Schrift und Schriftlichkeit / Writing and its Use: Band 1 9783110203233, 9783110111293


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German Pages 950 [970] Year 1994

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Table of contents :
Vorwort
Preface
Inhalt / Contents
I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit
1. Orality and Literacy
1. Preliminaries
2. Different meanings and types of ‘orality’ and ‘literacy’
3. The medial and the conceptual aspect of ‘orality’ and ‘literacy’
4. The possibilities and consequences of a two fold scalarity in the theoretical framework
5. Transitional phenomena
6. Multiform contexts, multicausal and multiform evolution processes
7. References
2. Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation
1. Sprachliches Handeln und Kommunikation
2. Mündliche Vertextung
3. Schrift: Verdauerung II
4. Strukturale Konsequenzen der Verschriftlichung von Kommunikation für das sprachliche Handeln
5. Die Verdinglichung des Textes und ihre kommunikativen Folgen
6. Medienmanipulation
7. Die Transformation des Sprechers zum Autor und ihre soziologischen Konsequenzen
8. Die Transformationen vom Hörer zum Leser und ihre soziologischen Konsequenzen
9. Schriftliche Kommunikation und die Entwicklungwissenschaftlichen Wissens
10. Schriftlichkeit und das gesellschaftliche Gesamtwissen
11. Schriftliche Kommunikation und ihre Weiterentwicklung
12. Literatur
3. Semiotic Aspects of Writing
1. Introduction
2. Written signs as metasigns
3. Writing and representation
4. Writing and linearity
5. Conclusion
6. References
4. Geschichte des Schreibens
1. Einführung
2. Die Anfänge des Schreibens
3. Der alte Orient
4. Das alte Ägypten
5. Die griechische und römische Antike
6. Das europäische Mittelalter
7. Neuzeit und Moderne
8. Literatur
5. Geschichte des Lesens
1. Lesen und Verstehen
2. Fragen, die zu stellen sind
3. Materielle Voraussetzungen
4. Sechs Lesekulturen
5. Vorhellenistische Lesekultur
6. Hellenistisch-römische Lesekultur
7. Frühmittelalterliche Lesekultur
8. Hochmittelalterliche Lesekultur
9. Frühneuzeitliche Lesekultur
10. Moderne Lesekultur
11. Fragen und Schwierigkeiten
12. Literatur
6. Geschichte des Buches
1. Allgemeines
2. Der alte Orient und die Antike
3. Das Mittelalter und die frühe Neuzeit
4. Das 17. und 18. Jahrhundert
5. Das 19. Jahrhundert
6. Das 20. Jahrhundert
7. Literatur
7. Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit
1. Vorüberlegungen
2. Antike
3. Mittelalter
4. Renaissance
5. Das 17. Jahrhundert
6. Das 18. Jahrhundert
7. Das 19. Jahrhundert
8. Das 20. Jahrhundert
9. Literatur
II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit
8. Traditionelle Schreibmaterialien und -techniken
1. Einleitung
2. Papyrus
3. Pergament
4. Papier
5. Schreibinstrumente
6. Literatur
9. Elektronische Lese- und Schreibtechnologien
1. Einleitung
2. Überblick
3. Möglichkeiten elektronischer Datenverarbeitung
4. Desktop publishing (DTP)
5. Schriftzeichenerkennung
6. Dokumentanalyse
7. Scanner
8. Drucker
9. Elektronischer Dokumentaustausch und Standards
10. Schlußbetrachtung
11. Literatur
10. Archivierung von Schriftgut
1. Einleitung
2. Keilschriftarchive im Vorderen Orient
3. Griechische und römische Archive der Antike
4. Archive im Mittelalter und der frühen Neuzeit
5. Archivordnungen
6. Zugang zu und Gebrauch von Archiven
7. Neuzeit
8. Literatur
11. Datenbanken
1. Einleitung
2. Geschichte
3. Struktur, Aufbau und Typen von Datenbanken
4. Anwendungen
5. Künftige Entwicklungen der Datenbanktechnologie
6. Datenbanken als Medien der schriftlichen Kommunikation
7. Literatur
12. Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrer historischen Entwicklung
1. Grundlagen
2. Frühgriechische Buchstabenformen (ca. 750 bis 403 v. Chr.)
3. Buch- und kursivschriftliche Entwicklungen des griechischen Alphabets bis in die Neuzeit
4. Lateinische Buchstabenformen von der archaischen bis zur klassischen Lapidarschrift
5. Entwicklungen der lateinischen Schrift vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr.
6. Von der karolingischen zur „gotischen“ Minuskelschrift. Humanistischer Rückgriff auf die Karolinger Minuskel
7. Literatur
13. Typographie
1. Begriffsklärung
2. Materiell-technische Voraussetzungen und Entwicklungen der Typographie: vom Bleisatz zum digital-elektronischen Satz
3. Typographische Maßsysteme
4. Historisch-systematische Darstellung der Druckschriften seit Gutenberg
5. Typographie als Gestaltungsprozeß
6. Literatur
14. Kalligraphie
1. Einleitung
2. Europäische Kalligraphie
3. Arabische Kalligraphie
4. Fernöstliche Kalligraphie
5. Literatur
III. Schriftgeschichte
15. Theorie der Schriftgeschichte
1. Einleitung
2. Ursprung der Schrift
3. Abgrenzung der Schrift von anderen visuellen Zeichen
4. Sprachbezug
5. Entwicklung
6. Rückblick und Ausblick
7. Literatur
16. Forerunners of Writing
1. Tallies
2. Tokens
3. Sumerian Pictographic Tablets
4. Conclusion
5. References
17. Der alteuropäisch-altmediterrane Schriftenkreis
1. Alteuropäische Zivilisation und Schrift
2. Das Problem alteuropäischer Kontinuitätin der ägäischen Schriftkultur
3. Die Anfänge der griechischen Schriftkultur (Linear B)
4. Die Linearschriften Altzyperns
5. Einflüsse ägäischer Schriftsysteme auf den Entstehungsprozeß des Alphabets
6. Literatur
18. Die sumerisch-akkadische Keilschrift
1. Allgemeines
2. Keilschriftsprachen
3. System und Umschrift
4. Schriftträger, Schreibtechnik,Textgestaltung
5. Aspekte antiker Keilschriftphilologie
6. Ursprung und Geschichte
7. Schriften im Umkreis der Keilschrift
8. Literatur
19. Die ägyptische Hieroglyphenschrift und ihre Weiterentwicklungen
1. Übersicht
2. Innere Form, dargestellt an der klassischen Bilderschrift
3. Äußere Form: Bilderschrift und daraus abgeleitete Kursivschriften
4. Entstehung
5. Einzelentwicklungen: Zeichenvorrat, Verhältnis Notation zu Kennzeichnung, Silbenschrift
6. Abhängigkeit anderer Schriften von der ägyptischen
7. Aussterben
8. Literatur
20. Die nordwestsemitischen Schriften
1. Einführung
2. Frühe semitische Alphabete
3. Die klassische Periode
4. Die jüngeren Ausformungen der aramäischen Schrift
5. Zusammenfassung
6. Literatur
21. Die altsüdarabische Schrift
1. Die altsüdarabische Monumentalschrift
2. Verbreitung, Entzifferung, Chronologie
3. Minuskelschrift
4. Literatur
22. Die arabische Schrift
1. Allgemeines
2. Herkunft der arabischen Schrift
3. Die arabische Schrift infrühislamischer Zeit
4. Der Kūfī-Duktus
5. Der Nasḫī-Duktus
6. Die diakritischen Zeichen
7. Die orthographischen Hilfszeichen
8. Literatur
23. Die äthiopische Schrift
1. Standort und Genesis
2. Vokalisierung und Schriftrichtung
3. Bestand
4. Entwicklungsstadien
5. Verbreitung
6. Reformversuche
7. Literatur
24. Evolution of the Indian Writing System
1. The Harappan script
2. A hiatus
3. The Aśokan scripts
4. Orality and literacy in ancient India
5. Indian scripts descended from Brāhmī
6. Brāhmī-based scripts outside South Asia
7. Non-Indic scripts in South Asia
8. References
25. Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften
1. Allgemeine Voraussetzungen der Alphabetentwicklung
2. Die ältesten lokalen Varianten einer Alphabetschrift im Nahen Osten
3. Das phönizische Alphabet
4. Die europäischen Affiliationen der phönizischen Schrift
5. Die nahöstlichen Affiliationen derphönizischen Schrift
6. Zur Rolle von Kultursprachen und Basisschriften für die Verbreitung des alphabetischen Prinzips
7. Isolierte Alphabetschöpfungen in Europa und Asien
8. Die Rolle von Alphabetschriften in der modernen Sprachplanung
9. Literatur
26. Die chinesische Schrift
Vorbemerkung
1. Allgemeines
2. Entwicklung der Schriftzeichen und ihrer Formen
3. Der Aufbau derchinesischen Schriftzeichen
4. Arten von chinesischen Schriftzeichen
5. Die Anordnung der chinesischen Schriftzeichen
6. Schluß
7. Literatur
27. Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift: Japan — Korea — Vietnam
1. Japan
2. Korea
3. Việtnam
4. Literatur
28. Mittelamerikanische Schriften
1. Schriftsysteme im vorspanischen Amerika
2. Narrative Piktographie der Präklassik
3. Die zapotekische Schrift
4. Die epiolmekische Schrift
5. Maya-Hieroglyphen
6. Die aztekische Hieroglyphenschrift
7. Literatur
29. Decipherment
1. Decipherment of writing and interpretation of languages
2. Methods of decipherment
3. Decipherment of ancient writing systems
4. Attempts to decipher the scripts of pre-Columbian America
5. Other deciphering attempts
6. Scripts not yet deciphered
7. References
IV. Schriftkulturen
30. Oral and Literate Cultures
1. Introduction
2. The oral-literate dichotomy
3. Literacy and orality as means,not cause
4. Literacy and orality not unitary
4.Literacy and orality not separate
6.Literacy and orality not sequential
7. Literacy, orality, and inequality
8. References
31. On the Threshold to Literacy
1. Forerunners of writing
2. Numbers
3. Conditions and constraints
4. Expansion and disappearance ofthresholds of literacy
5. References
32. Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì)
1. Der hànzì-Kulturkreis —Begriffsbestimmung
3. Die Ausbreitung der hànzì-Kulturin Ostasien
4.Hànzì, hanja und kanjiim heutigen Ostasien
5. Literatur
33. The Sphere of Indian Writing
1. Writing in ancient India
2. Indian scripts
3. Written tradition
4. Official languages
5. Language development
6. Written languages and education
7. Literacy in modern India
8. Publications
9. Written word in the sphere ofIndian writing
10. References
11. Appendix: Survey of LivingLanguages in India
34. Die ägyptische Schriftkultur
1. Rahmenbedingungen
2. Funktionen der Schriftkultur
3. Bürokratie:Texterzeugung und -speicherung imDienst der Archive
4. Tempel — Schrift und Ritus,Schrift und Wissen
5. Schrift und Bildung
6. Repräsentation:der „monumentale Diskurs“
7. Totenliteratur —Rezitationsliteratur undWissensausstattung
8. Literatur
35. Die Keilschriftkulturen des Vorderen Orients
1. Anfänge (Proto-Keilschrift)
2. Altsumerische Zeit
3. Akkadzeit
4. Neusumerische Zeit
5. Altbabylonisch-Altassyrische Zeit
6. Mittelbabylonisch/-assyrische Zeit
7. Das 1. Jahrtausend
8. Literatur
36. Die nordwestsemitischen Schriftkulturen
1. Allgemeines
2. Rahmenbedingungen
3. Textkorpus
4. Schule
5. Funktionen der Schrift
6. Schrift und Bild
7. Literatur
37. Die griechische Schriftkultur der Antike
1. Vorgeschichte
2. Die Übernahme des phönizischenAlphabets
3. Beschreibstoffe
4. Lautes und stilles Lesen
5. Die Entwicklung bis zum4. Jahrhundert v. Chr.
6. Hellenismus und Kaiserzeit
7. Literatur
38. Die lateinische Schriftkultur der Antike
1. Die Übernahme des Alphabets
2. Die ‘vorliterarische’ Periode
3. Die ausgebildete Schriftkultur derRepublik und frühen Kaiserzeit
4. Wandel in der Spätantike
5. Literatur
39. Die arabische Schriftkultur
1. Ursprung und Zentrum derarabischen Schriftkultur:Die Schreibung des Korans
2. Die Kursivschriften
3. Stilarten der Kursivschriften;geographische Verbreitung
4. Buchstabenmystik
5. Kalligraphie
6. Das Aljamiado-Phänomen
7. Ausblick
8. Literatur
40. Das Mittelalter in Europa: Lateinische Schriftkultur
1. Vorbemerkung
2. Manu hominibus praedicare. Wesen und Wert lateinischer Sprachkultur und Schriftlichkeit im Mittelalter
3. Traditio, correctio und innovatio. Von der Karolingerzeit zum Hochmittelalter
4. Zwischen Wissenschaft, Gottverlangen und Weltgetriebe. Wandlungen im Hoch- und Spätmittelalter
5. Methoden, Ergebnisse und Desiderate der Forschung
6. Literatur
41. Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in Westeuropa
1. Allgemeines
2. Irland
3. England
4. Deutschland
5. Island
6. Frankreich
7. Spanien
8. Italien
9. Rückblick und Ausblick
10. Literatur
42. Der Buchdruck und seine Folgen
43. Perspektiven der Schriftkultur
1. Einleitung
2. Zum Begriff der Kultur und zur Rolle der Schrift
3. Differenzierung von Schriftkulturen
4. Universalisierung der Kommunikation
5. Neue Formen des Schreibens
6. Anforderungen an eine neue Schriftkultur
7. Literatur
V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur
44. Schriftlichkeit und Sprache
1. Theoretische Grundlagen
2. Universale Aspekte schriftlicher Sprache und Konzeption
3. Diskurstraditionelle Aspekte schriftlicher Sprache und Konzeption
4. Einzelsprachliche Aspekte schriftlicher Sprache undKonzeption
5. Primat der Schriftlichkeit?
6. Literatur
45. Writing and Religion
1. Oral and written language
2. Religion and language
3. Sacred texts
4. References
46. Schriftlichkeit und Recht
1. Überblick
2. Objektivierung und Vergegenständlichung
3. Gesetzespositivismus
4. Rechtsvereinheitlichung
5. Funktionen der Urkunden- und Schriftform
6. Publizitätsfunktion
7. Gestaltungsfunktionen des Privatrechts
8. Rechtswissenschaft
9. Rechtsprechung
10. Rechtsbewußtsein
11. Literatur
47. Schriftlichkeit im Handel
1. Einleitung und Übersicht
2. Die Bedeutung des Schreibens für den Kaufmannsstand in älterer Zeit
3. Die Kaufmannssprache aus der Perspektive der Fachsprachenforschung
4. Schreiben im Handel in der heutigen Zeit
5. Literatur
48. Schriftlichkeit und Technik
1. Einleitung
2. Der Zusammenhang von Schriftlichkeit und Technik bis zum Ende der Antike
3. Schriftlichkeit und Technik bis zum 16. Jahrhundert
4. Schriftlichkeit und Technik seit dem 17. Jahrhundert
5. Schriftlichkeit und Technik in der Gegenwart
6. Ausblick
7. Literatur
49. Writing and Industrialization
1. Assumptions about literacy and industrialization
2. Historical studies of the relation between writing and industrial development
3. Functional roles for literacy in industrial contexts
4. References
50. Writing and Education
1. Introduction
2. Academic discourse and essayist literacy
3. Academic discourse and discourses of the Other
4. Conclusion: Future research
5. References
51. Schriftlichkeit und Philosophie
1. Prolog
2. Vom Epos zur Prosa
3. Platons Vorbehalt gegen die Schrift
4. Der Traum vom erfüllten Wort
5. Von der Analytik zur Begriffsschrift
6. Post scriptum
7. Literatur
52. Writing and Science
1. What is science?
2. Writing and the origins of western science
3. The scientific revolution in the 17th Century
4. Science in other cultures
5. Contemporary science and scientific thinking
6. References
53. Schriftlichkeit und Literatur
1. Veränderungen des Begriffs ‘Schriftlichkeit’
2. Literarische Schreibtätigkeit
3. Die dritte Dimension der Literatur
4. Literarische Schreibverfahren
5. Neue theoretische Ansätze
6. Literatur
54. Schriftlichkeit und Philologie
1. Schriftlichkeit
2. Grenzfälle
3. Interferenzen
4. Transliteration
5. Übersetzung
6. Überlieferung
7. Lachmann
8. Anti-Lachmann
9. Editionsformen
10. Graphematik
11. Variantenkritik
12. Buchdruck
13. Standardisierung
14. Literatur
55. Sekundäre Funktionen der Schrift
1. Primär und sekundär
2. Magie der Schrift
3. Anagramme
4. Schriftbilder
5. Literatur
VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit
56. Orthographie als Normierung des Schriftsystems
1. Kalligraphie und Orthographie
2. Der orthographische Mythos
3. Das phonematische Prinzip
4. Verschriftung und Grammatik: das morphematische Prinzip
5. Majuskel, Minuskel, Interpunktion und Satz
6. Schreibschrift und Druckschrift: die Digitalisierung der Schrift
7. Typographie: Konventionalisierung des Alphabets
8. Regulativer und funktionaler Sinnorthographischer Normen
9. Literatur
57. Codification by Means of Foreign Systems
1. The act of adopting writing
2. Cultural conditions for writing
3. Foreign systems as models
4. Adaptations from foreign systems
5. Continuing sociolinguistic processes
6. References
58. Native Creation of Writing Systems
1. Introduction
2. Independent invention
3. Stimulus diffusion
4. Structural reformation
5. Historical clusterings
6. References
59. Orthographieentwicklung und Orthographiereform
1. Zur Charakterisierung der Orthographie
2. Möglichkeiten derOrthographieentwicklung
3. Grundsätze, Ziele und Bestimmungsfaktoren von Orthographiereformen
4. Durchgeführte und geplante Orthographiereformen
5. Auseinandersetzungen um Orthographiereformen
6. Literatur
60. Schriftlichkeit und Diglossie
1. Einleitung
2. Sprachkultivierung
3. Gesellschaftliche Aspekte
4. Schriftsysteme und Diglossie
5. Literatur
61. Schriften im Kontakt
0. Disziplinäre und terminologische Voraussetzungen
62. Demographics of Literacy
1. Introduction
2. Statistical indicators of worldliteracy
3. Functional literacy: what can bemeasured?
4. Methodological issues inliteracy assessment
5. Perspective
6. References
63. The Promotion of Literacy in the Third World
1. Literacy as a variable and dynamic concept
2. Literacy, schooling and basic education
3. Language choice
4. International definitions and strategies
5. Variations in literacy strategies
6. Literacy for women
7. Research
8. References
64. UNESCO’s Efforts in the Field of Literacy
1. Introduction: International Literacy Year 1990
2. The literacy situation in the world
3. The changing political and economic climate
4. Literacy/illiteracy in international perspective
5. Literacy efforts: The approaches
6. Future prospects for literacy
7. References
65. Mother Tongue Literacy — the Work of the S. I. L.
1. Background
2. The scope of SIL’s work in literacy
3. Literacy program methodology and strategy
4. Language, literacy, and development — social and national dimensions
5. Language and literacy —theoretical advances
6. Language, literacy, and development — applied theory
7. The problem of cost effectiveness
8. References
66. Die sowjetischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung
1. Schriftsprachlichkeit und Schriftsysteme im Russischen Reich
2. Phasen der Alphabetisierung in der Sowjetunion
3. Nachkriegsentwicklungen in der Schriftlichkeit der Sowjetunion und Ausblicke
4. Literatur
67. Alphabetisierung und Literalität in Äthiopien
1. Zur Geschichte von Literalität und Literatur in Äthiopien
2. Sozio-psychologischer Kontext
3. Linguistische Voraussetzungen der Verschriftung
4. Methoden der Alphabetisierung
5. Fibeln und weiterführende Literatur
6. Die Alphabetisierungs-Kampagne der Revolution
7. Die Folgen
8. Literatur
68. Literacy Movements in Central and South America and the Caribbean
1. Introduction
2. Cuban literacy campaign
3. Nicaraguan literacy crusade
4. Brazilian Literacy Movement (MOBRAL) and Fundacao (EDUCAR)
5. Jamaican Movement for Adult Literacy (JAMAL)
6. Popular education tendencies
7. Some research and development suggestions
8. References
69. The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy
1. Introduction
2. Literacy during the Republican Era (1911—1937)
3. The Mass Education Movement
4. Missionaries
5. Literacy and the early CCP
6. The War Years (1937—1949)
7. The People’s Republic of China
8. Summary and conclusion
9. References
70. Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung bei den nicht chinesisch sprechenden Völkern Chinas
1. Sprachgruppen
2. Schriftarten
3. Sprachenpolitik
4. Probleme
5. Perspektiven
6. Literatur
71. Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland
1. Allgemeines
2. Das Mittelalter: Exklusive Schriftlichkeit
3. Die Zeit bis 1500: Entwicklung der Funktionalität von Schriftlichkeit
4. Buchdruck und Reformation
5. Die verbesserte Papierherstellung und die Zeit der ‘Multimedialität’ (1550—1700)
6. Die Zeit der Aufklärung (18. Jahrhundert)
7. Die ‘Massenalphabetisierung’ im 19. und 20. Jahrhundert
8. Literatur
72. Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in England und Nordamerika
1. Einleitung
2. Bedeutet Alphabetisierung ökonomischen Fortschritt?
3. Bedeutet allgemeine Schulpflichtuniversale Alphabetisierung?
4. Ist Alphabetisierung Voraussetzung für die Teilnahme an demokratischen Prozessen?
5. Schlußbemerkung
6. Literatur
73. Literalität und Analphabetismus in modernen Industrieländern
1. Zur Themenstellung
2. Analphabetismus — Probleme einer Definition
3. Die Entstehung des Analphabetismus
4. Konzepte der Alphabetisierung
5. Möglichkeiten der Prävention von Analphabetismus
6. Literatur
74. Das System der Zensur und seine Auswirkungen auf die Literalität
1. Begriff und Funktion der Zensur
2. Zur Geschichte der Zensur
3. Zur Geschichte der Zensur in Deutschland
4. Auswirkungen der Zensur
5. Literatur
75. Copyright
1. Allgemeines
2. Schutzgegenstand des Urheberrechts
3. Der Urheber
4. Inhalt des Urheberrechts
5. Nutzung des Urheberrechts
6. Literatur
Farbtafeln / Colour Plates
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Schrift und Schriftlichkeit / Writing and its Use: Band 1
 9783110203233, 9783110111293

