, mußte man nach mehreren Konvents­ dekreten vom Dezember 1793 einen Freiheits- und Gleich­

heits-Eid ablegen, welcher zugleich die Formel der Ab­ schwörung von aller sonstigen Unterthanschaft, sowie von allen Privilegien und Sonder-Rechten enthielt. Die Eintreibung dieses Eides ward nun der Mittelpunkt der gouvernementalen Agitation. Die auf den 24. Februar ausgeschriebenen Urwähler-Versammlungen gaben den Vorwand ab. Es er­ schienen Dekrete auf Dekrete, ihr nach und nach sich stei­

gernder gereizter Ton verrät, daß es mit dem Schwören schlecht voran ging. Namentlich auf dem flachen Lande hatten die zahlreichen französischen Apostel ihre liebe Not. Nous municipalisons ä force, schreibt Merlin nach Hause, ohne sich der geringsten Illusion hinzugeben, und welcher

Art die Begeisterung war, auf die er glaubte rechnen zu dürfen, wird aus einem Erlaß anschaulich, in welchem zur Belehrung der Eidverweigerer feierlich beteuert wird: es sei nicht wahr, daß, wie man ausgesprengt habe, der Frei­ heitsschwur die Verpflichtung zum Kriegsdienst für die Republik nach sich ziehe. Auch das half nicht viel, wie

es scheint: die Zünfte, die Geistlichkeit und die Dikasterien bestürmten die Kommissare mit Vorstellungen um Rücknahme der Eidesdekretierung. Der ungestüme Merlin wurde un­ geduldig, und vom Bitten wurde zum Drohen, vom Drohen zum Ausführen geschritten, besonders in dem Maße, als

161

die Kriegsgefahr näher rückte. Güter-Kvusiskation und Austreibung wurden über die Nonjurors verhängt, zumal, wie wir weiter unten sehen werden, als die nachmals eng-

eingeschlossene und ausgehungerte Stadt in der Verfolgung zugleich eine Erleichterung suchte. Einstweilen waren die Urwahlen zur Ernennung der Deputierten, Beamten und Richter mit größerem oder geringerem Anhang abgehalten worden, und am 17. März 1793 konstituierte sich „der Konvent der Rheinisch-Deutschen Republik der Volker von Landau bis Bingen." Er hielt seine Sitzungen im Rittersale des Deutschen OrdeuS-Hauses, schlechthin das „Deutsche Haus" genannt. Die Zahl der Deputierten war sechszig. Hofmann wurde zum Präsidenten, Forster zum Vizepräsidenten erwählt. Als Geschäftsordnung wurde kurzweg die des Pariser Konvents angenommen.

Eines der ersten Dekrete verfügte, „daß jeder, welcher in diese nun frei gewordene deutsche Provinz kommen würde, um etwas mehr als Bürger sein zu wollen, mit dem Tode gestraft werden solle." Am dritten Sitzungstage endlich begann die

entscheidende Beratung über die drei Grund­

fragen: Soll Mainz mit dem ganzen linken Rheinufer eine für sich allein bestehende Republik ausmachen? Soll die neue Republik durch ein Bündnis mit Frankreich sich unter den Schutz dieser' großen Republik begeben? oder endlich soll die neue Republik Frankreich bitten, daß es diesen rheinisch-deutschen Staat mit sich vereinige? Nach zweitägiger heißer, aber nicht hitziger Debatte, denn alle waren derselben Meinung, wurde einstimmig beschlossen, wie folgt: „daß das rheinisch-deutsche Volk die Einverleibung in die fränkische Republik wolle und bei derselben darum an­

halte, und daß zu diesem Ende eine Deputation aus der Mitte dieses rheinisch-deutschen Nationalkonvents ernannt werden solle, um dessen Wunsch dem französischen Konvente ßubivtg Bamberger's Ges. Schriften.

I.

11

162 vorzutragen." Die Mission wurde den drei Abgeordneten Georg Forster, Adam Lux und Kaufmann Patocki auf­ getragen. Die Schicksale der beiden erstgenannten sind be­ kannt*). Beide liegen in Paris begraben, beide haben den Ernst, die Heiligkeit ihrer idealen Überzeugung mit ihrem Tode besiegelt. Ihr Wesen, erfüllt von deutsch-theoretischer, sanft-gebildeter Freiheitsliebe, ward vom Anblick der eisen­

herzigen brutalen Revolution zerschmettert. Ihre Zeugen­ schaft reicht aber auch hin, die ganze Episode, deren besten Aus­ druck sie darstellen, von dem Verdachte eines hohlen Possen­ spiels zu reinigen. Zahlreiche andere, im Dunkel gebliebene Opfer haben nicht minder ihr Leben für dieselbe, ehrlich gemeinte, aber falsch angelegte Sache hingegeben. Dem Mainzer Konvente war kein langes Leben Vor­ behalten. Die alsbald sich dicht herandrängenden Kriegs­ begebenheiten schoben alles andere in den Hintergrund. Am 30. März hielt er seine letzte Sitzung.

Cüstine und

seine Generale hatten den Krieg rheinabwärts lau und un­ geschickt betrieben. Ende desselben Monats März hatten sie nach einem erbärmlichen Widerstandsversuch den Preußen die Nahe-Linie, Bingen und Kreuznach überlassen. Preußen, Sachsen und Hessen hatten sich schon bis dicht um Kastel

zusammengezogen. Cüstine, ebenso leicht demoralisiert wie übermütig, mehr auf die Erhaltung seiner Verbindung mit Frankreich, als auf die Behauptung des Rheins bedacht, retirierte nach dem Elsaß hin, dem General Dohrs den Oberfehl von Mainz überlassend. Ein Teil des Cüstineschen Korps aber konnte den Rückzug nicht durchsetzen, denn er stieß oberhalb Mainz auf den Feind und mußte nolens volens in die Festung zurückkehren, deren Mannschaft da­ durch auf ungefähr 22 000 Köpfe gebracht wurde. Im

*) Patocki blieb später im Elsaß.

163 April begann

die engere Belagerung, und damit die Zeit

der verzweifelten Maßregeln; um so mehr, als die Nähe der deutschen Truppen allen Widerstandslustigen neue Kräfte gab. In immer wachsenden Massen, mit immer zunehmen­ der Strenge wurden die Ausweisungen betrieben. Anfangs

hatte man sich auf die ausdrücklich Widersetzlichen beschränkt; von ihnen geht man jetzt zu den Verdächtigen über; zuerst kommen die Geistlichen, dann ehemalige Beamte und Privile­

gierte, schließlich deren Angehörige an die Reihe. Politischer Verdacht und materielle Not steigern gleichzeitig die Ver­

folgungssucht. Den Ausgetriebenen wird verboten, irgend etwas Anderes als die notwendigste Habe, nur was sie selbst tragen können, mitzunehmen. Der Rest des Ver­ mögens wird konfisziert, ebenso das Eigentum derer, die vorher freiwillig ausgewandert waren: ein förmliches Emi­ grantengesetz nach französischem Muster. Endlich auch, nach einer damals bestehenden Gewohnheit, wird zur Sicherung

künftiger Repressalien eine gewisse Zahl angesehener Bürger hauptsächlich

als Geiseln ins innere Frankreich abgeführt,

bekannte Namen, Der Sturm des Vor den Wällen Ausfall, bald da, bald dorten; innen ersteht ein Revolutionstribunal, fünf Richter, ein öffentlicher Ankläger und auf alle politische Vergehen die Todesstrafe; und damit nichts fehle, auch Assignaten, nicht die französischen, sondern, wie man alles auf eigene Faust macht, auch eine aparte rheinisch-deutsche

Kaufleute (beinahe lauter noch heute gut Gröser, Werner, Kaiser, Ackermann). Völker- und Bürgerkriegs ist entfesselt. schlägt man sich, beinah allnächtlich ein

Belagerungs-Münze. Denn man ist eben ganz und gar von Frankreich abgeschnitten, ohne irgend ein Mittel, die Truppen und deren Lieferanten anders zu bezahlen. Was in Paris vorgeht, weiß man seit Monaten nicht; hie und da erfährt man etwas vom Feinde, aber natürlich nur unter

11*

164 Vorbehalt, und mit Recht: denn es heißt (und spielt bei der Übergabe der Stadt eine besondere Rolle), in Frankfurt

würden falsche Moniteure gedruckt mit Erzählungen, welche auf die Einschüchterung der Belagerten berechnet seien. Unter solchen Umständen läßt sich denken, wie viel republi­ kanische Begeisterung in dem deutschen Städter mag zurück­ geblieben sein. Selbst die französischen Berichte wissen nichts zu rühmen. Wie groß überhaupt ist die Zahl der friedseligen Menschen, deren Gesinnung solchen Prüfungen widerstünde? von denen ein solcher Widerstand sich billiger­ maßen verlangen ließe? Und vollends hier; nach hundert­ jähriger Unmündigkeit und Spießbürgerei, nach einem dar­ auf gefolgten kurzen Rausche, unter den Klängen einer

fremden Sprache, dem Walten eines fremden Geistes? Wäre auch nicht das Zeugnis der weit und weiter getriebenen Ausweisungen vorhanden, das Bild der Zustände allein könnte genügen, uns die Überzeugung zu sichern, daß von einer freiwilligen, von Hause aus sympathischen Hinneigung zu Frankreich bei den Massen damals nicht die Rede war: trotzdem dies nicht nur bei den Franzosen bis auf den heutigen Tag ein Glaubensartikel ist, sondern zu allen Zeiten in Deutschland vielfach behauptet wurde; zunächst auf das Zeugnis hin der rachedurstigen Wiedereroberer, deren Bru­ talität nach einer möglichst großen Zahl von Opfern, nach Vorwänden für ununterschiedliche Plünderung verlangte. Kehren wir noch einmal zurück zu den Belagerten. Es ist Ende Juni geworden, und zu allen Schrecken des Kriegs ist die eigentliche Beschießung hinzugetreten. Tagelang regnete es Bomben. „Wir lebten unter einem feurigen Dache," sagt ein Augenzeuge. Die stattlichen Paläste, der Dom, viele Kirchen stehen nach der Reihe in Brand. Mangel an Fleisch, an Futter, Medikamenten. Immer und immer wilder geht der Gang der Austreibungen. Nicht mehr

165 hundert-, sondern tausendweise ziehen die Schaaren der Un­ glücklichen über die Rheinbrücke nach dem jenseitigen Ufer: einmal wird ein ganzes Dorf, Finthen, wegen Eidesver­ weigerung hinausgemaßregelt (die Ortschaft ist noch heute besonders gut katholisch und war 1848 der Bewegung weniger zugänglich als irgend eine andere Landgemeinde). Als höchst seltsam verdient ein besonderer Judenschub er­ wähnt zu werden, und zwar schon unterm 2. April erscheint vom Präsident Hofmann unterzeichnet ein Befehl: „Im Name» des souveränen Volks wird den ungeschworenen Juden auf Befehl des Nationalkonvents bedeutet, daß sie heute 12 Uhr, und zwar unter Todesstrafe auf dem Schloß­

plätze erscheinen sollen (zur Wegführung von da). Wer sich heute nicht allda einfinden wird, soll ohne Weiteres auf­ geknüpft werden." In allen Dingen hat die rheinische Re­ publik dem französischen Muster folgen können; Gott, König und Vaterland hat sie überwunden: über den spezifisch deutschen Judenhaß kann sie nicht hinaus; Atta Troll muß sein Amendement stellen, so daß selbst der Bannstrahl die Absonderung aufrecht erhält. Und noch merkwürdiger: unter diesen gedrückten, schon seit jenen Zeiten her der Staatspolizei so verdächtigen Juden finden sich ganze Schichten, welche dem Abfall vom Reich das Exil vorziehen, und damit den Verlust des teuren Eigentums. Es giebt sonderbare Naturspiele, von denen kein Rittergutsbesitzer eine Ahnung hat. Da schließlich alle Vorwände der Ver­

folgung erschöpft, aber immer noch zu viele Menschen in der Stadt sind, treibt der Befehlshaber zu freiwilligen Aus­ wanderungen. Der Feind kann diese Erleichterung nicht

zugeben. Er begrüßt die ausgestoßenen Landsleute mit Kanonen, der eben so erbarmungslose Himmel sendet ein Unwetter auf sie herab; so verbringen die Elenden, meistens hülflose Weiber und Kinder, eine schauervolle Nacht im

166

Das Herz der französischen Soldaten öffnet sich zuerst der Menschlichkeit: die Chasseurs bringen Weiber und Kinder auf ihren Pferden, mit ihren Mänteln bedeckt, in die Stadt zurück. Die französischen Nationalgarden selbst, nicht für diesen eintönigen von der Heimat abge­ schnittenen Festungskrieg gemacht, verlieren die Spannkraft. Selbstmord wird epidemisch, drei Offiziere erschießen sich in einer Nacht. Noch einmal — es war das letzte — erhebt die Republik ihr Haupt in festlichem Aufzug. Es ist der 14. Juli; Waffenstillstand. Vor den Wällen feiern die Preußen die Einnahme von Conds, innerhalb der Mauern wird das Jahrgedächtnis des Pariser Bastillesturms begangen. Auf dem Schloßplätze ist ein Altar der Freiheit errichtet, über welchem der General en Chef einem Neugebornen die republikanische Taufe giebt; Reden und Kanonendonner — doch Freude und Zuversicht sind verraucht; bereits wird heimlich mit den Preußen unterhandelt und am 22. desselben Monats kapituliert. Auch da ist wieder von Verrat die Rede. Es kommt hier nicht darauf an, die französische Ehre zu retten, aber das allgemeine geschichtliche Wahrheits­ interesse rät zu beiläufiger Verwahrung. Erst sollte Eikemayer, später Cüstine, diesinal nach dem einen Dohrs, nach dem andern Merlin, nach dem dritten sollen alle gekauft gewesen sein. Im Mittelalter sah man bei allem Unglück Hexerei, im 16." und 17. Jahrhundert überall Vergiftung, in Revolutionen sieht man überall Spionage und Verrat. Sichtbare Widerwärtigkeiten erklärt die Trägheit des Ver­ standes am liebsten mit dem schnell fertigen Unsichtbaren. Eins aber fesselt unsere Aufmerksamkeit in den Verhandlungen, welche der Übergabe vorausgehen, in den Ereignissen, welche Felde.

sich aus ihr entwickeln: das Schicksal nämlich jener Mainzer, die sich rückhaltslos in die republikanische Bewegung ge­ worfen hatten und denen jetzt die Zuchtrute des restaurierten

167 Kurfürsten und seiner Verbündeten drohte. Ihr Los, das Gebaren ihrer Verfolger wie ihrer Beschützer ist bezeichnend für den Geist der Parteien. Ihre Leiden beanspruchen unser inniges Mitgefühl, ihre Gleichgültigkeit gegen die deutsche Nationalität darf es ihnen nicht entziehen. Ein Jahr darauf finden wir ihre Peiniger, finden wir Österreich und Preußen um die Wette kabalierend, wer dem Reichsfeind das linke Ufer an den Hals werfen dürfe, um sich eine andere Territo­ rialentschädigung zu sichern. Wer empfand oder dachte damals etwas von deutscher Nationalität? Wenn wir glauben

festgestellt zu haben, daß die Anzahl der Neuerungslustigen nur in geringem Verhältnis zur Gesamtheit der Bürger gestanden hatte, so dürfen wir nicht verkennen, daß, wie schon angedeutet, Reinheit der Motive und der Überzeugung in dieser Minorität vorwaltete. Durch alle Prüfungen hin­ durch bewies sie nachmals heldenmütige Ausdauer bei ihrer Sinnesart. Aber in den Augen der Obrigkeit von Gottes Gnaden ist kein Widerstand gehässiger als der des uneigen­ nützig freisinnigen Denkers, und sie hat von jeher die süßeste Befriedigung hineingelegt, das Edle in ihm geflissent­ lich ignorierend, ihn als ehrlosen Verbrecher herabzuwürdigen. Schöngeistelnde deutsche Fürsten haben nach 1830 und nach 1849 mit besonderer Wonne Schriftsteller, Philosophen, Dichter zum Wollzupfen, Spinnen, Marmorschleifen an­

halten lassen, ganz wie Ferdinand von Neapel seine Minister mit Mördern an eine Kette schloß. Auch dem damaligen König von Preußen lag nichts mehr am Herzen, als der Legitimität die Opfer eines wollüstigen Rachefestes zu sichern. Darüber läuft beinahe ausschließlich die Korrespondenz zwischen den Befehlshabern in und außerhalb der Festung hin und her. Der König will unbedingt sich auf nichts einlassen, was die sogenannten Patrioten vor künftigen Heimsuchungen schützen könnte. Merlin zeigt sich dabei

168 eben so ehrenhaft und human, wie sein Gegner sich klein und brutal zeigt. Er erklärt int Kriegsrat, lieber die ganzen Verhandlungen abzubrechcn, als diejenigen, welche auf die

Republik vertraut hatten, ihren Feinden Preis zu geben; er bietet sich selbst als Geisel und Kriegsgefangenen au, wenn der König den Klubisten freien Abzug gestatten wolle. Endlich vereinigt man sich zu einer Fiktion, welche beiden Teilen aus der Verlegenheit helfen soll. In der Kapitulation wird von den Patrioten nicht die Rede sein; da aber allen Franzosen freier Abzug verbürgt ist, so möge wer da wolle sich mit der Masse davon machen, der König verzichtet auf eine Kontrole der Abziehenden. Allein es luar schon dafür gesorgt, daß die Rache des Herrn nicht nm ihren Fraß komme. Was unter der Bedeckung der ersten Kolonnen marschierte kam glücklich durch, aber die weiter hinten fol­ genden Anführer wußten sich der Schutzbedürftigen nicht mit der nötigen Energie anzunehmen, die Haufen der ehe­

mals Ausgetriebenen warfen sich nach Vergeltung lechzend auf die Klubbisten, und viele der letzteren wurden tötlich mißhandelt. In der Stadt ging es noch schlimmer her. Soldaten und Volkshanfen übten Plünderung und Miß­ handlung in allen Häusern, welche dafür gelten mußten, Klubbisten beherbergt zu haben. Diejenigen der letzteren, welche auf höheren Befehl gefänglich cingezogen wurden,

Mit Stricken an ein­ über die Rheinbrücke geführt, wurden sie

kamen deswegen nicht besser davon.

ander gebunden

noch bis nach Frankfurt hin den Angriffen des Pöbels preisgegeben. Der harmlose, menschenfreundliche Professor Blau starb an den Folgen der an ihm verübten Rohheiten, ein neunzehnjähriges Mädchen wurde mit Gewehrkolben er­ schlagen, weil sie in einem klubbistischen Liebhabertheater

mitgespielt hatte, ihren beiden Schwestern gings ebenso. Männer und Frauen wurden in Menge nach den Festungen

169 Königstein und Erfurt gebracht und da in feuchten Löchern einer elenden Gefangenschaft überlassen. Ein Teil dieser Unglückseligen war ausdrücklich dazu Vorbehalten worden,

deutschen Gefangenen in Frankreich zur Freiheit zu ver­ helfen. Das Geiselnehmen war nämlich, zur Unehre der

Revolution, von dieser eingeführt worden. Die französischen Heere hatten schon 1792 bei ihren ersten Einfällen in Saar­ brück, Bliescastel, Zweibrücken Geiseln aufgehoben und ins Innere geschickt. Die Österreicher übten hernach Vergeltung

sendeten die von ihnen Ausgehobenen nach Mainz und Wesel in die Festungen. Während der Be­ im Elsaß und

lagerung hatte, wie oben erzählt, der Konventskommissar eine Anzahl Mainzer nach Frankreich transportieren lassen,

Man hielt sie in Metz und Nancy gefangen. Bei der Kapitulation nun war ausgemacht worden, daß eine gewisse Kategorie von Klubbisten so lange zurückgehalten werden sollte, bis jene Mainzer Geiseln entlassen wären. Aber

die Ausführung unterblieb lange, teils durch französische, teils durch deutsche Schuld. Mittlerweile verkamen die Ge­ fangenen in den Gewölben alter Festungsverließe, obgleich ein Umstand herausstellte, der ihre An­ sprüche auf Erlösung verstärkte. Während nämlich Mainz sich nachträglich

durch die Belagerung von Frankreich abgeschnitten und ohne Kunde geblieben war, hatte der Konvent das von Forster, Lux und Patocki überbrachte Angebot der Einverleibung in die fränkische Republik angenommen, und so waren die­ jenigen, welche dafür optieren wollten, beim Abzug des be­ lagerten Heeres, französische Bürger. Zwei Jahr lang wurde darüber zwischen den Konventsleuten und den deutschen Autoritäten negociiert. Merlin nahm sich ununterbrochen rühmlich seiner ehemaligen Schutzbefohlenen an. In seiner öffentlichen nnd Privatkorrespondenz finden wir ihn fort­ während dafür thätig, sie ans ihrer Haft zn erlösen.

Er

170 betreibt, wie er immer kann, die Rücksendung der Metzer und Ranziger Geiseln, damit auch die Kerker von Erfurt

und Königstein sich öffnen möchten. Unterdessen bleiben die gefangenen Klubbisten sowohl, wie die, welche nach Frank­ reich entkommen sind, mit der Naivetät ihrer ersten Schwärmerei der Revolution und der Republik zugethan. Ihre Briefe sind rührend zu lesen. Einer fällt an Merlins Seite im Krieg gegen die Vendöer, nachdem er fünfmal in derselben Schlacht an der Spitze seiner Legion angegriffen hat. Er war Vater einer zahlreichen Familie, die in Paris zurückblieb. Sein Familien-Name Riffel ist seitdem in Mainz wieder zu besonders katholischem Klang gekommen. Rühmliches Andenken verdient eine Frau Falziola, geborene Meletta, bereit Mann, Sohn, Schwager, deren sämtliche Freunde in deutschen Kasematten lagen. Sie ruhte und rastete nicht, die Sache der Unglücklichen zu betreiben, bald ist sie hinter dem Konvent, bald hinter dem Wohlfahrts­ ausschuß, bald hinter Merlin her, und wirklich nicht ohne

Verdienst an der schließlichen Erlösung. Dieselbe erfolgte während der zweiten Umzingelung von Mainz durch die Franzosen. Noch über fünfzig ehemalige Klubbisten wurden damals von dem preußischen Befehlshaber an die re­ publikanischen Vorposten ausgeliefert. Es geschah dies am 9. Februar 1795. Merlin hatte wiederum die Korrespondenz geführt. Die Befreiten gingen nach Frankreich, die meisten ins Elsaß. Nach dem, was sie erlebt und erlitten, war es nicht zu verwundern, daß ihre Wünsche und ihre Hoffnungen bei Frankreich blieben. Die Wiedereroberung des linken Rhein­ ufers war für ihre Vorstellung die einzig denkbare Be­ endigung des Exils, und sie kehrten in der That beinahe alle nach dem Frieden von Campo Formio in die Heimat zurück. Jene Anschauung war ihnen um so weniger zu verargen, als selbst den Vorkämpfern deutscher Nation die

171

Abtretung der Rheinlands an Frankreich während dieser ganzen Zeitläufte ein vertrauter Gedanke blieb und im ge­ nannten Friedensschluß nichts zur Erfüllung gedieh, als was bald österreichische, bald preußische Diplomaten dem Wohlfahrtsausschuß und dem Direktorium seit vier Jahren

nahe gelegt hatten. Auch war es in der ganzen Zeit zwischen dem Rückzug der Franzosen und ihrer Wiederkehr deutscherseits nicht zu einem friedlichen Besitzstand ge­ kommen. Den Kurfürsten zwar hatten die preußischen Heere zurückgeführt. Er hatte während der Belagerung nur einen Besuch von wenigen Tagen bei den Zelten des Königs ge­ macht und zur Schonung seines landesväterlichen Herzens vorgezogen, in Aschaffenburg zu residieren, während seine Heerde bombardiert wurde. Dafür fuhr er hinter den sieg­ reichen Truppen als Triumphator wieder ein. Die treuen Metzger, als Sinnbilder ohne Zweifel des vom Geist be­ siegten Fleisches, zogen seinen Wagen. Sein erster Re­

gentenakt war die Einsetzung eines Kriminalsenats zur Untersuchung gegen die Hochverräter, unmittelbar darauf folgt eine ganze Reihe von Erlassen zur Annullierung aller Trauungen, Taufen, Absolutionen und sonstigen Ver­ richtungen der Priester, welche der Republik geschworen hatten. Alle Perücken der guten alten Zeit wurden von neuem gekräuselt und gepudert. Von da ab hörte natürlich auch jede politische Meinungsäußerung in der Stadt wieder auf. Die Häupter waren vertrieben oder gefangen, und der permanente Kriegsstand erdrückte alle Formen des bürgerlichen Lebens. Lange Zeit hindurch geriet das ganze linke Ufer mit Ausnahme der Stadt Mainz wieder in französische Gewalt. Diese selbst wurde im Herbst 1794 umzingelt und im Lauf des Winters von 94 auf 95 förm­ lich belagert. Es war.ein Jahr, welches im Kalender für seinen unerhörten Frost berüchtigt blieb. Auf der Eisdecke

172 Rheins manövrierten die Kanonen wie auf fester Erde; der französische Soldat, ohnehin entblößt, litt furchtbar. Aber weder der Konvent, noch der Wohlfahrtsausschuß,

noch die Generale mochten dem Gedanken Raum geben, auf Mainz, als den Schlüssel des Rheinlandes, zu verzichten. Auf welchem Stand sich damals das deutsche National­ bewußtsein befand, ist in einer ebenso traurigen als denk­ würdigen Art aus den Verhandlungen zu ersehen, die sich zunächst um den Baseler Frieden drehen. Preußen wie Österreich gaben dem Wohlfahrtsausschuß unter der Hand

Aussicht auf die Rheinlande gegen Länderentschädigungen auf dem rechten Ufer, zu welchen Frankreich die Hand bieten sollte. Österreich verlangte Baiern, Preußen Hannover. In der Pariser Regierung gab es eine preußische und eine österreichische Partei. Merlin gehörte zu letzterer. Der

Friede mit dem Kaiser schien ihm wichtiger als der mit dem König, und „wenn wir jenem schließlich denn Baiern zu­ gestehen müssen, um den Rhein zu erhalten," schreibt er nach Hause, „ma foi nous sauterons le bäton.“ Doch kam der Abschluß mit Preußen zuerst zu Stande. Das Schicksal der Rheinlande wurde künftigem Abkommen Vor­ behalten, ein großer Teil vorläufig für neutrales Gebiet erklärt. Inzwischen hatte Clerfayt die Franzosen zur Auf­ hebung der Belagerung von Mainz gezwungen, und es blieb unter Österreichs Schutz, bis es von diesem im Frieden von Campo Formio an Frankreich definitiv abgetreten wurde. Von da ab beginnt, wie man es im Lande nennt, die „französische Zeit"; denn die dreiundneunziger Episode, oder wie sie in der Überlieferung der Volkssprache heißt:

die Guschtine-Zeit (Cüstine) war nicht sowohl französischer als revolutionärer Gesinnung. Der Einverleibungsbeschluß des Konvents, obgleich er auf alle Fälle zu einer Ver­ schmelzung mit Frankreich hätte führen müssen, war in der

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Fiktion seiner Urheber doch nur aus der mechanischen Not­

wehr hervorgegangen. Bis dahin hatte es sich in ihrem allerdings leichtfertigen Sinn nur um Freiheit auf eigenen deutschen Füßen gehandelt. In keinem einzigen der massen­ haften Erlasse der französischen Generale und Kommissarien erhebt sich der Anspruch an eine Inkorporation. Alle öffent­ lichen Aktenstücke erscheinen bloß in deutscher Sprache. Der Mainzer Konvent selbst konstituiert sich ausdrücklich für

einen deutschen Freistaat, und die jenseitigen Versuche zur Berufung auf einen gemeinsamen Stammesursprung tragen,

wo sie auftauchen, gerade das

entgegengesetzte Gepräge

derer, welche man uns heute vorbereitet. Die Revolution, der es doch an Kühnheit der Theorieen sonst nicht gebrach, hatte sich noch nicht dahin verstiegen, aus den deutschen Rheinbewohnern gallische Abkömmlinge machen zu wollen, wie wir das heut erleben. Die Schüler Rousseaus, wesent­ lich auf das abstrakte Vernunftrecht erpicht, kamen für ihr historisches Bedürfnis mit der Anlehnung an die antike Re­ publik aus. Es war dem gelehrten Frankreich des 19. Jahr­ hunderts Vorbehalten, seine historische Schule, welche gleich seiner romantischen aus deutschen Anregungen entsprungen ist, nach mystischen Belegen für die Ansprüche auf den Rhein auszusenden und letztere in dem angeblichen vorsündflutlichen Besitzstand jener keltischen Nation zu finden, deren ganze Existenz von sagenhaften Problemen umhüllt ist. Wenn man heute das keltische Blut auf deutschem Boden nachweisen möchte, so appellierte man 1792 umgekehrt an die Nachweisung des germanischen Blutes auf dem fran­ zösischen Boden. Und das hätte jedenfalls die Wahrheit für sich. Man machte Konzessionen, statt sie zu verlangen. Man nannte sich die neu-fränkische Republik, um daran zu erinnern, daß man eigentlich nur ein Ableger jener alten Germanen sei, welche Gallien unterworfen und zu einem

174 großen Teil bevölkert hatten; und bis in das Konsulat hinein

wurden aus den Bewohnern der Rheinlande besondere „fränkische Legionen" (Legions des Francs) in den Heeren der Republik gebildet. — Die Gesamtheit dieser Erscheinungen, obgleich für die spätere Geschichte ohne praktische Bedeutung, verdient unsere Aufmerksamkeit um des Unterschiedes willen, welchen sie zwischen der republikanischen und der monarchischen Propaganda nachweist. Das Prinzip der Freiheit ist dem Prinzip der Nationalität hold, wenn es nicht mit ihm gleichbedeutend ist. Obwohl die Idee der Nationalität als solche im 18. Jahrhundert entfernt nicht so entwickelt und popularisiert war wie im gegenwärtigen, so konnte doch das erobernde Frankreich, so lange es selbst Freistaat war, nicht umhin, überall nationale Republiken und nicht Annexionen hervorzurufen, in Italien, wie in Holland, wie am Rhein. War es auch nur Politik unter Vorbehalt, es war doch ein Tribut an den Grundsatz. Der Monarchismus dagegen, ohne Achtung für die Freiheit, ist auch ohne Achtung für die Nationalität. Unter dem Konsulat und dem Kaisertum werden die Gebiete des linken Rheinufers durch und durch assimiliert. Mainz wird eine französische Präfektur. Der einförmige Militärdespotismus hat bald verwischt, was von Anhänglichkeit an die französische Revolution oder an das deutsche Reich mochte übrig gewesen sein. Jede mechanische Gewalt hat die Mittel, sich der Masse der Geister zu be­ mächtigen, weil sie dazu nur die schlechten Instinkte zu hegen und zu pflegen braucht, welche eben so wie die guten in jedem Volkscharakter schlummern. Ein Statusquo, welcher an die Seelengröße der Nation appelliert, wird sie groß finden; der sie aber kleinlich wünscht, braucht nur ihren Krämersinn wachzurufen. Das Kaisertum blendete mit Macht und Pomp, bestach mit den Gewinnsten, welche dem Bürger aus den Anhäufungen und Durchmärschen der end-

175 losen und übermütigen Armeen zuflossen.

Als eine Grenz­

festung ersten Ranges sah die Stadt beinahe alle Kolonnen des unermüdlichen Kriegers aus- und einziehen, und da der Soldat, so lange er auf fremdem Boden war, keine Löhnung bezog, so ward Mainz für ihn, was die großen Hafenplätze für den Matrosen sind: ein Ort der Ausrüstung bei der Abfahrt, ein Ort des Genusses bei der Rückkehr. Mainz wurde wieder, seinem Ursprung getreu, ein Tummelplatz

der Legionen, welche von diesem Lager aus die Erde über­ strömten. Wie vor zweitausend Jahren rief die heroische Willenskraft des Imperators große Zivilisationsanstalten ins Leben: zunächst zum Zweck seiner Kriege die großen Heerstraßen, an denen es zu Kurfürstenzeiten gänzlich ge­ fehlt hatte. Eine steinerne Brücke sollte sich über den Rhein erheben. — Während eines halben Menschenalters täglich Augenzeugen der ins Unbändige wachsenden Übermacht auf der einen Seite, der Demütigung des Vaterlandes auf der anderen, lebten sich die Bewohner des Rheinlandes in den Gedanken ein, wie das Elsaß unzertrennlich mit Frankreich vereinigt zu sein. Die kaiserliche Allgewalt, welche schon so blendend wirkte, ließ sich sogar zeitweise zu den kleinen billigen Schmeicheleien herab, welche das Herz des Spieß­ bürgers kitzeln. Mainz wurde zu einer der „bonnes vüles de France“ ernannt, um ihm keinen Zweifel mehr über seine Nationalität aufkommen zu lassen; Napoleon und Maria Louise residierten zeitweise in dem alten deutschen Ordens­ hause. So sehr hatte sich die Sinnesentfremdung eingenistet, daß selbst, als die Zeit der schweren Prüfungen kam, der Gedanke eines Abfalls nicht Raum fand. Die rasenden Konskriptions-Aushebungen der Jahre 1811, 12 und 13, der Rückzug aus Rußland, die Kriegspest und der Typhus, welchen die schauerlich demoralisierten Truppen der Stadt einimpften, so daß die Bürgerschaft selbst von ekelhaften

176 Krankheiten dezimiert wurde, kurz der konzentrierte Ausbruch des ganzen Jammers, welchen die Napoleonische Barbarei über die Welt gebracht hatte, weckte nicht Haß gegen Frank­

reich, nicht Hinneigung zu Deutschland. Noch nach der Schlacht bei Leipzig, als die wirren Soldatenknäuel sich bei

Hanau

einen blutigen Rückweg

gebrochen

hatten und in

die Zuflucht der Festung hineinströmten, verfiel in der Stadt niemand auf den Gedanken, daß die Siege der Alliierten das Rheinufer wieder an Deutschland bringen könnten. Die ganze jugendfrische, heldentümliche, patriotische Erhebung des Nordens hatte nicht das leiseste Echo in diesen Mauern wach gerufen. Im Gegenteil. Das Rachegefühl, die preußischen Soldaten in die ab­ trünnige Stadt eingezogen, war auf beiden Seiten zur ge­ hässigen Überlieferung geworden. Das „Mainzer Klubbisten­

mit welchem 1793

volk" blieb als ein Gegenstand des Abscheus sprichwörtlich

im Munde der deutschen Offiziere,

und nach dem Gesetze

der Wiedervergeltung erhielt sich auf der anderen Seite die Vorstellung einer deutschen Truppe unzertrennlich von der Vorstellung eines boshaft brutalen Stockprügelregimentes

Als 1814 nach dem Pa­ riser Frieden Mainz an Deutschland zurückfiel, begegnete man sich mit diesen Reden auf den Lippen. Vor der Räumung der Stadt ging das Gespräch unter der Bürger­ schaft: wer von den abziehenden Franzosen irgend etwas kaufe, werde mit den unvermeidlichen „fünfundzwanzig" traktiert werden. Diese heilige Zahl war das Gestirn, unter welcher das Licht der Nationalität wieder in den Augen der Leute aufging, und die Schaaren von Kosaken, Baschkieren, Rotmänteln, mit welchen ihre Häuser jetzt belegt wurden, trugen nicht sonderlich zur Milderung dieser An­ über alle bürgerlichen Sphären.

Bis 1816 dauerte dieser Zustand. Einquar­ tierungen und Kriegssteuern preßten die Stadt aus. Trotz sichten bei.

177 einiger brüderlichen Proklamationen wurde sie als eine er­ oberte behandelt. Eine bairisch-österreichische Administration sür die Provinz, eine österreichisch-preußische für die Stadt selbst stellten eine Art provisorischer Regierung vor, die im Juli des ebengenannten Jahres der hessen-darmstädtischen den Platz räumte. Wäre damals nicht Deutschland um den Lohn seiner blutigen Arbeit so schmählich betrogen worden, es würde ihm auch die Schmach erspart geblieben sein, einen Teil seiner Bevölkerung noch Jahrzehnte hindurch den Fall­ stricken einer thörichten Verirrung zu überlassen. Erstand den Deutschen ein politisches Vaterland, so war im selben Augenblick die böse Saat des französischen Zwischenreichs vernichtet, es war, wie die Volkssprache am Krankenbett

sich ausdrückt, der Natur geholfen. Denn nicht nur leicht beweglichen Blutes ist der Rheinländer, sondern auch allen guten Regungen von Herzen zugänglich. Aber alles, was er jetzt erlebte, drängte ihm nur die eine Empfindung auf: daß die deutschen Fürsten nichts anderes erstrebten, als die Wiederherstellung jener verhaßten feudalen Kleinstaaterei, deren Sturz er mit Beifall begrüßt und im Lauf der Erfahrung gesegnet hatte; und es bemächtigte sich seiner Seele jener andere menschliche Zug, das Gute in die Vergangenheit zu verlegen. Wie Frankreich selbst im In­ grimm über das bourbonische Pfaffenregiment den Namen des gestürzten Despoten zum Losungswort des freisinnigen Widerstands machte und die Volksgeißel als Volksidol be­ sang, so warfen sich die Rheinländer im Mißmut über die deutsche Junkerwirtschaft in die Liebäugelei mit dem fran­ zösischen Wesen. Glücklicherweise mit geringem Erfolg.

Kein Boranger und kein Thiers verherrlichten hier die ge­ fahrvolle Richtung, kein Joinville führte die Toten zurück; und das Jahr Achtundvierzig versiegelte diesseits die Gruft, welche es jenseits wieder geöffnet hat. — Aber kehren wir ßtibrotg Bamberger's Ges. Schriften. I. 19

178

Nicht einmal den morschen Haltpunkt der treuherzigen Anhänglichkeit an einen alten Herrn gab die neue Seelenverteilung dem Bewohner jener Provinz. Selbst die guten Leute, welche sich in Cassel an dem wiederkehrenden Anblick des kurfürstlichen Zopfes freuen mochten, fanden in Mainz nicht ihren Augentrost. Gab es doch deren bei uns noch lange, welche behaupteten: seit Kurfürsten-Zeiten wäre kein schöner Sommer mehr über das Land gekommen. Jetzt sollte ihnen auf einmal über Nacht Lieb' und Treu' zu dem Großherzog von Darmstadt aufblühen. Was wußten sie von Darmstadt? Daß der Landgraf 1792 bei Cüstines Anmarsch über Hals und Kopf seine Truppen an sich gezogen und, nachdem er mit den andern bramarbasiert hatte, Mainz im Stiche gelassen, um seine Neutralität zu saldieren;*) daß später einmal der Großherzog von Bonapartes Gnaden drüben bei Kastel an dem Brückenkopf zwei geschlagene Stunden lang de- und wehmütig auf den Kaiser gewartet, um ihm seinen Bückling zu machen, und daß ihn der Mann im kleinen Hütchen Monsieur de Darmstadt geheißen! Natürlich schickte der neue Potentat Beamte, die auf seinem eigenen Mist ge­ wachsen. zur Verwaltung und Assimilierung der frisch­ erworbenen Provinz aus. Das war ihm nicht zu verdenken. Es hätte es jeder an seiner Stelle gethan. Aber dem Linksrheinischen war eben darum der Rechtsrheinische nur noch mehr zuwider als ohnedies ein nächster Nachbar dem zurück zum Jahr sechszehn.

*) 1791 hatte der Landgraf von Darmstadt den Reichstag bestürmt, ihm zu seinen Gütern und Rechten im Elsaß

zu verhelfen, auf daß nicht

ein seit Jahrhunderten verehrungswürdig gewesener Fürst der Kalten in seinem eigenen Lande aufs möglichste unvermögend werde."

Als ihn ein Jahr darauf die Mainzer um Hülfe anriefen, antwortete er: „Die Franzosen hätten seine Güter im Elsaß so gut behandelt, daß er

sich nicht mit ihnen Überwerfen wolle."

(K. Klein, Geschichte von Mainz.)

179 andern, da wo einmal der Geist des Partikularismus über­

haupt der Kleinlichkeit und Eifersüchtelei das Signal ge­ geben hat. Nichts hat mehr Drang zur Konsequenz ins Unendliche hinein, als das Prinzip der Teilung. Schnur­ stracks geht seine Logik fort bis zum Atom. Bei der Teilung Deutschlands hatte die fürstliche Eigennützigkeit an die pro­

vinziale Selbstsucht, an das spießbürgerliche Vorurteil appelliert, um einen populären Boden zu finden. Warum sollten diese politischen Untugenden just an den Grenzen stehen bleiben, welche die Phantasie der Diplomaten gezogen hatte? Wahres und Falsches verbanden sich in der volks­ tümlichen Anschauung zum Widerwillen und zur Verachtung gegen alles, was aus den jenseitigen Provinzen herrührte. „Darmstädtisch" wurde eine Bezeichnung für den Inbegriff der Abgeschmacktheit und Armseligkeit, der letzter» besonders auch um deswillen, weil sich das gesegnete Rheinland als die Kornkammer ansah, von deren Reichtümern der von Haus aus dürftige Hof mit der ganzen Beamtenschaar der minder fruchtbaren Erbstaaten zehre. Sand und Zwiebeln, hieß es, sei alles, was sie hervorbrächten, und was der­ gleichen nachbarliche Bosheiten mehr sind. War man doch überdies nicht bloß dem Darmstädter Unterthan, sondern noch dazu dem Österreicher und dem Preußen, welche mit deutsch-militärischer Brutalität das Regiment über die Stadt führten. Das Verhalten des Soldaten gegen den Bürger kam mehr als alles andere der Vorliebe für den Fremden zu Hilfe. Seit den Feldzügen des Mittelalters hatte sich der französische Kriegsmann den Ruf der Urbanität, der

spanische den der Habsucht, der deutsche den der Roheit erworben. Die Greuel, welche unter Ludwig XIV. be­

gangen worden, kommen, wie die Dragonaden und alle dahin einschlagenden Teufeleien, ganz besonders auf die Rechnung des pseudogroßen Königs und des Katholicismus. Bei der 12*

180 Invasion von 1792 erregte die Menschenfreundlichkeit des republikanischen Heeres nicht bloß das allgemeine Erstaunen, sondern sogar die Indignation der Gegner. Einem von Speyer zurückkommenden kurfürstlichen Offizier, welcher sich in Anerkennung darüber ausbreiten wollte, herrschte der

Kommandant zu, er möchte schweigen, und nicht den Feind populär machen. Es wäre ihm lieber, setzte er hinzu, daß Cüstine mit Feuer und Schwert gehaust hätte. Freilich sagte man, das sei lauter Berechnung und Politik. Aber wo Cüstine es für klug fand, schonend zu verfahren, da hätten ein Haynau oder Urban gewiß Gründe entdeckt, aus Politik Weiber und Kinder füsilieren zu lassen. Selbst in den Zeiten der härtesten Prüfung hatte der Franzose seine Liebenswürdigkeit und Leutseligkeit nicht verleugnet. Jene Episode aus der ersten Belagerung, die auch Göthe erzählt, haben wir schon oben erwähnt: sogar auf dem Rückzug aus Rußland und nach der Flucht von Leipzig benahm sich der Soldat nicht wüst und wild. Wie stach dagegen das Auf­ treten der Fähnriche ab, welche von „Galgenstrick" und „Klubbistenvolk" Überflossen! Schon Anno dreiundneunzig nach der Einnahme einer pfälzischen Stadt hatte ein preußischer Oberst die als jakobinisch denunzierten Bürger, ja sogar einige Frauen, unter vorgehaltenem Bajonett gezwungen, den Platz, wo der Freiheitsbaum gestanden, mit Kehrbesen zu säubern. Und wie stolz mag das Offizierkorps auf die Heldenthat gewesen sein. Besonders der preußische Lieute­ nant — „den mein' ich immer, wenn ich Lieutenant sage," mit seiner Kombination von Übermut und Hungerleiderei

ward dem harmlosen und wohlgenährten Bürger ein Ziel für Spott und Abscheu. Ich höre sie noch, die alten Leute, wie sie sich die unsterblichen Geschichtchen erzählten. Statt der Westen, sagte der eine, hatten sie einen Lappen roten

181 Flanells zwischen die Bruststücke des Fracks eingenäht; — unsere Talglichter, rief der andere, stahlen die Feldwebel, um sich die Zöpfe zu wichsen; — ach, weißt du noch, rief

die alte Frau dazwischen, der Lieutenant Grauer, der bei uns einquartiert, dem nichts recht zu machen war, und der des Abends, wenn er zu Ball ging, die schwarzwollenen Strümpfe der Köchin borgte! Solche Narreteien im Bunde

mit dem „eingefrorenen Dünkel" waren außerdem nicht ein­ mal nötig, damit man sich von beiden Seiten abstieße. Die gemischte Besatzung selbst gab den Ton dazu an, daß der Deutsche den Deutschen als Fremden und als Feind be­ handle. Es kam in den ersten Jahren nach dem Frieden manchmal zu wahren Gefechten zwischen österreichischen und preußischen Soldaten. Die schöne Tradition ist bekanntlich noch heute nicht verklungen. Die eigentliche Wurzel aber der Anhänglichkeit an die Fremde saß im bürgerlichen Rechtsleben. Hier war vor allen Dingen eine thatsächliche Gemeinsamkeit mit dem ehe­ maligen Eroberer, eine Scheidung von dem neuen Landesregimente stehen geblieben; und alles darin zeugte von den Vorzügen des ersteren, von den Mängeln des letzteren. Es kann nicht gestattet sein, bei dieser Gelegenheit in eine Untersuchung der Materie selbst einzudringen. Die Sache ist bekannt und gewürdigt. Seit fünfzig Jahren ringt Deutschland und bis jetzt nur mit teilweisem Erfolg nach jenen ersten Bedingungen einer vernünftigen Gesetzgebung, welche das Genie der Revolution in seiner kurzen Blütezeit mit unerreichter Meisterschaft vollendet hat. Geschworenen­ gerichte, Öffentlichkeit, Mündlichkeit, ein aller Welt zu­ gängliches feststehendes Gesetzbuch, allgemeine Gleichheit vor demselben bildeten einen leuchtenden Gegensatz zu den mittel­

alterlichen Institutionen der angrenzenden Lande von Darm­ stadt oder Nassau. Jnquisitionsgerichte, unendliches Schreiber-

182 wesen, privilegierte Gerichtsstände, Vermischung der Jusüz

und Verwaltung und ein legislativer Wust, der auf die Verhältnisse des modernen Lebens nicht mehr anzupassen war, erfüllten den Rheinländer mit Grauen vor einer legalen

Berührung mit den allernächsten Städtchen. Wie sollte er Geschäfte machen mit seinem Nassauer oder Darmstädter Nachbar? Bei dem ersteren gab es nicht den Schatten eines Wechsel- oder Handelsrechtes, bei dem letzteren ward es einem dunkel vor den Augen, wenn man den Spinn­ geweben des Starkenburger, Solmser, Lycher, Katzenelnbogener Landrechts nahe kam, ich nenne nur die erhabensten. Ist es da zu verwundern, daß sich im Juristenstande vor allen anderen die Französelei festsetzte? Er blieb das Gefäß der lebendigen Erinnerung an die Fremdherrschaft, der Anti­ pathie gegen das Altertümliche, welches von jenseits eifer­ süchtig herüberlugte. Man sagt, es gebe keine Nase, die ganz lotrecht auf dem Gesichte stehe. Mehr noch als die Nase ist der Verstand des Menschen von Natur einseitig. Das Schwergewicht seiner Selbstliebe und seines Ruhe­ bedürfnisses drängt ihn aus der schwebenden Unparteilichkeit in die festgepfählte Beschränktheit hinein. Die Verehrung des Franzosentums ward in unseren Gerichtsleuten zum Steckenpferd, um so widerwärtiger, als ihm der Ausgangs­ punkt des politischen Liberalismus bei der Mehrzahl nach und nach abhanden kam. Eine der wenigen Gründungen der französischen Gesetz­ gebung, an welche die hessische Regierung sogleich Hand anzulegen gewagt hatte, war die freie Advokatur. Sie hatte mit richtigem Instinkte auch diese von ihrer Ernennung ab­ hängig gemacht. Der Richterstand blieb zwar unabsetzbar, doch ist diese äußere Garantie gegen herrschaftliche Einflüsse überall da sehr bedingt, wo das Avancement von der Re­

gierung abhängt, denn auf letzteres ist der Richter ange-

183 wiesen, und am allermeisten bei dem französischen System, welches — zum mindesten damals — ihn höchst kümmerlich bezahlte. So drängte sich leicht von der einen Seite der Beamtenservilismus ein, ohne von der anderen das anti­ deutsche Vorurteil hinanszudrängen. Nur der Spiritus des revolutionären Instinktes ging zum Teufel. Die Eitel­

keit der stemden Form blieb vorzugsweise Gegenstand der Verehrung. Schauer der Unendlichkeit rieselten den Rücken herab, wenn die Sprache auf die roten Talare des Pariser Kassationshofs kam, und mit ehrfurchtsvoller Rührung er­ zählten die ergrauten Kanzlisten uns spätgeborenen Kandi­ daten, wie zur guten alten Zeit der Assisenpräsident seinen feierlichen Aufzug gehalten und einer Schildwache vor seiner Thüre genossen habe; und was der Schnurren dieses Ka­ libers mehr waren. Besonders lebhaft schillerten alle diese Thorheiten da, wo sich die soldatischen Reminiscenzen ein­ mischten, denn diese waren vielfach im Juristenstand ver­ treten. Mancher hatte beim Regierungswechsel den Degen mit der Toga vertauscht, und die Leute, welche sich als Offiziere der großen Armee in Spanien und Rußland herumgeschlagen hatten, wurden nicht eben die schlechtesten Praktiker. Aber sie blieben stolz auf ihre Feldzüge, ver­ zeihlicher Weise. Es schmeichelte dem Selbstgefühl, an den fabelhaften Zügen einer alexandrinischen Periode thätigen Anteil genommen zu haben. Daß man zu Deutschlands Erniedrigung mitbeigetragen habe, mochte keinem beikommen. Es hatte vorher kein Deutschland gegeben und gab keines nachher. Wer sich davon überzeugen wollte, brauchte bloß

die Akten der schwarzen Kommission nachzusehen, die er unter der Hand hatte, oder die des Bundestags, die ihm nahe lagen. In der besten Gesellschaft hatte man dem Korsen gedient. Prinzen aus dem Geblüt des eben neu angestammten Herrschers erinnerten sich mit Wohlgefallen

184 ihrer französischen Campagnen. Hatten doch von jeher die kleinen deutschen Fürsten mit Stolz unter französischen Bannern gedient. Die Namen der zwölf deutschen Re­ gimenter, welche unter dem vierzehnten, und der fünfund­ zwanzig, welche unter dem fünfzehnten Ludwig in der fran­ zösischen Armeeliste figurieren, haben die Erinnerung jener Dienstbarkeit verewigt. Eines derselben hieß sogar allereigentlichst: Hesse - Darmstadt. Neben ihm gab es: ein Regiment Furstenberg, Royal AUemand, Royal La­

viere, Salm, Lamark, Nassau, Royal Deux-Fonts, u. s. w.*) Der Soldat, hinter dem kein großes national fühlendes Vaterland steht, kann bei der besten Charakter­ anlage nichts werden, als ein Landsknecht. Was natür­ licher, als daß der Veteran des Rheinbunds lieber in der Gloriole seiner Waffenthaten fortlebte, als in dem zer­ knirschenden Bewußtsein der Erniedrigung, an der er selbst mitgearbeitet hatte? In dem Maße als die Kaiserzeit der Geschichte anheimfiel, bildete sich das heroische Element ihrer Abenteuer noch legendenhafter aus, und ihre Überbleibsel mochten sich nicht den Luxus versagen, sich selbst und den Nachgeborenen ein Gegenstand der Verehrung zu werden. Ein förmlicher napoleonischer Kultus wurde in Gestalt der s. g. Veteranenvereine hergestellt. Der Zusatz von historischer

Ehrwürdigkeit, welcher die Sache etwa bei nachsichtiger Be­ schauung hätte retten können, verschwand unter der läppischen Selbstgefälligkeit, welche dem paradeseligen Spießbürgertum und dem ruhmredigen Alter beiwohnt; und vollends un­

erträglich war die Naivetät, mit welcher die guten Leute sich in gänzlicher Unwissenheit zu der Rolle verhielten, welche sie als Deutsche unter ihrem großen Kaiser gespielt

hatten.

Wer nur immer durch die verzweifelten Aufgebote

*) Fieffe, Hist, des troupes etrangeres au Service de la France.

185 der letzten Widerstandsversuche Bonapartes für einige Tage unters Gewehr gekommen war, kredenzte sich jetzt die Süßig­

keit, als ein Trümmer der „Großen Armee" wieder aufzutauchen. Alljährlich am 5. Mai begingen die Vereine die Todesfeier ihres Feldherrn. Ein trophäengeschmückter Saal empfing die Getreuen. Namen für Namen wurde aufgerufen, und der Überlebende antwortete stolz mit dem urtextlichen „Present“! Die Trommel wirbelte die alten Märsche, und der großmütige Rhein lieferte in Fülle den

Saft der Begeisterung zum Andenken an seine eigene Ent­ ehrung. Ganz natürlich und ohne allen Arg thronte zu Häupten der Gesellschaft und noch über dem Idol von

Austerlitz die Büste Seiner Königlichen Hoheit des Groß­ herzogs von Hessen und bei Rhein. Die loyalen Imperia­ listen erfreuten sich der allerhöchsten Protektionen. Staats­ beamte der obersten Rangstufen präsidierten, Gerichts­ präsidenten, Richter, Advokaten, Notare stiegen brüderlich herab zu dem gemeinen Handwerker. Die schöne Idee der

ffanzösischen Herrschaft verband alle Gemüter! Die Regierung, welche dem unschuldigen Bruder Studio sein schwarz-rot-goldnes Band nicht gönnen mochte, ließ die Sonne ihrer Huld über dem kaiserlichen Adler leuchten. Und mit Recht: denn obgleich die Burschenschäftelei be­ schränkt und ungefährlich war, wie die Fransquillonerie, so lag doch in jener prinzipiell wenigstens der bedenklichere Keim. Der Gedanke einer nationalen Wiedergeburt ist den Fürsten von jeher schrecklicher gewesen als der Gedanke eines Angriffs von außen. Der wesentliche Dienst, welchen der Kultus der französischen Reminiscenzen dem Landes­ oberhaupt leistete, bestand in der Unterhaltung des pro­ vinzialen Sondergeistes. Mochte man auch der absurdesten und streng genommen feindseligsten Überlieferung anhangen, man war doch nicht brüderlich deutsch gesinnt; mochte das

186 Auge nach Frankreich hinüberschielen, wenn nur das Ohr dem Pulsschlag eines gemeinsamen Vaterlands im Herzen der Nation taub blieb. Die Gährung, welche der Pariser Julirevolution in Deutschland nachfolgte, fand unter solchen Umständen wenig Nahrungsstoff in Rheinhessen. Wahr­ hafter Freiheitstrieb ist ohne nationales Bewußtsein nicht denkbar. Einzelne Persönlichkeiten, die ihren Geist an deutschen Hochschulen erweitert hatten, beteiligten sich wohl an den deutsch-patriotischen Versuchen, deren Schauplatz das nahe Rheinbaiern ward, allein die Gesamtbevöllerung blieb beinahe gleichgültig. Selbst der Krawall im benachbarten Frankfurt und die von da eingebrachten und den Festungs­ gefängnissen übergebenen Studenten erweckten kein le­ bendiges Mitgefühl. Wenn andererseits mit dem allmählichen Aussterben der älteren Generation die Verehrung für die Trikolore erkalten mußte, so wuchs an ihrer Stelle doch mehr Gleichgültigkeit als deutscher Sinn auf. Die Drohungen des Ministeriums Thiers vermochten ebenso wenig nationale Begeisterung anzufachen, als es die Ermunterungen der Wirth und Siebenpfeiffer zehn Jahre vorher auf umge­ kehrtem Wege vermocht hatten. Mit völliger Gemütsruhe und wie etwas, das ihn wenig kümmerte, sah der lust­ wandelnde Bürger zu, wie die Österreicher und Preußen ihre Festung verpallisadierten. Es ist wahr: man wünschte nicht mehr die Franzosen herbei, aber man zitterte auch nicht vor dem Gedanken ihrer Rückkehr. Das schlechte Lied von Niklaus Becker ward einigen Singvereinen andoktriniert, aber populär wurde es hier nur mit einer sehr ausge­ sprochen ironischen Betonung. Nirgends mußte man auch besser wissen, daß frei und deutsch und Rhein sich nur

spottweise reimen ließ. Wie sehr in diesem unvermeidlichen Bewußtsein und in der historisch begründeten Hoffnungslosigkeit einer Vater-

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ländischen Regeneration der Jndifferentismus der Episoden von 1830 und 1841 gewurzelt hatte, das erhellt ganz augenscheinlich aus dem urplötzlichen Stimmungsumschlag des Jahres Achtundvierzig. Beim ersten Lichtblick einer großen deutschen Zukunft war der ganze Spuk im Nu zer­ ronnen, die Erinnerung selbst an die herkömmliche Aus­ länderei war wie weggewischt, und Jedem lag es sonnenklar vor Augen: der Instinkt der politischen Freiheit befand sich zum ersten Male auf dem Wege, als er die Idee eines einigen deutschen Vaterlands empfangen hatte. Keinen Augenblick während der vielgestaltigen Bewegung dieses Jahres erhob sich der Schatten der Französelei aus dem Grabe, in welches ihn die neue Zeit für immer gebettet hat. Ja, was noch mehr ist: alle Schamlosigkeiten der nun folgenden zehnjährigen Reaktion vermochten nicht, den Volkscharakter von dieser Seite zu demoralisieren. Von allen die einzige Märzerrungenschaft, welche übrig blieb, war die Vereinigung im Geiste mit einer — allerdings noch

zu schaffenden — deutschen Nation. Natürlich: es war auch die einzige Errungenschaft, welche nicht großherzoglichen Bewilligungen verdankt wurde. Was die Großmut der Krone in ihren Nöten gegeben hatte, das nahm sie alsbald zurück bis auf den letzten Faden. Und so ist's recht: denn geschenkte Freiheit ist wie des Spielers gewonnenes Geld. Sie kehrt dahin zurück, woher sie gekommen. Nur was die Krone nicht gegeben hatte, das konnte sie auch nicht nehmen: die Erkenntnis des einzigen Heils für alle Zukunft.

„Ein unglückliches Volk hat kein Vaterland," sagt ein Redner der großen Revolution. Man muß aber auch hin­ zufügen: ohne Vaterland giebt es kein Bolksglück. In diese beiden sich ergänzenden Sätze faßt sich die Einsicht zu-

188 fammen, welche wir aus der Verfolgung des bisher ge­ schilderten Entwickelungsganges gewinnen wollten. Nicht müßige Unterhaltung an schon oft erzählten Borfallenheiten war unser Endzweck, sondern der praktische Schluß auf Verhältnisse einer brennenden Thatsächlichkeit. Es ist überflüssig, nachzuweisen, wie nahe die Möglich­ keit kriegerischer Ausbrüche vor uns liegt. Königliche Reden erinnern uns oft genug daran, wenn es gilt, die Steuern und die Bataillone zu vermehren. Daß es damit allein nicht geschehen, fällt den erhabenen Sprechern in ihrer Besorgnis um die „Rechte Dritter" nicht ein. Auch mit der bloßen Beseitigung der Ausländerei ist es nicht gethan. Nichts Geringeres kann uns retten, wenn die oft angerufene Ge­ fahr einmal hereinbrechen sollte, als der lebendige, feurige, sachbewußte Glaube der Nation an sich selbst. Dazu gehört aber, daß sie als Nation, als staatliche Einheit vorhanden sei. Mit der idealen Einheit der für Gott im Himmel singenden Zungen ist es ein unfruchtbares Wesen. Schwär­ merei und Betrug abwechselnd haben aus dem Nationalitäts­ prinzip ein mystisches und abstraktes Ding gemacht. So konnte es nur erscheinen, wenn es von dem Gesamt­ begriff, dessen es nur ein Teil ist, losgelöst wurde. Dieser Gesamtbegriff aber ist nichts anderes als die Selbstherr­ lichkeit der Völker: die Freiheit. Daß ein Volk auf seine Weise frei sei, das heißt: Nationalität. Sie wird wie alle Erscheinungen des Lebens nur da zur Wahrheit, wo die materielle Thatsache für die geistige Empfindung die Mög­ lichkeit der Existenz schafft. Der dynastische Egoismus hat sich der Nationalitätsfrage, wie aller anderen Probleme, abwechselnd in den widersprechendsten Deutungen bedient. Oft hat er die ganze Sache höhnend abgeleugnet, andere Male wieder hat er dieselbe Sache mit solcher endlosen

Konsequenz bejaht, daß jede Quadratmeile autonom werden

189 sollte. Ein drittes Mal endlich, und dies ist im deutschen Bunde der Fall, hat er sie, wie alles Unterthanenglück, in ein geistiges Jenseits verlegt, in den Himmel des Fühlens und Dichtens. Diese platonische Einheit kann aber heute noch weniger frommen als je. Dem Stoffe ist das Jahr­ hundert ergeben, und stofflich will es besitzen, wonach es

verlangt. Der ganze enthusiastische Aufschwung der nationalen Triebe ist nichts anderes, als dies Bedürfnis: aus dem Reich des abgezogenen Denkens in das Reich der körper­ lichen Thatsachen überzugehen. Jede Nation will sein, d. h. sie will nicht blos Einen Geist, sondern auch Einen Körper haben. Selbstbestimmung, äußere wie innere,

ist der höchste Ausdruck des sittlichen Lebens. Aus dem Recht auf sie, aber auch nur aus diesem, entquillt das Recht auf Anerkennung der Nationalität. Merdings kann ein Volk Nationalitätsdrang besitzen ohne gleichzeitig erkanntes Bedürfnis nach politischer Freiheit, aber doch nur so, wie das im Werden begriffene Individuum mit dunklen In­ stinkten der Ernährung sich zu der Einsicht der bewußten Selbsterhaltung emporringt. Warum es auf nationale Weise hat sein wollen, begreift ein Volk erst, wenn es auch die Freiheit begriffen hat. Umgekehrt aber auch kann eben deshalb ein Volk, welches seine politische Naivetät abgelegt hat, an seine Nationalität nicht mehr glauben ohne den Glauben an seine Freiheit. Darum war das Gesamt­ bewußtsein der Italiener, besonders derer des Nordens, zäher als das der Deutschen, weil jene in ihren Republiken wenigstens das Bild der Freiheit vor Augen hatten, diese aber im Anblick von Zwergdespotismus den Sinn jeder politischen Existenz aus dem Gesichte verlieren mußten. Der Absolutismus in Form der Kleinstaaterei hat von jeher den Fremden nach Deutschland hereingeführt, bald als Bewerber

um die Kaiserkrone, bald als Verbündeten, bald als Feind.

190 Was in der Ausländerei liberaler Instinkt war, das unter­ hielt er durch den Kontrast, was von Knechtssinn in ihr stak, durch die Verwandtschaft seiner Engherzigkeit. Die

wenigen Franzosenverehrer, welche es noch heute in der Rheinprovinz geben mag, sind alle — deß sei man sicher — vortrefflich darmstädtisch gesinnt. Die Kleinstaaterei ist die Brücke zwischen Frankreich und Deutschland, nicht minder ist sie die Scheidewand zwischen Deutschland und sich selbst, seinem Gesamtbewußtsein, seiner Kraft, seiner Existenz als Großmacht, die nur in der wirklichen Staatseinheit zum Dasein kommen kann. Alle föderalistischen Surrogate, die eine solche Einheit entbehrlich machen sollen, sind jämmerliche Quacksalbereien; kein bloßes Parlament und keine Trias, noch sonstige Phantasiegeburt abenteuerlicher Doktrinäre

vermag derjenigen geistigen und physischen Kraft die Wage zu halten, welche der moderne Großstaat aus seiner strengen Einheit zieht. Die Zeit, welche begriffen hat, daß zur

humanen Erziehung das Turnen gehört, sollte auch be­ greifen, daß zur geistigen Volkseinheit eine strenge körper­ liche Jneinanderbildung unentbehrlich ist. Der Föderalismus

hat nirgends die Probe bestanden von Hellas bis Nord­ amerika. Es ist die letzte, aber vergebliche Transaktion des Familiengeistes mit dem politischen Beruf. Natürliche Grenzen hat nur die Gemeinde. Zwischen ihr und dem Staat soll es nichts Drittes geben. Überall ist der Fort­ schritt auf dem

Wege der Union, überall

das

Gegenteil

auf dem Wege der Bündelei. Großbritannien, Frank­ reich, die Schweiz haben Freiheit und Kraft erst in der

vollständigen Einigung gefunden, Italien erlebt das Nämliche, und nur die Feinde seiner Zukunft bemühen sich, ihm Kon­ föderation mit einem Dutzend Autonomieen aufzuschwatzen. Während im äußersten Westen der Föderalismus eines der glorreichsten Staatengebilde nach kurzer Blüte aufzulösen ver-

191 sucht, um die Sklaverei heilig zu sprechen, zersprengt im äußersten Osten der innere Entwickelungsdrang eines wenn

auch vorerst nur despotisch vereinigten Landes die Bande der Leibeigenschaft.

Außer den allgemeineren geschichtlichen Hülfsquellen, außer zahlreichen von mir benützten Journalen und anderen Drucksachen der Zeit, verweise ich besonders auf nachstehende Schriften und Aktenstücke: Darstellung der Mainzer Revolution oder umständliche und freimütige Erzählung aller Vorfallenheiten, die sich seit dem entstandenen französischen Revolutionskrieg zuge­ tragen, und die einen Bezug auf den Krieg, auf die Über­ gabe der Festung oder auf den Klub und dessen grausames Verfahren gegen die Andersgesinnten haben, mit allen nötigen Beilagen. Frankfurt und Leipzig 1794. — Die Belagerung der Stadt Mainz durch die Franzosen und

ihre Wiedereroberung durch die deutschen Truppen. Mainz 1793. — Mainz im Genusse der durch die Franzosen er­

rungenen Freiheit und Gleichheit. Deutschland 1793. — Der Patriot, vom I. 1793. — Georg Forsters Schriften, herausgegeben von Gervinus. — Denkwürdigkeiten aus dem letzten Dezennium des 18. Jahrhunderts von Friedrich Hurter. Schaffhausen 1840. — Memoiren des General Eikemayer, herausgegeben von H. König. — Geschichte der Politik, Kultur und Aufklärung des 18. Jahrhunderts, von Bruno Bauer. — La Vie de St.-Just par Hamel. — Revolution de la Commune des Strasbourg. — Vie et Correspondance de Merlin de Thionville par Reynaud.

— Berichte der Konvents-Kommissarien, besonders: Rapport des frontieres du Rhin; Rapport des commissaires de l’armee du Rhin An II. L. 39. No. 15. 43 et 44 in der Bibi. Richelieu — Annuaires statistiques du Depart.

du Mont-Tonnerre. — Rheinhessen in seiner Entwickelung

von 1798 bis 1834 von W. Hesse rc.

Ein Vaöernecum für deutsche Unterthanen.*) ^>o vielfach auch schon die Scheußlichkeiten zur Sprache

gekommen sind, welche das Thema des vorliegenden Buches ausmachen, so kann man sich doch bei Einsicht desselben um so weniger der tiefsten Zerknirschtheit erwehren, weil durch die Arbeit des Verfassers mit einer so erschöpfenden und um­ fassenden Treue der ganze Verlauf jener entehrenden Greuel enthüllt ist, daß weder an Vereinzeltheit, noch an Übertreibung irgendwie gedacht werden kann, um aus der Trostlosigkeit unserer jüngsten Vergangenheit Rettung zu finden. Jüngste Vergangenheit allerdings, denn die Hauptaktoren dieser Tragödie sind noch gleichzeitig mit der jetzt kaum ins Mannes­ alter tretenden Generation auf deutscher Erde gewandelt, in behaglichem Alter die Früchte ihres Menschenhandels ver­ zehrend, otium cum dignitate! Der Graf v. Schliesien, welcher als kurhessischer Minister es unter seinen zahlreichen Konkurrenten zur größten Virtuosität in diesem Zweig der Volksbewirtschaftung gebracht hatte, starb 1825, und der

*) Aus den „Deutschen Jahrbüchern", 1864, in Besprechung von Friedrich Kapp's Buch: „Der Soldatenhandel deutscher Fürsten nach Amerika" Berlin 1864.

193

Erbprinz von Hanau, welcher in der folgenden Darstellung eine so hervorragende Stellung einnimmt, ist derselbe, welcher 1814 in Hessen-Kassel einzog und die neue Aera kurhessischer Laudesvaterschaft in ihrer von Geschlecht zu Geschlecht fort­ blühenden Herrlichkeit begründete. Alles was heut in kleinen deutschen Residenzen thront, ist noch in derselben Atmosphäre ausgewachsen, in welcher jene Großväter atmeten; die Äpfel liegen dicht bei den Stämmen. Was hätte sich auch seit­ dem in Deutschland geändert? Vielleicht dennoch am meisten

gerade der Geist dieser Höfe; denn am Ende, was anders als der gute Wille und die sanftere Gesittung der Fürsten hält sie ab, nicht zwar Menschen zu verkaufen, da es ja keine Käufer mehr giebt, aber doch mit derselben Brutalität und Willkür über die Personen und Güter ihrer Unterthanen zu verfügen, wie es die Großväter gethan haben? Noch ist in solchen Dingen auch der kleinste deutsche Landesfürst ebenso unabhängig, ja noch unabhängiger als dazumal; denn im Grunde kam es weiland noch eher vor, daß Kaiser und Reich sich irgend einem landesherrlichen Mißbrauch in den Weg legten, als heutzutage der Bund. Bedenkt man, daß die himmelhoch aufflammende Lohe der französischen Revolu­ tion den nächsten Horizont jener Landschaften mit dem Blut­ rot ihrer Rache färbte, welche doch viel geringeren Misse­ thaten galt, und das zu einer Zeit, wo kaum die Überlebenden jener verkauften Unterthanen aus Not und Gefahr heim­ gekehrt waren, um die Maitresfenwirtschaft mitanzusehen, die von dem Kaufpreis ihres verhandelten Leibes genährt wurde; und bedenkt man dazu, daß trotz alledem in keinem dieser Ländchen der Wutausbruch des französischen Volks ein offenes Ohr oder Auge, geschweige denn einen Versuch der Nachahmung fand, — hält man diese Gegensätze zu­ sammen, so erfaßt man erst recht die totale Abwesenheit alles dessen, was irgendwie Empfindung für Recht, Freiheit Ludwig Bamberger's Ges. Schriften. I. ig

194 oder Menschenwürde in deutschen Bürgerseelen genannt werden könnte. Mit Spannung blätterten wir in diesem Buche vor allen Dingen gerade nach jenen Kapiteln, welche

von dem Rückschlag der öffentlichen Meinung oder auch nur einzelner markierender Stimmen gegen jene Schamlosigkeiten handeln mußten. Denn mit Recht erwarteten wir, daß der Verfasser gewiß sich nichts würde haben entgehen lassen von dem, was ja vor allem dem leitenden Gedanken seines

Unternehmens zunächst entsprechen mußte, nämlich von den gelegentlichen Offenbarungen des dem Volk und seinen Lebensanschauungen innewohnenden Naturells. Aber mit all seinem treuen Fleiß hat er nichts auftreiben können,

was die Ehre der Nation auch nur von weitem retten, was unser eigenes Bewußtsein, sei es rückwärts von Gerechtigkeits-, sei es vorwärts von Hoffnungswegen, aufrichten könnte. Ja, es kann nicht genug betont werden: Hundert­ undvierzig Jahre nach der Hinrichtung Karls I. und ein gutes Jahrzehnt vor der Hinrichtung Ludwigs XVI. konnte vom Nordmeer bis zum Bodensee Deutschland der Schau­ platz einer zur organischen Staatseinrichtung gewordenen Menschenverkäuferei geworden sein, deren Gleiches, wie der Verfasser bemerkt, in keiner Geschichte, in keinem Erdteile zu sinden ist, wenn man nicht an die afrikanische Küste zum König von Dahomey wandern will, und alles das, ohne daß es von Fürsten und Völkern anders als mit der sanf­ testen Naivetät geübt und ertragen worden wäre. Wollen wir Ausbrüche des Unwillens über den deutschen Sklaven­ handel vernehmen, so müssen wir sie im Auslande aufsuchen.

Zunächst im englischen Parlament, Ober- und Unterhaus, wo natürlich die Gegner des Ministeriums und des Kriegs wider die Kolonien nicht verfehlten, die Mitschuld zu brand­ marken, welche die englische Regierung als Hehlerin des landesväterlichen Diebstahls auf sich nahm. Es sei hier auf

195 die

im

vorliegenden

Buche

ausführlich

wiedergegebenen

Kammerverhandlungen hingewiesen. Ebendaselbst finden wir den offenen Brief, welchen der nachmals zum Taufpaten der großen Revolution gewordene Mirabeau an das Hessen­ volk richtete. Avis aux Hessois et autres Peuples de l’AUemagne, vendus par leurs princes ä l’Angleterre.

— Cleves chez Bertol, 1777. Endlich eine Reihe von Pamphleten, welche, vorzugsweise in Holland, unter franzö­ sischer und amerikanischer Inspiration entstanden und darauf berechnet waren, mit allen Qualen bittern Spottes den treuen deutschen Unterthan aus seiner, jeder Menschenwürde und jeden Menschenrechtes unbewußten Resignation aufzu­ wecken. So unter anderen ein Brief angeblich des Grafen Schaumburg, Prinzen von Hessen-Kassel, welchen derselbe von einer Vergnügungsreise nach Rom aus im Februar 1777 an den Befehlshaber seiner nach Amerika verkauften und daselbst im Felde stehenden Truppen geschrieben haben sollte. Der Brief, welcher lange als echt gegolten und leicht hätte echt sein können, ätzt jedenfalls die Merkmale des ganzen Sachverhältnisses mit so scharfen Zügen in die Vorstellung der Mitwelt ein, daß wir uns nicht versagen können, ihn hier einzuschieben. Er lautet: „Baron Hohendorff! Ich erhielt zu Rom bei meiner Rückkunft aus Neapel Ihren Brief vom 27. Dezember vor. Jahres. Ich ersah daraus mit unaussprechlichem Vergnügen, welchen Mut meine Truppen entfalteten, und Sie können sich meine Freude denken, als ich las, daß von 1950 Hessen, die im Gefecht waren, nur 300 entflohen. Da wären denn gerade 1650 erschlagen, und ich kann nicht genug Ihrer Klugheit anempfehlen, eine genaue Liste an meinen Bevoll­ mächtigten in London zu senden. Diese Vorsicht würde um so mehr nötig sein, als die dem englischen Minister zuge­ sendete Liste aufweist, daß nur 1455 gefallen seien. Auf 13*

196

diesem Weg sollte ich 160,050 Fl. verlieren! Nach der Rechnung des Lords von der Schatzkammer würde ich bloß 483,450 Fl. bekommen statt 643,000. Sie sehen wohl ein, daß ich in meiner Forderung durch einen Rechnungsfehler gekränkt werden soll, und Sie werden sich daher die äußerste Mühe geben, zu beweisen, daß Ihre Liste genau ist und seine unrichtig. Der britische Hof wendet ein, daß, da 100 verwundet seien, für welche sie nicht den Preis von todten Leuten zu bezahlen brauchen.... Erinnern Sie daran, daß von den 300 Lazedämoniern, welche den Paß von Thermopylä verteidigten, nicht Einer zurückkam. Ich wäre glücklich, wenn ich dasselbe von meinen braven Hessen sagen könnte. Sagen Sie Major Niendorf, daß ich außerordent­ lich unzufrieden bin mit seinem Benehmen, weil er die 300 Mann gerettet habe, welche von Trenton entflohen. Während des ganzen Feldzugs sind nicht 10 von seinen Leuten ge­ fallen." Möge niemand sich wundern, daß dieser Brief zur Zeit und bis auf unsere Tage als echt angenommen wurde. Die Urheber desselben wußten vielleicht nicht einmal, wie gut und der Wahrheit nahe stehend ihre Erfindung ausge­ fallen sei. Es war nicht schwer, das, heute noch nicht aus­ gestorbene, landesväterliche Pathos jener Zeit täuschend nachzuahmen, aber es war um so schwerer, die Wirklichkeit im Punkte thatsächlicher Niedertracht zu übertreffen. Hätten die Erdichten jenes prinzlich hessischen Briefes das Schreiben gekannt, welches um die gleiche Zeit der braunschweigische Staatsminister Feronce an den englischen Gesandten Faucitt richtete, so hätten sie sich gewiß der Mühe und Bedenklich­ keit des Erfindens überhoben. Es war nämlich geschehen, daß am 17. Oktober 1777 in der Schlacht bei Saratoga der englische General Burgoyne sich dem amerikanischen General Gates hatte ergeben müssen, und mit ihm gerieten

197

2000 Braunschweiger in die Gefangenschaft. In Folge dessen blieben die deutschen Soldaten länger als fünf Jahre hindurch in harter, entbehrungsvoller Gefangeuschaft. Man hat, sagt Kapp, vielfach den Grund für diese schlechte Be­ handlung der Braunschweiger in der englischen Engherzigkeit und Parteilichkeit gesucht. Man thut aber den Engländern Unrecht, denn der eigene Landesherr war es, welcher seine Unterthanen benachteiligte. Als das erste Gerücht von der Niederlage bei Saratoga und der baldigen Zurückkunft der (gemäß anfänglicher Stipulation aus der Gefangenschaft auszuwechselnden) englischen Truppen, also auch der Braun­ schweiger, nach Deutschland drang, schrieb nämlich der herzogliche Minister Feronce unterm 23. Dezember 1777 an Faucitt: „Wenn man uns hilft, wie man kann und soll, so werden wir unsere Truppen bald wieder auf den erforder­ lichen Etat bringen. Soll es geschehen, und darin werden Sie, General, mit mir übereinstimmen, so dürfen wir unter keiner Bedingung die armen Teufel von Kapitulanten nach

Deutschland zurückkehren lassen. Sie werden natürlich miß­ vergnügt sein, und ihre Übertreibungen (sic!) werden eben­ so natürlich von jeder ferneren Beteiligung an Ihrem amerikanischen Kriege abschrecken. Sie lassen sie besser, wenn sie denn einmal ausgewechselt werden sollen (!) nach einer Ihrer amerikanischen Inseln oder selbst z. B. nach der Insel Wight bringen" rc. Und in der Herzensangst ob der möglichen Erfolglosigkeit dieser landesväterlichen Für­ sorge mußte der Minister zwei Monate später, am 23. Februar 1778, noch einmal an Lord Suffolk, den Vorsitzenden des englischen Kabinets, schreiben: „Der Herzog ist zu sehr von dem Wohlwollen des Königs und der Klugheit seines Ministeriums überzeugt, als daß er voraussetzte, daß man je daran denken wird, die deutschen Truppen, die bei Saratoga

198 kapituliert haben, nach Deutschland zu schicken, denn ihre Rücksendung würde in ihrem gegenwärtigen zerrütteten Zu­ stande die traurigsten Wirkungen Hervorrufen und die schmerz­ lichste Sensation erregen, uns aber verhindern, unsere drei Regimenter in Canada ä 600 Mann zu kompletteren"; — soll heißen: das für unsere herzoglichen Belustigungen un­ entbehrliche Geld gegen Überlieferung neuer Schlachtopfer einzukassieren.

Aber der angestammte, von Gott eingesetzte

und nur auf das Wohl seiner getreuen Unterthanen bedachte Kriegsherr war glücklicher, als er zu ahnen gewagt hatte, und es zeigte sich wieder, wie so oft, daß die Vorsehung mit besonderer Vorliebe über gesalbte Häupter wacht. Denn

obzwar der General Gates Auswechslung und Rücksendung der Truppen eingeräumt hatte, so verwarf doch der amerika­ nische Kongreß die Einhaltung dieser Bedingung, und die Braunschweiger wanderten in die Kriegsgefangenschaft in welcher sie, Dank den erwähnten Veranstaltungen, länger un­ schlechter gehalten wurden, als die in derselben Kapitulation einbegriffenen Engländer. Man kennt noch bis auf den heutigen Tag kein Beispiel, daß eine deutsche Regierung sich mit solcher Energie und solchem Erfolg ihrer im fernen Ausland verweilenden Unterthanen angenommen hätte. Un­ gerecht wäre übrigens jedes Erstaunen über die innere Ver­ worfenheit jener fürstlichen Denkungsweise, welche nicht bloß in der Natur und dem Rechtsgrund der Hoheit über Land und Leute, sondern vor allen Dingen in der unerschütter­ lichen Treue, Duldung und Versunkenheit der Unterthanen ihre volle Begründung fand. Warum sollte nicht ein Prinz, der Menschen, wie Schlösser, Geräte oder Viehstand, ererbte, erheiratete, eintauschte, sie auch für bares Geld verkaufen dürfen? War doch die Landeshoheit zu einer Zeit, die an­ geblich das Ewige hoch über das Irdische stellte, mit der Maxime eingesetzt worden: Cujus regio ejus religio, und

199 wie sollte man sich wundern, daß, wer die Seelen in Himmel oder Hölle, auch die Leiber ins Feuer zu komman­ dieren berechtigt sei? Und ist es nicht der menschlichen Natur zu viel zugemutet, zu erwarten, daß ein Fürst, dessen Unterthanen sich ohne Zeichen der Mißbilligung solcher Be­ handlung Preisgaben, inmitten aller Verführungen und Be­ räucherungen seines Hoflebens auf edlere Ansichten hätte verfallen sollen? Wissen wir doch, daß selbst hochbegabte Regenten wie Katharina, und Genies wie Friedrich für Montesquieu, Rousseau oder Voltaire schwärmen und dabei das brutalste Willkürregiment, variiert mit allen Auswüchsen ihrer Launen, Leidenschaften und aristokratischen Vorurteile,

ausüben konnten. Was läßt sich danach von einem Hanauer oder Waldecker Serenissimus erwarten? Merkwürdig ist und war in der europäischen Geschichte nur das ewig Eine: das ist die platte unverwundbare Seele des deutschen Phi­

listers. So sehr wir auch nach Symptomen der Indignation suchen: wir finden nichts, bis daß wir vorgedrungen seien zu dem Dichter von Kabale und Liebe, welcher — bezeich­ nend genug, wie Kapp hervorhebt, — den Ausdruck des Abscheus vor dem fürstlichen Menschenhandel einer Aus­ länderin und zwar einer ausländischen Dirne in den Mund legt. Das Pathos des Unwillens, welches im Munde eines deutschen Gelehrten oder Geistlichen unwahrscheinlich ge­ klungen hätte, das macht sich natürlich auf den Lippen einer englischen Courtisane. Nicht bloß die Masse der übers Meer Verkauften nahm ihr Los als das Gebot einer höher berechtigten Fügung stillschweigend hin, sondern die unter ihnen, welche sich berufen fühlten, die daraus erwachsenen

eigentümlichen Erlebnisse für Mit- und Nachwelt aufzu­ zeichnen, welche also über ihrer Arbeit die Nötigung empfinden mußten, dem Ob und Wie der zahlreichen über sie ver­ hängten Leiden denkend

nachzuspüren,

brechen in keinen

200 Laut der Anklage gegen die Personen und Zustände aus, welche das Unerhörte an ihnen verschuldet haben. Und dennoch geschah dies alles nicht bloß zu derselben Zeit, da der Kongreß in jener ewig denkwürdigen Erklärung die unverjährbaren Menschenrechte mit so einfach schlagenden Worten vor den Augen beider Welten ausgebreitet hatte, sondern auf dem Boden selbst, dem jenes neueste Testament entsprossen war, und im ungerechten Krieg gegen edlen Mannessinn. Soldaten wie Generale, die uns ihre Tage­ bücher hinterlassen haben, würdigen weder ihr eigenes Recht, noch das der Sache, für die sie auf Kommando kämpfen, eines Wortes der Betrachtung, und sie reiben sich auf für den Kriegsdienst, welchen die Finanzbedürfnisse fürstlicher Ausschweifungen ihnen auferlegt haben, mit eben der Aus­ dauer und eben der Treue, mit welcher sie ein anderes Mal für den Herd und für die Unabhängigkeit des Vater­ landes streiten. Ob sie um die höchste, die heiligste Palme, um den Siegeskranz von Salamis und Marathon werben, oder ob sie zu den Antipoden wandern, ihren und ihres Vaterlandes Namen zum ewigen Schimpf an die schlechteste, ihnen gänzlich fremde Sache zu heften, das ist nicht ersicht­ lich aus ihrem Leben, noch aus ihrem Sterben; und die Laune des Kommandowortes allein genügt, um mit einem Male die Thermopylen von Hanau nach Neu-England zu verlegen, wie der Pseudo-Prinz von Hessen mit schalkhafter Tiefe andeutet. Das ist der Zauber der Disziplin! Wer Sinn hat für die Religion der Fahne und für die Ehre der Uniform, der mag sich erbauen an der Beschreibung des Heldenmuts, welchen Offiziere wie Gemeine in zahlreichen Gefechten und während jener harten Winterfeldzüge an den Tag gelegt haben. Der Autor hat ihnen nicht den Tribut einer äußersten Gerechtigkeit vorenthalten wollen und in einigen Strichen am Ende seines Buches die Namen und

201 Thaten verzeichnet, welchen die Geschichte neben das Zeug­

nis persönlicher Ehrenhaftigkeit nur den Ausdruck mitleidigen Verzeihens aufs Grab setzen kann. Den Deutschen verfolgt

die Privattugend, welche ihn dem Staat entzieht und ihm den Staat verdirbt, bis aufs Schlachtfeld, und noch im Tod der Ehren stirbt er für seine allerprivateste Satisfaktion. Wenn diesseits und jenseits des Weltmeers das An­ denken an die Seelenverkäuferei von dem Andenken an die hessischen Regententugenden unzertrennlich geworden (in den Vereinigten Staaten hat sich das Schimpfwort „Hesse" bis auf diesen Tag erhalten), so schreibt sich dies edle Privi­ legium bekanntlich nicht von dem Umstande her, daß die Kasseler Kriegsherren allein jenem Zweige der Volkswirt­ schaft oblagen, sondern von der Geschicklichkeit und Kon­ sequenz, durch welche sie sich vor ihren fürstlichen Konkur­ renten in dieser Industrie ausgezeichnet haben. Während nämlich sämtliche im Lauf zweier Jahre nach Amerika ver­ kaufte deutsche Unterthanen sich auf 29 166 belaufen, finden

wir den hessischen Beitrag allein mit 16 992 Mann be­ ziffert, also stark über die Hälfte, und außerdem wußten der Kurfürst und sein Minister die vorteilhaftesten Bedin­ gungen auszuwirken. So z. B. hatte allen übrigen deut­ schen Lieferanten gegenüber das englische Kriegsministerium die Klausel festgehalten, daß es den Sold direkt in die Hand der Truppen auszahlen müsse, nicht bloß um der Übertreibung der Präsenzlisten, sondern auch um der Gefahr zu entgehen, daß zu Gunsten des fürstlichen Säckels dem armen Soldaten an seinem notdürftigen Auskommen etwas abgestohlen werde. Die Lords des Kabinets betonten viel­ fach, daß im Interesse der Wehrhaftigkeit der deutsche Soldat so gut gehalten werden müsse, wie der englische,

und sie mochten diese Sorge lieber ihrem eigenen Kriegs­ zahlmeister, als dem Auge des Landesvaters anvertrauen. Aber Kassel beherrschte so sehr den Weltmarkt in diesem

202 Artikel

und

war so

gut

mit

Ware

versehen,

daß

es

dem Käufer Trotz bieten und die Konditionen des Handels

So setzte es durch, von dieser Klausel

vorschreiben konnte.

los und selbst in den Besitz der Sold- und Verpflegungs­ gelder zu

kommen. — Welcher Art die einzelnen Artikel

und

Entstehungsgeschichte

die

dieser

Lieferungsverträge

waren, das lese man nebst allem anderen interessanten De­

tail des Ausführlichen bei Kapp selbst nach.

Es ist dem

Verfasser um so höher anzurechnen, daß er der Vollständig­ keit sachlicher Darstellung mit, man möchte sagen, freigebiger

Enthaltsamkeit

den ganzen Raum seines Buchs gewidmet

hat, als ihm bei solcher Vertiefung in solchen Stoff, vereint mit der Lebhaftigkeit und Schärfe seiner Gesinnung,

ständig

die Versuchung

seinen Betrachtungen

im

Nacken

be­

muß,

haben

gesessen

den Zügel schießen zu lassen;

und

dank seiner Er­

wir begehen eigentlich — glücklicherweise

mächtigung — einen Raub an ihm, indem wir uns dem Gedankengang überlassen, welchen seine mühevoll gesammelten Thatsachen und seine knapp, aber vielsagend daran gehängten Reflexionen in uns, wie notwendig in jedem Leser, wach­

rufen. kürzung

Immerhin

richtiger zu sagen: Pflicht

kann

die Leistungen

entheben,

keine der

Reflexion

wie

Originalarbeit

keine

ersetzen,

Ab­

oder

nichts kann den deutschen Bürger der mit eigenen

Augen

in

diesen

treuen

Spiegel seiner Vergangenheit und mutatis mutandis seiner Gegenwart zu schauen. Wenn nur der befugt ist, wie mit einigem Recht gesagt

worden, von der Gegenwart mitzureden, welcher dreitausend

Jahre Vergangenheit kennt, so mag der deutsche Unterthan von selbst die Anwendung dieser Rechnung aus die letzten

hundert Jahre und ihr lehrreichstes Exempel machen, und dies Stück seiner neuesten Geschichte, wie es da geschrieben worden, ohne allen Pomp ausführender Beredsamkeit, aber

mit allem Pomp

beredter Thatsachen,

sollte

einer Bibel

203 gleich auf dem Tische jeder Familie aufgeschlagen liegen, und ein Kapitel sollte daraus vom jüngsten Kinde zur Er­ bauung vorgelesen werden, nicht bloß vor jeder Mahlzeit, sondern auch überall da, wo gute, viel zu gute, Menschen Lieder singen, und andere ruhig, viel zu ruhig, sich dabei niederlassen. Oder vielleicht auch nicht? Vielleicht um­ gekehrt? Wie, wenn zu bedenken stände, daß bei Ver­

nehmung dieser Gräuel die friedseligen Herzen sich mit Dank erfüllten, weil solche Dinge überstanden, oder gar mit nationalvereintem Stolz, weil kraft unerhörten Fortschritts dergleichen hinfüro unmöglich geworden? Sind sie doch gegen sich selbst wie jener Nicklebysche Schulmeister, welcher seinen hohläugigen, die Elendskost anklagenden Zöglingen ihren Undank demonstriert an der Zeitungsnachricht einer in Wirklichkeit zu gänzlichem Tode verhungerten Familie! Nun, wenn es allerdings unmöglicher geworden ist, daß deutsche Landesväter ihre Unterthanen ins Ausland ver­ kaufen, als daß deutsche Unterthanen dies in passivem Widerstand über sich ergehen lassen, so ist das, wie gesagt, zunächst nur der feineren Gesittung und den geordneteren Finanzen der Fürsten selbst zu verdanken, und mittelbar den Nachbarn, welche in ihrem eignen Wald so viele Bäume gefällt haben, daß etwas weniges Licht auch in unsere Räume dringen mußte. Aber wir selbst sind un­ schuldig daran, und kümmerlich genug leben wir noch, wie mit Recht alle, die von Brosamen fremder Tische zehren. Außer jenen 16 992 Hessen-Kasselern wurden zu den

englischen Fahnen geliefert: von Braunschweig. Hessen-Hanau. ft Waldeck . . ff Anspach . . ft Anhalt-Zerbst.

..

5723, . 2422, . 1225, . 1644, . 1160, Summa 12174,

204

von welchen in die Heimat zurückkamen 6821.

Von den

16 992 Hessen des Landgrafen kamen 10 492 zurück, so daß, wenn er auch seine Kollegen im Punkte der kauf­ männischen Vorbehalte übertreffen konnte, doch das Schick­ sal wieder mit ausgleichender Gerechtigkeit dazwischentrat,

indem es ihm eine geringere Anzahl von Soldaten weg­ raffte und ihm die aus Todesfällen entstehenden Geld­

vorteile beschränkte. Auf die sämtlichen Truppen ergiebt sich mithin in einem Durchschnitt von nicht zwei Jahren und bei einer nichts weniger als mörderischen Kriegs­ führung ein Verlust von über vierzig Prozent, ein Ver­ hältnis, das allein schon für die Pflege, welche dem Sol­ daten zu Teil ward, Zeugnis giebt. Von Desertion war — standen die Truppen erst einmal im Felde — bei der vor­ erwähnten Diensttreue wenig die Rede. Glaube man übrigens nicht, daß es am guten Willen gefehlt habe, wenn keine andere Fürsten als das oben angeführte halbe Dutzend an diesen Soldatenlieferungen beteiligt waren. Vielerlei Unterhandlungen mit diversen Lusttragenden wurden durch den Frieden oder andere Umstände zu nichte. Der bekannte Herzog Karl Eugen von Württemberg namentlich hatte sich aufs angelegentlichste um die Abschließung eines Lieferungs­ kontrakts beworben, welcher auch zustande, aber nicht zur Ausführung kam. Denn bei näherer Besichtigung stellte sich heraus, daß die ganze Landesarmee des durchlauchtigen Schwindlers, welcher 3000 wohlausgerüstete Soldaten zu­ gesagt hatte, aus kaum 1600 dienstunfähigen und elend equipierten Leuten bestand. Der Kurfürst von Bayern drängte sich in den unterthänigsten Formen an den eng­ lischen Emissär heran, fuhr aber ab, weil des Königs Mi­ nister von den bayrischen, als den nach ihrer Ansicht notorisch schlechtesten deutschen Truppen, nichts hören mochten. Hild­ burghausen machte versteckte und verschämte Vorschläge

205 Wegen 600 Mann. Auf Darmstadt hatten die Engländer ein Auge geworfen, doch mußten sie selbst das Projekt auf­ geben. „Der Landgraf von Darmstadt," schreibt Iorke, der englische Agent, nach Hause, „ist, tote ich ausgefunden habe, zu verliebt in seine Soldaten, als daß er sie außer Sicht ließe." So ward das Paradespiel des „großen Trommlers" eine Stütze seiner Tugend. Die Einzelheiten der Unter­ handlungen mit jedem der aufgeführten Höfe und die dazu gehörigen Glossen in den Berichten der englischen Agenten liefern die interessantesten Beiträge zur Beurteilung einer Kleinstaaterei, aus welcher durch die Geringfügigkeit der äußeren Maßstäbe auch jede Empfindung für innere Würde und Ehre bei Fürst und Volk ausgetilgt ist, sowie durch die verschwindende Stellung zur Welt jede Rücksicht auf öffentlichen Anstand bei Seite fällt. Nichts kann dem platten, abgeschmackten, faselnden Servilismus gleichen, welchen die Prinzen von Hanau und von Anhalt-Zerbst den englischen Ministern gegenüber aufbieten; nichts als der Übermut und die Unmenschlichkeit, mit der sie wiederum

ihre eigenen Untergebenen mißhandeln. Die desfallsigen, von Kapp mitgeteilten, französischen Briefschaften der hohen Herren feiert dem Appetit des Lesers.besonders empfohlen. Er mag unter anderem daran studieren, wie tief begründet die beliebte Doktrin unserer Sonderbündler ist, daß jede deutsche Residenz ein Herd von Bildung und Anstand für ihre nächste Umgebung sei, von der Gemütlichkeit nicht zu reden. Allerdings ist die Gesittung das Allgewaltigste. Un­ bewußt und unbefragt empfängt sie der einzelne aus der Atmosphäre, in welcher er atmet, und sie wird ein Teil von ihm, indem er selbst wird. Darum ist die Garantie der Sitte mächtiger, als jegliche Artikel einer verbrieften oder — o du meine Güte! — beschworenen Verfassung.

206 Aber diese Sitte selbst läßt sich nicht erborgen noch kopieren.

Sie muß wie ein festes Eigentum wohl erworben und mit Arbeit und Not errungen sein: hier wäre das vom Blut und Eisen nicht übel am Platze. Aber gleich nach der Garantie der unbewußten Sitte kommt die Garantie des wohlverstandenen Interesses. So gewiß es nur einer Ahnung von Einsicht ins Staatsleben bedarf, um heraus­ zufühlen, daß allein aus der Kleinheit der äußeren die Erbärmlichkeit der inneren Verhältnisse, und nur aus der tiefen Erbärmlichkeit die tiefe Ruchlosigkeit des Verfahrens erwachsen konnte, so gewiß entstammt noch alles Elend bis auf den heutigen Tag zum guten Teil dem bunten Wahn­ witz der deutschen Landkarte. Auch an dieser Stelle können wir abermals nichts Besseres thun, als dem zutreffenden Hinweis unseres Geschichtsschreibers auf der Fährte folgen. Dem Ekel und Abscheu erregenden Treiben der kleinen Zwingherren gegenüber stellt er das Verhalten der beiden deutschen Großmächte in derselben Sache. Der deutsche Kaiser und der preußische König traten, jeder nach seiner Weise, dem Unfug in den Weg. Der Kaiser mit Inhibi­ torien, Verboten und Mahnungen, denen, bei des Reiches Ohnmacht, kein wirksamer Schrecken Nachdruck verschaffen konnte; der König mit der Entschiedenheit und ganzen Grimmigkeit seines Wesens und des in seiner Politik und Stellung verkörperten Interesses. Nicht, wie man vielfach gemeint hat, aus idealer Humanität, sondern aus sehr nüchterner Berechnung widersetzte sich Friedrich, wie und wo er konnte, der Werbung und dem Export für England. Gerade darauf legt mit dem größten Recht Kapp den Ton. Über dem Zufall der persönlichen Regenten-Inspiration steht die Notwendigkeit der Selbsterhaltung, und die Re­ gierung eines großen Staats ist durch ihre Dimensionen gezwungen, vernünftiger zu handeln, als das Oberhaupt

207 einer Gemarkung, die vom Staat nichts hat als den Namen. Friedrich hatte zunächst — was Hessen-Hanau unmöglich haben konnte — eine Politik, und diese Politik hieß ihn Englands Begehren durchkreuzen. Er hatte aber gleich­ zeitig mit der allgemeinen Politik auch ein sehr konkretes Bedürfnis, nämlich nach einer möglichst starken Armee, und dieser sowohl wie der kaiserlichen thaten die Preß- und Werbeanstalten der kleinen Landesherren beträchtlichen Ab­ bruch, so daß nahezu mit Gewißheit anzunehmen ist, auch minder ausgezeichnete Potentaten, als Joseph und Friedrich, würden aus nächstliegendem Interesse dem Unwesen ge­ steuert haben. Eine richtige Veranstaltung kennzeichnet sich dadurch, daß sie möglichst wenig dem jeweiligen Belieben überläßt und, so weit thunlich, alle einzelnen Übergangsformen, die in eine oberste Notwendigkeit ausmünden sollen, selbst zu ebenso vielen Notwendigkeiten erhebt. Der viel verschrieene Satz von dem die Mittel heiligenden Zwecke ist nur des­ halb falsch, weil in einem wohlgeordneten Gefüge jedes Mittel ein Selbstzweck ist; und ein Lebenssystem, welches sich darauf einließe, eine Hierarchie von über- und unter­ geordneten menschlichen Daseinsformen aufzustellen, müßte alsbald über die unabsehbare Treppe seiner Mittelstufen in den bodenlos finstern Keller mystischer jesuitischer Absichten hinunterstürzen. Gleicherweise ist das jetzt mit etwas übertriebener Verachtung gestrafte teleologische Prinzip in der Natur nur deshalb an sich falsch, weil in ihr alles Zweck ist und gar nichts Mittel (oder auch gar nichts Zweck und daher gar nichts Mittel, mit Vater Spinoza zu reden). Faktisch ist die Natur doch Teleologie, denn wo alles in Ewigkeit nebeneinander besteht, besteht auch jedes durch das andere, und es wird nimmer die menschliche An­ schauung dieser, wie so vieler anderen endlichen Vorstellungs«

208 weisen ganz entraten können. Nun besteht aber ein Souverän über dreißig Quadratmeilen nie durch seine eigene Macht, sondern nur durch Herkommen oder Duldung. Er wird also auch durch keine innere Nötigung selbst im Laufe der Jahrhunderte darauf gestoßen werden, an die Wurzeln echter Kraft zum Zweck seiner Selbsterhaltung zurückzu­ greifen. Seine Politik wird in der elenden Mühle ab- und zutreten zwischen der Aufrechthaltung verschimmelten Her­ kommens und dem Buhlen um die Unterstützung der dul­ denden mächtigen Nachbarn. Er wird sich stets da an­ klammern, wo momentan der Antagonismus gegen höhere Interessen am lebendigsten vertreten ist, oder nach den ge­ meinsten Mitteln greift; und er wird in specie — wie wir es an so vielen binnen der letzten fünfzehn Jahre er­ lebt haben — bald an der österreichischen, bald an der preußischen, heute an der würzburgischen, morgen an der französischen Schleppe hangen. Die Gunst des Zufalls kann es bescheren, daß ein Regent, dem Impuls seiner Einsicht oder Menschlichkeit Folge leistend, versucht, das Schwergewicht seiner Selbsterhaltung auf die liberale Seite zu legen und seine Unterthanen durch den Gegensatz zwischen dem eigenen freisinnigen und dem absolutistischen Gebaren der Großmächte an sich zu fesseln. Ein solches schon an sich so seltene Göttergeschenk eines wohlinspirierten Landes­ herrn mag im Schutze seines Einzeldaseins sanft verblühen: in der dem Naturgesetz unterworfenen Masse ist das Phä­ nomen undenkbar. Da wird sich der einzelne um die Gunst des Stärkeren bewerben müssen und nie wagen dürfen, dem System desselben ein nachhaltiges Paroli zu bieten. Gewissen Bedingungen der Selbsterhaltung hin­ gegen, die, zunächst materieller Art, mit der richtigen Fortentwickelung zusammenfallen, kann ein wirklicher, d. h. ein großer Staat sich nicht entziehen. Die einzige

209 Institution, welche je aus deutschen Landen den Anfang zu einem deutschen Land gemacht hat, der Zollverein, ist Preußens Werk, und wirklich undenkbar ist in einem großen, noch so absolutistischen Staat, was wir z. B. täglich in Nassau oder Hessen erleben, daß die offen zu Tage liegenden, von aller Welt anerkannten Nahrungs­

interessen der Staatsangehörigen, einer dynastischen Marotte zulieb, mit Füßen getreten werden, wie in Handels-, Wegeund Postangelegenheiten. So auch schließlich hat nicht dennoch Preußen allein, und von ihm nachgezogen Österreich, dem schleswig-holsteinischen Jammer das verdiente Ende gemacht? Der Unterschied ist eben der, daß im Lauf der Zeiten und Ereignisse ein Staat von eigenem Gewicht auf die Not­ wendigkeiten seiner Erhaltung hingestoßen wird, während für Lippe-Detmold im Grunde alles gleichgültig ist außer der fürstlichen Kasse, und die findet schließlich immer Mittel und Wege. Aber daß wir kein Staat sind, so lange wir Staaten bleiben, und keine Nation, so lange wir die „edlen Stämme" bleiben, das will nicht in die Köpfe, deren jeder die angestammte Melodie seiner Bierbank für die urwüchsigste und urberechtigste hält. Während der ersten Hälfte jenes selben ainerikanischen Befreiungskrieges, in welchem über zehntausend Deutsche der Habsucht ihrer Fürsten zulieb im Dienste Englands fallen mußten, war die kaum begründete Republik an den Rand des Unterganges gekommen in Folge desselben föderalen Starrsinns und Eigendünkels, an denen Deutschland verdirbt. Man glaubt sich in eine deutsche Bundesfestung versetzt, wenn man in den Annalen jener Zeit*) liest, wie kein Lieutenant aus Neu-Jersey unter einem Kapitän aus Rhode-Island dienen wollte, und lange

*) George Ticknor Curtis, History of the origin, formatiern and adoption of the Constitution of the United States. Ludwig Bamberger's Ges. Schriften.

I.

i*

210 noch dauerte es, bis es den weiter blickenden Staatslenkern gelang, den Kongreß zu etwas Besserem als zu einem frei­ willig zusammenhaltenden Konglomerat souveräner Staaten zu erheben. Man lese den Briefwechsel jener Männer,") unter denen namentlich Hamilton und Madison in erster Reihe glänzen, und man wird sich überzeugen: nicht nur, daß die Vereinigten Staaten neunzig Jahre hindurch auf­ blühen konnten, weil jene Männer mit teilweisem Erfolg den barbarischen Separatismus zu unterwerfen vermocht hatten, sondern auch daß dies Gebäude eben darum neuer­ dings in Trümmer zu gehen droht,*) **) weil es den Hamiltons und Madisons nicht im Maße ihrer Absicht gelungen war, die separatistischen Elemente auszumerzen und dem thörichten Geist provinzialer Selbstherrlichkeit das Genick zu brechen. Es ist am Ende nicht so unwahr, als es auf den ersten Blick scheint, was die Konföderierten jetzt immer voranstellen: daß weder Baumwolle, noch Neger das eigentliche Motiv ihres Abfalls sind, sondern vielmehr das subjektive Belieben, nicht unter dem Geist der nordischen Majorität zu stehen. In allen menschlichen Thaten ist die naturalistische Trieb­ feder mächtig. Das Übergewicht des kälteren Nordländers mit seiner steiferen Kultur und Ordnung, heiße es nun Aankee, Piemontese oder Preuße, ist der üppigeren und wärmeren Individualität des Südens ein Ärgernis, und sie muß es erst aus einer harten Schule der Geschichte lernen, wenn sie es lernt, daß das krause Beiwerk ihrer Besonderheit ebensowenig in den Staat gehört, wie der Dialekt in die Litteratur. Virginien, welches die schönsten

Kräfte zu der Befreiung von England lieferte, hat gerade

*) The federalist of 1788.

Philadelphia, 1847.

**) Geschrieben in dem Zeitpunkt, wo die Nordstaaten im Sezessions­

krieg am schwersten bedrängt waren.

211 durch die Intensität seiner Charaktere auch das Gift des Separatismus aus seinem Ingenium am schärfsten destilliert. Denn wo ein Staat bestehen soll, da muß allem fabulieren Selbstbehagen die Herrschlust ausgetrieben werden, handele es sich nun um Stuartische Grazie, oder um virginische Baumwolle, oder um schwäbische Gemütlichkeit. — Es geschieht oftmals, daß ein von seinen Eltern hinter die anderen Geschwister ungerechter Weise zurückgesetztes Kind jenen gerade am zärtlichsten anhängt. Von den Trefflichen Allen, welche die Mißgunst und die Kleinlichkeit politischer Verfolgung und politischer Beschränktheit vom heimischen Heerd abgeschnitten haben, ist der Verfasser unseres Buches der besten einer. Die neue Welt hat ihm nicht bloß ihren nährenden Schoß für ihn und die ©einigen willig geöffnet, sie hat ihm auch für seine höheren Leistungen und Bedürfnisse eine politische Stellung im Adoptiv-Vaterlande eingeräumt. Nichtsdestoweniger bleiben seine intimsten Neigungen und Kräfte der deutschen Sache zugewendet, und inmitten eines rastlosen Privat- und Staatslebens raubt er der knappen Muße noch die kostbarsten Momente, um in den Archiven den historischen Quellen nachzufolgen, aus welchen Deutschlands Verhängnis und vielleicht Deutschlands Hoffnung abzuleiten sein möchte. Fest und fester schmiedej ihn die Kette der Jahre an das zweite Vaterland, aber un­ verändert steht sein Sinn vor allen Dingen darauf, das Verdienst des deutschen Genius überall da zu vindizieren, wo er dazu kam, für das Interesse und den Ruhm des Auslandes zu arbeiten. So hat er der Folge nach in zwei Bänden die Lebensgeschichten der Generale Kalb und Steuben gesammelt, so das vorliegende Buch, so schafft er seit langer Zeit an einer umfassenden und erschöpfenden Forschung über den Gang der deutschen Auswanderung. Alle seine Werke wie sein ganzes Wesen tragen dasselbe erfreuliche Gepräge: 14*

212 die wohlthuende Vergottung jugendlicher Frische mit reifer urkräftiger Männlichkeit. Es ist eine jener westphälischen

„sentimentalen Eichen", aber ohne Sentimentalität, im Kampf mit dem stechen Leben Nordamerikas erstarkt und

ernüchtert, und zugleich entgangen jener Doppelklippe, zwischen deren Ufern die Daheimgebliebenen unfehlbar hin und her lavieren: zwischen allzu großer Unschuld und allzu großem Abscheu. Solche Kraft — und wieviel tausend gute Kräfte verliert Deutschland auf tausendfachen Wegen Jahr aus, Jahr ein; und ist es dennoch allzumal das, was es ist, so denke man, was es erst sein könnte! Der Aus­ spruch des alten Staatskanzlers, auf seine wahre Form zurückgeführt, heißt: Du weißt nicht, mein Sohn, wie schlecht man die Welt regieren kann, ohne sie ganz zu Grunde zu richten.

Die deutsche Kolonie in Paris (1867).

Vorbemerkung. im Folgenden übersetzte Darstellung entstand anläßlich der für das Jahr 1867 ausgeschriebenen pariser Weltausstellung.

Line Ver­

einigung namhafter Schriftsteller beschloß die Herausgabe eines umfang­

reichen Sammelwerkes, dem der Titel „Paris Guide" gegeben wurde, um über alle tracht

für Vergangenheit und Gegenwart der Weltstadt in Be­

kommenden Thatsachen und

verhältniffe zu

orientieren.

(Es

entstanden daraus zwei starke mit zahlreichen Illustrationen versehene Bände (Verlag der Librairie internationale, A. Lacroix, Verboeck-

hoven et Cie.).

Der erste Band enthielt die Abteilung „wiffenschaft

und Kunst", der zweite die Abteilung „Das Leben".

zum ersten Bande schrieb Viktor Hugo.

Bände figurieren alle berühmten Namen der Epoche,

Louis Blanc,

Sainte-Beuve,

Littre,

(vuinet, Alexandre Dumas fils,

Die (Einleitung

Unter den Mitarbeitern beider

Michelet,

About,

u. A. Renan,

Theophile

Jules Janin,

(E. de Girardin, George Sand, Alphonse Karr,

Gautier,

Laboulaye,

Maxime du Lamp,

Sardou, Leon Say, Berryer, Jules Favre.

Der Aufforderung, in dieser guten Gesellschaft für die Abteilung „die Ausländer

in Paris"

den Bericht über

übernehmen, folgte ich daher gern.

die deutsche Kolonie zu

Nebst der deutschen war unter

anderen auch die belgische, schweizerische englische, italienische, spanische

geschildert.

Die rusfische behandelte Alexander Herzen.

Die Schilderung zwischen Deutschland

hat dadurch, und

daß

fie der großen (Entzweiung

Frankreich unmittelbar vorausging,

wohl



216



Anspruch auf ein gewisses historisches Interesse, indem sie ein Spiegel­ bild von Zuständen und Verhältnissen fixiert, die für lange und für immer verschwunden sind.

Noch ehe diese Abhandlung in dem zu ihrer Aufnahme bestimmten

zweiten Bande erschien, ersuchte mich die Redaktion der Revue Moderne

(vormals Revue germanique), an der ich mitarbeitete, um einen Ab­

druck derselben, den ich ihr, unter Zustimmung des Herausgebers des Guide überließ.

Er erschien in der Lieferung des

Mai 1867,

genau vor dreißig Jahren.

Berlin,

Mai 1897.

g. V.

I. was ist nicht alles geschrieben und geredet worden über den Einfluß, welchen Paris auf die übrige Welt aus­ übt. Aber hat man jemals die Frage aufgeworfen über den Einfluß, den Paris von der übrigen Welt empfängt? Diese Stadt ist gewissermaßen ein ungeheurer Schmelztiegel, aus welchem die Jahrhunderte geschöpft haben. Man weiß sehr wohl, was daraus hervorgegangen, aber niemand weiß, was hineingeflossen. Bald Großes, bald Kleines hat sich über die Welt von Paris aus verbreitet. Stürme der Revolution und Abgeschmacktheiten der Mode, Krieg und Friede, Aufllärung und Verdunklung, mächtige Anläufe und schwächliche Rückfälle, selbst.den Maßstab für den Reichtum hat man wie den Maßstab für die Kleider aus Paris ent­ nommen. Weiß dieses so stolze und so kokette Paris nun wenigstens, was es sagt, wenn es „Ich" sagt? Seid Ihr auch ganz gewiß, Ihr Pariser, daß Ihr es seid, die in St. Petersburg, in Rom oder in Berlin zur Vernunft und Thorheit verleiteten? Wenn nun plötzlich jemand den Deckel aufhöbe und euch zeigte, daß es Russen, Italiener, Polen, Deutsche sind, die sich in diesen Ameisenhaufen einschleichen, Eure Sprache, Eure Formen annehmen, ihre und Eure Ge­ schäfte besorgen und Euch, wie es eben kommt, mit Ruhm oder Schande bedecken, ohne daß Ihr eine Ahnung davon habt, und sie selber ebenso wenig? Merkt Ihr nicht, daß die immer mächtiger einströmenden Wasser sich nicht zurück-

218 ziehen, wie sie gekommen waren?

Sie hinterlassen einen

gewaltigen, einen immer mehr anwachsenden Niederschlag, und diese angeschwemmte, von anderen Ufern abgerissene Erde lagert sich auf dem neuen Boden, vermengt sich mit

ihm und ändert seinen Gehalt. Über die Einwirkungen, welche Paris zu bestimmten

geschichtlichen Epochen vom Ausland her erfahren hat, ist niemand im Unklaren. So war es durch die Valois italienisiert, durch die Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts mit englischen Fortschrittsideen genährt worden. Um eine Erscheinung dieser Art handelt es sich hier nicht. Holt die leichtfertige oder die ernsthafte Welt sich ihr Vorb'ld von außerhalb, so ist das eine Sache, die offen daliegt und die man messen kann. Anders, wenn die Durchdringung und Bewegung aus der Tiefe nach einem Gesetze des Wachstums erfolgt, das seine Arbeit und seine Wirkungen über eine ganze ungeheure Masse verteilt, und wenn die geistigen Verände­ rungen nur mittelbar aus einer physischen Veränderung folgen, so wie das Eindringen fremder Rassen durch die tausend Maschen des nationalen Gewebes. Hier muß in­ dessen eine bedeutsame Unterscheidung gemacht werden. Wenn der Zustrom der Fremden nach Paris auf den ersten Blick zwar ungeheure Ziffern aufweist, so beschränkt sich hingegen bei näherer Prüfung die Anzahl derer, die sich der ein­ heimischen Bevölkerung mehr oder minder assimilieren, auf einen weit geringeren Prozentsatz. Die beiden in Paris am stärksten vertretenen Nationen sind die Engländer und die Deutschen.*) Die eine dieser Nationen nun verläßt *) Wir lassen die Belgier und die Schweizer außer Acht.

Zwar sind

sie an Zahl den Engländern in Paris überlegen, doch entstammen sie zu­ meist den Grenzgebieten und stehen 'nach Sprache und Raffe den Franzosen

zu nah, als daß es angezeigt wär«, sie als Ausländer im ethnographischen

Sinne zu behaiweln.

219 fast nie mit der Heimat zugleich die heimatlichen Sitten, Anschauungen, Geschmacksrichtungen und Manieren, sie legt mit einem Wort weder Kern noch Schale ab. Durch

zwanzigjähriges Leben im Ausland bewahrt sich der Eng­ länder den Schnitt seiner Kleidung und seine Frühstücks­ speisekarte. Im Deutschen stellt sich der gerade entgegenge­ setzte Typus dar. Fast scheint es, als hätte die Natur dieses Volk zu einem Metall geschaffen, das sich mit allen andern mensch­ lichen Gebilden verschmelzen lassen sollte. Weich und ge­ schmeidig geht es die Verbindung ein, gestärkt und gehärtet

daraus hervor. So floß beim Verfall der antiken Welt zu wiederholten Malen das Blut der germanischen Stämme in die Adern der Römer hinüber, indem sich ein Austausch von Lastern und Tugenden vollzog. Es ist etwas Wunder­ bares um die Leichtigkeit, mit welcher der Deutsche sich in die Gewohnheiten und selbst die Vorurteile eines fremden Landes findet. Wollte man die Fehler eines Volkes stu­ dieren, so brauchte man nur irgend einen Deutschen zu nehmen, der seit einer Reihe von Jahren in jene ungleich­ artige Substanz getaucht wäre: es werden sich vor allem ihre äußersten Wirkungen an ihm zeigen. In England wird er steif und kalt geworden sein, in Holland langsam und methodisch, in Amerika rastlos, geschäftig und über­ mütig, in Frankreich selbstgefällig und spottlustig. Ist er in London heimisch geworden, so schwört er darauf, daß sich der Mensch einzig von ganz rohem Sellerie und halb rohem Rindfleisch nähren müsse; in Paris würde derselbe Mann seinen eigenen Vater mit Brillat- Savarins sämt­ lichen Saucen verspeisen. Zu dieser Eigenheit füge man den Wandertrieb, der übrigens mit jener moralischen Bild­ samkeit aus einer Wurzel entspringt, und man kann sich Vorfällen, in welcher Weise sich zwei benachbarte Länder,

220 wie Frankreich und Deutschland, gegenseitig beeinflussen müssen. Der Franzose ist ganz ausgefüllt von seiner Persön­

lichkeit, der Deutsche völlig bereit, die seine aufzugeben; jener kennt nur sich selber, versteht sich aber wunderbar darauf, sein Wesen und seine Gedanken verständlich zu machen; dieser verliert sich, nach fremder Art begierig, gern

im Studium des Unbekannten; jener ist glücklich, wenn er sprechen, und dieser, wenn er fragen kann; jener ist ein liebenswürdiger Gastfreund, dieser ein dankbarer Wanderer; jener endlich lernt nur seine Muttersprache, und dieser mit Freuden ein halbes Dutzend fremde. Will man wissen, wieviel die Erfindungen der Neuzeit dazu beigetragen, Paris mit Fremden zu überfluten, so braucht man sich nur dahin zu begeben, wo sich die Nord-

und Ostbahn mit ihren ausgedehnten Bahnhöfen und allem, was dazu gehört, angesiedelt haben. Diese Stelle empfängt den ersten Anprall der Woge, dort kann man mit bloßem Auge den gewaltigen Niederschlag wahrnehmen, der sich binnen kurzem gebildet hat; es ist in Wahrheit auf den französischen Boden ein neuer, deutscher aufgeschwemmt worden. Schon die Straße, welche die Verlängerung der Rue Lafayette bildet, kündet sich unter dem Namen der Route d'Allemagne an, und in dem ganzen Viertel rings umher sieht man die Häuser mit deutschen Namen bedeckt, findet man möblierte Zimmer, Gasthöfe, Gaststuben, Läden und Werkstätten von den Angehörigen dieser Nation erfüllt. Das Viertel ist namentlich der Sitz eines wahren deutschen Proletariats, von dem sich wenige Pariser und selbst wenige der in Paris wohnenden Deutschen auch nur annähernd einen Begriff machen. Handelte es sich zum Beispiel um musikalische Dinge, so würde sich niemand dieser nachbar­ lichen Einmischung wundern. Man ist ja verpflichtet, zu wissen, daß ohne Meyerbeer das alte Opernhaus an Ent-

221 kräftung gestorben wäre, und das neue folglich sich nicht ins Leben gewagt hätte. Ja, so wohl ist sich Frankreich des Joches bewußt, das dieser, Maestro Giacomo genannte, Preuße dem Pariser Geschmack aufgelegt hat, daß es ihn bei seinem Tode beinahe für sich in Anspruch nehmen wollte,

wie es das mit Karl dem Großen und Napoleon I. und in gewissem Sinne auch mit dem Marechal de Taxe ge­ macht hat, um nur nicht die Vorherrschaft eines fremden Helden anerkennen zu müssen. Wird man eines Tages auch Offenbach ein Leichenbegängnis auf Staatskosten und die Ehre der Nationalgarde gewähren? Die Gerechtigkeit erfordert es. Ihm ist Paris mit Lachen und Tanzen eben­ so Unterthan gewesen wie dem anderen Maöstro mit Zittern und Weinen; er hat so gut wie jener die Schöpfungen seiner deutschen Muse unter der Obhut französischer Gewandt­ heit und mit deren Zauber angethan um die Welt reisen lassen. Die Landsleute dieser berühmten Künstler aber treiben ganz andere Dinge in Paris. Zu derselben Stunde, wo Du, freundlicher Leser, Dich nach einer Vorstellung der „Afrikanerin" oder der „schönen Helena" in einem Kabinet des Cafe anglais zu Tisch setzest, stehen am äußersten Ende von Paris Tausende von Deutschen auf, um für die Morgen­ toilette Deiner Stadt zu sorgen. Vielleicht ist es Dir schon einmal im Leben vorgekommen, daß besagtes Souper sich in die Länge zog, und Dir auf dem Heimweg nach Sonnen­ aufgang dann Scharen von Straßenkehrern begegneten, deren sonderbare Erscheinung Dir auffiel. Die Männer tragen winters einen Rock von Hundsfell, die Frauen und Kinder — denn auch Frauen und Kinder sind unter der Schar — alte zerlumpte Kattunkleider und rot- oder grünwollene Tücher um den Kopf gebunden. Du brauchst sie nicht erst reden zu hören, schon ihr Ansehen verrät Dir, daß es keine

222 Landsleute von Dir sind, und hast Du mehr nationalen als

weltbürgerlichen Sinn, so wird Dir der Gedanke tröstlich sein; denn die armen Leute sehen recht jämmerlich, recht

unglücklich aus. Willst Du wissen, was sie sind, woher sie kommen, wohin sie gehen?

II. Nichts ist den geographischen Kenntnissen zuträglicher als der Krieg. Merkwürdigerweise ist die Regierung, die sich doch so oft die übermäßige Belastung des Militär­ budgets und die allzu geringen Ausgaben für den öffent­ lichen Unterricht vorwerfen lassen muß, noch nicht darauf verfallen, sich dieses Arguments zu bedienen. Sie könnte durchaus behaupten, daß hier auch eine Art Rechnungs­ übertragung vorliege, und daß von Rechtswegen die geo­ graphische Belehrung, welche dem Lande aus kriegerischen Unternehmungen erwächst, dem Konto „Landheer und Marine" gutgeschrieben werden müßte. Ja, von diesem Standpunkt aus würden die Kriegszüge in die Ferne, die in gewissen Kreisen so schlecht angeschrieben sind, sogar zweckentsprechender erscheinen als kleine Ausflüge in die Nachbarländer. Am Ende ist an der Unwissenheit des herangewachsenen Geschlechts in geographischen Dingen nur die überfriedliche Sinnesart des Königs Louis - Philippe schuld. Was gab es unter dieser Regierung zu lernen, wenn man von dem bißchen Algerien absieht? Dem letzten deutsch - österreichischen Kriege also ist es zu danken, wenn man in Frankreich darüber unterrichtet ist, daß in dem Friedensschlüsse zwischen den kleinen Fürsten des ehemaligen Bundes einem gewissen Großherzog von Hessen aufgegeben ward, mit einem Stückchen seines Erb-

223 landes in den Norddeutschen Bund einzutreten. Herr von Bismarck hätte ihn wohl lieber mit Haut und Haar an­ nektiert, aber der Großherzog hatte den Zaren in Person zum Schwager, also erhob er Einspruch und holte sich seinen großen russischen Bruder zu Hilfe, um das bedrohte Stück­ chen seiner glorreichen Landesherrlichkeit zu wahren. Auf dringendes Verlangen seines Herrn goß darauf Graf Bis­ marck Wasser in seinen Wein, und der gute Großherzog rettete seine Provinz Oberhessen, was in der Sprache ge­ wisser deutscher und französischer Politiker die Aufrecht­ erhaltung der Autonomie des deutschen Volkes gegenüber fremden Erobernngsgelüsten genannt wird.

Die Leute nun, die morgens zwischen drei und acht die Straßen fegen, entstammen fast ohne Ausnahme der oben genannten Provinz. Jedermann weiß, abermals seit dem letzten Kriege, daß es in Deutschland zwei Hessen giebt, ein Kurfürstentum und ein Großherzogtum. Das Kurfürstentum gehört gegenwärtig der Geschichte an, es ist

aus dem Gothaischen Kalender gestrichen; das Großherzog­ tum figuriert zwar noch darin, ist aber auch schon ernstlich in Angriff genommen. Diese beiden zählen nicht gerade zu den glücklichsten unter den deutschen Ländern. Hie und da undankbarer Boden — und zuweilen noch undankbarere Fürsten. Ein Kurfürst von Hessen war es, der zur Zeit des amerikanischen Befreiungskrieges jenen berüchtigten Handel mit Menschenfleisch trieb. Seither nahmen seine Unterthanen aus vielen trefflichen Gründen die Gewohnheit

an, über das große Wasser zu ziehen. Die Unterthanen seines Vetters, des Großherzogs, hingegen wandern aus bestimmten Bezirken nach der französischen Hauptstadt aus. Diese Erscheinung datiert etwa um zwanzig Jahre zurück. Not, bittere Not, treibt die Armen dazu, so aufs ungewisse in ein Land zu gehen, wo ihnen alles und jedes unbekannt

224 ist. Wenn sich nur wenigstens in ihrer Heimat nicht noch die amtliche Thorheit in ihre Angelegenheiten einmengen und dadurch das Übel verschlimmern wollte! Die Weisheit und Sittenstrenge der Obrigkeit gestattet nämlich diesen Stiefkindern des Glücks nicht, zu heiraten. Und da die Natur nicht ganz so vorsorglich und tugendhaft ist wie die Behörde, so legt sie sich sehr häufig auf recht strafbare Weise ins Mittel und setzt ohne Erlaubnis der hohen Obrigkeit Kinder in die Welt. Gleich sehr von Nahrungs­

sorgen wie von dem Wunsche gedrängt, sich der Schmach ihrer ungesetzlichen Vereinigung zu entziehen, ja oft genug sogar, um ihrem Bunde in der Fremde die Weihe geben zu lassen, welche das Vaterland ihnen versagte, kommen dann die armen Eltern mit ihrer kleinen wilden Horde hierher, nicht selten mit sechs, sieben Kindern. Wohl­ gemerkt: sie verlassen die Heimat nicht ohne Gedanken der Rückkehr. Ihr Streben geht einzig darauf aus, sich ein Sümmchen zusammenzusparen und heimzuziehen, sobald sie die Mittel besitzen, sich in Beuren oder Deinhardstein oder Elpenrode oder Butzbach und wie die Ortschaften alle heißen, ein Häuschen und ein Stückchen Land zu kaufen. Zuweilen drückt auch nicht gerade die Not diesen wackeren Leuten den Besen in die Hand, wohl aber der Wunsch, ein in den Anfängen vorhandenes, sehr bescheidenes Ver­ mögen abzurunden. Sie besitzen zwar ein kleines Häuschen, aber es lastet eine Hypothek darauf, und so ziehen sie aus, die „Chokolade" des Pariser Pflasters abzukratzen, bis sic soviele vollwichtige Sous auf einander gehäuft haben, daß sie ihr altes Dach freikaufen können. Sehr selten schlagen sie Wurzel in Paris; wer nicht nach wenigen Monaten stirbt — und es herrscht eine große Sterblichkeit in ihren Reihen — kehrt mit dem kleinen Hort nach Hause zurück. Nach und nach wirkt dieses Kommen und Gehen wohl auch

225 verändernd auf das Gepräge des Heimatlandes ein; es müßte daher einen eigenen Reiz gewähren, könnte man die Dörfer an Ort und Stelle studieren, wo sich die zur Ruhe setzen, welche vorher den intelligentesten Schmutz der Welt

zusammengekehrt haben. Zur Zeit, als ich auf der Universität Gießen studierte,

dem Hauptort jener hessischen Provinz, wußte eine der stehenden Anekdoten daselbst von einem Manne zu erzählen, der im Innern des Landes in einer eigens dazu errichteten Bude gegen Eintrittsgeld eine Silbermünze zeigen sollte, im Werte etwa einem Sechsfrankenthaler entsprechend. Daß die guten Leute, die aus einem solchen Eldorado kommen, nicht verwöhnt sind, läßt sich denken; auch besteht ihr Ge­ schäftsgeheimnis weit mehr in der Kunst, nicht Hungers zu sterben, als in der Kunst, Geld zu verdienen. Höchst wahr­ scheinlich giebt es neben ihnen keine anderen Arbeiter in Paris, welche das Hilfsmittel des Entbehrens bis zu dieser äußersten Grenze der Möglichkeit verwenden. Denn Schätze sammeln ist nicht gerade leicht in einem Gewerbe, das dem arbeitstüchtigen Manne höchstens zwei und einen halben Franken täglich einbringt, indes die Frauen und Kinder fünfundzwanzig bis dreißig Sous verdienen. Zu allen Zeiten des Jahres um drei Uhr morgens auf den Beinen, mit den Füßen im Wasser, arbeiten sie bis gegen elf Uhr, schlafen dann und nehmen in den verlorenen Stunden selten noch etwas vor. Bei dieser Einnahme machen sie es mög­ lich, binnen zwei bis drei Jahren soviel bei Seite zu legen, daß ihr Sümmchen voll wird. Ist die Familie zahlreich, so steigt der Verdienst auf fünf bis sechs Franken täglich, und dann geht das Reichwerden mit Dampf vor sich. Diese Straßenkehrer unterscheiden sich von allen ihren übrigen Landsleuten darin, daß sie nicht das Geringste von der französischen Sprache lernen, ausgenommen jedoch die Ludwig Bamberger's Ges. Schriften.

I.

ie

226 Kinder, welche darin sogar ziemlich schnell vorwärts kommen. Die Hessen leben ganz und gar unter sich. Die ersten Ankömmlinge, zu deren Zeit es noch keine Ostbahn gab, hatten sich im Quartier St. Marcel, vorzugsweise zwischen dem Panthöon und dem Val-de-GrLce, angesiedelt; in der Folge, und besonders, seitdem der Sturmbock der Präfektur

in diese alten Schlupfwinkel Bresche geschlagen, zogen sie sich nach Norden, der Richtung der Eisenbahn folgend, die sie ins Vaterland zurückbringt. Hierher gehört noch etwas anderes, womit wir zugleich ein neues Blatt deutschen Lebens in Paris aufschlagen. Deutschland ist im großen und ganzen ein religiöses, aber kein sehr gläubiges Land. Es ist weniger Glauben, aber mehr religiöse Überzeugung dort zu Hause als anderswo; man stößt nicht leicht auf Väter, die Jünger Voltaires sind und dabei die Erziehung ihrer Kinder Mönchen anvertrauen,

wie das in Frankreich geschieht. Unter den Studierten in Deutschland zählt man mehr Atheisten als in der ganzen übrigen Welt. Allerdings sind Strenggläubigkeit und pro­ testantischer Mystizismus nicht ohne Macht, besonders in den hohen amtlichen Kreisen, sehen sich aber mehr oder minder durch die unmittelbare Nähe einer Kritik gehemmt, welche Schonung weder giebt noch fordert. Sie auch wandern gern aus, um sich auf fremdem Boden der Landes­ kinder zu bemächtigen, die von der zersetzenden Atmosphäre der Heimat hier unberührter geblieben sind. Die Missionare der in Deutschland sogenannten lutherischen pietistischen Kirche haben unsere Kolonie hessischer Straßenkehrer zu einer Art von protestantischem Paraguay gemacht, dessen Doktor Francia ein Pastor namens Bodelschwingh war, ein Bruder des ehemaligen preußischen Ministers. Wir müssen sofort hinzufügen, daß das Werk dieser Propaganda durchaus achtungswert ist, mag man im übrigen

227 über solche Dinge denken, wie man will. Es wird mit un­ ermüdlicher Hingebung betrieben und macht durch wahre Wohlthaten an Aufsicht und Erziehung den geistigen und sittlichen Schaden wett, welchen ein etwas dunkler und süßlicher Mystizismus im Geiste ungebildeter Menschen an­ zurichten geeignet ist. Diese Nahrung ist keine gesunde, bei Leibe nicht, aber vollständiger Verwahrlosung immerhin vorzuziehen. So lange sich die Gesellschaft nicht entschließen kann, jederzeit und überall über die sittliche Erziehung —

d. h. die Schulung der unteren Klassen zu wachen, so lange

findet auch die Schulthätigkeit der Priester ihren Rechts­ grund in der Saumseligkeit dieser Gesellschaft. Vor fünf oder sechs Jahren begann der Pastor Bodelschwingh sich der religiösen Organisierung des deutschen Proletariats in Paris — und besonders der armen Hessen — zu widmen. Von St. Marcel führte er eine zweite Kolonie nach dem Quartier de La Billette, wo er ein Grundstück erwarb, an der route d’Allemagne zur Rechten zwischen La Billette und Belleville gelegen, und gab der neuen An­ siedlung den biblischen Namen des „Hügels", weil der Boden dort ein wenig ansteigt. „Der Hügel" ist die ZentralNiederlassung der Straßenkehrer geworden. Die gegen­ wärtig dort bestehenden vier Knaben- und Mädchenschulen und vier Kleinkinderbewahranstalten haben im Jahre 1865 dreihundertfünfzig Kindern Aufnahme gewährt. Bei den Erwachsenen kommt das Fegehandwerk teilweise ab, schon zieht eine beträchtliche Anzahl vor, in den nahen Zucker­ fabriken zu arbeiten. Wenige Jahre nach Gründung des Hügels entstand in den Batignolles, in der Gegend der Rue d'Orleans eine dritte Kolonie, die jetzt schon eine hübsche kleine Kirche und damit verbunden eine Doppelschule für die Kinder beider Geschlechter besitzt. Den Unterricht

erteilt ein elsässisches Ehepaar.

Von den hundertzwanzig

15*

228

Schulkindern stammen fast alle aus Oberhessen. Es ist be­ merkenswert, daß die Geistlichen ein monatliches Schulgeld von zwölf Sous verlangen und allem Anschein nach weise daran thun. Selbst den Ärmsten schreckt diese kleine Steuer

nicht ab, die damit rechnet, daß der Bauer den verkauften Unterricht weit höher achten wird als den geschenkten. Für sechzig Centimes monatlich findet er denselben billig, den umsonst erteilten würde er geringer achten. Man vergesse aber nicht: die Leute kommen aus einem Lande, wo der Elementar-Unterricht seit vierzig Jahren obligatorisch ist; daher können die Eltern alle lesen und schreiben, wissen also den Segen dieser Errungenschaft zu würdigen. Man stellt heute manchmal die Nützlichkeit des Schulzwanges wieder in Frage — man lege diesen nur einer einzigen Generation auf, und er wird überflüssig geworden sein. Ist es nicht das allerbeste Argument, das zu Gunsten einer Einrichtung ins Feld geführt werden kann, wenn man be­ weist, in wie kurzer Zeit sie das gewünschte Resultat ver­ wirklicht? Die hessischen Straßenkehrer bilden unter größerer oder geringerer Vermischung mit anderen deutschen Arbeitern, hie und da auch mit protestantischen Elsässern, außer den drei oben genannten noch eine ganze Zahl von Kolonien. Die älteste derselben liegt an der Barriöre de Fontaine­ bleau, gerade an der Stelle, wo General Bröa (im Juni 1848) getötet worden ist, und reicht mit ihrem Ursprung sogar über die von St. Marcel hinauf. Ihre Bevölkerung besteht fast ausschließlich aus rheinbayrischen Einwanderern, die in den nahen Steinbrüchen arbeiten und kaum weniger elend daran sind als die Straßenkehrer. Endlich beherbergt auch noch das Quartier St.-Antoine eine deutsche Be­ völkerung, eine zahlreichere sogar als die irgend eines anderen Viertels; aber diese Leute leben größtenteils in viel besseren

229 Verhältnissen: es sind Handwerker der verschiedensten Art. Auch hier, namentlich auf dem Boulevard Richard-Lenoir und auf der Stätte selbst, wo sich früher die Fabrik dieses Jndustrieherrn befand, haben die protestantischen Missionare Kirchen und Schulen in Menge gegründet. Bau und Er­ haltung derselben erfordern beträchtliche Summen, die in den lutherischen Gegenden des Heimatlandes*) durch regel­ mäßige Kollekten beschafft werden. Aber trotz aller Be­ mühungen sind einige der Gemeinden doch noch stark ver­ schuldet. Von den Geistlichen, welche den Kolonien vor­ stehen, spricht man allgemein mit Hochachtung. Der Prediger hat dort ein furchtbar schweres Amt: es sind sehr viele Taufen zu vollziehen und, aus den oben dargelegten Gründen, noch mehr Trauungen. Im verflossenen Jahre hatte allein der Pfarrer der kleinen Batignolles-Gemeinde achtzig Paare einzusegnen, die alle bei ihrer Ankunft im Lande in wilder Ehe standen. Noch härtere Anforderungen stellt der Dienst bei den Kranken, Sterbenden und Toten. Die Verheerungen, welche die Not unter den Kolonisten, besonders unter den Straßenkehrern anrichtet, sind entsetzlich: Mangel, Ent­ behrungen, ungesunde Arbeit, Heimweh, all dies im Verein lichtet ihre Reihen, und von allen Epidemieen werden sie ergriffen. Dazu kommen noch besondere Krankheiten, die als eine Folge ihrer Beschäftigung anzusehen sind, z. B. Bruchleiden. Von letzteren werden übrigens die Straßen­ kehrer französischer Nationalität viel seltener heimgesucht, da sie sich nach Aussage der Ärzte weit besser auf die Handhabung

ihres Werkzeugs verstehen: sie bewegen nur

*) Trotz der offiziellen Bereinigung der beiden protestantischen Kirchen ist di« alte Scheidung in Lutheraner und Reformierte praktisch noch immer

von großer Bedeutung für das religiöse Leben.

Es handelt sich besonder-

um Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf dm Katechismus, an welchm

jede Partei mit der in solchm Dingen hergebrachten Hartnäckigkeit festhält.

230 die Arme, während der Deutsche den ganzen Körper krümmt. Die Gesamtzahl der Hessen schätzt man auf mindestens drei­ tausend. Sie leben so vollständig für sich, daß sie keinerlei anderen Umgang haben, selbst nicht mit den übrigen Lands­ leuten, und wohnen zu vielen Familien in großen Häusern zusammengedrängt, die sie „deutsche Höfe" nennen. Gerade so hießen zur Zeit der Hansa die deutschen Kolonieen zu Antwerpen und London. Daß sie solide und mäßig leben, versteht sich von selbst: wer bei einer täglichen Einnahme von zwei Franken nicht mit dem Gelde haushalten wollte, möchte es schwerlich je zu Ersparnissen bringen. Nach dem Zeugnis ihrer eigenen Geistlichen sind sie sogar Anbeter des Mammons, geizig und geldgierig bis zum äußersten, rauhen Geistes, harten Gemüts, und es muß dem lutherischen Pietismus recht schwer werden, diese widerstrebenden Elemente aus dem gewohnten Geleise zu bringen. Auch lassen unsere guten Hessen nimmermehr von ihrem ererbten, aus der Heimat mitgebrachten Katechismus, einem alten Tröster, den ein Darmstädter Hofprediger namens Stark verfertigt hat, und der bei ihnen mit einem unfreiwilligen und sehr be­ zeichnenden Wortspiel nur als das „starke Handbuch" be­ kannt ist.

HI. Wollten wir die Geschichte und Lebensbeschreibung aller Klassen von Deutschen unter der Pariser Bevölkerung ebenso ausführlich geben, wie die der Straßenkehrer, so müßten wir nicht nur den Raum eines Bandes zu unserer Verfügung haben, sondern auch noch die heutzutage so aus­ gebildete Kunst, zu erzählen, was man nicht weiß. So­ lange es sich darum handelte, fest zusammengeschlossene Kolonien durchzugehen, für die der Pfarrer,

welcher die

231 Gemeinde leitet, sich freundlich zum Cicerone hergiebt, so­ lange war die Sache verhältnismäßig leicht. Sobald wir aber diesen Boden verlassen, fangen wir an, weniger sicher zu gehen. Fortan werden wir es nicht mit derartigen Ge­ meinschaften, gleichsam deutschen Inseln mitten im fran­ zösischen Ozean, zu thun haben. Mit Ausnahme jenes kleinen Bruchteils verliert sich der ganze Rest der deutschen Einwanderung mehr oder minder unter der Menge und ist in seinen Spuren um so schwerer zu verfolgen, je mehr diese Fremden das Talent, die Gelegenheit, ja oft die Sucht besitzen, sich in die Hülle einer anderen Nationalität zu schlüpfen. Man stößt nicht selten auf Deutsche, die ein

unerklärliches Vergnügen daran finden, für Angehörige eines fremden Volkes zu gelten. Mehr als einmal ist es dem Verfasser dieser kleinen Studie in Paris begegnet, daß er mit Arbeitern zu thun hatte, die er am ersten B oder P mit unfehlbarer Sicherheit als Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein erkannte. Aber wollen sie einen verstehen, wenn man sie deutsch anredet? Nicht im geringsten! Sie fühlen sich beleidigt und verschließen sich in erhabener und gleichgültiger Taubheit. Diese mit den Fehlern und Vorzügen des deutschen Charakters eng ver­ knüpfte Schwäche steht nicht außer Beziehung zu der poli­ tischen Geschichte des Landes, zu der traurigen Rolle, die

es unter der Führung seiner kleinern Fürsten vor Europas großen Nationen spielen mußte. Und falls das in Nikols­ burg eingeleitete Werk der Einigung nicht auf halbem Wege stecken bleibt, wollen wir jede Wette eingehen, daß man in gegebener Zeit keinen deutschen Schwachkopf mehr finden wird, der sich versucht fühlen wird, über seinen Ur­ sprung zu erröten. Wie die hessischen Ansiedler die einzigen sind, die mit bestimmtem Vorsatz der Heimkehr kommen, so sind sie auch

232

die einzigen,

die sich nicht mit der übrigen Bevölkerung

verschmelzen, nichts von der Sprache lernen. Die anderen zerstreuen sich sämtlich; nur der Zufall entscheidet, wer von ihnen sich der neuen Umgebung geschwinder oder langsamer anpassen wird, und wer nicht; alle eignen sich bald die not­ wendigste Sprachkenntnis an, und die Kinder sprechen zu­

meist die Muttersprache nicht mehr. Wieviele Deutsche mag es nun in Paris geben, nicht Touristen, Fremde, die in Gasthöfen absteigen, sondern An­ sässige, die sich hier auf Lebenszeit oder doch wenigstens für eine gewisse Dauer einrichten? Wer sich den all­ gemeinen Eindruck vergegenwärtigt, der zahlreichen Begeg­ nungen denkt, die er in öffentlichen Versammlungen, auf den Boulevards und vor allem in Konzerten und Brau­ häusern mit Deutschen gehabt hat, wird antworten: eine Unzahl! Befragt man einen Kenner des öffentlichen Lebens, einen jener Leute, die berufsmäßig verpflichtet sind, alles zu wissen, so bekommt man eine dem unbestimmten Eindruck entsprechende Ziffer zu hören; die Angaben schwanken zwischen 80 000 und 150 000, ja uns ist sogar gesagt worden, es seien 220 000, also beinahe ein Achtel von ganz Paris. Hält man aber, um diese Behauptungen auf ihre Wahrheit zu prüfen, die amtlichen Ziffern dagegen, so ge­ winnt die Sache einen ganz anderen Anstrich. Das stati­ stische Amt des Hötel de Ville hat dem Verfasser mit einer Gefälligkeit, die er mit Vergnügen anerkennt, sämtliche aus der eben erst vollendeten Volkszählung gewonnenen Ziffern für diese Untersuchung zur Verfügung gestellt. Und wie­ viele Deutsche weist diese Zählung auf? Sämtliche Staaten des ehemaligen Bundes, die deutschen Provinzen des Kaiser­ tums Österreich mit einbegriffen, haben zusammen für ganz Paris, die Arrondissements Saint-Denis und Sceaux mit einbegriffen, den Zählungsbeamten keine höhere Summe als

233 34 273 geliefert, d. h. nicht einmal ganz zwei Prozent der hauptstädtischen Bevölkerung. Es liegt guter Grund vor, diese amtliche Ziffer als weit hinter der Wirklichkeit zurück­ bleibend anzusehen. Der Verfasser hatte selbst Gelegenheit, sich zu überzeugen, daß die von Haus zu Haus gehenden Beamten nicht immer, wie die Regel ihnen vorschreibt, nach der Nationalität fragen. Da das Hotel de Ville für diesen Dienst aus eine Klasse von Personen angewiesen ist, welche aus der aus und ab wogenden Bevölkerung der Arbeits­ losen genommen werden, so kann es ungeachtet eifriger Kon­ trolle aus keinen mustergiltigen Betrieb rechnen.*) Allein trotz aller Ungenauigkeiten, welchen diese statistische Er­ hebung unterliegt, trotz der Unsicherheit der Angaben, die nur durch den guten Willen der Befragten zu erlangen sind, kommt sicherlich die amtliche Ziffer der Wahrheit näher als alle Schätzungen aus der Vogelperspektive. Es ist bekannt, wie sehr die Einbildungskraft dazu neigt, die Gesamtzahl der Einzelwesen zu vergrößern, die an unserem Blicke vorüberziehen. Marschieren nur zehntausend Sol­ daten vorbei, gleich glauben wir ein furchtbares Heer vor uns zu haben.**) Ehemals hätten uns vielleicht die Polizeiregister einige Auskunft geben können, aber seitdem der Paßzwang glück*) In Berlin sind mit einem Aufruf an die Bürger zu freiwilliger

Dienstleistung in Sachen der Volkszählung wunderbare Resultate in Bezug auf Genauigkeit erzielt worden.

**) Folgendermaßen verteilen sich die Deutschen auf die einzelnen

Stadtviertel, und wer Paris kennt, kann aus dieser Angabe zugleich ent­ nehmen, welcher Art ihre ^Hauptbeschäftigungen find:

findet sich im

XIX. (Billette, Belleville re.),

die größte Anzahl

3019.

Es folgen die

Quartiere de la Chaussee d'Antin mit 2700, de la Roquette mit 2724 (IX. und

XI.), dann das

Quartier d« Clignancourt (XVHL), de

Saint-Denis und de Saint-Martin (X.) mit ungefähr je 2200. andern haben durchschnittlich

1300

bis

1700.

Das

Me

XV. und XVI.

(Grenelle, Auteuil und Passy) weisen die kleinsten Zahlen auf, 500—600.

234 licherweise aufgehoben worden ist, sind diese Quellen nicht

mehr vorhanden, und da die Unwissenheit, sonst auf allen Gebieten eine Todsünde, in Polizeisachen eine Kardinal­

tugend ist, so liegt uns nichts ferner als darüber zu klagen. Hingegen erlauben wir uns, es der Pariser Handelskammer angelegentlich zu empfehlen, daß sie bei ihren alle fünf Jahre stattfindenden Erhebungen die Frage der Nationali­ täten mit berücksichtigen möge. Diese mit soviel Sorgfalt und Kosten geführten Untersuchungen können sich gar nicht auf genug Einzelheiten zugleich ausdehnen, wenn man sichs schon einmal Geld und Mühe kosten lassen will. Vergebens haben wir die ungeheuren Quartbände über die beiden letzten Erhebungen von 1860 und 1865 durchgesehen, es war nicht einmal der Versuch dazu gemacht. Wie dem nun auch sei, eins ist zweifellos: von Nordamerika abgesehen übt kein Punkt des Erdballs ein gleiche Anziehungskraft auf die deutschen Auswanderungslustigen aus wie Paris.*) *) Unter allen in Paris ansässigen Ausländern sind wiederum am stärksten die Deutschen vertreten, wie aus der beifolgenden vergleichenden Übersicht der letzten Volkszählung von 1866 hervorgeht:

Deutsche.........................................

34 273

Belgier............................................. Schweizer......................................... Engländer........................................

33 088 10 687 9 106

Italiener.........................................

7 903

Holländer.........................................

6 254

Amerikaner....................................

4 400

Polen............................................. Spanier.........................................

4 294 2 536

Russen.............................................

1356

Skandinavier................................

531

Rumänen......................................... Türken.............................................

329 313

Griechen......................................... Verschiedene................................

290

.

3 766

Summa:

119126

235 Nächst New-Jork, Philadelphia, St. Louis und einigen auf­ blühenden Städten des amerikanischen Far-West empfängt keine fremde Stadt größeren Zuzug von Deutschen als Paris.

IV.

Zu einer gewissen Zeit hatte die Anziehungskraft der Freiheit etwas mit diesem Zustrom zu schaffen, und auch in dieser Hinsicht stritt damals Paris mit Amerika um den Vorzug, den vor der Bedrückung des Vaterlandes fliehen­ den Auswanderer aufnehmen zu dürfen. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, als Frankreich allen europäischen Höfen Humanitätsprofessoren sandte, war Paris die Quelle des freien Geistes, zu der die hervorragenden Ausländer kamen, um an der Quelle des neuen Lebens zu schöpfen. Unter den Deutschen, welche damals in diesem Boden Wurzel schlugen, hat mehr als einer in der Geschichte des französischen Geistes Bürgerrecht erworben. Ein solcher

war der Baron Grimm, anfänglich der Freund und dann der Schrecken Rousseaus; ferner Holbach, mutmaßlicher Ver­ fasser des „Systeme de la nature“ und Gründer des nach Man zählt: Franzosen, aus dem Departement



de la Seine gebürtig aus anderen Departe­ ments gebürtig

733 478

. . 1 295 258

Naturalisierte...........................

.

3 054

Summa: 2 150 916

Nach diesen Ziffern würde das fremde Element von der Pariser Bevölkerung nur 5V2 Prozent ausmachen.

Auch diesmal sind die amt­

lichen Ziffern ebenso vorsichtig aufzunehmen wie zuvor für die deutsche Bevölkerung im besonderen; augenscheinlich bleiben sie abermals hinter der Wirklichkeit zurück.