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Schrift und Schriftlichkeit Writing and Its Use HSK 10.1

Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Handbooks of Linguistics and Communication Science Manuels de linguistique et des sciences de communication Mitbegründet von Gerold Ungeheuer

Herausgegeben von / Edited by / Edités par Hugo Steger Herbert Ernst Wiegand

Band 10.1

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994

Schrift und Schriftlichkeit Writing and Its Use Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung An Interdisciplinary Handbook of International Research Zusammen mit/Together with Jürgen Baurmann · Florian Coulmas · Konrad Ehlich · Peter Eisenberg · Heinz W. Giese · Helmut Glück · Klaus B. Günther · Ulrich Knoop · Bernd PompinoMarschall · Eckart Scheerer · Rüdiger Weingarten Herausgegeben von/Edited by Hartmut Günther · Otto Ludwig 1. Halbband / Volume 1

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994

Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft / mitbegr. von Gerold Ungeheuer. Hrsg. von Hugo Steger; Herbert Ernst Wiegand. — Berlin; New York: de Gruyter. Früher hrsg. von Gerold Ungeheuer und Herbert Ernst Wiegand. — Literaturangaben. — Teilw. mit Parallelt.: Handbooks of linguistics and communication science. — Teilw. mit Nebent.: HSK NE: Ungeheuer, Gerold [Begr.]; Steger, Hugo [Hrsg.]; Handbooks of linguistics and communication science; HSK Bd. 10. Schrift und Schriftlichkeit. Halbbd. 1 (1994) Schrift und Schriftlichkeit : ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung = Writing and Its Use / in Verbindung mit Jürgen Baurmann ... hrsg. von Hartmut Günther; Otto Ludwig. — Berlin; New York: de Gruyter. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; Bd. 10) NE: Günther, Hartmut [Hrsg.]; Writing and Its Use Halbbd. 1 (1994) ISBN 3-11-011129-2

© Copyright 1994 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

V

Vorwort 1. Gegenstand Wie selbstverständlich Schrift und Schriftlichkeit in unser tägliches Leben eingebunden sind und welche Bedeutung man ihnen zu allen Zeiten zugemessen hat, das zeigt schon ein Blick auf die vielen Redensarten, die dazu existieren. Scripta manent sagten die Lateiner; was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen denkt der Schüler im Faust. Bis daß Himmel und Erde vergehe, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüttel vom G esetz (Matth. 5,18), und des Büchermachens ist kein Ende (Pred. 12,12), aber der Buchstabe tötet, und der Geist macht lebendig (2. Kor. 3,6). Mit dem Schlachtruf sola scriptura zog Martin Luther gegen die herrschende Kirche seiner Zeit zu Felde; f reilich schaute er den Zeitgenossen aufs Maul, wollte gerade vermeiden, daß er redet wie ein Buch. Mancher aber lügt wie gedruckt, obgleich er das, was er sagte, nicht unterschreiben würde — darauf könne er Brief und Siegel geben. Das Alpha und das Omega sind Inbegriff von Anfang und Ende — und es gibt noch erheblich mehr stehende Wendungen dazu, von A bis Z . Schrift und Schriftlichkeit — das ist ein weites Feld. Schrif t, das ist Handschrif t, Druckschrif t, Keilschrif t. Schrif t, das ist Wortschrif t, Silbenschrif t, Alphabetschrif t. Schrif t, das ist Unziale, Antiqua, Fraktur. Schrif t, das ist lateinische, arabische, chinesische Schrift. Schrift, das ist Garamond, Times, Futura. Schrift, das allein ist schon ein weites Feld — und doch stellt dieser Begrif f nur sozusagen den kleinsten gemeinsamen Nenner dessen dar, was als Gegenstand dieses Handbuchs in Frage kommt. Der umf assendere Begrif f heißt Schrif tlichkeit. Er begreif t alles in sich, was das Attribut ‘schrif tlich’ tragen kann: durch Schrif t konstituiert, durch Schrif t bedingt, durch Schrif t af f iziert, durch Schrif t bewirkt — Dinge, Begrif f e, Menschen, Gesellschaf ten, Kulturen. Wo Schrif t in Gebrauch ist, da können Botschaf ten, Nachrichten, Einladungen, Vorträge, Reden schriftlich sein. Gesellschaften und Kulturen sind schriftlich, wenn sie über Schrif t verf ügen und zentrale gesellschaf tliche Transaktionen auf schriftlichem Wege bewerkstelligt werden. Das Ausmaß, in dem Individuen an Schrif tlichkeitsprozessen partizipieren können, bestimmt vielf ach ihre gesellschaf tliche Stellung. Wo dies nicht bereits heute der Fall ist, werden Schrif tlichkeitsprozesse künf tig noch stärker im Brennpunkt vielf ältiger Auseinandersetzungen stehen. Durch weltweite Migrationen und die Internationalisierung verschiedenster sozialer Prozesse und Organisationen verschieben sich die Relationen von Sprechen und Schreiben, Hören und Lesen. Zugang zur Schriftlichkeit wird f ür viele Menschen immer schwieriger. Schließlich zeichnet sich in der Entwicklung elektronischer Medien zwar keine Aufhebung, aber eine tiefgreifende Veränderung der schriftlichen Kommunikation und ihrer Formen ab. Den Zusammenhang von Schrift und Schriftlichkeit stif tet der schrif tliche Text. Schrif tliche Texte umgeben uns tagtäglich, sie regeln unser Leben, greif en in seinen Ablauf ein, schaffen uns Möglichkeiten des Ausdrucks, erschweren uns das Leben. Wir richten unser Leben nach schrif tlichen Texten. Es geht dabei nicht nur um die Konstitution, Form und Funktion schrif tlicher Texte, sondern auch um die Tätigkeit der Menschen, die schriftliche Texte herstellen und verarbeiten, also um das Schreiben und

VI

Vorwort

Lesen. Wir haben es auch zu tun mit dem Erwerb dieser Fähigkeiten im Unterricht; wir haben es zu tun mit den Auswirkungen des Schreibens und Lesens auf das private und das öffentliche Leben, mit dem Status schriftlicher Texte in Kultur, Sprache, Denken und individuellem Handeln. Der Gegenstand des Handbuchs ist in der Tat so weit gefaßt. Er begreift alle Völker und Individuen ein, die sich der Schrift bedient haben und bedienen, alle Sprachen, die neben der mündlichen eine schrif tliche Sprachf orm ausgebildet haben, alle Gruppen und Individuen, deren Leben durch den Umgang mit Schrif t und schrif tlichen Texten mit organisiert wurde oder ist, in welchem Ausmaß auch immer.

2. Stand der Forschung und Aufgabenstellung Die Vielfalt und Heterogenität der Gegenstände bedingen, daß an ihrer Untersuchung verschiedene Wissenschaf ten beteiligt sind: Philosophie und Anthropologie, Sprachund Literaturwissenschaf ten, Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Geschichtswissenschaf ten — um nur einige zu nennen. Die spezielle Kennzeichnung des Gegenstandes Schrift und Schriftlichkeit aber wird je nach Disziplin unterschiedlich ausf allen. Für den Historiker etwa ist das schrif tliche Zeugnis das historische Zeugnis schlechthin; terminologisch bestimmt er die Vorgeschichte als die Zeit, aus der keine zeitgenössischen Quellen in schriftlicher Form vorliegen. In der Kunstgeschichte interessiert speziell die Form und Ästhetik der Schrif t in den Zeitaltern, in der Sozialgeschichte ihre gesellschaftliche Funktion. Dem Soziologen ist Schrift vielfach als eine soziale Gemeinschaften konstituierende Kraf t bedeutsam. Für den Psychologen ist der Anteil der Schrif tlichkeit an den kognitiven Prozessen ein wichtiger Untersuchungsgegenstand, den er im Falle von schriftbezogenen Sprachstörungen mit dem Mediziner teilt. Zudem werden die jeweils erarbeiteten Ergebnisse in den verschiedenen Wissenschaften keineswegs gleich gewichtet, auch nicht in gleicher Weise dem Forschungsstand der gesamten Disziplin zugeordnet. Als spezielles Beispiel kann die Diskussion in der Sprachwissenschaf t angef ührt werden. Lange sah man von einer Dif f erenzierung von Schrift und Sprache ab. Als die Notwendigkeit ihrer Unterscheidung klar wurde, setzte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Vorstellung von der systematischen Priorität der mündlichen Sprache durch; ‘die Schrif t’ erschien als zweitrangiges Phänomen und wurde als Gegenstand sprachwissenschaf tlicher Forschung bestenf alls am Rande zugelassen. Für viele Linguisten scheint es noch heute undenkbar, daß es in schrif tlicher Sprache theoretisch bedeutsame Erscheinungen gibt, die nicht auf Aspekte der gesprochenen Sprache zurückgeführt werden können. Tatsächlich aber bezog und bezieht man sich bei der Untersuchung von Sprache, selbst von mündlicher Sprache, auf schriftliche oder verschrif tete Texte. So aber konnten Schrif tlichkeit und Mündlichkeit nicht zuf riedenstellend voneinander abgegrenzt, Schrif t und Schrif tlichkeit nicht f undiert beschrieben und ihre Beziehungen zur Mündlichkeit nicht hinreichend bestimmt werden. Dieser Überblick kennzeichnet eine zentrale Problematik: Einzelne Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit werden aufgrund ihrer zentralen Rolle in der Herausbildung und Strukturierung moderner Gesellschaf ten von sehr vielen unterschiedlichen Disziplinen thematisiert. Die einzelnen Wissenschaftsrichtungen bringen dabei ihre fachspezif ischen Theorien und Methoden ein; ihre Erkenntnisse sind an diese gebunden. Jede erfaßt und erforscht einen eigenen Aspekt von Schrift und Schriftlichkeit, und erst alle zusammen können ein einigermaßen vollständiges Bild ergeben. Schrift und Schriftlichkeit ist ein interdisziplinärer Gegenstand und nur mit dieser Perspektive zu erforschen. Dies ist bisher bestenf alls in Ansätzen geschehen. Es muß gesagt werden, daß die einzelnen wissenschaf tlichen Diszplinen Schrift und Schriftlichkeit bislang unter Erkenntnisinteressen erforscht haben, die — vom Gesamtzusammenhang des Gegenstan-