236

ihm genannten Klubs; Anacharsis Cloots, der „Redner des Menschengeschlechts"; Adam Lux, der Verteidiger Charlotte Cordays und der Gironde; ein solcher war endlich in seiner

Weise auch jener Eulogius Schneider, ein früherer Franziskaner und Hofprediger, der wandernde Henker des Elsaß, eine Art gelehrter Possenreißer, der zur Erinnerung an sein altes Gewerbe mit einem Gefolge von zwölf Spießgesellen, seinen „Aposteln", durchs Land zog. Cloots, Lux und Schneider haben ihr Bürgerrecht auf dem Schaffst bar be­ zahlt, und nur Eulogius hatte zugleich die Schuld seiner Missethaten zu entrichten. Später, nach 1830, wurde Paris abermals für einige Zeit die Schule, in welcher die Politiker des Kontinents den Konstitutionalismus der Gegenwart und den Revolutionarismus der Zukunft studierten. Deutsch­ lands unruhige Geister fanden sich hier um so zahlreicher ein, als sie selten verfehlten, sich daheim ein Verbannungs­ urteil zuzuziehen. Von dieser Epoche an bis zum Beginn des zweiten Kaiserreichs bilden die deutschen Schriftsteller und Gelehrten in Paris eine ununterbrochene Reihe, und viele derselben gründeten sich hier eine lebenslängliche Heimat. Um an die thätige und glänzende Rolle zu er­ innern, welche diese geistige Immigration spielte, brauchen wir nur die Namen Heinrich Heine und Ludwig Boerne zu nennen. Sie und ihre Nachfolger von geringerer Bedeutung haben beiden Nationen ausgezeichnete Dienste geleistet, in­ dem sie eine in das Leben der anderen einweihten. Wenn die Franzosen, durch Heines Verdienst vorzüglich, einiger­ maßen mit deutschen Dingen vertraut geworden sind, so war die entsprechende Wirkung jenseits des Rheins bei weitem gewaltiger und allgemeiner. Beide waren von Grund aus deutsch, sowohl durch ihre Individualität als durch ihre Geistesrichtung, und liebten zugleich die Vorzüge des fran­ zösischen Volkes und die parisische Anmut mit wahrer Zärt-

237 kichkeit. Cormenin hat dies in seinen Worten über Boerne vortrefflich ausgedrückt: „Er liebte Frankreich als sein zweites Vaterland, er liebte Frankreich im Interesse Deutsch­ lands." Das Politische, soziale und litterarische Leben Frankreichs fand in Deutschland mächtigen Widerhall, als Männer von solchem Range, deren eigenartiger und be­

zaubernder Stil allein schon die Leser anzog, Sorge trugen, es den Deutschen nahe zu bringen. Jene Briefe und Bücher, welche von den Menschen und Dingen, den Salons und Straßen, den Kämpfen des Pariser Lebens erzählten, deren Verfasser in ihren täglichen Beobachtungen sozusagen wissen­ schaftlicher verfuhren als der Franzose selbst, machten die

Deutschen mit allen älteren und gegenwärtigen Ideen des Landes bekannt, weihten sie bis auf die kleinen Anekdoten von Stadt und Hof herab in das französische Leben ein und haben bewirkt, daß noch jetzt der gebildete Deutsche Paris betritt wie sein Eigentum, im voraus mit der ganzen Überlieferung und Topographie des Ortes vertraut. Nach

Boerne und Heine kam die Gewohnheit auf und bestand einige Zeit, daß jeder schriftgewandte Landsmann, der nach Paris kam, seinen Band Briefe drucken ließ. Es wurde eine ganze Sammlung daraus. Karl Gutzkow, das Haupt des seiner Zeit sogenannten „jungen Deutschlands" (das eine entfernte Ähnlichkeit mit der französischen romantischen Schule hat) beschenkte uns so gut wie die anderen mit einem Band „Briefe aus Paris". Wiederholt versuchten es diese litterarischen und politischen Kreise, ein periodisches Organ in deutscher Sprache zu gründen; es gelang niemals. Will der Deutsche sich mit den französischen Dingen bekannt

machen, so schöpft er, hüben wie drüben, lieber gleich an der Quelle, die ihm zugänglich ist, sobald er nur über ein bescheidenes Maß geistiger Bildung verfügt. Um seine eigenen Angelegenheiten kennen zu lernen, greift er lieber

238

nach einheimischen Blättern. Daher hat es solchen Unter­ nehmungen immer an Lesern gefehlt. Der Galignani wird deren stets Tausende finden, welchen ihr Thee und Toast nur mundet, wenn sie ein englisches Format und einen englischen Text dabei haben. Den Deutschen verlangt nach Lokalfarbe; er liest le Tintamarre (Witzblatt), während er seine ratatouille verspeist. Hat es doch Flüchtlinge aus dem Frankfurter Aufftande vom Jahre 1831 gegeben, die

sich nach ihrer Rückkehr ins Vaterland immer noch den ver­ hältnismäßig teuren tabac caporal schicken ließen und be­ haupteten, kein anderes Kraut käme diesem Erzeugnis der trefflichen Regie gleich. Ludwig Boerne — wir verweilen bei ihm ganz besonders, weil er der erste unter diesen Ver­ mittlern ist — kam seit dem Jahre 1819 verschiedene Male nach Frankreich. 1822 veröffentlichte er seine „Bilder aus Paris", die Frucht zweijährigen Aufenthalts, während dessen er einen überaus heftigen Kampf gegen die Regierung der Restauration geführt hatte. Er kehrte dann nach Deutsch­ land heim; aber als die Juli-Revolution zum Ausbruch kam, die er so heiß herbeigesehnt, hielt er es dort nicht länger aus und eilte wieder zurück. Von dieser Zeit an datieren seine „Briefe aus Paris". Er richtete sie an eine deutsche Dame, mit welcher er bis zum Ende seines Lebens durch die reinste und herzlichste Freundschaft verbunden blieb, die ihm auch nach Paris gefolgt war und hier erst vor wenigen Jahren gestorben ist. Aus diesen Briefen ist Boernes große Popularität entsprungen; sie schlugen gleich­ sam eine Brücke zwischen Frankreich und Deutschland. Der Verfasser stand im innigen Bunde mit Frankreichs vor­ nehmsten Geistern, unter anderen mit Lamennais, dessen Paroles d’un croyant er ins Deutsche übersetzt hat. Der Tod überraschte ihn bei der Ausführung seines Lieblings­ planes, ein geschichtliches Werk über die französische Re-

239 Dotation zu verfassen. Nachdem er lange an einer Brust­ krankheit gelitten, starb er zu Paris im Jahre 1837. Naspail rief ihm den Scheidegruß zu, sein Denkmal schmückte David, und Cvrmenin schrieb das Begleitwvrt zu einigen seiner ins Französische übersetzten Werke. Der Mann, dem als

Ideal die herzlichste Vereinigung der beiden Nationen vor­ geschwebt hatte, war solcher Gastfreundschaft würdig. Wie fern liegt doch diese Zeit der heutigen Generation, der es vor allem darauf ankvmmt, die Gewehre der Nachbarn zu zählen unb ihre Zahl zu überbieten! Im Jahre 1836 hatte Boerne, damit seine Idee Gestalt gewinne, den Plan ge­ faßt, in Paris eine in den beiden Sprachen abgefaßte Revue zu gründen. Er hieß sie „die Wage" (la Balance),

in der Erinnerung an eine Zeitschrift, die er vordem in Deutschland herausgegeben hatte, und deren Name sich mit seinem Gedanken vorzüglich deckte. Aber „die Wage" er­ lebte nur wenige Nummern und ging ein, aus Mangel an Unterstützung jeglicher Art. Zwei andere Versuche hatten nacheinander dasselbe Schicksal. Im Jahre 1841 waren die „Hallischen Jahrbücher", das berühmte Organ der Jung­

hegelianer, und 1843 ihre Fortsetzung, die „deutschen Jahr­ bücher", verboten worden. Der Herausgeber Arnold Rüge entschloß sich, sie nach Paris zu verpflanzen. Der Dichter Herwegh, der Sozialist Marx und einige andere schlossen sich ihm an, und es erschien eine Lieferung der neuen Zeit­ schrift unter dem Titel „Deutsch-Französische Jahrbücher" (Paris 1844). Wiederum waren diese ersten zwei Nummern zugleich die letzten. Zu jener Zeit hatte die sozialistische Bewegung einen beträchtlichen Teil des jungen Paris er­ griffen, und viele der Deutschen, die sich um die Redaktion scharten, hatten sich gleichfalls hineingestürzt. Selbst Cabet lieferten sie einige Jünger. Die Verschiedenheit der Schulen führte naturgemäß zu Spaltungen. Die Zeitschrift wurde in ein kleines Blatt, den „Vorwärts" umgewandelt, das

240 unter anderen den berühmten Russen Bakunin, den Ehren­ bürger aller Revolutionen, zu seinen Mitarbeitern zählte. Guizot ließ die Redakteure ausweisen; mit der Redaktion wäre es auch ohne ihn bald zu Ende gewesen. Seither ist kein ernstlicher Versuch wieder gemacht worden, ein deutsches Organ in Paris zu gründen. Von Zeit zu Zeit wurde wohl noch

eine kleine Zeitung

in die

Welt gesetzt, aber

niemals fiel das Unternehmen auf guten Boden, und seine Aussichten, denselben je zu finden, verringern sich tagtäglich. Die Amnestien, Deutschlands neuerwachtes politisches Leben haben nach und nach fast alle zurückgerufen, die nicht ent­

weder mit unauflöslichen Banden an Frankreich geknüpft waren oder für ihr Vaterland nichts mehr empfanden. Auch Paris war ihnen begreiflicherweise nicht mehr das Paris früherer Tage, weder so gastlich mehr, noch so reizvoll, noch

die Schule, die es gewesen. Heutzutage haben die in Paris lebenden Deutschen keinen geistigen Mittelpunkt. Man hat wohl versucht, dem Turnverein ein wenig Schwung zu geben, aber bis jetzt ist es diesem nicht gelungen, und kaum wird es ihm jemals ge­ lingen, diejenigen Elemente in genügendem Maße zu ver­

einen, deren es zur Erfüllung einer großen Aufgabe be­ darf. Das kleine Theater der Salle Beethoven ist noch

um vieles unbedeutender und nie über ein klägliches Dasein hinausgekommen. Vielleicht hätte eine Veranstaltung, die sich einzig auf die Zerstreuungen des geselligen Lebens ge­ richtet, bessere Aussichten gehabt, weil sie vielleicht das unter den Deutschen in Paris so stark vertretene kauf­ männische Element angezogen haben würde. Aber als vor vier oder fünf Jahren eine große Anzahl der tonangebenden Personen der Kolonie den Gedanken faßte, einen Cercle zu gründen, scheiterte der Plan daran, daß die Polizeipräfektur die Erlaubnis verweigerte. Da man nicht recht wußte,

241 wodurch dieses Mißtrauensvotum veranlaßt war, tauchte damals die Vermutung auf, die eine gewisse Wahrscheinlich­ keit für sich beanspruchen kann, die deutsche Diplomatie hätte hinter dem Verbot gesteckt, vielleicht ihre Staatsangehörigen vor der Berührung mit einigen demokratischen Namen, die an der Spitze der Liste standen, zu behüten.

V. Das einzige allgemeine Band für die Deutschen in Paris bildet ein Wohlthätigkeitsverein, welcher Bedeutendes leistet. Derselbe unterstützt jährlich an 14 000 Arme auf alle mögliche Weise und verfügt außerdem bereits über die Anfänge eines Fonds, der zur Errichtung eines Spitals bestimmt ist, weil sich vor allem das Bedürfnis heraus­ gestellt hat, armen alten Leuten eine Zuflucht zu schaffen.

Was die gewöhnlichen Krankheiten anbetrifft, so öffnet das gastliche Paris seine wohlthätigen Anstalten einem jeden ohne Unterschied der Nationalität. Nur die Asyle für solche, die an der Krankheit des Alters und der Armut leiden, schließen die Nichtfranzosen aus. Die Wohlthätigkeitsbälle,

welche genannter Verein einmal jährlich veranstaltet, bieten dem Deutschen zugleich die einzige Gelegenheit, die ganze elegante Gesellschaft seiner Landsleute

auf einem Punkte

vereinigt anzutreffen. Natürlicherweise können 40- oder 80 000 Deutsche sich nicht an den musikalischen Unterhaltungen genügen lassen, die für zwei Millionen gewöhnlicher Sterblicher ausreichen.

Die Franzosen meinen, die Musik bei sich eingebürgert zu haben, weil sie schließlich dahin gelangt sind, sich für die klassischen Konzerte zu begeistern. Ein Deutscher ist nicht zufrieden, wenn er nur stürmisch Beifall klatscht, Bravo, Ludwig Bambergens Ges. Schriften. J. jß

242 Brava und Bravi ruft: er muß zum mindesten an einigen Feldzügen einer Gesellschaft für Vokal- oder Instrumental­ musik in aktivem Dienst beteiligt sein. Die Anzahl der in Paris vorhandenen deutschen philharmonischen Gesellschaften

ganz genau anzugeben, wäre eine fast ebenso schwierige Aufgabe, wie die Anzahl der Deutschen selbst festzustellen. Von allen Fachautoritäten, die wir über diesen Punkt be­ fragten, erhielten wir die gleiche Antwort: „Fünf, sechs, sieben .... aber es müssen noch mehr sein, die ich nicht kenne". Hier wäre nun der richtige Ort, um vom Bier zu reden, denn das „Lied" läßt sich nicht ganz ohne den Schoppen denken. Doch ist der Schoppen keine deutsche Eigentümlichkeit mehr. Schon vor Entlehnung der Land­ wehr und des Hinterladers, und ohne daß zu diesem Zwecke irgend eine Kommission zusammengetreten wäre, hat Frank­ reich den Bierkultus von seinen Nachbarn herübergenommen.

Die bayrischen Brauereien liefern jahraus jahrein für den Pariser Konsum eine in ungeheurem Maße zunehmende Menge*) (ganz abgesehen von der inländischen Produktion), und die Zahl ihrer Agenten hat sich im Laufe der letzten Jahre verzehnfacht. Dadurch, daß dieses Gebräu allen Laien zugänglich geworden, geschieht doch dem Bestehen einiger geheiligter Stätten, welche die wahren Anbeter eines ortho­ doxen „bock“ zu besuchen pflegen, durchaus kein Abbruch. Wer um Mitternacht in das Cafe du Grand Balcon geht, dem wird ein ausgesprochenes Vorherrschen blonden Haar­ wuchses, hie und da auch das Vorhandensein der klassischen Pfeife mit dem langen Rohre auffallen, wie sie furchtbare *) 1866 ist die Einfuhr von bayrischem Bier durch die lange Herr­ schaft der Cholera beeinträchtigt worden. Für dieses Jahr wird die

Quantität des

ausschließlich von Bayern her eingeführten Bieres auf

26 OOO Fässer zu je 67 L. geschätzt. Das übrige Deutschland liefert eben­ falls welches; der größte Teil aber wird im Lande selbst erzeugt.

243 Wolken vor sich hinbläst oder feierlich an einem Riegel hängt, der an ein ehrwürdiges Brett geschraubt ist. Von den Tempeln des Bierkönigs Gambrinus ist der Grand Balcon der vornehmste. Seit einiger Zeit hat das Wiener Bier auf dem Platz am neuen Opernhause seine Zelte auf­ geschlagen und will dem Münchener vom Boulevard des Italiens den Rang ablaufen. Es bleibt abzuwarten, wer

hier den Sieg davon tragen wird, das Bier aus dem Lande Mozarts oder das aus Richard Wagners Reich. Dringt man weiter nordöstlich vor, bis auf die Höhe des Faubourg Poissonniöre, so lassen sich diese Studien durch die ganze gesellschaftliche Stufenleiter hindurch verfolgen. Manche jener Gastwirtschaften stehen mit Nebengeschäften in Ver­ bindung, wo Sauerkraut und Würstchen, diese allen wohl­ gearteten Herzen so teuren Gerichte, feilgehalten werden. Die Bayern und Frankfurter haben das Gebiet des Flüssigen in Pacht genommen, das Feste fällt den Wienern zu. In diesen Lokalen bildet der in Paris ziemlich zahlreich ver­ tretene deutsche Malschüler die Blüte des Publikums, das grobe Material liefert der Handlungsgehilfe. Früher war es auch unter den deutschen Studenten der Medizin, denen ihre Mittel dies erlaubten, üblich, zur Vollendung ihrer

Studien auf ein bis zwei Semester nach Paris zu kommen. Jetzt aber soll sich diese Gewohnheit verlieren. Ob das nun dem Aufschwung der dortigen oder dem Rückgänge der hiesigen medizinischen Fakultäten zugeschrieben werden muß, ist schwierig zu entscheiden und entzieht sich unserer Beur­ teilung. Indessen hat sich unter den jungen Ärzten der

eine kürzere Zeit, die etwa für den Besuch der Krankenhäuser und Kliniken ausreicht, in Paris zuzubringen, und dieser Umstand hat in Verbindung mit dem anderen, daß sich ungefähr zwanzig deutsche Ärzte

Gebrauch erhalten,

dauernd in Paris aufhalten, die besonders ihre Landsleute 16*

244 zu behandeln haben, die Gründung einer deutschen medi­ zinischen Gesellschaft veranlaßt, welche regelmäßige Sitzungen

abhält uud darüber wacht, daß jedes der beiden Länder in Bezug auf die wisfenschaftlichen Fortschritte des anderen auf dem Laufenden erhalten bleibe. Allwöchentlich werden dort interessante Berichte erstattet; ein nicht weniger inter­ essantes Festmahl findet alljährlich statt. Die Berichte

und Diskussionen werden deutsch geführt, die Küche fran­ zösisch, und ganz gewiß ist in dieser Gesellschaft noch nie vom Niedergänge des Restaurant „Vachette" die Rede ge­ wesen. Seit langer Zeit ist die Augenheilkunde ein Spezial­ fach der Deutschen. Nachdem vor mehr als dreißig Jahren die Beersche Schule zu Wien ins Leben getreten war, führte Dr. Sichel die Neuerungen derselben in Paris ein. Als nun eine neue deutsche Schule sich jüngst daran machte, die alten Überlieferungen umzuarbeiten und das, was bis­ her im wesentlichen eine empirische Kunst gewesen, in eine exakte Wissenschaft zu verwandeln, die auf den Fortschritten

der modernen Naturkunde fußte: da ward diese neue Schule alsbald in Paris glanzvoll vertreten. Seit Jahren an den Arbeiten der Meister beteiligt, welche die neue Augenheil­ kunde begründet haben, hat sich Dr. R. Liebreich mit wunder­ barer Schnelligkeit znm Range eines der ersten Ärzte von Paris erhoben, und seine durch ihn geschaffene und aus­ schließlich durch ihn erhaltene Klinik (nie Git-le-Coeur)

hat die zwiefache Bedeutung einer wohlthätigen und einer öffentlichen Lehranstalt erlangt. Noch andere sehr verdienstvolle Deutsche, die aus der­ selben Schule hervorgegangen sind, so die Drs. Meyer und

Weckher, haben es in kurzer Zeit in demselben Fach zu hohem Ansehen gebracht und bedeutende Kliniken gegründet. Beiläufig sei hier erwähnt, daß die Homöopathie, diese aus­

schließlich deutsche Erfindung, in Paris eine zweite Heimat

245 und sogar eine zahlreichere und gläubigere Jüngerschaft ge­ funden hat als im eigenen Vaterlande. Da wir von der Medizin reden, müßten wir von rechtswegen auch die Theologie ein wenig zu Worte kommen lassen; aber wenn man auf einem Blatte alles sagen muß, so legt die allzeit opferwillige Religion es einem gar zu verlockend nahe, sie mit Stillschweigen zu übergehen. Über­ dies haben wir dem Protestantismus bei der Musterung der Straßenkehrer unsere Aufwartung gemacht; wir wollen

jetzt bei der Besprechung der Dienstboten dem römischen Stuhl unseren Besuch abstatten. Die deutschen katholischen Priester in Paris haben sich das besondere Recht Vorbehalten,

die Köchinnen und Hausmädchen unter ihren Schutz zu nehmen. Es existiert (wiederum in demselben Viertel, in der Umgebung der Rue Lafayette) ein St. Josephskloster, welches den neu ankommenden oder stellenlosen deutschen Dienstmädchen zum Absteigequartier dient und den Haus­ frauen mit gutem Gewissen empfohlen werden kann. Die süddeutschen Staaten, welche bei weitem das größte Kon­ tingent der deutschen Einwanderung stellen, sind, mit Aus­ nahme Württembergs und eines Teils des Großherzogtums Baden, vorzugsweise katholisch. Diese Gegenden und be­ sonders auch das Moselland, Luxemburg, Trier, sowie das badische Oberland, sämtlich Grenzgebiete, senden uns jene Scharen von deutschen Dienstmädchen zu, welche die Schwestern der Rue Lafayette unter ihre Fahne sammeln. Wie alles, was mit der katholischen Organisation zusammenhängt, hat auch diese Sache eine viel realistischere Färbung als die Mission der protestantischen Geistlichen von La Billette. Indeß diese es für angezeigt hielten, ein Werk der Erziehung und sittlichen Veredelung im Sektengeist zu gründen, haben jene sich in Gestalt eines Stellenvermittlungsbureaus ein Mittel geschaffen, treue Jünger zu werben. Allerdings ist

246 es leichter, eine Armee von Straßenkehrern zu überwachen als eine Legion Mädchen. Selten findet man einen deutschen Haushalt in Paris, dem nicht wenigstens ein deutsches

Dienstmädchen angehörte. Der Ausländer gewöhnt sich schwer an den Pariser Dienstboten: er ist ihm zu unbot­ mäßig, zu anmaßend, und auch der durch Moliöre unsterblich gewordene Typus des vertraulichen, impertinenten Dieners ist, wie sich denken läßt, keineswegs der Phantasie des Dichters entsprungen vielmehr ganz und gar aus dem Charakter und den Sitten seines Volkes und vorzüglich seiner lieben Vaterstadt geschöpft. Keine andere LustspielLitteratur hat eine ähnliche Gestalt aufzuweisen, ausge­ nommen vielleicht die alte römische in der Rolle des ver­ trauten Sklaven. Um sich der Tyrannei der französischen Dienstboten zu entziehen, versehen sich unsere Landsleute in Paris unausgesetzt mit deutschen, besonders was den

weiblichen Teil der Dienerschaft anbetrifft. Durch diesen Umstand erklärt es sich zum Teil auch, warum in den amt­ lichen Angaben über die Zahl der Deutschen in Paris die Frauen mit fast ebenso hohen Ziffern vertreten sind wie die Männer; so weist die letzte Volkszählung 18 591 Männer und 15 628 Frauen auf. Den Schlüssel zu dieser auf­ fallenden Thatsache — gleiches Verhältnis der beiden Ge­ schlechter bei einer ausländischen Bevölkerung, in der man doch ein beträchtliches Vorherrschen des viel beweglicheren männlichen Elements erwarten sollte — giebt die vorstehende Thatsache. Der erwähnte Umstand beeinflußt um so mehr die Er­ scheinungen, mit welchen wir es zu thun haben, als die in dieses Gebiet eingreifenden Sittenzustände eine beständige Erneuerung des Materials bedingen. Man kann rechnen, daß durchschnittlich ein Zeitraum von drei Jahren dazu gehört, eine gute Deutsche, die aus dem Inneren ihres

247 Landes als Dienstmädchen nach Paris kommt, zu demorali­ sieren. Am Anfang ihrer Laufbahn kennt sie weder ein Wort der Sprache, noch den allerkleinsten Kniff, durch welchen sie ihre Herrschaft hintergehen könnte, versteht sich auch noch sehr schlecht auf einen Liebeshandel. Ein halbes Jahr später weiß sie sich vermittelst eines durchaus ver­ ständlichen, oft sogar mit allen Feinheiten des fünften Stock­ werks gewürzten Kauderwelsch durchzuschlagen. Nach anderthalb Jahren hat sie sich die Kunst der Schwänzel­ pfennige (faire danser l’anse du panier) von Grund aus zu eigen gemacht. Noch ein Jahr — so unterhält sie in vollendeter Weise ihren Garde municipal oder ihren Schlächtergesellen, wenn nicht beide zugleich. Hat gar die Herrschaft, um die Fortschritte ihrer Untergebenen zu be­ schleunigen, sie bei dem berühmten Koch irgend eines Cercle oder Restaurants ausbilden lassen, so vollzieht sich der moralische Umschwung mit verdoppelter Schnelligkeit. An diesem Punkte angelangt, läßt unsere blauäugige Blondine ihre Herrschaft sitzen und verschwindet in dem großen Ab­ zugskanal des Pariser Dienstbotenvolks, dessen Lebens- und zugleich Krankheitsprinzip die achttägige Kündigung ist. Niemals kann in einem Lande, wo, wie in Deutschland, für beide Teile eine vierteljährliche oder sechswöchentliche Kündigungszeit gilt, die leidige Feindschaft zwischen Herrn und Diener einen derartig heftigen und erbitterten Charakter annehmen wie in den Ländern mit kurzer Kündigungsfrist. Mit so rebellischen Leuten ließe sich nicht noch monatelang nach der Kündigung ein Haushalt führen. Nimmt man an, daß jede deutsche Familie mindestens ein Mädchen hält und durchschnittlich alle drei Jahre Ersatz braucht, so möge man sich hiernach die Zahl derer berechnen, welche durch diesen Brauch fortgesetzt aus dem heimatlichen Boden ge­ rissen und der Hölle zugeführt werden. Neben dem eigent-

248 lichen Dienstboten haben wir

dann noch den klassischen

deutschen Gasthofskellner. Auch sein Name ist Legion; er bedient in allen Gasthöfen ersten und zweiten Ranges, fehlt

aber vollständig im Cafö und Restaurant. Dort bedarf man des Franzosen. Der lärmende Possenreißer und kurzweilige Fant, dieser staunenswert bewegliche Überall und Nirgendwo, das naseweise Faktotum, welches geradewegs von der Bühne

des Palais-Royal herabgestiegen zu sein scheint,

um sich

von da aus erst über die nächste Umgebung der Arkaden und dann über ganz PariK zu verbreiten, bildet eine be­ sondere Figur des gallischen Repertoires. Hingegen ist der dienstbeflissene, unterwürfige, zurückhaltende Gasthofskellner,

der nichts sagt, dafür aber mit der Sprache und den Lebens­ gewohnheiten von drei oder vier Nationen vertraut ist, fast ausnahmslos von deutscher Herkunft. Der Franzose ist ein gewandter erfindungsreicher Diener und versteht wie kein anderer, dem Gaste im kritischen Augenblick ohne viel Besinnen einen Ausweg aus einer Verlegenheit zu öffnen; der Deutsche ist umsichtig, vorbedacht, sorgsam; von vorn­ herein widmet er sich der Aufgabe, es dem Gaste behaglich zu machen. Aus dieser Naturverschiedenheit erklärt sich die große Überlegenheit der deuffchen Badeorte. Überall wird der Fremde gerupft, aber nur in Deutschland beutet man ihn mit Ehrerbietung aus. Wenn der germanische Stamm erst das rechte Maß für ein Bett und eine Tasse Kaffee

gefunden hat, wird er an der Spitze der europäischen Gast­ lichkeit marschieren. Der Beruf des Kellners nimmt übrigens in der gesellschaftlichen Rangordnung eine so hohe Stufe ein, daß junge Leute aus guter Familie sich nicht schämen, die elegante Jacke anzulegen, unter dem Vorbehalt, sie einst­ mals mit dem hochachtbaren, vornehmen Frack des Ober­ kellners zu vertauschen, den die Gäste feierlich mit Herr

aureden.

Es kommt sehr häufig vor, daß ein Millionär,

249 der Besitzer eines jener großen Gasthöfe am Rhein, seine Söhne in die Fremde schickt, damit sie dort im bescheidenen

Stande des Kellners ihre Lehrzeit durchmachen. Die deutschen Kellner in Paris gehören dem Verbände sämtlicher Kellner der Hauptstadt an, einer ganz eigenartigen, mit vieler Einsicht organisierten und für ihre Mitglieder höchst wert­ vollen Vereinigung, die z. B. durch ihre Stellenvermittlung die Verschiebung dieser fliegenden, bald hier bald dort be­ gehrten Scharen erleichtert und auch das Personal aller Restaurants, Cafes und Bierlokale der Stadt vom Kopf

bis zu den Füßen kleidet.

VI. Außerdem sind noch in vielen anderen Berufsarten Deutsche thätig, die, je nachdem der Zufall sie in die Heimat zurückführt oder dauernd in Paris festhält, eine halb be­ wegliche, halb seßhafte Bevölkerung bilden. Allgemein be­ kannt ist die Spezialität des deutschen Schneiders; sowohl im Reich der Hose als auch auf finanziellem Gebiete sind

die Deutschen in Paris mit den berühmtesten Namen ver­ treten. Infolge eines Zufalls, der eigentlich keiner ist, haben sich sogar die beiden Klassen vorzugsweise in einem und demselben Stadtteil — dem Quartier Feydeau — an­ gesiedelt. Wer von der Rue Soffitte und der Ehausseed'Antin aus nach der Börse geht, den führt sein Weg vom Sitz der deutschen hohen Finanzwelt her durch ein Spalier von Schneidern gleichen Stammes. Der zu Hause arbeitende Schuhmacher (bottier en chambre), der Kunsttischler, Stell­ macher, Wagenbauer und noch manche andere Handwerker deutscher Rationalität sind hauptsächlich im Faubourg St. Antoine zu finden. Der französische Meister hat den deutschen Arbeiter gern: er ist fleißig, folgsam und vor

250 allem regelmäßig in seiner Arbeit, da er wenig

blauen

Montag macht; aber in der Geschicklichkeit kann er nicht mit dem französischen Handwerker wetteifern. Wo es darauf ankommt, einer Sache den letzten Schliff, das Zierliche zu geben, das den Reiz des article de Paris ausmacht, da zieht der Meister die Hand

des Franzosen vor,

selbst in der

Kunsttischlerei, einem der Fächer, welches die Deutschen im übrigen gepachtet haben.

Wir erwähnten vorher das Finanzwesen. Da das­ selbe heutzutage im Vordergründe des öffentlicheu Lebens steht, so ist auch der Laie hierüber gut unterichtet. Allein schon der Name desjenigen, den man so treffend den König der Bankiers und den Bankier der Könige genannt hat, würde hinreichen, um daran den Einfluß des deutschen Elementes auf das Pariser Handelsleben zu ermessen. Übrigens ist dieser Einfluß nicht etwa nur der Gunst der

Umstände in diesem einen Lande zu verdanken: in England, Holland, Amerika hat sich das Handelsgenie der Deutschen unter viel schwierigeren Verhältnissen einen hervorragenden Platz zu erobern verstanden. Ehemals hatten sich die Wandervölker den Hirtenstand erwählt, heute stellen sie Bankiers, Importeure und Kommissionäre. Die Londoner City, die Quais von Rotterdam und Amsterdam, die Häfen von New-Jork, Pernambuco, Schanghai und Jokohama wimmeln von deutschen Firmen. Selbst die unternehmungs­ lustigen Engländer siedeln sich doch nur in gewissen Ländern an, die Deutschen aber ziehen überall hin. Weil Paris ohne Seehafen ihnen unzulänglich schien, haben sie eine zweite große Kolonie in Havre gegründet. Wer das Namens­ verzeichnis der Pariser haute banque durchgeht, dem drängt sich eine höchst merkwürdige Wahrnehmung auf: dieser Zweig liegt fast ausschließlich in den Händen zweier fremden Nationen, der Schweizer (namentlich der Genfer) und der

251 Deutschen. Die großen französischen Häuser sind mit der Zeit fast sämtlich verschwunden; man denke nur an die Laffitte, Gouin, Ganneron, Leroy de Chabrol und wieviele

andere! Läßt man die Aktien- und Kommandit-Gesellschaften außer Acht, so findet man unter der haute finance nur wenige Leute von. rein französischer Herkunft: fast alle sind

Schweizer oder Deutsche, eine Eigentümlichkeit, die in innigem Zusammenhänge mit dem Nationalcharakter steht. Dieselbe Ursache, welche den Franzosen abhält, fremde Sprachen zu lernen oder überhaupt auf irgend eine Art aus seiner Persönlichkeit herauszugehen, macht ihn weniger geschickt zu solchen Geschäftsunternehmungen, deren sehr zu­ treffend als „Arbitrage" bezeichnete Hauptverrichtung in

einer beständigen Ausgleichung sämtlicher in der ganzen Welt vorhandenen Kursverschiedenheiten besteht. Die zu einer solchen Wachsamkeit erforderliche Ubiquität und Welt­ kenntnis vertragen sich nicht mit einer derartig in sich selbst geschlossenen und gesättigten Sinnesweise. Der Franzose, welchen vor allen Dingen Klarheit, Genauigkeit, kurzum die Gabe der Analyse auszeichnet, eignet sich nicht in gleichem Grade für Kombinationen, die sich über ein unendliches Ge­ biet verbreiten, er ist ein Spieler, d. h. er macht seine Berechnungen an Ort und Stelle, er ist kein Spekulant in die Ferne. Dieselbe Erscheinung wiederholt sich im Waren­ handel. Gilt es, ein Geschäft mit dem Auslande abzu­ schließen, so erhebt er zumeist den Anspruch, daß der Kon­ trahent zu ihm komme und in seiner Sprache, seinen Maßen und Münzen mit ihm verhandle. Der Pariser Fabrikant oder Importeur führt in seinen Beziehungen zu anderen Ländern nicht nur den Briefwechsel in französischer Sprache, er verlangt auch, daß sein Konto auf Franken, Meter und Kilogramme laute; am anderen ist es, sich anzubequemen

und sich zu übersetzen, und er läßt sich nicht lange darum

252 bitten, denn diese Unterwerfung ist selber noch eine Ware mehr, die so teuer wie möglich verkauft wird. Für den Deutschen, den jede neue Verwandlung seines Wesens be­ glückt, ist solch ein Geschäft ein wahrer Fund, und Tausende von Zwischenmännern wissen sich in Paris eine Quelle des Gewinns zu schaffen, indem sie den Binnenhandel auf diese

Art mit den äußersten Grenzen der Erde in Verbindung setzen. Seitdem die satirische Litteratur sich darauf be­ schränkt sieht, ihre Nahrung nur mehr von den Nebengebieten des öffentlichen Lebens zu holen, seitdem durch ein sicherlich nicht zufälliges Zusammentreffen die Welt des Börsenspiels die Zielscheibe der sozialen Kritik geworden ist, ist auch der deutsche Börsenmann zu der Ehre eines — wie die Engländer sagen — „öffentlichen Charakters" gelangt. Im ganzen gilt er für ungemein gewandt und für einen ausgemachten Baissier. Es ist etwas Wahres an beidem. Eine Charakterstudie, welche den Börsenspieler der ver­ schiedenen Länder zu ihrem Gegenstände nähme, würde eines Führers durch Europa — wenn dieser einst als Fortsetzung des Führers durch Paris erscheinen soll — würdig sein. Haben die Deutschen auf diesem so viel geschmähten und so viel umworbenen Gebiete den Zeitungsschreibern und Sittenpredigern ihren Beitrag an Stoff geliefert, so giebt es doch noch manch, anderes Feld des nationalen Lebens, auf dem sie sich einen weit größeren Anteil an dem wahren Verdienst und dem schönsten Ruhme zugeeignet haben. Im Studium der altfranzösischen Sprache und Litteratur sind sie in gewissem Grade sogar die Vorläufer der Franzosen selbst gewesen, was sich aus der ganz be­ sonderen Beanlagung des deutschen Gehirns für philologische Arbeit jeglicher Art erklärt. Die jüngste der Wissenschaften, die Sprachwissenschaft, ist eine deutsche Schöpfung. Sobald dieselbe entdeckt hatte, daß alle Sprachen Schwestern seien,

253 zauderte sie nicht,

ihre Entdeckung praktisch zu verwerten, und sie hat es darin jener anderen so lange schon anerkannten und weniger denn je geübten Theorie, daß alle Menschen Brüder seien, gar sehr zuvorgethan. Die deutsche Gelehr­ samkeit hat sich ebenso liebevoll in das Studium der fran­ zösischen Sprache versenkt, wie sie sich dem Kultus der eigenen weiht, auch die ganze französische Litteratur der vergangenen Jahrhunderte erforscht und erläutert. Gleich­ wie Schiller und Goethe es nicht verschmähten, Racine, Voltaire zu übersetzen, so stiegen auch Schlegel und Uhland bis zu den tiefen Wurzeln der französischen Litteratur hinab. Die Fabliaux und Romans sind das Ziel eingehendsten Studiums gewesen. Noch heute gilt ein Deutscher, Diez, in Bezug auf provenyalische Sprache und Poesie und alles, was für die Zeit der Troubadours charakteristisch ist, überall als erste Autorität. Ein anderer Gelehrter, Brinckmeier, hat diese Studien in einem Werk „Die provenyalischen Troubadours, ihre Sprache, ihre soziale Stellung, ihr Leben und ihr Einfluß" fortgesetzt. Eine unter Lemckes Leitung in Leipzig erscheinende periodische Sammelschrift beschäftigt sich ausschließlich mit romanischer und englischer Sprache. Männer, die unter Deutschlands Dichtern und Schriftstellern einen hohen Rang einnehmen, haben die provenyalischen und bretonischen Dichtungen übersetzt; wir nennen nur Schack, Paul Heyse, Hartmann und Pfau. — Zu guterletzt dürfen wir auch die stetige, starke Teilnahme der Deutschen an den Forschungen orientalischer Philologie in Frankreich nicht mit Stillschweigen übergehen; welch glänzenden Anteil an diesen stellen nicht in Paris die Namen Mohl, Oppert, Munk, Derenbourg dar! Steigen wir von jenen Höhen der Wissenschaft in das Reich der Tageslitteratur herab, so finden wir hier eben­ falls eine beträchtliche Anzahl Deutscher als Mitarbeiter an

254 französischen Zeitschriften. So sehr auch diese Beiträge an Bedeutung hinter der vorerwähnten Thätigkeit zurückstehen, so gewähren sie doch den Deutschen gute Gelegenheit, auch

ihrerseits auf die Bildung des Volksgeistes einzuwirken, wie ihnen das gleichermaßen durch ihre zahlreiche Beteiligung am Lehramt vergönnt ist. Der Bolksgeist aber — und dies sei zu seinem Ruhme gesagt — kümmert sich um Stammesunterschiede nicht, wenn sie sich nur in seine Art zu schicken wissen. Nur wenigen wird

es bekannt sein, daß die beiden

größten französischen Preise in den letzten Jahren Deutschen zugefallen sind. Der Preis für dasjenige wissenschaftliche Werk, welches Frankreich die meisten Ehren eintrüge, wurde, nachdem ihn zuerst Thiers erhalten, im darauffolgenden Jahre Oppert zugesprochen, dem Erklärer der Keilschrift, einem unverfälschten Deutschen. Ebenso ging es mit dem Preise, welchen Ruhmkorff für die sinnreichste und nützlichste Verwendung der Elektrizität errang. Niemand hat diese merkwürdige Erscheinung beachtet, noch macht sich jemand eine Vorstellung davon, wieviele deutsche Federn zur Litteratur der Zeitungen und Zeitschriften beisteuern. Allerhöchstens kennt man noch Albert Wolf, den Ritter von der streitbaren Plauderei, der seine Waffe so gewandt und spott­ lustig zu schwingen versteht, daß man fast versucht sein könnte, an der Existenz der nach allgemeiner Übereinkunft

„Gallischer Geist" genannten Spezialität zu zweifeln. Wir wollen von keiner Seite um die nationalen Ver­ schiedenheiten klagen, die in solcher Weise unbemerkt bleiben. Dieser Vorgang ist das ehrenvollste Zeugnis für beide Teile und deutet auf eine der schönsten Tugenden des französischen Volkes hin. Kein anderes Volk der Welt beweist dem Fremden in gleichem Maße jene Gastlichkeit des Herzens, jene naive Güte, deren höchstes Verdienst darin besteht, daß sie sich selbst nicht kennt.

255 In manchem deutschen Fürstentum stößt ein Schuh­ macher aus dem benachbarten Herzogtum bei seiner An­ siedelung auf mehr Schwierigkeiten als ein deutscher Ge­ lehrter, der nach einer Professur an der Universite de

France strebt, deren findet. Die Natur hat dem Menschen Eigenliebe jeder Art eingepflanzt; die aber, mit welcher der französische Charakter erwiesenermaßen ausgestattet ist, ist wenigstens von jener guten Sorte, die mehr gute als schlechte Eigenschaften hervorbringt. Durch ganze Generationen hat dieses Volk derartig der felsenfesten Überzeugung von seiner allumfassenden Überlegenheit gelebt, daß der Gedanke, den Fremden als einen Eindringling mit Eifersucht zu ver­ folgen, ihm niemals auch nur in den Sinn kam; im Gegen­ teil schien es ihm immer nur natürlich, daß die anderen zu ihm kämen, um sich bei ihm zu unterrichten, zu bereichern, zu zerstreuen. Alle Fremden waren ihm Franzosen in spe, be­ rufen, ihren Anteil -am Glücke der Nation entgegenzunehmen, sobald ihre Stunde gekommen wäre. Im Grunde war dies einer der Gedanken der Revolution, dies die Bedeutung des

Bürgerrechts, das sie Klopstock und Schiller zuerkannte. Diese Anschauungen sind gegenwärtig im Verschwinden begriffen.

Manches Unglück hat dem Lande Bescheidenheit gepredigt, und man ist seiner selbst nicht mehr sicher genug, um den Fremden Bürgerkronen anzubieten. Um so mehr sollten diese den Vorzügen des französischen Volkes Gerechtigkeit widerfahren lassen. Zu den lieblichsten derselben gehört gerade jene herzliche, ja mit wahrer Lust dargebrachte Ge­ fälligkeit gegen alle, die den Fuß auf seine gastliche Erde setzen. Solchen Empfang bereitet dem Ausländer nicht wie anderswo eine wohlüberlegte Gerechtigkeit, vielmehr ent­ springt er schon aus der so gutmütigen wie anmutigen Sinnesart des liebenswürdigsten Volkes der Welt.

Das Reich unö Sie Wrffenschast/) i. HXr der Volksvertretung ein bißchen ins Herz sehen mochte, als sie daran ging, das bis dahin preußische archäo­ logische Institut in Rom zu einer Reichsanstalt zu erheben, würde vermutlich wahrgenommen haben, daß neben dem guten Willen für den Selbstzweck der Wissenschaft und für die Ehrenstellung der Nation noch zwei Motive negativer Natur bei vielen mitthätig waren. Man freut sich nämlich, andern Strömungen dienen zu können als solchen, welche die Menschheit heutzutag unwiderstehlich fortreißen; alt­ modisch zu reden, einmal andern Göttern zu opfern als dem Mars und Mercur, welche zusammen die zwei Seiten der realistischen Macht darstellen. Beide, so fühlt man, muß man gewähren lassen, und wer einmal eine historisch unvermeidliche Richtung begreift, der kann auch nicht mehr bei der Resignation stehen bleiben, sondern muß sich zum Beifall erheben. Bei der Kriegsmacht fällt dies den meisten nicht zu schwer. Aber auch den heiligen Golddurst als voll­ berechtigt walten zu lassen, das kostet manchen Stoßseufzer,

*) Aus den Beilagen der Augsburg« Allgemeinen Zeitung vom

17. bis 22. Juli 1872.

257 der sich aus dem Zustand der Geister vollkommen rechtfertigt. Trotzdem nämlich, daß die Theorien von der Gütererzeugung stets und überall besprochen werden, finden sie bei ihrer Neuheit in den meisten Köpfen noch einen ganz unvor­ bereiteten Boden, und die landläufig gewordenen Stich­ wörter werden nicht Halbwegs verstanden. Die einfache

Wahrheit, daß es in der Natur keine reine Hervorbringung giebt, sondern nur eine Versetzung von Stoffen, ist den wenigsten bewußt, und sie betrachten daher alles, was nicht Stoff oder Form zu schaffen scheint als ein parasitisches Thun. Daher übersehen sie die befruchtende und schöpferische Macht des Geldes, welches das behendeste Vehikel der Stoff­ versetzung ist. Zwischen den beiden Extremen, einmal in dem Geld allein den Reichtum zu sehen und ein andermal nur dessen falschen Schein, schwankt seit Jahrhunderten die populäre Anschauung auch der Regierungen hin und her; ja diese beiden falschen Extreme sind nicht selten in dem­ selben Gehirn und System nebeneinander angenistet. In einer und derselben Periode sahen wir die Wirtschafts­ politik der Staaten beiden Extremen huldigen, die Ausfuhr des Geldes als des höchsten Gutes behindern, und den Handel, um dessentwillen allein das Geld da ist, als etwas in sich Unproduktives geringschätzen. Was gerade am meisten einer Epoche not thut, daher mit Urgewalt in ihr sich Bahn bricht und eben deshalb den schnellsten, d. h. üppigsten Lohn abwirft, das erscheint der ersten Auffassung immer als ver­ dächtig, als Raub am Gemeinwesen; und die, welche nicht Beruf, Lust oder Geschick haben, mit dem neu herein­ brechenden Strom zu schwimmen, erscheinen sich als die Tugendhaften und Zurückgesetzten. In der Blütezeit des zweiten Empire, welches gern zu dem höchsten Luxus des Genießens auch den Luxus der Tugend sich zulegen mochte, schrieb ein talentvoller Staatsanwalt, Oscar de Lavallöe, Ludwig Bamberger's Ges. Schriften.

I.

17

258 ein Buch „Les manieurs d’argent“, welches die Schein­ künste der Geldleute ins Licht setzen sollte und wie Augiers

Börsenstücke vom Kaiser mit Lob ausgezeichnet wurde. Die produktive Rolle der heutigen Geldwirtschaft wird erst richtig gewürdigt werden, wenn sie über die Periode der Neuheit hinaus und dadurch auch dem Niveau der allgemeinen Gewinnabwerfung wird näher gebracht sein. Vorerst aber ist es vergeblich, der Zeit voraneilen zu wollen, und es ist nicht mehr als eine gerechte Kompensation, daß die Geschäfts­ zweige, welche ihrem neuen Aufschwung unverhältnismäßige Vorteile verdanken, auch einen Teil Haß und Verachtung mit in den Kauf nehmen müssen. Ein zweites hängt innig damit zusammen. Die Kunst, Geld mit Geld zu verdienen, ist, weil sie ihrer Natur nach auf der geradesten Linie operiert, auch dazu angethan, ihren Mann im geschwindesten Tempo aus dem Staub emporzuwirbeln, und wenn sie bei den Kombinationen des einen die feinste Fühlung aller in einander greifenden Weltverhältnisse zum Gelingen voraus­ setzt, so genügt ihr oft beim andern der rohe, schnell zu erwerbende Instinkt der sogenannten Spekulation. Die' letztere Art giebt hohle Emporkömmlinge, ohne Bildung, mit Eitelkeit, Prunk- und Genußsucht, und so wird zugleich mit der Antipathie gegen das Handwerk die Antipathie gegen die Handwerker herausgefordert. Die Bank- und IndustrieHerren der Gegenwart werden sich in der Geschichte einst weniger stattlich ausnehmen, als die Medici und Strozzi, die Fugger, Welser, Volkamer, Hirsvogel, Viati, Peller, Holzschuher des 15. und 16. Jahrhunderts, obwohl vielleicht auch hier etliche optische Täuschung mit unterläuft. Die Deutschen gelten sich selbst und andern für das bestunterrichtete Volk der Welt. Ich möchte nicht mißver­ standen sein, wenn ich hier einen Vorbehalt im Punkte des Kaufmannstandes einschalte, der in seinem besonderen Be-

259 ruf ohne Zweifel an Tüchtigkeit und Unternehmungsgeist dem aller anderen Nationen vorgeht. Über die Rührigkeit,

Intelligenz und Ausdauer, welche der deutsche Kaufmann in die Fremde bis in die entferntesten Zonen trägt, als Prinzipal wie als Kommis und Handlungsreisender, ist nicht Erstaunliches genug zu sagen. Da steht er ganz un­

erreicht da. Nur im Punkte der sogenannten klassischen Bildung und der Berührung überhaupt stehen die Kauf­ leute Englands und Frankreichs ihrer gelehrten Welt im ganzen näher. Das kommt allerdings zum Teil daher, daß die Gelehrten selbst in beiden letztgenannten Ländern der Welt und insbesondere den reichen Klassen der Heimat näher stehen als bei uns — ein Unterschied gegen deutsche Zustände, der früher noch viel stärker ausgeprägt war, und diesseits im Abnehmen begriffen ist. Die meisten dieser Erscheinungen hängen mehr oder weniger mit unserem Vermögensrückstand, verglichen mit dem jener beiden anderen Nationen, zusammen. An diesen knüpft sich unter anderm der altüberkommene Mißbrauch, daß während der Lehrzeit die jungen Leute viele Jahre hindurch umsonst arbeiten, ja manchmal für die Erlaubnis, als Lehrlinge zu arbeiten, dem Prinzipal zahlen müssen. Letztere Unsitte ver­ liert sich nachderhand, aber das erstere bildet noch die Regel, während in England der kleinste Junge, vom Tage seines Eintritts an, Gehalt bezieht, und in Frankreich meist nach dem ersten Jahr. Daher kommt es, daß die Knaben bei uns früher aus der Schule genommen werden. Deutsch­ land ist auch speziell das Land der „Realschulen", ein Gattungsbegriff, den man anderwärts nicht kennt. Ein Versuch, den ein französischer Unterrichtsminister (Fortoul) machte, die Schüler der höheren Anstalten von den mittleren Klaffen an nach der wissenschaftlichen und der realistischen Laufbahn „bifurkieren" zu lassen, kam nicht auf, und im

17*

260 Durchschnitt bildet die klassische Erziehung des Kaufmanns,

wie bei uns die Ausnahme, so in England und Frankreich die Regel. Über die Zweckmäßigkeit soll hier nicht gestritten werden, die Thatsache ntt sich spielt aber eine Rolle in der

Gesamterscheinung, welche als um sich greifender, ver­ flachender Materialismus in Deutschland beunruhigt. Zu einem gewissen Grad entspringt eine ausgleichende Wirkung aus der Tendenz, welche die individuellen Geschäfte zu unpersönllchen Gesellschaften umbildet; denn diese ziehen durch

den Bedarf nach höheren Verwaltungskräften eine Anzahl studierter Juristen oder Kameralisten in das Kaufmanns­ fach herüber. Das ideale Bedürfnis des höheren Mittel­ standes wurde bei uns sonst beinahe ausschließlich durch die Musik befriedigt; diese sinnlichste der Künste eignet sich auch am besten dazu, die größten Massen in den Kreis des ästhetischen Lebens zu ziehen, schon ihrer Wohlfeilheit wegen. Es ist eine überall zu verfolgende Erscheinung, daß die Malerei zu ihrer Hegung mehr des Geldes bedarf. In Italien, in Süddeutschland, in Flandern, in Holland, in den letzten Decennien in Frankreich, erblühte die Malerei unter der Gunst der sich anhäufenden Reichtümer. Wo die Geschäfte und namentlich wo die Börsen florieren wächst die Bilderliebhaberei. Man frage die deutschen Maler nach dem Verbrauch und den Preisen, die vor zehn Jahren noch in Wien und Berlin maßgebend waren, ver­ glichen mit den heutigen. Die gelderwerbenden Klassen haben eine besondere Neigung, sich auf das Gemäldesammeln zu werfen. Das Bild ist nicht wie die Musik ein im Moment des Genusses verfliegendes Produkt, es ist kör­ perlich bleibend, faßbar. Das ist schon eines. Das zweite ist, daß in dem Luxus der Gemälde jede noch so große Summe Platz findet. Und ist diese Geschmacksrichtung einmal Mode, so wird zum Überfluß das Geschäft des

261 Sammelns auch als Geschäft nicht schlecht; in glücklicher Hand repräsentiert der steigende Marktwert guter Bilder mehr als den Zinsverlust des toten Kapitals. Endlich

eignet sich das Ding zum Schmuck und zur Schaustellung zugleich; ein bekannter, eingerahmter Name wirkt, ohne an Schönheitseffekt einzubüßen, nebenher auch als eingerahmtes Bankbillet. Ein Engländer machte sich die Sache einfacher, indem er, statt einer Galerie, die einzige im Betrag von 10 000 Pf. St. ausgegebene Note der Bank von England in seinem Salon unter Glas an die Wand hängte. Bei der Wechselwirkung zwischen der Finanzwelt und dem Atelier gereicht es zur Beruhigung, daß letzteres nicht viel Gefahr läuft, sich von ersterer falsche Geschmacksrichtungen einflößen zu lassen. Höchstens wird einmal etwas Extravaganz oder Manier ermutigt; aber im ganzen haben die Maler eine gesunde Verachtung für ihr reiches Publikum und fühlen sich ihm gegenüber zur Geschmacksdiktatur verpflichtet, und der wachsende Luxus, der vielfach den musikalischen Ge­ schmack verdirbt, läutert den der Malerei. Ihr kommt eben zu gute, daß sie nicht vor großen versammelten Massen aus einmal einschlägt und nicht auf händeklatschenden Applaus angewiesen ist. Die Versuchung zur Abirrung ins Triviale, ins Nebensächliche, ins Gemeine, bleibt ihr dadurch ferne, und während Ballet, Cancan, elektrisches Licht und andere zum Teil höhere Blendwerke der Jnscenierung und In­ strumentation sich der Oper bemächtigten, vertiefte und ver­ einfachte sich die Richtung der Malerei, welche das flache Pfeifenkopf-Genre und die kaum weniger flache Behandlung historischer Theatergruppen links liegen ließ. Dagegen sind wir allerdings auch bedroht, indem Punkte der geist- und verstandlosen Kuriositätensammelei in die französischen Fug­ stapfen zu treten. Die schnelle Anhäufung von Reichtümern, welche auch im Luxus stets nach einem dem Zufluß ent-

262 sprechenden Abzugskanal sucht, läuft dieser Mode nach, weil sie ebenfalls Gelegenheit bietet, unbeschränkte Summen auf Gegenstände der Schaustellung zu verwenden, welche (vor­ läufig wenigstens) bleibenden Wert repräsentieren, und weil sie dabei dem Besitzer die Mitgliedschaft in einer Art Frei­

maurerei des guten Tons gewährt, welche sich auf das tüftelige Kunstverständnis an allen Gickchen und Gackchen japanischer, chinesischer und anderer Spielzeuge was zu gute thut. Dagegen siehts noch immer nicht aus, als wollten

sich unsere Reichen auch im Bücherkaufen die Franzosen und Engländer zum Muster nehmen, während namentlich unter dem Einfluß der Wiener Gesellschaft, in welcher das Kavaliertum mit der Finanzwelt am innigsten verschwistert ist, die Sucht nach Adelsdiplomen und anderem derartigen

läppischem Quark ihre Komik mit wachsendem Ernste weiter treibt. Man sollte denken, der Mißbrauch mit diesen an­ geblichen Auszeichnungen biete durch die numerische Ver­ mehrung der Ausgezeichneten das beste Gegengift. Allein dem ist nicht so, wie an dem Beispiel der französischen Ehrenlegion am besten zu erkennen ist. Trotzdem, wie jüngst ein Franzose bemerkte, daß durch die unter der Republik aufs höchste gesteigerte Verschwendung des roten Bandes die eine Hälfte der Nation der andern Hälfte zur Be­ wunderung vorgeführt wird, wachsen die Bittgesuche der strammen Republikaner nach dem auszeichnenden Kreuz in hundertfachem Verhältnis zu den Spendierungen desselben. Nicht dekoriert zu sein setzt in der Gesellschaft beinahe dem Verdacht aus, unter dem Niveau der gemeinen Ehrenhaftig­ keit zu stehen. So muß nach Wiener Vorstellungen ein respektabler Finanzmann ebenso bald den bürgerlichen Schimpf abstreifen,*) wie nach preußischer Hofsitte ein General. *) Ach, sagte vor einigen Jahren der Baron B. zum Baron A. auf der Wiener Börse, mir ist das Pläsier

an

meinem Adel verdorben, seit-

263 Dank dem langen Arm, welchen die Börse über die Presse ausstreckt, finden diese Thorheiten nicht einmal bei unseren Juvenalen die wünschenswerte Behandlung. Ist nun im großen und ganzen bei all dem nicht zu leugnen, daß Vermehrung des Nationalreichtums unerläßlich ist zur Hebung der allgemeinen Geisteshöhe, so versteht man

doch nur zu gut, wie das an sich günstige Wachstum in Form von Nebenprodukten allerlei Beunruhigendes und Wider­

wärtiges ansetzen mag. Es sind auch nicht bloß die upper ten thousand, die oberen Zehntausend, welche solchen Stoff liefern. Die Jagd nach Erwerb geht durch die Umstände heutzutage noch öfter aus einer Notwendigkeit, als aus einer bloßen Sucht hervor, und muß entgeistigend auf Lebens­ kreise wirken, denen zwar nicht der Idealismus der Armut zu wünschen ist, die aber ohne eine Dosis Idealismus des Strebens nicht gedeihen können.

n. Die hier vorausgeschickten Betrachtungen haben mit einem römischen und griechischen Institut für Altertums­ forschung scheinbar wenig zu thun. Und doch wirkten sie als mehr oder weniger bewußte Motive auf die freudige Bereitwilligkeit, welche der Reichstag diesen Anstalten ent­ gegentrug. Es klingt ja etwas komisch, wenn ein Redner zu verstehen giebt: man müsse zehn- oder zwanzigtausend Thaler jährlich aussetzen, um die realistische Richtung des Zeitalters zu bekämpfen. Aber es ist ein ernster Sinn in dem Wort, und gerade die Bescheidenheit der gebotenen Mittel hat auch ihren tieferen Grund. Bei einigem Nach­

dem man den C. auch geadelt hat. Mir, erwiderte der Angeredete, macht der meinige schon keinen Spaß mehr, seitdem Sie Baron geworden sind.

264 denken stellt sich bald heraus, daß es der Volksvertretung zwar willkommen sein muß, dem wissenschaftlichen Geiste

der Nation mit einer Darlegung ihres guten Willens zu huldigen, daß sie aber sehr wohl zaudern darf über der Wahl richtiger Methode zur Protektion der Gelehrsamkeit. Fühlt auf der einen Seite das deutsche Volk, daß es dem reinen und gründlichen Forschergeist seiner Gelehrten zum größten Dank verpflichtet ist für deren tiefeingreifenden Anteil an seiner eigenen inneren und äußeren Entwicklung, daß es ihnen daher im eigensten Interesse jedwede Förderung schuldet, so drängt sich nicht minder von der anderen Seite der Gedanke auf: daß die schöne und reiche Ent­ faltung des deutschen Forscherfleißes vor allem der stillen, frommen, hingebenden Arbeit des einzelnen entsprossen ist; daß gerade die keusche, unverdrossene, nur sich selbst lebende Liebe zur Sache dem deutschen Studium seinen schönsten Charakterzug gesichert hat, und daß es gilt, sich zweimal zu besinnen ehe man mit offizieller Gunst den stillen Arbeiter in den vier Wänden seiner beschaulichen Zelle Heimsucht. Glücklicherweise sind wir noch nicht in Gefahr, dem peren­ nierenden Lorbeer- und Weihrauchsaustausch der Akademien und anderer auf Gegenseitigkeit beruhender Lobesassekuranz­ anstalten zu verfallen; glücklicherweise sind so abgeschmackte Komödien, wie die jüngste Preisausteilung am Schlüsse der Pariser Kunstausstellung bei uns nicht denkbar. Selbst mit Kindern, geschweige denn mit erwachsenen Künstlern, würde man nicht diese ekelhaft affektierte Verzückung auf­ führen, daß bei Überreichung eines Ordens oder einer

Medaille der Minister den Empfänger an seine Brust drückt und abschmatzt und das im Anblick schwelgende Publikum zu der theatralischen Rührscene auch theatralisch Bravo klatscht. Bewahre uns der Himmel vor solcher Affenliebe zu Kunst und Wissenschaft, und hüte sich ein jeglicher, uns

265

in diese Bahnen zu drängen! Verfänglich ist selbst die an sich verteidigbare Redewendung, daß die Nation um ihrer eigenen Ehre willen die Wissenschaft unterstützen müsse. Je

weniger in diesen Dingen die Rede ist von allem was nach dem „Marsch an der Spitze der Zivilisation" klingen könnte, desto besser! Nicht Ruhmestempel zur preiskrönenden Ermunterung, sondern Arbeitsstätten und Arbeitsmittel soll das Gemein­

wesen dem Gelehrtentum widmen, und nur da, wo sichtbar die individuellen Hilfsquellen der Aufgabe nicht gewachsen sind. Am besten kennzeichnet sich der Fall da, wo aus der freien und stillen Arbeit der einzelnen allmählich ein solcher Unterbau entstanden ist, daß die Fortführung Mächtigeres heischt als was Einzelkräfte leisten können. Das genau ist

der Gang der Dinge in der Geschichte unseres archäologischen Instituts zu Rom gewesen. Im Jahr 1829 gründeten einige Gelehrte im Bunde mit Gönnern der Wissenschaft zu Rom diese Gesellschaft.

Der wahre Schöpfer und die Seele des Ganzen war der gelehrte Gerhard; die weltliche Leitung, so zu sagen, kam Bunsen, des langjährigen Preußischen Gesandten in Rom (später in London). Neben ihnen figurierten bei der Stiftung unter andern noch Welcker und Thorwaldsen. Auch Engländer und Franzosen be­ teiligten sich an der Schöpfung, von letzteren in erster Reihe der Herzog von Blacas, einer der höchstgestellten jener Aristokraten, die in Frankreich wie in England so viel mehr für Wissenschaft und Kunst leben als unser beinahe aus­ in die Hände des Herrn v.

schließlich für die Uniform dressierter Adel.*) Auch der Herzog v. Luhnes, einem der ältesten und reichsten Ge*) Dagegen hat Österreich drei hervorragende Dichter aus der Aristo­ kratie in unserer Zeit aufzuweisen.

266 schlechter Frankreichs angehörend, trat später zu.

Es war die harmlose Zeit, da die politische Nichtigkeit Deutschlands seinen Gelehrten die zutrauliche Anerkennung ihrer nachbar­ lichen Gönner und Mitarbeiter in vollem Maß sicherte. Drei Sektionen sollten die hauptsächliche Mitarbeiterschaft der verschiedenen Gelehrtenkreise gruppieren: eine deutsche, eine italienische und eine französische. Das Institut stellte sich bald nach seinem Entstehen unter den Schutz des da­

maligen Kronprinzen, nachmaligen Königs von Preußen, Friedrich Wilhelm IV. Alle unsere hervorragenden Alter­ tumsforscher haben selbstredend innige Beziehungen zu diesem Mittelpunkte der Archäologie gepflegt. Nennen wir außer den bereits erwähnten als eifrige Förderer nur noch: Otfried Müller, Böckh, A. W. v. Schlegel, Lepsius, Mommsen, Meineke, Curtius. Die Hauptthätigkeit für die Festigung und Erweiterung der Anstalt ging von dem dazu am besten situierten und eifrigst gesinnten Herrn v. Bunsen aus, der sie auch unter Dach und Fach brachte. Das tarpejische Haus nämlich, an der Stelle gelegen wo früher, sagt man, der verhängnisvolle Felsen gestanden, dicht am Forum und, wie sprichwörtlich bekannt, am Kapitol, wurde der Sitz der Gesellschaft, welche sich an das hier ursprünglich von Bunsen gegründete evangelisch-deutsche Hospital anbaute (1835 bis 1838). Das Institut war ursprünglich darauf angelegt, nachdem einmal seine Gründungskosten von den Interessenten bestritten worden, sich selbst durch den Vertrieb der von ihm veröffentlichten Werke zu erhalten. Auch leistet bis auf den heutigen Tag der Erlös dieser Arbeiten noch einen wesentlichen Zuschuß zu dem Budget der Anstalt. Nur war dieselbe bereits im Jahr 1843 so ansehnlich und um­ fassend geworden, daß dieser Einnahmeposten allein nicht mehr zur Ausgleichung der Bilanz hinreichte und eine ge­ wisse Schuldenlast ausgelaufen war. Um dieser peinlichen

267 Lage ein Ende zu machen, wurde das gesamte Institut mit

seinem Anwesen der Krone Preußen übertragen, welche auch die Schulden tilgte. Die Substituierung ging um so leichter von statten, als neben dem tarpejischen Haus in dem Palast Caffarelli die preußische Gesandtschaft am päpstlichen Hofe seit Jahren zur Miete wohnte. Dieser Palast selbst ward im Jahr 1854 von Friedrich Wilhelm IV. angekauft. Er liegt auf dem Gipfel des Kapitols, an der merkwürdigsten, sichtbarsten und sehenswertesten Stelle des alten und neuen Rom, gewissermaßen im Nabelpunkt der alten und mittel­ alterlichen Welt. Bis vor wenigen Monaten wohnte da Graf Arnim als Vertreter der preußischen Monarchie beim Oberhaupte der katholischen Christenheit. Seitdem das italienische Königreich mit Victor Emanuel infolge der Schlacht von Sedan seinen Einzug in die ewige Stadt ge­ halten, war der ihm nachfolgende preußische und deutsche Gesandte Graf Brassier v. Saint-Simon, in Ermangelung einer besseren Niederlassung in der überfüllten Stadt, ge­ zwungen, ein notdürftiges Unterkommen in einem Gasthofe zu suchen, bis ihm schließlich in neuester Zeit der Palast Caffarelli eingeräumt werden konnte, welcher für den vorerst beim Papst das Reich vertretendenLieutenant Stumm (nomen omen) nicht in Anspruch genommen wird. So residiert jetzt da, wo sonst der Gesandte des Königs von Preußen bei dem heiligen Vater zu wohnen pflegte, der Gesandte des Deutschen Kaisers beim König von Italien, und zwar auf der Stelle, welche die Macht und Herrlichkeit des alten Rom versinnlicht. Ein interessantes Stück lokalisierten Ge­ schichtsumschwunges! Es darf vielleicht neben dieser großen Signatur der Zeit noch als ein bedeutsames Zusammen­ treffen berührt werden, daß die Erneuerung der revidierten Statuten des Instituts ausgefertigt ist mit der Unterschrift:

„Hauptquartier Versailles, den 2. März 1871, gez. Wilhelm".

268 Nach dem Text genannter Statuten hat das „Institut für archäologische Korrespondenz" (so lautet der offizielle Titel) zum Zweck: „auf dem Gebiete der Archäologie und den ver­ wandten Gebieten der Philologie die Beziehungen zwischen den Heimatländern alter Kunst und Wissenschaft und der gelehrten Forschung zu beleben und zu regeln, und die neu aufgefundenen Denkmäler der griechischen und römischen Epoche in rascher und genügender Weise zu veröffent­ lichen." Das Institut ist bis heut eine königlich preußische Anstalt, zwar der Form nach unter der obersten Leitung der Berliner Akademie (philosophisch-historische Klasse), in der That aber mit seiner Eigenthätigkeit in Rom, wo zwei Sekretäre, unterstützt von zwei Assistenten (Stipen­ diaten) der wesentlichen Führung der Geschäfte obliegen. Diese Geschäfte konzentrieren sich zunächst auf Betreibung und Verfolgung solcher Arbeiten, durch welche die sichtbaren Spuren der Lebensäußerung der Völker von Rom und Griechenland zu Tage gefördert und verwertet werden. Das Institut hat seinen Korrespondenten in jeder kleinen Stadt, man könnte sagen in jedem Dorf Italiens,*) erhält und verbreitet die Kunde von jedem neuen Funde. Die Er­ gebnisse seiner Forschung bringt es zunächst auf zweifachem Weg in die Öffentlichkeit. Monatlich erscheint ein Heft

„Bullettino degli Annali dell’ Institute»", außerdem giebt es jährlich zwölf Tafeln „Monumenti inediti dell’ In­ stitute“ mit einem Textband, „Annali“. Hauptgegenstand der Darstellung und Behandlung sind die Fünde der Ausgrabungen, soweit sie sich auf die Kunst, die Topographie und die Epigraphik beziehen. Diese Publi•) Rede des Professors Dr. Forchhammer im preußischen Ab­

geordnetenhaus am 25. Januar 1868.

Man vergleiche auch den Aussatz

von Gustav Floerke, in Nr. 24 der „Gegenwart" von 1872 und die daselbst erwähnte Jubiläumsschrift von Gerhard.

269 kationen werden buchhändlerisch vertrieben und sind für die ganze Welt eine der höchstgefchätzten Hülfsquellen der Alter­ tumsforschung geworden. Nicht minder wichtig aber ist das Institut als Mittelpunkt des Lebens und als lebendiger Anhaltspunkt der gelehrten Tradition für die zahlreichen Deutschen, welche solcher Studien halber nach Rom kommen. Je mehr die Wissenschaft sich vertieft, desto mehr ist sie genötigt, in die kleinsten Einzelheiten sich einzugraben, Spezialitäten des Studiums zu schaffen, und in demselben Maße steigert sich die Forderung, den Zusammenhang zwischen den einzelnen, das geistige Band, zu sichern. Ebenso können die Früchte der einzelnen Anstrengungen nur erhalten und vervielfacht werden, wenn auch der Zeit nach das Jneinandergreifen und Fortführen verbürgt ist. Daraus erhellt, wie unentbehrlich und segensreich ein lebendiger ununter­ brochen rotierender Mittelpunkt am Hauptsitze dieser Studien sein muß. Das Institut, seine Beamten und seine Bibliothek sind nicht bloß der Herd der Thätigkeit, um welchen sich die Jünger sammeln, sondern es ist jenes recht eigentlich die Herberge für — man erlaube den Ausdruck — die wandernden Gesellen des archäologischen Handwerkes. Das alte baufällige Haus bietet in dem unwirtbaren Schmutznetze, zu dem die Pfaffenherrschaft Rom gemacht hat, unter seinen hohen Dachfirsten den zuwandernden Jüngern, zu den unseren gelehrten Landsleuten zugänglichen bescheidenen Mietpreisen, ein Unterkommen, in dem sie zwar keinen Komfort, aber den Blick auf das Forum, die Kaiserpaläste, das Colosseum vor dem Fenster und weiter hinaus den Gesichtskreis der ganzen Siebenhügelstadt bis zu dem ma­ gischen Hintergründe der Albaner- und Sabinergebirge vor Augen haben. Zur Regelung und Befruchtung des wissen­ schaftlichen Verkehrs werden während der Wintermonate einmal wöchentlich Borträge gehalten, außerdem zwei feier-

270

liche Versammlungen, am sogenannten Winckelmannstage (8. Dezember) und am sogenannten Jahrestage der Gründung Roms (21. April). Endlich werden noch die Aspiranten und Freunde der Altertumswissenschaft von den angesessenen Meistern des Instituts von Zeit zu Zeit, an Ort und Stelle dec öffentlichen Sammlungen, Museen, Galerien und bergt, umhergeführt, und durch unmittelbare Anschauung und Auslegung belehrt. („Periegesis".) Die in Rom leitenden Sekretäre sind im Augenblick Professor Dr. Henzen und Dr. Helbig, und die Berliner Zentraldirektion wird gebildet von Cnrtius, Haupt, Lepsius, Mommsen, Abeken und Hercher. Alle die unschätzbaren Leistungen, welche teils von diesem Institut ausgegangen, teils im engsten Zusammen­ hang mit demselben möglich geworden sind, haben von Seiten der preußischen Krone bis jetzt mit der geringen

Subvention von etwa 6000 Thalern jährlich sich behelfen müssen. Daneben figurierten noch zwei Stipendiaten mit je 600 Thalern. Die beiden Sekretäre beziehen (wenn ich nicht irre) das für die jetzigen römischen Geldverhältnisse lächerlich ungenügende Gehalt von 1200 und 800 Thalern, die Räume für die Bibliothek, eine Sammlung ganz ein­ ziger und unersetzlicher Art, sind, so zu sagen, einsturz­ drohend und ganz unfähig, die vorhandenen Werke zu fassen,

welche in Kisten auf Speichern und in Kellern einer besseren Zukunft harren. Hören wir, wie sich Theodor Mommsen über den Stand der Dinge und die Notwendigkeit der Besserung (in einer privatim an den Schreiber dieser Zeilen

gerichteten Notiz) äußert: „Die wissenschaftliche Förderung der Archäologie ist in erster Reihe bedingt durch Zusammenfassung des ungeheuern Materials nach methodisch gesonderten und kritisch gesichteten Gruppen. Die epigraphische Wissenschaft ist zum Leben er­ wacht von dem Augenblick an, wo die „Corpora“ ins Leben

271 traten. Eine Münzwissenschaft haben wir jetzt nicht, weil wir keine entsprechenden Sammelwerke besitzen. Was in der eigentlichen Archäologie solche Vereinigung leisten kann, hat zuerst Gerhards große Sammlung der etruskischen Spiegel gezeigt. Das Institut hat seit Jahren begriffen, daß es durch Veröffentlichung der wichtigen Novitäten seinen Zweck nur halb erfüllte, daß zusammenfassende Gruppen­ veröffentlichungen eigentlich erst das wahre Fundament seiner Arbeiten zu schaffen haben. Soweit seine Mittel reichten, hat es dergleichen ins Leben gerufen; fast der ge­ samte Reservefonds ist dafür verwendet oder präliminiert. Von den etruskischen kleinen Sarkophagen, den sogenannten Alabaster-Urnen, ist der erste Band, 100 Tafeln umfassend,

auf Kosten des Instituts von Professor Brunn in München hergestellt worden, der zweite Band in der Herstellung be­ griffen. Eine ähnliche noch umfassendere Arbeit über die römischen Sarkophage ist dem Dr. Matz in Göttingen vom Institut übertragen. Arbeiten sind reichlich, Arbeitsstoff

ist überreichlich

vorhanden;

Statuen,

Vasen,

Mosaiken,

Stadtanlagen, Architekturreste aller Art erwarten noch ähn­ liche Fundamentierung;

es

sind ungeheure Arbeiten noch

zu bewältigen, großartige Resultate zu erwarten. Das in­ dividuelle Talent kann der Staat nicht schaffen, kaum fördern. Aber die Arbeitmassen, welche der einzelne Forscher nicht bewältigen kann, die durch sich selbst das individuelle Talent steigern und disciplinieren, kann der Staat herstellen, und er sollte es, wenn nicht aus Ehrgefühl, so doch aus Klug­

heit.

Unsere deutsche Forschung ist in einer gefährlichen

Lage. Der Wettstreit der Nationen droht auf diesem Ge­ biet aufzuhören, und in anderen Richtungen Pulsiert das

Leben der Nation jetzt so kräftig, daß die früher nicht mit Unrecht gescholtene Hypertrophie der deutschen Wissenschaft leicht in Atrophie sich umwandeln könnte, die denn doch

272

wieder auf den ganzen Organismus schwer zurückwirken müßte. Das Institut hat bis fetzt solche Unternehmungen aus den spärlichen und durchaus zufälligen Überschüssen bestreiten müssen, die ihm besonders aus dem Verkauf seiner früheren Veröffentlichungen erwuchsen. Die Arbeit selbst zu bezahlen war das Institut nicht in der Lage; weder

Brunn noch Matz haben für ihre Mühe einen Groschen empfangen. Selbst die Vorarbeiten umfassend anzugreifen, insbesondere die nötigen Reisen anzuordnen, gestattete der schmale Kassenbestand oft nicht. Dies könnte und sollte anders werden. Da solcher Unternehmungen eine große Anzahl erforderlich ist, und dieselben füglich und zweckmäßig unter verschiedene Arbeiter verteilt und gleichzeitig durch­ geführt werden können, so würden 2000 Thaler jährlich für diese besonderen Zwecke eine sehr bescheidene Summe sein. Dies wird gestatten, nach dem Muster des „Corpus

Inscriptionum latinarum“ den einzelnen Redakteuren mäßige Jahresgehalte auszusetzen, und daneben für Reisen, Zeichnen, Stechen die nötigsten Mittel zu gewähren." Unter der Einwirkung solcher und anderer von schiedenen Seiten ausgegangener Anregungen war es, zunächst die mit der Vorberatung des Budgets für Reichskanzleramt beauftragte Gruppe der Abgeordneten

ver­ daß das den

Antrag einbrachte: „Den Herrn Reichskanzler aufzufordern, auf die Um­ wandlung des archäologischen Instituts zu Rom in eine Reichsanstalt mit einer angemessenen Dotierung bei Auf­

stellung des Haushaltsetats für 1874 Bedacht zu nehmen."

Muß nach dem Obigen die „angemessene Dotierung" in erster Linie den von Professor Mommsen als dem kompetentesten Sachverständigen vorgezeichneten Aufgaben

entsprechen, so sind damit, auch nach dessen eigenen An­ gaben, die gerechten Ansprüche noch lange nicht befriedigt.

273 Das enge und baufällige Haus

muß erneuert und mit

Wohnräumen ausgestattet werden, welche den gelehrten Residenten sichere und zweckmäßige Zuflucht bieten — eine Verwendung, die übrigens bei Erhebung einer billigen Miete dem Reiche gestatten wird, auf den entsprechenden Teil seiner Kosten zu kommen. Besonders aber muß ein ge­ nügender Bau für die kostbare Bibliothek aufgerichtet werden,

ansehnliche Schätze aus dem Nachlaß Otto Jahns und Dr. Partheys teils käuflich, teils als Legat erworben hat, ohne sie unterbringen zu können. Das Interesse der einheitlichen Leitung wie des

welche in letzter Zeit noch

Zusammenhangs mit der heimischen Pflege wird gebieten, daß der formale Sitz der Oberleitung nach wie vor in Berlin verbleibe. Aber es wird der Erweiterung des In­ stituts zur Reichsanstalt darin Rechnung zu tragen sein,

daß auch andere als Berliner Gelehrte in diese Oberleitung, miteinberufen werden. Vor allem mnß wohl München zu­ gezogen werden, natürlich unter solchen statutarischen Be­ stimmungen, daß die auswärtigen Direktoren nicht jeder Sitzung beizuwohnen brauchen, aber jeder beizuwohnen be­ rechtigt sind, und durch Reise-Entschädigung in den Stand gesetzt werden, wenigstens einmal im Jahre zu einer Haupt­ sitzung sich nach Berlin zu begeben. Das übrige mag durch Korrespondenz im Gang erhalten werden. Denn wir müssen darauf bedacht sein, über den Vorteilen der Ausdehnung und Konzentration unserer Kräfte nicht auch die Vorteile der über ganz Deutschland verbreiteten geistigen Lebens­ thätigkeit preiszugeben. Das gilt besonders in wissen­ schaftlichen Dingen. Wir haben an uns und andern genug über Zentralisation und Dezentralisativn gelernt und beob­ achtet, um zu wissen, daß in keiner von beiden Methoden einseitig das Heil liegt, sondern daß es aus einer glücklichen Verteilung beider zu erwerben ist. Ludwig Bamberger's Ges. Schriften. I.

iq

274

III. Der Reichstag hat sich nicht begnügt, die Übernahme des römischen Instituts zu begehren. Auf Antrag der er­ wähnten Gruppe und mit derselben Einmütigkeit hat er seinem Beschluß einen zweiten Teil beigefügt, dahin zielend: „die Gründung einer Zweiganstalt dieses (des römischen) Instituts in Athen ins Auge zu fassen und eventuell eine entsprechende Summe dafür in den Haushaltsetat von 1874 aufzunehmen." Schon im preußischen Landtag hatte Prof. Forchhammer 1868 diesen Gegenstand angeregt. Soll überhaupt einmal der Erforschung des klassischen Altertums auf ihrer Weg­ bahnung Beistand geleistet werden, so bedarf es kaum der Motivierung des Ansinnens, welches auf Griechenland hin­ weist. Griechenland und Rom verhalten sich wie Original und Kopie. Wäre das Gerhardsche Institut nicht in den Grenzen persönlicher Initiative, sondern nach planmäßiger Absicht entstanden, so hätte es sich gewiß nicht mit Italien begnügt. Aber gerade den Mitteln der einzelnen entsprach die römische Gründung besser. In der ewigen Stadt hat seit den großen Kriegen der alten Republik bis herab auf das jüngste Papsttum die Eroberung, die Weltherrschaft, der Durst nach Reichtum und der Durst nach Genuß und Glanz in Konsuln, Patriziern, Kaisern, Prokonsuln, Päpsten und Nepoten das Unmögliche aufgeboten, um die Plätze, Paläste, Gärten und Kirchen, kurz die ganze Stadt, zu einem großen Museum der Kunst und Geschichte des Erd­ kreises herzurichten. Diese Zentralisation machte es auch der Privatthätigkeit möglich, hier mit beschränkten Mitteln unausgesetzt am reichsten Stoff zu arbeiten. Anders sieht es in Griechenland aus. Seitdem Rom seine rauhe und gierige Hand über die zerfallenden Staaten von Hellas aus-

275 gestreckt, wanderten die Werke der griechischen Kunst eines nach dem andern ins Abendland hinüber, und während das Papsttum seine Residenz zum Mittelpunkte der christlichen Kultur und namentlich der italienischen Kunst erhob, ver­ sank das alte Vaterland der Musen in barbarische Verwil­ derung. Erst die letzten Jahrzehnte haben versucht, die Schuld der Pietät gegen das europäische Mutterland der Bildung abzutragen, und die Spuren des Genius daselbst wieder aufzusuchen und zu heiligen. Aber eine arme und verwahrloste Bevölkerung und das ihr nach der konstitutio­ nellen Schablone verschriebene Regiment, die kaum das

eigene Staatswesen am Leben zu erhalten die Mittel besitzen, haben natürlich nichts übrig zur genügenden Unterstützung wissenschaftlicher Unternehmungen. Vereinzelte Anstrengungen opulenter Kunstfreunde (namentlich also englischer) oder unerschrockener Gelehrten haben sporadisch Großes geleistet. Um eine regelmäßige und ineinandergreifende Thätigkeit einzusetzen, mußte von außen her eine öffentliche Anstalt importiert werden. Das haben die Franzosen gethan. Ihrem nationalen Ehrgeiz gebührt die Anerkennung, daß er, wenn auch in erster Linie auf Kriegsruhm, doch seit lange in zweiter darauf gestellt war, in Kunst und Wissenschaft Lor­ beeren zu suchen. Mag die angeborne Eitelkeit ihren An­ teil an diesen Liebesmühen im Dienste der Kultur haben, wo Gutes erzielt wird ziemt es nicht, allzu scharf nach den menschlichen Triebfedern zu fragen. Diese höhere Richtung in der französischen Ruhmsucht knüpft wie, trotz allem, so viel Gutes an die erste Revolution an. Die Idee der wissen­ schaftlichen Mission, welche den General Bonaparte nach Ägypten begleitete, entsprang nicht sowohl seinem Geist

(denn er war in seiner Seele ein Barbar) als dem humanitären Geist, welcher den Anfängen der großen Erhebung zu Grunde lag, und auch in deren Entartung nie ganz verloren ging. 18*

276 Jene Expedition und das unter des

vielseitigen Monge Direktion in Kairo eingesetzte ägyptische Institut gaben den Anstoß und das Vorbild zu den später von andern Regie­ rungen veranstalteten oder begünstigten Expeditionen. Auch Frankreich war es, das eine wissenschaftliche Anstalt in Griechenland stiftete, aber — dürfen wir wiederum hinzu­ setzen — angeregt durch den Vorgang des deutschen Instituts

1846 bei Errichtung der französischen Schule von Athen zunächst vor Augen hatte. Sie ist reich dotiert. Ihr Gesamtbudget beträgt 110,000 Fr. Der Direktor bezieht ein Gehalt von 25,000 Fr., vier Stipendien sind für Philologen, eines ist für einen Naturforscher ausgeworfen. Die Stipendiaten erhalten freie Wohnung im Hause, jährlich 4000 Franken und ge­ nießen eine bedeutende Preisermäßigung auf den Dampf­ booten der französischen Gesellschaft, welche den Orient befahren. Die Stipendien werden auf zwei bis drei Jahre gewährt; in dem letzten Jahr müssen die jungen Leute Fragen bearbeiten, deren Themata die französische Akademie giebt. Letztere richtete diese Aufgaben bisher so ein, daß daraus eine Reihe von Monographien über den größeren Teil der griechischen Inseln und des Festlandes hervorging. Die Arbeiten erscheinen in den „Archives des missions scientifiques et litteraires.“ Die jungen Architekten, welche an der französischen Akademie in Rom studieren, sind ver­ pflichtet, wenigstens drei Monate bei der athenischen Schule zuzubringen und den Philologen mit ihren Aufklärungen an die Hand zu gehen. Der Segen der Schule hat sich besonders erwiesen in der Ausbildung der Unternehmungs­ kräfte für größere wissenschaftliche Expeditionen (Makedonien, Bithynien, Galatien, Thracien) und für die Inschriften­ sammlungen der Pariser Akademie. Neben den unbestreit­ baren Leistungen dieser Anstalt wird als mangelhaft bezu Rom,

welches Graf Salvandy

277 zeichnet ihr Sinn für die alte Kunst im engeren Sinn und ihr geringer Zusammenhang mit den Studien und Ergeb­ nissen der einheimischen griechischen Gelehrsamkeit. Über­

haupt wird geklagt über Mangel an systematischer und ge­ duldiger Beobachtung in fortlaufender Pflege, welche für die Archäologie mehr leistet als eine Fülle vereinzelter Hypothesen und Kombinationen. Ein „Bulletin de l’ecole fran^aise d’Athenes,“ das die Berichterstattung übernehmen sollte, fiel daher sehr inhaltlos aus und ging nach kurzer Lebensfrist wieder ein. Und nicht wenig bezeichnend erscheint es endlich, daß oft nicht alle Stipendien zur Verwendung kamen, weil die meisten der jungen Gelehrten ihre Carriere durch eine lange Abwesenheit von Paris zu schädigen glaubten! Es bedarf wohl nicht des Nachweises, daß deutscher Wissens­ drang und Fleiß im Besitze solcher Hilfsmittel die schönsten Leistungen erzielen würde. Hat doch die einzige auf preu­ ßische Kosten unternommene Expedition von Lepsius schon an Ermittlungen und Gegenständen der Sammlung das Schätzbarste eingebracht; ja sogar eine aus bloßen Privat­ mitteln von Bötticher, Curtius und Strack unterstützte Exploration hat den merkwürdigen Fund des alten DionysosTheaters an der Burg von Athen herbeigeführt. Es ist schon oben erwähnt, wie wenig nach der Lage der Dinge in Griechenland der einzelne mit improvisierten Mitteln zu fördern im Stand ist. Aber neben dem Mangel eines or­ ganisierten Zentrums und parater Hilfsmittel für die Arbeiten der Forscher macht sich hier auch die Abwesenheit jeder Tradition schmerzlich geltend. Immer muß der neue An­ kömmling auf eigene Faust, so zu sagen, von vorn anfangen, und das ist um so unersprießlicher auf einem Boden, welcher nicht, wie der von Rom, überall fertige Gruppen tausend­ jähriger Sammlungen bietet, sondern erst das Sammeln über große und nicht leicht zugängliche Strecken verlangt.

278 In anerkennenswerter, aber freilich ganz ungenügender Weise

hat bisher die preußische Regierung diesem Bedürfnis da­ durch entgegenzukommen gesucht, daß sie sich zum Grundsatz

machte, die Stelle eines ständigen „Secretaire interprete“ bei ihrer Gesandtschaft in Athen einem jungen Philologen Eine deutsche Schule in Athen wäre zugleich eine wissenschaftliche Station für die Altertumsforschung im ganzen Orient. Griechenland ist für die alte Kultur, wie bis heute für den maritimen Verkehr, der Übergangspunkt

zu geben.

zwischen Asien und Europa. Griechen bevölkern noch heut einen großen Teil des geschichtlich interessanten Orients und unterhalten ihre Beziehungen zu dem Mutterlande. Von Athen aus Verbindungen und Expeditionen nach der Levante herzustellen wäre ein leichtes, und welcher reichen Ausbeute könnte aus einer von Rom über Athen nach der Levante sich erstreckenden Kette von wissenschaftlichen Observatorien der in unsern Zeiten so tief angeregte Sinn für kritische und philosophische Geschichte des Menschengeschlechts ent­ gegensehen! Trotz aller dieser Lockungen darf nicht verschwiegen werden, daß vielleicht für Errichtung der Schule in Athen etwas weniger rasche Förderung in Aussicht steht als für die Umwandlung des preußischen Instituts zu Rom in eine Reichsanstalt. Es kommen da eigentümliche Bewandtnisse politischer Natur ins Spiel, und der Nachdenkende wird die Analogie erraten, zwischen der Bereitwilligkeit neben dem Jesuiten-Kollegium zu Rom einen Herd deutscher Wissen­

schaft zu unterhalten und dem gewissen Widerstreben, eine solche Kolonie nach Griechenland zu tragen. Auch diese —

einem andern Bereich entstammenden — Betrachtungen haben ihr Recht, und einstweilen gaben uns die Vertreter des

Reichskanzleramtes die Erklärung: daß es auch auf Schule, von Athen einzugehen bereit sei.

die

279 Der politische Krieg und Sieg hat Wunden geschlagen, die er auch zu heilen berufen und befähigt ist. Wie so oft in der Geschichte, ist hier ein Umschwung der Dinge ein­ getreten, welcher auch seinerseits wieder zur Ausgleichung der Verhältnisse zurückführt. Doch wird selbst mit Auf­ bietung seiner ganzen Kraft das neue Deutsche Reich nicht sofort die Wissenschaft ganz schadlos halten können für die Einbuße, welche sie durch die Störung des Verkehrs zwischen der französischen und der deutschen Gelehrtenwelt erleidet. Es wird niemandem auf der Welt ein großer Erfolg ge­ schenkt, und am wenigsten uns Deutschen. Auch ist manch­ mal im ärgsten Bombast ein Körnchen Wahrheit. So in Victor Hugos Paris als Zentralorgan und Tempel der Zivilisation! Auch London mit seinem unendlichen Briti­ schen Museum, auch Rom mit seinem unabsehbaren Vatican sind ja unerschöpfliche Behälter von Schätzen für alle mensch­ lichen Studien. Aber so allseitig, vielleicht sogar im ganzen so reich wie Paris mit seinen vielen Bibliotheken, Hand­ schriften (über 100 000 allein in der Bibliothek der Rue Richelieu) und Kunstsammlungen ist wohl weder London noch Rom. Und wenn auch das nicht wäre, welche Stadt machte es vormals dem Gelehrten so bequem und ver­ führerisch, sich zur Verfolgung seiner Studien da nieder­ zulassen? Wenige von den Zahllosen, die einen Teil ihrer Studien­ jahre in Paris verlebt haben, werden nicht dieser Zeit einen schönen und dankbaren Platz in ihrer Erinnerung einräumen. Das verborgene Bewußtsein einer vornehmeren Völker­ familie anzugehören, das dennoch stets auf den deutschen Fremdling als auf einen fleißigen, gemütlichen, absonderlichen Barbaren herabsah, war dem schärfer blickenden Auge auch zu den gastlichsten Zeiten kein Geheimnis, wie denn gerade das aristokratische Überlegenheitsgefühl zur liebenswürdigen

280 Behandlung des Fremdlings mitbestimmend einwirkte.

„No­

blesse oblige“, war im stillen doch der Gedanke des Volkes, welches sich bis auf diese Stunde für das vornehmste der Erde ansieht, und darum sich ein huldvolles Benehmen

zur aristokratischen Pflicht macht, gerade wie auch sein adeliger Unwille kein Maß mehr kannte als Deutschland, das Pack, sich erfrechte mächtiger zu sein, und Europa, das undankbare, nicht dazwischentrat. So lange der Masse in Frankreich diese adelige Borniertheit nicht ausgetrieben und den Besserwissenden nicht das Courmachen vor der Bor­ niertheit abgewöhnt ist, kann unser einer leider nicht all das Gute von Frankreich sagen, was trotz allem zu sagen

bleibt. Aber das wird uns niemals verleiten, thatsächliche Verdienste zu verschweigen. Paris als anziehender Herd und Stapelort, als Ausläufer und Vermittler tausendfacher Beziehungen des Wissens und der Kunst, als Emporium für den Austausch der Entdeckungen, ist vorerst von Deutsch­ land abgeschniten, und der deutsche Sieger, welcher dies bewirkte, hat schon deshalb die doppelte Verpflichtung hier nach Möglichkeit Ersatz zu schaffen. Was die Schule von Athen betrifft, so stellt sich der Ausfall hier einfach in der Form dar, daß die französische Anstalt bis zum Kriege ge­

legentlich z. B. für den Besuch ihrer Bibliothek auch Deut­ schen offen stand — ein Verhältnis, das nunmehr unmög­ lich geworden ist.*) Hören wir wie Mommsen sich über diesen Umschlag ausdrückt, und konstatieren wir nebenbei, *)

Der Direktor der französischen Malerschule in Rom, Hr. Hebert,

ließ einem ihm seit langen Jahren befreundeten, still und harmlos seiner

Kunst lebenden deutschen Maler, der zuweilen in den Sälen dieser Akade­ mien logierte, nach der Schlacht bei Sedan durch seinen Bedienten sogen: „Es sei doch richtig, daß er ein Schweizer oder Österreicher sei?" — Natür­ lich, antwortete der Deutsche auf demselben Wege: quod non, er sei ein

Prussien! — Den Wink verstehend — blieb er weg.

281 welche Unparteilichkeit der von den Franzosen nach dem Krieg oft angegriffene Gelehrte in seinem Urteil sich zu be­ wahren weiß. In der bereits erwähnten Notiz sagt er: „Der deutsch-französische Krieg hat der Wissenschaft, insofern diese wesentlich international ist, einen schweren

Schaden zugefügt, den die auf diese Jnternationalität an­ gewiesenen Forschungszweige, insbesondere also Archäologie, Epigraphik und Numismatik und von den wissenschaftlichen Anstalten zunächst das archäologische Institut in Rom,

schwer empfinden. „Nie sind die Beziehungen zwischen den deutschen und den französischen Philologen und Archäologen lebhafter und

fruchtbarer gewesen als unter dem Regiment Napoleons Hl. Die Imperialisten wie die Independenten — beide Rich­ tungen traten auch in der Wissenschaft scharf hervor, und in beiden waren achtbare, zum Teil eminente Kräfte thätig — stützten sich gleichmäßig auf Deutschland. Unsere großen wissenschaftlichen Unternehmungen fanden in Paris lebhafte und neidlose Förderung; gleichartige Arbeiten nach deutschem Muster wurden dort begonnen, vor allem Epigraphik und romanische Philologie wurden beinahe gemeinschaftlich be­ trieben; bei keiner philologischen und archäologischen Arbeit fehlten die Schätze der Pariser Sammlungen; jeder deutsche Gelehrte war schon als solcher in Paris empfohlen. Das Institut für archäologische Korrespondenz in Rom, mit seiner ebenso eminent deutschen wie exterritorialen Stellung, war gleichsam der Mittelpunkt, in dem die beiden führenden Nationen sich auf neutralem Boden zusammenfanden. Das­ selbe hatte früher eine Pariser Sektion gehabt und längere Zeit seine Existenz zum Teil der Munificenz französischer Kunstfreunde, der Herzoge v. Blacas und Luhnes, verdankt; aber fast reger als diese frühere formelle Verbindung war die der letzten Jahre, an der sich namentlich alle jüngeren

282 französischen Reisenden beteiligten. Es hat der Plan be­ standen, dem Institut neben der preußischen eine französische Subvention zuzuwenden und dasselbe dadurch unter fran­ zösische Mitherrschaft zu bringen — ein Plan, dem selbst­ verständlich die Vertreter des Instituts entgegenwirkten und der darum unausgesprochen blieb, aber der nichtsdestoweniger für die Sachlage bezeichnend ist. „Jetzt liegen die Dinge anders. „Einige der besten und am höchsten stehenden Pariser Gelehrten führen die Beziehungen mit Deutschland und insbesondere mit dem Institut fort; dasselbe gilt von den meisten Gelehrten der französischen Provinz, die aber wenig in Betracht kommen. Dagegen hat die überwiegende Mehr­ zahl der Pariser, namentlich aller jüngeren Gelehrten, sich faktisch vom archäologischen Institut zurückgezogen. Wer die Verbindungen unterhält, thut es im Gegensatz zu der öffentlichen Meinung des Landes und ohne Freudigkeit; es fordert dies sittlichen Mut und Geistesfreiheit, und beide sind in Frankreich sparsam verteilt. Die gelehrten Reisen nach Frankreich sind plötzlich unterbrochen; die Förderung, deren besonders zuerst der Fremdling bedarf und die er sonst so reichlich fand, hat sich in das Gegenteil umge­ wandelt. Bei jeder numismatischen, epigraphischen, archäo­ logischen, ja philologischen Arbeit mangelt dasjenige Material, das die Pariser Museen und Bibliotheken enthalten; selbst einzelne Notizen von dorther zu beschaffen kostet Mühe, und ist oft vergeblich. „Manches von diesem Umschlag der Dinge ist unab­ änderlich und muß ertragen werden. Aber sehr viel wäre gewonnen, wenn das künftige deutsche Institut zu Rom in den Stand gesetzt würde, einen festen Agenten in Paris anzustellen und die früher vorhandene sogenannte französische Sektion in geänderter Form wieder ins Leben zu rufen.

283 Wer dort länger verweilt und in fester Stellung ist, würde manches erreichen, was dem einzelnen Gelehrten unmöglich

ist. Wenn man diesen Agenten nicht in der Weise wie die römischen Sekretäre fest anstellt, sondern ihn öfter, viel­ leicht jedes zweite Jahr, wechselt, so kann für die größeren wissenschaftlichen Unternehmungen successive genügend ge­ sorgt werden; stehende Berichte an das Institut über die archäologischen Neuigkeiten, die nächst Rom kein Ort so zahlreich bietet wie Paris, wären damit durchaus vereinbar. Die Besoldung würde mit 1200 bis 1500 Thalern zu nor­ mieren sein; die Besetzung könnte erfolgen wie die der römischen Sekretäre, nur daß sie nicht auf Lebenszeit, sondern auf ein Jahr oder mehrere stattzufinden hätte."

IV. Wir haben den nationalen Ehrenpunkt nicht als voll­ wichtiges Moment zur Förderung idealer Bestrebungen gelten lassen. Aber was vom eigenen Standpunkt der Wissenschaft und Kunst aus nur einer sekundären Berechti­ gung sich erfreuen mag, das kann unter dem Gesichtspunkt des direkten politischen Interesses der Nation sehr wohl eine selbständige Würdigung beanspruchen. Gesellt sich ein solches praktisches Interesse zur Verfolgung von schon an sich erhabenen Zwecken, dann um so besser! Und so ver­ hält es sich hier. Unser Mühen um die Geschichte, Sprache, Kunst einer anderen Nationalität ist geeignet, uns politisch auf freundschaftlichen Fuß mit ihr zu setzen. Zwar hat sich

dies an Frankreich nicht bewährt, dessen Studien über die eigene Sprachentwicklung eingestandenermaßen am meisten

von deutschen Gelehrten in wissenschaftliche Bahnen geleitet worden sind. Aber man darf die Franzosen, wenn schon überhaupt nicht, besonders nicht da zum Maßstab nehmen,

284 wo es sich um historisch volkstümlichen Sinn handelt,

der

ihnen, wie keiner anderen Nation, abgeht. Ganz umge­ kehrt verhält es sich z. B. in Italien. Von Griechenland weiß ich es nicht aus eigener Anschauung, doch versichern

kompetente Beobachter das gleiche, was meine und anderer Erfahrung mir an den Italienern bekundet hat. Da lebt das ganze Volk, soweit es nur überhaupt etwas von Denk­ leben hat, im Gefühl eines ununterbrochenen Zusammen­ hanges mit der klassischen Vorzeit. Die Naivetät, mit der sich jeder für einen direkten Abkömmling der alten Umbrier, Römer oder Großgriechenländer weiß, hat etwas Komisch-er­ freuliches. Von Scipio oder von Titus sprechen sie wie von ihrem leiblichen Urgroßvater, und kommt man gar nach Sicilien, so reden sie einem von Archimedes, Dionys oder gar von Odysseus wie von einem vertrauten alten Vetter. Die Kette der Ereignisse ist ihnen gar nicht unter­ brochen; ich ergötze mich noch heut an der Erinnerung der Situation, da Signor Salvatore Politi, mir die Reste eines Dianentempels in Syrakus zeigend, ganz trocken hinwarf: „Damals war Diana die Patronin der Stadt, wie es seit­ dem Santa Lucia geworden ist." Ich mußte unwillkürlich an die französischen Ladenschilder denken, auf denen zu lesen steht: Maison Diana, Madame Sainte Lucie successeur. Bei solch offenem Sinn für die Historie und Legende, in Ländern, wo der dritte Mann mit Antiqui­ täten zu thun hat, gewinnt offenbar die fremde Nation an Bedeutung und Zuneigung, welche sich an Ort und Stelle in Form Rechtens niederläßt und ausbreitet, um den ge­ schichtlichen Boden zu durchforschen. Prof. Forchhammer schildert dieses Verhältnis sehr lebhaft in seiner bereits er­ wähnten Rede, und fügt hinzu: man würde es für Über­ treibung halten, wollte er seiner Erfahrung gemäß schildern, wie die überall in Italien kündbar gewordene Thätigkeit

285 des römischen Instituts dazu beigetragen habe, den preußi­ schen Namen da beliebt zu machen, „denn", sagt er, „die Leute fühlten sich denen attachiert, die mit ihnen dasselbe Interesse an den Monumenten ihrer Vorfahren hatten, von denen sie sich aber sagen mußten: kennen — wissen — thun sie es besser als wir." Ähnliches berichtet Dr. Hirsch­ feld aus Griechenland. „Nach dem Urteil der Griechen selbst (sagt derselbe an einer Stelle seiner erwähnten hand­ schriftlichen Notiz) haben Deutsche das Beste über das griechische Altertum geschrieben, und sie sind es, welche nach der Ansicht der Griechen selber — und bei ihnen will ein solches Geständnis viel sagen — ihre Sprache am besten verstehen." Und an einer andern Stelle: „Der größte Teil der griechischen Gelehrten ist in Deutschland gebildet und hängt ihm mit einer wahrhaft rührenden Liebe an: diese würden ein deutsches Institut mit der höch­ sten Freude begrüßen und auf alle Weise zu fördern suchen." Die Sympathie der Völker ist kein leerer Wahn, und nichts wäre falscher, als etwa mit dem Berliner Ausruf: „wat ick mir davor koofe," darüber wegzusehen, obgleich etwas von dieser Formel der früheren preußischen inter­ nationalen Lebensart zu Grunde gelegen hat. Aber mit der politischen Größe hat sich, wenn nicht die Zeichen trügen, doch auch darin der Geschmack veredelt, und der Meister selbst hat offenbar ein sehr feines Gefühl für die internationale ars amandi. Sage man beispielsweise nicht: den Franzosen habe ihre Popularität im letzten Kriege nichts genützt! Sie hat ihnen sehr wesentliche Dienste geleistet, und wenn wir solche Schläge bekommen, hätte kein Hahn nach uns gekräht, kein Blatt wäre ge­ schrieben worden, um etwa die Neutralisierung des linken Rhein-Ufers, statt seine Einverleibung in Frankreich zu be­

gehren; niemals

wäre zu unsern Gunsten die schönselige

286 Eselei von der Pflicht, nach einem Sedan ohne weiteres

heimzukehren, in Schwung gekommen von einem Ende der Welt zum andern. Schon deshalb nicht, weil wir selbst niemals die Anmaßung gehabt hätten, dergleichen Unver­ stand zu prätendieren. Ich habe einmal in diesen Blättern selbst die Frage aufgeworfen und unbeantwortet gelassen: woher es komme, daß die Franzosen sich so sehr der Gunst der andern Nationen erfreuten? Und doch ist die Lösung so naheliegend, daß es mir wunderlich erscheint, lange dar­ über nachgesonnen zu haben! Das Phänomen erklärt sich

ganz einfach daraus, daß die Franzosen im vorigen und in diesem Jahrhundert dem größten Teil der höheren Gesell­ schaftsklassen ihre Bildung gegeben haben, daß in einem großen Teil der gesitteten Menschheit noch heute Politiker, Juristen, Zeitungsleser, Herren und Damen der vornehmen Welt, große und kleine Humanisten nach französischen Vor­ schriften denken. Die Köpfe selbst sind durch den Einfluß der französischen Litteratur, Kunst, Politik, Sprache, Mode

so bearbeitet worden, daß man kühnlich behaupten kann: die Funktionen des Gehirns sind ihnen nach französischem Gedankengang fayonniert. Besonders gilt dies natürlich von den romanischen Völkern (obgleich auch Südwest-Deutsch­ land manches der Art aufzuweisen hat). In Italien wird einem dies so recht klar, besonders in der nördlicheren Hälfte der Halbinsel, welche seit drei Jahrhunderten mit am stärksten unter dem französischen Einfluß stand. Frankreich mag sie noch so sehr vor den Kopf stoßen, der Kopf läuft mit seinem Denken doch immer wieder ins französische Geleise. Im vorigen Winter, während eines Aufenthalts in Florenz, hatte ich einmal auf der Bibliothek der Uffizii etwas nachzuschlagen. Als ich aus dem Arbeitsraum zu­ rückkam, um einem der Gehilfen die gebrauchten Bücher wieder zuzustellen, wollte er mir mit der schönen toskani-

287 scheu Zuvorkommenheit doch ein bißchen die Honneurs machen und fragte: ob ich nicht etwa in den Novitäten kramen möchte, welche zum freien Gebrauch des Publikums auf zwei großen Tischen am Eingang ausgebreitet liegen. Natürlich nahm ich mit Dank an, schon um zu sehen, welche Tageskost die gelehrte Anstalt ihrem gewöhnlichen Publikum bereit stelle. Wie ich an den Tisch trat, traute ich meinen Augen kaum: ich glaubte vor dem Schaufenster von Truchy auf dem Boulevard des Italiens oder von Dentu in der Rue de la Paix zu stehen. Nichts als französische Gelegen­ heitslitteratur: Iriarte, Sarcey, Paul de St. Victor und viele Dutzend andere geringere derselben Gattung. Darf es einen danach wundern, wenn die Menschen französisch denken? Wir Deutschen könnten es, wollten wir auch, nie­ mals so weit bringen in der Propagierung unseres Wesens. Das einzige Phänomen dieser Art, das wir erlebten, war ein gewisses Aufschnappen der Hegelschen und Nach-Hegelschen Philosophie in den Kreisen der russischen Bildungs­ feinschmecker. Aber diese Erscheinung war ihrer Natur nach nur ephemer, und ernster dürfte noch daneben in Anschlag kommen die kleine Gemeinde derselben Philosophie, welche sich in Neapel um den Prof. Vera gruppierte. Die guten wie die schlechten Eigenschaften unseres Denklebens ver­ hindern llns, andern so lieblich mundgerecht und gemein­ verständlich zu werden, wie es der anziehenden, französi­ schen Darstellung gelingt und ihr den Weg nach allen Seiten hin gebahnt hat. Anderes als das Allerbeste oder streng Wissenschaftliche dringt selten von uns ins Ausland. Was wird in Italien, England oder Spanien von deutschen Zeitungen, Romanen, Komödien gelesen, während auch die schlechteste französische Litteratur daselbst mehr oder weniger durchschlägt! Wir verstehen auch in Deutschland noch nicht einmal ein Buch so zu heften, daß es nicht beim

288 ersten Lesen auseinander fiele, während die französische

Ware in der für leichte Lektüre so viel angemesseneren „broschierten" Form einem langen Gebrauch widersteht. Schließlich kommt die viel geringere Verbreitung unserer Sprache dazu. Genug, in der umfassenden Weise wie die

Franzosen werden wir entfernt niemals uns der Geister bemächtigen, gewiß nicht unter den romanischen Völkern. Auch werden wir sie niemals kleiden, frisieren, regulieren, amüsieren. Es bleiben uns nur die ernsteren Seiten des Lebens und bevorzugte Kreise. Aber diesen etwas von unserem Denken und Fühlen beizubringen zur Herstellung geistiger und damit auch kardialer Verbindung, das wäre in der That kein Luxus. Wären die Vorteile, die aus solchen Sympathien erwachsen, auch minder handgreiflicher Art, als sie es in Wirklichkeit sind, so würden derartig veredelte Beziehungen zu andern Völkern schon vom ästhetischen und rein menschlichen Standpunkt aus eine Erhöhung des natio­ nalen Lebensgenusses bedeuten und das Glück unseres Landes bereichern. Die Leute, welche das Oderint dum metuant auf ihren Hut stecken möchten, sind wohl auch in der preußischen Armee auf den Aussterbe-Etat gestellt, und dieser Sorte war übrigens das Verhaßtsein ein Genuß, selbst zu Zeiten, als niemand sie fürchtete. Mit den höheren Studien, auf welche in der Ausbildung unserer Offiziere ein so eminentes Gewicht gelegt wird, und welche aus unserem Generalstab in der That eine gelehrte Körperschaft ersten Grades geschaffen haben, wächst von selbst das hu­ mane Bedürfnis, zur übrigen Welt in wechselseitigen Be­ ziehungen des Denkens, Lebens und Wohlwollens zu stehen. Von der andern Seite wirken nicht minder die kriegerischen Erfolge drastisch für die Verbreitung unserer Sprache und Litteratur im Ausland. Es ist erstaunlich, wie seit 1866,

289

und noch viel mehr seit 1870, das Studium der deutschen Sprache in fremden Ländern an Jüngern gewonnen hat. Wenn es wahr ist, wie man sagt, daß der preußische Schul­ meister die Schlacht von Königgrätz gewonnen hat, so haben umgekehrt die Schlachten von Königgrätz und Sedan auch unzählige Schulmeister gewonnen. Es sei nun mit dem Krieg wie es wolle: nichts imponiert der Menschheit mehr als thatsächliche Überlegenheit, und Moltke hat mehr

Italienern und Franzosen die Lust nach dem Deutschlernen erweckt als Schiller. Kehren wir aber noch einmal zum eigensten Interesse der Wissenschaft selbst zurück, in welche die hier zur Sprache kommende Sache noch von einer anderen Seite mit Be­ deutung eingreift. Mit der Anschauung an Ort und Stelle nämlich hängt der Fortschritt von der trockenen Buchgelehr­ samkeit zur lebendigen Anschauung, zur menschlichen Auf­ fassung der Geschichte und Litteratur der Alten aufs innigste zusammen. Man weiß, wie die Philologie ehedem, nament­ lich unter dem Einfluß der scholastischen Methode, ver­ knöchert und vertrocknet war; wie in Deutschland noch be­ sonders durch die Dürftigkeit und Kleinseligkeit der ganzen Existenz, daneben im katholischen Deutschland durch die geisttötende, das Gedächtnis mechanisierende Prozedur der Jesuiten, im protestantischen durch das dürre Magister­ wesen die Philologie noch mehr als jede andere Wissen­ schaft zum Urbild der im Bücherstaub erstickten Forschung geworden war. Wir wollen nicht leugnen, daß dieses stupende Grübeln und Haarspalten, dieses grammatische Buchstabenklauben und ameisenartige Anhäufen von Parallel­ stellen in seiner Weise die höhere Entwicklungsperiode der Linguistik so vorbereitet und möglich gemacht hat, wie etwa der Zopf-, Lederzeug- und Gamaschen-Kultus früherer und späterer Preußenkönige den Grund zu dem fein organiLudwig Bamberger'S Ges. Schriften.

I.

jg

290

fierten und vollkrüftigen Instrument gelegt hat, in welchem Moltkes durchgeistigtes Feldherrngenie den adäquaten Voll­ zieher seiner Konzeptionen finden konnte. Die Sprachkunde von heute verhält sich zu der von vor hundert Jahren etwa wie die Eisenbahn- und Telegraphen-Bataillone unserer jetzigen Armee zu den steifen Riesengrenadieren Friedrich Wilhelms I.*) Aus einem toten Wortkram, einer gelehrten Wachtparaden - Spielerei ist die Philologie die höchste und fruchtbarste Wissenschaft der Natur und des Lebens ge­ worden, eine würdige Schwester der Physiologie, welche in den tiefsten Prozeß der Entwicklung des Menschengeschlechts eindringt und ihm das geheimnisvolle Werden seines eigenen Denkens an dessen unmittelbarer Gestaltung in Laut, Wort und Satz zur Vorstellung bringt. In keinem Zweige mo­ dernen Wissens aber sind die Deutschen so unbestrittener­ weise die Meister der Welt gewesen und bis auf diesen Tag geblieben, wie eben in dieser Linguistik; das vermag nicht einmal die wahrlich nicht zimperliche Verkleinerungs­ sucht der Franzosen zu bestreiten. Jene geniale Kombi­ nierung von historischen, philologischen und philosophischen Vertiefungen, welche das wunderbare Gebilde der heutigen Sprachkunde geschaffen hat, ist die Frucht des deutschen Ingeniums in Verbindung mit deutschem Fleiße, und wenn die andern Nationen in den Champollion, De Saey, Fauriel, *) Auch der allgemeine Wehrdienst sorgte in seiner Weise für die Durchdringung von Leben und Gelehrsamkeit.

Die jungen Philologen,

welche 1870 das Gewehr trugen, waren keine Stubenhocker, und der Reiters­ mann, welcher den Bericht über Sedan auf Sanskritisch schrieb, war nicht der einzige seiner Fakultät. Zwei tüchtige Forscher, die ich oft auf der Bibliothek in Paris über Manuskripten brütend gefunden, Brackelmann

und Pabst, sind vor Metz gefallen.

Einen Sanskritaner, der jetzt in

Straßburg Professor ist, traf ich in Meudon auf Wache als freiwilligen Jäger mit der Büchse auf der Schulter und der unvermeidlichen Brille auf der Nase.

291 Sittre, Pritchard, Layard und mehreren anderen namhafte Mitarbeiter gestellt haben, so sind doch alle vereint nicht

imstande, der unabsehbaren Reihe bahnbrechender Geister nahe zu kommen, in welche wir nur Hineinzugreifen brauchen, um mit vollen Händen deutsche Namen erster Größe her­ auszuziehen, wie die Fr. A. Wolf, Otfried Müller, Nie­ buhr, Thiersch, Böckh, Bopp, Grimm, Lachmann, Welcker, Humboldt, Diez, Pfeiffer, Mommsen, Lepsius, Max Müller

u. a. Diese herrliche Sprachwissenschaft, welche ein Eckstein der Psychologie und die Blüte der Philosophie, welche das Fundament der gesamten Altertumskunde und Ethnographie geworden ist, der wahre Mikrokosmus der menschlichen Naturgeschichte, weil sie am Jntersektionspunkt aller Physi­ schen und intellektuellen Entwicklungsstufen und Thätig­ keiten liegt, dieser wunderbare, noch im rüstigsten Aufstreben begriffene Bau, dessen Meisterschaft aller Orten der deutschen Gelehrsamkeit zuerkannt wird, charakterisiert sich aber vor allem dadurch, daß die Jünger sich nicht von totem Wissen, sondern vom lebendigen Schauen ernähren. Freilich wird der gewaltige Fleiß der Studierstube stets die Grundlage alles Wissens bleiben müssen und der Schweiß der ein­

samen Arbeit. Aber produktiv wird dieses Wissen erst, wenn es selbst den Puls des Lebens in großen Weiten auf­ spüren und verstehen lernt. Man denke an die oben­ genannten Männer und was ihnen alles aus der Beob­ achtung versiegter oder noch sprudelnder Quellen des Volks­ lebens aufgegangen, wie ihr Wissen mehr als geistig, man kann mit bestem Fuge sagen poetisch, durchweht ist, so zwar, daß mit gutem Recht ein Dichter, wie Uhland, als philologischer Kollege Grimms genannt werden darf, und umgekehrt Grimm als poetischer Kollege Uhlands. Und dies ist es, was der Förderung unserer auswärtigen archäo­ logischen Institute im höchsten Grade die Gunst der Nation 19*

— zu gewinnen verdient.

292



Der lebensvolle Geist, der über die

Gelehrten und die Gelehrsamkeit kommt, wenn sie an Ort

und Stelle das erloschene, aber noch in tausend Zeugnissen

sprechende Dasein der alten Völker rekonstruieren, anlehnend

an das, was sie von der frischen Gegenwart der nachge­

kommenen Geschlechter umgiebt — dieser Geist ist es, von dem nicht nur ihre spezielle Wissenschaft, sondern die ge­

samte

wissenschaftliche Richtung

Segen zu erwarten hat.

der Nation den größten

VerSrrßl Sie Politik Sen EHarakter?*) i. Die berühmte Frage, was das Glück sei, harrt noch

immer ihrer Beantwortung — trotz aller Fortschritte der Elektrizität und Mikroskopie. Und das ist ein wahres Glück! Schon das leidige Bedürfnis nach Glück mache das Leben unerträglich, meint ein stiller Denker unserer Zeit. Wie erst, wenn das Rätsel gelöst würde? Wenn männiglich sich nach dem erkannten einen Ziele hindrängte? Denn daß die Menge der Bewerber immerfort anschwillt, darin liegt das Zeichen der Zeit. Das Bedürfnis nach Glück breitet sich aus in Form erwachender Erkenntnis und treibt weiter vorwärts, zieht immer größere Zahlen zu immer größerem Bedürfnis heran. Befriedigt aber wird der Mensch niemals. Was man Fortschritt und Kultur nennt, ist nichts anderes als der ewig neue Durst, der auf den eben gelöschten folgt. Ein anderes Glück giebt es nicht, da es keinen Stillstand giebt. Daher der Ausspruch: das Glück sei eigentlich das Unglück. *) Dieser Artikel,

sowie der darauf folgende von Karl Hillebrand

erschien in einer der ersten Nummern der „Freien Stunden", eines litte

rarischen

Beiblattes

zur

„Tribüne",

im

März

und

April

1882.

Er

war veranlaßt durch die Gründung eines sogenannten parteilosen Blattes, welches unter dem Wahlspruch, daß die Politik den Charakter verderbe, an­

gekündigt wurde.

294 Allem Streit in der Politik liegt dieser Zwiespalt zu

Grunde. Die Einen suchen zurückzuhalten, weil sie meinen, je mehr Elektrizität und Mikroskopie, desto mehr Bedürfnis nach Glück, d. h. desto mehr Unglück für die Welt. Die andern schieben vorwärts, weil sie denken: ein anderes Glück giebt es überhaupt nicht. Bedeutet das Gewinnen in die Breite wirklich einen

Verlust nach innen? Sind die wenigen Bevorzugten glück­ licher gewesen, als das Bedürfnis nach Glück noch die vielen nicht aus dem Schlaf geweckt hatte? Und waren zugleich die vielen damals weniger unglücklich? Zwei Weltanschauungen beherrschen die Geister. Man könnte sie die qualitative und die quantitative nennen. Jener kommt es gar nicht darauf an, welche Zahlen an einem Zustand der Vollkommenheit Teil nehmen, sondern nur, wie vollkommen der Zustand selbst ist. Man kann diese Auffassungsweise auch nach der negativen Weise wenden und z. B. von einer großen Katastrophe behaupten, ihre Furchtbarkeit bestehe nur in der Phantasie der Zuschauer; im Grunde sei es einerlei, ob tausend Menschen zugleich umkommen oder nur einer, weil doch jeder nur seinen Tod stirbt. Die qualitative Weltanschauung ist die aristokratische. Die Bevorzugten und die Feinschmecker des Lebens huldigen ihr vom positiven, die schlachtberauschten Völkerbezwinger vom negativen Standpunkt aus. Napoleon sprach von einer Million Menschen, die er für einen neuen Feldzug brauche, wie von einer Kleinigkeit. Umgekehrt vertritt die Demokratie das Recht der Quantität. Es kann kein Einsichtiger bezweifeln, welcher Gedanke heute die Menschen und ihre Entwicklung beherrscht: alle Probleme werden gefaßt und gelöst im Sinne der Demo­ kratisierung des Daseins.

295 Ob die höchste Wissenschaft daran Ärgernis nimmt, daß sie vom populären Vortrag in die Verflachung gezogen werde; — ob die über die Straßen der Hauptstadt rollende

Karosse des Reichen sich an der Schiene der Pferdebahn stößt — es geht hier und dort ein- und dasselbe vor. Die Heerstraße des Lebens wird immer breiter, ge­ waltiger, geräuschvoller, verschlingt alles und zieht alles an.

*

*

*

Macht die Politik, d. h. die Beschäftigung mit ihr un­ glücklich? Denn darauf wird die Warnung vor ihr hinaus­ laufen müssen, wenn dieselbe auf abschreckenden Erfolg rechnen will. Die Gefahr, an innerer Vortrefflichkeit ein­ zubüßen, würde wenig Eindruck auf die Menschen machen, wenn sie nicht dächten, es sei darunter die Gefahr der Ein­ buße an Wohlbehagen verstanden. Soll etwa hier mit der Warnung vor der Politik ein sanfter Versuch gemacht werden, die demokratische Bewegung der Zeit auf Nebenwegen in aristokratische Bahnen zu

lenken? Dabei kann es weder auf die oberen noch auf die unteren, sondern einzig und allein auf die mittleren Schichten abgesehen sein. Denn da nicht die Politik überhaupt aus dem Leben verbannt werden soll, so kann auch nicht der Gedanke bestehen, sie allen zu verleiden. Zunächst nicht denen, die auf der Höhe des Lebens wandeln. Fürsten, Minister, Würdenträger des Staats sind von der Politik nicht loszulösen, Männer der Wissenschaft nicht, wo immer diese in die Politik hineinragt, also Rechtsgelehrsamkeit und Philosophie mit ihrer Ausmündung in die Volkswirtschaft und — das Wort sagt es schon — Sozialpolitik. Der Kreis erweitert sich bei weiterer Betrachtung immer mehr. Man denke z. B. nur an Finanz und Großhandel in ihrem Zusammenhang mit den Staatsgeschäften.

296 So wenig wie an die oberen Schichten der Gesellschaft, so wenig wendet sich die Warnung an die unteren, nur aus dem entgegengesetzten Grunde. Jene kann man nicht fernzuhalten denken, diese braucht man nicht fernzuhalten in dem Sinne, wie es hier gemeint ist. Ihr Leben gehört viel zu sehr der Plage ums tägliche Brot, als daß sie stark der Versuchung ausgesetzt wären, sich Kopf und Busen mit Sorgen anzufüllen, die keine Lebenssorgen sind. Und wenn einmal die Versuchung Macht gewinnt über den Sinn der großen Massen, sei es, weil sie von außen aus ihrer Gleichgültigkeit aufgestört werden, sei es, weil sie ein Fieber von innen schüttelt, ach! da lassen sie gewiß sich nicht irre machen durch die wohlmeinende, schönselige Mahnung, daß sie Schaden leiden könnten an ihrem un­

sterblichen Teil, an dem harmonischen Gleichgewicht des Gemüts. Das ist ein Luxus, um den sie nicht bange sind. Die Warnung vor der Politik wendet sich recht eigentlich und ausschließlich an diejenigen, welche man schlechthin als den gebildeten Mittelstand bezeichnet, an den breiten Durchschnitt, der über einen mäßigen Vor­ rat geistiger und häuslicher Mittel zur Bestreitung des Daseins verfügt. Latet anguis in herba. Einst zur Schöpfungszeit war die Mission der Schlange gewesen, die Menschheit aus der Unschuld des Paradieses herauszulocken. Jetzt scheint ihr der Auftrag geworden zu sein, sie wieder in die Unschuld hineinzulügen, die doch — einmal ver­ loren, und wie verloren heute! — nie mehr wieder zu er­ obern ist. Nun soll ein neues Paradies der Unwissenheit und Harmlosigkeit umfriedigt werden für die, welche gerade Anteil genug am menschlichen Dasein haben, um sich dessen mit einigem Behagen zu freuen. Es ist kein Zufall, daß solch ein frommer Ratschlag gerade jetzt kommt, in einer Zeit nämlich, wo die Politik

297 Miene macht, das ganze menschliche Dasein an sich zu reißen. Schon vor langer Zeit bemerkte jemand sehr richtig: Möget Ihr Euch nicht mit der Politik beschäftigen, — das wird diese nicht abhalten, sich mit Euch zu beschäftigen! Und wie be­ scheiden und begrenzt in ihrem Dichten und Trachten war noch die Politik, von welcher jener sprach! Heute — was gehört ihr nicht? was soll ihr nicht in Bälde alles zu­ fallen! Von der Wiege bis zur Bahre, vom Morgen bis zum Abend, wie er wohnt, wie er sich nährt, wie er sich amüsiert und wie er denkt, ja wie er für seine Nächsten im tiefsten Innern fühlt, Alles soll dem Menschen, — nein nicht mehr dem Menschen, dem „Staatsbürger" — die All­ weisheit, Allmacht, Allgüte des Staates vorzeichnen. Da­ gegen alles was er aus sich selbst heraus empfinden, hoffen und schaffen kann, wird zum Greuel gestempelt, als das gott­ lose „Gehenlassen wies Gott gefällt". Tretet ein mit Eurer ganzen Seele in das Staatsparadies, d. h. befehlet Euren Geist in die Hände der Politik und: eritis sicut Deus. So lautet der modernste Schlangenspruch, — und in dem­ selben Moment fügt das liebe Tier hinzu: „Kümmert Euch nicht um die Politik! Dankt dem Herrgott jeden Morgen, daß Ihr nicht braucht fürs römische Reich zu sorgen." Ist das nicht wunderbar? Ist es nicht wunderbar, wenn ein großer Politiker, der alles und jedes zu Politik macht, nicht ipüde wird, zu sagen: Volksvertreter sollten eigentlich keine Politiker sein!? Wer denkt da nicht an das unappetit­ liche Bild von der Suppe, die dem Tischnachbar ver­ dorben wird? Soviel ist klar: wollte die von selbst immer breiter werdende mittlere Schichte die Mahnung zur Gottähnlichkeit beherzigen, sie würde eingezwängt und eingepreßt werden in eine große eiserne Klammer, deren zwei Arme heißen: Aristokratie und Proletariat, eine herrschende und eine

298 dienende Klasse, eine, welche alles und eine, welche nichts zu verlieren haben

liegen!

Wehe denen,

soll.

die in der Mitte

Damit sie hübsch still halten, sollen sie sich erziehen

zu einer reinlichen Gesellschaft,

welche

wissen will,

nicht

was für sie in der Staatsküche gekocht wird. der Einblick in

die Küche

Denn gewiß,

den Appetit, wie die

verdirbt

Einmischung in die Politik den Charakter verdirbt.

mans nur nicht

essen

Wenn

Ein weiseres Wort aber

müßte!

sagt: Kocht Ihrs gut, esst Ihrs gut; oder auch: Wie man

sein Bett macht, so liegt man. Die an die gebildete Mittelklasse gerichtete Warnung vor der Politik ist

eine fromme Kupplerin jener Cäsaren­

demagogie, welche mit den Massen liebäugelt und darum

nicht will, daß die Mittelklasse sich ausdehne und die unteren Klassen in ihren Schoß aufnehme.

schönen Spruch

Diejenigen, welche den

von der charakterverderbenden Politik auf

dem Markt der öffentlichen Meinung umhertragen, sind ge­

wiß nicht eingeweiht in jene Pläne; aber sie gehorchen dem

Instinkt gemeiner Betriebsamkeit, die sich überall zudrängt, wo ungerechte Beute verteilt wird.

Wohin soll sie nun gehen, die Flucht vor der Ver­

des

derbnis

teuren Charakters?

Dichter,

Künstler

und

Gelehrte, welche den Staub der Landstraße fliehen und die einsame Zelle für ihr Denken und Schaffen begehren, hat

es immer

gegeben.

Um

diese

Der Warnungsruf geht nicht Geistern, welche

aber

aus

dem Jahrmarkt

handelt es sich nicht.

von den schöpferischen

des Lebens vornehm den

Rücken wenden, sondern von Leuten, welche ihre Bude auf

der Straße aufgeschlagen haben und als kleine Wiederver­ käufer

das

Brot

Ihre Warnung

empfehlen. Politik?

des

Geistes

pfennigweise

verschleißen.

vor der Politik soll die eigne Ware an­

Was aber bieten sie an Stelle der schädlichen In Frankreich heißt es — Figaro!

Das Ideal,

299 das der stündlich wachsenden Zunft der literarischen Zucker­

bäcker vorschwebt, ist jenes Organ für Altar und Alkoven, welches einer der größten Pariser Cyniker unter dem zweiten Empire mit tiefer Erkenntnis seiner Epoche ins Leben ge­ rufen hat. Wie viele Exemplare des ftanzösischen Originals regelmäßig nach Deutschland gehen? Viele Hunderte jeden­ falls und vielleicht mehrere Tausende. Denn in den Zeitungs­ buden jeder Eisenbahn und jeder großen Stadt ist es regel­ mäßig auf Lager. Und dem großen Vorbilde nachzustreben, mühen sich daheim aller Orten Federn ohne Zahl ab. Wie in Frankreich, so in Deutschland wird allmählich derjenige Teil der Tageslitteratur, welchen man „die Chronik" nennt, zur Hauptsache, und es ist nur natürlich, daß der mit schalem Zuckerzeug übersättigte Appetit bald nach stärkerer Würze verlangt, die zuletzt aus Skandal bereitet wird. Das alles muß man sich gefallen lassen, wie alles, was die Zeit bringt trotz der nie fehlenden Jeremiaden, die nie etwas abgewendet haben. Nur soll man uns nicht noch obendrein diese saubere Kost als heilsames Schutzmittel vor der Be­ schädigung des Charakters anpreisen.

*

*

Aber verdirbt die Politik nicht dennoch in der That den Charakter? Ohne Zweifel! Wasser, Luft und Licht verderben jedwedes, was da lebt. Alles Leben verzehrt sich in der Reibung mit allem Leben. Und was sich vor diesen zerstörenden Kräften des Lebens retten wollte durch die Flucht vor der Berührung mit Luft, Licht und Wasser, ginge erst recht schnell und elend zu Grunde. So auch verdirbt die Politik den Charakter, wie der Charakter die Politik; noch mehr aber thut es die künstliche Absperrung gegen das starke und immer stärker werdende Element des gemeinsamen Lebens im Staate, welches nun einmal das Leben

300 in der Gesellschaft und im Erwerb immer mehr durchdringt. Ist der Philister, der sich vergnügt die Hände reibt, wenn hinten weit in der Türkei die Völker aufeinander schlagen, ein besserer Mensch als der Neugierige, der da erfahren möchte, welche Experimente die hohen und gelehrten Herren auf der Höhe des Staats mit seiner anima vilis vorhaben?

Ob es ihm mehr fromme, eine Mietssteuer oder eine Pe­ troleumsteuer zu zahlen, auf Staats- oder auf Privatbahnen zu fahren, Monopol- oder freigezogenes Kraut zu rauchen, seine Söhne auf Realschulen oder Gymnasien erziehen, sie zwei oder drei Jahre dienen zu lassen? Waren sie glück­ licher, als ihre heutigen Enkel, jene Vorfahren, denen Serenissimus, weil sie sich gegen seine Maitresse auflehnten, ernstlichst verbot, sich um seine Angelegenheiten zu kümmern, „maßen er keine Raisonneurs zu Unterthanen haben wolle?" Und ist er so charaktergroß, der heutige Residenzphilister, der, aus dem Samen jener Lieben und Getreuen aufge­ gangen, all sein Fühlen, all sein Denken in die allerhöchsten Landesfarben kleidet? Den Charakter, der sich im Gefühl des süßen Friedens sonnt, wenn hinten weit in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen, kann man sich vorstellen. Aber der Charakter, der sich beruhigt das Wänstlein streicht, wenns ihm selbst an Kopf und Kragen geht, ist schwer zu konstruieren. Auf den ersten Blick erscheint es wie ein vollkommener Widerspruch, daß die breite Mittelstraße des Besitzes und der Bildung reingehalten werden soll vom Drängen und Stoßen des öffentlichen Lebens just in einer Zeit, wo dieses öffentliche Leben Bildung und Besitz und was nicht alles in das Bereich seiner Funktionen zieht. Und doch, wie be­ greiflich ist es, daß in einer Zeit, in welcher die Massen tiefer und tiefer aufgewühlt werden, den friedlich und rein­ lich gesinnten Bürgerstand die Sehnsucht überkommt, dieser

301 schwülen und staubigen Atmosphäre zu entrinnen.

Leugnen läßt sich nicht, daß ein Zug nach Verbildung des öffent­ lichen Lebens durch die Welt geht. Sowohl die überall sich vollziehende Ausdehnung des Wahlrechts als des Staats­ berufs drängt dazu. Die Massenkämpfe mit ihrer hand­ werksmäßigen Ausbeutung aller Leidenschaften und Vorurteile eröffnen demjenigen die bessere Aussicht, welcher besser als seine Mitkämpfer den Widerwillen gegen die Berührung und die Verbrüderung mit Leidenschaft, Vorurteil und allen anderen in der Tiefe schlummernden Mächten überwinden mag. Und auch hier berühren sich die Extreme. Man kann entweder so fest im Besitz von Ansehen und Stellung sein, um sich ohne Furcht vor Einbuße auch in die schlechteste Gesellschaft zu stürzen — die Kirche hat einen guten Magen, kann ungerechtes Gut vertragen — oder man kann so auf gewagtes Erringen angewiesen und angelegt sein, daß man keinen noch so dunklen Durchgang fürchtet, um erst zu Macht und Ansehen zu gelangen, die hinterher Indemnität, verschaffen. Aristokratische und plebejische Demagogie reichen über den Stand der Mitte hinaus denen die Hand, welche von ihnen als die „Enterbten" herbeigerufen und eingeladen werden, das Erbe in guter Brüderschaft mit ihnen, den Enterbern, zu teilen. Wo der Löwenanteil hinfallen soll, bleibt vorerst zwischen den Bundesgenossen im Unklaren. Nur soviel ist gewiß: der schwerfällige Bär, um dessen Fell es sich handelt, wird auf Gemütlichkeit gezähmt, damit er wehrlos still halte. Volksvertreter mit dem höchsten Beruf, bei den Ministern zu speisen, und Bürger, erfüllt von Ab­ scheu vor der charakterverderbenden und langweiligen Politik unter einem Staatsregimente, welches für alle großen und kleinen Geschäfte des Lebens die Sorge übernimmt, welch ein himmlischer Aufenthalt für das Heil der Seelen! Welch sinnreiche Kombination, die politische Überwachung der Re-

302

gierung von Leuten ausüben zu lassen, die auf dem Stand­ punkte stehen, daß die Politik den Charakter verdirbt! This is the Century of new inventions for killing bodies and for saving souls! Unsere Großmütter erzählten, die Rotmäntel hätten 1813 gesagt: „Lasset Euch nur den Hals abschneiden, Ihr werdet sehen, es thut nicht weh!" Ist es Berechnung oder nur Instinkt, wenn herrsch­ süchtige Politik der Gemeinheit in der Entfesselung der Parteikämpfe Vorschub leistet? Haben der Pere Duchesne und seinesgleichen täglich so viel wie möglich Bons Bougres und ähnliche Kraftausdrücke in den Mund ge­ nommen, um die anständigen Leute durch Ekel aus der

Politik zu verscheuchen, und wirkt ein ähnliches Motiv in der demagogischen Presse, von welcher die Aristokratie unserer

Tage sich bedienen läßt? Die Politik verdirbt den Charakter, wie alles, wenn es danach getrieben wird. Wie haben Religion, Gelehr­ samkeit, Kunst die Gabe, den Charakter zu verderben, wenn

sie mit schlechten Neigungen verquickt werden! Wie haben theologische Streitigkeiten vormals das Leben in Deutsch­ land vergiftet! Und müßte man heute nicht mit noch mehr Recht als von der Politik von der Kirche sagen, daß sie den Charakter verdirbt? Aber da es keine Flucht giebt aus den Sorgen, welche das Leben beherrschen, ohne daß dabei das Leben selbst aufs Spiel gesetzt wird, so muß man dem, was verderblich an diesen Sorgen ist, auf andere Weise beizukommen suchen als durch die Flucht. Die, welchen an der Güte ihres Charakters etwas gelegen ist, die, welche an ihr noch etwas zu verlieren haben, müssen genau das Gegenteil thun von dem, was man ihnen rät. Sie müssen durch ihre Ein­ mischung den Teil des Lebens zu veredeln trachten, welchen man ihnen verekeln möchte. Keine Frage! Eine gewisse

303 Barbarei hat Macht gewonnen über die heutige Welt. Es ist, als ob gegen das überwältigende Wachstum der die

Menschen verbindenden friedlichen Künste die rohen und trennenden Elemente zum letzten Widerstand sich aufraffen wollten. Der Geist der Nationalität, einst aus Vorstellungen der Freiheit und Selbständigkeit erwachsen, ist seltsam zum rohen Naturalismus ausgeartet, und in den zu erhöhter Selbstempfindung gelangten Volksseelen destilliert sich das Gift des Völkerhasses. Sollen Metalle von den Schlacken gereinigt werden, so setzt man ihnen zuerst noch mehr Schlacken zu. Es ist, als ob eine starke Dosis Barbarei zur Macht gekommen wäre, um alle aus vergangenen Zeiten übrig gebliebenen Reste des Barbarentums zuerst an sich

und dann, selbst verschwindend, mit sich aus der Zivilisation zu ziehen. Nicht dieser unedlen Beimischung das Feld zu

räumen, ist die Aufgabe, sondern geläutert aus dem brodelnden Schaum des dunklen Prozesses hervorzugehen.

n. Offene Antwort an Ludwig Bamberger.

Arcachon, 22. März 1882. Mein lieber Freund, Sie können sich denken, mit wie geteilten Gefühlen ich Ihren Auffatz: „Verdirbt die Politik den Charakter?" in der mir heute zugekommenen Nummer der „Freien Stunden" gelesen habe. Was Sie über die zwei Weltanschauungen sagen, die Sie höchst prägnant „qualitativ" und „quantitativ" nennen und die sich in die Herrschaft der Geister teilen, hat natürlich meinen ganzen Beifall. Welche die bessere von beiden sei, sagen Sie nicht. Sie werden sich nicht wundern, wenn ich kecker bin und

304 ohne Zaudern die „qualitative" als die höhere, philo­ sophischere, als die wahre bezeichne und daß ich das Leben

eines Goethe für das Wohl einer Nation, ja der Menschheit höher schätze als das Leben von tausend Kommunards. Das hindert übrigens durchaus nicht, daß in den Thatsachen die „quantitative" Weltanschauung doch immer Recht behält. Es ist eben damit wie mit Pessimismus und Optimismus:

kein denkender Mensch kann auch nur einen Augenblick zweifeln — so lange er die Dinge mit der Leuchte der Vernunft betrachtet — daß das Übel in der Welt das Maß des Guten unendlich überschreitet; aber das Gefühl straft die Vernunft Lügen, indem es uns sagt, das Leben sei ein Gut, das um jeden Preis festzuhalten sei, und man müsse sich mit Händen und Füßen dagegen sträuben, aus diesem Jammerthal gerissen zu werden. So ist es auch mit der Demokratie; ob man sie als ein Übel ansehe oder als

ein Gut, sie ist einmal da und wird von Tag zu Tag wachsen und alle müssen ihr Heeresfolge leisten, die Aristo­ kraten des Geistes wie die der Geburt. Es ist so offenbar unmöglich, die Menschheit auf eine andere Bahn zu leiten, daß nur Verblendete daran denken können, den Strom auf­ zuhalten. Kein Wunder, daß heute alle Probleme im Sinne der Demokratisierung des Daseins gefaßt und gelöst werden, wie Sie sagen. Ebenso sehr pflichte ich Ihnen bei, wenn Sie be­ haupten, daß es mit der Warnung vor der Politik „weder auf die oberen, noch die unteren, sondern einzig und allein auf die mittleren Schichten abgesehen sein" kann. Nur unterscheiden Sie meiner Ansicht nach nicht genugsam zwischen den beiden Hälften der mittleren Schichten, zwischen denen doch der Bildungsabstand viel größer ist, als zwischen einer von ihnen und der Ariswkratie einer-, der arbeitenden Klasse anderseits. Und nicht nur durch die Bildung steht

305 der Handwerksmeister dem Arbeiter näher als dem ehe­ maligen Gymnasiasten; auch sein „Leben gehört viel zu sehr der Plage ums tägliche Brot, als daß er stark der Ver­ suchung ausgesetzt wäre, sich Kopf und Busen mit Sorgen anzufüllen, die keine Lebenssorgen sind." Findet dies doch auch auf den höheren Mittelstand, namentlich die Studierten, eine Anwendung, und ist es doch gerade ein Grund mehr, warum sie sich von der thätigen Politik fernhalten sollten. Und damit komme ich zu dem Punkte, den Sie mir nicht bestimmt genug hervorgehoben zu haben scheinen. Die Demokratie, sagen wir alle, ist Thatsache und wirds immer mehr werden. Alle Demokratie aber in großen Staaten setzt Vertretung voraus. Die vollständige Selbst­ regierung durch Urversammlungen ä la Rousseau ist undenkbar im Großstaate. Es fragt sich also nur: erstens, wo wählt die Demokratie am besten ihre Vertreter? und zweitens, was und wieviel von der Staatsthätigkeit kann diesen Ver­ tretern delegiert werden? Mir scheint nun die Antwort auf die erste Frage doch ziemlich unzweifelhaft: man wählt

die Verwalter, die Aufseher und die Gesetzgeber am besten unter den Leuten, die das Metier gelernt und nichts anderes zu thun haben. Aristokratien, wie die römische,

venetianische, englische, wo die Staatskunst als Familien­ tradition gepflogen wurde, werden wohl nicht wieder auf­ kommen; darum aber bleibt die Staatskunst doch eine Kunst, d. h. eine Spezialität, die erlernt sein will. Diese zu er­ langen braucht Muße oder eine ausschließliche Konzentration auf diese eine Thätigkeit. Es ist hundertmal gesagt worden: ein Schuhmacher brauche vier Jahre Lehrzeit, um sein Hand­ werk zu lernen; sollte einem die Staatskunst anfliegen? Kann man sich ihr nur mit Erfolg hingeben, wenn man ein anderes Geschäft daneben treibt? Eine einsichtige Demokratie wird demnach wohl daran thun, ihre Verwalter Ludwig Bamberger's Ges. Schriften.

I.

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306 und Gesetzgeber unter den Leuten zu suchen, die Muße be­ sitzen und eine große Geschäftserfahrung hinter sich haben; „denn die Verwaltung der eigenen Güter unterscheidet sich nur in der Größe von der der öffentlichen Geschäfte. Im übrigen sind sie gleich," sagte schon Sokrates. Oder aber man nehme Leute, die sich speziell zum Staatsdienste heran­ gebildet haben, d. h. Beamte. Allen Respekt vor Professor und Arzt, wie vor Gevatter Schneider und Handschuh­ macher, aber ich zweifle, ob sie dieselbe politische Kapazität besitzen als jene; und, wie ein Aktionär in der General­ versammlung lieber gewiegte Finanz-Männer in den Berwaltungsrat wählt als seine Kollegen im Lehrer-, Schusterund Schneiderhandwerk, so wird auch der Staatsbürger, der ja auch ein Aktionär ist, am besten Fachmänner zur Verwaltung wie zur Gesetzgebung wählen. Das ist aber leider nicht die Tendenz der Demokratie in Großstaaten, wenn wir nach dem Beispiel von Nordamerika und Frank­ reich schließen, wo die Fähigen und Erfahrenen immer mehr vom Amt wie von den Kammern ausgeschlossen werden, die Mittelmäßigkeit und Unerfahrenheit einen immer breiteren Raum einnimmt. Deshalb brauchen die politisch Ungebildeten und ander­ weitig Beschäftigten nicht durchaus von der Politik aus­ geschlossen zu werden. Wohl ist die Linie schwer zu ziehen, wo die Beteiligung anfangen, wo sie aufhören sollte. Ich halte z. B. das Geschworenengericht für eine Funktion, die der Laie nur schlecht und zu seinem eigenen Nachteil aus­ üben kann, während mir eine gewählte Lokalverwaltung sehr fruchtbar scheint, vorausgesetzt, daß der Staat, der das allgemeine Interesse gegenüber dem lokalen zu vertreten hat, die hohe Hand über sie behalte. Zu diesem engen Kreise reicht eben die enge Erfahrung des Kleinstädters und Bauern meist aus. Etwas anderes ist die nationale Politik, die Provinzialverwaltung und die Gesetzgebung.

307 Ich wills ja gewiß meinem Schuhmacher oder dem Pro­ fessor des Zivilprozesses nicht benehmen, sein Urteil über eine Rede Bismarcks, wie über ein Gemälde Menzels oder einen Vortrag von Helmholtz zu haben und auszusprechen; aber mir scheint es nicht gemeinnützlich, noch vorteilhaft, für seine eigenen Interessen, wenn er selbst Gesetze beraten,

Bilder malen oder physiologische Untersuchungen anstellen will. Mögen sich immer die Leute, die nicht Politiker von Fach sind, für Politik interessieren wie für Kunst und Wissenschaft; aber sobald sie selber thätige Politik, Kunst oder Wissenschaft treiben, kann nichts als eitel Pfuscherei herauskommen. Auch sollte sich meiner Ansicht nach die Beschäftigung mit der Politik keineswegs auf ein bloßes Interesse be­ schränken; nicht nur die gewählten Vertreter der Nation, nicht nur die Presse, nein, die Nation direkt kann und sollte sich heute überall in Europa an der Kontrolle der Ver­ waltung beteiligen, wie sie dies z. B. in England nie unter­ läßt. Dort ist ja die Masse ganz von der thätigen Politik ausgeschlossen, ja erst seit fünfzehn Jahren, und auch nur teilweise, zum Wahlrecht zugelassen; die Verwaltung ist ganz in den Händen einer Gesellschaftsklasse, und der Masse steht nur die Kontrolle zu, welche sie durch Korrespondenz mit der Presse, Denunziation in den Meetings, gerichtliche Klagen oder endlich durch das Organ ihrer Vertreter im Parlament mittelst Interpellation ausübt; aber nie kann jemand aus dem Volke selber Magistrat werden. Man meint dort, es sei mit der Politik wie mit anderen Feldern menschlicher Thätigkeit: jeder solle das Recht haben, seinen Arzt und seinen Advokaten zu diskutieren, beziehungsweise abzuschaffen, aber nur wer gewisse Garantien fachlicher Befähigung aufweisen könne, dürfe selber als Arzt oder Advokat fungieren.

308 Daß die Politik überdies „den Charakter verdirbt" ist eine Nebenfrage, immerhin eine, die schwer zu verneinen ist. Schon das einfache Interesse am politischen Kampfe, wie am religiösen, entfacht die Leidenschaften über Gebühr, weil man bei dem besten Willen Partei nehmen muß: wer aber Partei sagt, der sagt: Opfer der Wahrheit, der Überzeugung

und der Unabhängigkeit auf dem Altar der Leidenschaft. Auch bin ich garnicht so sicher wie Sie, daß das Interesse an der „Chronik" einer Zeitung soviel schlimmer ist, als das an den politischen Parteikämpfen. Die politisch ge­ bildetste Nation Europas, die englische, ist gerade diejenige, welche für die Verbrechen der „Chronik" das lebhafteste Interesse an den Tag legt. Und dieses Interesse ist doch immer ^psychologischer Natur, es ist außerpersönlich, daher

immer noch edler als das an der Politik, wobei das Per­ sönliche, sei es auch nur indirekt durch die Partei, stets eine Rolle spielt. Die Sache wird aber noch viel bedenklicher, wenn es sich um thätige Politik handelt. Sie sagen: „Die Politik verdirbt den Charakter, wie alles, wenn es danach betrieben wird. Wie haben Religion, Gelehrsamkeit, Kunst die Gabe, den Charakter zu verderben, wenn sie mit schlechten Neigungen verquickt werden." Da liegts eben; „wenn sie mit schlechten Neigungen verquickt werden"; das ist also nicht notwendig der Fall, während die thätige Politik not­ wendig schlechte Neigungen erweckt und entwickelt. Wohl herrscht auch unter Künstlern und Gelehrten, Kaufleuten und Ärzten Neid und Gehässigkeit, wie's bei aller Kon­ kurrenz um Geld oder Ruhm nicht anders sein kann; aber sie herrschen doch nicht immer und überall auf diesen Thätigkeitsfeldern und sie gedeihen nicht so üppig als da, wo die Konkurrenz direkten Zusammenstoß der Personen mit sich bringt, wie im öffentlichen Leben, das ja recht eigentlich in dem lauten, offenen Streit besteht. Man muß

309 sehr guten Charakters sein, um nicht, wie Hermanns Vater, übler Laune aus dem Gemeinderat, geschweige denn aus einer Kammerdebatte zu kommen, namentlich wenn man das Handwerk schlecht versteht und sich am Ende doch ge­ stehen muß, daß man da in etwas hineingepfuscht hat, das man nicht gelernt hat. Alle Pfuscherei aber macht un­

zufrieden. Ich für mein Teil, und ich gehöre doch auch zum großen Mittelstände, den man vor der Politik warnt, habe immer gefunden, daß schon eine politische Diskussion in abstracto mir böses Blut machte, und habe sie immer bereut, was mir nie mit einer literarischen oder künstlerischen Diskussion passiert ist. Was wäre es erst gewesen mit einer Diskussion, welche die Wirklichkeit beeinflußt und be­

stimmte Interessen schädigt oder fördert? Wenn Sie damit einverstanden sind, wünsche ich, daß dieser Brief unter meinem Namen in den „Freien Stunden" veröffentlicht werde. Nur dürfen die Freunde nicht aus diesem ärmlichen Hälmchen schließen, die Brache wäre aus für mich. Das ist leider nicht der Fall.*) Die Ärzte wollen mich noch immer „ruhen" lassen und, da ich kein Demokrat

bin, verstehe ich zu gehorchen, auch wo ich die Befehle nicht begreife oder gar mißbillige.

Ihr treuer

Karl Hillebrand.

*) In her That erlag der Schreiber, der damals zur Erleichterung

seiner Leiden im südlichen Frankreich weilte, im Jahre 1884 seiner in den

letzten Jahren nicht mehr zum Stillstand gekommenen tödtlichrn Krankheit.

310

ui. 5»r Naturgeschichte des Politikers. An Karl Hillebrand in Arcachon.

Lieber Freund'

Wir Politiker sind vielleicht doch keine so schlechten Menschen wie Sie denken. Vielleicht! sage ich, denn aller­ dings glaube ich erfahren zu haben, daß der Mensch sich immer weniger kennt, je länger er mit sich umgeht; daher er sich auch immer weniger gut mit sich verträgt. Wenn man nämlich auch mit den Jahren mit seinen Fehlern aus­ kommen lernt, so gereicht doch ein auf wachsender Nachsicht beruhender modus vivendi cum se ipso nicht gerade zu wachsendem Vergnügen. Das holde Einverständnis mit sich selbst ist das Beste am Jugendglück, und schon deshalb — von vielem anderen abgesehen! — gehöre ich nicht zu denen, welche das Alter als die Blüte des Lebens preisen. Aller Anfang ist leicht; und die Kunst zu leben insonderheit wird immer schwerer, je länger man sie treibt. Wundern Sie sich nicht darüber, daß ich mit dieser Abschweifung anfange. Das soll Sie vielmehr darauf vor­ bereiten, daß meine Antwort fast nur aus Abschweifungen bestehen wird. Denn wie? Dies bescheidene Blättlein, welches die Eintagslaune unter den Auspicien unseres ge­ meinsamen Freundes als „Freie Stunden" in die Welt gesetzt hat, ist, wie man mir sagt, schon von Seiner Majestät dem Publikum von Gottes Gnaden viel zu ernst befunden worden; und wenn ich nun gar mit Ihnen eine Verhand­ lung über die Höhen und Tiefen des Weltganges hier weiter­ spänne, so hätten auch die Nachsichtigsten ein Recht sich zu beklagen, daß man sie noch in ihre Muße hinein mit der Politik verfolge. Ich bitte mich wohl zu verstehen. Was

311 Sie, mein Lieber, aus diesem spröden Holz herausschlagen, wird allen ebenso willkommen sein, wie sie mir es verdächten, wollte ich Ihren Spuren folgen. Sie sind ein Künstler der Litteratur und Kulturgeschichte; Sie haben die Hörer gewöhnt, Ihnen mit Andacht und Behagen zu lauschen.