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des her gesehen — als eher partikulär zu bezeichnen sind. Zum genuinen Forschungsgegenstand konnte Schrift und Schriftlichkeit so nicht werden, weshalb es heute auch weder eine einheitliche Theorie über diesen Gegenstand gibt noch eine Vermittlung theoretischer Bezüge oder einen überf achlichen Austausch über Fragestellungen und Untersuchungsmethoden. Die wenigen Kompendien oder Handbücher, die es auf diesem Felde gibt, erf assen Einzelaspekte unter isolierten Fragestellungen. Das Handbuch ist somit das erste seiner Art. Ganz im Sinne der Zielsetzung der Reihe Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft soll das vorliegende Handbuch f ür Studierende, Lehrende und Forschende sowie f ür alle, die aus unterschiedlichen Gründen ein Interesse daran haben, eine möglichst breit gefächerte, strukturierte Übersicht über Fragestellungen, Methoden und Theorieansätze im Bereich von Schrift und Schriftlichkeit geben. Das bedeutete konkret: Es war eine umf assende Bestandsauf nahme vorzunehmen, um erst einmal einen Überblick über das Problemfeld gewinnen zu können. Dann war durch Zusammenstellen, Zusammenführen und Zusammenfügen der Teile eine Ordnung in dieses Feld zu bringen, die es erlaubt, jedem Teil einen Platz im Handbuch zuzuweisen und Bezüge zwischen den Teilen auf zuzeigen: Der Stof f war zu gliedern. Schließlich mußten die Teile gegeneinander austariert werden, um keine größeren Ungleichgewichte auf kommen zu lassen. Gerade diese Auf gabe erwies sich als schwierig, weil einzelne Bereiche schon lange und intensiv beforscht sind wie z. B. die Geschichte der Schrif t bzw. der Schrif ten, andere nur wenig wie z. B. die Geschichte des Schreibens und Lesens. Darüber hinaus gibt ein systematisch angelegter Auf riß des gesamten Feldes Gelegenheit, Mängel in der Forschung ausfindig zu machen und auf Lücken grundsätzlicher Art hinzuweisen. Es kann nicht die Auf gabe eines Handbuches sein, sie zu beheben. Wohl aber haben die Herausgeber dieses Handbuchs es als ihre Pf licht (und die aller Autoren) angesehen, die erhebliche Heterogenität des Gegenstandes sichtbar zu machen, die Unterschiedlichkeit der Zugangsweisen, die in den verschiedenen Wissenschaf ten ausgebildet worden sind, deutlich werden zu lassen und auf die existierenden Theoriedefizite hinzuweisen, um auf diese Weise einen Beitrag zu leisten zu einer einheitlicheren und umfassenderen Bearbeitung des Gegenstandes.

3. Begrifflichkeit Wie bei vielen so fundamentalen und von sehr verschiedenen Wissenschaften verwendeten Begriffen verwischt auch im Fall von Schrift und Schriftlichkeit ihre Omnipräsenz die Klarheit der Wahrnehmung und Begriffsbildung, und so kann es nicht überraschen, daß es keine einheitliche Begrifflichkeit und infolgedessen auch keine allgemein akzeptierte Terminologie im Bereich von Schrif t und Schrif tlichkeit gibt. Ein guter Teil der im wissenschaf tlichen Diskurs gängigen Ausdrücke stammt aus der Umgangssprache, und ihre Bedeutungen entfernen sich of t nur wenig von den allgemein gebräuchlichen. Nur ein recht kleiner Teil der Begriffe ist als rein fachsprachlich zu charakterisieren. Eine einheitliche Begrifflichkeit und eine allgemein akzeptierte Terminologie kann es allerdings auch nur in dem Maße geben, als eine Theorie der Schrif tlichkeit oder eine integrierte Theorie aller ihrer Aspekte zur Verf ügung steht; dies ist derzeit nur in Teilbereichen der Fall. Es ist ja auch durchaus die Frage, wie denn eine „interdisziplinäre Theorie” eigentlich zu konstituieren wäre. Es geht deshalb in den folgenden Abschnitten nicht darum, Vorschläge f ür eine einheitliche Begrif f lichkeit zu machen oder gar die Terminologie im Bereich von Schrift und Schriftlichkeit zu normieren. Es soll auch nicht der Versuch unternommen werden, die in diesem Handbuch versammelten Artikel einer einheitlichen Sprachregelung zu unterwerfen. Es soll vielmehr eine grobe Orien-

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tierung über die verschiedenen Bedeutungen gegeben werden, die mit bestimmten Ausdrücken in der wissenschaftlichen Literatur verbunden werden. Beim gegenwärtigen Stand der Schrif tlichkeitsf orschung ist es nicht zu vermeiden, daß in den einzelnen Artikeln jeweils eigene Begrifflichkeiten verwendet werden, so daß der gleiche Ausdruck in verschiedenen Artikeln auch verschiedene Bedeutung haben kann. Es werden hier nur solche Begrif f e angesprochen, deren Kenntnis in den verschiedenen Artikeln als bekannt vorausgesetzt wird. Die begrif f liche Fassung spezieller Aspekte wird in den Artikeln selbst expliziert. 3.1. Schrift (Script; Writing) Das Wort Schrift weist eine breite Palette verschiedener Bedeutungen auf . In der Umgangssprache wie in der wissenschaf tlichen Literatur kann der Ausdruck sowohl auf das gesamte Feld der Schrif tlichkeit als auch auf Teilbereiche bezogen werden — den Duktus der Handschrift, die schriftliche Sprache, die Form der Schriftzeichen etwa, wobei ohne Kontext prima facie meist nicht erkennbar ist, welche Lesart zugrundeliegt. Im alltäglichen Sprachgebrauch lassen sich die f olgenden drei Grundbedeutungen des Wortes Schrift feststellen: (1) die Menge der graphischen Zeichen, mit denen die gesprochene Sprache festgehalten wird (vgl. die chinesische, griechische Schrift)

(2) die Gestalt bzw. Form der Schriftzeichen (vgl. eine schöne, unordentliche, erhabene Schrift ) (3) das Produkt der Verwendung von Schriftzeichen, d. h. das Schriftstück oder der Text (vgl. Luthers Schriften, eine wichtige Schrift Lessings, die (Heilige) Schrift)

Diese systematische Mehrdeutigkeit des Wortes Schrift f indet sich auch in der wissenschaftlichen Literatur. In vielen Fällen bezeichnet es einfach die Menge der Schriftzeichen, die zur Verschriftung einer bestimmten Sprache Verwendung finden. In visuellgraphischen Kontexten ist dagegen die Formstruktur der verwendeten graphischen Zeichen das bestimmende Kriterium. In diesem Sinne spricht man davon, daß die Fraktur eine andere Schrift ist als die Antiqua. Ein Ausdruck wie ‘die deutsche Schrift’ ist also systematisch mehrdeutig: Es kann damit das zur Verschrif tung des Deutschen verwendete Alphabet gemeint sein (linguistische Lesart) oder aber eine Schrift, mit der deutsche Texte geschrieben werden, also die Fraktur oder die Sütterlin-Handschrif t (visuell-formale Lesart). 3.2. Schriftlichkeit (Literacy) Unter dem Oberbegriff Schriftlichkeit können alle Sachverhalte zusammengefaßt werden, denen das Attribut schriftlich zukommt. Bezogen wird der Ausdruck dabei insbesondere auf: (1) Texte, die entweder durch das schriftliche Medium bedingt sind oder durch eine spezifische Weise, Texte zu konzipieren, zu komponieren oder zu formulieren, geprägt sind;

(2) Personen, die lesen und schreiben können und/oder über das in kanonischen Schriften niedergelegte Wissen verfügen (so schon im lateinischen litteratus );

(3) gesellschaftliche Zustände, die dadurch gekennzeichnet sind, daß nicht nur repräsentative Teile der Bevölkerung lesen und schreiben können, sondern daß auch das gesellschaftliche Leben insgesamt durch Formen schriftlicher Kommunikation bestimmt ist; (4) Kulturen, in denen wichtige Institutionen wie z. B. die Religion sich auf schriftliche Texte berufen, der Erwerb von Lesen und Schreiben eines der Ziele von Unterricht ist oder das Lesen und Schreiben von Menschen sich auf ihr Denken und Handeln auswirkt.

Die Verwendung von Schriftlichkeit als Oberbegriff scheint eine deutsche Eigentümlichkeit zu sein. Seine Verwendung zur Kennzeichnung einer spezif ischen Verf aßtheit von Individuen, Gesellschaf ten, Kulturen und Texten geht auf den englischen Begrif f literacy zurück, der seinerseits entstanden ist im Zusammenhang mit dem Gegensatz

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zu orality, ins Deutsche teilweise als „Mündlichkeit/Schrif tlichkeit”, of t auch als „Literalität/Oralität” übersetzt. Dies f ührt bisweilen zu Unklarheiten, weil die deutschen Ausdrücke Literalität und Schriftlichkeit nicht in jedem Kontext austauschbar sind. 3.3. Schriftliche Sprache, geschriebene Sprache (Written Language) Wie Schriftlichkeit und Schrift wird auch der Ausdruck geschriebene oder schriftliche Sprache häuf ig als Oberbegrif f f ür das gesamte Begrif f sfeld verwendet oder aber auf einen Teilaspekt des Feldes bezogen. In der wissenschaftlichen Literatur lassen sich fünf Ansätze unterscheiden, den Begriff differenzierter zu verwenden. (1) Schriftliche Sprache als sprachliche Gestaltung von Texten. In diesem Falle wird nicht

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zwischen der Form einer schriftlichen Äußerung und der bei ihrer Herstellung verwendeten sprachlichen Mittel unterschieden. Eine solche Verwendung des Ausdrucks ist in der sprachwissenschaftlichen Literatur heute nicht mehr anzutreffen, doch spielt sie in anderen Disziplinen, vor allem in den Literaturwissenschaften, noch eine Rolle. Schriftliche Sprache als eine unter funktionalen Gesichtspunkten getroffene Auswahl sprachlicher Mittel (stilistisches Konzept). Man spricht auch von Varietäten, Sprachstilen, Registern. Hier geht es nicht um Eigenschaften von Texten, sondern um die in schriftlichen Äußerungen/ Texten verwendeten sprachlichen Mittel (morphologische, syntaktische, lexikalische, pragmatische). In der neueren Sprachwissenschaft ist diese Konzeption weit verbreitet. Schriftliche Sprache als schriftliche Form einer Sprache (glossematisches Konzept). Man geht von der Tatsache aus, daß viele Sprachen in zwei Ausdrucksformen vorliegen, einer mündlichen und einer schriftlichen, daß aber beide zusammen als eine Sprache angesehen werden. Schriftliche Sprache als die schriftliche Norm der Sprache (funktionalistisches Konzept). Die Prager Strukturalisten, auf die dieses Konzept zurückgeht, unterschieden die Funktionen schriftlicher und mündlicher Äußerungen und Texte und schlossen daraus auf zwei Normen einer Sprache. Schriftliche Sprache als die Sprache, die beim Schreiben und Lesen Verwendung findet. Nicht die Beziehung zwischen mündlicher (gesprochener) und schriftlicher (geschriebener) Sprache liegt dieser Konzeption zugrunde, sondern die Beziehung, in der die Sprache zu den Menschen steht, die sie benutzen. Man gebraucht zum Schreiben eine andere Sprache als zum Sprechen, und genau sie ist es, die man als geschriebene oder schriftliche Sprache bezeichnet.

Es muß gerade bei diesem Ausdruck aber auf den Umstand verwiesen werden, daß seine Bedeutung selbst in ein und demselben Text schwanken kann. 3.4. Schriftsystem, Orthographie (Writing System, Orthography) Aufgrund der Vieldeutigkeit der Begriffe Schrift, Schriftlichkeit und schriftliche Sprache sind in den vergangenen Jahrzehnten insbesondere in den Sprachwissenschaf ten einige Konzepte etwas strenger gef aßt worden, die weniger scharf teilweise auch in anderen Wissenschaften und der Umgangssprache auftreten. Die Art und Weise, wie Sprachen verschrif tet werden, ist von Sprache zu Sprache unterschiedlich. In logographischen Schrif tsystemen beziehen sich die Schrif tzeichen grosso modo auf Wörter bzw. Bedeutungsträger, in syllabographischen Systemen auf Silben, in alphabetischen Systemen auf minimale Einheiten der Lautsprache. Der Begriff Schrifttyp bezeichnet im sprachwissenschaf tlichen Kontext die Art der Verschrif tung einer Sprache nach Maßgabe des vorherrschenden Verschrif tungsverf ahrens; zwischen dem Sprachtyp (isolierend, agglutinierend, f lektierend) und dem Schrif ttyp bestehen des öf teren systematische Beziehungen. (Ganz anders wird der Ausdruck Schrifttyp verwendet, wenn wir uns im Bereich der Typographie befinden; hier bezieht er sich auf visuelle Charakteristika; unterschieden werden z. B. im lateinschrif tlichen Bereich als Schrif ttypen die Antiqua von den gebrochenen Schrif ttypen wie z. B. der deutschen Fraktur).