Sie dürfen getrost über Politik reden, weil Sie eben nicht vom Handwerk sind. Aber ich! 0'1 poi! möchte ich mit

dem Präsidenten des Reichstags ausrufen. Denn das gebe ich Ihnen zu: ein vergnügliches Handwerk ist es nicht, und zumal nicht in der lieben Heimat, seine Feder schier drei­ ßig Jahre lang „in das Tintenfaß des Sisyphus zu tauchen", wie mir jüngst eine geistreiche Freundin vorhielt. Seien Sie ruhig! sie ist fünfundsiebenzig Jahre alt. Den Jüngeren imponiert das bischen Druckerschwärze und die Kindertrompete ber Fama vulgivaga (zu deutsch: Zeitungslärm) immerhin etwas mehr, wenn auch lange nicht so sehr, wie ein finger­ fertiges Klavierspiel oder gar ein sekundenlanger Triller. Jedesmal, wenn ich einen Bericht lese über die imposante Versammlung von wenigstens tausend Köpfen (in Wirklich­ keit waren es fünfhundert), welche in dem größten Saal der Stadt Mann an Mann gedrängt den Worten des „be­ rühmten" Redners lauschte, steigt mir die Frage auf: wie viele wären wohl gekommen, wenn man ihnen die fünf Mark Eintrittsgeld abverlangt hätte, die sie für das Spiel des Signor N. oder den Gesang der Signora N. N. so willig zahlen? Es ist schon ein großer Erfolg, falls sie aushalten ohne Bier zu trinken und zu rauchen! Sehen Sie! So weit bin ich mit Ihnen einverstanden: zur Freude der Menschen hat Gott die Politiker nicht erschaffen. Wir sind vielmehr eines von den vielen notwendigen Übeln, deren Überwiegen in dieser schlechten Welt Sie mit Recht

anerkennen. „Nous ne sommes pas ici pour nous amuser“, pflegte unser Freund Ulbach in Paris zu sagen, wenn er

312 ein Kartenspiel vorschlug. Sie wundern sich, daß man an diesem vom Übel beherrschten Leben so zähe hängt. Ich

habe immer bemerkt, daß die Mädchen, welche die wenigsten Tänzer finden, am längsten auf den Bällen ausharren. Doch, was ich sagen wollte! Wir Politiker sind so schlecht nicht. Jedenfalls, so behaupte ich, sind von allen Erden­ söhnen, welche sich mit der Viellöpfigkeit ihresgleichen be­ fassen, wir weitaus die demütigsten. Wir werden zur Unempfindlichkeit für die Kritik, für Ungerechtigkeit, für Bosheit und Dummheit (viel schlimmer ist sie als die Bos­ heit) großgeprügelt. Ein Dramatiker setzt sich für seine „Premiere" ein Auditorium aus vorbegeisterten guten Freunden

zusammen, und wenn er deren nicht genug hat, um das große Theater der Hauptstadt damit zu füllen, so verlegt er seinen ersten „durchschlagenden" Erfolg nach einer kleinen Residenzbühne, wo ein kunstliebender Herrscher (Gott erhalte ihn: ich meine kunstliebend) Gastfreundschaft und Ritterkreuz gewährt. Die Musiker haben den Vorteil, daß die Hörer, welche nichts verstehen, es für ehrenvoller halten, Enthusias­ mus zu empfinden als unempfänglich zu sein, und die Maler und Bildhauer, wenn sie nicht mit Gold ausgewogen werden, trösten sich damit, daß die Laien samt und sonders Esel seien. Jeder Poet endlich, sei er gereimt oder ungereimt, hat die Erlaubnis, sich für den ersten seiner Zeit zu halten, und viele machen davon Gebrauch. Wir aber, poveri noi! wir thun nie den Mund auf, ohne daß von Rechtswegen zur Hälfte geschworene Feinde dabeisitzen, die auf Eid und Gewissen verpflichtet sind, alles was wir thun und sagen abscheulich zu finden, selbst wenn sie es verstehen — was nicht immer der Fall ist. Aber das Publikum, zu welchem auch Sie sich rechnen zu sollen meinen — ich widerspreche nicht ganz! — ahnt nicht, wie geduldig wir das alles

tragen als ein selbstverständliches Stück unseres Feldgepäcks.

313 — „Haben Sie sich wieder tüchtig geärgert?" so wird man in der Regel am Ende einer Session von seinen Bekannten angeredet; oder: „Ärgern Sie sich nur nicht viel!" am Anfang einer neuen. Du lieber Gott! Wie lange wäre wohl die Durchschnitts-Lebensdauer eines Poli­ tikers, wenn er sich jedesmal ärgerte, wo es das Publikum meint? Wir brauchen uns keine Hofnarren zu halten, die uns an unsere Schwächen und Irrtümer erinnern. Die ganze „andere Seite des Hauses" übernimmt diese Arbeit in einer gar nicht spaßhaften oder verblümten Manier. Und wenn wir halbwegs verständig sind, so warten wir gar nicht erst ab, daß uns dieser Schelmendienst von da drüben und draußen geleistet werde, sondern legen uns an jedem Morgen die Frage vor, ob wir am vorhergegangenen Tage keine Dummheit begangen. Im übrigen vertragen wir uns auch von rechts und links menschlich besser, als Ihr da draußen meint, und zwar lächeln wir nicht, wenn wir uns in der Stille begegnen, wie die Haruspices, sondern wir seufzen leise und schämen uns manchmal ein wenig. Und eben deswegen habe ich, um am Ende das zu sagen, was meine Einleitung sein sollte, Ihren Brief, so wie ich ihn nur eben gelesen hatte, flugs den „Freien Stunden" geschickt, auf daß sich alle diejenigen daran ergötzten, die mir unrecht geben. Ich gönne den Leuten das Pläsier, sich einzubilden, Karl Hillebrand stimme mehr mit ihnen überein als mit mir. Zu Ehren des guten Tags, an dem Sie, mir und allen Freunden zur Freude, wieder dem Setzer Arbeit gaben, sollen unsere gemeinsamen Gegner einen Festtag haben. Ist das nicht ein schöner Gedanke? In der Hauptsache sind wir ja doch einig: die Politiker sollen die Politik machen — nicht die Nichtpolitiker, die man auch bei uns heute damit betrauen will. Gerade weil der Demokratie die Zeit gehört, muß die Demagogie be-

314 kämpft werden, und die der Patrizier ist viel verderblicher als die der Plebejer. Diese Pointe ist Ihnen entgangen. Als ich schrieb, hatte ich das Deutsche Reich von heute vor

Augen, welches nicht nach den vergilbten Blättern von vor zehn Jahren beurteilt werden darf. Sie hingegen dachten an Frankreich und seines Gambetta Gefolge von Commis voyageurs — welche übrigens vorerst doch nicht die Herren geworden sind. Setzen Sie an die Stelle des Commis voyageur den Bruder Bauer und Bruder Handwerker et de nobis fabula narratur. Daß dies nicht trostreicher ist, könnte ich Ihnen nur begreiflich machen, wenn ich hier ernst­ lich sprechen dürfte. Die Reden, über welche Sie dem „Schuhmacher" nur wider Willen ein Urteil gestatten, sind ganz eigens darauf gemünzt, ihm die Überzeugung beizu­ bringen, er allein sei der wahre Gesetzgeber, natürlich unter väterlicher Leitung. Und die Beamten, die Sie im Kopf haben, sind längst kalt gestellt. Doch pst! Der Mensch ist heuer nie sicher, ob er nicht jemanden beleidigt, und wenn

er nicht Zustimmungsadressen telegraphiert, schweigt er am klügsten still. Wo man nicht tadeln darf, darf man auch nicht loben. Letztere Entbehrung wird immer weniger fühlbar. Ich bin ganz damit einverstanden, daß für die großen Staaten nicht die Urversammlungen ä la Rousseau passen, wie Sie sagen, aber wenn man schon einmal so etwas hat — und das Urwahlrecht ist ja doch ein Stück davon — so soll man dessen Niveau nicht möglichst herabzudrücken suchen. Läuft übrigens unsere Diskussion nicht in ihrem tiefsten Grunde auf das Problem hinaus, welches gerade für Rousseau der Anstoß war zu seinem ersten entscheidenden Schritt in die Welt? Es sind etwas wie hundertvierzig Jahre her, daß die Preisfrage der Akademie von Dijon ihn in das Naturrecht und die Politik hineinrief. „Ob der Fortschritt der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen hat, die

315 Sitten zu verderben oder zu reinigen?" — Von seiner Antwort an datiert seine weltumwälzende Schriftstellerei, — und dennoch hat derselbe Jean Jacques von sich be­ hauptet: nichts sei ihm verhaßter als Politik und Disput!

So kennt man sich! Wenn wir uns aber einmal, wie auch Sie zugestehen, in die Thatsache der sich immer mehr demo­ kratisierenden Welt schicken müssen, so scheint es mir be­ sonders gefährlich, romantische Durchblicke in den Wald der Tagespolitik zu schlagen. Hüten wir uns vor der Romantik! Ich weiß nicht, ob die Welt dem Gesetz ewiger Perfektibilität gehorcht. Ich weiß nur, daß die Ströme niemals aufwärts fließen. Können wir uns aber nicht vor romantischen An­ wandlungen bewahren (wer ist dessen sicher!), so werden

wir gut thun, uns damit in unser Studio einzuschließen. Andernfalls möchten wir, während uns stille Reminiscenzen an das italienische Cinquecento oder an das französische Grand siede locken, uns in Gegenden verirren, wo eine Romantik ganz anderer Herkunft haust. Es giebt nämlich auch eine, die nach der Sakristei, und sogar eine, die nach

dem Stall duftet. Daß Sie Ihrem Doktor gehorchen, der Ihnen noch Ruhe auferlegt, ist recht. Weil Sie kein Demokrat seien, fügen Sie hinzu. Meinetwegen! wenn nur er kein Doktor der Aristokratie ist! Denn diese hat eine besondere Vor­ liebe für Charlatans. Für einen Rekonvalescenten ist Ruhe jedenfalls die erste Bürgerpflicht. Hat aber Ihr Doktor Sie erst in den Vollbesitz Ihrer angestammten, ausgezeichneten Konstitution zurückgeführt, so daß Sie ihm nicht mehr blind zu gehorchen brauchen, so werde ich ihn lieben und verehren, auch wenn er von der Höhe eines Stammbaumes von sechzehn Ahnen des blausten Blutes herabsähe auf Ihren treuen Berlin, 4. April 1882.

L. Bamberger.

Staatsmännische InSLskretionen.*) Therefore set it down, that an habit of secrecy Ls both politic and moral. Bacon „Essays“.

Aer Brauch, intime Aktenstücke über die Entstehungs­ geschichte politischer Ereignisse aus kurz vergangener Zeit in die Öffentlichkeit zu bringen, ist neueren Datums. Ver­ gangenen Jahrhunderten war er ungewohnt, und noch in der ersten Hälfte des unsrigen begegnen wir ihm selten. Er ist ein Merkmal der demokratischen Strömung, welche das heutige Geschlecht unwiderstehlich nach einer Zukunft hin­ führt, deren letztes Wort — ob gut oder schlecht — noch von keinem Mitlebenden geahnt werden kann. Jmmermehr neigt sich die Fahne vor der großen Zahl, welche als profanum vulgus zu hassen und fern zu halten der alte Dichter sich rühmen konnte; immer mehr schmilzt Quantität und Qualität der Geheimnisse. Alle werden berufen mit zu thun, mit zu genießen und folglich auch mit zu wissen,

und darum bemühen sich auch die Höchsten immer mehr um die Stimme dieser großen Zahl. Begreiflichermaßen nicht immer mit den gewähltesten Mitteln. Wie bei jeder Neuerung ist auch hierbei nicht alles •) Aus der „Nation" vom 13. Oktober 1883.

317 man wohl dem demokratischen sagen dürfen, insonderheit aber verschmähend, die demokratische als höchst brauchbar an ihren Wagen zu spannen, dabei durchaus nicht verhehlen können noch mögen, daß sie die Erhaltung und Befestigung der Autori­ tät für das Unentbehrlichste ansehen. Und zwar nicht nur die persönliche Autorität der überlegenen Einsicht, welche noch am ersten neben der demokratischen Souveränetät denk­ bar ist, sondern Autorität der verschiedensten Art: Autorität der Obrigkeit göttlichen Ursprungs, der Geburt, der Stellung, reiner Gewinn. Das wird Zeitalter selbst ins Gesicht denen, welche, obwohl nicht Zugkraft des Jahrhunderts

der Kirche und der über jede Diskussion erhabenen Sitten­ lehre. Hier ist es, wo wir stutzig werden dürfen, wenn wir sehen, daß hervorragende Vertreter dieses Autoritätsprinzips die Gefahr heraufbeschwören, durch Enthüllungen aus deu geheimen Briefschaften die Menschheit irre zu machen an der Gemeingültigkeit der Grundsätze, welche sie zwar tag­ täglich in salbungsvollen Worten dem Volke predigen lassen, deren bindende Kraft aber man in ihrem politischen Raten und Thaten, wie sie es da enthüllen, vergeblich sucht. Wohlverstanden, es ist hier die Rede nicht von dem, was man thut, sondern von dem, was man eingesteht. Es ist in der Politik immer mit trübem Wasser gekocht worden, das weiß man und wird es sobald nicht ändern. Aber daneben verdient die Frage aufgeworfen zu werden, welche Rückwirkung es auf die große Zahl ausüben muß, auf die große Zahl, an welche jetzt immer mehr appelliert wird, wenn man sie auf die nackten Thatsachen, welche sich zu sehr zweifelhafter Moral bekennen, sozusagen mit der Nase hinstößt. Denn was von diesen politischen Enthüllungen als mo­ ralischer Niederschlag zurückbleibt, ist doch immer wieder das,

318 was man den Lehren der Jesuiten als den schwersten Vor­ wurf angeheftet und womit man ihnen auch den schwersten

Stoß versetzt hat: daß der Zweck die Mittel heilige. Ganz haben es auch die Jesuiten niemals Wort haben wollen, und ausdrücklich haben sie es niemals so formuliert. Aber in Wirklichkeit lag die zersetzende Quintessenz ihrer Sitten­ logik darin, daß sie nach Umständen jede sonst verbotene Handlung für erlaubt und sogar für geboten erklärten, wenn es dem Thäter nur gelänge, bei seiner verbotenen That mehr auf die erlaubte Endabsicht, als auf auf den dahin­ führenden Weg seine Intention zu richten. Die Welt, die sehr wohl verstand, daß sich bei dieser Sophistik das zu ihrem Bestehen unentbehrliche Fundament des Sittengebäudes nicht erhalten ließe, hat dieselbe ver­ dammt. Und wenn die faktische Gutheißung der politischen Jesuitenmoral, welche unvermeidlich aus den Urkunden der geheimen Archive durchsickert, so weiter geht wie im letzten Jahrzehnt, so wird dadurch eine Gefahr für das allgemeine Bewußtsein herbeigeführt werden, vielleicht und hoffentlich auch eine Heilung im Brauch selbst. Fürst Bismarck hat in den ersten auf seine großen Triumphe folgenden Jahren wiederholt sich verwahrt gegen den Spruch von Blut und Eisen, den man ihm in den Mund gelegt hatte. Er gehorchte darin einem richtigen Impuls. Und so wenig wir auch glauben, daß er damals ein anderer gewesen wie jetzt, wir können uns des Ge­ dankens nicht erwehren, daß das Gefühl für die Notwendig­ keit dieser Verwahrung ihm damals aus dem lebendigeren Zusammenhang Aufstieg, in welchen er mit den edleren Freiheits- und Humanitätsbestrebungen der Nation sich befand. Es war die Zeit, da er mit den Jesuiten beider Konfessionen gebrochen hatte, in der Hauptsache wohl nur, weil sie seiner großen Politik Hindernisse in den Weg legten;

319 aber Form und Inhalt lassen sich nie so ganz scheiden,

daß man nicht glauben dürfte, der Mann von ehemals, welcher den Intriganten der Kurie und den Deklaranten der Kreuzzeitung ein Dorn im Auge gewesen, habe eine leb­ haftere Empfindung für die Bedürfnisse des Volksbewußt­ seins gehabt, als der, welcher heute um die Allianz jener Mächte wirbt und von ihnen beglückwünscht wird, weil er ihnen zum Schemel ihrer wieder emporstrebenden Macht zu

werden verspricht. Schwerlich hätte damals der Kanzler die drei umfang­ reichen Bände seiner Frankfurter Berichte in die Welt ent­ sendet, in denen neben außerordentlich viel Bewunderns­ wertem auch des Bedenklichen nicht wenig zu lesen ist. Er hätte auch das Bedürfnis dazu nicht empfunden, denn kein ehrlicher Deutscher brauchte damals durch die Vergleichung von Sonst und Jetzt auf die Verdienste des Mannes auf­ merksam gemacht zu werden, welcher das Deutsche Reich ins Leben zurückgerufen hat. Als die Aushängebogen mit dem Anziehendsten aus den Poschingerschen Enthüllungen an die Zeitungen ver­ abfolgt wurden, fielen natürlich Redaktionen und Leser über die schmackhaften Bissen her. Über dem ersten Genuß an

solch leckerer Kost schweigen die Bedenken, und die befriedigte Neugierde zollt gern den Tribut ihrer gerechten Bewunderung. Doch das die moralische Gesundheit angreifende Element, welches zu diesem Gaumenkitzel gerade am meisten beiträgt, ist damit nicht unschädlich gemacht. Auch der so flüchtige Zeitungsgenuß läßt eine Gesamtwirkung zurück, die sich zu einem bleibenden Ansatz verdichtet und für das Urteilen wie das Handeln der Menschen mit bestimmend wird. Im vorliegenden Fall haben wir es überdies nicht bloß mit den rasch servierten Gerichten zu thun, welche die Tagespresse auftischt. Drei starke Bände, wenn schon keine Nahrung

320

für jedermann, werden sich doch, von so eminenter Autor­ schaft getragen und von so denkwürdigem Inhalt erfüllt, immer und immer wieder der Wißbegierde aufdrängen, und was auf diese Weise auch nur minder großen Kreisen der Zeitgenossen bewußt wird, erweitert sich in seinen wichtigsten Ergebnissen allmählich zum Gemeingut.

Die vertraulichen Instruktionen Friedrichs des Großen an seine Geschäftsträger, welche jetzt aus den Archiven ver­ öffentlicht werden, sind auch gerade nicht als moralische Erbauungsbücher zu verwenden. Aber hundert und vierzig Jahre sind eine lange Zeit, und lassen immerhin Raum für die tröstliche Vermutung, daß die Politik heute auf geraderen Wegen wandle als damals. Auch begreift man eben deswegen den Sinn des lange gepflogenen Herkommens, wonach die Einsicht in die geheimen Urkunden neuester Politik der Geschichtsforschung vorenthalten wird. Wie aber, wenn der Schleier gelüftet wird, welcher den Zeitgenossen das Miterlebte in seinen geheimsten Ansätzen und Vorbereitungen wohlthätig verborgen hielt? Eine Mailänder Zeitung „Perseveranza" brachte Ende August dieses Jahres ein Aktenstück zum Abdruck, welches, wie wohl kaum ein anderes der betreffenden Gattung, dazu geeignet scheint, die bedenkliche Seite dieser modernen Indis­ kretionen ins Licht zu setzen. Es handelt sich um einen Brief Cavours an Victor Emanuel, der einen merkwürdigen Beitrag zur Vorgeschichte des österreichisch-italienischen Krieges liefert. Das Schreiben, welches aus Baden-Baden

unterm 24. Juli 1858 datiert ist, erzählt den Hergang mehrerer Besprechungen zwischen dem italienischen Staats­ mann und dem Kaiser der Franzosen. Die Besprechungen selbst hatten nicht in Baden stattgefunden, sondern in Plom-

biöres, aber an Ort und Stelle war ersterem nur Zeit zu einer flüchtigen chiffrierten Depesche an seinen König ge-

321 blieben. Von Baden aus holte er das Verschobene nach, nicht ohne sich gütlich zu thun in der Breite einer behag­ lichen Expektoration, der man es deutlich anmerkt, daß sie ebensowohl auf den Beifall des Adressaten, wie auf die Sicherheit des Geheimnisses rechnet. Die sorgfältig an­ gelegte Wiedergabe der Unterhaltung zwischen Cavour und Napoleon III. strotzt von scharf gewürzten Äußerungen,

namentlich

wo sie

auf

das Heiratsprojekt zwischen dem

Prinzen Jeronle Napoleon und der Tochter des Königs, Prinzessin Clothilde, eingeht. Doch dieser Teil, so amüsant

er ist, soll hier nicht in unsere Betrachtungen hereingezogen werden; ebensowenig der schon näher liegende, welcher die Abtretung von Savoyen und Nizza als den Kaufpreis der Unterstützung im Krieg gegen Österreich ins Auge faßt. Das Höchste an Unverfrorenheit liefert das Gespräch da, wo es sich darum dreht, einen Vorwand zur Offensive gegen Österreich ausfindig zu machen, und bei diesem Teil

wollen wir einen Augenblick verweilen. Napoleon erklärt dem Italiener von vornherein, er sei entschlossen, ihm in

einem solchen Kriege beizustehen, aber es dürfe kein Grund revolutionärer Natur dem Krieg zum Anlaß dienen, sondern einer, der sich vor der europäischen Diplomatie und nament­ lich vor der öffentlichen Meinung Frankreichs und Europas sehen lassen könne. Und nun erzählt Cavour, wie er dem Kaiser eine Garnitur von Vorwänden nach der anderen

präsentiert habe, die sich aber sämtlich bei genauerer Be­ sichtigung mehr oder minder als unbrauchbar erwiesen: es

galt also neue Vorwände aufzutreiben. Hier müssen wir ihn selbst reden lassen; denn nur die buchstäbliche Wieder­ gabe kann von dem Aktenstück ein richtige Idee geben. „Meine Lage ward sehr unbequem, denn ich hatte nichts Greifbares mehr vorzuschlagen. Jetzt kam mir der Kaiser zu Hilfe, und wir machten uns gemeinsam Ludwig Bamberger's Ges. Schriften.

I.

01

322 daran, alle die einzelnen Staaten Italiens durchzugehen,

um jenen so schwer zu findenden Anlaß zum Kriege aufzutreiben. Nachdem wir beinahe die ganze Halb­ insel erfolglos durchstöbert hatten, langten wir, so zu sagen, ohne etwas dabei zu denken, in Massa und Carrara an, und da entdeckten wir auf einmal, was wir so eifrig suchten. Als ich nun dem Kaiser eine genaue Schilderung dieses unglücklichen Landes ge­ macht hatte, kamen wir überein, daß man eine Petition der Einwohner an Ew. Majestät ins Werk setzen müsse, worin um Dero Schutz und sogar um die Einverleibung in das Königreich Sardinien nachgesucht würde. Ew. Majestät würde zwar auf diesen Vorschlag nicht ein­ gehen, aber sich doch der unterdrückten Bevölkerung annehmen und dem Herzog von Modena eine hoch­ fahrend und drohend abgefaßte Note zuschicken. Der Herzog, auf Österreichs Unterstützung rechnend, würde

in einem inpertinenten Ton antworten. Daraufhin würde Ew. Majestät Massa besetzen lassen, und der Krieg wäre besorgt." Wir können uns das Übrige schenken. Faktisch kam achtzehn Monate später das solchermaßen ersonnene Mittel nicht zur Anwendung, aber das ist für uns gleichgültig. Was uns interessiert, ist, daß man Zettelungen von so über die Maßen verfänglicher Art vor den Augen der Zeit­ genossen zur Schau stellt. Cavour steht als einer der besten und uneigennützigsten

Patrioten da. Von allen Staatsmännern der neueren Zeit hat wohl keiner, indem er so Großes leistete, so ganz die Sympathien seines Volkes, ja der Welt besessen und ver­ dient wie er. Er hat seine Kraft nicht nur der Einigung seines Landes, sondern auch der Befestignng freisinniger und gerechter Institutionen gewidmet, deren Geist ihn Zeit

323 seines Lebens beseelt hatte.

Wenn er mit einer frivol er­

scheinenden Kaltblütigkeit dem König die Dinge erzählt, wie sie sich in Plombiöres begaben, so galt eben zwischen ihnen

als ausgemacht, daß sie aus jede Weise den Bruch mit Österreich herbeiführen mußten und in den Mitteln nicht

gar wählerisch zu sein die Möglichkeit hatten. hätte sich wohl nicht in

ihm der Gedanke

Aber Cavour

dieser Weise gehen lassen, wenn

gekommen wäre, daß man seinen Brief

dem großen Publikum nach fünfundzwanzig Jahren preis­

geben würde.*) Über die Frage, in wie weit es erlaubt sei, den Knoten

historischer Verhängnisse

dem

unter

Deckmantel der List

mit der scharfen Schneide der Gewalt zu zerhauen, mag man

so

oder anders

denken.

Gewiß

ist aber, daß das

öffentliche Sichbekennen zu solcher Handlungsweise viel weiter trägt, als dem Sinne der Handelnden entspricht.

die anderen überragender Mann besonderer Lage zu

das

Was ein

an besonderer Stelle in

thun sich entschließt, giebt noch nicht

Maß für das,

was

er

als Mensch

in

gewöhnlich

menschlichen Dingen sich erlauben würde, und so lange die Fäden seiner Gedanken und seiner Pläne unter dem Schutz eines, wenn auch halb durchsichtigen, Geheimnisses verborgen bleiben, wird

wenigstens

die Scham

des

öffentlichen Be­

wußtseins, die letzte Zuflucht des consensus Omnium, nicht vergewaltigt.

Von dem Moment ab jedoch, wo solche Ge­

ständnisse auf

dem gemeinen Markt

des täglichen Lebens

umhergestreut werden, entlehnt der erste

beste daraus das

*) In ben von Chiala herausgegebenen 2 Bänden „Briefe Cavour's" befinden sich deren

zwei an La Marmora vom selben Datum (24. und

25. Juli 1858), worin er dem Gmeral den gedrängten Inhalt obigen an den

König gerichteten

und

unzweifelhaft

echten

Schreibens

wiedergiebt,

welch« aber auch von der ganzen Glut und Hingebung seiner patriotischen

Energie Zeugnis ablegen.

324 Recht, sich danach ein Vorbild zu machen und dieses auf Beweggründe und Zwecke zu übertragen, welche himmelweit vom Vorbilde entfernt liegen. Es liegt uns fern zu behaupten, daß in den Bismarckschen Berichten aus der Frankfurter Zeit sich Aus­ lassungen fänden, die sich an Verfänglichkeit und Ungeniertheit mit dem oben angeführten Aktenstück messen könnten. Zwar ist die Poschingersche Sammlung nicht aller Zurichtung ent­ gangen, aber wir kennen aus ihr und aus zahlreichen früheren Enthüllungen die Art und Weise der Bismarckschen Feder genugsam, um in aller Sicherheit sagen zu können, daß sie mit einer Bedachtsamkeit und Selbstbeobachtung ge­ führt zu werden pflegt, die solche Ausschreitungen undenk­ bar macht. Einem Friedrich Wilhelm IV. und Manteuffel gegenüber wäre außerdem eine so lose Sprache, wie der italienische Minister sie dem selbst für einen Italiener noch besonders ungebundenen Victor Emanuel zum besten gab, von vornherein unmöglich gewesen. Nichtsdestoweniger besteht eine Verwandtschaft zwischen dem Gedankengang, der sich durch die Frankfurter Berichte, und dem, welcher sich durch die successiv veröffentlichten ge­ heimen Akten des österreichisch-italienischen Kriegs zieht. Die Analogie der geschichtlichen Vorgänge selbst entspricht be­ kanntlich durchaus dieser Analogie der Akten. Die Verschiedenheit des Temperaments, der Sitte, des Glaubens, der ganzen Lebensformen kommt natürlich in der Verschiedenheit zum Ausdruck, in welcher die geheimen Be­ kenntnisse des katholischen Südens gegen die des pro­ testantischen Nordens abstechen. Aber die Wirkung auf die umgebende Welt gleicht sich eben deshalb auch wieder aus. An dem unstrengen und leichtlebigen Italiener wird kaum beachtet vorübergleiten, was den ernst und gradlinig denkenden Deutschen vor den Kopf stößt. Wir hören jetzt so unendlich



325



viel von der Notwendigkeit reden, das Volk in seiner Religion zu befestigen, und die hohen Politiker, welche ihr Augenmerk darauf hin richten, thun es eingestandenermaßen nur in der Absicht, durch die Religion für die Moralität zu sorgen. Ganz gewiß aber sind alle theoretischen Auf­ klärungen, mit welchen Satzungen des Glaubens angezweifelt werden, nicht entfernt so bedenklich für die Sittlichkeit, als die hohen Vorbilder einer sittlichen Praxis, welche den

Konflikt mit der bürgerlichen Moral thatsächlich predigen.

Die wahre MMärparler.*) bekanntlich sind es die Kanonen, mit deren Hilfe sich die Könige in letzter Instanz unter einander verständlich

machen.

Auch die Väter der Republiken,

welche sich ein­

bilden, besser zu sein als die Könige, verschmähen es nicht,

in diesen Zungen zu reden, zumal wenn sie hoffen,

das

letzte Wort zu behalten.

bis

zu

dem

Augenblick,

wo

Die Völker aber überlassen, sie

mit

diesen

überzeugendsten

Gründen der praktischen Vernunft bearbeitet werden,

das

Geschäft der internationalen Auseinandersetzung ihren Diplo­ maten und Journalisten.

So lange die Welt steht, hat noch niemand das Lob der Diplomaten gesungen.

Aber eben deswegen möchte es

ihnen schwer fallen, nicht besser zu sein als ihr Ruf. Ver­ mutlich sagt man ihnen so viel Übles nach, weil man sie so wenig fürchtet. Im ganzen sind sie heutzutage ein harm­ loses Geschlecht,

welches seinen Hauptberuf darin findet,

Feste zu geben und Feste mit seiner Anwesenheit zu ver­

herrlichen, die den Teilnehmern das wohlthuende Bewußt­ sein verschaffen, die höchste Stufe auf der Leiter gesellschaft­

licher

Verfeinerung

erklommen

zu haben.

Lebensgewohnheiten bringen es mit sich,

Diese sanften

daß

*) Ans der „Nation" vom 15. Dezember 1883.

unsere Ge-

327 sandten mit seltenen Ausnahmen friedliebende Leute sind.

Schon der berechtigte Wunsch, ihre Gemahlinnen im sonnigen Genuß dieser erstrebenswertesten aller Befriedigungen weib­ lichen Ehrgeizes nicht zu stören, stimmt sie zu jener Milde der Gesinnung, welche ihnen als Gehilfen der Völkerhirten wohl ansteht. Wie anders verhält es

sich mit den Journalisten!

Auch sie werden zwar viel gescholten, aber noch mehr ge­ lobt, weil sie nämlich viel gefürchtet werden; und wie sollte

es anders sein, da sie es in der Hand haben, die Menschen gut und schlecht zu machen, oder was noch wirksamer ist, berühmt und unberühmt. Denn wer möchte heute nicht be­ rühmt sein, wer hätte nicht ein Buch geschrieben, das er gelobt, oder wenn es nicht anders sein kann, wenigstens getadelt zu lesen wünscht? Der Journalist aber kann schweigen, er kann totschweigen, wie der furchtbare, eben

darum so bezeichnende Ausdruck lautet. Das Nichtreden ist die schärfste Waffe, welche Mutter Natur dem redselig­

sten aller Geschöpfe für den Kampf ums Dasein mit auf den Weg gegeben hat, und oft ist dasselbe grausam genug, von ihr Gebrauch zu machen. Aber leider schweigt es nicht immer an der rechten Stelle! Wie viel besser stünde es um die Auseinander­ setzungen zwischen den Völkern, wenn die Journalisten sich etwas weniger laut um dieselben kümmern wollten! Der französisch - deutsche Krieg von 1870 wäre schwerlich zum Ausbruch gekommen ohne die Pariser Zeitungen, und wenn seitdem der Friede erhalten geblieben, so ist es nicht das Verdienst der französischen, aber wohlgemerkt, auch nicht der deutschen und der russischen Journalisten. Wären die Regierenden und ihre Diplomaten nicht kaltblütiger und friedliebender als die Stimmführer in der Presse, so würde es schon längst wieder von den Vernunftgründen der

328 Druckerschwärze zu den Vernunftgründen des Schießpulvers

gekommen sein. Noch immer hört man hie und da von klugthuenden Ausländern die alte Mähr von der preußischen „Militär­ partei" vorbringen, welche mit aller Gewalt zum Völker­ schlachten dränge. Wie wenig stimmt das mit der Wahr­ heit! In demselben Atem, mit dem diese hohen Politiker die Greuel der preußischen Militärpartei enthüllen, pflegen sie uns auch den Vorwurf an den Kopf zu werfen, die fünfundvierzig Millionen Deutsche seien lauter arme Knechte unter Bismarcks Alleinherrschaft. Selbst die letztere Be­ hauptung ist nicht so wahr, wie es scheint, aber sie ist wahr genug, um sagen zu können: was würde eine Militärpartei bedeuten, die nicht mit Bismarck identisch wäre? Und doch giebt es vielleicht in ganz Preußen keinen Menschen, der weniger Militärpartei wäre, als er, trotz der Uniform, in welcher er einhergeht. Wäre sein Sinn so groß für das Bedürfnis des inneren wie für das Bedürfnis des äußeren Landfriedens, „wie lieb solltst du mir sein"! Auch in Frankreich hat es bei Ausbruch des Krieges keine Militär­ partei in jenem gemeingefährlichen Sinne gegeben. Weiber, Intriganten und Journalisten haben den Krieg gegen Deutschland angeblasen, zu dem Napoleon selbst nicht hin­ neigte. Die Wahrheit ist, daß in der Regel hier wie dort die Häupter des Militärwesens den Krieg weder wünschen, noch Ursache haben, ihn zu wünschen. Vielen gut dotierten Stellen und allem, was dazu an Armatur gehört, mögen sie dies- wie jenseits hold sein; aber gerade die Inhaber der hohen Chargen haben vom Krieg mehr zu fürchten, als zu hoffen. Fähnriche und Lieutenants, welche, um zu avancieren, einen Feldzug ersehnen und deshalb stets prophe­ zeien, daß es nächstens losgehen wird, giebt es überall,

aber glücklicherweise haben die Lieutenants und die Fähn-

329 riche mehr Einfluß auf junge Damen als auf alte Schnauz­ bärte. Die wahre Militärpartei sind die Journa­ listen. Es ist merkwürdig genug, daß man den Satz „Gott bewahre mich vor meinen Freunden", schon erfunden hat, ehe die Zeitungen erfunden waren. Die Menschen gebrauchen die Sprache viel weniger,

um anderen Mitteilungen zu machen, als um zum eigenen Vergnügen laut zu denken; die Journalisten aber, welche nicht immer die tiefsten Denker sind, machen ihre Reflexionen am lautesten von allen Menschen, und ihr Beruf hat sie dazu ausgebildet, vornehmlich das zu denken, was ihre und ihrer Leser Eigenliebe im Moment am meisten kitzelt. Über­

dies ist es leider sehr verführerisch, von denen, mit denen man schlecht steht, schlecht zu denken. Dies Geschäft über­ nehmen die Zeitungen für sich und für ihr Publikum. Die unzerstörbare Naivetät der Menschen bleibt an der Vor­ stellung haften, daß die Blätter geschrieben würden, um über Thatsachen und Verhältnisse zu belehren. In Wahr­ heit werden sie geschrieben, um zu unterhalten, und nichts ist so unterhaltend wie üble Nachrede — die laute gegen die Feinde, die leise gegen die Freunde. Seitdem die Politik in das Zeichen der Nationalität eingetreten ist, hat die gegenseitige Völkerverlästerung einen ungeheuren Aufschwung genommen. Das an sich wohl­ berechtigte Prinzip ist zu solchen Extremen getrieben wor­ den, daß man den Moment kommen sieht, wo es sich über­ schlagen wird. Nach dem Vorgang der großen Nationali­ täten, welche alte Kulturen tragen und verkörpern, wird jetzt für die kleinsten, kaum definierbaren, halb barbarischen Gruppen die Selbstherrlichkeit gefordert. Nicht zufrieden mit der Unabhängigkeit des Vaterlandes nach außen, gräbt man im Innern desselben nach nationalen Wurzeln, um auf dem eigenen gemeinsamen Boden möglichst viel Ele-

330 mente befehden, verdrängen, unterdrücken und isolieren zu können. Man sollte denken, die sozialistische Bewegung, welche jetzt im Auffteigen begriffen ist, müßte als ihrer Natur nach humanitarisch, d. h. kosmopolitisch, die natio­ nale zurückdrängen, und die Logik der reinen Kommunisten erkennt das auch an. Aber wo einmal die Freude am Hassen sich der Gemüter bemeistert hat, greift sie nach jed­ wedem Gefäß, um ihren Durst zu stillen. So sehen wir in Deutschland eine Sekte sich breit machen, die es fertig: bringt, einen extremen Nationalismus mit Sozialismus zu verquicken, — Wasser mit Feuer; freilich weil es ihr im

Herzen so wenig um das eine wie um das andere zu thun und das Ächten und Verachten ihr Hauptsache ist. „Die Sektiererei ist so recht für die Lumpen gemacht, denn sie giebt ihnen eine Konsistenz, die sie ans sich selbst niemals schöpfen könnten." So schrieb schon vor hundertundzehn Jahren der Abbate Galiani. Man hört so oft die Frage aufwerfen: was soll aus der Menschheit werden, wenn die Vermehrung der bewaff­ neten Macht zu Land und zu Wasser sich wechselseitig steigernd immer so weiter geht und das Mark der Völker aufzehrt? Ehrwürdige Leute, welche sich nicht schämen für Illusionäre zu gelten, versuchen immer wieder, Vorschläge zu allgemeiner Abrüstung auf die Tagesordnung zu setzen. Wie wäre es, wenn einmal die Journalisten an dem

Apparat des Völkerhasses abzurüsten versuchten? Liegt doch ohne Zweifel in ihm eine der Hauptursachen, welche zur ewig wachsenden Höhe der eisernen Rüstungen hin­ drängen! Man wird den Gedanken, daß eine solche Mahnung Gehör finden könne, ebenfalls für eine blanke Illusion er­ klären. Wer auch dürfte hoffen, er besäße die Stimme, in diesem wüsten Wortgetöse sich vernehmbar zu machen?

331 Vor allem erhebt jeder, an den man sich wendet, die Ein­ rede: „der andere hat angefangen!" Frage man in Deutsch­ land, in Frankreich, Rußland, überall stößt man auf die Antwort: „nicht wir sind die Schuldigen, jene draußen sind es". Aus diesem vitiösen Zirkel giebt es offenbar nur den einen Ausweg, daß jeder bei sich anfange, ohne zu fragen, was der andere thut. Wo jeder den anderen an­ klagt, darf auch jeder sich sagen, daß er nicht ganz von Sünden frei sein wird. Und wo jeder Partei ist, kann niemand Richter sein. Das Hauptunglück kommt daher, daß die meisten Jour­ nalisten morgens, mittags und abends die Zornesaus­ brüche ihrer ausländischen Kollegen lesen, sich ganz davon erfüllen und durch eine nur zu natürliche Reflexbewegung der Nerven getrieben werden, mit gleicher Münze heimzu­ zahlen, ja, dies für ihre heiligste Pflicht halten. O! es geschieht alles im besten Glauben; das ist eben das Un­ glück. Und wenn die Journalisten sich zanken, meinen die Völker sich in den Haaren zu liegen. Es würde einem, der selbst die Feder führt, schlecht anstehen, geringschätzig von der Presse zu reden. Aber dennoch möchte ich einem jeden, der sich über einen Zeitungsartikel erbost und zu neuer Bosheit fortreißen läßt, die schöne Geschichte wieder­ holen, die Alfred de Muffet von sich erzählt. Eines Tags, da seine große Verstimmung einem alten englischen Herrn auffiel, frug ihn dieser nach der Ursache. Muffet erwiderte, ein Journal habe ihn schändlich angegriffen, worauf der Engländer in seinem gebrochenen Französisch ausrief: Qu’est-ce qu’un Journal? Un Journal c’est une Jeune homme. „Was ist ein Journal? Ein Journal ist eine junge Mensch!" Und wie viele solche junge Menschen giebt es auch unter den ältesten ihres Geschlechts! Die deutschen Journalisten und deutschen Leser be-

332 schäftigen sich viel zu sehr mit auswärtigen Dingen. Das ist noch eine der schädlichen Erbschaften unserer erst halb überwundenen politischen Krähwinkelei und unserer noch

gar nicht überwundenen geistigen Zersplitterung. Wer den Deutschen etwas sagen will, ist noch heute sicherer es ihnen überall zu Gehör zu bringen, wenn er es in die „Times" oder in den „Temps" setzt, als in irgend ein deutsches Blatt. Unsere Zeitungen bringen regelmäßig nicht nur die

in den Parlamenten, sondern auch die in den Fraktionen gehaltenen Reden der französischen Abgeordneten. Noch niemals, darauf kann man jede Wette eingehen, hat ein fremdes Blatt erzählt, was in einer Berliner Fraktion ge­ sprochen worden ist. Ja! wenn Jules Simon in einer Fraktion spricht, ist er viel sicherer durch die „Französische Korrespondenz" in die Berliner Blätter zu kommen, als Gneist an Ort und Stelle. Wer kennt nicht Jules Simon in Deutschland? Wer außer den Gelehrten des Fachs kennt Gneist in Frankreich? Und doch steckt in Gneist zehn­ mal mehr wie in Simon. Als jüngst der Lordmayor von London „unserem" Stöcker die Erlaubnis im Stadthause zu reden wieder ent­ zog, erklärte er, bei der ursprünglichen Zusage gar nicht gewußt zu haben, wer Stöcker sei. „Who is Stoecker? Wer ist Stöcker?" rief er, „ich hatte keine Ahnung!" — Für Deutschlands Ehre wäre es besser gewesen, er hätte es nie erfahren. Aber nehmen wir an, es gäbe in England eine so seltsame Figur, d. h. einen am Morgen vor dem Hof predigenden und am Abend in vorstädtischen Bierlokalen agitierenden Geistlichen, unsere kleinsten Dorfzeitungen hätten sein Bild schon lange in ihrer Sonntagsbeilage gebracht. Dies Erbübel ist zu einem guten Teil mit Schuld daran, daß unsere Presse immer mit dem Ausland „ver­ zankt" ist." Die Selbstverleugnung ihrer kosmopolitischen Neugierde gleicht sie dann durch die Übertreibung ihres

333

nationalen Selbstgefühls wieder aus. Das ist „ein Schwören, Rasen, Poltern" ohne Ende. Und zu welchem Zweck? Allerdings, es schafft Erleichterung von dem Unwillen, den man über das Schwören, Rasen, Poltern des andern Teils empfunden hat. Aber wenn es vergönnt wäre, von der Fiktion auszugehen, daß die Presse da sei, um bessernd auf Menschen und Zustände zu wirken, so müßte man doch zu erwägen geben, ob die Leute durch die Grobheiten oder Bosheiten, die man ihnen an den Kopf wirft, gebessert werden, auch wenn sie noch so unrecht haben. Wir sind nicht bloß Jahr aus Jahr ein mit Frank­ reich und Rußland verzankt, sondern mit der halben Welt. Es giebt ein paar große deutsche Blätter, die stets mit Haß und Verachtung gegen die Engländer geladen sind, die respektabelste Nation der Welt, die uns weder liebt noch haßt. Und warum dies? zu welchem Zweck? das hat noch niemand ergründen können. Aufmerksamen Zeitungslesern wird es nicht entgangen sein, daß deutsche Korrespondenten in fremden Ländern beinahe immer gegen die Regierung des Landes, über das sie berichten, Partei nehmen, statt sich objektiv zu verhalten, wie Fremden natürlich ober mindestens geziemend wäre. Wenn wir von diesem Hader nach außen noch wenigstens das hätten, daß wir etwas brüderlicher nach innen empfänden; wenn wir wenigstens die Lehre des Evangeliums verwerteten, wie jener Kapuziner: „Liebet Euch unter einander, denn wer sonst, zum Teufel, soll Euch lieb haben?" Aber selten ist Deutschland so in Uneinigkeit zerrieben gewesen, wie seitdem es „ein einig Volk von Brüdern" geworden. Wir hätten doch einen besonderen Grund, das Bei­ spiel der Mäßigung zn geben. Deutschland ist Sieger ge­ wesen und ist heute jedem einzelnen gegenüber gewiß der Stärkere. Lassen wir das Aufbrausen denen, die ihren,, wenn nicht gerechten, so doch begreiflichen Groll noch zu.

334 verwinden haben. Die „große Politik" kann ja manchmal in ihrer Weisheit es für nützlich halten, einen „Krieg in Sicht-Artikel" loszulassen, dafür hat sie dann ihre eigenen Organe. Wenn ich aber die Ehre hätte, ein großes un­ abhängiges Blatt zu redigieren und es würde ein solcher Dienst von mir verlangt, so würde ich die Antwort geben,

welche der Aufseher des zoologischen Gartens in Frank­ furt a. M. dem Bedienten der Baronin Bethmann gab.

Dieser richtete nämlich im Namen seiner in der Nähe wohnenden Gebieterin den Auftrag aus, der Hirsch, welcher — sei es aus Zahnschmerzen oder aus Liebesschmerzen — so sehr schrie, möchte zum Schweigen gebracht werden. „Bitte", lautete die Antwort, „kommen Sie doch herein und sagen Sies dem Hirsche selbst". Die Tagespresse hat viel zu thun, aber sie thut noch mehr als man von ihr verlangt. Dazu gehört das Wieder­ geben und Widerlegen aller Invektiven, welche irgend ein auswärtiges Blatt — manchmal ein ganz obskures — los­ läßt. Es wäre besser und würde viel weniger Arbeit machen, wenn man sich darauf beschränkte, das hervorzu­ heben, was zur Beruhigung beitragen kann; der militärischen Kriegstüchtigkeit würde das keinen Eintrag thun. Am nächsten Weihnachtstag werden wir, wie alljährlich, an dem Kopf jeder Zeitung einen Schulaufsatz finden, voll Orgelton und Glockenklang, überschrieben: „Freude im Himmel und Friede auf Erden." Darin wird er besungen und be­ lobigt der liebliche Knabe gelagert am ruhigen Bach. Ich möchte einen Vorschlag zur Güte machen. Einmal im Jahr ein Donnerwetter zur Erleichterung der kriegerischen Journalistenbrust, und die übrigen 364 Tage möglichst viel von dem, was zur Besänftigung der Nationen gereichen könnte, die doch schließlich alle dieselben menschlichen Fehler .und Tugenden mit sich herum tragen.

Dunkle Vorstellungen*) sind meines Wissens nur in den Theatern Deutschlands eingeführt. In Italien, Frankreich und England weiß man nichts davon und würde man sie auch nicht ertragen. Bei uns sind sie noch nicht seit einem Menschenalter eingebürgert. Ehe die Gasbeleuchtung im Gebrauch war, konnte das Aufund Abschrauben der Massenflammen nicht hergestellt werden. Der erste Versuch, den der Intendant der königlichen Schau­ spiele am letzten Montag gemacht hat, seinen Zuschauer­ raum mit einer festlich geschmückten Menge zu füllen, hat die Aufmerksamkeit auf diese eigentümliche Sitte gelenkt, und schon um deswillen sollte man ihm für denselben dank­ bar sein. Auf den ersten Hieb scheint ja die Sache miß­ glückt zu sein, uud manchmal ist gerade der erste Hieb ent­ scheidend. Aber — ob mit besserem Erfolg oder nicht — die Versuche werden fortgesetzt werden, und ob man ihnen hold oder abhold gesinnt sei, sie werden Anlaß geben, mehr als einen Seitenblick auf die Theaterordnung und alles,

was damit zusammenhängt, zu werfen, so daß ein Ge­ winn übrig bleibt. Wenn wir bei dieser Gelegenheit die dunklen Vorstellungen los werden könnten, so *) Aus der „Nation" vom 14. Januar 1888.

336 wäre

das

ganz entschieden ein solcher.

Ich

weiß,

die

Wagnerianer wird man nicht dazu bekehren, denn der Meister hat es so gewollt, und man braucht nicht einmal zu fragen: wer weiß, was er gewollt? wie es am Ende des Burschenschaftliedes heißt. Man weiß es ganz genau. Über

Religion läßt sich nicht streiten, und das Wagnertum ist Religion. Daß Dunkelheit zum Mysterium gehört, ist selbst­ verständlich. Unsichtbares Orchester, unsichtbare Zuhörer, unsichtbare Mächte und noch etliche andere Unsichtbarkeiten tragen zur Steigerung dunkler Gefühle bei und haben ge­ wiß das ihrige gethan, der Bayreuther realistischen Romantik den Weg zu bahnen. Neben der Wagner-Religion hat noch eine zweite zur Verdunkelung der Vorstellungen mit eingesetzt, nämlich die Religion der Meininger. Ist es dem Wagnerischen Sinn mehr um die nächtliche Dämmerung im Bereich der Zuhörer zu thun, so handelt es sich bei dem des Meiningers um die möglichst große Helligkeit auf der Bühne. Wenn der Zuschauer ergötzt werden soll durch die echte Ziselierung einer römischen Vase im Schlafzimmer Cäsars, so muß ein grelles Licht auf die Bühne fallen, und zwar auf die Bühne allein, damit alle die einzelnen Neben­ sachen, welche hier zur Hauptsache gemacht sind, um so wirkungsvoller zur Geltung kommen. Diese beiden Religionen und ihr Kultus sollen also unbehelligt bleiben. Ich fühle mich ihnen gegenüber so profan, daß mir nicht beikommt, mit ihnen rechten zu wollen. Aber lasset uns andere als gewöhnliche Menschenkinder menschlich miteinander reden. Graf Hochberg hat ganz ge­ wiß recht, wenn er meint, ein Schauspiel werde dadurch erhöht, daß alles dabei Mitwirkende harmonisch ineinander greife, und daß vollends die große Oper geradezu nach solcher Harmonie schreie. Mitwirken, sage ich, und mit vollem Bewußtsein. Denn wirken nicht die Zuschauer mit?1

337 Was braucht es mehr als das Zitat aus dem Buch der

Bücher: „Die Damen geben sich und ihren Putz zum Besten Und spielen ohne Gage mit."

Ja, sie spielen mit, sie sollen mitspielen, und auch wir anderen, wir — wenn wir nicht Offiziere sind — unschein­ bar gekleideten Männer sollen mitthun, denn was wären sonst — in aller ihrer Herrlichkeit! — die Damen? Ein

Theaterstück kommt nur dadurch zur Existenz, daß es vor einer Menge aufgeführt wird, an deren nicht individuali­ siertem, sondern an deren Kollektivbewußtsein es seine Strahlen bricht. Man frage nur die Schauspieler! Sie müssen dieses Mitwirkens von der andern Seite so fort­

während teilhaftig werden, daß sie ohne Beifallsbezeugungen nicht gut spielen können. Die Rachel versicherte, daß' ihr selbst der Schein dieses Beifalls, die bezahlte Claque, un­ entbehrlich sei. Und nicht bloß dem thätigen Teil, dem „Akteur", geht es so, auch dem passiven, dem Zuschauer. Aus dem einzigen Umstand, daß König Ludwig II. für sich allein Vorstellungen geben ließ, drängt sich schon unver­ meidlich der Rückschluß auf, daß er kein normaler Mensch war. Das Theater läßt sich nur in Gemeinsamkeit mit der großen Zahl genießen. Alle seine Eindrücke gelangen erst dann zu ihrer vollen Bestimmung, wenn sie elektrisierend die Kette der Zuhörer durchschüttern und dieselben zu einem in potenzierter Erkenntnis und Empfindung verbundenen Gesamtwesen verschmelzen. Die Sinne, Auge und Ohr, durch welche das Theater auf die Menge oder richtiger mit der Menge zusammen­ wirkt, verlangen dabei natürlich ihre Befriedigung vor allem aus dem Born der Schönheit, am meisten aber gerade in der Oper. In dieser soll das Höchste geleistet werden, was die Phantasie durch den Zauber der Erscheinung und der Ludwig Bamberger's Ges. Schriften.

I.

««

338 Töne in Schwingung setzen kann. Was ist natürlicher, als das Verlangen, den Einklang damit auch im mitspielenden Publikum herzustellen? Es ließe sich viel über den Maßstab, der hier anzu­ legen ist, sagen. Doch würde das zu weit von meinem Endzwecke ableiten, welcher dahin geht, zu zeigen, daß ein festlich geschmücktes Auditorium bei unseren während der Vorstellung verdunkelten Häusern ein Unsinn wäre. Der gebildete Mensch kommt doch höchstens fünf Minuten vor dem Aufrollen des Vorhangs. Es gehört zu den kostbarsten Vorzügen unserer Bühnengewohnheiten, daß wir nicht die tötend langen Zwischenakte haben, welche z. B. in Paris zum unerläßlichen Anstand gehören, damit nicht Gott be­ wahre die Vorstellung vor Mitternacht zu Ende sei. Es ist zu fürchten, daß, wenn die geputzten Abende durchgreifen, die Zwischenakte länger werden, wenn nicht die wahre Hilfe kommt in Gestalt des Lichts auch während des Akts. Un po piü di luce! das ist der Ruf, den Graf Hochberg bei dieser Gelegenheit erhören sollte. Oder meint er wirklich, eine Dame werde zwei Stunden lang Toilette machen, um in zwei oder drei Zwischenakten zehn Minuten lang ange­ sehen zu werden? Mit zwei Stunden trete ich gewiß keiner zu nahe, es ist ein gutes Durchschnittsbedürfnis, das hier zu Grunde gelegt ist. Und warum sollte dieses Dunkel nicht gelichtet werden? Ich behaupte, das Verdunkeln des Zuschauerraums ist nur nebenher der Absicht entsprungen, durch den Gegensatz die Erscheinungen der Bühne in möglichst helles Licht zu setzen. Zwei andere Beweggründe haben mitgewirkt, zunächst ein

rechnerischer, die Ersparnis von Gas und dann ein pädago­ gischer, die Erzwingung der Aufmerksamkeit. Letzterer spielt ohne Zweifel die Hauptrolle dabei; damit stimmt auch der Umstand, daß wir es hier mit einer deutschen Erfindung

339 zu thun haben. Der Deutsche ist vor allem ein geduldiger Schüler. Geduldig über die Maßen und ein Schüler seine lieben Lebtage lang. So sagt ihm denn der Schauspieldirekor beim Eintritt in sein Haus: mein Sohn, oder meine Tochter, du wirst dich während der Schule jetzt nicht mit Allotris abgeben, und um dessen gewiß zu sein werde ich dich nötigen, während des Unterrichtes unverwandten Auges auf die Bühne zu schauen, wie du in der Klasse auf die schwarze Tafel schautest (oder auch nicht), wenn der Herr Lehrer eine geometrische Figur explizierte. Natürlich lächelte ein solcher pädagogischer Brauch ganz besonders den Meiningern, die sich einbilden, das Publikum zu erziehen, und dem Meister Wagner, welcher wußte, daß man das Publikum tyrannisieren muß, um ihm zu imponieren, be­ sonders in Deutschland. Und so ist in Ausbildung dieses

Unwesens glücklich das schöne Ziel erreicht, daß mir ver­ boten ist, mein Auge, so lange gespielt wird, auch nur eine Minute lang mit etwas anderem als den Vorgängen auf der Bühne zu beschäftigen. Ich muß zusehen, wie die zwei als Löwen verkleideten Buben in der Zauberflöte ihre Späße aufführen, wie die Hohepriester ihre Tuba feierlich vor sich aufpflanzen, wie Almaviva mit Rosine am Klavier tändelt, während Bartolo hinausgelaufen ist, oder wie Kaspar die Kugeln gießt, während die Eule mit den Flügeln schlägt; nichts wird mir erlassen, was dem kleinen heute zum ersten­ mal ins Theater geführten Mädchen unbändige Freude macht, was mich alten Menschen aber schon etliche dutzendmal zur Verzweiflung gebracht hat. Und während ich als braver Schüler hier Acht geben muß, möchte ich lieber als unbraver die nette Dame da drüben ansehen, die sich auf Wunsch der Intendantur heute extraschön gemacht hat, aber nun in Dunkelarrest sitzt und sich langweilt wie ich. Und giebt es keine Sänger, die schlecht spielen, keine Sängerinnen,

22*

340 die man als Julie viel mehr genießt, wenn man statt ihrer irgend eine hübsche Zuschauerin fixiert? Die alt gewordene Persiani oder die dick gewordene Alboni machten ihren Be­ wunderern noch immer Freude, weil diese nicht gezwungen waren, sie anzusehen, wenn Don Giovanni sie zur Laube einlud, wo ihr schönstes Stündchen schlüge. Es ist auch auf den Bühnen anderer Länder vollauf hell genug, um die Herrlichkeiten des Madrider Ballets und das Minenspiel der Comedie frangaise bis auf die letzten Feinheiten zu

genießen, und die Dunkelmacherei in unseren Theatern ist in Wahrheit heller Unsinn.

Will Graf Hochberg seinem Versuch nicht von vorn­ herein das Lebenslicht ausblasen, so muß er diese schul­ meisterliche Pedanterie abschaffen. Daß ihm dann gelingen wird, die „Gesellschaftsabende", ich darf nicht sagen einzu­ bürgern, denn sie sollen ja das Gegenteil von bürgerlich sein — möchte ich darum noch nicht garantieren. Eine Opernvorstellung, die mit allem Luxus einer reich ge­ schmückten Damenwelt ausgestattet ist, hat unleugbar einen großen Reiz und leistet, wenn die Hauptaufgabe darüber nicht hintangesetzt wird, erst damit das Vollmaß dessen, was sie leisten kann. Vielleicht aber liegt dann die Gefahr nach der anderen Seite, daß die Frivolität die Oberhand gewinnt. In Italien ist die Oper so sehr eine Geselligkeits­ anstalt, daß man das Schwatzen als die Hauptsache be­ trachtet und durch die Sänger darin gestört wird. In Paris ist die Oper unter dem Glanz der Ausstattung auf der Bühne wie im Zuschauerraum musikalisch gewaltig zurückgegangen. Die Damen machen ihre Toilette auch nicht für die Vorstellung allein, sondern für die Gesellschaft, in

welche sie nachher gehen. Wie steht es aber in Berlin mit der Gesellschaft? Eine kitzliche Frage! Ob überhaupt eine Gesellschaft aufkommen kann, wo die militärische Uniform

341 dem Ganzen ihr Gepräge aufdrückt? wo Sporen und Säbel mit ihrem allbeherrschenden Klirren sich vordrängen? wo man beispielsweise heute den Damen empfiehlt, in aus­ geschnittenen Ballkleidern im Parket zu erscheinen, während

derselbe Platz zu gemein erklärt wird, um auch nur einen Lieutenant oder Kadetten zu beherbergen? Wenn die Oper elegantes Publikum im ersten Rang haben wollte, so müßte

sie zunächst doch Platz machen für dasselbe, Platz für die Damen, denen jetzt der Zutritt auf ein Minimum beschränkt

wird dadurch, daß es für einen Mann in Uniform nicht standesgemäß erscheint, sich ebener Erde zu zeigen. Um einen großen Theatersaal zu füllen, braucht man die große Zahl, und wenn man den Anspruch an sie erhebt, daß sie

sich „schön mache", so muß man ihr die Gleichheit dafür einräumen. Aber wie weit sind wir noch entfernt von der praktisch durchgeführten Erkenntnis, daß zu einer wahren guten Gesellschaft die Gleichberechtigung aller Menschen von Bildung und Geschmack gehört. Dünkel von oben und Unterthänigkeit von unten halten alle Elemente, aus denen

ein höherer Verkehr sich ernährt, noch viel zu sehr in Banden, und wir bekommen vielleicht noch eher Gesellschaftsabende in der Oper, als eine Gesellschaft überhaupt. Schaffte man uns inzwischen etwas mehr Licht auch während der Vor­ stellung, so wären wir wenigstens ein Stück vom Schul­ meister los, der eine unserer größten Plagen geworden ist,

seitdem er es zum Reservelieutenant gebracht hat.

Die Aera Ser Toaste/) Im zweiten Viertel dieses Jahrhunderts lebte zu Paris mit Namen Gerard de Nerval. Uns Deutsche darf er besonders interessieren, weil er mit Liebe und Geschick viele unserer klassischen Dichterwerke, auch den Faust, ins Französische übersetzt hat. Diese Arbeiten und mehr noch die Originalität seines persönlichen Wesens brachten ihn in den Ruf eines Genies, aber freilich eines Genies von jener bedenklichen Gattung, die aus Überfluß an Geist ein

Schriftsteller

mit der prosaischen Führung des Lebens nicht fertig wird und schließlich verbummelt. Zuletzt verfiel er dem Trunk, wie merkwürdiger Weise einige andere hervorragende Poeten seiner Nation; und eines Morgens fand man seine Leiche am Laternenpfosten eines verlorenen, jetzt verschwundenen Gäßchens, der nie de la lune, wo er sich in einer dunklen Winternacht aufgehängt hatte. Man erzählt allerhand schnurrige Geschichten von ihm. Eine kam mir jüngst wieder ins Gedächtnis, als ich las, ein beredter Mund hätte bei

einem Gastmahl der Journalisten den Ausspruch gethan: alle bestehenden Parteien hätten sich überlebt, oder wie eine Zeitung das später frei übersetzte, sie seien zu altem Trödel *) Aus der „Nation" vom 21. Dezember 1889.

343 geworden. Wenn Gerard de Nerval in seiner noch guten Zeit eine Erholungsreise machen wollte, so mochte er sich nicht erst lange den Kopf über den einzuschlagenden Weg zerbrechen. Er ging an den Schalter des Bahnhofs, griff in seine Hosentasche, langte eine Handvoll Münzen heraus und legte diese dem Beamten aufs Zählbrett mit den Worten: „Geben Sie mir für mein Geld, Donnez-moi pour mon argent". In Paris giebt es fünf große Bahnhöfe, deren Linien nach den Hauptregionen in die verschiedenen Welt­ gegenden ausstrahlen. So konnte unser lustiger Patron noch immer sicher sein, daß er je nach dem Bahnhof in eine Gegend des Nordens oder Südens, Ostens oder Westens gelangen werde. Verlege man ihn aber mit seiner Laune in den Zentralbahnhof der Friedrichstraße, so würde die Methode noch viel abenteuerlicher. Nun scheint mir, daß der liebens- und bewundernswürdige Oberbürgermeister von Frankfurt, der den oben erwähnten Toast ausbrachte, den deutschen Wählern und Gewählten einen Rat erteilt, welcher dazu angethan wäre, sie stark auf die Fährte des genialen Franzosen zu verlocken. Zur Zeit als Herr Windthorst noch das Zentrum re­

gierte, pflegte er, wenn die Reichsregierung mit einem neuen Ansinnen hervortrat, den Schwerpunkt seiner Gegen­ rede in den Ausspruch zu legen, daß er erst wissen möchte: wohin die Reise geht. Mit diesem Programm, welches un­ gefähr das Gegenteil sagt, wie das neueste Motto des Herrn Miquel, hat Herr Windthorst über ein Jahrzehnt lang seine großen parlamentarischen Schlachten geschlagen und in einem langen, zähen Feldzug den Kanzler mitsamt seinem treuesten

Anhang besiegt. Allerdings diese schönen Zeiten sind auch für Windt­ horst vorüber. Nachdem er den Kanzler im Kampf um Rom überwunden, hat auch er den Wechsel des Kriegsglücks

344 über dem Kampf um Kornzölle und Branntweinliebesgaben

Er darf jetzt nicht mehr so laut fragen,

erfahren müssen.

wohin

die Reise

geht; es

könnten

sonst die stattlichsten

Mannen in seinen eigenen Reihen zu meutern anfangen;

und manchmal muß er ein Auge zudrücken, um den Weg, den die Reise

einschlägt,

Als er ver­

nicht zu erkennen.

meintlich den Pfad der Begeisterung für die Befreiung der

Sklaven betrat, stellte sich alsbald heraus, daß er nur ein Hülfsheer für die Zöllner des Sultans von Zanzibar auf die Beine gebracht hatte; er hatte gedacht mit dem Kardinal

Lavigerie in See zu stechen und erwachte an Bord an der

Seite des Herrn Direktor Vohsen von der Ostafrikanischen

Gesellschaft. Zu den Bräuchen

vieler

afrikanischen Stämme, mit

denen wir uns aus nationalen Gründen jetzt immer mehr beschäftigen müssen, gehört es bekanntlich, auf dem Grabe

eines ansehnlichen Toten eine Zahl seiner lebenden Ange­

hörigen abzuschlachten.

Bei

dem Leichenfeste, welches der

berühmte Parlamentarier in Frankfurt an den alten über­

lebten Parteien veranstaltete, durfte es auch an einer solchen Hekatombe nicht fehlen; und so schwang er, im Zuge wie

er nun einmal war, sein blinkendes Opfermesser auch über

das Parlament selbst. dumm.

Herr Miquel

Man lege es also zu den Toten!

damals,

hatte

Er meinte, es mache seine Leute

bestimmte

wie ganz unzweifelhaft

Absicht,

zum

nächsten

feststeht,

Reichstag

noch die

kein Mandat

mehr anzunehmen, und so war es eigentlich nur konsequent, wenn er mit diesem, wenn

wenig verbindlichen

auch

für seine Vergangenheit

Bekenntnis von

der

Bühne

abtrat.

Denn: Willst du dir ein hübsch Leben zimmern,

Mußt dich ums Vergangene nicht bekümmern.

Inzwischen hat der Urheber jener beiden drastischen Sätze

sich, wie glaubhaft erzählt wird, von einer gewiß unwider-

345 ftehlichen Autorität bestimmen lassen, seine bewährte Kraft auch dem kommenden Reichstag nicht zu entziehen, und man kann auf den Gedanken verfallen, daß gerade seine geringe Meinung von den alten Parteien und von der parla­ mentarischen Weisheit zur Erhöhung des Vertrauens in seine künftige Wirksamkeit beigetragen hat. Die kleine Ver­ legenheit, welche solches Dilemma einem Durchschnitts­ menschen bereiten könnte, wird er spielend überwinden. Eine abgethane Vergangenheit hinter sich und einen Reiseplan in unentdeckte Länder vor sich, was könnte es für einen unter­ nehmenden Politiker Schöneres geben? Wir breiten nur den Mantel aus, Der soll uns durch die Lüste tragen.

Du nimmst bei diesem kühnen Schritt Nur keinen großen Bündel mit.

Ein bischen Feuerlust, die ich bereiten werde, Hebt uns behend von dieser Erde.

Und sind wir leicht, so geht es schnell hinauf; Ich gratulier' zum neuen Lebenslauf.

Ernsthaft, wie ich nun leider einmal bin, hab ich mir die Frage vorgelegt, ob man auf einen Trinkspruch so großes Gewicht legen dürfte, um daran gewissermaßen Betrachtungen über die Einweihung einer neuen Ära in der Entwicklung

des deutschen politischen Lebens zu knüpfen. Die Toaste, welche, wie schon das Wort sagt, aus England stammen, obwohl ihr Ursprung bis ins graue Altertum zurückführt, genießen auf jenem ihrem klassischen Boden eine Art von Freibrief. Was ein Mann in einem Afterdinnerspeech gesagt hat, soll ihm am folgenden Tage nicht mehr bei Heller und Pfennig vorgerechnet werden. Auch ist, was insbesondere die Aussage von der verdummenden Gewalt

des Parlamentarismus betrifft, noch zu beherzigen, daß sie vor einer Tafelrunde von Journalisten von einem der ersten

346 deutschen Parlamentarier

über alle Künste,

gethan

worden.

Dieser verfügt

aus denen die Kunst der Rede sich zu­

sammensetzt, ich wüßte nicht eine,

die ihm fehlte.

Dazu

Ich denke nicht schlecht von

gehört auch etwas Koketterie.

ihr, sonst würde ich das nicht so offen sagen.

Mit Maß

und Geschmack einem Schatz von guten Gaben beigemischt, trägt sie zum Reiz des Verkehrs nicht nur unter den beiden

verschiedenen Geschlechtern bei.

Sie ist eine jener Würzen,

die ihren Adel dadurch bekunden, daß sie nur in der aller­

feinsten Qualität oder gar nicht genießbar sind.

Nun ist

es gewiß schon ein Zug artigster Koketterie, wenn ein Mann, der die reichsten Lorbeeren

in

parlamentarischen Gefilden

gepflückt hat, von der verdummenden Luft der Parlamente spricht.

Thut er das aber gar vor einer Galerie von an­

geheiterten Journalisten, so ist er sicher, seinen Effekt aufs

Höchste zu steigern, denn der Journalist ist

mentarier im Innersten seiner Seele — sagen gerade hold.

wir:

nicht

Beide Teile stehen in einem Verwandtschafts­

verhältnis, sie sind

auf

einander angewiesen, aneinander­

gekettet, und daraus erklärt sich, wie Falschheit.

dem Parla­

so oft, das bissele

Die Journalisten der Parlamente gar, die Be­

richterstatter, die sitzen oben auf der Galerie und schauen auf uns herab und müssen — fragt

— nachschreiben, was wir sagen.

denken, wenn sie

mich nur nicht wie?

Will mans

den Kopf schütteln

ihnen ver­

oder selbst fluchen?

Und daß die Leute, welche einen so aus der Nähe beob­ achten, mehr Dummheit sehen als andere, ist auch bekannt.

Ob sie recht haben? ist ja eine andere Frage.

Wenn sie

unten säßen, würden sie es wohl auch nicht besser machen,

besonders in einem deutschen Parlament.

Denn kein Wesen

macht eine so alberne Figur, wie eines, das nur der Schein von dem ist, was es sein soll.

Machtlosigkeit mit dem Schein

hoher Stellung verbunden ist ein trübselig Ding.

Aber so

347 meint es Herr Miquel ja nicht. Was ihm dumm und verdummend vorkommt, ist etwas ganz anderes, eigentlich

das Gegenteil, mit einem Wort die Mühe, welche sich die Menschheit seit Jahrtausenden giebt, Freiheit und Ge­ rechtigkeit gegen Macht und Ungerechtigkeit durchzusetzen. Und wo ließen sich solche Gegensätze leichter über­ springen als bei Toasten? In England gehen sie seit alter Zeit neben dem parlamentarischen Brauch begleitend ein­ her, aber wohl niemals hat man den Versuch gemacht, sie

an die Stelle der parlamentarischen Autorität zu setzen. Deutschland hingegen steht gegenwärtig recht eigentlich unter dem Zeichen der Toaste. Man kann das schon an äußer­ lichen Merkmalen erkennen. Thue man nur einen Blick in die Zeitungen; die telegraphischen Eilberichte aus dem Reichstage werden in kleiner Schrift gedruckt, die Toaste aber in möglichst großer. Sie drängen sich vor alles andere mit fettglänzenden Buchstaben hervor. Nun ist es ja um Fest und Freude eine schöne Sache. Glockenklang und Gläserklingen, Lichterglanz und Fahnen­ schmuck sind nicht zu verachten, und bescheiden, wie die Menschheit einmal ist, — so bescheiden, wie sie jetzt bei uns ist, war sie seit lange nicht mehr gewesen — erbaut sich die große Zahl derer, welche nicht mit zur Tafel gezogen werden, schon an dem Studium der ausführlichen leckeren Speisekarte, sogar dann, wenn nicht die vaterlandslosen Saucen als deutsche Tunken eingetragen sind. Ob man das nun gut finde oder schlecht, ob mans als eine tiefgehende Bewegung oder als eine Tagesmode ansehe, so viel steht fest: die Erscheinung ist eine herrschende, und wer sich über sie forthelfen wollte mit der Deutung, daß sie von einzelnen gemacht, mehr oder weniger künstlich

erzeugt sei, würde in demselben Irrtum verkehren, welcher dem Gedanken zu Grunde liegt, daß ein großes Gemein-

348 wesen die Blüte seiner tausendjährigen Entwicklung einigen Tautropfen fürstlichen Wohlwollens oder selbst vielen Schweißtropfen bürgerlicher Oberleitung verdanke. Nein, wenn irgendwo im kindischen Spiel ein tiefer Ernst zu finden ist, so hier im inneren Zusammenhang zwischen der Ära der Jubelouvertüren, in der wir leben, und dem Be­ kenntnis von der Nichtigkeit aller Parteiunterschiede und der Thorheit parlamentarischer Sinnesweise. Es ist doch mehr als ein Zufall, daß die beiden so verschieden angelegten,

aber beide mit Recht sich hoher Ehren erfreuenden Re­ präsentanten des ehemals liberalen, behäbigen Bürgerstandes eine Zeitlang dem Parlamente den Rücken gekehrt hatten und erst wiederkamen, um an Stelle der Zeiten saurer Arbeit die Zeiten der frohen Feste setzen zu helfen. Man kann doch nicht sagen, daß gerade in der dazwischen liegenden Zeit, nämlich in der ersten Hälfte des laufenden Jahrzehnts, die Krönung des Gebäudes, an dem sie ihr Leben lang redlich mitgearbeitet hatten, so herrliche Fortschritte gemacht oder gar Vollendung erfahren habe. Sie selbst werden vielmehr kaum bestreiten, daß diese Arbeit zur Zeit ihres einstigen Ausscheidens abgebrochen und seitdem verworfen worden ist; und gerade diese Thatsache war daran schuld, daß sie sich entfernten. Es ist in der That saure Arbeit zu allen Zeiten gewesen, in deutschen Landen noch mehr als in den meisten anderen, den Druck der Jahrhunderte abzuwälzen, und die Arbeit ist immer saurer geworden, je

mehr die Energie auf Seiten des Bürgerstandes zurückging und auf Seiten seiner Gegner wuchs. Vor etlichen und zwanzig Jahren, nach den ersten großen Erfolgen des damals durchaus liberalen Bürgertums, pflegte Miquel mit Vorliebe einen Grundgedanken voran­ zustellen und zu beleuchten. Es entspricht ja seinem Phan­ tasie- und geistvollen Naturell, stets irgend eine Lieblings-

349 formet so recht aus ursprünglicher Tiefe mit überraschendem

Effekt zu Tage zu fördern. Wie heute die Formel von den veralteten Parteien, so war es damals die von der Grund­ verschiedenheit Deutschlands ost- und westwärts der Elbe. Der norddeutsche Bund war eben geschlossen, in Süddeutsch­ land tobte der Kampf zwischen den Gegnern und Anhängern Preußens. Es hatte gewiß die Originalität für sich, darauf hinzuweisen, daß der wahre Zwiespalt nicht zwischen Nord und Süd, sondern zwischen Ost und West bestehe. Und was noch mehr ist, die Formel war gar nicht so falsch. Nur war sie, wohlverstanden, so gemeint, daß die Aufgabe für uns Liberale sei, den Geist des Ostens mit dem Geist des Westens zu besiegen, nicht Hannover mit Schwaben zu bekämpfen, sondern beider vorgerückte politische Kultur sieg­ reich über die Elbe zu führen. Mit einigem Vergnügen, wenn auch nicht ohne einige Wehmut, denke ich noch jetzt an die Stunden zurück, da der farbensprühende Feuergeist uns jene neue Lehre vortrug. Schade nur, daß sie just ins Gegenteil verkehrt worden ist. Denn wenn mans kurz zusammenfasfen will, die Summe der inneren deutschen Ent­ wicklung ist heute die: der Osten hat den Westen besiegt. Und besiegt in des Wortes tiefster Bedeutung: der Geist des feudalen Ostens hat den Geist des bürgerlichen Westens unterjocht und zu seiner Anbetung herabgedrückt. In der Sprache des Tages nennt man das „Kartell". Das heißt die Junker des Ostens mit Gefolge ziehen in die Reichs­ festung als Sieger ein, und die Bürger des Westens blasen die liberale Musik dazu. Kapellmeister sind eben die beiden großen Parlamentarier. Wenn ich von den Junkern spreche, muß ich mich immer dagegen verwahren, als dächte ich ge­ ring von ihnen. Schon weil sie unsere Herren geworden sind, fällt mir das nicht ein. Es ist thöricht und ge­ schmacklos sich über seinen Herrn lustig zu machen, zumal

350 wenn er es selbst fehlt.

geworden ist dank der Eigenschaft, die uns

Auch hat man nie gehört bis jetzt, daß die weltlichen oder geistlichen Anführer des Ostens ihre Anhänger zu der Meinung bekehren wollen, ihre Partei oder ihre Partei­ grundsätze hätten sich überlebt und seien, in der Nähe be­ sehen, dummes Zeug. Im Gegenteil, den Moment, wo die Koryphäen des alten Liberalismus denselben für einen

„überwundenen Standpunkt" erklären, wählen die Koryphäen der verbündeten Junker und Klerikalen beider Konfessionen, um dem Reich die Rückkehr zu der seit einem Jahrhundert überwundenen Zunftordnung des Handwerks aufzudrängen.

Wenn man doch da einmal von „altem Trödel" reden und an die berühmte Formel: was wohl das Ausland dazu sagen möge? appellieren wollte! Das eben ist ja das Charak­ teristische an der nihilistischen Kartellpolitik, die gar keinen Inhalt hat, daß sie die Herrschaft des östlichen Feudalismus nicht wieder, sondern zum ersten Mal in Preußen, seit dem es besteht, ans Ruder gebracht hat. Preußen ist nie von den Junkern, sondern von seinen Monarchen und der Büreaukratie regiert worden. Die letztere aber hat neben manchen Fehlern auch große Vorzüge gehabt. Sie war im Grunde nie der Altertümelei ergeben und nie frivol, sie hat in ihren guten Zeiten dem modernen Geist, wenn auch in ihrer Weise, gehuldigt. Ihre guten Zeiten sind freilich vorüber, und wie ihr der Geist selbständigen Wissens und

strenger Sachlichkeit ausgetrieben worden, ist bekannt. Seitdem an Stelle der sauren Arbeit in den Reihen der Gesetzgeber wie der Büreaukratie die himmelhohen Zu­ kunftsprojekte getreten sind, ist ganz naturgemäß an Stelle der ruhigen Abwägung der Dinge auch der Posaunenton des Prophetentums getreten; und schließlich sind wir an dem Punkt angekommen, wo Festeslärm und Festesblendung

351 den Inhalt des politischen Lebens aufzusaugen drohen. In die Litteratur ist natürlich damit auch der Geschmack über­ schwänglichster Selbstverherrlichung eingezogen, und im Theater wird in des Wortes verwegenster Bedeutung unter

Pauken und Trompeten das Prophetenhandwerk mit allen seinen Kunstgriffen geübt. Warum auch nicht, wenn schon im prosaischen Tagewerk die Zukunftsmusik alles andere übertönt? Wir leben nur noch im Futurum. Der eine wirft sich mehr auf das einfache, der andere auf das fu­

turum exactum, die zukünftige Vergangenheit. Der eine legt die ersehnten Ziele aller Mühsal freiheitsgläubiger Generationen als überwundene Standpunkte zu den Toten, um auf feurigem Wagen in den Himmel aufzufahren, wo ungeahnte Probleme gelöst werden; der andere feiert die kümmerlichsten Anfänge von Versuchen als siegreich voll­ zogene Großthaten. Die nur noch auf dem Papier stehenden Paragraphen einer eng umschriebenen und hart umstrittenen Sozialgesetzgebung werden in stolzem Aufmarsch als die sicheren Vorboten einer gelösten sozialen Frage vor unseren Augen vorüber geführt; und in den Lederstrumpfgebilden der Kolonialromantik erscheinen die Lehmhütten afrikanischer Negerdörfer als die sicheren künftigen Rivalen hindostanischer Kultur, deren Entfaltung den Anfängen unserer eigenen um Jahrtausende vorangegangen ist. Schließlich, wenn die Zweifel aus der Nähe gar nicht zu bewältigen sind, muß der „Deutsche im Ausland" zu Hilfe kommen. Natürlich im möglichst fernen Ausland, weit weit über die See. Wenn die Salutschüsse im Hafen ertönen, wenn die Flagge lustig im Morgenwinde weht, wenn der Konsul an Bord kommt und beim Knallen der Champagnerstöpsel die Gläser klingen, wenn das unterseeische Kabel all dies Herrliche nach Hause berichtet, — wie klein und eng erscheint dann der Mann, der sich untersteht zu fragen, ob der draußen ge-

352 feierte Deutsche zu Hause hundert Millionen mehr oder weniger für eine Schlachtflotte aufzubringen nötig hat? oder ob was Besseres dafür geschehen könnte? Ein Kultus, der zur Ekstase drängt, braucht natürlich seine Idole; und wo Idole gebraucht werden, da stellen sie sich ein. Kein größerer Gegensatz kann gedacht werden, als zwischen dem hausbackenen Liberalismus der alten Schule und der Toastpolitik der neuen. Selbst der Gegensatz, der uns von den Ultras der Rechten trennt, ist nicht so un­ übersehbar. Es handelt sich da doch nur um hundert und etliche Jahre Entwicklung. Die Begeisterten der neuesten Richtung dagegen meinen, alles Alterstrebte sei entweder erreicht oder nicht erstrebenswert. Wir andern meinen, es sei noch wenig erlangt und schier noch alles zu thun. Jene meinen, wir ständen am Ende, wo uns scheint, wir stehen erst im Anfang. Der wohlerworbene Besitz von Freiheit und Gerechtigkeit als sichere Grundlage des politischen Da­ seins, das tägliche Brot eines emanzipierten Volkes ist, was uns noch fehlt. Es war einmal ein Mann, der liebte schlecht und recht mit Maß und Ziel auch sein Schnäpschen, und er hatte sich sein Vaterunser auf den einfachsten Ausdruck gebracht. Jeden Morgen betete er: „Lieber Gott, gieb mir heute mein täglich Brot, meinen Branntwein stell ich mir selbst." Haben wir erst einmal unser täglich Brot von Freiheit und Gerechtigkeit, so wollen wir für den Branntwein der Begeisterung schon selber sorgen.

Mersch unö Vrot^ oöe-r — Papier?*) _3n den neuesten Zeitungen

steht

zu lesen,

daß

künftig in den Seminarien für Volksschullehrer auch die Grundbegriffe der Volkswirtschaft gelehrt werden sollen. Wenn einstmals die Lehrer, welche man jetzt in die Semi­ narien zu diesem Zweck entsenden wird, wieder Lehrer herangebildet haben, die dann ihre Schüler mit diesen richtigen Begriffen versehen haben, und wenn diese Schüler zu Staatsbürgern herangewachsen sein werden, dann, o dann wird vielleicht manches besser sein als heute. Wir wollen uns dieses Gedankens schöne Stunde nicht trüben durch die Frage: welche Begriffe welcher Volkswirtschaft? Es werden ja die allermeisten von uns nicht mehr im rosigen Lichte wandeln, wenn die Halme dieser jetzt auszustreuen­ den Saat dereinst in Ähren prangen. Aber darum fühlen

wir uns berechtigt, auch etwas für die Gegenwart zu ver­ langen. Denn doch auch der Lebende hat bekanntlich ein Recht, und das vornehmste dieser Rechte ist das Recht zu leben. Zum Leben aber muß man essen. Man sollte denken, das sei eine schon jetzt anerkannte Wahrheit und vor allem ein fesfftehender Begriff der Volkswirtschaft. Und *) Aus der „Nation" vom 15. November 1890. Ludwig Bambergers Ges. Schriften.

I.

354 dennoch könnte man sich zufrieden geben, wenn einstweilen, bis zu jener entfernten Zukunft, diese Wahrheit anerkannt würde. Aber nicht in den Seminarien, denn bis sie aus

diesen wieder herauskäme, hätte der Hunger wohl die Ge­ duld verloren. Ich schlage einen kürzeren Weg vor, ein Notgesetz, wie man es in deutschen Landen zu machen pflegt, wenn die Gelehrten noch nicht einig sind über alle Paragraphen einer für die Ewigkeit zu schaffenden Satzung. Dies Notgesetz würde lauten: „In den Ministerien soll ge­ lehrt werden, daß der Mensch essen muß um zu leben, mit besonderer Berücksichtigung der Grundsätze des Einmaleins." Auch in der Volksvertretung sind ja diese Wahrheiten zur Zeit noch wenig bekannt, aber man kann ganz ruhig dar­ über sein, daß, wenn erst die Minister dazu bekehrt wären, auch die Weisheit der Gesetzgeber ihnen nicht lange wider­ stehen würde. Wie wäre es, wenn bald nach Wiedereröffnung des Reichstags der am besten dazu berufene Vertreter der ver­ bündeten Regierungen etwa folgende Rede hielte: „Meine Herren! Unter der Leitung des großen Staatsmannes, welchem wir die deutsche Einheit verdanken, haben wir vor etwas länger als zehn Jahren den Versuch gemacht, auch die Volkswirtschaft auf eine neue Grundlage zu stellen. Mit der Behauptung, daß zwei und zwei vier sei, wurde damals in mutigem Anlauf gebrochen. Gewiß, der Gedanke war genial; er wäre es noch mehr gewesen, wenn er sich hätte durchführen lassen. Aber zu unserem Bedauern haben wir immer mehr konstatieren müssen, daß die Zeit für solche großartige Neuerung noch nicht reif war; und wir schlagen Ihnen deshalb vor, wenigstens pro­ visorischerweise wieder zum Einmaleins zurückzukehren. Um nur das Wichtigste anzuführen, hat sich z. B. folgendes herausgestellt: wenn jemand in Rußland oder Österreich

355 eine Quantität Mehl kauft, oder in Dänemark einige Pfund Fleisch, und wenn er, um dies über die Grenze zu bringen, an dem Zollamte dafür, sagen wir fünfzig Pfennige, er­ legen muß, so hat er besagtes Mehl oder Fleisch um eben dieselben fünfzig Pfennig teurer bezahlt, als wenn er ohne diese Auslage mit seinem Einkauf über die Grenze hätte gehen können. Sehr lange hatten wir gezweifelt, ob sich das wirklich so verhalte. Und Sie, geehrte Herren, haben unsere Zweifel in Ihrer großen Mehrheit geteilt. Mit vollem Recht durften Sie damals annehmen, daß nur blinder Widerspruchsgeist und die Gewohnheit negativen Verhaltens sich weigern konnten, dem größten aller lebenden Staatsmänner in seinem populären Feldzug gegen das Einmaleins zu folgen. „Aber, m. H.! immerhin den Thatsachen müssen wir als praktische Männer Rechnung tragen. Und Thatsache ist es, daß Fleisch und Brot jenseits unserer Grenzen wohl­ feiler sind, als in Deutschland. Wir stellen Ihnen anheim, ob Sie es für angezeigt halten wollen, eine Kommission aus Ihrer Mitte an unsere östlichen Grenzen zu schicken. Dieselbe wird sich dort überzeugen können, daß Tag und Nacht unzählige kleine Leute in das Nachbarland gehen, um Fleisch und Brot zu kaufen und es in den beschränkten Quantitäten, welche zollfrei sind, nach Hause zu tragen. Wir vermuten, die Kommission wird feststellen, daß die Leute das nicht zum Vergnügen thun. Und wir vermuten

ferner, daß sämtliche Bewohner des Deutschen Reiches eben­ falls ihr Fleisch und Brot gern auf dieselbe Weise billiger kaufen möchten, wenn ihnen die Entfernung von der Grenze und das Zollgesetz nicht im Wege ständen. „Geehrte Herren! Sie wissen, daß die Könige von Preußen von jeher ihren Stolz darein gesetzt haben, gerade die minder Begüterten ihrer Unterthanen zu schützen und 23*

356 daß sie daher nur mit Schmerzen sehen, Hunger leiden.

wenn dieselben

Unter der Leitung unseres genialen Staats­

mannes war mit dem Einmaleins auch der Grundsatz ab­ geschafft worden, daß teures Brot und Fleisch ein Unglück

für die armen Leute sei.

Axiom

Sogar das Gegenteil schien ein

der neuen Volkswirtschaft

teurer desto besser!

nicht als reif erwiesen.

sollen.

Es läßt sich nicht leugnen,

Je

mehr Geld dazu gehört,

daß,

viel teurer geworden sind, auch

seitdem Fleisch und Brot jenigen,

zu

werden

Aber auch darin hat sich die Zeit noch

um sie zu kaufen,

welche nicht Geld genug besitzen,

und daß die­ um mehr als

früher dafür auszugeben, jetzt weniger zu essen haben.

„Meine Herren!

In

diesem Augenblick auf die

ganze Welt mit höchster Spannung

wartet

die

letzte Ent­

schleierung des wunderbaren Geheimnisses, das ein deutscher

Gelehrter entdeckt hat, um die Menschheit von einem ihrer verheerendsten Feinde zu befreien, von dem Bazillus der Lungentuberkel.

Sie, meine Herren, können sich um Ihre

Mitbürger ein gleiches Verdienst erwerben.

Der Hunger­

bazillus ist nicht minder schädlich als der Lungenbazillus, vielfach ist er dessen engster Verbündeter.

Diesen Hunger­

bazillus aber werden Sie, wenn auch nicht mit allseitigem,

sofortigem Erfolg bekämpfen,

doch mit großem und

Sie

zu der früheren Annahme zurückkehren

der Mensch essen muß um

zu leben,

und

wollen,

daß

wenn

daß

chm das

Essen gemeiniglich um so schwerer wird, je mehr er dafür

bezahlen muß."

*

*

*

Leider mache ich mir keine Illusionen darüber, daß der Minister, der diese Rede hielte, noch nicht gefunden ist; die

Zeiten scheinen noch nicht reif dafür.

Gewiß, unsere gegen­

wärtigen Minister haben nicht weniger Mitgefühl für den

357 Hunger als irgend einer von uns, und es fehlt ihnen nicht am guten Willen zu helfen. Aber zwölf Jahre der Sinnverwirrung haben in der Welt die Köpfe so verrückt gemacht, daß die einfache Rückkehr zur Wahrheit jetzt wie eine kolossale Neuerung erscheint, zu der man sich so kurz­ weg nicht entschließen dürfte. Denn nicht bloß bei uns steht es ja so. Wir haben Schule gemacht, denn wir waren ja seit zwanzig Jahren die leitende Nation auf dem Kontinent. Und nichts ist leichter, als für Sinnverwirrung und beschränkten Eigennutz Propaganda zu machen. Nicht bloß der Russe zeigt, wie der bekannte Spruch sagt, den Barbaren, wenn man die Oberfläche abkratzt, sondern auch der übrige Teil der mehr oder weniger zivilisierten Menschheit. Was wir in den Republiken von Amerika und Frankreich neuerdings an wirtschaftlichem Aberwitz erlebt haben und erleben, enthebt uns jeder Notwendigkeit, uns auf nationaler Grundlage zu schämen. Die Barbarei in der Handelspolitik fand in der Weltanschauung des Fürsten Bismarck einen verwandten Grundzug. Den Handel, welchen die Zivilisation als ein Werkzeug der Kultur ansieht, sah er in der Stille für Be­ trug an. Gar oft blickt in seinen Reden der Gedanke durch: wer verkauft, sucht zu betrügen, wer kauft, muß sich vor dem Betrug hüten; wer kauft, schädigt sich, wer ver­ kauft schädigt den andern; jeder Tausch wird zwischen zwei Leuten abgeschlossen, einem Betrüger und einem Betrogenen. Daher stellte er an die Spitze seiner Politik bei Abschluß von Handelsverträgen das Leitmotiv: Wer ist der Be­ trogene? Qui trompe-t-on ici? So bezeichnete er es selbst im Reichstag mit dem berühmten Satz aus der Ko­ mödie des Beaumarchais unter dem Beifall seiner Bewun­ derer. Das ist genau der Standpunkt wilder Völkerschaften in Handel und Wandel. Umgekehrt, je höher die Kultur

358 steigt, desto ehrlicher wird der Verkehr. Auf Pferdemärkten ist das Feilschen und Bieten noch im Schwung, der Pferde­ handel war das Prototyp, nach dem auch die Bismarcksche Handelspolitik ihre Weisheit bemaß. In modernen Ge­ schäften handelt man mit festen Preisen, und der einsichts­ volle Kaufmann weiß, daß nichts sich besser bezahlt, als reelle Bedienung.

Aber es gilt noch immer für die höchste staatsmännische Weisheit, auszuklügeln, wie man in Handelsverträgen sich am besten davor hüte, übers Ohr gehauen zu werden, und folgerichtig als hohe Aufgabe, in dieser Kunst selbst der Schlauere zu sein. Und dabei schmeichelt sich jeder Beteiligte, seine Ge­ heimnisse zu besitzen, die der Gegenpart nicht errate. In einer ehemaligen freien Reichsstadt milien zusammen die „Augsburger Eines Tags wurde das Blatt von vor der Auslieferung an die zweite

hielten sich zwei Fa­ Allgemeine Zeitung". dem ersten Empfänger Familie verlegt. Als

ungeduldig danach geschickt wurde, ließ der Hausherr seinem Mitabonnenten sagen: er dürfe ihm heute die Zeitung nicht schicken, es stehe ein Geheimnis drin. An diese Geschichte mahnt es mich immer, wenn ich höre, daß die Herren Minister mit klugem Stirnrunzeln die bei ihnen vorstellig werdenden Korporationen warnen, doch bei Leibe nicht zu verraten, was sie eigentlich wünschen. Der Österreicher und der Russe weiß ja nicht, wo uns der Schuh drückt,

und so wissen auch wir nichts von ihm. Gott bewahre! Nicht so komisch wie diese Geheimthuerei, aber viel

verderblicher, ist das Drohen und Schrauben mit gegen­ seitigen Schädigungen. Die Vernunft lehrt, daß jede aus purer Bosheit zur Strafe des anderen Teils verfügte Ab­ sperrung das eigene Land schädigt. Aber auch die Unver­ nünftigsten müßten doch endlich erfahren haben, daß diese

359

Schraube der gegenseitigen Chikanen eine Schraube ohne Ende ist, die vom Schutzzoll zum Prohibitivsystem führt. Vorerst droht sie bei uns zu einem System zu führen, das selbst unter Bismarck noch für zu schlimm und gefährlich galt, zum System der Differentialzölle. Anch auf dem Höhepunkt ihrer Macht hatte Fürst Bismarcks Schutzzoll­ politik sich gehütet, das Stichwort der Differentialzölle etwa zu Gunsten von Österreich und mit der Spitze gegen Rußland auszugeben. Man sollte es nicht für möglich halten, daß die Erben seiner Handelspolitik gerade in dem Augenblicke, da dieselbe, wie so viele andere seiner Ver­ irrungen, an den Thatsachen zu Schanden wird, in aller Unschuld auf diese selbst von ihm vermiedene Klippe zu­ steuern könnten. Aber glaubhafte Mitteilungen machen leider das Unwahrscheinliche zum Wahrscheinlichen. Mit allen Zollsteigerungen, die als Unterhandlungs­ ware dienen sollten, ist in zehn Jahren nicht eine einzige Konzession ertrotzt worden. Jeder Teil hat sich nur zu neuen Extremen dadurch treiben lassen. In welche Sack­ gasse sind die österreichisch-rumänischen, die französisch-italie­ nischen Beziehungen dadurch hineingeraten! Welch ein Glück noch, daß Europa klug genug war, sich vor Drohungen gegen die Mac Kinley-Bill warnen zu lassen! Nichts wäre deren Anhängern willkommener gewesen als dies, und nimmer hätten wir den glorreichen Sieg ihrer Gegner er­ lebt, wenn wir mit Drohungen dem republikanischen Tarif­ krieg in die Hände gearbeitet hätten. Nicht anders liegt die Sache mit Rußland. Welch jämmerliches Fiasko hat in seiner wirtschaftlichen Kurzsichtigkeit Fürst Bismarck mit dem gewaltsamen Ausfall gegen den russischen Staatskredit gemacht! Statt ihn zu untergraben, hat er ihm auf un­ geahnte Höhen hinaufgeholfen! Die Hauptsache aber ist diese: während die Minister

360 sich mit saurer Mühe die Köpfe zerbrechen über alle Finessen, die monatelang auszuklügeln wären, um ein kunst­ reiches Geflecht von Do ut des mit Österreich auszutüfteln, und während sie liebenswürdig bitten, um Gotteswillen nur nicht zu drängeln, damit die anderen nicht merken, wie ernst es uns mit den Dingen ist, pocht der Hunger an die Thüre und verlangt Einlaß für Brot und Fleisch. Je länger ich miterlebe, wie die Völker sich selbst regieren oder sich regieren lassen, desto mehr bewundere ich die zart­ fühlende Zurückhaltung, mit welcher sich der alte schwedische Kanzler über ihre Einsicht in den berühmten Brief an seinen Sohn ausgedrückt hat. Aber ich will mir ihn zum Muster nehmen und für diesmal schließen.

Der fiaaiserhattenöe Beruf Ser Hölle?) i. Der gemeine Menschenverstand, der sogenannte common sense, ist, wie alles Sprichwörtliche, auch nur mit Vorbehalt zu brauchen. Es giebt sogar Irrtümer, welche ihm so sehr angeboren sind, die Engländer nennen sie fallacies, daß kein Gegenbeweis, wie verbreitet und aner­ kannt er sei, sie aus der Welt schaffen kann; sie kommen immer wieder, wenn sie eine Zeit lang zurückgedrängt waren, und treten jedesmal mit ungeschwächter Naivetät als Axiome auf, wie wenn sie noch niemals widerlegt worden wären. Zum Beispiel: wenn eine Staatsausgabe mit der Albernheit gerechtfertigt wird, daß doch das Geld im Lande bleibe. Alexander von Mazedonien war schon soweit in der National­ ökonomie vorgeschritten, daß er mit Verachtung den Mann abwies, der gegen eine Belohnung die Kunst ausüben wollte, Linsen durch ein Nadelöhr zu werfen. Das hinderte zwei­ tausend Jahre später einen preußischen Feldmarschall nicht, feierlich zu erklären, daß die Garnisonstädte von ihren Be­ satzungen ernährt würden. Ja vor einiger Zeit hat ein die Handelsangelegenheiten berufsmäßig vertretender Konsul ') Aus der „Nation" vom 20. nnd 27. Februar 1892.

362 eines großen Staates mir den — seiner Einsicht nach un­ widerleglichen — Satz vorgetragen, es sei doch noch ein wahres Glück, daß die Länder jetzt so starke Heere im Frieden unterhielten, denn wohin sollte es kommen, wenn alle diese Millionen von Soldaten auch noch in Gewerben Produzierend arbeiteten und damit die ohnehin schon so große Konkurrenz vermehrten! Es giebt gewiß sehr viele ansehnliche Ver­ sammlungen, in denen eine solche Betrachtung Glück machen würde. Zu den unausrottbaren Verirrungen dieser Art gehört auch der blinde Glaube an das, was man in der Lehre vom Strafrecht die Abschreckungstheorie nennt. Wenn die Menschen meistens aus Mangel an logischem Urteil fehlen, so geschieht es hier umgekehrt aus zu starrer einseitiger geradliniger Schlußfolgerung, die nicht mit den viel ge­ wundenen Bewegungen des menschlichen Wesens rechnet. Die Furcht vor einem Übel ist gewiß ein Grund zur Ab­ haltung von einer That; aber die Versuchung zu einer That entspringt Trieben, welche entfernt nicht in ein mathe­ matisches Verhältnis zu jener Furcht zu bringen sind. Darin liegt der Irrtum der Abschreckungstheorie, von welchem das Urteil immer dann am meisten bestrickt wird, wenn es unter dem Eindruck heftiger Erregung steht. In einer großen Stadt erlebte ich einmal den Fall, daß das kleine Kind wohlhabender Eltern in einem öffentlichen Garten auf ge­ heimnisvolle Weise seiner Wärterin entführt wurde. Es erhob sich natürlich eine gewaltige Aufregung unter den Müttern aller Stände, und immer wieder mußte man aus ihrem Munde die heftigsten Aussprachen darüber hören, daß das Gesetz die Schuld trage, welches ein solch unerhörtes Verbrechen nicht mit genugsam harten Strafen bedrohe. Die Phantasie der Erbitterten gefiel sich im Erfinden aller nur erdenklichen Grausamkeiten, welche auf eine solche Misse-

363 that gesetzt werden müßten, damit sie sich nicht wiederholte. Das Kind wurde, was ich zur Beruhigung aller Mit­ fühlenden hinzusetzen will, nach einigen Tagen, wie sich die österreichische Polizeisprache ausdrückt, wieder „zu Stande gebracht", und die Urheberin der That wurde mit einigen Monaten Gefängnis bestraft. Seitdem sind etliche dreißig Jahre vergangen, und meines Wissens ist ein ähnliches Vergehen in jener Stadt nicht wieder vorgekommen.

Aber nicht bloß erregbare Frauen können in solche Extreme verfallen, sondern auch erfahrene Männer, die sich der Gesetzgebung widmen. Wir stehen noch mitten in einem Erlebnisse dieser Art. Als vor mehreren Wochen heraus­ kam, daß einige Bankiers die bei ihnen hinterlegten Wert­

papiere ihrer Kunden treulos zu Gelde gemacht hatten, ver­ setzten die Entdeckungen das Publikum in um so größere Bestürzung, als man lange nicht von einer Mehrzahl solcher Fälle gehört hatte, wie denn auch die jüngst thatsächlich vorgekommenen, verglichen zu der Zahl der in den Tausenden von diesen Geschäften bestehenden analogen Verhältnisse, noch für höchst vereinzelte Erscheinungen gelten müssen. Berlin, der große deutsche Geldmarkt, hat seit den Ver­ heerungen der Gründerperiode vor beinah zwanzig Jahren nicht einen einzigen sensationellen Bankbruch erlebt, wie London oder Paris. Gleichwohl brauste jüngst alles auf, als wäre nun zur Kenntnis gekommen, daß solche Ver­ untreuungen zu den normalen Ergebnissen des heutigen Bank- und Börsenverkehrs gehörten, denen schleunigst ein Riegel vorgeschoben werden müsse, — ne quid detrimenti res publica capiat. Auf welche Weise das zu bewerkstelligen sei, auch darüber natürlich kein Zaudern. Die angedrohte Strafe muß schärfer werden. Ist sie nur scharf genug, so wird der Bankier sich schon künftig eines redlichen Wandels befleißigen.

364 Nicht Gefängnis, sondern Zuchthaus muß angedroht werden. Also formulierten gewiegte, hochansehnliche Männer ihr Ver­ langen. Nun denke man sich: Herr Kommerzienrat Wolf, In­ haber einer alten Firma, eines prunkvollen Hauses, einer angesehenen gesellschaftlichen Stellung, Mitglied großer Ver­ waltungskorporationen, Haupt einer Familie steht vor seinem

Kassenschrank. Er ist an dem Punkt angekommen, wo er sich nicht mehr verhehlen kann, daß er, sei es in thörichter Verschwendung, sei es in falschen Spekulationen, mehr Schulden gemacht hat als er bezahlen kann, und, um sich aus der Verlegenheit zu helfen, hält er, nach der Vorstellung jener Gesetzesweisen, folgenden Monolog: Wie wäre es, wenn ich die hier vor mir liegenden Aktien und Obligationen der Witwen Meyer und Müller verpfändete, ohne sie recht­ zeitig wieder einlösen zu können; kommt das schließlich an den Tag und komme ich wegen dieser und einer Reihe ganz ähnlicher Vergehen vor Gericht, so werde ich meine Ehre verlieren, in Schande, in Gefangenschaft geraten, meine Familie ins tiefste Unglück stürzen und für alle Zeiten ein verlorener, elender Mann sein — aber, setzt er hinzu: das alles ist doch kein Abhaltungsgrund. Komme ich auf drei, vier Jahre ins Gefängnis, so ist das zwar mit manchen Unbequemlichkeiten verbunden, allein gar so schlimm ist es nicht; vielleicht wird man mir sogar die Begünstigung ge­ währen, daß ich nur Düten zu kleben brauche, wie ein Zeitungsschreiber, welcher wegen Beleidigung verurteilt wird, das Kleben ist ja überhaupt jetzt eine sozialpolitische Bürger­ pflicht im Deutschen Reich. So läge die Sache, bis die Gesetzgebung statt der Gefängnisstrafe das Zuchthaus in Aussicht stellt. Nun ändert sich mit einem Schlag das ganze Bild. Wieder steht ein Kommerzienrat vor seinem Effektenschrank, wieder zwingt ihn die Not, sich insolvent

365 zu erklären oder die Veruntreuung zu begehen; vor Schande,

Elend, Gefängnis würde er nicht zurückweichen, aber vor der schärferen Strafe des Zuchthauses beugt er sich und bleibt ein ehrlicher Mann! Das ist der Unsinn der Abschreckungstheorie, wie sie im blinden Zufahren der Gedankenlosigkeit vorausgesetzt wird. Auch die ernstlich wägende und prüfende Straf­ rechtslehre verwirft allerdings nicht das Element der Be­ drohung und folglich der Abschreckung, aber niemals hat sie es in dieser plumpen Weise verstanden. Die große Mehr­ zahl der Philosophen uud Juristen, welche dem rationellen Grund des Strafrechtes nachgeforscht haben, von Aristoteles bis auf unsere Zeitgenossen, scheiden das Moment der Ab­ schreckung beinahe gänzlich aus, und selbst die, welche ihm am meisten Einfluß gestatten, wie Hobbes, Feuerbach und. Schopenhauer, verstehen es nicht in der mechanischen Auf­ fassung, daß, je größer die Härte der Strafen, desto größer die Sicherheit vor Übertretung sei. Wie wäre es auch sonst erklärlich, daß die Welt mit dem Fortschritte der Jahr­ hunderte, d. h. mit der wachsenden Erkenntnis, immer mehr zur Milderung der Strafen, zur Abschaffung der besonders grausamen, Schrecken und Abscheu erregenden Züchtigungen gekommen ist? Wie wäre es sonst zu erklären, daß die Rück­ fälligen so zahlreich sind, und wie — um nur neben vielen

anderen Beweisen noch das eine zu erwähnen — daß man die Todesstrafe nicht mehr öffentlich vollzieht? Denn die Abschreckung soll nach der Ansicht aller derer, die sie nicht ganz verwerfen, doch nicht auf den überführten Verbrecher, sondern auf die noch nicht in Schuld verfallenen, der Ver­ suchung ausgesetzten wirken. Die Zulässigkeit der Todes­ strafe an sich ist meines Erachtens eine offene, praktische, nicht eine prinzipielle Frage; aber als Bismarck bei der Beratung des Strafgesetzes im Norddeutschen Reichstag,



366



die Einfügung der Todesstrafe zur Kabinetsfrage machte und nur kraft dieses Pressionsmittels bei der Abstimmung durchsetzte, war er ohne Zweifel von dem Gedankengang der rohen Abschreckungstheorie beseelt. Das Vertrauen auf

der brutalen Gewalt gehörte zu

den Grundzügen seiner Menschenbehandlung, wenn auch die Künste der List und der liebenswürdigen Bestricknng nicht unterschätzt wurden. Noch heute kranken wir an der Erb­ schaft dieser Methode in vielen Stücken, und was wir in diesem Augenblick erleben, steht damit in engerem Zusammen­ hang, als auf den ersten Blick hervortritt. Das neue Schul­ gesetz, dessen Quintessenz in der Vorstellung sitzt, daß die Schreckmittel der ewigen Strafen, künftig besser eingeschärft, das wahre Mittel zur Erhaltung der Monarchie seien, ist dem Geiste nach ein Vermächtnis des „alten Kurses", wenn auch der Urheber des alten Kurses vielleicht zu vorsichtig gewesen wäre, diese Nutzanwendung davon zu machen. Es mag seiner Schadenfreude zu wohlgefälliger Sättigung ge­ reichen, daß sein Nachfolger nun mit der Vollstreckung dieses stillen Vermächtnisses in den größten Fehler verfiel, den er überhaupt begehen konnte. Wie scharf man immer die innere Politik des Bismarck der letzten zehn Jahre ver­ urteilen mag, man wird ihm doch die Gerechtigkeit ange­ deihen lassen müssen, daß er den Fehler des Kulturkampfes eingesehen hatte und aus dieser Einsicht heraus den Kampf nach Möglichkeit wieder zu beschwichtigen bestrebt war. den

Mechanismus

Wenn auch andere Motive nebenher mitwirkten, diese bessere Einsicht war doch der leitende Gedanke, seitdem Falk, als

Sündenbock mit Bismarcks Schuld beladen, in die Wüste gejagt worden war. Hier hatte der Fürst — wenn auch spät — die Grenze der Nützlichkeit brutaler Gewalt er­ kannt. Und wie groß alle die Übel seien, welche der Ver­ such, das Mißlingen und das Wiedereinlenken auf Gene-

367 rationen hinaus int deutschen Reichskörper zurückgelassen haben: es war — wie die Dinge einmal lagen — doch ein unermeßlicher Gewinn, daß Bismarck selbst noch die Pforten des Kulturkampfes wieder geschlossen und Jahre der wachsenden Beruhigung unter seinem Regiment er­

lebt hatte. Diesen so teuer erkauften kostbaren Gewinn hat leider die jetzige Regierung wieder verschleudert. Verschleudert sage ich, weil sie über dem Verdacht steht, den gewaltigen Mißgriff des Volksschulgesetzentwurfs mit Vorbedacht und in voller Schätzung seines Effekts begangen zu haben. Man muß hier eher an einen Irrtum als an eine Absicht glauben. So wenigstens erscheint es nach der ganzen Haltung, die der neue Kanzler in den zwei Jahren seines Waltens beob­ achtet hat; so auch erscheint es nach den Reden, mit denen er sich in den Debatten über die Sache beteiligte. Es werden in der Welt oft große Fehler begangen, weil ihre Urheber sich in einem Zustand friedlicher Befangenheit be­ finden, die sie verleitet, unbefangen ins Unheil hineinzugehen.

Es könnte ja vermessen erscheinen, dergleichen einem Mann von der Stellung und Bedeutung des neuen Kanzlers zu­ zutrauen, aber daß es möglich ist, sich auch mit Augen, die

durch Erfahrung auf diesem Gebiet viel mehr geschärft sein mußten als die seinen, zu täuschen, dafür haben wir einen unwiderleglichen Beweis in der Mitversündigung des Finanz­ ministers. Wenn nicht alle Zeichen trügen, hat Miquel den Effekt dieses Gesetzentwurfs lange nicht stark genug vorausgefühlt. Über das, was im Stadium der Vorberatung im Schoße des Kabinets sich begeben hat, schwebt noch ein

Dunkel. Aber soviel scheint ausgemacht: die höchste Energie des Widerstandes ist vom Finanzminister im entscheidenden Augenblick nicht eingesetzt worden, um das Unglück zu ver­ hüten, eben weil er dessen Größe nicht ermaß. Und das

368 ist doppelt merkwürdig bei einem Mann, der alles Elend des Kulturkampfes von der ersten bis zur letzten Stunde mit durchlebt und dessen Schäden stets lebhaft empfunden hatte. Es ist bezeichnend für die Verschiedenheit der Naturen, daß Herr von Bennigsen sich hierin ein viel richtigeres Ge­ fühl bewahrt hat, denn aller Wahrscheinlichkeit nach ist er zu seinem resoluten Auftreten im Reichstag ohne vorheriges Einverständnis mit seinem alten Zeitgenossen gekommen. Dem Geist wie der Ausführung nach scheint das Verdienst dieses Auftretens Herrn von Bennigsen allein angerechnet werden zu müssen. Merkwürdiger Weise sind von denen, die bis jetzt zum Widerstand aufgerufen haben, die wenigsten über die schwerste Folge des Mißgriffs, daß nämlich der

Kulturkampf wieder eröffnet wird, zur Erkenntnis gekommen, ja ihr Unwille schreibt sich zum Teil davon her, daß in ihnen selbst wieder der Dämon des Kulturkampfes erweckt worden ist. Unbewußt geben sie Zeugnis davon, wie schlimm es ist, daß man ihren Unwillen herausgefordert hat. Denn so groß das Übel an sich schon ist, welches die Verkirch-

lichung der Volksschule anrichten würde, noch größer ist das Übel der neu eröffneten Fehde, und jedenfalls noch schneller und unmittelbar heftiger tritt diese böse Wirkung ein — man kann sagen: sie ist bereits eingetreten. Wie

das Schulgesetz schließlich ausfällt, ob es zu Stande kommt, wie es arbeiten, wie es sich in der Praxis stark oder schwach erweisen mag, das alles sind Dinge, die späterer Zeit Vor­ behalten sind, und die, soviel Sorgen sie auch mit Recht machen, vielleicht nicht ganz so unheilvoll werden, als man jetzt denkt. Aber sofort und jetzt und wie es auch gehe, ist der konfessionelle Hader wieder entfesselt, der seit vier Jahrhunderten Deutschlands größtes politisches Unglück war. Täusche man sich doch nicht darüber! So groß die Zahl derer sein mag, welche aus innerster Überzeugung für

369 die Sache der Freiheit in der Erziehung und gegen jede kirchliche Usurpation sich erheben, der Kern der ganzen Gegenbewegung und das Feuer der Wut sitzt doch bei denjenigen Protestanten, welche in dem neuen Gesetz ins­ besondere die Machterweiterung der katholischen Geistlichkeit

erblicken. Und nicht bloß auf Seiten des Angriffs sieht es so aus, auch auf Seiten der Verteidigung. Das Centrum wirft alles, was es unter der Flagge „Freiheit, Wahrheit und Recht" seit Jahrzehnten an Bord führte, als schädlichen

Ballast ins Meer, um diese kostbarste Fracht in den Hafen zu bugsieren. Mag auch die Regierung an ihrem Teil den Kulturkampf nicht wieder eröffnet haben für jetzt, in der

Bevölkerung ist er bereits wieder ausgebrochen, und das Schlimmste am alten Kulturkampf war nie, daß er von der Regierung, sondern daß er von einem Teil der Be­ völkerung gegen den anderen geführt ward. Übrigens,

wenn es in der Bevölkerung tobt, wird schließlich die Re­ gierung, die jetzt über beiden Teilen zu schweben sich ein­ bildet, doch selbst wieder mit hineingezogen werden. Windthorst hat es ja immer gesagt: wenn alles fertig

ist, dann kommen wir mit dem Schulgesetz. Diesen Aeolusschlauch hat, trotz aller Warnungen, das Ministerium Caprivi

wieder angestochen, hat sich zum Testamentsvollstrecker dieser Ankündigung gemacht. Es hat die Ära des Kulturkampfes wieder hereingeführt, aber unter wie viel ungünstigeren Be­ dingungen, als zur Zeit, da Fürst Bismarck sie eröffnete! In der Glorie seiner wunderbarsten Erfolge, an der Spitze

eines neuen Reichs und ganz allein mit der Richtung gegen den Papst in Rom hatte Bismarck die Fehde begonnen. Kaum daß ein kleiner Bruchteil der orthodoxen lutherischen Kirche im Stillen mit den Ultramontanen zu sympathisieren wagte. Jetzt steht eine neue Regierung, die sich zwar Respekt, aber noch keine Lorbeeren erwerben konnte, die in ihren eigenen Ludwig Bamberger's Ges. Schriften.

I.

370 Regionen mit Gegenströmungen zu kämpfen hat, einer katholischen Kirche gegenüber, die in langen heißen Kämpfen von Sieg zu Sieg gekommen, mit Beute beladen und an Gewinn so reich geworden ist, daß sie jedes Spiel ohne

Furcht vor empfindlichem Verlust wagen kann. Und mit ihr im offenen Bunde steht beinah die ganze Heerschar der protestantischen Strenggläubigkeit. Jene brauchte noch lange nicht die überlegene Strategin zu sein, die sie ist, um mit wahrer Wollust in die Schranken des neuen Kampfplatzes zu stürzen, der ihr hier von der preußischen Regierung ge­ öffnet worden ist.

Und warum? Was nötigte dieses neue, seinem Beruf und seiner Natur, ja höchst wahrscheinlich seiner ganzen Absicht nach auch auf den inneren Frieden angelegte Re­ giment, diese schreckliche Pandorabüchse Eine geistreiche Frau pflegte zu sagen: kommt von den überflüssigen Fehlern Ein solch ganz überflüssiger Fehler war unglückseligen Gesetzes.

wieder zu öffnen? „das meiste Unglück der Menschen her." die Erfindung dieses

Soll aber die nackte, letzte, einfältige Wahrheit über den Kern seines Entstehens gesagt werden, so muß die Aus­

sage dahin lauten: Weil man sich nicht genug mit der Wehr und Waffe des Diesseits, mit Strafgesetz und Polizei gewappnet glaubt, um die Bedrohung der Monarchie von feiten der Sozial­ demokratie erfolgreich überwinden zu können, hat man die Schreckmittel der Hölle herbeirufen zu müssen geglaubt, und diese von Grund aus herbeizuschaffen, soll durch die Schule die Kirche besorgen. Das ist des Pudels Kern, welcher ein Teufelspudel ist. Und die alte vornehme Fallacie, daß der Teufel Schildwache stehen müsse, damit kein Schaden geschieht, ist wieder zum Vorschein gekommen. Mit dem faden Tränklein der sozialpolitischen Versorgungsgesetze und

371 mit dem scharfen Schwert des Sozialistengesetzes hat man es versucht, den Schaden der Sozialdemokratie zu kurieren. Es ist nicht geglückt. Jetzt soll die Furcht vor dem höllischen

Feuer zn Hilfe genommen werden. Quod medicamenta non sanant ferrum sanat, quod ferrum non sanat, ignis sanat.

II.

Am 12. März 1878, also noch vor den beiden Atten­ taten, schrieb Kaiser Wilhelm I. an den Feldmarschall von Roon: „Diese Gottesleugnung geht Hand in Hand mit der Sozialdemokratie, und so sind wir mitten im Frieden dahin gekommen, wohin die französische Revolution in der Schreckenszeit geriet, d. h. Gott abzuschaffen und dann wieder einzusetzen, obgleich letzteres unsere Gottesleugner noch nicht thun!" — Und am 26. Dezember: „Wohin wir gekommen wären ohne den 2. Juni (Attentat Nobiling) ist nicht zu berechnen, und wie ich es öffentlich ausgesprochen, will ich gern geblutet haben, wenn manchem die Augen

geöffnet sind und wir zum Besseren steuern! Der Anfang ist gemacht durch das neue Gesetz, aber nun muß noch der gelockerte Boden der Kirche befestigt werden."

Hier ist ein Programm fix und fertig. Nicht zu allen Zeiten hat die Gedankenverbindung zwischen Erhaltung der Monarchie und der Religion bestanden. Förmlich ausge­ bildet ist sie erst seit den letzten hundert Jahren. Monarchen

und Monarchieen wurden von Verschwörern angegriffen und gestürzt, ohne daß die Gottlosigkeit dafür verantwortlich er­ klärt worden wäre. Ja der hervorragendste Fall und vielleicht der einzige im Altertum, wo der Unglaube als ein Verbrechen gegen die Staatserhaltung mit der Strafe des

Hochverrats geahndet wurde, ist in einer Republik vorge24*

372 kommen, die Hinrichtung des Sokrates. Die Königs- und Fürstenmörder, deren Thaten das neuere christliche Zeitalter ausgezeichnet hat, waren, soviel man weiß, keine ungläubigen Menschen, viele von ihnen waren sogar sehr fromm oder gar fanatisch — man denke an Jacques Clement, Ravaillac, Balthasar Gorard, Damiens oder gar an Oliver Cromwell und seine Heiligen. Der fromme Dichter des verlorenen Paradieses, der sich doch von Berufs wegen mit Himmel und Hölle eingehend genug beschäftigt hatte, war der eifrigste Verteidiger der Hinrichtung des Königs von England. Zu

seinen berühmtesten Schriften gehören die Abhandlungen zur Rechtfertigung dieses Verfahrens; in der zweiten der­ selben, der Defensio secunda pro populo anglicano contra infamum libellum anonymum, cui titulus: Regii san­ guinis clamor ad coelum adversus parricidas anglicanos (von dem Franzosen Salmasius verfaßt) heißt es unter anderem: „es entspricht dem Gesetz und ist zu allen Zeiten so beobachtet worden für alle, welche die Macht dazu be­ sitzen, einen Tyrannen oder schlechten König zur Verant­ wortung zu ziehen und ihn, nach richtiger Überführung ab­ zusetzen und vom Leben zum Tode zu bringen, wenn die

ordentlichen Obrigkeiten verweigert oder vernachlässigt haben, das zu thun". Auch daß Anckarström oder die Orloffs und Genossen besonders gottlos gewesen, wird nicht berichtet. Bekanntlich verteidigte die Kasuistik Mariannas und Bellarmins den Fürstenmord von Glaubens wegen. Das halbe Dutzend entthronter Herrscher, welche Candide in Venedig versammelt findet, weiß bei der Erzählung seiner Schicksale noch nichts von den bösen Wirkungen des Unglaubens zu erzählen. Erst mit der französischen Revolution wendet sich die Sache. Da ihr die Periode der philosophischen Aufklärung vorangegangen war, da der Kampf gegen das Königtum — gewiß in innerem Zusammenhang — mit

373 dem Kampf gegen die Kirchen verbunden ward, so verbanden sich natürlich auch die Ideen des Royalismus und der Rechtgläubigkeit in der gemeinsamen entgegensetzten An­ schauung. Ihr vollendetes Prototyp erstand in dem Grafen Joseph de Maistre, dem Sohne des Savoyerlandes, welches die natürliche Brücke vom päpstlichen Italien zum bourbonischen Frankreich bildet. Der Begriff der Legitimität, welcher in seiner staats­ rechtlichen Bedeutung auch erst der neueren Zeit entstammt und in der heiligen Allianz seinen vollendetsten Ausdruck

gefunden hat, erhob die Identität von Monarchie und Re­ ligion zum Prinzip. Aber bis zur Februar-Revolution des Jahres Achtundvierzig blieb die ganze Jdeenverbindung lediglich im Zustande einer allgemeinen Weltauffaffung, welche darauf hinausging, daß Kirche und Thron das gemeinsame

Interesse und die Mittel hätten, einander zu halten. In Deutschland haben sich die freidenkerischen und die politisch liberalen Bestrebungen bis in die vierziger Jahre dieses Jahrhunderts durchaus nicht gedeckt. Unsere berühmten Philosophen waren sämtlich gute Unterthanen, und der welt­ lichste und letzte von ihnen, Arthur Schopenhauer, war ein überzeugter Reaktionär. Andererseits hatten die Liberalen der Demagogenzeit nach den Befreiungskriegen ebensowenig wie die der dreißiger Jahre einen Zug zur Freigeisterei. Die Verbindung von philosophischem und politischem Ra­ dikalismus beginnt erst mit den Ausläufern der jung-

hegelischen Schule, den Arnold Rüge, Ludwig Feuerbach und Gebrüder Bauer. Aber noch David Friedrich Strauß war ein guter Konservativer, und der große Revolutionär und Republikaner Mazzini erfand noch das Feldgeschrei:

„Dio e Popolo.“

Der Kommunist Blanqui freilich ver­

kündete den Spruch: „Ni Dieu ni maitre.“ In dem Verlangen nach einer sozialistischen

Um-

374 gestaltung der Gesellschaft wirkt offenbar der Grundgedanke sehr stark mit, daß es für das Elend dieser Welt keine Ent­ schädigung in einer anderen gebe und daß die materiell aus­ gleichende Gerechtigkeit schon auf Erden hergestellt werden müsse. Darum ist logisch nichts einzuwenden, wenn die

Abwehr gegen den Sozialismus sich aufgefordert fühlt, den­ selben mittelst der Lehre vom Glauben an ein besseres Jen­ seits zu bekämpfen, natürlich mit den Mitteln, welche im

Zeitalter der Glaubensfreiheit und der Lehrfreiheit noch Erfolg versprechen. Aber hier ist es, wo die Vorkämpfer des Glaubens ihren großen Fehler begingen, indem sie sich von ihren Gegnern zu einer verhängnisvollen Inkonsequenz fortreißen ließen. Sie gaben stillschweigend die Hilfsmittel der ewigen Gerechtigkeit auf, indem sie sich um die Wette mit der Sozialdemokratie bereit erklärten, die Gerechtigkeit des materiellen Lebens schon auf Erden herzustellen. Damit war das Fundament ihres ganzen Standpunktes preisgegeben. Natürlich gestanden und gestehen sie den Verzicht nicht förmlich zu, aber der Rückschluß liegt so nahe, daß er nicht verborgen bleiben konnte. Wie Deutschland überhaupt der Bahnbrecher des So­ zialismus geworden ist, so hat sich auch dieser treibende Faktor desselben am stärksten in Deutschland entwickelt. Deutschland ist nicht nur das Vaterland des Katheder­ sozialismus, sondern auch das Vaterland des zum System erhobenen christlichen Sozialismus. Viele mögen ihm dies zur Ehre und zum Verdienst anrechnen, — hier soll darüber nicht gestritten werden. Aber die Thatsache steht außer

Zweifel. — Fürst Bismarck, der sehr viel für die Aus­ breitung der sozialistischen Ideen gethan hat, obwohl er ihr abgesagter Feind war, hat auch auf diesem besonderen, die Religion kompromittierenden Wege, mitgearbeitet. Mit der

375 scharfen Witterung, die er für alle Verführungskünste in der Benutzung öffentlicher Strömungen zu momentanen Machterfolgen besaß, hatte er sich nach seiner letzten Trennung

vom Liberalismus Ende der siebenziger Jahre entschlossen, auch die sozialistischen, dem Liberalismus feindlichen Ideen als Vorspann zu gebrauchen. Und da ihm nicht entgangen war, daß die militierende Kirche sich auf diesen Weg be­ geben hatte, stellte er sein Segel so, daß er auch diesen Wind mit einzufangen vermochte.

Es geschah gewiß mit

wohl überlegtem Vorbedacht, daß er eines Tages das von ihm erfundene Wort vom „praktischeu Christentum" in die Debatte warf. Das war so ganz seine Art, einen Feldzug

zu eröffnen. Die hochkirchlichen Bundesgenossen, welchen er hiermit das Zeichen zum Anschluß gab, ließen es sich nicht zweimal sagen. Sie hatten schon lange voraus das Programm in Angriff genommen. Bischof von Ketteler darf für den Stifter der ganzen Schule angesehen werden, welche man unter dem Namen des christlichen Sozialismus zusammenfaßt. Diese starke Persönlichkeit hat überhaupt an der konfessionellen Gestaltung der deutschen Geschichte einen viel bedeutenderen Anteil, als man in großen Kreisen zu wissen scheint. Meiner Beobachtung nach war er derjenige, welcher zuerst mit energischem Vorbedacht daran ging, die katholische Kirche in Deutschland wieher zu einer aufwärts strebenden Großmacht emporzuheben, und ihm gelang es, die Unterlage für den Kampf herzustellen, auf welcher Windthorst später weiter arbeiten konnte. Herr von Ketteler war es auch,

welcher zuerst die soziale Frage in den Bereich der geistlichen Thätigkeit zog. Es ist bekannt, wie diese Bestrebungen zu einer von gegen­ seitigem Wohlwollen getragenen Berührung zwischen ihm und Lassalle führten. Der protestantische Sozialismus folgte erst später diesem Beispiel nach. Als nun Bismarck mit

376 seinem neuen Stichwort des „Praktischen Christentums" ein­ sprang, nahm die Richtung in beiden Konfessionen einen verstärkten Aufschwung. Es ist für alle drei Beteiligten sehr bezeichnend, daß Lassalle sowohl mit Bismarck als mit Ketteler eine Zeit lang in freundliche Berührung kommen

konnte. Aber je mehr sich dieses Christentum in jene neue Richtung hineinarbeitete, desto mehr verzichtete es auf den wesentlichsten Inhalt seiner Lehre. Allerdings hat es immer die Nächstenliebe auch zur Linderung irdischer Leiden ge­ pflegt, aber sein stärkstes Argument war und blieb doch stets das Reich, welches nicht von dieser Welt ist und die Mühseligen und Beladenen in die bessere verweist. Indem es nun den kirchlichen Boden der freien Nächstenliebe ver­ ließ, um seine Aufgabe in die diesseitige Ausgleichung mit Staatsmitteln zu verlegen, trat es in den Wettlauf mit denen, deren Wahlspruch lautet, daß sie nicht mit „Wechseln auf die Sterne" bezahlt sein wollen. Der Hinweis auf den Ausgleich im Jenseits verstummte bald ganz und gar, und die Konkurrenz um den sozialistischen Erfolg wurde eine ganz materielle, bereit Problem sich einfach um die Alter­ native drehte, wer es besser vermöchte irdisches Glück zu bereiten, die Kirchen oder die Sozialdemokratie. Wenn man die Schriften und Reden aus dem Lager des christlichen Sozialismus liest, wird man vergeblich nach den Über­

zeugungsmitteln suchen, welche sich an den Trost auf ein ausgleichendes besseres Jenseits wenden. In den feier­ lichsten Ansprachen tritt derselbe zurück, wenn sie sich an die Handwerker oder an die Arbeiter wenden. Einen interessanten Beleg dazu bildet noch die neueste päpstliche Encyklika vom vorigen Jahr, „Novarum rerum“. Der frühere Kardinal Pecci, Erzbischof von Perugia, ist be­ kanntlich ein auch in weltlichen Wissenschaften gebildeter

377 Mann, der sich lange, ehe er Papst wurde, insbesondere auch mit Nationalökonomie beschäftigt und in denkwürdigen Publikationen, namentlich über die sozialistische Bewegung, ausgesprochen hat. Großes Aufsehen machte namentlich eine ältere Encyklika vom 28. Dezember 1878. Seiner Richtung nach stand er damals auf dem Boden der indi­ vidualistischen Schule, er beruft sich auf Bastiat und Montes­ quieu. Auch in dem neuesten Erlaß ist dieser Stand­ punkt noch nicht ganz preisgegeben, aber eine Annäherung an das Prinzip der Staatseinmischung doch stark vor­ herrschend.

Wie sehr es nun auch gelingen mag, plausibel zu machen, daß mit diesem Anschluß an den Staatssozialismus

die Religion ihr supranaturalistisches Prinzip nicht preis­ gebe: ohne starke Erschütterung konnte dasselbe aus dieser neuen Wendung nicht hervorgehen. In all den Wett­ kämpfen mit der Sozialdemokratie wagt man ihr nicht mehr auf den Kopf zuzusagen, daß ihre Klagen deshalb unberechtigt seien, weil die wahre Abhilfe im Jenseits liege, man ver­ zichtet auf dies Argument, weil man es für unwirksam hält. Und durch diesen Verzicht auf das, was doch die Grund­ wahrheit des Glaubens darstellt, erhielt der ganze gläubige Sozialismus den Charakter des künstlich Erzwungenen. Der ungläubigen Sozialdemokratie erscheint er als ein nach­ geahmter, gefälschter, als eine Art Kunst-Sozialismus, der sich dem echten glaubenslosen unterzuschieben sucht. Aller­ dings hindert das auch andererseits die Sozialdemokratie nicht, sich auf das darin liegende Zugeständnis zu stützen. Sind doch bei uns in Deutschland Staat und Kirchen, wenn auch nicht ganz, doch eine Strecke weit bereits zum Sozialismus übergegangen. Unsere Gesetzgebung hat sich auf staatssozialistischen Boden gestellt, und die Geistes­ richtung in Aristokratie und Hochkirchentum sympathisiert

—*

378

nicht wenig mit dem Krieg gegen das Kapital, wenn auch

nur das sogenannte mobile, welches man im Stillen der Sozialdemokratie auszuliefern geneigt wäre, ließe sich nur die Scheidung praktisch und ohne gefährliche Konsequenzen vollziehen. Was die höheren Regionen zur Zeit an der Sozialdemokratie beunruhigt, ist weniger deren eigenes in­ haltliches Bekenntnis, als ihr revolutionär erscheinender Charakter. Bekennte sich die Sozialdemokratie zur mo­ narchischen Staatsform, wäre ihr Programm mit derselben vereinbar, so würde man mit sich reden lassen. Es springt

in die Augen, daß der bürgerliche Liberalismus in Europa nicht mehr an gewaltsamen Umsturz denkt. Die gegen­ wärtige französische Republik ist nicht aus einer Revolution hervorgegangen. Wer in Deutschland an die Gefahr einer solchen glaubt, dem schwebt nur die Möglichkeit einer so­ zialistischen Schilderhebung vor. Nicht weil sie sozialistisch, sondern weil sie revolutionärer Absichten verdächtig ist, werden daher neuerdings wieder so große Anstrengungen gemacht, jene Partei zu bekämpfen. Wir kennen genug von dem Gedankenkreise, in dem sich die Bewohner der höchsten Regionen bewegen, um zu wissen,

daß das Bild einer blutigen Empörung hier niemals ver­ schwindet. Friedrich Wilhelm IV. und Kaiser Wilhelm hatten es leibhaftig aus der Nähe gesehen, und in ihren beklommenen Momenten stieg.es immer wieder auf. Aus diesem Jdeenkreis sind neuerer Zeit eine Reihe von Manifestationen zu erklären, deren Sinn dahin geht, daß mit allen Mitteln einer solchen Bewegung vorzubeugen sei. Und nachdem dieselbe gemäß dem hier bezeichneten Gedankengang nur von einem ungläubigen Programm aus­ gehen könnte, lag es nahe, auch die Stärkung des Glaubens als ein Gegenmittel ins Auge zu fassen. Die Kirchen waren von jeher stets bereit zu kommen, wenn sie zu Hilfe

379 gerufen wurden. Aber nachdem sie dem Glauben an die Überzeugungskraft der überirdischen Freuden durch ihren

Staatssozialismus einen so starken Stoß versetzt haben, bleibt ihnen ungemindert nur noch das Mittel der Furcht vor den unterirdischen Leiden. Und darum liegt dem neuen Anlauf zur Wiederbe­

festigung der Dogmen viel weniger der Gedanke an das Paradies, als der an die Hölle zu Grunde.

Mit der Furcht vor den Schrecken der Hölle ist es aber ein eigenes Ding. Sie stehen noch im Nachteil gegen die Schrecken der diesseitigen Strafen. Ein kluger, er­ fahrener Mann stellte einmal folgende Betrachtung an: Wie mag ich nur darauf rechnen, daß ein gewöhnlicher Mensch aus Furcht vor den entfernten und ungewissen Strafen einer künftigen Welt den Versuchungen des Augenblicks widerstehen wird, wenn ich so oft erlebe, daß die gescheitesten und gebildetsten Leute sich den Magen verderben? Die üblen Folgen einer Unmäßigkeit in Speise und Trank stehen doch so sicher fest und unmittelbar hinter dem Vergehen, daß sie ungleich viel unabwendbarer erscheinen als die einer anderen Welt, die niemand kennt. Und wenn eine Indi­ gestion auch mit geringerer Pein droht, als das höllische Feuer, so ist doch andererseits der Widerstand gegen die Versuchung der Tafelfreuden so viel leichter, als der gegen die Verführung zu großen Sünden — von der Gewißheit im einen und dem Zweifel im anderen Fall nicht zu reden. Wer will behaupten, daß, wenn es eine Hölle gäbe und ein oder der andere Sünder zeitweise aus derselben auf diese Welt zurückkäme, ein solcher nicht auch wieder rück­ fällig werden könnte? Wie gering mag aber die Zahl derer sein, welche so ganz ohne Anwandlung von Zweifel an die Hölle glauben? Frau von Motteville erzählt, Papst Urban VHL habe bei der Nachricht vom Tode des Kar-

380 dinals Richelieu bemerkt: „Nun, wenn es einen Gott giebt, so wird er bald seine Strafe zu zahlen haben; aber in der That, wenn es keinen Gott giebt, so war er ein Ehren­ mann."*) Da sie das als etwas eben Gemeldetes nieder­ schreibt, muß es ihr und ihrem- Kreis nicht unwahrscheinlich geklungen haben, und dem eleganten, für seine Zeit modern zu nennenden Florentiner sieht es auch nicht unähnlich. Wenn das in den Zeiten Ludwigs des Dreizehnten so bei­ läufig einem Papst nachgesagt werden konnte, so mag man

danach berechnen, welche Nahrung diesen Zweifeln seit zwei­ hundertfünfzig Jahren zugeführt worden sein muß. Die Lehre von der Hölle ist übrigens bekanntlich nichts weniger als eine spezifisch christliche oder jüdische und dog­ matisch vielen Deutungen auch im Christentum unterworfen. Unser deutsches Wort ist sogar unmittelbar der eigenen nordischen Mythologie entnommen. Die böse Hellia ist eine Tochter des Loki. Die alten Religionen, insonderheit die ägyptische, beschäftigen sich noch ausgiebiger als die neueren mit der Unterwelt, wenigstens soweit sie als Wohnstätte der Abgeschiedenen überhaupt und nicht ausschließlich als der Ort der Strafen und Qualen betrachtet wird. Diese Unter­ scheidung geht auch durch die Ansichten der Kirchen­ väter, unter denen speziell Origenes mit dem Anhang der orientalischen Schule den Nachdruck auf den indifferenten Zustand der bloßen Abgeschiedenheit legt. Der altgriechische Hades, welches Wort auch in das neue Testament für die Bezeichnung der Unterwelt übergegangen ist, bedeutet, wie das hebräische Scheol, lediglich den Aufenthalt der Ver­ storbenen. Sogar Abrahams Schoß, der x62.no; wird in diese Unterwelt verlegt, wie der Aufenthalt der

*) „Ah! ehe se gli e un Dio, ben tosto io pagarä; ma veramente, se non c’e Dio e galantuomo.“

381

alten Erzväter und der ungetansten Kinder limbus patrum

und limbus infantium. Im Orkus und Tartarus begegnen wir dagegen den besonderen Martern derer, die die Götter gereizt haben, den Jxion, Tantalus und Genossen. Die Jammerstätte des Judentums ist eigentlich eine irdische, das Gehinnom, d. h. das in der Nähe von Jerusalem ge­ legene Thal Hinnom, Gegend von Elend und Schierke mit Goethe zu reden. Darum sagen wir, wenn es uns nicht

behaglich ist, noch heute, daß wir uns geniert fühlen, be­ kanntlich abgeleitet vom französischen g6ne, das wieder von

Gehinnom, Geheime, herrührt. Die heiligen Schriften werden von den Kirchenlehrern nur mit wenigen Stellen für diese Regionen angerufen; aus dem alten Testament hauptsächlich eine Stelle, Genesis 37,35, wo Jakob bei der Nachricht von Josephs Tode spricht: „Ich werde mit Leid hinunterfahren zu meinem Sohne in die Grube", und aus dem neuen die Stellen Ev. Marci 19, 43: „Es ist Dir besser, daß Du ein Krüppel zum Leben eingehest, denn daß Du zwei Hände habest und fahrest in die Hölle, in das ewige Feuer", und Matthäus 25, 41: „Gehet hin in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln". Über das, was die Hölle in der Höllenfahrt Christi bedeutet, den Descensus ad infernum gehen dagegen die Auslegungen wieder auseinander. Ohne Zweifel haben mythenbildende Vorstellungen, ver­ sinnlicht von Dichtern und Malern, einen sehr wesentlichen Beitrag zur Ausstattung dieser Glaubensphantasie geliefert. Zweierlei physikalische Elemente treten uns dabei als die

vorherrschenden entgegen: die Verlegung des Strafortes unter die Oberfläche unseres Planeten und das Zuchtmittel des Feuers. Letzteres ist noch ganz besonders verstärkt worden durch den erst später von der katholischen Kirche zwischen Himmel und Hölle eingeschobenen Begriff des Fege-

382 feuers, welches immer mehr an die Stelle der ewigen Ver­ dammnis treten mußte, je mehr die Praxis von der Lehre der Erlösung durch die den Ablaß vermittelnde Autorität sich ausbreitete. Merkwürdigerweise spielt bei dem größten Repräsentanten des Mittelalters, der Himmel und Hölle zur höchsten dichteri­ schen Gestaltung erhoben hat, das Feuer keine große Rolle, nicht einmal im zweiten Teil seiner göttlichen Komödie, die eigens das Fegefeuer, allerdings nur Purgatorio genannt,

zum Gegenstand hat. Erst gegen Ende, im fünfund­ zwanzigsten Gesang, bei den Bußen der Wollüstigen, treffen wir auf die schmerzenden Flammen, die letzte Pein, ultima tortura, wo die Bergeswand Flammen ausschleudert und den Dichter die Furcht vor dem Feuer zurückhält. Auch verlegt Dante das ganze Purgatorium nicht unter die Ober­ fläche der Erde, sondern auf einen Berg, der aus einer Insel aufsteigt. In den neun Kreisen der Hölle wird mehr von anderen Qualen als denen des Feuers Gebrauch ge­ macht, und man kann nicht sagen, daß Dante Hölle oder Fegefeuer zum Schutz der Monarchie verwendet. Im Ge­ genteil, Herrscher, Tyrannen, sowohl weltliche als geistliche, stellen ein großes Kontingent zum Heere der Bestraften, während die Rebellen kaum unter den Büßenden vorkommen. Im achtundzwanzigsten Gesang der Hölle stoßen wir auf Bertrand de Born, den Sänger, der seinen Kopf in der Hand trägt wie eine Laterne, weil er den Prinzen Heinrich gegen seinen Vater, den Köuig von England aufgewiegelt, wie Ahitophel den Absalon gegen Vater David. Aber es ist nicht die politische Rebellion, die hier ihre grausame Strafe findet, sondern. „Weil Menschen ich getrennt, die sonst sich lieben.

So trag ich mein Gehirn getrennt allhier Von seinem Qnell, der in dem Rumpf geblieben'"

383 Ganz zum Schluß, im letzten Gesang der Hölle, treffen wir noch Brutus und Cassius, welche das dreiköpfige Ungeheuer rechts und links von Judas Jschariot zwischen den Zähnen hält. Es ist nicht die Empörung, sondern der Verrat, der hier bestraft wird, und, wie um keinen Zweifel darüber aufiommen zu lassen, begegnen wir sofort im darauf folgen­

den ersten Gesang des Fegefeuers dem mit besonderer Liebe behandelten Cato von Utica, dem die Freiheit so teuer war, daß er dafür das Leben ließ.

Tu’l sai ehe non ti fu per lei amara In Utica la morte.

In der ganzen Höllenordnung mit der Strafeinteilung der neun Kreise findet sich unter der Aufzählung aller Sünden keine der politischen Auflehnung. Der Teufelspoet des siebenzehnten Jahrhunderts besingt in seinem verlorenen Paradies allerdings die Empörung der gefallenen Engel gegen Gott, aber wie er über die analogen irdischen Ver­ hältnisse dachte, ist schon oben besprochen worden. Die Topographie der Miltonschen Hölle ist schwankend und un­ klar, während die Dantesche uns genau als im Centrum der Erde befindlich beschrieben ist, von einer Axe aus er­ reicht, deren Spitze von Jerusalem herabgeht. Was die Dichter gesungen und was die Vollssage aus­ gesponnen hat, gehört selbstverständlich nicht zu den Glaubens­ lehren. Aber die allgemein menschliche Auffassung von der Beschaffenheit der Strafen im Jenseits malt sich darin un­ leugbar. Eine sinnlich ergreifende Vorstellung von einem bestimmten Aufenthalt der Qual für Gestorbene wird immer,

wie es in der That in allen Mythen der Fall ist, auf einen unterirdischen Raum und als vornehmstes Strafmittel auf das Feuer hinauslaufen. Bei der Ahnung übersinnlicher Freuden läßt sich die Phantasie zur Not auf Unbestimmtes ein. Überraschung und Ungeahntes kann hier seine Macht

384 ansüben. Aber um Schrecken zu erregen bedarf es der sinn­ lichen Vorstellungen. Übersinnliche Pein ist ein viel zu ätherischer Gedanke, um auf das Gemüt des von irdischer Versuchung heimgesuchten Sterblichen zu wirken. Das können höchstens greifbare materielle Schreckmittel besorgen. So wenig nun die Naturwissenschaften jemals die Philosophie ganz ersetzen werden, so wenig werden sie in denjenigen menschlichen Sphären, denen die Religion zur Befriedigung ihres moralischen und geistigen Bedürfnisses unentbehrlich ist, diese ersetzen können. Aber so viel ist richtig: in einem Zeitalter, welches die Naturwissenschaften

so wie das heutige in den Vordergrund der breitesten Bil­ dung gestellt hat, dürfen die religiösen Vorstellungen nicht in auffälligen Widerspruch mit den physikalischen Wahxheiten kommen, ohne dabei Schiffbruch zu leiden. Eine Höllenanstalt im Schoß unseres Planeten findet schwer ihren Platz auch in den elementarsten Begriffen der physi­ kalischen Geographie — von den sieben Himmeln nicht zu reden. Wer sich die Mühe geben will, aus dieser einfachen Betrachtung die naheliegenden Rückschlüsse zu ziehen, wird leicht entdecken, welcher Art heut zu Tage Versuche zur Verbesserung religiösen Unterrichts nicht sein dürfen, wenn sie überhaupt wirffam sein wollen. Ganz besonders die­ jenigen, welche die Sozialdemokratie unter dem Gesichts­ punkt ihres Unglaubens bekämpfen wollen, begehen den größten Irrtum, indem sie ihr mit religiösen Apparaten entgegentreten, deren Gebrechlichkeit so augenfällig ist. Es ist mit Recht gesagt worden, daß gerade die Vergröberung des Religionsunterrichts — und die Verschärfung des kon­ fessionellen Formalismus ist eine solche Vergröberung — die Jugend umsomehr ins sozialdemokratische Lager treiben werde.

385 Aus demselben Grunde können die, welche mittelst der Erhaltung der Religion das Band zwischen Monarchie und Volk stärken wollen, keinen schwereren Fehler begehen, als

wenn sie die Religion auf die jetzt vorgeschlagene Manier zu stärken vermeinen. Sie stellen damit die Monarchie

auf die allerbedenklichste Voraussetzung. Es ist — mutatis mutandis — etwa so, als wenn sie meinten, zur Erhaltung der Monarchie müßte die Prügelstrafe wieder eingeführt werden. Sieht man genau zu, so besteht wohl auch eine innere Verwandtschaft zwischen den Liebhabern der Prügel­ strafe und den Gönnern des neuen Schulgesetzes. Der Deutsche versteht im ganzen nicht übermäßig viel Spaß, am wenigstens aber in Sachen der Religion. Es ist ihm damit viel mehr Ernst als allen anderen Nationen, auch denen, die frömmer erscheinen als er. In Frankreich, England und Amerika hat das stillschweigend anerkannte Bedürfnis fester moralischer Ordnung instinktiv die wohl­ habenden Klassen zu einer Respektierung der religiösen Äußerlichkeiten erzogen, welche deren formale Anerkennung zu einer Anstandspflicht macht. Nicht fromm erscheinen ist in England einfach not respectable, wie unanständig ge­ kleidet zu sein. Ähnlich in Frankreich, wenn jetzt auch der

politische Radikalismus dagegen Sturm läuft. Der feine und im stillen ganz ungläubige Rivarol, welcher der Schreckenszeit nach Deutschland aus dem Weg ging, gebraucht einmal die sehr bezeichnende Wendung, Gottlosigkeit — l’impiete — sei die größte aller Indiskretionen. Etwas trivialer drückt sich Thiers dahin aus, ungläubiges Gebaren gehöre zu den schlechtesten Manieren. Den Franzosen ist darum der Katholizismus la religion des gens comme il saut, weil er sich auf schädliche Diskussionen nicht einläßt. Derartiger Jndifferentismus liegt dem deutschen Wesen fern. Wenn Goethe den Hikmet Nameh sagen läßt: Ludwig Bambergens Ges. Schriften.

I.

nc

386 „Soll man dich nicht aufs Schmählichste berauben,

Verbirg dein Gold, dein Weggehn, deinen Glauben"

so denkt er nicht an die anderen, sondern an sich in seiner stillen Höhe. Eine Ehe, in welcher der Mann ungläubig ist und seine Frau behaglich der Bigotterie überläßt, die Regel in Frankreich, ist in Deutschland gewiß eine Selten­ heit. Wo die Religion Fuß gefaßt hat, wirkt sie hier viel stärker als dort. Der politische Einfluß der katholischen Geistlichkeit, auch in den ländlichen Wahlkreisen, ist dort unendlich viel geringer als bei uns. Die rasche, breite und tiefgehende Erregung, welche in allen Schichten der Bevölkerung durch den Schulgesetzent­ wurf hervorgerufen worden ist, giebt von neuem Zeugnis von dem gewaltigen Ernst, mit welchem die Deutschen diese religiösen Fragen erfassen. Zahlenmehrheiten in Kommissionen und Parlamenten können — dank den Septennatswahlen — dies Schulgesetz dem Lande auflegen; aber denen, die es ersonnen haben, und denen, die es begrüßen, möchte es schlecht bekommen. Der Monarchie, die sie stützen wollen, kann man nur raten zu dem Gott zu beten, der vor übel­

beratenen Freunden behütet.

Unsere Neuesten/) Düngst schrieb ich einem befreundeten Franzosen, der sich viel mit Studien über Deutschland beschäftigt, zahlreiche

Arbeiten über unsere Litteratur

und

Politik, namentlich

auch die soziale und philosophische veröffentlicht hat,*) **) und

bemerkte

ihm

am

Schluß

des

Briefes,

daß

zur

Zeit

Friedrich Nietzsche mit besonderer Vorliebe bei uns ge­ lesen werde.

Merkwürdiger Weise kreuzte sich dies Schreiben

mit einem des Adressaten, in welchem es am Schluffe hieß: „Unsere Jugend treibt jetzt sehr viel Nietzsche." Das ist doch höchst bezeichnend.

die auf diesem Kriegspfad

gegen

Es sind die „Neuesten",

das Alte wandern; und

wenn irgend etwas ihre Brust schwellt, so ist es gewiß das

Bewußtsein der Originalität, des Emporragens über alles Dagewesene.

Und

nun zeigt sich,

daß diese

Menschheit

letzter Ausgabe doch auch einer allgemeinen, um nicht zu *) Aus der „Nation" vom 23. Juli 1892.

**) Ich benutze diesen Anlaß, um insbesondere auf das letzt« Buch dieses Schriftstellers aufmerksam zu machen, „Le Socialisme allemand et

le Nihilisme russe par J. Bourdeau (Paris, Felix Alcan), in welchem die Geschichte, die Theorien und die Kritik der Ideen und Persönlichkeiten mit außerordentlicher Sachkenntnis

und Unbefangenheit behandelt sind.

Der Autor hat sich zu verschiedenen Epochen längere Zeit in Deutschland

ausgehalten, Menschen und Zustände aus naher Berührung, vertraut mit der Geschichte und Litteratur, kennen gelernt.

388 sagen gemeinen Zeitströmung unterthänig ist; daß sie ge­ horcht, während sie zu befehlen wähnt. Eine Mahnung sicherlich zur Bescheidenheit, wenn in zwei so verschiedenen, so vielfach einander befehdenden Regionen der europäischen

Gesellschaft in so absonderlichen Dingen Gleichheit herrscht. Das Phänomen dieses Zusammenstimmens ist allerdings nicht vereinzelt, und es läßt sich ferner nicht verkennen, daß dabei der Zug mehr von Deutschland nach Frankreich hin­ übergeht als umgekehrt; nicht unbedingt und einseitig jedoch. Denn wir haben von den Franzosen den Naturalimus, Realismus, Impressionismus, Pleinairismus und auch et­ lichen Cynismus in Kunst und schöner Litteratur herüber­ genommen. Daß wir darin mehr Nachahmungstrieb als Geschick bewähren, gereicht uns eher zu Nutz und Frommen, wenn auch nicht gerade zur Ehre: denn an gutem Willen zum Bösen fehlt es eigentlich nicht. Dagegen haben beispielsweise jene von uns bezogen: Schopenhauer, Richard Wagner, Treitschke-Ahlwardt, Nietzsche — ich nenne sie in der chronologischen Ordnung ihres Umzugs, ohne sie ihrer Würdigkeit nach untereinander klassifizieren zu wollen. Handelspolitisch gesprochen haben wir die aktive Bilanz auf unserer Seite. Unsere Ausfuhr übersteigt an Wucht und Erfolg bedeutend unsere Einfuhr. Es wäre neben der eigenen Ausfuhr auch noch der ExportZwischenhandel zu nennen, auf dessen Wegen wir es sind, welche z. B. den Franzosen Ibsen zugeführt haben. Den ganzen Staatssozialismus nicht zu vergessen, den wir zwar nicht allein und einseitig erfunden haben, dessen Ursprung sogar eher in Frankreich zu suchen ist, den wir aber durch selbständige Behandlung (mittelst des Verfahrens, welches das römische Recht die Spezifikation nennt) so nach unserer

besonderen Art umgemodelt haben, daß er unser geistiges Eigentum geworden ist. Unseren Staatssozialismus haben

389 wir nicht nur zu den Franzosen, sondern durch die weite Welt bis zu den selbstherrlichen Angelsachsen verbreitet. So scheint die Thatsache festzustehen, daß Deutschland seit

dem letzten Kriege als herrschende Macht den Stempel seines Ingeniums der Mitwelt anfgedrückt hat und zwar am meisten den grollenden Besiegten. Von Rechts wegen muß hier auch der Grundsatz der allgemeinen Schul- und Dienst­

pflicht als eine nach deutschem Vorbild von beinah ganz Europa nachgeahmte Einrichtung erwähnt werden; und müßte nicht schließlich auch an den Siegeszug des deutschen Bieres erinnert werden? Einzelne unter diesen Strömungen haben sogar zur Zeit jenseits unserer Grenzen ihre Ufer mehr ausgebreitet als im Lande des Entspringens. Wagner beherrscht den Geschmack der Musiker und jedenfalls der „schönen Welt" in Frankreich noch stärker als bei uns.