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In den Einzelsprachen wird von den durch den Schrif ttyp bereitgestellten Mitteln in unterschiedlicher Weise Gebrauch gemacht. Das Schriftsystem einer Sprache determiniert die Form schrif tlicher Äußerungen. Dazu gehören neben den Beziehungen zwischen den Lautsegmenten und den Schriftzeichen die Interpunktion, die Unterscheidung verschiedener Schrif tzeichentypen wie Groß- und Kleinbuchstaben sowie die Konventionen für die Form schriftlicher Äußerungen und Texte (Briefe, Aufsätze etc.). Es gibt eine engere Auf fassung, wonach der Terminus Schrif tsystem auf die untere Ebene der doppelten Artikulation beschränkt wird; in der Vergangenheit hat sich die linguistische Schrif tlichkeitsf orschung häuf ig auf diesen Bereich beschränkt. Von verschiedenen Autoren wird dafür der Begriff Graphematik (oder Graphemik ) verwendet, den andere f ür die Schrif tforschung insgesamt benutzen. Innerhalb bestimmter Theorien wird der Begriff Schriftsystem sehr strikt gehandhabt; in anderen Ansätzen, u. a. in verschiedenen Artikeln des Kapitels VIII dieses Handbuchs, wird darunter alles verstanden, was linguistisch über Schrift und die geschriebene Sprache zu sagen ist. Die meisten neueren Schriftsysteme weisen bestimmte Kodifikationen auf, d. h. präskriptive Regelwerke, die die Norm der Schreibung vorschreiben. Eine solche Kodif ikation wird als Orthographie bezeichnet. Eine Orthographie ist eine Menge von Vorschriften, die bestimmen, ob eine schriftliche Äußerung korrekt ist oder nicht, d. h. eine präskriptive Form der Beschreibung eines Schrif tsystems. Für Schreibregularitäten, zu denen keine präskriptive Kodif ikation vorliegt, wird neuerdings vor allem im historischen Bereich der Ausdruck Graphie verwendet. Im wissenschaf tlichen Sprachgebrauch wird die Unterscheidung von Schrif tsystem, Graphie und Orthographie in der Regel nur von Sprachwissenschaftlern und Philologen gemacht; namentlich in der kognitionspsychologischen und pädagogischen Literatur wird hier selten differenziert. 3.5. Schriftzeichen, Graphem (Character, Grapheme) Die Konzepte Schrift, Schrifttyp, Schriftsystem etc. beruhen auf der Vorstellung, daß schriftliche Sprache sich eines begrenzten Inventars von Elementen bedient, die theorieneutral als Schriftzeichen bezeichnet werden. Dieser Begriff hat den Vorteil, weiter als Begriffe wie Buchstabe oder Graphem zu sein und auf unterschiedliche Schrifttypen und -systeme anwendbar zu sein — lateinische oder griechische Buchstaben, japanische Kana, chinesische Hanzi sind sämtlich Schriftzeichen in diesem Sinne. Die Untermenge der Schriftzeichen, aus denen in Silben- oder Alphabetschriften die Bedeutungsträger zusammengesetzt sind, werden als Grapheme bezeichnet. Wie der Begriff Phonem, so ist auch der Begriff Graphem ein theoretisches Konstrukt, abhängig von der jeweiligen Theorie. Dabei stehen sich zwei Konzeptionen gegenüber. In der ersten, älteren Kennzeichnung versteht man unter Graphem diejenigen Schrif tzeichen(kombinationen), durch die Phoneme der Lautsprache schrif tlich wiedergegeben werden. Die jüngere Konzeption def iniert das Graphem rein distributionell als die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit der schrif tlichen Sprachf orm ohne Bezug auf die Phonologie. — Außerhalb der Sprachwissenschaf t kann beim Gebrauch des Ausdrucks Graphem nicht davon ausgegangen werden, daß eine bestimmte Lesart intendiert ist; häufig genug bezeichnet man mit dem Begriff einfach ein Schriftzeichen oder einen Buchstaben. 3.6. Schreiben, Lesen, Text (Writing, Reading, Text) Diese Begriffe sind wohl am wenigsten terminologischen festgelegt; sie werden auch in diesem Handbuch höchst unterschiedlich verwendet. Gerade deshalb scheint es sinnvoll, die Hauptunterschiede der Verwendungsmöglichkeiten zu kennzeichnen. Das Wort schreiben hat umgangssprachlich drei Bedeutungen:

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(1) Schriftzeichen, insbes. Buchstaben und Zahlen zu Papier bringen, schriftlich niederlegen (2) etwas Sinnvolles, einen Text zu Papier bringen (3) schriftstellerisch tätig sein Dabei besteht ein klares semantisches Verhältnis: Bedeutung (3) impliziert (2), (2) impliziert (1). Da dennoch nicht immer klar ist, welche Bedeutung intendiert ist — was heißt z. B. schreiben lernen ? —, wird in der wissenschaf tlichen Literatur zunehmend der klarere f achsprachliche Ausdruck Produktion von schriftlichen Äußerungen oder Texten für die Bedeutung (2) verwendet. Er bezeichnet alle Aktivitäten, deren gemeinsames Ziel eine schrif tliche Äußerung bzw. ein Text ist — von der Idee über deren thematische, kompositorische und sprachliche Entf altung bis zur Formulierung, Auf zeichnung, Korrektur und Veröffentlichung. In einigen Arbeiten wird auch von Schreiben im engeren Sinne (1) und Schreiben im weiteren Sinne (2) gesprochen. Für die Diskussion in vielen Bereichen, z. B. bei einer Def inition des Begrif f s funktionale Literalität , ist die Frage von zentraler Bedeutung, welcher Schreibbegriff zugrundegelegt wird. Ähnlich wie beim Schreiben läßt sich beim Begriff Lesen eine enge und eine weitere Bedeutung unterscheiden. Der engere Begrif f kennzeichnet die Menge derjenigen Prozesse, die in jeder Form des Lesens involviert sind, also die Augenbewegungen sowie die damit verbundenen kognitiven Prozesse der Buchstaben- und Worterkennung und ihre Integration zu Sätzen, d. h. die Umsetzung schrif tlicher Äußerungen in mentale sprachliche (Teil-)Repräsentationen. Lesen im weiteren Sinne läßt sich analog zu Schreiben kennzeichnen als die Rezeption von Texten. Der Leseprozeß in diesem Sinne umfaßt das Einordnen der Textinf ormationen in die eigenen Wissensbestände, ihre kritische Wertung, das Verstehen unbekannter Tatbestände, die emotionale und kognitive Bewertung der verwendeten Sprache, die Beziehung zum Autor bzw. zum Gegenstand des Textes, etc. Beim Schreiben werden schrif tliche Äußerungen produziert, beim Lesen rezipiert. Gelegentlich werden in der Sprachwissenschaf t alle sprachlichen Äußerungen als Text bezeichnet. Eine solche Ausweitung des Begriffs ist der Umgangssprache fremd, in der der Bezug des Begriffs zur Schrift konstitutiv ist (der Ausdruck ‘mündlicher Text’ wäre hier zunächst ein Widerspruch in sich). In der Textlinguistik werden nur solche (i. d. R. schriftliche) Äußerungen als Texte bezeichnet, die bestimmten Kriterien wie Kohärenz, Intentionalität, Abgeschlossenheit, Kohäsion etc. genügen. In bestimmten pragmatischen Konzeptionen werden Texte als Ergebnisse einer zerdehnten Sprechsituation bezeichnet; nicht ihre eventuelle Schrif tlichkeit macht solche Äußerungen zu Texten, sondern ihre Isolierbarkeit. Überall dort, wo keine genaueren Bestimmungen intendiert sind, ist der neutralere Ausdruck schriftliche Äußerung vorzuziehen.

4. Aufbau des Handbuchs Bei der Gliederung des Stoffes haben sich die Herausgeber vornehmlich am Kriterium des Sachbezugs orientiert, an unterscheidbaren Objektbereichen. So wird man kein kulturwissenschaf tliches Kapitel f inden, wohl aber ein auf Schrif tkulturen und ein auf kulturelle Einrichtungen bezogenes; man f indet ein sprachliches, aber kein sprachwissenschaf tliches Kapitel. Nur so lassen sich die systematischen Bezüge f ächerübergreif ender Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit in angemessener Weise verdeutlichen. Diese Orientierung hat sowohl das Profil als auch die Plazierung der einzelnen Kapitel bestimmt. Globalen und allgemeinen Kennzeichnungen des Gegenstandes im Kapitel I f olgt die Darstellung der Fragen, die sich auf die materiale Konstitution von Schrif tzeichen im weitesten Sinne beziehen (Kapitel II). Daß die Kennzeichnung der Geschichte der Schrif t in ihren wichtigsten Ausprägungen (Kapitel III) den übrigen, sachbezogen

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arrangierten Teilen voransteht, verdankt sich nicht zuletzt auch der Tatsache, daß die Geschichte der Schrif ten die Auf merksamkeit seit langem auf sich gezogen hat und damit von allen Teilgegenständen des Handbuchs wohl am besten erforscht ist. In den Kapiteln IV und V werden dann wesentliche Aspekte der Schrif tkultur in kulturellarealem und gesellschaf tlich-f unktionalem Zusammenhang dargestellt. Ihnen f olgend handelt Kapitel VI von den gesellschaf tlichen, Kapitel VII von den psychologischen Aspekten. Kapitel VIII bef aßt sich mit Fragen des Erwerbs der Schrif tlichkeit und ihren unterrichtlichen Aspekten, Kapitel IX schließlich mit den sprachlichen Aspekten von Schrif t und Schrif tlichkeit. Diese wichtigsten Aspekte des Gegenstandes sind sozusagen von oben nach unten organisiert: beginnend bei der Kultur als dem globalsten Aspekt und ausmündend in die speziell sprachlichen Erscheinungen. In diese Reihe gehört in der Tendenz auch das X. Kapitel mit den Sonderschriften. In einem umfangreichen Register werden schließlich die f ächerübergreif enden Bezüge auch auf der Mikroebene deutlich gemacht. Im f olgenden soll die Anordnung der Artikel in den einzelnen Kapiteln knapp erläutert werden. 4.1. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit Im ersten Kapitel werden sachübergreif end Grundpositionen der wissenschaf tlichen Bearbeitung des Gegenstandes Schrift und Schriftlichkeit dargestellt. Art. 1 Mündlichkeit und Schriftlichkeit kennzeichnet moderne Ansätze zur Klärung des Verhältnisses von Schrif tlichkeit und Mündlichkeit. Unter Bezug auf die Unterscheidung einer medialen und einer konzeptionellen Dimension werden alte Fragen zum Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache, von Mündlichkeit und Schrif tlichkeit relativiert und neue Perspektiven herausgearbeitet. Gegenstand von Art. 2 Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation sind alle Formen sprachlichen Handelns, in denen die Verständigung zwischen Kommunikationspartnern mit Hilf e von schrif tlichen Mitteln angestrebt wird. Die schrif tliche Form sprachlicher Kommunikation wird in ihren elementaren Strukturen beschrieben und in ihren sozialen Konsequenzen erörtert, insbesondere im Hinblick auf expansive Anwendungen. Grundfragen einer semiotischen Analyse von Schrift und schriftlicher Sprache, ihrer Beziehung zur gesprochenen Sprache und zu anderen Zeichen- und Notationssystemen werden in Art. 3 Semiotische Aspekte der Schrift behandelt. In den weiteren Artikeln des Kapitels I wird die historische Perspektive eingenommen. Die beiden grundlegenden Prozesse schriftlicher Sprachtätigkeit behandeln Art. 4 Geschichte des Schreibens und Art. 5 G eschichte des Lesens. Der Prozeß des Schreibens f indet in einem schrif tlichen Text seinen Abschluß, und der Prozeß des Lesens setzt immer einen Text voraus. Dabei haben schrif tliche Texte im Lauf e der Geschichte verschiedene Formen gef unden. Art. 6 G eschichte des Buches charakterisiert die Entwicklung schrif tlicher Texte zum Buch und seiner Produktions-, Vertriebs- und Verwendungsweisen. Art. 7 Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit schließlich trägt in einer Skizze der Forschungsgeschichte dazu bei, die vielfältigen expliziten und impliziten Voraussetzungen bei der wissenschaftlichen Behandlung des Verhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit aufzuhellen. 4.2. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit Die Materialität von Schrift begründet ihren eigenständigen Charakter gegenüber der Lautsprache: Mündliche Äußerungen werden durch daf ür entwickelte Organe in der auditiven Dimension produziert, sie erstrecken sich in der Zeit und sind f lüchtig. Schriftliche Äußerungen werden mit Werkzeugen für die visuelle Dimension produziert, erstrecken sich im Raum und sind nicht f lüchtig. Diese grundsätzlichen Eigenschaf ten

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schrif tlicher Äußerungen und Texte sind die Ursache f ür vielf ältige strukturelle Unterschiede zwischen schriftlichen und mündlichen Äußerungen. Eine Übersicht über Traditionelle Schreibmaterialien und -techniken bietet Art. 8. Hier werden die wichtigsten Schreibwerkzeuge, Beschreibstof fe und Schreibtechniken des vortypographischen Zeitalters erläutert. Es f olgt eine Kennzeichnung der neueren Elektronischen Lese- und Schreibtechnologien (Art. 9), bezogen auf den damit umgehenden einzelnen Leser und Schreiber. Die Beständigkeit von schriftlichen Texten ermöglicht ihre dauernde Aufbewahrung; verbunden damit sind entsprechende Probleme der Wiederf indbarkeit von Information. Art. 10 Archivierung von Schriftgut kennzeichnet die traditionellen Verf ahren, Art. 11 Datenbanken die neueren computergestützten Möglichkeiten und ihre Beziehungen zur Schriftlichkeit. Aus der Organisation von Schrif t im Raum resultieren u. a. auch spezielle Formaspekte schrif tlicher Äußerungen. In Art. 12 Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrer historischen Entwicklung wird die Genese der modernen lateinschrif tlichen Antiqua von den semitisch-griechischen Ursprüngen her systematisch in paläographischer und kognitiver Perspektive rekonstruiert, wobei die wichtigsten Prototypen des abendländischen Bereichs wie Monumentalschrif t, Unziale, karolingische Minuskel etc. detailliert behandelt werden. Die materialen Neuerungen und technischen Veränderungen durch den Buchdruck auch in bezug auf die äußere Gestalt der Schriftzeichen und ihrer Organisation auf der Seite und im Buch thematisiert Art. 13 Typographie . Im Gegensatz dazu liegt in Art. 14 Kalligraphie der Akzent auf den ästhetischen Möglichkeiten von Schrift, wie sie in verschiedenen Schrifttraditionen der Welt genutzt worden sind. 4.3. Schriftgeschichte Die Geschichte der Schrift ist der wohl am besten erforschte Bereich des Gegenstands dieses Handbuchs. Gleichwohl sind die vielen Darstellungen zugrundeliegenden historischen und schrif tsystematischen Theorien in den letzten Jahren zunehmend kritisch hinterfragt worden. Art. 15 Theorie der Schriftgeschichte diskutiert die Grundprobleme moderner Schrif tgeschichtsschreibung im Zusammenhang mit Fragen nach dem Ursprung der Schrift, der Abgrenzung von anderen visuellen Zeichen, dem Bezug auf die Struktur der verschrif teten Sprache und den Prinzipien, die der Schrif tentwicklung zugrundeliegen. Die Frage nach dem Ursprung der Schrif t wird im jeweiligen Einzelf all anders zu beantworten sein; in vielen Fällen bleibt die Antwort spekulativ. Im Falle der sumerischen Schrif t aber, die cum grano salis als Ursprung aller abendländischen Schrif ten gelten kann, haben Forschungen der letzten 20 Jahre diese Entwicklung recht zuverlässig rekonstruieren können; dies wird in Art. 16 Vorläufer der Schrift dargestellt. Art. 17 Der alteuropäisch-altmediterrane Schriftenkreis befaßt sich mit erst in den letzten Jahrzehnten zur Kenntnis genommenen Schriftzeichen möglicherweise noch älteren Datums. Die f olgenden Artikel betrachten die Entwicklung einzelner Schrif ten bzw. Schrif tgruppen. Begonnen wird mit den beiden Schriftsystemen, die im Vorderen Orient zuerst entstanden sind und von dort aus in andere Gebiete ausgestrahlt haben: Die sumerischakkadische Keilschrift (Art. 18) und Die ägyptische Hieroglyphenschrift und ihre Weiterentwicklungen (Art. 19). Aus den mesopotamischen und ägyptischen Grundlagen entwickeln sich Die nordwestsemitischen Schriften (Art. 20). Diese f rühen Silben- und Konsonantenschrif ten sind ihrerseits Ausgangspunkt f ür die Entwicklung von unterschiedlichen Schrifttypen geworden, u. a. Die altsüdarabische, arabische, äthiopische und Die indische Schrift (Art. 21—24). In Art. 25 Die Entstehung und Verbreitung von

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Alphabetschriften werden konzentriert die historisch-systematischen Aspekte der Ausbreitung dieses nur einmal in der Schriftgeschichte erfundenen Schrifttyps behandelt. In den f olgenden Artikeln werden die beiden anderen großen Schrif tentwicklungsbereiche der Erde dargestellt. Art. 26 behandelt Die chinesische Schrift in ihrer über 4000jährigen Geschichte in China, Art. 27 die Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift: Japan — Korea — Vietnam . Die historischen Schriften Mittelamerikas gehören zu denjenigen, in denen ein eigenständiger Weg eingeschlagen wurde, der jedoch auf grund äußerer Umstände nicht weiter verf olgt werden konnte. Gerade auf grund der Eigenständigkeit ihrer Entwicklung sind Mittelamerikanische Schriften (Art. 28) von erheblichem komparatistischen Interesse, zumal in den letzten Jahren durch neue Funde und Entzif ferungen der Zugang zu diesen Schrif ten leichter und ihr Verständnis klarer geworden ist. Der Zugang zu Schrif ten, die heute nicht mehr verwendet werden, ist schwierig. Zeichen, deren Schriftcharakter man vermutet, die jedoch nicht ‘lesbar’ sind, übten seit jeher auf die Wissenschaf t große Faszination aus. Art. 29 Entzifferungen kennzeichnet einige besonders interessante Etappen aus der Geschichte der Entzif f erungen und die systematischen Fragestellungen, die sich daraus ergeben.

4.4. Schriftkulturen Schrif ten und Schrif tsysteme haben über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg zur Weitergabe und zur Erzeugung von Texten gef ührt; von diesen sind einige von f undamentaler Bedeutung f ür die Gruppen, in denen sie entstanden. Schrif t hat damit zur Entstehung, Entf altung, Kontinuität und Veränderung von Kultur in diesen Gruppen beigetragen. Zusammenf assend kann f ür diesen Aspekt der Ausdruck Schriftkultur verwendet werden. Der außerordentlich große Umf ang der schrif tlichen Traditionsbestände bis in unsere Zeit bedeutet für die Artikel dieses Kapitels, daß hier nicht so sehr einf ache Traditionsübersichten angestrebt werden; vielmehr wird versucht, die z. T. recht gut bekannten und erschlossenen Fakten auf die Auswirkung und den Stellenwert der Schrif tlichkeit in der jeweiligen Kultur hin zu bef ragen. Im Vordergrund stehen dabei zwei Fragen: Welche spezif ischen Textarten haben sich als charakteristisch f ür die jeweilige Schrif tkultur herausgebildet? Welche spezif ischen Traditionsbedürf nisse und innovatorischen Prozesse sind in der jeweiligen Schriftkultur zu erkennen? Voran stehen zwei allgemeinere Beiträge. Art. 30 Mündliche und schriftliche Kulturen analysiert und relativiert die in den letzten Jahren vorgebrachten Thesen zum Verhältnis von mündlichen und schriftlichen Kulturen. Als eine Art Gegenpol bemüht sich Art. 31 Die Schwelle der Literalität um eine Klärung der Frage, welche Kriterien bestimmen, ab wann von einer Schriftkultur gesprochen werden kann. Es werden dann zunächst nach geographischen Kriterien angeordnete wichtige Schrif tkulturen behandelt: Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen ( hànzì ) (Art. 32), Der indische Schriftenkreis (Art. 33), anschließend die historischen Schrif tkulturen im Vorderen Orient und in Ägypten (Art. 34—36): Die ägyptische Schriftkultur, Die Keilschriftkulturen im Vorderen Orient und Die nordwestsemitischen Schriftkulturen . Es folgen Die griechische (Art. 37) und Die lateinische Schriftkultur der Antike (Art. 38) sowie Die arabische Schriftkultur (Art. 39). Drei Entwicklungsaspekte der westlichen Schrif tkultur werden in den f olgenden Artikeln thematisiert. Art. 40 Das Mittelalter in Europa: Lateinische Schriftkultur unterstreicht den häufig vernachlässigten Umstand, daß die Schriftkultur des europäischen Mittelalters praktisch ausschließlich lateinisch ist, und bespricht ihre wesentlichsten Ausprägungen. Dennoch bedarf Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in Westeuropa (Art. 41) einer ebenso umfassenden Darstellung, weil sich aus diesen Anfängen die modernen westlichen Schriftkulturen entwickeln. Eine wesentliche Zäsur, wenn auch

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nicht ohne Voraussetzungen, stellt schließlich Der Buchdruck und seine Folgen (Art. 42) dar, durch den sich im Laufe der Zeit ganz andere, moderne Formen der Schrif tkultur entwickeln. Da diese modernen Formen in verschiedenen Artikeln insbesondere der beiden folgenden Kapitel vielfach thematisiert werden, wird das Kapitel mit dem Beitrag Perspektiven der Schriftkultur (Art. 43) abgeschlossen. 4.5. Funktionale Aspekte der Schriftkultur Schrift und Schriftlichkeit haben in einzelnen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens unterschiedlichen Stellenwert. Ihre verschiedenen Funktionen entf alten sich in einem beständigen Wechselverhältnis zur Mündlichkeit. Es kann konkurrierend-problematisch, aber auch parallel-komplementär sein; dies wiederum mag unterschiedlich in einzelnen Bereichen sein. Gegenstand des Kapitels sind alle gesellschaf tlichen Bereiche, die von Schrif t und Schriftlichkeit tangiert werden. Voran steht Art. 44 Schriftlichkeit und Sprache. Einflüsse auf die Sprache auf den verschiedenen Ebenen (Konzeption, Diskurs, Varietäten, Normierung) werden ebenso diskutiert wie Interaktionen mit der Mündlichkeit in umgekehrter Richtung. In den Artikeln 45—50 zu Schriftlichkeit und Religion, Recht, Handel, Technik, Industrialisierung und Erziehung werden diejenigen Bereiche besprochen, in denen die Ausprägung einer Schrif tkultur von spezieller Bedeutung war und ist. (Der vorgesehene Beitrag zur Rolle von Schrif tlichkeit in Verwaltung und Politik kam leider nicht zustande.) Es folgen vier Beiträge (Art. 51—54) zur Rolle von Schriftlichkeit in kulturellen Wissensdomänen: Schriftlichkeit und Philosophie, Wissenschaft, Literatur und Philologie . — Gegenstand des dieses Kapitels abschließenden Art. 55 Sekundäre Funktion der Schrift schließlich sind Beispiele für die Verwendung von Schrift in Zusammenhängen, in denen sie nicht (direkt) sprachbezogen verwendet wird wie in der Schriftmagie, in Anagrammen und Schriftbildern. 4.6. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit Gesellschaftliche Fragen von Schrift und Schriftlichkeit betreffen u. a. die gesellschaftlich zugängliche Verschrif tung und Normierung der Sprache, den Grad der Verf ügung über die geschriebene Sprachf orm, die Literalisierung von Gesellschaf ten und ihre Entwicklung. In den Artikeln 56—61 wird der Zusammenhang der Verschrif tung von Sprachen mit sozialen und politischen Zielsetzungen dargestellt. In Art. 56 Orthographie als Normierung des Schriftsystems wird die Bedeutung einer Norm der Schreibung in einer altverschrif teten Sprache diskutiert. Die folgenden Beiträge befassen sich dagegen mit der Verschrif tung einer Sprache entweder durch Übernahme/Übertragung einer vorgef undenen Schrif t f ür eine andere Sprache (Art. 57 Erstverschriftung durch fremde Systeme ) oder durch Eigenentwicklung (Art. 58 Autochthone Erstverschriftung ). Orthographieentwicklung und Orthographieform mit Schwerpunkt auf den deutschen Verhältnissen thematisiert Art. 59. Als Kontrast zu diesen an einem einsprachigen Modell orientierten Überlegungen werden in Art. 60 Schriftlichkeit und Diglossie und Art. 61 Schriften im Kontakt die in den Gesellschaften der Welt viel häufiger zu beobachtenden Phänomene des Auseinanderf allens von geschriebener und gesprochener Sprachf orm und der gesellschaftlichen Mehrschriftigkeit dargestellt. Jeder nicht behinderte Mensch kann sprechen, aber nicht alle Menschen können lesen und schreiben. Art. 62 Demographie der Literalität diskutiert das Problem, wie Literalität ‘gemessen’ werden kann, und gibt eine Reihe von Daten über den Anteil an Analphabeten in verschiedenen Teilen der Welt. Die f olgenden Art. 63—73 bef assen sich mit Problemen der Massenalphabetisierung in neuerer Zeit. Nach dem systematische Probleme aufreißenden Art. 63 Alphabetisierung in der „Dritten Welt” wird auf die

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Tätigkeit zweier auf dem Gebiet der Massenalphabetisierung besonders wichtiger Organisationen eingegangen: Die Alphabetisierungsarbeit der UNESCO (Art. 64) und die Muttersprachliche Alphabetisierung: Die Arbeit des Summer Institute of Linguistics (S. I. L.) (Art. 65). Konkretisiert wird dies durch einige Fallstudien: Die sowjetischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung (Art. 66), Alphabetisierung und Literalität in Äthiopien (Art. 67), Alphabetisierung in Mittel- und Südamerika und der Karibik (Art. 68), Die chinesischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung (Art. 69), sowie Die Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Ostasien am Beispiel der nicht chinesisch sprechenden Völker Chinas (Art. 70). (Die außerdem vorgesehenen Beiträge zum f rankophonen Af rika und zum Suaheli kamen leider nicht zustande.) Es f olgen zwei historisch orientierte Beiträge zur Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland (Art. 71) und in England und Nordamerika (Art. 72). Abgeschlossen wird der Problemkomplex durch Art. 73 Literalität und Analphabetismus in modernen Industrieländern. Zu den gesellschaftlichen Aspekten von Schrift und Schriftlichkeit gehören auch Das System der Zensur und seine Auswirkungen auf die Literalität und Probleme des Copyright (Art. 75), die in den letzten beiden Artikeln des ersten Bandes thematisiert werden. 4.7. Psychologische Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit Während in den vorangehenden Kapiteln Aspekte von Schrif t und Schrif tlichkeit vorwiegend im überindividuellen und gesellschaf tlichen Bezug thematisiert wurden, werden nun Fragen auf gegrif f en, die den Gebrauch von Schrif tlichkeit durch das Individuum betref f en. Art. 76 Schriftlichkeit und psychologische Strukturen stellt in ähnlicher Weise wie die Artikel des Kapitels V dar, welche Einflüsse das Verfügen über Schrif tlichkeit auf die psychische Organisation hat — auf kognitive und emotionale Prozesse, auf Lernfähigkeit und Vergessensvorgänge. Art. 77 Produktion und Perzeption mündlicher und schriftlicher Äußerungen stellt grundsätzliche Eigenarten mündlicher und schrif tlicher Sprachverarbeitung durch das Individuum gegenüber und arbeitet anhand rezenter Modelle Unterschiede heraus. Die nächsten Artikel befassen sich mit dem Leseprozeß. Zunächst wird ein Historischsystematischer Aufriß der psychologischen Leseforschung, die als eines der ältesten Arbeitsgebiete der experimentellen Psychologie gelten kann, gegeben (Art. 78). Die wichtigsten Forschungsmethoden dieses Gebiets kennzeichnet Art. 79 Methoden der psychologischen Leseforschung. Eine spezielle Methode ist auf grund der neueren Fortschritte ausgegliedert, nämlich die Analyse der Augenbewegungen; Art. 80 Das Blickverhalten beim Lesen bietet auch eine Zusammenfassung der wichtigsten Bef unde mit dieser Technik. Der folgende Art. 81 Buchstaben- und Worterkennung gilt dem Herzstück der experimentellen Lesef orschung in den letzten 100 Jahren; im Mittelpunkt stehen Fragen nach der Größe der Wahrnehmungseinheiten, dem Ausmaß phonologischen Rekodierens und der Rolle lexikalischer Strukturen. Art. 82 Lesen als Textverarbeitung bef aßt sich dann mit der Verarbeitung von Texten; neuere Forschungen zum f lüssigen Lesen und zur Textverarbeitung werden referiert. Weit weniger als das Lesen ist das Schreiben Gegenstand psychologischer Forschung gewesen. Art. 83 Historisch-systematischer Aufriß der psychologischen Schreibforschung gibt einen f undierten Überblick über die ältere Forschung. In Art. 84 Methoden der Textproduktionsforschung werden die neueren Forschungsmethoden systematisch ref eriert. Daran anschließend werden die wichtigsten neueren Modelle des Schreibprozesses dargestellt; Art. 86 Schreiben als mentaler und sprachlicher Prozeß ist dem Schreibprozeß in seiner ganzen Komplexität vom Planen bzw. Konzipieren über den sprachlichen Umsetzungsvorgang bis hin zum Redigieren und der Interaktion der verschiedenen Einzelprozesse gewidmet.

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Ausgegliedert sind hier die exekutiv-motorischen Aspekte des Schreibvorgangs. Art. 86 Schreiben mit der Hand behandelt die Handschrif t einschließlich der physiologischen Grundlagen und pathologischer Ausfälle. Der Rückschluß von der Handschrift auf den Urheber für gerichtliche Zwecke wird in Art. 87 Forensische Handschriftuntersuchung thematisiert, der Rückschluß auf persönliche Eigenschaften in Art. 88 Graphologie. Auf grund der relativ spärlichen Literaturlage werden in Art. 89 das Maschineschreiben und seine forensische Analyse gemeinsam behandelt. Art. 90 Schreiben mit Computer schließlich kennzeichnet grundsätzliche psychologische Aspekte des Schreibprozesses mit diesem neuen Medium. Einen eigenen Problembereich des Schreibens bildet die Rechtschreibung, die später in Kapitel VIII nochmals im Bezug auf Erwerbsprobleme thematisiert wird. Art. 91 Psychologische Aspekte des Rechtschreibens behandelt die Rolle der Orthographie beim Schreiben des Erwachsenen mit einem besonderen Blick auf pathologische Erscheinungen. Die Artikel 76—91 stützen sich, teilweise durch die Forschungssituation bedingt, auf Bef unde zu Einzelsprachen — in erster Linie zum Englischen, zum Teil auf Bef unde zum Deutschen oder zu anderen Sprachen. In den beiden folgenden Artikeln wird diese Forschungslage grundsätzlich problematisiert. Art. 92 Der Einfluß eines alphabetischen Schriftsystems auf den Leseprozeß und Art. 93 Crosslinguistische Analysen basaler Aspekte des Leseprozesses mit besonderer Berücksichtigung nicht-alphabetischer Systeme diskutieren unterschiedliche Modellierungen anhand experimenteller Befunde. Von ähnlichem Interesse für die neuere psychologische Schriftlichkeitsforschung ist die Analyse von Störungen der schriftlichen Sprachverarbeitung. Art. 94 Störungen der schriftlichen Sprachtätigkeit behandelt nicht nur den Zusammenhang solcher Störungen mit anderen Sprachstörungen, sondern auch ihre Analyse im Hinblick auf neuropsychologische Modellierungen des mentalen Lexikons und der Sprachverarbeitungsprozesse. 4.8. Der Erwerb von Schriftlichkeit Im achten Kapitel werden verschiedene Aspekte zusammengefaßt, die allesamt etwas mit dem Erwerb der Schrif tlichkeit zu tun haben, die aber traditionell in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen behandelt worden sind. Entwicklungspsychologische Prozesse, sprachliche Lernprozesse sowie methodische und didaktische Überlegungen zur Vermittlung, schließlich gestörte Erwerbsprozesse — sie werden hier in einen Zusammenhang gestellt Es besteht kein Zweif el, daß der Erwerb der basalen (laut)sprachlichen Fähigkeiten in der f rühen Kindheit weitgehend spontan verläuf t, der Erwerb der Schrif tlichkeit dagegen in der Regel durch didaktische Zielvorstellungen und methodische Anleitung gesteuert wird. Dennoch wäre es f alsch anzunehmen, daß in der Schule die Phase ungesteuerter Lernprozesse einfach durch eine Phase gesteuerter Lernprozesse abgelöst würde. Tatsächlich werden die Lernprozesse in der Schule stets durch außerschulische individuelle Lernprozesse begleitet. Aus diesem Grunde ist es notwendig, sowohl die individuell-psychischen Aspekte des Erwerbs von Schrif tlichkeit von den didaktischmethodischen zu unterscheiden als auch ihren Zusammenhang zu sehen. Die das Kapitel einleitenden Art. 95 Aspekte des Erwerbs von Schriftlichkeit und seine Reflexion und Art. 96 Bedingungen der Aneignung und Vermittlung von Lesen und Schreiben diskutieren solche grundsätzlichen Fragen. Die Artikel 97—102 behandeln die psychischen Aspekte des Erwerbs der Schriftlichkeit von den Anfängen bis zur komplexen Entfaltung. Frühes Lesen und Schreiben wird in Art. 97 besprochen. Die drei folgenden Artikel behandeln die psychischen Prozesse beim Erwerb der Schrif tlichkeit, die mit den methodisch und didaktisch gesteuerten Prozessen in der Schule interagieren: Art. 98 Der Erwerb der basalen Lese- und Schreib-