Schopenhauer, in Deutschland schon älter, tritt hier mehr in den Hintergrund, während er dort eine Art populäre Figur geworden ist, der man in Romanen und Feuilletons begegnet, die vor zwei Jahren sogar einmal in einer Posse über die Bühne eines Tingeltangels ging. Der Staats­ sozialismus kommt in einzelnen Formen der Gesetzgebung vielleicht dort ebenso stark oder noch stärker zum Ausdruck als bei uns, denn manches in ihm entspricht mehr dem französischen Ingenium als dem deutschen, aber er wird schwerlich sich des ganzen Lebensgebietes in demselben Grade bemächtigen wie bei uns, weil die Verteilung des Besitzes ihm in den tonangebenden Klassen Frankreichs viel weniger Sympathie zuführt, als er diesseits aus der Mitte des Adels und der Studierten empfängt. Noch schwächer dürfte dort die Zukunft des Antisemitismus sein. Der heitere Sinn für Leben und Lebenlassen findet auf die Dauer keinen Geschmack an der „ethischen" Aufgabe, seinem Nebenmenschen das Leben zu vergiften. Um so mehr dürfen wir uns

390 freuen, daß die eminent deutsche Begabung für Musik und spekulative Philosophie sich auf dem Gebiet des wider­ strebenden Nachbars so wohlwollender Aufnahme erfreut.

Sind doch beide ganz besonders dazu da, das Leben zu versüßen! Ist es nicht ganz schön, wenn die verfeindeten Nationen wenigstens auf zwei solchen Regenbogenbrücken, dergleichen der liebe Gott seiner Zeit eine erscheinen ließ, um sich jede weitere Revanche am Menschengeschlecht zu verschwören, einander die Händen reichen? Gewährt nicht Bayreuth,

wohin das tout Paris sich drängt, von Sommer zu Sommer immer mehr den Anblick eines musikalischen Anti-Kronstadt? Auch Schopenhauer und besonders Nietzsche lassen zwar an prismatischem Farbenspiel nichts zu wünschen übrig; aber freilich Philosophie wird für die Massenbewegung niemals Brücken bauen, und gerade diese neueste am wenigsten. Denn wenn philosophische Systeme schon an sich zur Do­ mäne der Geistesaristokratie gehören, so tragen noch die der beiden Genannten den Stempel aristokratischer Exklusivität ganz besonders an sich. Ja gerade auf diesen aristokratischen Zug ist das Glück, welches unsere zwei neuesten Denker hier und dort gemacht haben, zurückzuführen. Oder, um es anders auszudrücken, ihr Denken selbst wurzelt in der Natur eines, trotz allem, beide Nationen beherrschenden Zeitgeistes. Wir haben es mit einem aristokratischen Rückschlag gegen den Demokratismus der Zeit zu thun. Schopenhauer legte in den stillen Anfängen den Grund, seine Saat ging ja auch erst später auf. Nietzsche*), der jenen seinen Lehrer nennt, — und man würde das merken, wenn er es auch nicht sagte, — fing gleichfalls in der Stille an und explo­ dierte erst in den letzten Jahren weit hinaus. Beide er«

*) Ich beziehe mich hier vorzugsweise auf „Genealogie der Moral".

391 lebten ihre wahren Triumphe nicht mehr,

der Gang der

Zeiten erst half ihnen dazu. Obwohl Nietzsche noch nicht leiblich tot ist, muß man doch leider von ihm als einem Abgeschiedenen reden, und obwohl er mit seinen letzten Folgerungen sich gerade im vollsten Gegensatz zu Schopen­

hauer zu setzen meint, stimmt er doch im Resultat der Nutz­ anwendung mit ihm zusammen. Der eine leugnet das Glück des eigenen Daseins, der andere das Beglückenwollen des Daseins der Vielen. Aber in der Hauptsache begegnen sich beide. Wenn Nietzsche meint, er sei kein Pessimist, so ist

das nur ein Kunststück. Er ist Optimist für eine kleine Aristo­ kratie des Lebens oder der Kraft. Das ist nur ein Streit um ein ganz kleines, im Verhältnis zur Menschenwelt ver­ schwindend kleines Eiland, wo die Auserwählten sitzen. Schopenhauer schmeißt das Ganze zum Teufel und rettet nur nebenher seinen modus vivendi auf das Floß des Mitleids, welches Nietzsche mit Verachtung von sich stößt. Schopenhauers Vornehmheit besteht darin, zu wissen, welche

Kanaille das Leben ist, und das ist auch schon aristokratisch genug. Nietzsche ist nicht so bescheiden, er will das Leben als Gut für sich retten auf Kosten der Kanaille. Seit Schopenhauer hat eben die Demokratie solche Fortschritte gemacht und so in die Breite gewonnen, daß das Bedürfnis der Reaktion bedeutend stärker geworden ist. In der Reaktion der beiden Philosophen geht der Weg von der Re­ signation des Nirwana zur Legitimierung der Wolfsherrschaft, vom Frieden zum Krieg. Es ist im Grunde dasselbe, nur mittelst einer geistreichen Dialektik umgestülpt, wie auch der Darwinismus von Nietzsche bekriegt und doch benützt wird. Er verlacht das Fortleben durch Anpassen; aber das sich Anpassen ist doch nur ein Angepaßtwerden, wie er selbst es den Schwachen im Namen der Starken ver­

kündet.

Das alles, Herrenmoral und Sklavenmoral, Wolf

392 und Lamm, Jenseits von Gut und Böse ist lange nicht neu. Nietzsche weiß es und führt es an, wenn auch nur beiläufig. Man denke nur an den Fürst des Macchiavell, an Hobbes,

an Joseph de Maistre, ebenfalls Zeugen demokratischer Be­ wegungen in der Menschheit. Es soll auch kein Vorwurf sein, daß die Grundgedanken nicht nagelneu sind, denn das ist bekanntlich nie der Fall, am wenigsten in der Philosophie; und wenn es ganz gewiß ein Verdienst ist, Altes, schon Dagewesenes auf neue und anziehende Manier gedacht und gesagt zu haben, so kann es diesem neusten Propheten gewiß nicht bestritten werden. Es möchte schwer fallen, origineller zu sein als er, und es war besonders schwer nach Schopen­ hauer. Beiden gemeinsam und charakteristisch für sie ist, daß sie ihre aristokratische Philosophie für und ihr Glück durch die Leute von Welt gemacht haben. Die Ironie auf ihre Abkehr vom profanum vulgus ist, daß sie Bulgari satoren wurden, demokratisiert wider Willen. Sie dienten dem Geist ihrer Zeit, indem sie ihn bekämpften. Auf Schopenhauer gilt das nur zum Teil, weil der Grundstock seiner Werke mit dem Ausgang von Kant sich in den strengeren Formen des Denkens bewegt. Nietzsche dagegen arbeitet im Geist der analysierenden Dialektik Hegelscher Manier recht eigentlich mit Aperyüs. Aber beiden ist ge­ mein, daß sie gemeinverständliches und schönes Deutsch zu schreiben bemüht und befähigt waren. Beide, der eine in seinen populäreren, der andere in seinen sämtlichen Werken, zogen zum erstenmal das weltliche Publikum in die Kreise ihres abstrakten Denkens. Im Gegensatz dazu blieb ihr Einfluß auf die gelehrte Welt bedeutungslos. Weder wie Kant noch wie Hegel, nur um die größten zu nennen, machten sie Schule in der Wissenschaft der Philosophie und den mit dieser zusammenhängenden Wissenszweigen. So bewährten sie, wider Willen, daß sie dem Zeitalter der

393 Demokratie folgten, und dieser ihrer modernen Eigenschaft verdanken sie auch ohne Zweifel ihre französische Popu­ larität.*) Hegel hatte seiner Zeit in der eklektischen Philo­ sophenschule Frankreichs Einfluß auf den Katheder gewonnen, und wie Taine uns bezeugt, wird gegenwärtig in den obersten Klassen der Gymnasien Frankreichs ein „neu« kantisches" System gelehrt, das, wie er ohne Zweifel mit Recht behauptet, keine Fühlung mit dem Leben hat. Selbst August Comte, der ins Lebendige eingriff und mit der Politik zusammenhing, fand in seinem Vaterlande nicht nachhaltigen Anflang in die Breite, nicht einmal so viel wie in England, wo er durch die Vermittelung Mills Ein­ fluß gewann. Bekanntlich dauerte es lange, ehe Schopen­ hauer bei uns durchdrang. Entscheidend für den Umschlag

war ganz gewiß der Umschlag im öffentlichen Leben. Mit dem Beginn der fünfziger Jahre nach dem Scheitern des deutschen Regenerationsversuchs kam das Studium der Philosophie auf den Hochschulen in Verfall. Der Liberalis­ mus der gelehrten und besonders der litterarischen Politiker

*) Für solche, die sich näher für die Sache interessieren, sei bemerkt: die größeren Werke Nietzsches sind bis jetzt noch nicht ins.Französische übersetzt. Aber zwei Übersetzungen seiner sämtlichen Werke sind in der Arbeit. Nur eine ältere Schrift: „Richard Wagner in Bayreuth", ist vor längerer Zeit erschienen. Dagegen brachte der Pole Wyzewa in der „Revue bleue“ im Jahre 1891 einen Artikel: Frederic Nietzsche, le demier Metaphysiken, und eine Erwiderung auf dieselbe erschien 1892 in der Zeitschrift „Le Banquet“ (Paris, Librairie Rouquette), die seit kurzem von einer Anzahl ganz junger Leute herausgegeben wird. Ähnliche Richtung verfolgt die belgische Zeitschrift „La societe moderne“, welche Über­ setzungen des „Fall Wagner" und „Zarathustra" gab. Welche Überein­ stimmung auch hier mit unseren „Neuesten"! Die von ihnen heraus­ gegebene Zeitschrift „Die Gesellschaft" beschäftigt sich ebenfalls viel mit Nietzsche. In Frankreich ist er schon so weit vorgedrungen, daß hie und da der „Figaro" gegen die Richtung ausfällt.

394 hatte noch seine Wurzeln in der nachhegelschen Periode ge­ habt. Seine Niederlage sowie der ganze Katzenjammer des wieder eingezogenen bundestäglichen Regiments drückten den

Geist der Nation auf eine Stimmung flacher Nüchternheit herab. Aus diesem Elend half eine Weltanschauung heraus, die Resignation mit ernster Vornehmheit verschönte, und die Eleganz, die pikante Geistreichigkeit der Behandlung, die sarkastischen Ausfälle gegen die ohnehin vereinsamte Kathederweisheit, das alles, weiter getragen durch einige begeisterte und rührige Jünger, fiel als eine fruchtbare Saat auf den wohlvorbereiteten Boden. Es ist bezeichnend, daß nach dem großen Krieg in Deutschland ein Stillstand in dieser Bewegung eintrat, während die Popularität Schopenhauers erst damals in Frankreich einzusetzen begann, eine natürliche Folge der jetzt hinübergezogenen moralischen Depression, und zugleich eine Reaktion gegen den in der Form und der Praxis des Staats zur Herrschaft gekommenen Demokratismus, namentlich auch gegen die geistige Verflachung, welche in der Volksvertretung und der Beamtenwelt an die Oberfläche emporstieg, Gambettas „vierte Schicht". Schon lange vorher hatte eine sehr kritische Behandlung der Revolution von 1789 immer mehr Anklang in der jüngeren Gelehrtenwelt gefunden. Zu der gleichen Zeit und aus dem frischen Zug der neuen Ge­ staltung der Dinge trat in Deutschland an die Stelle der quietistischen Richtung die heroische. Aber gemeinsam war beiden das Bedürfnis der Auflehnung gegen das sichtbare Übergewicht des Demokratismus. Bei uns ging der Kultus

der nationalen Kraftherrlichkeit und derjenigen Persönlichkeit,

in welcher man diese Herrlichkeit verkörpert sah, seelen­ verwandt dem Wolfsbewußtsein, dem Nietzsche seine Le­ gitimität bescheinigen sollte, voraus. Aber es war jener Kultus noch mit dem sittlichen und religiösen Cant versetzt,

395 den der ehrliche Nietzsche verschmäht.

Die „Schneidigkeit"

war nur nach unten schneidig, nach oben war sie platt und stumpf. Sie kleidete das Recht des Stärkeren in das An­ standsgewand der „Zucht". Nietzsches Wolfsherrschaft beruft sich einfach auf das biologische Gesetz. Die vornehme Ver­ achtung der Philantropie ist beiden gemein als Anwandlung

von Schwäche, von falscher Sentimentalität. Wenn man den Begriff der „Zucht" chemisch in seine Teile auflöst und das Element der Sittlichkeit ausscheidet, bleibt einfach die Herrenmoral der Neuesten übrig. Phi­

lantropie ist im Grunde nur ein anderes Wort für De­ mokratie, wenigstens heutzutage, da — trotz allem — der aufgeklärte Despotismus keinen öffentlichen Kredit besitzt.

So wiederholt sich hier, was wir in allem Vorangehenden beobachtet haben: wir sehen eine geistige Bewegung vor uns, welche sich aus dem unwiderstehlich vorwärtstreibenden Drang des Demokratismus als vornehme Reaktion gegen denselben herauswindet, und welche wiederum doch dem Zeitgeist gehorcht, der sie in die Breite und die Tiefen

drängt. Das Genie wimmelt Heuer in den Gaffen und wühlt in den Gosfen, sieht aber doch mit Verachtung auf alles herab, was da ist und besonders was gewesen. Die Vulgarisation des Genialitätsanspruchs ist eines der amü­ santesten Phänomene der Gegenwart. In Frankreich hat man dafiir den Namen fin de Siede erfunden. „Wir, die wir mit einem Fuß im zwanzigsten Jahrhundert stehen, sind über alles hinaus". Das stimmt so ganz zu „Mensch­ liches und Allzumenschliches", zu „Jenseits von Gut und Böse". In Deutschland haben Zeit und Umstände vor allem eine Vervielfältigungsmethode geliefert, welche an die physikalische Übertragung der magnetischen Eigenschaft er­ innert. Man reibt sich am Genie und wird dadurch seiner Qualität teilhaftig. Etwas der Art gab es immer in der

396 Welt, aber auf bescheidenere Art.

Man sonnte sich in dem

Widerschein eines großen Gestirns. „L’amitie d’un grand homme est un bienfait des dieux“. In Paris gab es

vor Zeiten einen Musiker mit Namen Schindler, der sich hatte Visitenkarten stechen lassen (damals waren sie noch nicht vulgarisiert und wurden gestochen) „Schindler, ami

de Beethoven“. Wie rührend klang das! beinah schöner als „Premierlieutenant der Reserve". Bei uns entwickelte sich unter der Gunst der Zeiten und dem Kultus des Genius die Solidarität der Genies, die Philosophie des Bewußten. Gerade die Großen waren zwar solchem Treiben immer abhold. Der alte Grillparzer sagte: „wer mich ein Genie nennt, den schlag ich hinter die Ohren", und Bismarck sagte vor Zeiten in einer Reichstagsrede, er halte das Wort „genial" auf sich angewandt für eine Beleidigung. Aber besonders seit seiner Verabschiedung ist das alles anders geworden. Ehemals stieg er höchstens durch seinen Sohn zum Volk herab, den das Herabsteigen weiter keine große An­ strengung kostete; und nur eine kleine Schar dienstwilliger Verehrer, Künstler namentlich, auch Schriftsteller und Poli­ tiker bildete den Kreis der Vertrauten, denen man, wenn sie sprachen, anmerkte, daß sie sich im Innersten dazu rechneten: „Wir nächste zum Genie". Seitdem aber der Ruf ergangen: „Jeder komme, wie er ist", lautet der Spruch „Wir Genies". Reihe.

Jeder wird „Erzieher"; eine unabsehbare

An alledem ist der arme Friedrich Nietzsche nicht schuld. Es liegt nur in der Luft. Aber er gehört doch zu

den obersten Geistern, die in dieser Luft schweben und dessen Stimme zu vernehmen sich lohnt und schon darum empfiehlt, weil sie so angenehm klingt. Geist und Wissen in Hülle und Fülle und eine sprudelnde Überproduktivität. Will man sich das Vergnügen ganz rein herstellen, so be-

397 folge man von Anbeginn den Rat sich nicht anzustrengen, um alles zu verstehen. Vieles ist nach Prophetenart oft nur dunkel zum Erraten hingeworfen, ungewiß, ob es der Prophet selber weiß. Auch das Unverständliche wird oft Ereignis. Ebenso wenig muß man damit hadern, daß im Grunde die Kritik alles Bestehenden dem einigermaßen mit diesen Dingen Vertrauten keine neuen Resultate bringt, nur neue Arabesken. Die ganze Auflösung von Gut und Böse mit allem, was in der „Genealogie der Moral" daraus folgt, ist ebenso wie die Verleugnung der Misericordia, des Mitleids, in Spinozas Ethik niedergelegt. Nur, daß der praktische Philosoph seine Betrachtung unter den Schutz der Ewigkeit (species aetemi) stellt, das Zeitliche auf zeitliche Weise versöhnend. Spinoza war eben ein wirklicher De­ mokrat, ein ehrlicher Republikaner, der zu den Brüdern de Witt gegen die oranische Aristokratie hielt. Darum kann der Philosoph der neuesten Kraftmeierei ihn zwar im Ge­ biet der Abstraktion, aber nicht der Ethik verwenden. Wem fallen bei all dem nicht die ewigen Schlachten ein, die um das Problem des freien Willens geschlagen werden? Wem, der sich einigermaßen kennt, ist hier die Lösung sub specie aetemi verborgen? Aber wie kommt man weiter fort im Gedränge des Lebens? Da sitzt der Knoten. Auch Schopenhauer hat man bekanntlich Inkonse­ quenz vorgeworfen. Der Epikuräer, der das Dasein für ein Übel erklärt, und der Menschenverächter, der nur die

Hunde liebt (viele Menschenverächter lieben aus Koketterie die Hunde, siehe Tyras), aber so eitel ist, daß er jedes Käse­ blättchen, in dem er genannt wird, sorgfältig einsammelt

(siehe den Briefwechsel mit Becker). Aber man hat mit einigem Recht in diesem Fall, wie in ähnlichen, eingewandt, daß der Schriftsteller nach seinem Werke und nicht nach dem Menschen zu beurteilen sei, wiewohl das bei den Philosophen

398 doch ein bischen anders liegt, und Philosophen wie Descartes,

Pascal, Spinoza, Kant, in denen der Mensch sich mit dem Denker deckt, vorzuziehen sind. Ganz anders noch liegt die Sache bei Nietzsche. Hier fällt die Inkonsequenz in die Doktrin innerhalb ihrer eigenen Grenzen hinein. Wenn für das Leben — und das ist ja seine Prätension — das Gut und Böse eine Fiktion ist, warum zürnt er denen, die nicht denken wie er? Wo ist Irrtum, wenn diese Unter­ scheidung fällt? Ja noch mehr: sehr konsequent gelangt seine Kritik auch an die Verneinung der letzten Instanz: Was ist Wahrheit? Was ist der Wert der Wahrheit? — „das Problem, die Frage ist einmal aufzustellen" (Genealogie

der Moral). Die Antwort fehlt im Text. Wir werden mit einem Hiatus abgefunden. Hier hält er vor dem letzten Sprung ein. Denn er hat sich wohl gesagt: wenn Wahr­ heit nur eine metaphysische Fiktion ist, ist dann nicht diese meine Entdeckung auch eine? und warum schreibe ich Bücher? Beiläufig gesagt ein hübscher Gegensatz zu Ibsen, der die Unwahrheit bis aufs Messer bekriegt. Und kommt nicht schließlich auch die ganze Herrlichkeit der Wolfssouveränetät dadurch auf den Hund, daß die Schafe sich zusammenthun lernen? O Kerl, der spekuliert und rings umher liegt fette grüne Weide! Der Versuche,

einen

Menschheitsplan

a priori zu

zeichnen, sind schon manche dagewesen. Wir haben es hier nur mit solchen zu thun, die von dem demokratisirenden Zug der Zeit eingegeben sind. Auch David Strauß hat

am Ende seines Lebens einen mißglückten Versuch gemacht, und der lang verehrte und gefeierte Gelehrte ist darob mit der bei uns nicht seltenen Jmpietät gescholten worden. Er gehört auch zu den Betes noires von Nietzsche, denn obwohl er den aristokratischen Zug gemein hat, verfiel er mit seinen

399 positiven Ideen ins Gegenteil aristokratischer Starkgeisterei; er wollte zu viel des leidlich Guten retten und wurde süßlich. Einen interessanten Gegensatz bildet Leo Tolstoi. Hier soll die demokratische Schwierigkeit auf einfach demokratische Art überwunden werden. Einfachheit und Gleichheit mit Rückkehr zum Urmenschen, aber auf gläubigem Grund. Im letzteren liegt der Unterschied gegen Rousseaus Revenons a la nature. Merkwürdig, wie die Jdeenschweifungen sich berühren. Nietzsche leitet seine Herrenmoral von dem höheren Rechte der als stärker geborenen Bestie ab, labt sich an der Vorstellung von dem Rudel blonder Tiere, welches unter die Schwächeren seinesgleichen hereinbricht. Während er mit diesem Hinweis auf die Urnatur an Rousseau anlehnt, trifft er mit dessen schärfstem Gegner, dem katholischen de Maistre, zusammen, der das Recht des Blutvergießens uns so einfach vor Augen rückt. „Setzen wir uns nicht jeden Tag fröhlich an einen Tisch, der mit Leichen bedeckt ist?" Das wäre eine Rechtfertigung für Tolstois neueste Ab­ handlung*), in welcher er unter Schilderung der Greuel des Tierschlachtens Predigt, daß „der erste Schritt" zur Herstellung einer besseren Welt die Bekehrung zur Pflanzen­ kost sein müsse, der bekannte Vegetarianismus. So lange die Menschen Tiere töten, meint er, werden sie auch ein­

under totschlagen. Die Liebhaber der Fleischkost werden ihm vielleicht antworten wie Alphons Karr den Gegnern der Todesstrafe: que Messieurs les assassins commencent! Weder Tolstois Milch und Honig, noch de Maistres blutiges Schwert, auch nicht die Beethovensche Harmonie des „Neuen Glaubens" verursachen uns zur Zeit viel Anfechtung. Da­

gegen schreitet die Kraftmeierei des Genies immer breitspuriger durch die Reihen unserer „Erzieher".

Und Gott weiß, es

*) The first step in der New Review vom Juli d. I.

400 fehlt uns nicht daran. Ob wirklich der anonyme Welt­ geist so sehr viel Ursache hat, mit Selbstbefriedigung sich zu sagen: auf die Vielen kommt es mir nicht an, sofern ich mein Spiegelbild nur in meinen Herren vom Genie erblicke. — Aber gerade darum thun sie sich zusammen. Was immer den Kitzel des Genie-Snobbisms in seinem heiligen Innern fühlt, Männlein und Weiblein, drängt sich heran. Die Solidarität der Genies schart sich um ihre Sturmfahne und predigt den heiligen Krieg gegen den Sensus communis, den alten prosaischen Menschenverstand. O tägliches Brot des gesunden Verstandes

von Gottes Gnaden, komme zu uns und laß uns bewahrt sein vor dem Genie, seinem Pomp und seinen Werken! Amen!

Die neueste Aera Ser Hpekukatron?) Aie

epochemachenden

i. Erscheinungen

gewaltig

auf­

tretender Spekulationen sind um eine eigenartige bereichert. Abgeschlossen ist sie noch nicht, und das macht die Sache um so spannender. Man kann Vergleichungen anstellen mit welthistorischen Erfahrungen ähnlicher Natur. Alle sind schon untereinander verschieden, aber vielleicht ist noch keine dagewesen, die den früheren so wenig gleicht. Die Entfesselung des Spiels zur Zeit der englischen SüdseeGesellschaft, die Ausschweifungen zur Zeit von Laws Herr­ schaft in Frankreich, die Thorheiten der holländischen Tulpen­ agiotage nahmen von vornherein einen anderen Verlauf. Die Entdeckung der Goldfelder in Kalifornien und Australien entfaltete sich nicht in der Weise, wie die uns jetzt be­ schäftigenden afrikanischen Unternehmungen. Am ersten ließen sich noch Parallelen ziehen mit den Perioden des rasch in Schwung gekommenen Eisenbahnbaues, welcher auf Grund thatsächlich auszuführender, vielverheißender Kulturaufgaben, den Unternehmungsgeist und, im Gefolge, dessen Über­ treibung betäubend in Gang setzte.

In den Spekulations-

*) Aus der „Nation" vom 28. Dezember 1895. Ludwig Bambergens Ges. Schriften. I.

402 fiebern des vorigen Jahrhunderts war das Chimärische vor­ herrschend; die Phantasie, namentlich auf das Überseeische gerichtet, berauschte die Erwartungen. In der Mitte unseres Jahrhunderts lieferte die Umgestaltung der Erde durch den Dampf und die Schiene dem Kapital eine neue masfenhafte Beschäftigung, erhöhte seinen Zins und führte durch die, nach Vorbild der, von den Gebrüdern Pereire in Frankreich zuerst ins Leben gerufenen, Mobiliarkreditgesellschaften zur Anreizung des finanziellen und industriellen Unternehmungs­ und Spieltriebs. Um das Ganze in Fluß zu bringen, mußte die Rechtsform der anonymen Gesellschaften zu neuer viel­ fältiger und beweglicher Anwendung gebracht werden. Die Flut ging aufwärts bis in die zweite Hälfte der fünfziger Jahre, erlebte dann eine starke Rückstauung, erhob sich

wieder nach dem italienischen Krieg und hielt sich mit auf« und absteigenden Perioden im Ganzen bis zum großen französisch-deutschen Krieg. Man weiß, daß der auf ihn folgende Friede den Anstoß zu einem neuen Aufschwung und, in dessen Konsequenz, zu neuer gewaltiger Überspeknlation gab, die mit dem von Amerika und Österreich aus­ gehenden „Krach" endete. Von Wien ist dies börsendeutsche Onomatopoietikon in die europäischen Kultursprachen über­ gegangen, hat auch das Zeitwort „verkrachen" geliefert. Seit jener Zeit hat sich vieles wieder gebessert, einzelne Epochen wie der Beginn der achtziger Jahre nahmen einen frischen Anlauf. Aber es ist doch seit jenem Krach nicht wieder erlebt worden, daß die ganze Handelswelt mit Weiter­ wirkung auf das große Publikum zu sanguinischen Massen­ käufen spekulativer Werte, begleitet von phänomenal in die

Höhe schnellenden Preisen, fortgerissen worden wäre. Ganz allein die südafrikanischen Goldbergwerke haben, und zwar erst seit etwa Jahresfrist, immer crescendo diese wilde Jagd

nach Gewinn wieder entfesselt.

Das Erlebnis ist seiner

403 allgemeinen und seiner besonderen Natur nach so interessant, daß es bereits die Aufmerksamkeit auch der nicht daran be­ teiligten Kreise auf sich gezogen hat; und das noch in der Entwicklung begriffene Schauspiel wird sich lange und be­

deutend genug fortsetzen, um zu rechtfertigen, daß sich die Beobachtung der Zeitgenossen näher mit ihm beschäftigte. Einige Zeit, ehe der Krach der siebziger Jahre herein­ brach, habe ich einmal in einer Reichstagsrede vor dem Ende der damals noch hochgehenden Spekulation gewarnt, als ein gewaltiges Steigen in Bergwerksaktien losging. Ich sagte damals, auf meine Erfahrung aus den fünfziger Jahren gestützt, daß, wenn erst die Aktien der Bergwerke ins Blaue hinaufzuwirbeln anfingen, der Vorabend des Umschlags ge­ kommen sei und man sich auf das Hereinbrechen eines Sturmes gefaßt machen müsse. Ich hatte richtig prophezeit,

und im Gegensatz zu schlechten Erfahrungen, die man im Prophetengeschäft zu machen pflegt, hat mich mancher meiner damaligen Zuhörer noch nach langen Jahren an jenen Aus­ spruch erinnert, den ich schier vergessen hatte. Diesmal kommt aber die Sache so, daß man analoge Schlußfolge­ rungen nicht ziehen kann. Die Agiotage, welche im spätern Verlauf längerer allgemeiner Spekulationsperioden sich auch auf Bergwerke stürzt, entspringt dem Suchen des Spieltriebs nach neuen Objekten, und weil alsdann die Rückschläge in den bereits ausgenützten Objekten zu beginnen pflegen, be­ deutet das Auflodern der Bergwerksagiotage meist den An­ fang des Endes. Diesmal jedoch verhält sich die Sache gerade umgekehrt. Die Bergwerke haben den Anstoß gegeben. Auf ganz natür­ lichem Wege drängten sie sich dem Unternehmungsgeist auf. Man könnte sagen: die Börse ist nicht zum Berg gegangen, sondern der Berg zur Börse. Genau genommen handelt es sich auch nicht ausschließlich um bergmännischen Betrieb.

26*

404 Denn dieser ist zwar überwiegend Gegenstand der neuesten Gesellschaften, aber es hat sich doch die von ihm ausgehende Belebung der Goldsuche auch auf die Gebiete ausgedehnt, bei welchen das edle Metall auf andere Weise gewonnen wird.

n. Seit etwa fünf Jahren gab es an der Londoner Börse einen Winkel, in welchem die Geschäfte sich ausschließlich mit Anteilen an südafrikanischen Minen befaßten. Man nannte ihn ironisch the Kaffir hook, d. h. den Kaffernwinkel. Zwar lag — weiter rückwärts — ein Exempel vor, welches gehörigen Respekt einzuflößen wohl geeignet war. Lange vor den Goldgruben waren im südlichen Afrika die Diamantgruben erschlossen worden. Sie hatten vielen große Reichtümer eingetragen. Die Namen Kimberley, De Beer, Jagersfontein hatten einen guten Klang und haben ihn bis auf diesen Tag bewahrt. Die Aera des Goldes begann erst etliche dreißig Jahre später. Im Jahre 1887 wurden die ersten winzigen Ausbeuten zu Tage gebracht und zwar auf dem Boden jener nach Transvaal verpflanzten Boeren, d. h. der holländischen Bauernrepublik, auf welchen jetzt die Blicke der ganzen Welt gerichtet sind. Im Lande Trans­ vaal selbst ist der bei weitem reichste Bezirk der, welcher den Namen Witwatersrand führt, auch kurzweg zuweilen Rand genannt. Von der gesamten Goldausbeute des Jahres 1892 kamen neun Zehntel auf den Rand, ein Zehntel auf anderes südafrikanisches Gebiet. Die Anfänge waren, wie gesagt, zwar schwach; doch der Zauberklang des Wortes Gold genügt, die Gewinnlust in Aufregung zu bringen. Die Spekulationslust bemächtigte sich der Sache, und es dauerte nicht lange, so hatte sie sich überschlagen und ihre

405 Opfer verzehrt. Nicht nur eine Menge schwindelhaft ange­ priesener Gesellschaften nahmen den Leichtgläubigen das

Geld aus der Tasche, sondern da, wo wirklich etwas zu holen war, setzte greuliche Mißwirtschaft ein. Abenteurer, die nie einen Schacht gesehen hatten, ernannten sich zu

technischen Direktoren, und andere, die einiges verstanden, benutzten ihre Kenntnisse, um das Publikum mit falschen Effekten zu blenden. Eines der beliebtesten Kunststücke war, den Goldlagern „die Augen auszustechen", d. h. einzelne seltene Kerne reinen Metalls (nuggets) auszubohren und sie als maßgebend für ganze Lagerungen den künftigen Gewinnberechnungen zu Grunde zu legen. So kam es in diesem Spiel vorerst zu einem Krach, an dem namentlich in England ziemlich viel Geld verloren wurde. Aber die Schuld lag nur an dem Leichtsinn der Menschen, nicht an der Sache. Um Hilfe zu schaffen, rief man mehr und mehr ernste Männer von Fach herbei, und nun zeigte sich bald, daß man im-Anfang die neu entdeckten Gefilde nicht überschätzt, sondern unterschätzt hatte. Selten hat sich ein Betriebsfeld in solcher Progression entwickelt. Im Jahr 1888 betrug die Ausbeute des Randes nicht mehr als 7173 Kilo Gold, 1890 schon über das Doppelte, im Jahr 1893 das Siebenfache, 1894 das Neunfache — oder, mit gemein­ verständlichen Zahlen, im Jahr 1888 wurde für etwa 16 Millionen Gold gefördert, im Jahre 1894 für 145 Millionen. Die Zahlen für 1895, welche wir bis Ende August besitzen, sichern eine weitere Steigerung. Man kann das Endresultat des Jahres auf 166 Millionen Mark veranschlagen. Da­ mit wäre der Rand allein in sieben Jahren von der untersten Stufe in die höchste der Gold produzierenden Regionen aufgerückt. Ein so fabelhafter Aufschwung konnte sich nicht voll­ ziehen, ohne daß zwei Bedingungen erfüllt wurden.

Spe-

406 kulation, aber auch sachliche Tüchtigkeit mußte eingreifen. Die Sittlichkeitsheroen, welche sich jetzt rüsten, im deutschen

Reichstag ein Börsengesetz zu machen, um, wo möglich, alle Spekulation von Grund aus mit der Wurzel zu vertilgen, könnten, wenn sie überhaupt geneigt und fähig wären zu lernen, aus der näheren Beobachtung dieser äußerst kurzen Entwicklung lernen, wie der Sporn der Spekulation an der Verbesserung menschlicher Zustände mitarbeitet, und wie er zugleich den Fleiß und Scharfsinn vieler Berufszweige an­ treibt. Die Spekulation mußte das Kapital beschaffen, aber um ihren Lohn zu finden, mußte sie alle Hilfsmittel der verfeinerten Technik heranziehen. Man weiß, was das charakteristische Wahrzeichen dieses südafrikanischen Goldbetriebes bildet. Während die großen Funde in Kalifornien und Australien, die in der Wende der vierziger auf die fünfziger Jahre die Welt überraschten, aus sogenanntem Schwemmgold herrührten, haben wir es hier mit einem im festen Gestein eingenisteteten Gold zu thun, das in regelrechtem bergmännischen Bau gefördert wird. Aus diesem Gegensatz ergiebt sich der folgenschwere Schluß, daß es sich hier um einen Betrieb handelt, der nicht jener schnellen Erschöpfung ausgesetzt ist, welche den Unglückspropheten der „Goldnot" diente, um aus den Fundorten des Schwemmgoldes Kapital zu schlagen. Heu­ tigen Tages rühren, wie der Direktor der preußischen Berg­ akademie Dr. Hauchecorne in seinem vorzüglichen amtlichen Bericht nachgewiesen hat, schon siebenzig Prozent der ge­ samten Goldproduktion aus bergmännischem Betrieb her. Der zweite bedeutsame Charakterzug ist durch die Ver­ besserungen gegeben, welche im Dienste der kapitalistischen Unternehmung alle Zweige der wissenschaftlichen Technik herbeigeschafft haben. Zunächst war es ein eigentümliches Naturspiel, daß die Entdeckung der großen Diamantgruben

407 an derselben Stelle vorangegangen war. So lag es nahe, daß bei dem Bohren in die Tiefe der Diamant in größerem Maßstab als bisher zur Anwendung kommen konnte. Der Diamantbohrer, d. h. das am unteren Ende zur Überwin­ dung des härteren Gesteins mit Diamantstaub umkleidete Instrument leistet höchst wichtige Dienste zur Orientierung

in den Fundstellen. Noch viel wichtiger aber sind die Bei­ träge, welche die Chemie geliefert hat. Die Verschwendung von Stoff, welche namentlich bei den kalifornischen Aus­ waschungen den Gewinn so stark beeinträchtigt hatte, auf ein Minimum zu reduzieren, ist hier durch neue Methoden gelungen, die auch deutsche Namen, Plattner und Siemens, tragen. Teils dank dem Plattnerschen Chlorinationsverfahren, teils dank dem Siemensschen (auch als Mac Arthur Forest bezeichneten) Cyanidprozeß werden jetzt die Schliche (concentrates) und Pochrückstände (tailings) so ausgelaugt, daß nur noch fünf Prozent Gold in den Rückständen ver­ loren gehen. Überall sind technisch geschulte Leiter an der Spitze der Betriebe.

III. Eine Zeitlang konzentrierte sich die Mobilisierung von Kapital, welche zur riesigen Entfaltung dieser Unterneh­ mungen gehörte, in England. Aber viel Zeit konnte nicht verstreichen, ohne daß die Augen der nach Gewinn aus­ blickenden Leute von den Vorgängen in Transvaal und London angezogen wurden. Holländer und Deutsche machten sich vertraut mit den Dingen, begaben sich bald des Studiums halber an Ort und Stelle, bald verfolgten sie das Londoner Geschäftsgebaren, griffen in dasselbe ein und weckten bei ihren Kunden den Sinn für die Beteiligung. Einzelne

408

Geschäftshäuser bildeten die Spezialität aus. Es entstanden auch in Deutschland periodische Organe zur fortlaufenden Belehrung über den Gang der Dinge, so in Berlin, vor drei Jahren, die sehr gut redigierte „Südafrikanische Wochen­ schrift."*) Allmählich wurde das größere Publikum der Kapitalisten aufmerksam, die Geschäfte mehrten sich, es wurden bei der steigenden Konjunktur ansehnliche Gewinnste gemacht. Große Geldinstitute sandten Fachmänner nach Transvaal, um mit voller Sachkenntnis zu arbeiten. Diese Entwicklung bekam aber plötzlich ein neues Gesicht, als das Licht der neuen Sonne mit einem Schlag über

Paris aufging. Das sanguinische Naturell des Landes, die in dem schönen Babel zusammenströmende in Reichtum

schwelgende und nach immer größeren Reichtümern dürstende, aus allen Weltteilen rekrutierte Gesellschaft fand hier plötzlich ein neues faszinierendes Objekt für Spiel und Gewinn. Was war natürlicher, als daß die von hier auf­ steigenden Raketen weithin leuchteten, und daß nun über die Welt eine jener sieberhaften Bewegungen kam, welche immer weiter und tiefer die Menge in ihre Wirbel hinein­ ziehen. Die Erzählungen von rasch realisierten Gewinnsten schlagen dem Publikum dermaßen an die Ohren, daß Hunderttausende sich zu der Frage hingedrängt finden: wenn es Brei regnet, warum soll ich keinen Löffel nehmen? Man schämt sich ordentlich, so kahl dazustehen, während der Nachbar rechts und links sich den Bauch streicht. So kommt es zu tollen Schwindelstürmen, die meist mit Heulen und Zähneklappern enden. Was hier noch besonders fördernd wirkt, ist der geringe Nominalbetrag der Geschäftsanteile. Aktien von einem Pfund Sterling, zwanzig Mark, giebt es bei uns nicht. Sie erlauben, wie es in der bekannten *) Herausgeber F. Bittorf.

409 Terminologie lautet, den kleinsten Geldbeuteln ihr Glück zu probieren, und sie geben dem Papiere eine verzehnfachte Flugkraft. Ist einmal der Spielteufel losgelassen, so stellt sich für ihn auch das Bedürfnis ein, die Zahl und Art seiner Lockvögel zu vermehren. Wo die Preise der älteren Werte schon hochgetrieben sind, braucht das Publikum neue, um ebener Erde einzusteigen. So ist es jetzt gekommen, daß die Geschäfte in Gold­ aktien sich zunächst aus Transvaal auch in andere süd­ afrikanische Gebiete begeben haben. Die nächstliegende so­ genannte Kapregion war schon längst in Angriff genommen. Dagegen beginnen jetzt halbentdeckte Landstriche, deren Dunkel gerade die Phantasie reizt, ihre magnetische Kraft auszuüben. Der verstorbene Sir Randolph Churchill, der geistreiche Abenteurer, der eine kurze Zeit als verwegener Jungtory eine glänzende politische Rolle spielte, war zuerst mit solchen spekulativen Absichten in das Maschonaland ge­ drungen. Maschona, Matabele, Rhodesia (nach Cecil Rhodes, dem allmächtigen und kühnen Minister der Kapkolonie ge­ nannt), rücken in die Börsen ein. Aber warum soll es bei Afrika sein Bewenden haben? Ist nicht Australien bis jetzt das produktivste Goldland der Neuzeit geblieben? Und hier haben sich seit etlicher Zeit neue Goldquellen in West­ australien angekündigt, um den alten von Viktoria Kon­ kurrenz zu machen. Ob auch der am ersten genannte Be­ zirk von Coolgardie schon wieder in seinem Ruf erschüttert sei, es liegen noch so viele unabsehbare Gebiete brach, und an Indizien fehlt es nicht. Es konnte nicht ausbleiben,

daß nun auch der Ehrgeiz der alten Goldländer sich wieder mehr angestachelt fühlte, zumeist selbstverständlich in Amerika. Hier regt es sich überall mit neuer Lust, besonders in Co­ lorado und Venezuela. In ersterem hat der Bezirk von

410 Cripple-Creek aus 350 einzelnen Betrieben im letzten Jahre für 14 Millionen Mark Gold geliefert und ist in rascher Vermehrung begriffen. Und Indien, das älteste Goldland, will nicht zurückbleiben. Die Minen von Mysore zählen schon seit Jahren zu den vorteilhaftesten. Ja sogar das erschöpfte,

abgesuchte Europa meldet sich

und will noch

nicht ausrangiert sein. Ungarn und Siebenbürgen werden unter den ältesten Goldfundorten Europas genannt. Ganz hat auch der Betrieb hier nie aufgehört. Nun taucht die Nachricht auf, einer der kuriosesten unter den neu aufge­ schossenen Glückspilzen wolle seinen befruchtenden Samen auch über Ungarn und Siebenbürgen ausstreuen; es soll

zu diesem Zweck eine Barnatobank mit vielen Millionen ins Leben gerufen werden. Barnato heißt nämlich der Mann, der zahllose Millionen in Afrika gemacht hat; und als er, aus Afrika kommend, in Paris goldleuchtend auf dem Boulevard niederstieg, wurden allerhand wunderliche Aufschlüsse über ihn zum besten gegeben. Es ist aber nicht richtig, daß er seinem früheren Beruf nach Clown gewesen wäre. Aus guter Quelle wird mir folgendes ge­ schrieben: Barnato, auch Barney genannt, was vermutlich denselben Ursprung wie Bernays hat, war ein kleiner Händler in dem armen Bezirk von Whitechapel in London, trieb sich dann als Schauspieler auf kleinen Provinzbühnen umher und schämt sich so wenig seiner Vergangenheit, daß er noch heute gelegentlich Shakespeare deklamiert, oder, wenn er in Johannesburg ist, am Schluß einer Darstellung hinter die Bühne hinaufklettert und den Schauspielern zeigt, wie sie es hätten machen sollen. Im Augenblick residiert Barnato im Hotel Bristol in Paris, wo die gekrönten Häupter abzusteigen pflegen und wo er mehr als mancher Gesalbte des Herrn jetzt die Großen des Landes empfängt und sich gnädig von Journalisten und vornehmen und ga-

411 kanten Damen, beides nicht selten in einer Person, inter­ viewen läßt. Bei diesen Empfängen erscheint er angethan mit einem rosaseidenen Schlafrock und entsprechenden Hosen. Die Zeitungen von New-Aork, London und Paris füllen ihre Spalten mit Schilderungen seiner Person und seiner weltumfassenden Pläne. Es giebt bereits eine ganze Menge von Barnato-Schöpfungen: Barnato-Konsols, Johannes­

burg - Investments, Anglo-French, London-and-ParisGesellschaft u. s. w., zu denen jetzt die große Barnato-Bank kommen soll. Eine andere aber sehr ernst zu nehmende Figur ist der schon genannte Minister Cecil Rhodes. Als Studiosus der Medizin ward er auf ärztlichen Rat, weil man ihn für hoffnungslos brustkrank hielt, aus England weg nach dem Kap geschickt, und da schwang er sich zur ersten Rolle in Südafrika auf. Er ist der einflußreichste Mann in der Politik dieser Kolonie und in allen anstoßenden Gebieten, auch in der mächtigen Diamanten-Gesellschaft De Beer. Das Land Rhodesia, dem er seinen Namen gab, ist viel größer als Frankreich. Man will da das langgesuchte Ophir, aus dem König Salomo das Gold zum Tempelbau holte, wieder gefunden haben. Jetzt baut man eine Eisenbahn, deren fünfprozentige Prioritäten sofort zu 98 fünfmal unter­ schrieben wurden.*) Wie Rhodes und Barnato haben alle die, welche unter den erfolggekrönten Goldkönigen genannt werden, mit den Diamantengeschäften angefangen. Am meisten ragt unter *) Seitdem obiges geschrieben wurde, brachte der mißlungene Ein­ fall des Dr. Jameson in Transvaal den dadurch kompromittierten Cecil

Rhodes

um

seine Stellung als Premierminister

der Kapkolonie,

aber

nicht um seine Herrschaft über Rhodesia und die südafrikanische Bewegung. Barnato endete in einem Anfall von Sinnverwirrung, ohne Zweifel die Folge seiner überreizten Thätigkeit, durch Selbstmord.

412 ihnen die Firma Wernher Beit & Co. hervor, die aus Hamburg stammt. Den größten Gewinn hat das Haus mit der „Deep Level" genannten Mine gemacht, die heute etwa 300 Millionen Mark wert sein soll. Ein jüngerer Partner des Hauses, namens Taylor, hat sich kürzlich mit dem bescheidenen Vermögen von 400 000 Pfund Sterling

zurückgezogen. Das Publikum, welchem diese Meteore vor den Augen herumblitzen, möchte gern nachlaufen. Aber wie soll man die richtige Mine erraten? Um diesem tiefgefühlten Be­ dürfnis entgegenzukommen, haben sich Gesellschaften gebildet, welche die unsicheren Schritte der kleinen Kapitalisten leiten wollen und sich nicht auf einzelne Objekte beschränken. Die berühmteste dieser Gesellschaften ist die englisch-afrikanische Chartered-Company, an deren Spitze Cecil Rhodes steht. Die ersten Beteiligten haben enorme Summen verdient. Man erzählt, daß der Erbe eines großen Reiches unter diesen Glücklichen gewesen und dadurch in den Stand ge­ setzt wurde, seine langjährigen und zahlreichen Gläubiger zu befriedigen, welche diese glückliche Wendung wohl herzlich bedauern. Hinter dem großen Publikum stürmt natürlich das kleine her. In Paris ist schon wieder der Kurszettel der Bergwerkspapiere in allen Portierslogen zu finden. In den Eisenbahnwagen, die nach der Umgebung fahren, reden sich die Insassen auf die letzten Börsennotizen an, man hört nur von East-Rand, Simmer and Jack, Robinson rc. er­ zählen. Bis jetzt ist alles vortrefflich gegangen. Man schätzt den in Paris gemachten Gewinn auf 700 Millionen Franken, etwa die Hälfte dessen, was an Panama verloren wurde. Wien, welches im Geschäftsgeist mehr Verwandt­

schaft zu Paris hat, als Berlin, rüstet sich. Bereits macht die Börse große Umsätze in Goldaktien, das Publikum wird nachfolgen.

Doch

bis jetzt steht noch alles weit hinter

413 In dem letzten Liquidationstermin der Börse war in dem Kaffir hook so viel zu thun, daß die Nächte durchgearbeitet wurde mit Zuziehung von Hilfs­

London zurück.

arbeitern, die man exorbitant bezahlte. Briefe nach Paris zu schreiben fehlte die Zeit. Es wurde nur mit dem Tele­ phon korrespondiert. Die führenden Makler kassieren in jeder Liquidation Beträge von 40 000 Pfund Sterling für Courtage ein. Alle anderen Papiere sind in den Hinter­

grund verschwunden.

IV. Wie wird das enden? So lautet die Frage, die jeder bei der Lektüre dieser Schilderung aufwerfen wird. Die Antwort ist so einfach nicht. Ohne Zweifel kommt einmal der Tag, an dem es heißen wird: den letzten beißen die Hunde. Aber wann wird er kommen? Welche werden die letzten sein? Die Beantwortung dieser Frage geht uns hier nichts an. Die neue Periode der Spekulation, die Art ihrer Ent­ stehung, ihres Verlaufs und die Wahrscheinlichkeitsberechnung ihrer Zukunft sind höchst interessant; man muß sie recht­ zeitig ins Auge fassen, weil sie eine kulturhistorisch mar­ kierende Erinnerung zurücklassen werden. Aber dies alles verschwindet an Wichtigkeit neben dem substantiellen Inhalt, welcher der Spekulation die Nahrung giebt und von ihr neuen Nahrungsstoff zurückerhält. Es handelt sich hier neben allem Spiel und allen Spielern um eine bedeutsame Bereicherung des Weltver­ mögens und um ein neu entfaltetes Stück Kulturwelt. Zunächst hat man gefragt: was mag denn an Gold im ganzen zu holen sein? Ein deutscher Beamter ist rasch weltberühmt geworden, weil er die zuverlässigsten Anhalts-

414 Punkte aufzustellen vermochte.

Vor drei Jahren schickte die

preußische Regierung einen sachkundigen Mann nach Süd­ afrika, um sich über den Einfluß, welchen die dortigen

Funde auf den Goldvorrat der Welt haben würden, zu orientieren. Dieser Mann war der Bergrat Schweißer.

Man hätte keinen glücklicheren Griff thun können. Denn es hat sich gezeigt, daß Herr Schweißer mit der vollsten Sachkenntnis eine Eigenschaft verbindet, die höchst selten ist bei denen, welche in der Erde verborgene Schätze zu ver­ anschlagen haben: eine große Nüchternheit und Mäßigung. Es steht heute fest, daß die Grenzen, welche Herr Schmeißer

seinen Abschätzungen der Goldlager gezogen hat, durch die Thatsachen bereits überschritten sind. Darum nennt man in allen Weltteilen jetzt seinen Namen als den, auf den

man sich am sichersten verlassen kann. Eben ist er aus dem Weg nach Westaustralien, um dies neue Eldorado seiner kritischen Prüfung zu unterwerfen. Aber auch seine bescheidenen Voranschläge kamen schon vor zwei Jahren auf imposante Zahlen hinaus. Der Vor­ sichtigste rechnet beim Witwatersrand auf einen Goldvorrat von mehr als vier Milliarden und eine Betriebsperiode von fünfundzwanzig Jahren; ein zweiter, weniger skeptischer Vor­ anschlag kommt auf sieben Milliarden und vierzig Jahre

hinaus. Wie ängstlich diese Schätzungen sind, mag man daraus entnehmen, daß andere vorliegen, die viel weiter gehen. Nimmt man hinzu, was im übrigen Südafrika und in anderen Weltteilen jetzt in Angriff genommen wird und mit welchen Mitteln, so leuchtet ein, daß wir vor einer Entwicklung stehen, die man sich hüten muß, mit dem sengenden Strohfeuer einer wilden Spekulation in imaginären Werten zu verwechseln. Die Goldvermehrung dürfte in Südafrika bald die Nebensache werden. Man weiß, wie sich Kalifornien erst durch ihren Anstoß erhoben, hat. Sind

415 auch die klimatischen Verhältnisse des üppigen Kaliforniens nicht mit denen des Kaplandes zu vergleichen, so hat dies doch ein gutes Klima und, was besonders wichtig ist, einen

reichen Kohlenvorrat. Auch das geht aus Herrn Schweißers Bericht hervor. Bereits ist Johannesburg eine empor­ blühende Stadt mit 60 000 europäischen Bewohnern. Die Bauthätigkeit entfaltet sich riesig. Große Wasserwerke, auch von Barnato ins Leben gerufen, sind im Werke. Die Eisen­ bahn ist bereits nach zwei Seiten im Gang. Neue Linien sind im Entstehen. Selbst die Verschwendung, welche der blinde Eifer der Spekulation dem Lande zuführen wird, kann nicht anders als bleibende Spuren und dauerhafte Gestaltungen hinterlassen. Eine interessante Beleuchtung der Art, in welcher die Geschäfte in Südafrika rapid zu­ nehmen,

liefert die Bewegung des Goldes selbst auf dem

Weltmarkt. Es kommen zwar wöchentlich große Beträge in Goldbarren aus Südafrika nach London, aber es gehen auch sehr beträchtliche in gemünztem Gold wieder dahin. Die Kapkolonie und Transvaal haben nämlich noch nicht genug eigene Prägungsanstalten. In den ersten acht Monaten dieses Jahres kamen vom Kap 5 135 000 Pfund Sterling in Barren, gingen aber dahin 3 220 000 Pfund Sterling in Münze, und in der letztabgelaufenen Woche kamen 141 000 Pfd. Sterl., während 465 000 dahin gingen. Ein Teil des Gewinnes, den die bisherigen Beteiligten gemacht haben, beruht nicht auf bloßer Fiktion. Die Mutungen, welche ihnen geringe Kosten verursacht haben, liefern Erträge, welche die Auslagen verzehnfachen und weit darüber hinaus. Die englische Wochenschrift „Economist", welche nicht auf­ hört, ihr Publikum vor chimärischen Ideen zu warnen, stellt Berechnungen auf, die einen ziffermäßigen Einblick Danach hatten allein die 28 notorischen Gesellschaften im Anfang einen Wert in jene Wertvermehrungen geben.

416

von zusammen 6^2 Millionen Pfd. Strl., und repräsentieren heute 381/ä Millionen, nachdem einzelne schon Dividenden bis zu hundert Prozent und die wenigsten unter zwanzig Prozent verteilt haben. Mit einem Wort: wir stehen wahrscheinlich am Vor­ abend einer Periode sich überschlagender Spekulation,*) aber diese aus dem Spieltrieb unvermeidlich hervorgehende Über­

treibung hat nichts zu thun mit dem unabsehbaren Gebiet, in welches der Un.ternehmungsgeist sich seine Bahn gebrochen hat und in welchem er dauernden Gewinn für die Mensch­

heit schafft. Vielleicht möchte wie wird das alles auf wirken müssen? Aber und das gegenwärtige

mancher noch die Frage anhängen: den bewußten Währungsstreit zurück­ das steht auf einem andern Blatt, mag hier seinen Schluß finden.

Interlaken, Ende September 1895.

*) Zwei Monate nachdem obiges geschrieben ward, setzte der Rück­ schlag in entsetzlichen Dimensionen ein.

Vor fimfrwözrvarrzLg Jahren/) i. ^loch einmal werden diese Tage der Rückschau in das Vergangene und Gewordene zu Betrachtungen rufen. Aber­ mals wird die Bilanz gezogen werden zwischen Ehemals und Jetzt. Soviel an diesem auszusetzen, jenem werden wenig Thränen nachgeweint werden. Trotz allem, was das Deutsche Reich an Blütenträumen nicht gereift hat, den Deutschen Bundestag und seine Herrlichkeit können doch nur Narren zurückwünschen. Vielleicht wird auch die Frage von neuem hin und her gewogen, wessen Verdienst es sei, daß es — viel oder wenig besser geworden, als vor fünfundzwanzig Jahren; wessen Schuld, daß es nicht so gut geworden, wie es hätte

werden können. Nicht die Fülle dieser Abwägungen und der sich daran reihenden Kontroversen soll hier vermehrt werden. Jüngst kam mir die Lust, auch einmal eine stille Stunde der Er­ innerung zu feiern, und zum ersten Mal nach einem Viertel­ jahrhundert schlug ich die Blätter wieder auf, in denen ich *) Aus der „Nation" vom 18. und 25. Januar und 1. Februar 1896 aus Anlaß des fünfundzwanzigjährigen Jubiläums der Gründung des Deutschen Reichs. Ludwig Bamberger's Ges. Schriften.

I.

27

418 damals Tag für Tag das Denkwürdige des Erlebten nieder­ geschrieben hatte. Und weil es an allgemeinen Betrach­

tungen nicht fehlen wird, ist vielleicht ein kleiner Beitrag nicht unwillkommen, der nur persönliche Reminiszenzen bringt, etliche kleine Züge, bald dieser, bald jener Auf­ zeichnung entnommen, etwa zu Staffage verwendbar in einem großen Gesamtbild, das sich die Gegenwart von dem damals Geschehenen zu machen wünscht. Ich greife zu diesem Zweck einige Notizen heraus aus dem ersten Abschnitt,

da der Krieg begann, und einige aus dem zweiten, da er zu Ende ging und mit dem Deutschen Reich zum ersehnten Abschluß führte.

Im Juni 1870, ments,

nach Schluß des dritten Zollparla­

war ich noch einmal nach Paris gereist,

um ver­

schiedene alte Angelegenheiten zu ordnen. Am 5. Juli brachte die ofsiziöse Zeitung „Le Constitutionnel“ einen Artikel gegen die Kandidatur des Prinzen von Hohenzollern in Spanien. Man sprach viel darüber, und die Börse erfuhr einen leichten Rückgang; doch schien die Sache noch nicht ernst. Am folgenden Tage, am 6., fand ich in der Abendzeitung den Text von Gramonts Erklärung in der Kammer über dieses Thema mit der Phrase, daß die französische Regierung die Wiederaufrichtung des Thrones Karls V. nicht zugeben könne. Sofort ward mir klar, daß jetzt eine ernste Kriegsgefahr aufgetaucht sei. Ich fuhr rasch nach dem Boulevard, um Näheres zu erfahren. Auf dem Wege kreuzte ich mich mit dem Minister Ollivier, mit dem ich bekannt war, und der mir einen sonderbaren, mir auf­ fallenden Blick zuwarf. Vor ungefähr zwei Jahren hatte ich ihn aus Anlaß der Luxemburger Angelegenheit in seiner Wohnung aufgesucht, und es kam zu einer lebhaften Aus­ einandersetzung, als er mir demonstrierte, Frankreich könne

419

nie zugeben, daß der Norddeutsche Bund die Mainlinie überschreite. Er war damals noch liberaler Abgeordneter-. Zwischen Aufregung und Spannung über den Fortgang der Dinge verliefen die Tage bis zum 10. Es war ein Prächtiger,

sonniger Sonntag. Im Gehölz von Boulogne begegnete ich einem Freunde, der sofort seinen Wagen halten ließ, heraus­ sprang und mir sagte, daß nach soeben ihm zugekommenen Nachrichten an der Absicht, es zum Kriege zu treiben, kein Zweifel mehr sein könne. Ich selbst teilte die Überzeugung durchaus. Die Wolke, die seit dem Frieden von Nikolsburg am Horizont heraufgezogen war, bald still stehend, bald wieder verhängnisvoll dräuend, sollte nun wirklich zur furchtbaren Entladung kommen. Der Gedanke,

für Menschlichkeit und Zivilisation an sich schon grausam genug, mußte mich, der ein halbes Menschenalter in Frank­ reich verbracht, sehr viel Gutes genossen und gelernt, zahl­ reiche schöne Freundschaften geschlossen hatte, doppelt und dreifach schmerzlich sein. Um so schmerzlicher, als gerade im letzten Jahrzehnt deutsche Wissenschaft und Bildung mit Vorliebe bei den französischen Gelehrten Eingang ge­

funden hatte, eine ganze Schule daraus hervorgegangen war. Ich sah voraus, welch tiefer unheilbarer Riß auf lange Zeit zwischen den beiden Nationen unmittelbar be­ vorstand. Hippolyte Taine war eben erst, mit Empfehlungen auch von mir versehen, nach Deutschland gereist. Er kehrte alsbald um und blieb von da an ein bitterer Feind. Aber aller Schmerz konnte nicht verhindern, zu sehen, daß keine Rettung mehr war, daß im kaiserlichen Lager der Krieg beschlossen war. Merkwürdiger Weise schien die deutsche

Presse noch keine Ahnung davon zu haben. Die Berliner, die rheinischen Blätter ergingen sich in superklugen Be­ trachtungen über die Wichtigkeit, die man fälschlich in Paris der spanischen Sache beimesse. Es war zu befürchten,

27*

420 daß diese Auffassung einer französischen, dem Anschein nach wohl vorbereiteten Überrumpelung in die Hände

arbeiten werde. Ich eilte zu einem deutschen Freunde, einem in Paris angesehenen Arzte, und wir überlegten

zusammen, was zu thun sei, um die deutsche Presse und die auf sie hörenden Regierungen auf die Größe und rasche Annäherung der Gefahr hinzuweisen. Nach Deutschland telegraphieren konnte man nicht. Ich beschloß als das kürzeste Mittel, an einen alten Universitätskameraden zu schreiben, der ganz nahe an der französischen Grenze wohnte. Es war dies der Amtsrichter Justizrat Bulling, welcher in Oberstem, dem oldenburgischen Enclave an der Nahe, seinen Sitz hatte. Ich schrieb ihm, sofort bei Empfang meines Briefes an den mir befreundeten Vetter des Bundeskanzler­ amtspräsidenten Delbrück, Herrn Adalbert Delbrück in Berlin, zu telegraphieren, daß man nicht länger an dem An­ griff von französischer Seite zweifeln solle. Der Brief, den ich mir später vom Empfänger zurückgeben ließ, ist noch bei meinen Akten. Auf brieflichem Wege machte ich noch einigen anderen dazu geeigneten Freunden klar, daß alle Hoffnung auf friedliche Beilegung Illusion sei. Schon am Tage vorher hatte ich ein interessantes Gespräch mit einem der höchsten Hofbeamten des kaiserlichen Palastes. Ich hielt ihm vor, welch thörichtes Wagnis dieser Krieg sei. Er antwortete mir: „Sie haben recht, wir sind ver­ rückt, aber das macht gerade unsere Stärke; wenn wir nicht verrückt wären, würden wir abwärts gehen wie die anderen lateinischen Nationen, aber Frankreich ist unzerstörbar." Ich entgegnete ihm: „es wird geschlagen werden und Elsaß verlieren," worauf er: „nun, dann wird es dasselbe später wiedernehmen, mit uns werdet ihr nicht fertig" — und lachend, lustig läuft er davon. Dem entsprechend sieht das Getümmel auf dem Boulevard aus; eine muntere Erregt-

421 heit spricht aus der bunt bewegten Menge. Dieses unzer­ störbare Temperament erklärt viel Glück und Unglück im

Schicksal der Nation. Meine Frau, die im Wiesbadener Lazarett die Verwundeten Pflegen half und wegen ihrer Kenntnis der Sprache der französischen Abteilung angehörte, konnte nicht genug erzählen, wie die Gefangenen und Be­ siegten viel lustiger waren als die freien Sieger. Am Montag früh besuchte mich der mir nah befreundete re­

publikanisch gesinnte Deputierte X. Auf seinen Wunsch hatte ich ihm acht Tage früher, als die Debatte über den Beitrag Deutschlands zur Herstellung der Gotthardbahn in der französischen Kammer ein kleines Vorgefecht für die kriegerische Stimmung geliefert hatte, im Interesse des

Friedens Material zusammengestellt, welches den friedlichen Sinn der nationalen Bewegung in Deutschland nachweisen sollte. Er wollte in diesem Geist bei der Beratung des Budgets sprechen. Als X. weggegangen, kommt ein anderer Deputierter C., nicht Republikaner, mit dem ich befreundet war, und erzählt, er sei selbst dabei gewesen, wie Jerome David berichtet habe, daß er am Morgen des 6. Juli beim Kaiser gewesen, und man über Verschiedenes da gesprochen

habe, was für die Scene am Abend in der Kammer zu thun sei, so daß die Ultras der kaiserlichen Partei die Granier de Cassagnac, Duguö de la Fauconnerie, Clement Duvernois und andere nach Gramonts Erklärung in einen wohlvorbereiteten Applaus ausbrechen konnten und die anderen mit fortrissen. „Als es vorüber war," fuhr mein Freund fort, „sahen wir uns gegenseitig an und fragten uns: was haben wir gethan? Wir gestanden uns, daß wir uns zu einer patriotischen Demonstration hatten fortreißen lassen, wie das im ersten Augenblick zu geschehen pflegt, wo niemand zurückzubleiben wagt, um nicht gleichgültig zu er­ scheinen." Er wie X. sagten sofort, daß nur eine kleine Minderheit in der Kammer gegen den Krieg sein werde.

422

Fest überzeugt, daß Frankreich so schnell als möglich los gehen werde, beschließe ich, sofort nach Deutschland zurück­ zureisen und setze meine Abfahrt auf Mittwoch früh, den 13., fest. Dienstag, den 12., gehe ich noch einmal um 2 Uhr

in die Kammer, die von einem ungeheuren Zudrange von Menschen umwogt ist; alle Zugänge sind von Equipagen und Fußgängern belagert. Ich lasse mir 3E. herausrufen. Er erzählt, Ollivier habe soeben einen Brief des Fürsten von Hohenzollern mitgeteilt, in welchem derselbe für seinen Sohn ablehne; doch sei dies nur im Wandelgange der Kammer geschehen, nicht offiziell, aber Ollivier habe sich befriedigt erklärt und gesagt: c’est la paix. Ich sehe Thiers mit eher unzufriedener Miene weggehen. Draußen im Publikum verbreitet sich der Glaube, daß der Friede ge­ rettet sei, und so klingt es auch von der Börse zurück. Anderen Morgens um halb acht Uhr fahre ich mit der Nordeisenbahn nach Belgien. Es war ein Mittwoch, ein unvergeßlicher Tag. Der „Constitutionnel“, den ich mir im Bahnhöfe kaufe, klingt ganz friedlich. An der letzten fran­ zösischen Grenzstation, in Jeumont, drängt sich die Be­ völkerung in höchster Aufregung an die Wagen und ver­ langt Neuigkeiten. Die Passagiere werfen ihnen ihre Zeitungen zu und verbreiten die Friedensnachrichten. Die bis dahin freudig aufgeregten Mienen verwandeln sich sofort in enttäuschte. Man war offenbar vorbereitet gewesen, in Kriegsjubel auszubrechen. Ich wendete mich zunächst nach Spaa, wo ich jemanden zu sprechen hatte. Dort trafen mich die Nachrichten von der Scene in Ems zwischen dem Könige und Benedetti. Ich fahre nach Köln, wo ich

Donnerstag, den 14., abends 10 Uhr ankomme und mich sofort auf die Redaktion der „Kölnischen Zeitung" begebe. Ich treffe den Hauptredakteur, Herrn Schulz; er will noch immer nicht bestimmt an den Krieg glauben, und als ich

423

ihm sage, daß ich seit fünf Tagen den Krieg als gewiß ansehe und ihn bereits als eingetreten betrachte, antwortet er mir: „Das ist mir sehr interessant." Nächsten Morgen

gehe ich direkt nach Mainz. Der Gouverneur Prinz von Holstein läßt mich zu sich bitten. Er sagt mir, Preußen sei fertig und ganz gerüstet und ganz ruhig. Ich schreibe einen Artikel für die „Mainzer Zeitung", datiert vom 19. Juli und überschrieben: „Deutschland und Frankreich" mit dem Schluß: „Ich habe Grund, zu glauben, daß trotz allen französischen Kriegseifers und Kriegstalents schon so manchem an der Seine klar zu werden anfängt, daß man uns end­ lich über die Verlegenheit hinausgeholfen: wie Deutschland fertig zu machen? Die Lokomotive am Main hat Kohlen und Wasser gefaßt; Napoleon hat gepfiffen, wir fahren zu, und glückliche Reise, Kronprinz von Preußen!" Ich übergehe die Ereignisse von da bis zur Ankunft des Hauptquartiers in Mainz, insbesondere die interessante Episode einer patriotischen Volksversammlnng, die wir in Darmstadt veranstalten wollten, und die vom Ministerium Dalwigk verboten wurde aus dem Grunde, daß bei einer demnächst zu befürchtenden Besetzung durch die Franzosen dafür schwere Rache genommen werden könnte. Am 2. August, morgens 5*/s Uhr, kommt der König mit dem Haupt­ quartier in Mainz an. Um '/all begab ich mich zu Herrn von Keudell und berichtete ihm zunächst über die erwähnte Darmstädter Angelegenheit und ähnliche Vorgänge daselbst. Keudell erzählte mir, daß man auf preußischer Seite auf ein viel rascheres Vorgehen der Franzosen geschlossen hatte. Des Nachmittags war ich bei Kupferberg, in dessen Hause Graf Bismarck Quartier genommen hatte, mit diesem, Abeken und Keudell zu Tisch. Bismarcks Bagage war

zurückgeblieben; er mußte sich ein Hemd kaufen, war äußerst guter Laune, sagte, daß ihm Wein und Früchte vom Arzt

424 verboten seien, verzehrte aber nichtsdestoweniger von beiden,

sowie vom Gefrorenen ansehnliche Portionen. Nach Tisch wird ein ausführliches Gespräch gepflogen, namentlich über das Verhältnis zu. Österreich und Ungarn. Bismarck

bittet mich, mit Herrn von Abelen über verschiedene Preß­ sachen zu konferieren. In den folgenden Tagen setzen sich diese Besprechungen über die verschiedensten Gegenstände fort. Viel Merkwürdiges in meinen Aufzeichnungen. End­

lich kommen die ersten Kriegsnachrichten von Weißenburg. Ich esse mit einigen Freunden im Holländischen Hof, wo Moltke in unerschütterlicher Ruhe zu Häupten der Tafel sitzt. Es laufen Depeschen ein, die er mit Befriedigung liest; dann steckt er ruhig seine Cigarre an und bleibt noch längere Zeit nach aufgehobener Tafel sitzen. Am 7. morgens kommt die Nachricht vom Siege bei Wörth. Bismarck sandte nach mir; er fragt mich, ob ich mit dem Hauptquartier und ihm mitausrücken wolle, um die Ver­ bindung mit der deutschen Presse zu unterhalten. Drei Beweggründe von gleicher Stärke bestimmen mich, alle schweren entgegenstehenden Bedenken zurückzudrängen: zu­ nächst der Wunsch, in diesem großen Augenblick für mein kleines Teil mich nützlich zu machen, im Hinblick auf die inneren politischen Angelegenheiten der deutschen Einigung, welche jetzt zum Austrag kommen mußten. So­ dann der Anreiz, bei dieser wohl nie wiederkehrenden Ge­ legenheit ein solch historisches Ereignis wie einen großen Krieg in nächster Nähe zu sehen; und endlich nicht am wenigsten das Anziehende, mit einer genialen Persönlichkeit, wie die des großen Kanzlers, bei demselben Anlaß in enge Berührung zu kommen, nachdem ich, ohne ihn gesehen zu haben, ihn zum Helden eines kleinen Buchs gemacht hatte. Eine Stunde, nachdem ich zugesagt hatte, saß

ich mit ihm in seinem Salonwagen in der Eisenbahn.

425 Dabei waren nur noch Herr von Abelen und der junge Herr von Bismarck-Bohlen, welche zum engeren Gefolge

des Kanzlers

gehörten.

Wir fuhren den

ganzen Tag,

und beinahe ebenso lange hatte ich den Genuß einer, man kann sich denken, wie interessanten Unterhaltung unter vier Augen mit dem Grafen Bismarck. Auch hier unterdrücke ich den größten Teil meiner Notizen. Für vieles, was ich

von jetzt an erlebte, ist die Zeit der Veröffentlichung noch nicht gekommen; nur ganz weniges soll hier im Auszuge stehen. Auch damals sagte mir Bismarck, aber ohne des in neuester Zeit mitgeteilten Gesprächs mit Moltke und Roon wegen der Emser Depesche zu erwähnen, daß, nachdem ihm einmal die Gewißheit des Angriffs von feiten Frankreichs festgestanden, er den König möglichst rasch zur Mobilisierung der Armee getrieben habe. Ich brachte dann das Gespräch auf das, was mir am meisten am Herzen lag: wie soll aus diesem Kriege als Frucht die deutsche Einheit gezeitigt werden. Der Kanzler ging nur sehr vorsichtig auf das Thema ein; ihn präoccupierte vor allen Dingen das gute Verhältnis zu den einzelnen Bundesfürsten; Preußen dürfe sich nicht den Anschein geben, als wolle es, nachdem die deutschen Regierungen, und speziell auch die bayerische, sich jetzt zum Kriege ent­ schlossen hätten, diesen Krieg benutzen, um sie zu berauben. Für den Fall des Sieges wolle er Elsaß und auch Metz (hierüber schwankte im Laufe des Feldzugs seine Meinung) als Reichsland zwar mit Baden verbinden, aber Baden dürfe doch nicht größer werden; je mehr kleine Staaten es gebe, desto besser sei es für die zu schaffende Einheit. Selbst Waldeck habe er nur widerstrebend in Preußen in­ korporiert, die richtige Politik sei, die einzelnen Dynastien zu schonen. Nach den ersten Niederlagen werde Frankreich wohl zur Republik werden, aber das sei ihm ganz recht;

426

ob rote, blaue oder schimmelgraue sei ihm ganz einerlei, die Frage werde nur sein, mit wem einen Frieden schließen,

wenn das Kaisertum besiegt sei. So zutreffend scharf sah er schon damals die künftige Entwicklung der Dinge; für die Presse wünscht er ganz besonders, daß die bayerischen Truppen gelobt werden. Diese kluge Bedachtsamkeit auf Schonung, nicht auf Reizung zweifelhafter Elemente, hatte ich im Lauf der Dinge noch öfter zu bemerken Gelegenheit; sie bildete das Gegenstück zu rücksichtsloser Energie, wenn es geraten schien, gewaltsam zuzugreifen. So finde ich ein interessantes Gespräch vom 23. August, also schon nach den Erfolgen bei Metz, in Pont-ä-Mousson. Bismarck war beunruhigt über Oesterreichs Rüstungen, die sehr ernst zu werden schienen. Er schickte mir durch Herrn von Keudell einen Bericht des Majors von Brandt aus Wien vom 19. mit allen Details. Dabei zeigte er mir einen Artikel aus einer deutschen Zeitung, worin über Beust und Andrassy Hohn ergossen ward, daß sie jetzt zurückwichen. Bismarck war darüber sehr unwillig und sagte: wenn sie wirklich auf dem Wege sind, zurückzu­ weichen, so soll man sie nicht provozieren, sondern durch gute Worte darin bestärken. Bald in dieser, bald in jener Richtung erhielt ich fast täglich meine Instruktionen für die Behandlung der Dinge in der Presse. Meine Hauptver­ bindungen waren mit der „Kölnischen Zeitung" und mit der „Mainzeitung" in Darmstadt, die mein jüngerer Freund Fritz Dernburg redigierte. Durch die geistreiche und schlag­ fertige Opposition, welche er von lange her darin dem Ministerium Dalwigk machte, hatte er das kleine Blatt zu einem über den engen Kreis des hessischen Großherzog­ tums hinaus wirkenden Organ erhoben. Die interessanteste Enthüllung, welche mir anvertraut wurde, fiel gleich in den Anfang unseres Auszugs, als das Hauptquartier noch

427

in Homburg in der Pfalz lag. Es geschah am 8. August. Bismarck übergab mir zur Veröffentlichung Kopien des eigenhändigen Schreibens und geheimen Vertragsentwurfs von Benedetti vom 5. August 1866, worin von Vichy aus für Frankreich ein Stück Rheinpreußen, Rheinbayern und

Rheinhessen verlangt wird. Bismarck erzählte mir dazu Einzelheiten, wie z. B. Benedetti sich geäußert habe: si non, c’est la guerre. Bismarck stellte ihm vor, das sei doch zu unsinnig, worauf Benedetti erwiderte: si non, c’est la

perte de la dynastie. Die Tage vom 14. bis zum 20. August,

die ich im Hauptquartier zu Pont-L-Mousson verbrachte, gehörten mehr dem großen Eindrücke der blutigen Ereignisse, die sich unter unseren Augen abspielten. Doch alsbald traten auch die politischen Aufgaben wieder in den Vordergrund. Mit der Notwendigkeit, die besetzten Gebiete in eine gewisse Ordnung zu bringen, sprangen auch alle die Fragen wieder auf, welche sich um die spätere definitive Erwerbung neuer Provinzen und ihr Verhältnis zu Deutschland und dessen einzelnen Dynastien gruppieren sollten. Es tauchten die verschiedensten Kombinationen auf, die ich natürlich hier übergehe. Am selben 23. August ging ich des Abends

mit dem Grafen Renard auf Bismarcks Wunsch nach Nancy. Mir war der Anlaß willkommen, mich wieder deutschem Boden zu nähern. Von den Greueln des Krieges hatte ich genug gesehen, im Lager war für die inneren deutschen Angelegenheiten vorerst nichts mehr zu thun, und die politischen Freunde hatten sich an die Arbeit gemacht, bei den süddeutschen Regierungen für die Herstellung des Reichs zu wirken. Einige Tage darauf wurde ich durch Telegramm ersucht, mit Herrn von Kühlwetter nach dem Elsaß zu gehen. Straßburg war noch belagert, deswegen vorläufig Hagenau zum Sitz der Regierung erwählt. Am 27. traf ich daselbst

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ein; General von Bismarck-Bohlen war Militärgouverneur, Kühlwetter Präfekt. Er bat mich, ihm ein offizielles Preß­ organ ins Werk zu setzen. Ich trat mit einer rhein­ bayerischen Fabrik von Schnellpressen in Verbindung, und am 1. September erschien die erste Nummer der „Amtlichen

Anzeigen für das Gouvernement Elsaß". konnte ich einige Tage Urlaub erwirken,

Am selben Tage um nach Mainz

und Wiesbaden zu meiner Frau zurückzukehren. Unterwegs auf der Eisenbahn erfuhr ich die Nachricht von Sedan und kam in Mainz gerade noch an, um am 3. und 4. die große Siegesfeier mitzumachen. Am Abend beschloß ein großer Fackelzug die Festlichkeit. Auf dem Gutenbergsplatz vor dem Theater war die Menschenmenge unter Fackeln und Illuminationen zusammengedrängt. Dies schien mir der Moment, um das Ziel, welches vom ersten Anfang an in meinen Augen das wichtigste war, die deutsche Einheit und das Deutsche Reich, als den wahren Siegespreis hervorzuheben. Vom Balkon des Theaters herab rief ich der Menge zu, daß der äußere Feind zwar ab­ gewiesen, der innere jedoch erst teilweise bezwungen sei, jetzt handle es sich darum, die Grenze nach innen zu beseitigen. „Die Zeit ist gekommen, — so schloß ich — zu fordern ein fest konstituiertes Deutsches Reich, Ver­ schwinden der unseligen Mainlinie, ein einziges deutsches Parlament." Am folgenden Tage ging ich noch auf kurze Zeit nach Hagenau zurück. Es entsprach nicht meiner Absicht, an diesem Punkte, wo ich dein größeren politischen Ziele nicht dienen konnte, länger sitzen zu bleiben. Ich suchte nach einer passenden Persönlichkeit für die Redaktion der „Amt­ lichen Nachrichten" und erinnerte mich eines trefflichen jungen deutschen Gelehrten, den ich in Paris kennen gelernt hatte, und der mir außerordentlich gut dazu geeignet schien.