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fertigkeiten, Art. 99 Die Entfaltung der Fähigkeit des Lesens und Art. 100 Die Entfaltung der Fähigkeit des Schreibens. In Art. 101 Schriftspracherwerb unter Bedingungen der Mehrsprachigkeit wird die lange Zeit vernachlässigte, heute aber eher normale Situation besprochen, daß der Erwerb der Lautsprache und der schrif tlichen Sprache sich in unterschiedlichen Sprachen vollziehen. Schließlich werden in Art. 102 Schrift als Mittel zum Verbalspracherwerb bei G ehörlosigkeit und einigen Fällen schwerer Spracherwerbsstörungen Fälle besprochen, in denen der Primärspracherwerb in der schrif tlichen Modalität erfolgt bzw. durch sie gefördert wird. In den folgenden Artikeln werden die didaktisch-methodischen Aspekte des Schrif tlichkeitserwerbs entfaltet. Während im Rahmen didaktischer Reflexion ein Sachverhalt als Gegenstand des Unterrichts konstituiert und legitimiert wird, ist es das Ziel methodischer Überlegungen, sach- und schülerangemessene Wege der Vermittlung zu entwickeln. Zunächst wird in sechs Artikeln ein systematischer Auf riß des Gegenstandes gegeben. Zuerst geht es um Aspekte und Probleme des Leseunterrichts, also Erstlesen (Art. 103), Weiterführendes Lesen (Art. 104) und Literaturunterricht (Art. 105), dann um Aspekte und Probleme des Schreibunterrichts, also um Erstschreiben (Art. 106), Rechtschreiben (Art. 107) und um Aufsatzunterricht (Art. 108). Je nach historisch-gesellschaftlichem Kontext, schulischer Tradition, Sprache und Schriftsystem werden sich die konstituierenden Faktoren unterschiedlich darstellen. Nach zwei historisch orientierenden Artikeln zu Geschichte der Didaktik und Methodik des Leseunterrichts und der Lektüre (Art. 109) bzw. des Schreib- und Aufsatzunterrichts (Art. 110) werden drei Beispiele aus anderen soziokulturellen Situationen gegeben (Art. 111—113): Lese- und Schreibunterricht in englischsprachigen Ländern, im arabischen Sprachraum und in Ostasien. — Gegenstand von Art. 114 ist Der außerschulische Erwerb der Schriftlichkeit. Hier geht es auch um Schreibwerkstätten, Autorenseminare, Lesezirkel, Lesegesellschaften und Literaturzirkel. Schwierigkeiten und Störungen im Erwerbsprozeß f allen häuf ig erst im Lauf e der Schulzeit auf . Die Ursache können sowohl individuelle Lernvoraussetzungen und Verarbeitungsweisen als auch didaktische Entscheidungen und methodische Maßnahmen sein. Art. 115 Störungen des Erwerbs der Schriftlichkeit enthält einen Überblick über die wichtigsten entwicklungspsychologischen, pädagogischen und psycholinguistischen Theorien. Das Kapitel wird abgeschlossen durch einen Beitrag zu Schriftspracherbsstörungen und Lernbehinderungen (Art. 116). Diese Störungen werden gesondert dargestellt, da sie eine völlig andersgeartete Ätiologie und Symptomatik auf weisen und andere Therapien erfordern.

4.9. Sprachliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit Nach den sozialen und den psychologischen Aspekten von Schrif t und Schrif tlichkeit werden im Kapitel IX die sprachlichen Aspekte behandelt. Es handelt sich um Probleme, die das Schrif tsystem (Art. 117—128), Besonderheiten schrif tlicher Sprache und ihres Gebrauchs (Art. 129—135) und textuelle Aspekte von Schrif t und Schrif tlichkeit betreffen (Art. 136—139). Das Verhältnis von Sprachsystem und Schriftsystem wird grundsätzlich in Art. 117 erörtert. Es wird diskutiert, ob der Bezug des Schrif tsystems auf die sog. Schreibprinzipien aufrechterhalten werden kann oder ob es nicht eher gerechtfertigt ist, die Schriftsystemanalyse autonom vorzunehmen. In diesen Zusammenhang gehören auch grundsätzliche Fragen der Orthographie. In Art. 118 wird das Konzept der Schrifttypologie systematisch und an einzelnen Beispielen expliziert. Die Frage, in welcher Weise Sprachwandel und Schriftlichkeit zusammenhängen, wird in Art. 119 behandelt. Die selten näher begründete These, daß Schrif tlichkeit immer konservierenden Einf luß hat, wird dabei ebenso untersucht wie die Frage, welche Konsequenzen voneinander unabhängige

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Veränderungen der mündlichen und schrif tlichen Sprache auf das Sprachsystem insgesamt haben. Gegenstand der folgenden Artikel sind eine Reihe derzeit im Gebrauch bef indlicher Schrif tsysteme mit ihrem Bezug zu anderen Teilen des Sprachsystems (Phonologie, Morphologie, Syntax etc.). Die Auswahl der behandelten Systeme folgt der Zielsetzung, besonders deutliche Vertreter bestimmter Schrif ttypen mit großer Verbreitung darzustellen. Als logographisches System wird Das chinesische (Art. 120), als wort-silbisches System Das japanische Schriftsystem (Art. 121) vorgestellt. Von den drei Haupttypen alphabetischer Systeme wird das indische Devanagari-Schriftsystem (Art. 122) als Vertreter der Silbenalphabete erläutert, Das arabische Schriftsystem (Art. 123) als Beispiel eines Konsonantenalphabets. Das Spannungsf eld phonologisch f lacher und tief er alphabetischer Systeme im engeren Sinne wird umrissen durch Beschreibungen der verbreitetsten Systeme. Das spanische Schriftsystem (Art. 124), das als sehr flach angesehen werden kann, und das englische (Art. 125) als ein stark morphologisiertes System kennzeichnen dabei Extremfälle, zwischen denen das französische (Art. 126) und Das deutsche Schriftsystem (Art. 127) anzusiedeln sind. (Vorgesehene Artikel zum russischen Schriftsystem und zur schriftlichen Sprache im Russischen kamen leider nicht zustande.) Alle diese Systeme sind jedoch auch in anderer Hinsicht unterschiedlich, z. B. in bezug auf Groß- und Kleinschreibung, die Schreibung f remder Wörter etc. Bislang wenig thematisiert sind Probleme der Interpunktion, die in Art. 128 mit Schwergewicht auf dem Deutschen behandelt werden. Der zweite Teil des Kapitels ist der Sprache gewidmet, die in schrif tlichen Texten gebraucht wird, der sog. schrif tlichen Sprache. Die hier behandelten Ausdrucksformen sind zwar nur selten ausschließlich auf schriftliche Texte beschränkt, doch zeichnen sie sich dadurch aus, daß sie sich f ür den Gebrauch in schrif tlichen Texten besonders anbieten und deshalb dort auch besonders häuf ig verwendet werden. Besonderheiten des schriftlichen Sprachgebrauchs finden sich in der Morphologie, der Lexik, der Syntax und der Semantik. Unter Berücksichtigung der jeweiligen kulturellen Gegebenheiten werden in den Artikeln 129—134 Die schriftliche Sprache im Chinesischen, Japanischen, Arabischen, Französischen, Englischen und im Deutschen beschrieben. Ein spezifisches Merkmal schrif tlicher Sprache ist das Auf treten von Abkürzungen. Art. 135 behandelt verschiedene Typen von Abkürzungskonventionen in einigen westeuropäischen Sprachen und ihre historische Entwicklung. Den textuellen Aspekten von Schrif tlichkeit ist der dritte Teil des Kapitels IX gewidmet. Fragt man nach den Bedingungen der Möglichkeit schrif tlicher Texte, so sind konstitutive Eigenschaf ten ihrer Organisiertheit und deren Folgen wie Linearität, Diskretheit der Zeichen, aber auch Intertextualität u. a. m. darzustellen (Art. 136 Die Konstitution schriftlicher Texte ). Fragt man nach der Produktion (Art. 137) und Rezeption sprachlicher Texte (Art. 138), so wird die Aufmerksamkeit auf die von der Schriftlichkeit des Textes determinierten Prozesse und Aktivitäten gelenkt, die bei der Formulierung und Gestaltung schrif tlicher Texte sowie ihrer Lektüre und Interpretation beteiligt sind. Fragt man nach der Geformtheit schrif tlicher Texte, so sind Textmuster oder Textsorten anzuf ühren, insofern sie schrif tlich gebraucht werden; sei es, daß ihre Verwendung ausschließlich schriftlich erfolgt wie das etwa beim Brief, beim Telegramm oder bei der wissenschaftlichen Abhandlung der Fall ist, sei es, daß sie sowohl schriftlich als auch mündlich gebraucht werden wie etwa die Erzählung. (Der hier vorgesehene Artikel zu den Formen schriftlicher Texte kam leider nicht zustande.) Der Begriff des Stils wird vornehmlich auf schriftliche Texte, aber nie klar auf diese allein bezogen. So werden in Stilistiken nicht nur Aspekte schriftlicher Texte behandelt, sondern auch Fragen des mündlichen Sprachgebrauchs und der Kommunikation. Weil aber die Stilistik seit jeher in einem engen Zusammenhang zum Schreiben und zur Schriftlichkeit gesehen worden ist, wird sie in einem eigenen Artikel behandelt (Art. 139 Stilistik als Theorie des schriftlichen Sprachgebrauchs ).

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4.10. Sonderschriften Durchaus heterogen ist der Gegenstand des letzten Kapitels, das sich sowohl mit von Schrif t abgeleiteten schrif tartigen Zeichensystemen wie Stenographien oder Geheimschrif ten bef aßt wie auch mit Übertragungen in andere Medien sowie dem modernen Schrift„ersatz” durch Piktogramme. Systematisch vergleicht Art. 140 Schrift und Notation zwei Konzeptionen, Schrift von anderen Notationssystemen abzugrenzen. Den in f ast allen Schrif ten beobachtbaren Sachverhalt der Verwendung von Schrif tzeichen für mathematische und für Ordnungszwecke stellt Art. 141 Schrift als Zahlen- und Ordnungssystem in historisch-systematischem Auf riß dar. Ein anderes, nicht als Schrif t zu bezeichnendes Notationssystem ist die Phonetische Transkription, die in Art. 142 behandelt wird. Durchweg systematisch anders gelagert sind die Gegenstände der folgenden Artikel, in denen es um die Umsetzung von Schriftzeichenfolgen in andere Zeichenfolgen geht. Art. 143 behandelt die Techniken der Transliteration, d. h. der Umsetzung von Schriftzeichen einer Schrift in Schriftzeichen einer anderen. Art. 144 Stenographie stellt deren Grundprinzipien und die wichtigsten Systeme dar. Die Verwendung schriftlicher Zeichen als Mittel geheimer bzw. verschlüsselter Kommunikation ist Gegenstand von Art. 145 Geheimschriften. Hier werden Techniken, Geschichte und Medien von Geheimschriften erläutert. Die f olgenden Artikel behandeln weitere Transf ormationen, nämlich die Blindenschrift Braille (Art. 146), d. h. die Überf ührung der Schrif tzeichen aus der visuellen in die haptische Dimension, Fingeralphabete (Art. 147), d. h. die Überführung der dauerhaf ten Schrif tzeichen in die f lüchtige Bewegung zur Verständigung bei Gehörlosigkeit, sowie die Technische Kodierung (Art. 148), d. h. die Kodierung von Schriftzeichen für den Gebrauch im Computer. Im letzten Artikel des Handbuchs schließlich wird auf Moderne Piktographie, diese neue Form visueller Inf ormation, eingegangen und gef ragt, inwieweit es sich hierbei um Schriftersatz handelt (Art. 149).

5. Zur Einrichtung der Artikel Die Grundsätze, nach denen die einzelnen Artikel eingerichtet sind, unterscheiden sich kaum von denen anderer Handbücher der Reihe. Jeder Artikel soll f ür sich allein verständlich sein und darum alle Informationen enthalten, die notwendig sind, um das jeweilige Phänomen zu erkennen und die bereits vorliegenden, aber auch weitere mögliche Problemlösungen verständlich werden zu lassen. Überschneidungen zwischen einzelnen Artikeln werden daher in Kauf genommen; Berührungspunkte werden durch von den Herausgebern eingef ügte Querverweise angezeigt. Die Literaturangaben berücksichtigen vornehmlich die neueren Arbeiten; von den älteren werden nur die wichtigsten angeführt. Bibliographische Vollständigkeit wird also nicht angestrebt. Es gibt jedoch einige Besonderheiten des Handbuchs, die sich primär aus der schon in Zf . 2 genannten Perspektive der Interdisziplinarität ergeben. Ein großer Teil der Beiträger ist nicht der Zunf t der Sprach- und Kommunikationswissenschaf tler zuzurechnen, sondern wirkt in ganz anderen Arbeitszusammenhängen. Das sich daraus ergebende Problem höchst unterschiedlicher Begrif f lichkeiten und Terminologien war (zum gegenwärtigen Zeitpunkt) nicht durch eine Vorgabe zu lösen (s. o. Zf. 3). Deshalb war es auch nicht zu vermeiden, daß in den einzelnen Kapiteln jeweils eigene Begrifflichkeiten und Terminologien verwendet werden; teilweise bestehen solche Unterschiede sogar zwischen zwei Nachbarartikeln eines Kapitels. Soweit es möglich war, haben die Herausgeber deshalb darauf geachtet, daß Begriffe, die in unterschiedlichen Disziplinen

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Verschiedenes bedeuten, jeweils quasi def initorisch eingef ührt werden, sofern sich die intendierte Lesart nicht von selbst ergibt; im übrigen wird auf Zf. 3 oben verwiesen. Der Versuch echter Interdisziplinarität strahlt aber auch auf die theoretischen Ansätze aus, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen kann es nicht ausbleiben, daß in zwei Beiträgen sich gegenseitig mehr oder weniger ausschließende Theorien vertreten werden. Das gilt beispielsweise für die Position der Dependenz der Schrift von der Lautsprache auf der einen Seite gegenüber der Autonomieposition auf der anderen. Dies entspricht dem Stand der Forschung und dem Problem des bislang f ehlenden interdisziplinären Austauschs. Die Herausgeber haben sich bemüht, in Bereichen, wo dies absehbar war, möglichst jeweils alle in der Forschung vertretenen Positionen durch einen Artikel zu besetzen. Vielleicht noch gravierender ist die lückenhafte Kenntnis jeweils fachexterner Grundlagen. In vielen Beiträgen der Kapitel VII und VIII etwa sind die den psychologischen, entwicklungspsychologischen und pädagogischen Ausf ührungen zugrundegelegten linguistischen Konzepte sehr of t nur als naiv zu bezeichnen. Auch dies entspricht dem Stand der Forschung. In eklatanten Fällen haben die Herausgeber Autoren auf solche Punkte aufmerksam gemacht, nicht immer war die Reaktion wirklich zufriedenstellend. Es kann aber auch nicht erwartet werden, daß ein gewünschtes Ergebnis des Handbuchs, nämlich die Intensivierung interdisziplinären Austauschs, schon im Handbuch selbst vollständig realisiert ist. Weil den Herausgebern diese Problematik bewußt war, ist besonderes Augenmerk auf das Register gelegt worden. Die Verweistechnik ist an Ort und Stelle erläutert. Es empf iehlt sich, gerade in Fällen abweichender Theorie- und Begrif f sbildung dieses Instrument intensiv zu nutzen.

6. Danksagungen Wenn der erste Band dieses Handbuchs erscheint, wird es die Herausgeber mehr als 10 Jahre beschäf tigt haben. Nach f ünf jähriger Arbeit ist die Konzeption des Handbuchs 1988 veröffentlicht vorgestellt worden, worauf uns zahlreiche Anregungen und Hinweise erreichten, die zu Verbesserungen und Ergänzungen bis hin zur Einrichtung weiterer Artikel gef ührt haben. Die ersten Einladungen an Autoren wurden Anf ang 1990 verschickt; auch von ihnen kamen Vorschläge. Geplant und betreut wurde das Werk von einer Gruppe von Wissenschaf tlern aus verschiedenen Disziplinen, der Studiengruppe Geschriebene Sprache . Die Gruppe hat sich 1981 konstituiert und tagt seitdem zweimal jährlich in Bad Homburg in der Werner Reimers Stif tung. Die Stif tung hat die Arbeit der Gruppe insgesamt und die Arbeit am Handbuch speziell durch all die Jahre hindurch engagiert gef ördert. Der erste Dank der Herausgeber gilt deshalb den Mitarbeitern der Stif tung und ihrem wissenschaf tlichen Beirat — ohne sie wäre das Werk nicht zustandegekommen. An der Idee zu diesem Handbuch, seiner f ormalen und inhaltlichen Ausgestaltung sowie der Betreuung einzelner Artikel und ganzer Kapitel haben alle Mitglieder der Studiengruppe mitgewirkt: Jürgen Baurmann (Wuppertal), Florian Coulmas (Tokyo), Konrad Ehlich (München), Peter Eisenberg (Potsdam), Heinz W. Giese (Ludwigsburg), Helmut Glück (Bamberg), Hartmut Günther (Innsbruck), Klaus B. Günther (Hamburg), Ulrich Knoop (Marburg), Otto Ludwig (Hannover), Bernd Pompino-Marschall (Berlin), Eckart Scheerer (Oldenburg) und Rüdiger Weingarten (Bielefeld) sowie auch Peter Rück (Marburg) und Claus Wallesch (Freiburg), die inzwischen ausgeschieden sind. Die beiden Hauptherausgeber danken ihren Kollegen; ohne sie wäre es nicht möglich gewesen, auf dem so weiten, heterogenen, unstrukturierten interdisziplinären Feld Schrift und Schriftlichkeit ein Handbuch entstehen zu lassen.

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Zu danken haben wir alle, Hauptherausgeber wie Mitherausgeber, den vielen Autorinnen und Autoren der einzelnen Artikel f ür ihre Bereitschaf t, auf diesem dornigen Feld überhaupt einen Artikel zu übernehmen, für die Mühe, die sie sich bei den Artikeln gemacht haben, und f ür ihren Langmut, unsere Bedenken, Einwände und Änderungsvorschläge anzuhören und dort, wo sie es vermochten, diese in ihr Manuskript einzuarbeiten. Besonders zu danken haben wir denjenigen Autorinnen und Autoren, die im letzten Moment kurzf ristig f ür andere eingesprungen sind, und den zahlreichen Kollegen, die uns bei der Suche nach solchen last minute Autoren behilf lich waren. Wir danken den Herausgebern der Handbuchreihe, den Kollegen Hugo Steger und Herbert Ernst Wiegand, für ihre Unvoreingenommenheit gegenüber dem Plan, in dieser Reihe ein Handbuch zu einem noch nicht endgültig etablierten Forschungsgebiet herauszugeben, und für ihre stets fürsorgliche Begleitung der Arbeit, sowie dem Verlag de Gruyter und seinen Mitarbeiterinnen, vor allem Christiane Bowinkelmann, Christiane Graefe, Angelika Hermann, Heike Plank, Susanne Rade, Dr. Brigitte Schöning, sowie Prof essor Dr. Heinz Wenzel, f ür die sorgf ältige Vorbereitung und Durchf ührung des Druckes. Schließlich danken wir Frau Dr. Jutta Becher f ür ihren Einsatz bei der mühseligen Arbeit, die Struktur dieses so heterogen wirkenden Feldes in den beiden umfangreichen Registern deutlich werden zu lassen. Hartmut Günther, Innsbruck (Österreich) Otto Ludwig, Hannover (Deutschland)

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Preface 1. Subject A mere glance at the many expressions pertaining to Writing and Its Use indicates how ubiquitous writing is in our daily lives and the great significance that it has been given throughout the ages. Latin scholars called it scripta manent . T he student in Goethe’s Faust thought that ... anything we have in black and white is ours to take away and call our own (T RANS . P. W AYNE ). Till heaven and earth pass, one jot or one tittle shall in no wise pass from the law ... (Mt 5:18 KJV ) and ... of making many books there is no end ... (Eccles 12:12 KJV ), yet ... the letter killeth, but the spirit giveth life. (2 Cor 3:6 KJV ). With sola scriptura as a battle cry, Martin Luther crusaded against the ruling church; of course he didn’t use the language of a man of letters, wanting to avoid sounding like a walking encyclopedia. But sometimes you can’t judge a book by its cover and have to read between the lines to set the record straight. In my book, it would be a red-letter day if you could see the writing on the wall. The bottom line is that you can swear on the Bible that people sometimes don’t go by the book. And then, alpha and omega are the epitome of beginning and end — and there are countless other expressions one could think of, from A to Z. It’s as easy as ABC . Writing and Its Use is certainly a broad field. Script: that includes handwriting, printing, cuneiform script; it is also characters representing words, syllables, and letters of an alphabet; it is uncial, roman, and Gothic scripts; it is the Latin and Arabic alphabets, and Chinese characters; it is Garamond, T imes, Futura typefaces. Scripts, the total inventory of signs used in writing, is a broad field in itself, though it represents the lowest common denominator, so to speak, of that which is the subject of this handbook. The more comprehensive expression is the German term Schriftlichkeit , which translates into English as a variety of concepts ranging from the rendering of linguistic utterances in written form to literacy to the function and use of writing in society. This includes anything and everything that can be modified by the words ‘written’ or ‘literate.’ It is anything comprised of writing; it is also the necessary outcome of writing; anything influenced or brought into being by writing — things, concepts, human beings, societies, cultures. Messages, news, invitations, lectures, and speeches can all exist in written form anywhere that writing is used. Societies and cultures are literate ones provided they have access to writing and central social transactions are carried out through written means. The extent to which individuals can participate in the processes of writing determines their social status to a large extent. Wherever this is not already the case, literacy processes will continue in the future to be the focus of encounters and conflicts of many kinds. Migration of peoples throughout the world and the internationalization of diverse social processes and organizations are causing a shift in the relationship between speaking and writing, hearing and reading. Gaining access to Writing and Its Use is becoming increasingly difficult for many people. And the development of electronic media represents not the end of written communication, but a profound change in its forms.

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T he main product of Writing and Its Use is the written text. Written texts surround us day in and day out; they regulate our daily lives, intervening in the course of events, offering us ways of expression, and making our lives more complex. We are guided by written texts in planning our lives. T his concerns not only the composition, form, and function of written texts, but the activities of people who produce and process them, that is, writing and reading. We are involved with the acquisition of these skills in schools. We deal with the impact of reading and writing on our private and public lives, with the importance of written texts in culture, language, thought, and individual behavior. The subject of this handbook is indeed so broad. It includes all peoples and individuals that use and have made use of writing; all languages that have developed not only a spoken form, but a written one as well; all groups and individuals whose lives are or have been organized by their use of writing or written texts, to whatever extent.

2. Research Developments and Objectives Due to the diversity and heterogeneity of the subject areas, a number of different scientific disciplines need to be involved in studying them: philosophy and anthropology, linguistics and literary studies, sociology, psychology, education, history — to mention merely a few. The subject Writing and Its Use is characterized differently according to the respective discipline. For historians, for example, written documents are historical documents per se. Prehistory is thus defined as the time from which no contemporary sources exist in written form. Art history deals specifically with the form and aesthetics of writing and script through the ages; social history, with its social function. For sociologists, writing is significant in terms of the many ways it serves as a constitutive force in social communities. T he part that writing plays in cognitive processes is an important research area for psychologists, and researchers in the fields of both psychology and medicine share interest in the case of language disorders related to writing. The findings of each of the respective scientific disciplines are by no means all given the same weight; nor do they all contribute to the same extent to the research developments of a given discipline as a whole. The discussion in the field of linguistics can serve as an example in this regard. A differentiation between writing, speech, and language was avoided by research for a long time. In the early twentieth century, when a distinction of this kind was recognized as necessary, the spoken language was given systematic priority. Writing and written language was considered to represent a secondary and subordinate phenomenon, and at the most it remained on the periphery of linguistic research. Many linguists still do not believe that there are theoretically significant phenomena in written language that cannot be traced back to aspects of spoken language. The fact is, however, in examining language — even spoken language — reference has been and is made to written or transcribed texts. Oral language and written language thus could not be satisfactorily distinguished from one another; there has been no sufficiently thorough description of Writing and Its Use, and the relationships to speech and spoken language have not yet been adequately determined. T his survey brings a central problem to light: due to their central role in forming and structuring modern societies, individual aspects of Writing and Its Use are dealt with in many different disciplines. The form which research takes in a given discipline reflects the theories and methods relevant to the respective field; the findings are thus tied to these individual theories and methods. Each discipline studies a given aspect of Writing and Its Use, and a relatively complete picture can only emerge when all of them are combined in some way. In this sense, Writing and Its Use is an interdisciplinary subject, and research needs to take this into account.

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Up to now, research has only shown signs of such an interdisciplinary approach. It can be said that the study of Writing and Its Use has been restricted to isolated research interests of the individual scientific disciplines. Writing and Its Use has thus never become a research subject in its own right, which is why as yet there is neither a unified theory nor has there been an interdisciplinary exchange of theories, problems, and research methods. T he few compendia or handbooks which do exist in this field deal only with individual aspects and specific subtopics. This handbook is therefore the first of its kind. Very much in keeping with the aims of the entire HSK series of handbooks on linguistics and communication sciences, the present handbook is intended for students, teachers and researchers, as well as for anyone who, for any reason whatsoever, is interested in a comprehensive, structured survey of hypotheses, methods and theoretical approaches in the area of Writing and Its Use . In concrete terms, that involved preparing a comprehensive inventory, first of all, to gain an overview of the subject and the approaches to the problem. Furthermore, all these individual parts had to be compiled and combined, to order the material in such a way as to facilitate the assignment of each part to a particular section of the handbook and to reveal the relationships between the respective parts. In other words, the material had to be structured. Finally, the various parts had to be balanced out against each other, in order to prevent any major imbalances from arising. T his task turned out to be a particularly difficult one, as certain areas have been subjects of intense research for quite some time already, such as the history of scripts and writing systems, and others have not been studied much at all, such as the history of reading and writing as processes. A systematically structured outline of the entire field makes it possible to discover existing research gaps and draw attention to fundamental deficiencies. It cannot be the task of this handbook to close these gaps or eliminate these deficiencies. Nevertheless, the editors have very much considered it their obligation, and that of all the authors, to make the substantial heterogeneity of the subject visible, presenting the various approaches that have developed in the different sciences, and pointing out existing theoretical deficiencies. In this way, the editors hope to contribute toward a more unified and comprehensive treatment of the subject.

3. Conceptuality The ubiquity of Writing and Its Use tends to blur the perceptive and conceptual clarity, as is the case with many fundamental concepts used by very different sciences. It is therefore not surprising that a uniform conceptuality is lacking, and thus no generally accepted terminology in the area of writing and literacy exists. A large number of expressions commonly used in the scientific discourse concerning Writing and Its Use have their roots in colloquial language and their meanings often differ only slightly from the common usage. T here is only a very small percentage of expressions which could be regarded as purely specialized terminology. Uniform concepts and generally accepted terminology can of course only exist to the extent that a theory of Writing and Its Use or an integrated theory of all its aspects is available. T his is true only in certain areas. T he question also remains what would comprise such an „interdisciplinary theory.” For this reason, suggestions are not made in the following for uniform conceptualization, not to mention the standardization of terminology in the field of Writing and Its Use. T he collection of articles in this handbook are thus not to be subjected to any uniform language use. Rather, the following notes aim to provide a general orientation with respect to the different

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connotations that are associated with certain expressions in the scientific literature. The present state of research on Writing and Its Use makes it inevitable that each article use its own set of concepts, so that the same expression can have different connotations, depending on the article and context in which it appears. The only concepts mentioned immediately following are those presupposed in the 149 articles of this handbook. The conceptual interpretation of particular aspects will then be explicated in the articles themselves. 3.1. Writing, Script (Schrift) T he most general term with which to speak about the subject of this handbook is writing . Many different ways of using the word as a noun may be distinguished, i. e. expressions like Writing is the most important invention of mankind, Writing differs from speech, Chinese writing looks beautiful, the writings of Plato . In common and scientific usage alike, the expression can refer to the entire field of Writing and Its Use as well as to particular aspects such as the written language, characteristics of written signs, or written documents. T his very general use of the English word writing is similar to that of the German word Schrift (see the German VORWORT to this handbook p. VIII). However, the basic meaning of German Schrift, i. e. „set of characters,” is usually rendered by script in English; script, however, is also used for handwriting as opposed to print. Because of these systematic ambiguities of writing and script and their German counterpart Schrift, their precise meaning can be only determined by context. In the English title of this handbook, we try to catch the very wide use of the noun writing; by the addition of and its use we attempt to make clear that also the verbal reading of the word is intended, i. e. the individual and social processing of writing. 3.2. Literacy (Schriftlichkeit; Literalität) Literacy, like writing, is a term with very different applications; however, it relates only partially to the German term Schriftlichkeit. Schriftlichkeit includes everything that can be modified by the word written or literate. T he expression is used to refer to the following: (1) Texts that either arise as a condition of the written medium or are marked by a certain way of conceiving, composing or formulating a text

(2) Persons who can read and write and/or have access to knowledge passed down in canonical writings (in Latin litteratus )

(3) Conditions of society which are not only characterized by the fact that representative segments of the population can read and write; rather, that social life in general is influenced by forms of written communication (4) Cultures in which important institutions such as religion make reference to written texts, the acquisition of the ability ro read and write is a goal of education, or reading and writing influences the thought and behavior of the people.

T he choice of Schriftlichkeit as a major heading seems to be a German peculiarity. As for literacy , its main application is in (2) and (3) above. Interestingly, it seems that, on the one hand, the present use of German Schriftlichkeit can be traced back to the English opposition of literacy vs orality in its general sense. On the other hand, the English dichotomy is very often rendered in German by the rather artificial coinings Literalität vs Oralität. T his leads quite often to a lack of clarity in German, as the expressions Literalität and Schriftlichkeit , corresponding approximately to literacy and writing , cannot always be used interchangeably. In English, again only the context can determine if a more precise meaning of literacy is intended.

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3.3. Written Language (Schriftliche Sprache) In addition to writing, the expression written language is sometimes used either as a major heading for the entire conceptual field or for a specific aspect of the field. Five different approaches can be identified in scientific literature with respect to differentiated use of the expression. (1) Written language as a linguistic means of structuring texts. In this sense, no distinction is

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made between the form of a written utterance and the linguistic means used in producing it. The expression is no longer used in this way in linguistic literature, although it does appear in other disciplines, above all in literary studies. Written language as a selection of linguistic means chosen under functional points of view (stylistic concept). One also speaks of variation, styles of speech, and registers. This aspect does not deal with specific qualities of texts, but with the linguistic means used in written utterances/texts (i. e., morphological, lexical, syntactic, pragmatic). This concept is widely used in recent linguistic research. Written language as the written form of a language (glossematic concept). This concept is based on the fact that many languages exist in two forms of expression — a spoken one and a written one — but that both together are seen as representing one language. Written language as the written norm of the language (functional concept). The structuralists of the Prague School, who developed this concept, distinguished between the functions of written and spoken utterances and texts, and based on this, inferred the existence of two sets of norms for a specific language. Written language as the language used for reading and writing. This concept is not based on the relationship between oral (spoken) and written language, but on the relationship between a language and the individuals who use it. A different language is used for writing than the one used for speaking. It is precisely this language that is referred to as written language.