429 Es war Dr. Wilhelm Lexis aus Duisburg.

Ich war so

glücklich, ihn ausfindig zu machen; er kam, übernahm die Stellung, zog später mit der Regierung in Straßburg ein,

nahm daraus Anlaß, sich zuerst als Privatdozent an der neu gegründeten Universität für Nationalökonomie zu habi­ litieren, und ist seitdem, wie bekannt, einer unserer ersten Volkswirtschaftslehrer geworden, mit dem ich nach 23 Jahren wieder in der Silberkommission zusammenzukommen die Freude hatte.

II. Denen, die heute das Fest feiern, erscheint nichts ein­ facher, als daß die Ereignisse jener Tage mit der Verkün­ dung von Kaiser und Reich abschlosscn. Wer aber die Zeit

selbst miterlebt und um das Werden der Dinge sich gr­ ünd bekümmert hat, weiß, daß das so leicht und einfach nicht von statten ging. Der König von Preußen und sein Kanzler, mitten im Lager, umringt beinahe ausschließ­ lich von Feldherren und Fürsten, welchen das Ziel einer staatlichen Umbildung Deutschlands keine Herzensangelegen­ heit, auch keine geschichtliche Überlieferung war, eher das Gegenteil. König Wilhelm war, besonders in höheren Jahren, ein sehr konservativer Mann. Ganz erfüllt von seinem monarchischen Recht und Beruf, verband er damit konsequenter Weise eine entsprechende Achtung vor den Rechten und Überlieferungen seiner dynastischen Bundes­

genossen. Es ist bekannt, daß er sogar einem hervorragen­ den Parlamentarier, welcher 1866 am eifrigsten für das Aufgehen Hannovers in Preußen eingetreten war, diese an­ gebliche Untreue gegen seinen „angestammten" Herrn nie recht verzeihen konnte, obgleich er die Vergrößerung selbst zu gunsten Preußens sich wohl gefallen ließ. Die Er-

430 innerungen an das Jahr 1848, an die eigentümliche Stellung, welche sein verstorbener Bruder und Vorgänger zu der damals angebotenen Kaiserkrone eingenommen hatte, werden gewiß auch nicht ohne Einfluß auf ein inneres Widerstreben gegen Verwirklichung dieses Gedankens ge­ wesen sein. Lag der Errichtung des Kaisertums auch eine monarchische Idee zu Grunde, so hatte sie doch einen revo­

lutionären Beigeschmack.

Dies und das natürliche Wider­

streben eines alten Mannes, die sichere hundertjährige Erb­ schaft eines preußischen Thrones gegen ein neugebackenes Kaisertum, das doch auch immer etwas von einem Ex­ periment an sich trug, auszutauschen, läßt stark vermuten, daß nicht unbegründet war, was man sich damals von des Königs Widerstreben und der Schwierigkeit es zu über­ winden, erzählte. Im engsten Kreise der Kaiserin Augusta

erzählte man von einem Briefe, in welchem sich ihr könig­ licher Gemahl nichts weniger als erfreut über die neue Würde ausgesprochen hatte. Und selbst als das Kaisertum im Prinzip bei ihm durchgedrungen war, blieben noch Schwierigkeiten formaler Art zu überwinden, da er mit dem Titel „Deutscher Kaiser" wenig einverstanden war und entweder „Kaiser von Deutschland" oder „Kaiser der Deut­ schen" vorgezogen hätte. So wenigstens lautete die Kunde, welche damals mir aus einer sehr guten Quelle zukam. Was den Kanzler betrifft, so habe ich schon erzählt, wie viel mehr Gewicht er auf die Schonung dynastischer Empfindlichkeiten, als auf die Erfüllung populärer Wünsche legte; und das entsprach seiner ganzen Denkweise. Indessen muß man hier wohl unterscheiden. Die Überzeugung, daß

Deutschland aus dem Kriege geeinigt hervorgehen, und daß die Mainlinie verschwinden müsse, stand gewiß auch bei

ihm von Anfang an fest. Man brauchte nicht ein Staats­ mann wie er zu sein, um zu diesem Schluß zu kommen.

431 Als ich nach dem im Eingang geschilderten ersten Gedanken­ austausch über diesen Gegenstand in einem Privatgespräch mit Herrn von Abeken diesem meine Enttäuschung über

Bismarcks Lauheit nach dieser Richtung hin aussprach, er­ widerte er, ich sollte mich dadurch nicht beirren lassen; der

Kanzler stehe in seinen Gedanken der Erfüllung dieser Dinge nicht so fern, wie nach seinen Äußerungen scheinen Und ich glaube, er hatte recht. Es war so seine Art, in Dingen, die oben unliebsam ausgenommen werden konnten, sich lieber von außen drängen zu lassen und auf diese Pression berufen zu können, als sie in eigenem Namen könne.

zu begehren. Und des Nachdrängens von unten konnte er hier reichlich sicher sein. Wenn also die staatliche Einigung

Deutschlands auf ihn zählen konnte, so verhält es sich doch mit dem Kaisertitel anders. Auf diesen mochte er im posi­ tiven wie im negativen Sinne wenig Gewicht legen. Doch, als die Dinge sich zur Erfüllung zuspitzten, drängte sich das Kaisertum von selbst auf. Gar nichts haben dazu jedenfalls die gethan, welche sich heute als die feurigsten der Kämpfer für Kaiser und Reich gebaren, die preußischen Konservativen. Es kann niemandem verdacht werden, wenn er gute Miene zum bösen Spiel macht; aber gegen eine ge­ schichtliche Fälschung, welche das Verdienst um die Schaffung der staatlichen Einheit und des Kaisertums nachträglich den Konservativen zuführen möchte, muß gerade in diesem Augen­ blick besonders Verwahrung eingelegt werden. Die that­ sächliche Ausführung in letzter Instanz ist dem Genie Bis­ marcks und Moltkes zu verdanken; jedoch die Inspiration und die Macht des Volkswillens, welche wahrhaft unwider­ stehlich zur Gestaltung hindrängten, gingen einzig vom liberalen Bürgertum aus, fanden volles Verständnis nur bei einzelnen Fürsten, wie dem Kronprinzen von Preußen und dem Großherzog von Baden. Dies sollten die Könige

432 von Preußen als deutsche Kaiser in ihrem eigenen Interesse

niemals vergessen. Eine der frühesten Demonstrationen nach dieser Rich­ tung hin ging auch von Baden aus. Alsbald nach Sedan richtete der Oberbürgermeister Fauler von Freiburg, ein vortrefflicher, wahrhaft liberal gesinnter Mann, im Namen seiner Mitbürger eine Adresse an den Großherzog, in wel­ cher er dessen Unterstützung zur Einsammlung einer natio­ nalen Ernte aus den Thaten des Krieges anrief, und am 17. September erteilte der Großherzog eine zusagende Ant­ wort in dem edlen Geiste, dem er von jeher und bis auf den heutigen Tag bei jeder neuen Gelegenheit gehuldigt hat.

Es heißt darin: „Die Bewohner Freiburgs haben sich mit Zuschrift vom 6. Sep­ tember an mich gewendet, worin sie der Hoffnung Ausdruck geben, daß aus den opferreichen Siegen des deutschen Äolkes die Einheit

und Größe des Vaterlandes hervorgehen möchte, und sprechen dabei vertrauensvoll die Hoffnung aus, daß auch ich bestrebt sein werde, diesen Gewinn dem deutschen Volk als Frucht des ruhmreichen Kampfes zu sichern. Ich freue mich dieser Kundgebung und er­ kenne darin ein Zeugnis austichtiger Vaterlandsliebe — ich teile von ganzem Herren die Hoffnungen und Wünsche der Bewohner Freiburgs für die Wohlfahrt des teuren Vaterlandes und glaube, daß die Kraft, Entschlossenheit und Einsicht des im Riesenkampfe unserer Tage bewährten Volkes die sichere Bürgschaft bieten für die Schaffung eines einigen und mächtigen Gemeinwesens deutscher Nation."

Diesen Erlaß veröffentlichte Fauler mit der Nachschrift: „Es ist mit Zuversicht zu hoffen, daß bei gleich hochsinniger, edler, patriotischer Hingabe aller deutschen Fürsten an das Vater­ land dessen Einheit und Größe aus dem großen nationalen Kampfe dauernd begründet hervorgeht.

Freiburg, den 22. September 1870.

Eduard Fauler, Oberbürgermeister."

Ich bemühte mich, diese Kundgebung möglichst viel zu verbreiten mit der Überschrift: „Deutschland erobere sich

433 selbst". Fauler, welcher zugleich Reichstagsabgeordneter war, stand in besonders intimem Verhältnis zu Lasker, der sich, wie aus seinen in der „Deutschen Revue"*) abgedruckten

Briefen bekannt ist, ganz besonders der Aufgabe gewidmet hatte, bei den süddeutschen Regierungen für die Beseitigung der Mainlinie und das Zustandekommen einer deutschen Reichsverfassung wirksam einzugreifen. Vereint mit Forckenbeck, Bennigsen, Stauffenberg, Marquard - Barth, Kiefer, Hölder und anderen einflußreichen Abgeordneten, besonders des Südens, begab er sich nach Baden, Württemberg und Bayern und trat mit den Ministern in persönliche Verbin­ dung. Ich selbst blieb mit diesen Kollegen und Freunden auch in lebhaftem, teils mündlichem, teils brieflichem Ver­ kehr. Ich hatte mich seit der Rückkehr aus dem Haupt­ quartier zuerst in Baden-Baden und dann in Heidelberg

von wo ich auch mit der inzwischen nach Versailles vorgerückten Umgebung des Kanzlers durch den die Korrespondenz führenden Moritz Busch in Berührung blieb. Am 27. Oktober erhielt ich von diesem einen Brief, daß es dem Kanzler erwünscht sei, wenn ich nach Versailles käme. Natürlich folgte ich diesem Rufe. Am selben Tage machte ich mich auf den Weg. Es war eine abenteuerliche und mühevolle Reise, die meine schon damals nicht gerade für den Felddienst qualifizierte körperliche Widerstandskraft auf eine schwere Probe stellte. Aber die Aufregung half alle Schwierigkeiten mit einer Elastizität überwinden, deren ich mich nicht mehr fähig gehalten hätte. Gleich am ersten Abende begannen die Hindernisse. Als ich von der badi­ schen Seite über die Kehler Brücke mit dem Wagen nach Straßburg hineinfahren wollte, war der Rhein durch plötz­ lich eingetretene Regengüsse so angeschwollen, daß ein Joch niedergelassen,

*) Von den Monaten April und folgenden 1892. Ludwig Bamberger's Ges. Schriften.

I.

434 weggerissen war, und die Brücke jeden Augenblick ausein­

ander zu bersten drohte. Mein Kutscher weigerte sich, weiter zu fahren, und ich mußte mitten auf der Brücke aussteigen, mein Gepäck in beide Hände und, da der Sturmwind mir

den Hut wegzureißen drohte, diesen zwischen die Zähne nehmen. So kam ich nach einem schweren Gange endlich keuchend ans jenseitige Ufer. Als ich in den Bahnhof ge­ langte, war der Zug, mit dem ich weiter gehen wollte, ab­ gefahren. Ich mußte die Nacht in Straßburg bleiben, ging in den Gasthof zum Roten Haus und fing gleich an, am neuen Abschnitt meines Tagebuchs zu schreiben. Doch war ich bald so müde, daß ich über dem Schreiben einschlief. Am anderen Morgen ging es fort nach Nancy. Unterwegs kam die erste Nachricht von der Kapitulation von Metz. Ich blieb einen Tag in Nancy, wo ich den Grafen Renard aufsuchte und viel Interessantes von ihm erfuhr. Er war eben in Metz gewesen, um die Übergabe mitanzusehen. Am 29. morgens fuhr ich von Nancy ab, hatte unterwegs manche abenteuerlichen Begegnungen und kam des Abends um halb zehn in Nanteuil an. Ein furchtbarer Regen hatte den Bahnhof in einen See verwandelt; von Nachtlager keine Rede. Ich mußte die Nacht in einem Waggon dritter Klasse, mit vielen anderen zusammengepackt, verbringen. Am anderen Morgen um fünf Uhr geht der Zug zurück; man muß sich entschließen, auszusteigen oder nach ChLteauThierry zurückzufahren, wo eher auf einen Wagen zur Weiterbeförderung zu rechnen sei. Schon bin ich resigniert dazu, habe mein Gepäck wieder in den Wagen geschafft, da gewahre ich im Dunkel des Bahnhofs ein paar brennende Wagenlaternen und davor ein paar schnaubende Rosse. Wem gehören sie? — Lieutenant von Tümpling, ruft ein schöner großer Offizier dicht an meinem Wagen, sie gehen leer nach Lagny. Sofort ward mir erlaubt, mitzufahren,

435

und wer war glücklicher als ich! Ich überspringe den Rest meiner Abenteuer, wie ich über Lagny auf einer mir vom General Chauvin daselbst Punkt für Punkt vorgezeichneten Route mit den verschiedensten Fahrzeugen nach Versailles gelange, nicht ohne mehrere Male in Gefahr gewesen zu sein, daß die französischen Fuhrleute mich in die französi­ schen Linien hineingefahren hätten. Beim Wegfahren aus Nanteuil hatte mich der freundliche Offizier mit Parole und Feldgeschrei für die Deutschen versehen, doch im offenen Wagen fiel ich alsbald in einen tiefen Schlaf, und als ich erwachte, war beides radikal vergessen. Am 31. Oktober spät abends komme ich in Versailles an und steige im Hotel de la Chasse ab. Merkwürdiger Anblick des mir unter einem ganz anderen Bild vertrauten städtischen Stilllebens von ehedem. Mein erster Gang war zu Herrn von Keudell. Er erzählte mir, daß Thiers fort­ während mit Bismarck in Unterhandlung sei und ihn ganz in Anspruch nehme. Zugleich sagt er mir: „daß ein Deut­ scher Kaiser gemacht wird, stehe beinahe fest"; man wolle

den Reichstag zu diesem Zweck nach Versailles kommen lassen. Ich erwidere, die letztere Idee scheine mir barock. Am Nachmittage komme ich mit dem Bundeskanzleramts­ präsidenten Delbrück zusammen. Wir machen einen langen Spaziergang. Er teilt mir ausführlich mit, wie man sich das künftige Verhältnis zu den deutschen Südstaaten denke, und daß z. B. die Abgeordneten dieser Staaten im künftigen Reichstage bei denjenigen Materien, in denen sie sich nicht dem Reiche anschlössen, zwar anwesend bleiben aber nicht mitstimmen sollten. Ich kann mich auch mit diesem Ge­ danken nicht befreunden. — Das Wetter war herrlich; ich machte verschiedene Spaziergänge in die Umgebung und er­ lebte Interessantes. Am 4. November wurde ich zum Essen zu Bismarck eingeladen. In dem Salon standen auf dem 28*

436 Kamin zwei Leuchter je mit einer Kerze, die dritte Kerze mitten auf dem großen runden Tische in einer grünen Wein­ flasche. Keudell, Abeken, Lothar Bucher und einige andere zu Tisch. Bismarck ist bei sehr gutem Appetit und sehr ge­

sprächig. Er fragt mich, was ich von der Berufung des Reichstags nach Versailles halte. Ich antworte, das wäre ein Epigramm und kein Staatsakt. Er: wenn es aber nicht anders geht, muß der Staatsakt sich auch epigrammatisch einrichten; wenn der König auf einem krepierten Pferde nach der Schlacht bei Gravelotte ein Stück Käse ißt und dabei vor der Front Kriegsrat hält, so ist das auch epigramma­ tisch. Diesem fügt er noch einen anderen Vergleich bei, der etwas zu derb ist, um ihn hier zu wiederholen. Mir wollen

alle diese Vergleiche nicht einleuchten. Er fragt mich, wie lange die Wahlperiode des Zollparlaments noch laufe. Ich sage: bis März 1871. Er: „dann müssen Sie auch noch her." Der Reichstag könne nicht ohne ihn, den Kanzler, ge­ halten werden, und er nicht ohne den König sein; denn wenn ihm der König solche Vollmachten in blanco gebe, daß er mit dem Reichstag frei agieren könne, dann erscheine der König als zu überflüssig; der König könne sich aber nicht entfernen, weil sonst die Generale unter einander nach ver­ schiedenen Seiten zögen. So müsse das Parlament absolut zum König; die Notwendigkeit sei unvermeidlich, möglicher­ weise könne er als eigentümliches Gegenstück zur selben Zeit einen französischen Kongreß in Kassel halten lassen; wir hätten ja dazu eine ganze Regierungsgarnitur in Deutsch­ land. Er wolle auch den Friedensvertrag und die Annexion von Elsaß-Lothringen und vielleicht sogar die ganze Ver­ fassungsänderung, als eine organische Umgestaltung des Zollparlaments, vor diesen hier zu haltenden Reichstag bringen. So könne er eine politische Aktion durchführen, was ihm doch bis jetzt nicht gelungen sei, weil er jedesmal

437 bei Eintritt solcher Kombinationen, mit der nationalen Partei brouilliert, als ein schmollender Achilles unter seinem Zelt gesessen hätte. An juristischen Bedenken werde er sich nicht stoßen, das sei nie seine Sache gewesen. — Das Ge­ spräch kam nun auf andere minder wichtige Angelegenheiten, wobei er von anekdotischen und witzigen Einfällen sprudelte. Bei der Cigarre nach Tisch sagte er, er rauche jetzt wieder

mehr als zu Anfang des Krieges. Ich erwidere: wen der Krieg nicht umbringt, den macht er gesünder. Worauf er:

„Der Krieg ist des Menschen natürlicher Zustand." Nach längerem Gespräch kommt Bismarck noch einmal auf die Idee des in Versailles zu haltenden Reichstags zurück. Ich frage ihn, ob man den Gedanken in die Öffentlichkeit bringen könne, worauf er entgegnet, die Sache sei bereits

heute nach Berlin telegraphiert worden. Ich erwidere: dann wird schon die Presse der Sache in den Weg treten; ich halte sie für indiskutabel. Er repliziert: es geht aber nicht anders, wenn ich heiraten will, muß ich mir jetzt auch meine Braut ins Lager kommen lassen. — Es folgen noch eine ganze Reihe von spaßhaften Äußerungen über dieses Thema, und abwechselnd wieder sehr ernste. Der wahre Grund, weshalb ich gegen die Berufung des Reichstags nach Versailles hartnäckig am Widerspruch festhielt, bestand darin, daß ich zunächst voraussah, die bürgerlichen Vertreter des Volks würden unter der Wucht der hier konzentrierten bewaffneten Macht eine untergeordnete und etwas peinliche Stellung einnehmen, die bei ihrem ersten Auftreten als Repräsentation des gesamten Deutschland keine glückliche

Wirkung haben könnte. Auch schien es mir eine unnötige Demütigung der Besiegten, einen solchen Staatsakt vor die belagerte Haupfftadt zu verlegen. Unter den Kollegen zu Hause, mit denen ich darüber korrespondierte, waren die Meinungen geteilt. Bennigsen sagte mir später, er sei

438 entschieden für die Sache gewesen; aber jedenfalls kam sie nicht zu Stande, und es blieb bei der Kaiserproklamation

in Anwesenheit der Reichstagsdeputation und der Fürsten, gegen welche viel weniger einzuwenden war.

III. In den ersten Tagen nach meiner Ankunft unterhielt man sich in Versailles noch von dem Nachspiel, welches der

Versuch, mit Bazaine Verhandlungen anzuknüpfen, gehabt hatte. Der General Boyer war unlängst dagewesen, ohne daß es zu einer Verständigung gekommen, und war wieder

nach Metz zurückgekehrt. Die Unterhandlungen mit ihm waren nur die Fortsetzung derer, die im September durch den aus jener Episode bekannt gewordenen Rögnier ange­ bandelt worden waren. Im September war dieser im deutschen Hauptquartier mit der Photographie und Unter­ schrift des Sohnes Napoleons III. erschienen und hatte sich Ermächtigung erbeten, eine dazu geeignete Person zu Unterhandlungen mit der Kaiserin Eugenie in England aus Metz herauszuholen. Man hatte ihn nach Metz hineinge­ lassen, und er war mit Bourbaki herausgekommen, der nach England reiste, aber von der Kaiserin Eugenie zurückge­ wiesen ward. Darauf verlangte Bourbaki wieder nach Metz hineingelassen zu werden. Der König gab die Ermächtigung dazu, aber Prinz Friedrich Karl nahm Anstand, ihn durch­ zulassen. Bourbaki besteht auf der ihm gegebenen Zusage. Man berichtet von Metz aus an den König zurück, worauf an den Prinzen Friedrich Karl positive Ordre gegeben wird, Bourbaki wieder nach Metz hineinzulassen. Mittlerweile war dieser des Harrens und Schreibens müde geworden und nach Tours gegangen. Es wurde damals lebhaft dar­ über diskutiert, ob es nicht besser gewesen wäre, daß er

439 wieder nach Metz hineingelassen und mit den anderen ge­ fangen worden wäre. Bezeichnend für Bismarcks Methode schien mir, daß er sich mit dem durchaus unbekannten und seinem ganzen Auftreten nach den Stempel des Abenteurers

tragenden Regnier überhaupt eingelassen hatte. Ich konnte mir dies damals nicht recht erklären. Nach längerer Er­

fahrung im Laufe der Zeit verstand ich es jedoch. Bismarck verschmähte es nie, irgend einen Faden zu ergreifen, der, wenn auch auf ganz unwahrscheinliche Weise, zu seinem Ziele führen konnte, vorausgesetzt, daß er sich selber dabei nichts vergab. So viele Eventualitäten als möglich sich offen zu halten, um die brauchbare zu benutzen, lag immer in seiner Methode. Im Punkt der Benutzung von Men­

schen sagte er mir später bei einer ganz anderen Gelegen­ heit: „Einmal versuche ich es mit jedem; täusche ich mich, so lege ich ihn bei Seite." Doch diese Vorgänge traten für meine Aufmerksamkeit zurück hinter dem Wichtigsten, den Verhandlungen mit den Einzelstaaten über die Reichsverfassung und die Schaffung des Kaisertums. Mit Bayern schien die Sache noch sehr schwierig zu stehen; noch kein einziger Punkt des Eintritts sei sicher gestellt, sagte mir ein Wohlunterrichteter. Ein eigentümliches Zwischenspiel bildeten die Verhandlungen mit Württemberg, das seine Zustimmung an die von Bayern knüpfte, während preußischerseits verlangt wurde, daß Württemberg vorangehe, um Bayern nachzuziehen. Am 8. November besuchte mich Delbrück und erzählte, daß es mit Bayern sehr schlecht, beinahe auf dem Nullpunkt stehe; ohne Bayerns Zutritt sei der Fürstenkongreß und die Kaiser­ proklamation hier in Versailles nicht durchzuführen. Unter» deß waren auch die Verhandlungen mit Thiers abgebrochen worden. Sie scheiterten an der Bedingung, daß während eines Waffenstillstandes Paris verproviantiert werden sollte,

440 worauf natürlich deutscherseits

nicht eingegangen wurde.

Am 9. sagte mir Graf Berchem, der diplomatische Attachs Bayerns, ein sehr gut gesinnter Mann, die parlamentarische

und militärische Einheit werde wohl auch mit Bayern zu stände kommen; man lasse Bayern jetzt nur in seiner Widerspenstigkeit gewähren, um erst mit den anderen süd­ deutschen Staaten fertig zu machen und sie nicht an den Reservaten teilnehmen zu lassen, welche man Bayern geben müsse. Während die Tage vom 10. und 11. November durch die Nachrichten des Rückzugs von Orleans nicht ohne Be­ klemmung dahin gingen, wurden namentlich die Verhand­ lungen mit Württemberg lebhaft betrieben. Delbrück ließ mich zu sich entbieten und bat mich, dahin mitzuwirken, daß in Württemberg die Nationalpartei sich mit der mini­ steriellen verständige. Ich schreibe an einige Freunde nach Stuttgart. Mit Bayern stand es noch immer schlecht. Am 13. November kommt Delbrück zu mir: „Ich habe es Ihnen ja immer gesagt, mit den deutschen Sachen ist man nie gewiß, fertig zu werden; auf morgen 11 Uhr war die Unter­ zeichnung der neuen Bundesakte für Württemberg, Hessen und Baden festgesetzt, da kommt Plötzlich gestern abends ein Telegramm des Königs von Stuttgart: die Minister sollen nicht unterschreiben ohne ausdrückliche Autorisation; jedenfalls trägt die bayerische Sonderstellung die Schuld. Württemberg soll nicht ohne sein besonderes Würstchen aus­ gehen, wenn Bayern eins bekommt." Ein dritter hoher Staats­ beamter, der bei der Unterhaltung zugegen war, sagt: die Mo­ narchen sind wirklich im stände, die Leute zu Republikanern zu machen, worauf ich erwidre: ihr Glück ist nur, daß die Re­ publikaner die Leute wieder zu Monarchisten machen. Mitt­ nacht und Suckow, die Württembergischen Minister, sind sofort abgereist; sie wollen erst unterwegs nach Hause tele-

441 graphieren, daß sie kommen,

damit man sie nicht zurück­

halte. Auch versprechen sie, eine Kabinetsfrage aus der Sache zu machen. Hessen und Baden sollen nun definitiv morgen um 1 Uhr unterschreiben. Am 16. kam Lothar

Bucher zu mir in des Kanzlers Auftrage, um die Württem­ bergische Angelegenheit mit mir zu besprechen. Ich sagte

zum Schluß, es sei wohl besser, daß ich mit Bismarck selbst eine Unterredung habe, worauf dieser mich zu sich bitten ließ. Er war sehr angegriffen und ärgerlich; seine Galle machte ihm zu schaffen. Er sprach besonders von den Um­ trieben in Stuttgart, und wie auch die Frauen, namentlich die Frau von Gasser, daran mitarbeiteten. Während der bayerische Gesandte, Graf Bray, versprochen hätte, die Württemberger zum Unterschreiben zu drängen, habe der König von Württemberg gesagt, er unterschreibe nicht ohne

die Bayern. Am folgenden Tage lag Bismarck zu Bett. In meinem Tagebuch heißt es hier: „Nun haben wir lauter Kranke oder Rekonvaleszenten; Roon so krank, daß er durch Stosch ersetzt werden soll; Moltke Rekonvaleszent, nur der König bleibt stramm." Nachträglich höre ich, der wahre Grund von Bismarcks neuer Erregung sei eine Ausein­ andersetzung mit dem Kronprinzen gewesen wegen der deut­ schen Angelegenheiten. Aus der Umgebung des Kronprinzen verlautet, daß dieser selbst von einer sehr heftigen Szene zwischen ihm und dem Kanzler erzählt habe. Aus Anlaß der diplomatischen Rückwärtsbewegung Württembergs in der deutschen Angelegenheit habe er sich zu Bismarck be­ geben und ihm Vorwürfe gemacht, daß er nicht energischer auftrete, um Kaiser und Reich und ein Oberhaus zu schaffen; die große Zeit müsse benützt werden zu großen Dingen. Bismarck habe erwidert, er frage, ob er sich mit Württem­ berg und Bayern, den treuen Bundesgenossen, überwerfen

solle,

worauf der Kronprinz gesagt habe:

wenn sie nicht

442

mitthun wollten, möchten sie gehen, man könne es auch ohne sie machen. Minister Jolly erzählt mir, er habe Mühe ge­ habt, die deutsche Bundeskokarde für das badische Kon­ tingent durchzusetzen; man habe ihm die preußische geben wollen. Es würde zu weit führen, wollte ich hier meine No­ tizen ausführlich wiedergeben. Aber ich muß lächeln, wenn ich lese, wie in offiziellen Reden aller Dank auf die Hoch­ herzigkeit der deutschen Fürsten gehäuft wird. Ich über­ springe die weiteren Erlebnisse auf diesem und anderen

Gebieten bis zum 26. November. An diesem Tage wurde ich zu Bismarck gerufen. Ich finde ihn um zwölf Uhr

furchtbar beschäftigt. In meinem Tagebuch heißt es hier: „es ist doch ganz unsagbar, wie dieser Mann sich anstrengt; er macht alles selbst, innere Politik, deutsche, auswärtige, dabei ein Stück Krieg; die mittags im Schlafrock,

ganzen Hofintriguen sämmtlicher kleinen Höfe, Presse, alles geht durch seine Hand; es ist kein Wunder, wenn er über­ reizt ist. Es ist ein Drängen, Jagen, Rennen ohne Ende; sein Glück ist, daß er lange schlafen kann." Wir sprechen über Württemberg. Ich teile ihm den Inhalt meiner aus

Stuttgart empfangenen Briefe mit.

Er bemerkt,

daß er

bereits in gleichem Sinne Delbrück instruiert habe; übrigens sei man jetzt mit Württemberg und Bayern fertig, es habe keinen Anstand mehr; der Bruch wäre keinen Augenblick Er fuhr fort, Bayern hätte ihm Dinge an­

ernst gewesen.

gesonnen, auf die er geantwortet, das würde ihm der Reichs­

tag nie und herausgerückt bei Laskers Als ich eine

nimmer votieren, woraus die Bayern damit seien, daß die Nationalliberalen dies schon

Anwesenheit in München zugegeben hätten. ungläubige Bemerkung dazu machte, ward er

wild, daß ich anzweifle, was er schriftlich habe, und ließ die Akten bringen.

Auf dem einen Bündel stand mit Bleifeder

443 geschrieben: „Lasker", auf dem anderen: „Marquard-Barth". Aus den Akten Lasker las er mir vieles vor, während ich mir Noten machte. Sie enthielten zehn Punkte, in welchen

Bayern Abweichungen von dem Bundesvertrag eingeräumt

waren, namentlich im Punkte der Militärübereinkunft. Ich sagte, die allgemeine Ansicht der Partei gehe gerade dahin: lieber kein Bayern im Bunde als so viele Vorbehalte, daß es kein Bund mehr sei; worauf Bismarck, das sei nicht

seine Ansicht, vor allen Dingen müssen alle herein; welche Figur würden wir vor Europa machen, wenn Bayern sich abblätterte, wir würden unsere Stellung gegen Österreich

schwächen, — nein,

nur erst einmal alle herein!

Wenn

die Rede auf Lasker kam, brach immer eine verhaltene Ge­ reiztheit bei Bismarck hervor. Gleich in den ersten Tagen,

als wir am Abend des 8. August beim Abendessen im Zimmer des Gasthofes zu Homburg in der Pfalz saßen, war Bismarcks Blick auf Robert Blums lithographisches Bild gefallen, welches an der Wand hing. Wenn der noch lebte, sagte er, würde er nicht so radikal sein wie Lasker; er habe überhaupt manche gute Seite gehabt, besonders, daß er gar nicht sozialistisch angehaucht gewesen sei. Ich lasse mir später von Bucher

die

zehn Punkte

Laskers und auch die Notizen von Marquard-Barth geben, schreibe sie ab und schicke eine weitere Abschrift an Lasker mit der Aufforderung, sich zu erklären. Als ich am Abend dieses Tages beim Kanzler war, sagte mir Herr von Keudcll: eben wird alles fertig gemacht und unterzeichnet, nämlich die Deutsche Buudesakte. Roon kam gerade heraus, und Bismarck sah strahlend aus. Von anderer Seite wurde mir

mitgeteilt, die Bayern sollen die Kaiserkrone bringen. Bald darauf hatte ich Antwort von Lasker. In der That waren die zehn Punkte von ihm, dagegen hatte Lasker

nicht das abgesonderte Kriegsbudget Bayern gewähren wollen,

444 das ihm jetzt belassen wurde. Am Tage des 26., nachdem ich die Gewißheit erlangt hatte, daß nunmehr Kaiser und Reich sichergestellt seien, konnte ich mir nicht versagen, von Ort und Stelle aus noch am selben Abend meinen Ge­ danken schriftlich ihren Lauf zu lassen. Ich hatte in den drei Perioden des Zollparlaments von 1868 bis 1870 eine Reihe von Briefen an die Wähler geschrieben, welche den Zeitungen der nationalliberalen Partei zugingen und von ihnen veröffentlicht wurden. Der letzte war vom 22. Mai des Jahres datiert. Nun war der Moment gekommen, dem Zollparlament für immer das ersehnte Lebewohl zu sagen. Dies that ich mit dem hier folgenden Rundschreiben, welches sowohl als Merkzeichen des Erlebten, wie um seines Aus­ blicks in die Zukunft wegen hier einen Platz finden darf — um so mehr, als es in dem soeben erschienenen IV. Band meiner gesammelten Schriften nicht abgedruckt ist, weil ich mein Tagebuch erst nach dem Erscheinen wieder öffnete. Mein letzter Zollparlamentsbrief.*) „Durch Einheit zur Einigkeit." Das amtliche Blatt der deutschen Regierung zu Versailles ver­ kündet heute am Sonnabend, 26. November 1870, einem Datum, welches man sich merken sollte, daß der deutsche Bund gegründet und besiegelt ist. Hier im Angesicht von Paris ist wundersam be­ zeichnender Weise die große Arbeit vollbracht worden. Was sich alles über diesen Schicksalsweg denken läßt, wer vermag es zu um­ fassen ! Heute Nacht sind die bayerischen Minister in ihre Heimat abgereist, gewiß leichteren Hebens, als wäre ihnen gelungen, alle ererbten Privilegien der Krone unvermindert in stolzer Einsamkeit zu erhalten, wie es einmal werden zu wollen den Anschein gehabt. Endlich auch zeigt uns noch der „Moniteur des Departements Seine et Oise"**) am Horizont etwas, das, wenn nicht mein Auge trügt, ähnlich sieht einem näher wallenden deutschen Kaisermantel. In

*) Abgedruckt u. a. in der „National-Zeitung" vom 7. Dezember 1870. **) Die vom Hauptquartier in Versailles herausgegebene französisch abgefaßte amtliche Zeitung.

445 seinem prophetischen Schwung erhebt sich der Artikel sogar zum Aus­ spruch, daß so etwas wie ein wiederhergestelltes heiliges römisches Reich — ich hätte beinahe gesagt: drohe. „Le Saint Empire“ sagt er zwar nur, ohne „römisch" hinzuzusetzen, und dafür wollen wir immerhin ihm dankbar sein. Aber da sich die Redaktion mit wachsendem Erfolg eines der preußischen Kriegskunst würdigen ele­ ganten Französisch befleißigt, so weiß sie ohne Zweifel, daß Saint Empire bedeutet: Heiliges römisches Reich, worüber dann die Ein­ geborenen dieses schönen Departements sehr'große Augen machen und von mis vermeintlich Eingeweihten Aufklärung verlangen. Wir sagen ihnen, daß es mit der Heiligkeit bloß ein Scherz ist, sie habe uns weder ein heiliges Reich noch als heilige Allianz sonderlich viel Glück gebracht, und hoffentlich läßt man es schlecht und recht bei Deutschem Kaiser und Reich bewenden. Hegt doch schon mehr als Einer Bedenken dagegen, daß die eingerostete Thür zum Kyffhäuser geöffnet, und der verstaubte Purpur mit der neuen Lebenslust in Berührung gebracht werde. Aber es giebt Dinge, die geschrieben stehen, d. h. die, so uns wahrnehmbar, ihrer Er­ füllung entgegengehen, daß es Zeitverlust wäre, ihnen mit Wenn und Aber den Weg zu verlegen. Den Kaiser werden wir haben, davon beißt keine Maus keinen Faden ab, und so sei er uns in Gottes Namen bestens willkommen! So lange wir ein Bundes­ staat mit vielen monarchischen Spitzen sind, wenn auch verschiedent­ lich abgestumpften, ist es nicht mehr als streng folgerichtig, daß sich die oberste Bundesgewalt ebenfalls in einer monarchischen Spitze ver­ sinnliche, oder auf gut deutsch zu reden: die lieben Fürsten groß und klein, sie werden sich leichter unter die Oberherrlichkeit eines deutschen Kaisers bequemen, als unter einen Bundespräsidenten und preußischen König. Die Handvoll romantischer Bläue, die über dem alten Purpur schwebt, thut auch etwas dazu und ist am Ende auch dem Volke des Südens, welches im großen und ganzen unleugbar seinen Spaß an der Sache hat, zu gönnen für hehre Fest- und Feiertage. Soweit wäre denn alles gut,, und Tausende mögen denken, das Opfer an Blut und Thränen sei nicht zu groß gewesen, um zu diesem Ende zu gelangen, dem Anfang zugleich einer gewaltigen Zu­ kunft. Doch manchem bleibt das Herz noch schwer bei der Be­ trachtung, daß wir durch diesen Strom von Blut und Thränen waten mußten, bloß um über den Mainfluß zu kommen. Diesen stände ein höherer Trost bevor, wenn jetzt ein guter Geist ins deutsche Volk herniedersteigen wollte: wenn nämlich mit der Einheit auch die Einigkeit zurückkehrte unter die freigesinnten Deutschen. O, dann wäre das Blut gesühnt, dann wären die Thränen zu trocknen! Warum doch muß die Kenntnis der menschlichen Natur

446 uns diese schöne Hoffnung rauben? Wer nicht rechnet mit der kleinen Eigenliebe der Menschen, mit persönlichen Stellungen, in welchen die einst grundsätzlichen Ausgänge sich festgerankt haben, der müßte jetzt sagen: mit der Vollziehung der deutschen Einheit ist der ent­ scheidende Grund des Zwiespalts zwischen den liberalen Deutschen weggefallen. „Die ,Nationalen' haben ihr Ziel im wesentlichen er­ reicht, ihre erste Arbeit ist gethan, ihr Programm erfüllt. Sie müssen jetzt nach anderer Arbeit ausgehen, nach der nimmer er­ ledigten für innere Freiheit und Wohlfahrt. Aus der national­ liberalen Aufgabe wird in erster Reihe eine liberale. Das Gleiche gilt vom entgegengesetzten Lager. Wenn der Bund von Fürsten, Reichs- und Landtagen besiegelt, wenn der Kreis geschlossen, wenn das Eine Deutsche Reich fest gemauert in der Erde dasteht, werden die bisherigen Gegner des Nordbundes blindlings fortfahren, zu schreien: man soll ihn nicht lassen wachsen, man soll nicht in ihn eintreten, man soll die Mainlinie etwa wiederherstellen? Auch dieses Programm, dürfen wir annehmen, ist beseitigt, und es bleibt von ihm genau dieselbe wie vom nationalliberalen: die Sorge um Frei­ heit und bürgerliche Wohlfahrt innerhalb der befestigten Grenzen. Selbst das Begehren nach der Wiederaufnahme von Deutsch-Öster­ reich ist kein Grund des Zwiespalts mehr. Nun es sich nicht mehr darum handeln kann, Deutschland entzwei zu sprengen, suche, wer Lust hat, und wie ihm gut dünkt, das Reich ostwärts zu mehren. Die letztlich, welche den Nachdruck auf die republikanische Staats­ form legen, müssen, insofern überhaupt sie politisch zu denken ver­ stehen, einräumen, daß wir unmöglich, nach eben unter so schweren Wehen für den deutschen Staat geborener Form, sofort nach einer neuen ausgehen können, statt an der Verbesserung der gewonnenen zu arbeiten. Man sollte meinen, das abschreckende Exempel von den üblen Folgen der nimmer ruhenden Staatsexperimentierkunst, das wir vor Augen haben, wird genügen. So blieben denn nur die Sozialisten und die Ultramontanen, mit denen an Frieden nicht zu denken wäre. Gerade in diesem Augenblick, da Frankreich uns vor den einen und die preußischen Wahlen uns vor den anderen heilsam warnen, müßten die aus Freiheitsliebe bisher dem NordJbunbe und Preußen feindlichen Politiker froh sein, den beschämen­ den Koalitionen zu entrinnen und reine Freiheitsarbeit machen zu können. Auf diese Weise wird, wie man oft vorausgesagt, bei der eroberten Einheit keine Sache besser gefahren sein als die Sache der Freiheit. Diese Errungenschaft erst, die Wiedervereinigung der alten liberalen Parteien, wäre die würdige Vollendung der großen Beeeit, die strahlende Verherrlichung des neugeborenen Deutschen ; sie erst würde dieses Fest zu einem heiligen machen. Da und dort, an einzelnen, stillvernünstigen Gruppen dies- und

447 jenseits mag diese Hoffnung zur Wirklichkeit werden. So vieles, das für unmöglich galt, ist möglich geworden, daß wir nicht mut­ los vor diesem schönen Bestreben wollen die Hände in den Schoß sinken lassen. Aber im großen und ganzen, fürchte ich, wird die menschliche Natur, die Macht der Gewohnheit, die Lust der Per­ sönlichkeiten an Reibungen und Geltung, ja sogar der Reiz des Hassens imb Verachtens die Oberhand behalten. Und das alles, trotzdem jeder zugeben muß: wer jetzt noch den Nachdruck auf das nationale Programm legen wollte, gliche dem Manne, der mit der Brille auf der Nase umherläuft, seine Brille zu suchen. Und die gar, welche noch immer mit der Front gegen Preußen, gegen den Bund und das Jahr 1866 stehen, gemahnen an jenen treuen Diener, welcher durchaus nicht wollte, daß die Tochter des Hauses den Lehrer heirate, und stets ausrief: „ich bin gegen die Partie, ich bin gegen die Partie!" Dennoch heiratete die Tochter den Lehrer, es kam Hochzeit, und es kam Kindbett; der treue Diener trug die Heinen Bübchen und Mädchen treppauf treppab in seinen Armen, und sie zupften ihn am Bart, er aber konnte nicht lassen, zu rufen: ich bin gegen die Partie, ich bin gegen die Partte! Versailles, am 26. November, dem ersten Tage der deutschen Einheit und glücklicherweise dem letzten des Zollparlaments. Am 3. Dezember aß ich

in

interessanter Gesellschaft

bei Odo Russell, dem englischen Agenten in Versailles und späteren Botschafter in Berlin.

Er war bezaubert von Bis­

marck und sagte, wenn der Krieg mit England wegen der

Kündigung des russischen Vertrages

von 1856 vermieden

wurde, so sei es rein Bismarcks Verdienst.

Am 4. Dezem­

ber ließ Bismarck Herrn von Roggenbach rufen unb bat ihn, spornstracks nach Berlin zn reifen, um einen Druck ans die

Abgeordneten zu üben, da Delbrück sehr besorgt sei über die

Abstimmung im Reichstage wegen der Verträge.

Bereits

waren auf gleiche Veranlassung schon vor drei Tagen ver­ schiedene in Versailles anwesende Reichstagsabgeordnete über

Hals und Kopf nach Berlin gereist.

Es schien, daß man

sich an der Militärselbständigkeit Bayerns bei der national­

liberalen Partei zu sehr stoße und darauf rechne, Bayern

mässe

doch schließlich nachgeben.

Als ich zu Roggenbach

448 ging, der von mir Abschied nehmen wollte, sagte er mir, Bismarck ließe mich bitten, um jede Stunde desselben Abends zu ihm zu kommen. Ich traf etwa um neun Uhr bei ihm ein. Unten sagte man mir, ich müsse mich eilen, denn er sei auf dem Punkte auszufahren, und man ließ mich über­ haupt nur durch, als ich mich legitimierte, daß ich gerufen sei, wie denn überhaupt seit Wochen, seit Thiers letzter An­ wesenheit, niemand angemeldet ward, der nicht gerufen war. Ich fand Bismarck, wie beinahe immer, an seinem Schreib­ tisch bei der Lampe mit einer Masse von Papieren vor sich. Er bot mir sofort eine Cigarre an und begann dann die Situation zu schildern. Das Thema war: wie unerläßlich es sei, inmitten aller Schwierigkeiten, die aus Deutschland selbst auftauchten, Deutschland dem Ausland gegenüber ab­ zuschließen; wie sonst Beust und Österreich überhaupt nie ihre Absichten auf Bayern aufgeben würden, und wie ge­ fährlich es sei, dieses isoliert zu lassen; wie Rußland momen­

tan zwar gut gestimmt, aber wie wenig auch in dieser Be­ ziehung auf die Zukunft zu rechnen sei. Dann erzählte er mir Näheres über die Schritte, die er beim König von Bayern gethan habe, um ihn dazu zu bringen, daß er dem König von Preußen die Kaiserkrone anbiete, und wie seine Bemühungen von Erfolg gekrönt worden. Als ich ihm sagte, ich könne mir gar nicht erklären, wie die National­ liberalen es auf sich nehmen möchten, die Verträge zu ver­ werfen oder auch nur so zu amendieren, daß sie in Frage kämen, und ich es deshalb für geraten hielte, ehe ich zu­ rückreiste, erst einmal bei Bennigsen telegraphisch anzu­ fragen, ob sich die Sache wirklich so bedenklich verhalte, er­ widerte Bismarck, ich könne fest überzeugt sein, daß der Widerstand hauptsächlich von den Nationalliberalen aus­ gehe, die die Sache so behandelten, als gelte es nur, sich

einen Wunschzettel zu machen.

Als ich mich nun bereit

449 erklärte, nach Berlin zu gehen, um seine Ansicht zu unter­ stützen, nahm er dies außerordentlich dankbar an, und als ich ihm sagte, daß ich einen Platz in der Post für den

morgigen Tag bestellen wollte, fiel er ein: sorgen Sie für nichts, ich schicke einen Wagen und alles, was Sie nötig haben; kommen Sie morgen noch einmal zum Essen um fünf Uhr, dann können wir noch sprechen. So geschah es, und wir hatten bei Tisch noch ein höchst interessantes Ge­ spräch, auch über die Kriegsangelegenheiten. Nach Tisch blieb ich noch lange mit ihm unter vier Augen. Ich zeigte ihm zunächst die Telegramme, die ich des Morgens an Bennigsen und andere geschickt hatte. Es war zwar abends vorher zwischen uns verabredet worden, daß ich mich in Berlin nicht ankündigen, sondern plötzlich ankommen solle; allein ich hatte mir die Nacht überlegt, daß es vor allen Dingen gelte, die Führer zu verhindern, unwiderruflich zur Frage Stellung zu nehmen, sodaß sie verhindert wären, später eine Wendung zu machen. Darin pflichtete mir Bismarck durchaus bei, sowie zu dem Inhalt meiner Telegramme. Dann sprach er noch ausführlich über die Mängel der abgeschlossenen Verträge. Ich bean­ standete einen einzigen Passus, an dem Bayern kein Inter­ esse habe, und der doch bedenklicher Natur sei. Er zitierte Bucher herbei, sah sich die Texte nochmals an und beauf­ tragte ihn, in dem von mir angeregten Sinne an Delbrück zu telegraphieren. Gegen Ende der Unterhaltung sagte er: ich weiß ja, wenn die Verträge in drei bis fünf Jahren Gegenstand von allen möglichen Ausstellungen sein werden, wird man schreien: wie hat der dumme Kerl so etwas unter­ schreiben können! Ich fiel ihm in die Rede, für Dummheit werde ihm wohl niemals jemand etwas auslegen, eher noch für Bosheit. Ja, sagte er, der miserable preußische Junker wird man sagen, und dann schilderte er mir von neuem Ludwig Lamberger's Ges. Schriften.

I.

ng

450 alle Schwierigkeiten, die er noch immer bei den Höfen zu überwinden habe. Am Montag Abend 9y< Uhr fuhr ich aus Versailles heraus in einem besonderen Wagen mit Postillon. Am

Thor wollte man die Losung wissen. Ich hatte vergessen, sie mir geben zu lassen; aber nach einem mir früher für

solchen Fall empfohlenen Kniff bat ich die Schildwache selbst sie mir zu sagen. Richtig ließ sie sich nicht lange bitten, die Losung war: Egmont — das Feldgeschrei: Contremarque. Damit kamen wir überall durch. In der Gegend von Villeneuve St. Georges kampierten die Truppen, da man wegen der Ausfälle noch sehr besorgt war, und lagen Scharen tief schlafend auf dem nackten Pflaster. In Pom-

ponne an der Seine gegenüber Lagny angekommen, fand ich noch Roggenbach, der durch Mangel an Fahrgelegenheit aufgehalten worden war; ich suchte mir einen Platz in der Eisenbahn und kam in ein gutes Coupö erster Klasse mit drei bayerischen Offizieren und dem Grafen Hochberg. Die Bayern waren verwundet und erzählten viel von ihren Leiden bei Orleans. Es war eine greuliche Kälte. Ich war von Heidelberg leichtsinnigerweise ohne warme Über­ kleider abgereist, und in Versailles war alles so ausverkauft, daß ich mir nichts anschaffen konnte. Nie habe ich so ge­ froren wie in dieser Nacht. Als einzige Rettung hatte ich einen Fußsack, den ich mir noch in Versailles verschafft hatte. Aber alles schadete mir nichts; ich fuhr durch über Straßburg und Frankfurt ohne Aufenthalt nach Berlin. Abends am 7. Dezember um 9 Uhr in Berlin angekommen, schrieb ich an Bennigsen, der am andern Morgen in aller Frühe zu mir kam und mir sagte: Roggenbachs und meine Reise seien nicht nötig gewesen, die Verträge wären doch

durchgegangen. Dann suchte ich Lasker auf, bei dem Roggen­ bach schon gewesen war, und der mir dieselbe Ansicht wieder-

451 In der That trat die Partei geschlossen für die Ge­ nehmigung ein. So war nun auch von feiten der Volks­ vertretung das Reich unter Dach gebracht. Ich ging von Berlin nach Mainz, um meinen Wahlfeldzug für die Kandi­ datur zum Reichstag vorzubereiten. Hier wartete meiner noch ein schwerer Kampf. Ein kleines Nachspiel zu den Erlebnissen des Krieges sollte ich vorher noch erleben. Meine Frau war, während ich in Versailles war, zu Freunden nach Lausanne gereist. Ich kam zu Weihnachten dahin. Kaum war ich da, so ward mir von Mainz ein Telegramm nachgeschickt, welches aus Genf für mich eingelaufen war. Ein Mitglied der fran­ zösischen Deputiertenkammer, mit dem ich auf vertrautem Fuß gestanden, drückt mir darin den Wunsch aus, eine Unterredung mit mir zu haben und schlug mir ein Zu­ sammentreffen in Basel vor. So konnte ich ihm nun den näheren Weg zu mir nach Lausanne anbieten. Er kam und eröffnete mir, daß es sich darum handle, in seinem und einiger Kollegen Namen mit Bismarck in Berührung zu kommen, um zu ermitteln, ob man auf friedlichem Wege Lothringen und ein Stück Oberelsaß noch für Frankreich retten könne. Ich fragte ihn, ob er sich auch stark genug fühle, mit solchen Vorschlägen nach der französischen Seite hin herauszukommen. Er versicherte, auf Thiers zählen zu können, freilich nicht auf Gambetta, den zu stürzen, wie er mir sagte, schon mehrere, aber freilich vergebliche Versuche in Tours gemacht worden seien. Ich schrieb an Bismarck nach Versailles, meldete den Vorfall und fragte, ob die be­ treffenden Franzosen eventuell freies Geleite ins Haupt­ quartier bekommen könnten. Durch Verbindung mit der preußischen Gesandschaft in Bern wurde eine chiffrierte und telegraphische Verbindung mit mir hergestellt, und ich erhielt Vollmacht, mit den französischen Unterhändlern nach Verholte.

29*

452

sailles zu kommen. Mein Freund reiste nach Genf zurück, beriet mit einigen Kollegen, kam dann wieder nach Lausanne und formulierte da unter meiner Mitwirkung die einzelnen Punkte zu einer Verständigung. Dann reiste ich noch ein­ mal nach Genf, wo ich mit ihm und seinen Kollegen eine letzte Besprechung hatte. Aber Thiers hatte seine Mit­

wirkung schließlich versagt, und ich sah, daß der sichere Boden fehlte. Dies berichtete ich sofort nach Versailles, und damit verlief die Sache im Sande. Übrig blieb nur meine Bekanntschaft mit dem Gesandten, dem General von Röder, demselben, der 1866 den Kurfürsten von Hessen ge­ waltsam aus seiner Residenz hinausgeführt hatte. Der liebenswürdige alte Herr pflegte seine Sommer in seinem Landhause in Interlaken zuzubringen, und als ich ihn 1875 da wieder aufsuchte, geschah es, daß ich auf seinen Rat und mit seiner Hilfe mich unmittelbar neben seinem Hause ankaufte. So erstand mir aus der letzten Episode des Krieges ein friedlicher Besitz, in dem ich noch viele Jahre lang nachbarlich mit dem menschenfreundlichen Diplomaten und seiner liebenswürdigen Frau verkehrte, und wo ich mich von da an jeden Sommer von den winterlichen Strapazen des Deutschen Reichstages erholen durfte, der nach so viel großen und kleinen Geschicken unter meinen Augen zu Stande gekommen war.

Frankreich unS AuMnö?) i. 2Irotz Breslau und Wien, trotz Dänemark und Eng­

land, Paris bleibt doch, je nachdem man es auffassen will, das Mekka oder das Bayreuth der Zarenreise. Nicht nur für die Franzosen, sondern auch für das übrige Europa, für die Russen und höchst wahrscheinlich auch für den Zaren selbst. Da allein soll sich, nach der Vorstellung der hohen Herrschaften und des verehrten Publikums, manches Rätsel lösen oder auch knüpfen; da allein treffen die beiden ent­ gegengesetzten Pole, Selbstherrscherschaft und Demokratie, hoch aufblitzend auf einander, da allein wird die „Volksseele" (ein Wort, welches ich bei dieser Gelegenheit den Parisern abtreten möchte) ihren vollen Anteil an Inhalt und Form des Liebes- und Freudenfestes haben. Alles andere erscheint nur wie ein Beiwerk oder ein Vorwand, zu dem man sich entschließen mußte, um das Ganze nicht gar so einseitig wirken zu lassen. Was es für den Ernst des Völkerlebens bedeutet, braucht man im Ernst nicht zu fragen. Wenn die meisten Heiraten so glücklich abliefen wie die meisten Hochzeiten, wäre die Welt zu schön. Die Feiern sind erschaffen, um die gemeine *) Aus der „Nation" vom 26. September 1896.

454 Wirklichkeit zu korrigieren, und deswegen sind sie berufen, mit möglichst wenig Nachdenken genossen zu werden.

Ein Paar Jährchen nachdem der französische Imperator die Braut aus der Habsburgischen Hofburg unter Entfaltung alles heraldischen Pomps in die Tuilerien geführt hatte, stand er im Kampf auf Leben und Tod mit ihrem Vater­

hause. Ein paar Jährchen, nachdem König Wilhelm der umschmeichelte Gast in Compiögne gewesen, sah er den tief gedemütigten Gastgeber bei Sedan zu seinen Füßen. Und wer sich des Befreiungs- und Dankesrausches entsinnt, unter dessen Fahnen, Blumen und Umarmungen die französische Armee am 6. Juni 1859 nach der Schlacht von Magenta in Mailand einzog, wird nicht minder der Gefahr entgehen, den Bundesliedern ewiger Lieb und Treu ein allzugläubiges Ohr zu leihen. Aber eben weil es in dieser schlechten Welt des Wechsels und der Vergänglichkeit der Dinge nichts ewig Bleibendes giebt, darum hat auch das Flüchtige seinen Wert, und es zn gering zu schätzen, wäre ebenso falsch, wie es über seinen Wert zu veranschlagen. Diese dritte Jnscenirung des französisch-russischen Herzensbundes, — nach Kronstadt Toulon, nach Toulon Paris, und nach den Flotten der Zar und seine Familie in Person, es ist doch auch nichts Gleich­ gültiges, nichts Bedeutungsloses; wer sich nur darüber lustig machen wollte, würde gerade so unwahr sein, wie die tanzenden Preßderwische in Paris, die sich vor inbrünstiger Anbetung des Kaisers aller Reußen und seiner hundert Millionen Unterthanen überschlagen. Richtig ist doch, daß dies Rußland, dessen gewaltigem Autokraten vor vierzig Jahren die Verzweiflung über seine Niederlage den Tod, brachte, heute als die über die Geschicke der Völker Europas gebietende Macht gefürchtet und umschmeichelt dasteht. Das

Wettkriechen ist da, ob Fürst Bismarck es abwies oder nicht.

455 Und ob Fürst Bismarcks Politik dazu beigetragen hat oder nicht, wird man in Deutschland erst fragen dürfen, wenn es nicht mehr für eine Blasphemie gelten wird, zu fragen,

ob auch dieser größte Meister der Diplomatie sich nicht irrte, als er die Rolle des ehrlichen Maklers übernahm und den Dreibund stiftete; ob es wohlgethan war, als er im weiteren Verlauf derselben Aktion Rußland den Finanzkrieg auf Leben und Tod ankündigte und es der französischen Geldmacht in die Arme trieb. Allerdings darf man nicht vergessen, daß der erste und ausschlaggebende Wendepunkt im deutsch-französischen Kriege lag, daß Rußlands Wider­ geburt aus dem Grabe der französischen Waffen emporstieg, daß schon in Versailles 1870 der Pariser Friedensvertrag

von 1856 zerrissen ward. Alles was seit jenen Schicksalstagen geschah, ist mehr oder weniger die eingeborene logische Konsequenz jener ersten großen Entscheidung. Bis zum russisch-türkischen Krieg war es der deutschen Staatsweisheit gelungen, sich auf derselben klugen Linie zu halten, die sie damals einschlug, als sie Rußland seinen Anteil an der neuen Konstellation durch die Wiedereröffnung des Schwarzen Meeres verschaffte. Der Umschlag datirt von 1875, und seitdem hat Frankreichs Liebeswerben — ob von deutschen Fehlgriffen begünstigt oder nicht (der alte Kaiser Wilhelm war bekanntlich hier nicht immer mit seinem Kanzler einverstanden) — sich mit unleugbarem Erfolg bemüht, Rußlands Sinn und Interesse auf seine Seite zu ziehen. Man hat gut sich darüber lustig machen, daß die demokratischen Republikaner, daß die Kom­ munisten des Pariser Stadtrats dem obersten Zwingherrn der sibirischen Verließe Hymnen singen und Kränze winden; daß sie die einst so heiß geliebten polnischen Brüder ver­ gessen haben; daß selbst die Alliance israelite vor den Leiden ihrer verfolgten Glaubensgenossen die Augen ver-

456 schließen und sich in diplomatisches Schweigen hüllen muß. Die guten Leute sind sich alles dessen wohl bewußt, aber die Republik und die Republikaner sagen sich mit ihrem einstigen biederen, schlauen Bearner König: „die Notwendig­ keit, welche das oberste Gesetz der Zeiten ist, verlangt vom Herrschenden, daß er bald der einen Ansicht huldige, bald der anderen." Auf alle Widersprüche oder Übertreibungen,

die man ihnen vorhält, antworten sie: Frankreich, Frankreich über alles! Und wenn der patriotische Historiker und Prophete Jules Michelet noch lebte, er würde ohne Zweifel mitthun, wie die anderen, obgleich er in den ersten Tagen des Jahres 1871 aus der Schweiz eine Flugschrift entsandte unter dem Titel „La France devant l’Euröpe“, um seine Warnungsstimme dagegen zu erheben, daß Deutschland durch seine Siege über Frankreich nur der moskowitischen Invasion den Weg aufgeschlossen habe. Da heißt es unter anderen: „Das Angesicht des Herrn von Bismarck sah mir aus, wie das eines russischen Generals. Ich habe mich nicht ge­ täuscht .... Seine blutige Diktatur dezimirt heute Deutsch­ land und wird ihn morgen vor die Kanonen Rußlands spannen (junientum insipiens)"; und dies weiter ausführend, zeigt Michelet, wie der Zar, nach Metz und Sedan trium­ phierend, darauf sinnt, seine Heeresmacht zu verdoppeln und einen gewaltigen Ruf an die Barbarenmasfen seines Reiches ergehen zu lassen: „L’ours Plane, d’un grand coup de gueule, obtient l’effroyable echo d’un hurlement general, sorti de cette mer humaine“. Recht hat er ja allerdings behalten, nur mit dem Zusatz, daß Deutschland den weißen Bären aufgeweckt hat, Frankreich aber der Bären­ führer geworden ist. Aber wenn unter ähnlichen Umständen vielleicht auch

eine andere Nation zu ähnlicher Umkehr im eigenen Denken und Fühlen käme, so haben doch die Franzosen durch ihr

457 glückliches, zur Lebensverschönerung angelegtes Naturell noch

ganz besonders die Gabe, sich in das, was ihrer Eigenliebe wohlthut, Hineinzuräsonnieren. Das kaum übersetzbare Wort Amour-propre ist nicht umsonst ihrem Sprachschatz ange­ hörig, und einer ihrer praktischen Philosophen hat ein ganzes System darauf gegründet. Wenn zu ihrer Auslegung von Recht und Unrecht im Konflikt mit Deutschland doch etwas fehlte, so hat es ihnen Fürst Bismarck geliefert, indem er, nach seinem Rücktritt, dem Interviewer in Friedrichsruh

seine Darstellung über die Verbreitung der Emser Depesche zum besten gab. Diese Version von der „gefälschten Depesche"

ist seit jener Mitteilung der Angelpunkt für die französische Auffassung der ganzen Kriegsentstehung geworden und hat dazu geführt, daß auch ganz Unbefangene überzeugt sind, Napoleon Hl. sei durch eine schlau angelegte Intrigue in einen Hinterhalt gelockt und, um ihn aus demselben nicht mehr entrinnen zu lassen, sei zu guterletzt mit teuflischer Berechnung jene „Fälschung" vorgenommen worden. So stehe denn fest, daß Deutschland in Wahrheit der angreifende Teil gewesen sei.

n.

Der Moment, da die Augen der Welt nach Paris

gerichtet sind, um das sich vorbereitende Schauspiel mit Re­ flexionen zu begleiten, scheint nicht ungeeignet, auf ein Werk aufmerffam zu machen, welches sich in sehr interessanter Weise mit diesem Stoff beschäftigt. Offenbar angeregt durch

die zweifache, doch in sich zusammenhängende Geistesbewegung, welcher zugleich das russische Bündnis und die Wiederbe­ lebung der Napoleonischen Epopöe entsprang, hat der Ver­ fasser sich zur Aufgabe gestellt, die diplomatische Geschichte der vielgestaltigen Wechselbeziehungen zwischen dem ersten

458 Napoleon und dem Kaiser Alexander I., mit sorgfältigem Quellenstudium und im Dienste der neuen Konstellation zu ergründen und anfzuzeichnen. Der erste Band dieses Werkes*) ist zwar schon vor fünf Jahren erschienen, aber seit jener Zeit sind noch zwei andere gefolgt; der erste hat bereits

die vierte Auflage erlebt; die französische Akademie hat dem Werk zweimal nach einander den höchsten Preis, den sie er­ teilt, den sogenannten Prix Gobert (20 000 Franken) zu­ gewendet, und es erfreut sich in Frankreich eines großen, ernsten Erfolges. Auffallender Weise hat es bis jetzt in Deutschland nicht die Aufmerksamkeit gefunden, welche unsere

gebildete Lesewelt derartigen Erzeugnissen der französischen

Litteratur zu widmen pflegt. Und doch kann man es mit gutem Gewissen empfehlen, wenn man auch seine An­ schauung und Tendenz durchaus nicht teilt. Es ist vortrefflich und lebendig geschrieben. Der Verfasser hat eine Reihe neuer Aktenstücke beigebracht, die meisten aus französischen Archiven, andere aus russischen, auch aus privaten ihm zu­ gänglich gemachten Quellen; er hat den Einblick in die Eigentümlichkeit, wie den Bestand der Geheimnisse der Kabinetspolitik der beiden Kaiser wesentlich bereichert. Wie schon aus dem Gesagten hervorgeht, steht er auf einem sehr ausgesprochenen nationalen Standpunkt. Doch verfällt er nie gegenüber anderen Völkern in den Ton der Diatribe, mit welchem Heinrich von Treitschke seine Feuerbrände gegen Feind und allerdings auch Freund schleudert. Vandal ist

nicht eigentlich Bonapartist, eher könnte man ihn einen Legitimisten nennen. So groß seine Verehrung für das napoleonische Genie, so sehr er dessen Geist und Ziel zu veredlen bemüht ist, am meisten beklagt er doch an Frank-

*) Napoleon et Alexandre I. L’alliance Russe sous le Premier Empire par Albert Vandal. Paris. Librairie Pion.

459

reichs Geschick, daß es den unersetzlichen Besitz seiner ange­ stammten Monarchie eingebüßt habe. Ich stelle mir heute nicht die Aufgabe, über den In­

halt dieser drei stattlichen Bände näher zn berichten.

Den

interessantesten Beitrag zur Physiognomie der Tagesgeschichte liefert die vom Verfasser zum ersten Bande und bereits im Jahre 1890 geschriebene Vorrede. Eine kleine Blumenlese aus dieser möge ein Bild zusammenstellen, zu welchem ein Kommentar nicht erforderlich ist. Gleich der erste Satz springt mit gleichen Füßen in den zu beweisenden Satz

hinein: „Während der ganzen Dauer seiner Regierung ver­ folgte Napoleon nur den einzigen Zweck: durch einen ernsten Frieden mit England die Festigkeit seiner Schöpfung, die Größe Frankreichs und die Ruhe der Welt sicher zu stellen. Um diesen Zweck zu erreichen, war das hauptsächlich von ihm angewandte Mittel in der entscheidenden Epoche seiner Laufbahn, eine Allianz mit Alexander I., Kaiser von Ruß­ land. Wenn der zu Tilsit gemachte Versuch einer Ver­ einbarung sich konsolidirt und weiter entwickelt hätte, so wäre England wahrscheinlich überwältigt worden, Frank­ reich und Europa hätten definitiv eine neue Gestalt an­ genommen. Der Bruch mit Rußland hauchte der im Ver­ enden begriffenen Koalition neues Leben ein, riß Napoleon zu tödlichen Unternehmungen fort und brachte das Ver­ derben über ihn." Wie das alles gekommen zwischen Tilsit und Moskau, will der Verfasser erzählen. Er greift zurück auf die früheren Perioden, zeigt, wie Frankreich durch seine Handelspolitik in der Levante zu Rußland in Gegensatz kommen mußte, obgleich sonst bei ihrer weiten räumlichen Trennung zu Reibungen kein Anlaß gegeben war. Dann ward Katharina die Feindin der Revolution. Zum erstenmale tanchte eine

460 persönliche Sympathie auf zwischen dem ersten Konsul und Kaiser Paul, nach dessen kurzem Regiment Alexander wieder die Feindseligkeit gegen den französischen Usurpator auf­ nahm. In Frankreich war wenig Stimmung für ein russisches Bündnis; die meisten Politiker spekulierten auf eine Koalition mit Preußen. Talleyrand wollte die Taktik der letzten Bourbonen erneuern und Napoleon zu Österreich

führen. Aber die Lage der Dinge erlaubte das nicht. Englands Feindschaft gestattete ihm nicht, eine Friedens­ politik zu verfolgen. „Um England den Frieden abzunötigen und ihn der Welt zu geben", (!) konnte Napoleon weder Preußen noch Österreich gebrauchen. Hier konnte nur Rußland eintreten.

Wiederholt kam es so, daß Rußland

und Frankreich sich erst mit den Waffen gegenüber gestanden

haben mußten, um sich gegenseitig achten zu lernen. Bei Eylau eroberte Napoleon die russische Allianz auf der Spitze seines Degens. In Napoleon und Alexander scheinen dem Verfasser

die entgegengesetzten Elemente vereinigt, welche der Welt eine neue feste Gestalt geben konnten. Hier folgt eine be­ redte, farbenreiche Apotheose von Tilsit. Doch das Ver­ hängnis gestattet nicht, die Frucht dieser Saat zu ernten. Napoleon darf sich nicht zu rückhaltlos Rußland anver­ trauen. Die Türkei, Polen fallen als Gegengewicht in die Wagschale. Verhängnisvoll wird der unglückliche Übergriff

nach Spanien.

Und immer steht das unversöhnliche England

hinter jedem Gegner. Es ist nicht Napoleons rastloser Ehr­ geiz, der ihn von einem Feldzug zum anderen fortreißt; die unerbittliche Notwendigkeit zwingt ihn dazu. „Nur die einzelnen untrennbaren Teile eines einzigen Krieges sind es, an dessen Ende Frankreich zu Europas Füßen nieder­ sinkt, nachdem es dasselbe mit seinem Geiste durchdrungen und umgewandelt hatte. Dann unterlag Frankreich, und die französische Idee war besiegt."

461 Vergeblich waren alle Anstrengungen Napoleons, Ruß­ land an seiner Seite festzuhalten. Daß man ihm die Hand einer russischen Großfürstin verweigerte, zwang ihn, die österreichische Erzherzogin zu wählen. Daß es schließlich wieder zum Krieg kam, war mindestens ebenso sehr Alexanders als Napoleons Wille. Sie hatten einst geglaubt, die Welt zwischen sich teilen zu können, es sei Raum genug für beide da.

So hatte

einst Napoleon

zu Alexander gesprochen.

Das war der Irrtum. Der Geist der Eroberungen, ein­ mal entfesselt, mußte Zusammenstöße herbeiführen, so weit man auch die Zielpunkte auseinanderlegte. Hier sei der Schlußsatz dieser Betrachtung wörtlich

angeführt: „Wenn das System der beiderseitigen Eroberungen, welches Napoleon dem Kaiser Alexander suggerierte, dem französischen Kaiser durch die Umstände aufgenötigt wurde, so haben die Resultate es nichts destoweniger verurteilt.

Eine mehr normale Zukunft und eine fruchtbarere, scheint sich heute den Geschicken der beiden Völker zu bieten, wie der Parallelismus und die Begegnung der Sympathien sie mit einander verbunden haben. Indem sie sich zu einer Politik der Weisheit und kluger Festigkeit vereinigt haben, können sie die Unabhängigkeit des Kontinents sicher stellen, nachdem sie vergeblich gesucht haben, sich in dessen Herr­ schaft zu teilen, und es scheint diesen beiden Polen Europas vorbehalten, einen moderierenden Einfluß auf dasselbe aus­ zuüben, dessen verschiedene Elemente in einem gerechten Gleichgewicht zu erhalten oder es wieder in ein solches zu

versetzen." Man sieht, von Revanche ist hier nicht die Rede bis auf ein Wörtchen, bei dem man allerdings sagen könnte: in cauda venenum. Was bedeutet: replacer les elements divers dans un juste equilibre? Zur Vervollständigung

462 dieser Einleitung gehört ihrer Natur nach die „Konklusion", mit welcher der Verfasser seinen neuesten dritten und letzten Band schließt. Sie lautet in der Quintessenz wie folgt: „Napoleons und Alexanders maßlose Pläne haben nur dazu geführt, England groß zu machen, d. h. Rußland be­

drohliche Gegnerschaften zu bereiten, ohne ihm irgendwie zur Erreichung seiner politischen Ziele zu helfen. Nach ver­ schiedenen Annäherungsversuchen und Irrungen ist endlich die Solidarität beider Länder zpm Durchbruch gekommen, sowohl für das nationale Bewußtsein als in einem Auf­ schwung der Liebe, der zu einem Pakt der Völker wird,

nachdem der Versuch zwischeu den beiden Herrschern 1807 und 1808 sich als vergänglich erwiesen. In dem neuen Einverständnis erblickt ein Beobachter, welcher nicht dem Ansturm seiner Gefühle folgt, sondern mitten im Geschrei der Menge sein kaltes Blut behält, ein unermeßliches Heil für die beiden Vaterländer und zugleich ein Opfer; eine Bürgschaft der Sicherheit und Würde; auch die „Vertagung" überlieferter Projekte des Ehrgeizes und unzerstörbarer Hoffnungen (indestructibles esperances); ein gemeinsames Opfer dargebracht dem Frieden und der Menschheit. Die Allianz könnte sich zum Wahlspruch nehmen: Je maintiendrai. „Nachdem sie das, von jetzt an erneuerte und vereinfachte, Gleichgewicht Europas wiederhergestellt, hält sie den be­ stehenden Zustand aufrecht, ohne seine Gefahren und seine Mängel zu verkennen, sie hält die bewahrten oder einge­

nommenen Stellungsnahmen aufrecht, ja sogar die Unge­ rechtigkeiten der Vergangenheit (Polen?) um größere zu verhüten. Konservativ und defensiv wird sie nur in Aktion treten, um ehrgeizige Friedensstörungen zu zügeln, das Gleichgewicht der Kräfte zu sichern und an Stelle jedes Eroberungsgelüstes billige Verteilung des Einflusses zu setzen. Dies ist ihr Daseinsgrund, ihre Größe und ihre Grenze."

463 Damit schließt das Werk, und damit mögen auch diese Betrachtungen ihren Schluß finden. Nur eines möchte ich unseren, nach allen Seiten hin ausschlagenden deutschen Chauvinisten unter die Augen rücken: der Grundgedanke, unter dessen Zeichen die Verherrlichung der russisch-franzö­ sischen Verbrüderung hier erscheint, ist der Antagonismus gegen England in seiner Untrennbarkeit vom Antagonismus gegen Preußen, d. h. Deutschland. Interlaken, Ende September.