Particularly with regard to this expression, it is important to mention that its meaning can vary even within a single article. 3.4. Writing System, Orthography (Schriftsystem, Orthographie) Because of the ambiguity of the expressions writing and written language, some concepts have been defined more rigidly in the past few decades, particularly in the field of linguistics; to some extent they are defined less rigidly in other sciences and in colloquial usage. T he way in which languages are put into writing varies from language to language. In logographic writing systems, the characters refer approximately to words or morphemes; in syllabographic systems to syllables; in alphabetical systems to minimal units of the sound system. In a linguistic context, the term script type or type of writing system denotes the way a language is put in written form, according to the prevailing size of linguistic units. A systematic relationship often exists between the language type (isolating, agglutinative, inflectional) and the script type. In individual languages, the signs belonging to a script type are then used in different ways. The writing system (Schriftsystem) of a language determines the form of written utterances. In addition to the relationship between the sound units and the written signs, this includes punctuation, the differentiation between upper and lower case, and conventions for the form of written utterances and texts (letters, essays), etc. T here is a narrower interpretation, according to which the term writing system is limited to the subordinate level of phoneme-grapheme correspondence. Linguistic research on written language systems has been largely limited to this area in the past. Various authors call this graphemics (Graphemik), a term used by others to refer to research on writing in general. Within certain theories, the term writing system is used in a very strict sense; in other approaches, the term is used for anything referring in a linguistic sense to writing and written language.

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Most modern writing systems include certain codifications, that is, a prescriptive set of rules defining a norm for writing. Such a code is referred to as orthography. It determines whether a written utterance is correct or not, i. e., it is a prescriptive form of describing a writing system. Regarding regularities in writing for which no prescriptive codification exists, the term sometimes used is spelling (Graphie). The distinction among writing system, spelling and orthography in scientific language use is normally only made by linguists and philologists. Cognitive psychology and educational literature, for instance, rarely differentiate between these terms. 3.5. Character, Grapheme (Schriftzeichen, Graphem) The concepts script, script type, and writing system are based on the notion that written language is served by a limited inventory of elements which can be referred to in a theoretically neutral sense as characters . T his concept has the advantage of being a broader term than letter or grapheme, and it can be applied to different script types and writing systems: letters of Latin or Greek alphabets, Japanese kana, and Chinese hanzi are all characters in this sense. T he subset of characters which are combined to form meaningful units in syllabographic or alphabetical systems are called graphemes . Similar to the term phoneme, grapheme also refers to a theory-dependent theoretical construct. T his involves two opposing conceptions: first, the older use of the term grapheme denotes those characters or character combinations through which phonemes of the spoken language are rendered in writing. The more recent concept defines grapheme in a purely distributional sense as the smallest meaningful unit of the written form of a language, without regard to phonology. Outside of the field of linguistics, use of the term grapheme cannot be assumed to signify a specific connotation; it is often simply used to denote a character or a letter. 3.6. Writing, Reading, Text (Schreiben, Lesen, Text) These terms are defined most flexibly of all terminology related to this field. In this handbook, they are used to denote a wide variety of concepts. For this reason it makes sense to describe the main differences in the possible uses. T he verbal reading of writing has three meanings in colloquial usage: (1) The process of putting characters, particularly letters and numbers, on paper (2) The process of putting something meaningful, as a text, on paper; to put in written form (3) To be active as a writer There is a definite semantic relationship among these meanings: No. 3 implies no. 2, and no. 2 implies no. 1. It is not always clear which of these meanings is intended; it is difficult to know what is meant by, for example, learning to write . For this reason, an unambiguous expression is being used more and more in scientific literature to express no. 2.: the production of written utterances or texts . This denotes all activities with the common goal of creating a written utterance or text, from the notion of its thematic, compositional and linguistic development up to the formulation, recording, editing and publication of the work. One might also say that the term writing can be used both in a more narrow sense (no. 1) and a broader sense (no. 2). It is of utmost importance to determine which sense of writing is meant with respect to discussion in many areas, for example, in defining the term functional literacy . Similarly, there is a narrow and a broader meaning of reading . T he narrow sense refers to all processes that are involved in reading in any form. T his includes eye movements as well as the related cognitive processes of letter and word recognition and their integration into sentences, i. e., the conversion of written utterances into

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mental, linguistic representations. Reading in the broader sense can be described analogous to writing as the reception of texts. The reading process in this sense includes the structuring of text information into individual knowledge inventories, the critical evaluation of this information, comprehension of unknown information, affective and cognitive assessment of the language used, the relationship to the author and/or the subject matter of the text, etc. In the process of writing, written utterances are produced; the process of reading involves the reception of such utterances. Sometimes, all linguistic utterances are referred to as text in linguistics research. Such an expansion of the concept is uncommon in everyday usage, in which the reference of the term to written material is essential (in this sense, the expression „oral text” would be a contradiction in terms). In text linguistics, utterances (usually written) are considered texts only if they satisfy the conditions of coherence, intention, isolation, cohesion, etc. Certain pragmatic conceptions refer to texts as the outcome of an extended („zerdehnte”) speaking situation; in this sense it is not the written state that makes an utterance a text, but its isolability. In the absence of any more specific conditions, the expression written utterance is intended in a more neutral sense.

4. Structural Organization of the Handbook In the organization of the handbook, the editors payed particular attention to the criterion of establishing clearly discernible subject areas. As a result, there is no chapter on cultural studies, yet there is one on literate cultures, and another relating to social aspects. Similarly, there is a chapter that deals with language per se, but not linguistic studies. T his is the only way to adequately define the systematic relations between interdisciplinary aspects of Writing and Its Use (Schrift und Schriftlichkeit). T his orientation influenced the form as well as the placement of each individual chapter. T he global and general aspects of the subject matter presented in chapter I are followed by the presentation of issues dealing with the material constitution of writing in the broadest sense (chapter II). Chapter III covers the history of writing. This chapter precedes the other appropriately arranged sections, to some extent due to the fact that the history of writing has been a topic of interest for quite some time already, therefore representing the section of the handbook that has been researched most extensively. Chapters IV and V present the major aspects of a literature culture in terms of cultural regions and social functionality. Chapter VI then deals with social aspects, and chapter VII with psychological ones. Issues relating to the acquisition of reading and writing skills, including educational aspects are discussed in chapter VIII. Chapter IX presents linguistic aspects of Writing and Its Use . Hence, the important aspects of the subject are arranged from top to bottom, so to speak: it begins with culture as the most global aspect and branches out to the specific linguistic manifestations. Chapter X is also part of this development, including special writing systems. An extensive index will show the interdisciplinary references on a micro level. Following is a brief description of the arrangement of the articles in the individual chapters. 4.1. General Aspects of Writing and Its Use In the first chapter, interdisciplinary foundations of research on Writing and Its Use are presented. Art. 1 Orality and Literacy discusses modern approaches to defining the relationship between spoken and written language. With respect to the distinction

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between a medial and a conceptional dimension, long-standing issues of the relationship between spoken and written language, between orality and literacy are relativized and new perspectives are developed. The subject of art. 2 Function and Structure of Written Communication is all forms of linguistic activity in which written means are used to aid comprehension between communication partners. T he elementary structures of the written form of linguistic communication are described and its social consequences are discussed, particularly with regard to further applications. Basic aspects of a semiotic analysis of writing and written language, the relationship to spoken language and to other sign and notation systems are discussed in art. 3 Semiotic Aspects of Writing . T he remaining articles of the first chapter take a historical perspective. Art. 4 The History of Writing and art. 5 The History of Reading deal with the two fundamental processes involved in written communication. T he writing process results in a written text and the reading process always presupposes the existence of a text. T hese written texts have taken various forms in the course of history. Art. 6 The History of the Book characterizes the development from written texts to books and beyond. Art. 7 History of the Reflection on Writing and Its Use provides an overview of historical developments, helping to shed light on the diverse explicit and implicit prerequisites for the scientific treatment of the relationship between orality and literacy. 4.2. Material and Formal Aspects of Writing and Its Use What matters most in the difference between speech and writing is matter, i. e. different materiality. Spoken utterances are produced auditively by organs developed for that purpose. T hey extend for a duration, but last only for a temporary period of time. Written utterances are produced with tools for the visual dimension. They extend over space and are not temporary. T hese fundamental qualities of written utterances and texts are the basis for the structural differences between written and oral utterances. Art. 8 Traditional Writing Materials and Techniques presents a description of the most important writing instruments, materials, and techniques in the pretypographical age. Art. 9 then follows with a presentation of modern Electronic Reading and Writing Technology, with reference to the individual reader and writer dealing with these techniques. T he lastingness of written texts makes it possible to preserve them over time. T his also leads to corresponding problems in locating information. Art. 10 Archiving of Written Texts deals with traditional methods and art. 11 Data Bases with modern computer-aided techniques and their relationship to writing. Special formal aspects of written utterances are among the results of the organization of writing over space. In art. 12 The Development of Letter Forms in Western Alphabets, the development of the modern roman script from its Semitic-Greek origins is systematically reconstructed from paleographic and cognitive perspectives. T he most important prototypes from the occidental sphere such as monumental script, uncials, Carolingian minuscules, etc. are discussed in detail. T he material innovations and technical changes that came with the printing press, including the external form of the characters themselves and their organization on a page and in a book are the subject of art. 13 Typography. In contrast to that, art. 14 Calligraphy focusses on the aesthetic potential of script and how this was used in various writing traditions throughout the world. 4.3. The History of Writing T he history of writing is the most extensively researched section in this handbook. Nevertheless, there has been a growing amount of critical debate in recent years on historical theories of the writing systems on which many presentations are based. Art.

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15 Theory of the History of Writing considers the basic issues of modern theories of the history of writing, within the context of efforts to find its origins, the boundary between script and other visual signs, the reference to the structure of written language, and the principles upon which the synchronic development of writing systems are based. T he question as to the origin of writing must be answered case by case; and often, the answer remains speculative. As regards Sumerian script, however, which can be considered the origin of all occidental writing systems, research in the last twenty years has succeeded in reconstructing the evolution rather reliably. T his is presented in art. 16 Forerunners of Writing. Art. 17 Old European-Old Mediterranean Scripts deals with written signs that are possibly even older, though they have only been brought to attention a few decades ago. The next set of articles views the development of individual writing systems or groups of writing systems. First, the many writing systems are discussed that developed in the Near East and spread out from there: the Sumerian-Accadic Cuneiform Scripts (art. 18) and Egyptian Hieroglyphics (art. 19). From the Mesopotamian and Egyptian foundations, many syllabic and consonantal scripts developed (art. 20—24): The NorthwestSemitic Scripts, The old South- Arabic Script, The Arabic Script, The Ethiopean Script, and The Indian Script. Based on the Northwest-Semitic systems and being invented just once in history, The Evolution and Spread of Alphabetic Writing is dealt with in art. 25. The next series of articles discusses the two other major regions of the world where writing systems developed. Art. 26 deals with the Evolution of the Chinese Writing System over more than 4000 years in China and art. 27 with Adaptations of the Chinese Writing System in Japan, Korea and Vietnam. The historical writing systems of Central America took a unique development path, though due to external circumstances, these could not be continued. Because of this uniqueness regarding the development of Central American Writing Systems (art. 28), they are of considerable interest from a comparative point of view, especially since recent findings and decipherings have facilitated access to and comprehension of these writing systems. It is a difficult undertaking to gain access to writing systems that are no longer in use. Signs which are assumed to be part of a writing system, but are not directly decipherable have always been a source of fascination for science. Art. 29 Decipherment outlines some particularly interesting stages in the history of deciphering and the systematic hypotheses arising as a result. 4.4. Literate Cultures Writing and writing systems have led to the tradition and production of texts for hundreds and thousands of years. Some of these have had fundamental significance for the societies in which they were produced. Writing has thus contributed to the creation, development, continuity and changes of culture in these groups. The expression literate culture (Schriftkultur) can be used to summarize this aspect. Because such an exceptionally large volume of written material has been produced up to the present day, the articles in this chapter do not strive simply to provide surveys of cultural tradition. Much more, an attempt is made to examine to some extent very well-known and well-documented facts on the impact and status of writing and literacy in a given culture. The focus is placed on two questions: (1) What specific text types have evolved as characteristic of a given literate culture? (2) What specific traditional needs and innovative processes can be seen in each of these cultures? Two general articles start off the chapter. Art. 30 Oral and Literate Cultures analyzes and relativizes the theories of recent years on the relationship between oral and literate cultures. Art. 31 On the Threshold to Literacy represents an antithesis of sorts, attempt-

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ing to define the criteria which determine when a culture can be regarded as a literate one. T he discussion of The Sphere of Chinese Characters (art. 32) and The Sphere of Indian Writing (art. 33) is followed by six historical articles, dealing with The Literate Culture of Ancient Egypt, Near Eastern Cuneiform Cultures, The Northwest- Semitic Literate Cultures (art. 34—36), The Greek (art. 37) and The Roman Literate Culture of Antiquity (art. 38), and finally The Arabian Literate Culture (art. 39). Three developmental aspects of western literate cultures are dealt with in the following articles. Art. 40 The Latin Literate Culture of Medieval Europe emphasizes a fact that is often neglected, namely, that the literate culture in Medieval Europe was based virtually only on Latin, and discusses the major examples. Art. 41 The Evolution of Vernacular Literate Cultures in Europe nevertheless requires a comprehensive presentation, since modern western literate cultures developed from these beginnings. The Impact of the Printing Press (art. 42) represents a major break, which — along with certain preconditions — paved the way for very different, modern forms of literate culture to develop over time. Since these modern forms are discussed in various articles, particularly in the next two chapters, this chapter closes with art. 43 on Perspectives of Literate Culture. 4.5. Functional Aspects of Literacy Writing and literacy are valued differently in specific areas of social life. Their different functions develop in a continuous interrelationship with oral tradition. This relationship can be competitive and problematic or it can be parallel and complementary, varying to some extent according to the particular area under consideration. T his chapter deals with the major areas of society that affect and are affected by writing and literacy. The chapter starts with art. 44 Writing and Language . This includes discussion of how writing affects language at a wide variety of levels (conception, discourse, variation, standardization) as well as interactions with spoken language in the other direction. T he articles in the next group each deal with a specific area in which the particular expression of a literate culture was and is of great significance: Writing and Religion (art. 45), Law (art. 46), Trade (art. 47), Technology (art. 48), Industrialization (art. 49), and Education (art. 50). These are followed by four contributions on the role of literacy in cultural spheres, namely, Writing and Philosophy (art. 51), Science (art. 52), Literature (art. 53) and Philology (art. 54). The subject matter of the last article in this chapter, art. 55, is Secondary Functions of Writing. Examples are provided for the use of writing in contexts which are not (directly) language-related, such as in magical writings, anagrams and pictures incorporating script, etc. 4.6. Social Aspects of Literacy Social issues of writing and literacy are concerned with such aspects as societal access to the rules and standardization of a written language, the skill level with respect to the written language form, the achievement of societal literacy and its promotion. Articles 56—61 present the connection between the establishment of a written form of a language and social and political objectives. Art. 46 Orthography as a Norm for the Writing System discusses the significance of a standard form of writing in languages with a long standing writing tradition. The next few articles deal with the establishment of a written form of a language, either through the adaptation of an existing writing system for another language (art. 57 Codification by Means of Foreign Systems) or through an independent development (art. 58 Native Creation of Writing Systems). Art. 59 Development and Reform of Orthography focusses on the German language. In contrast to these concepts, based on a single language model, art. 60 Writing and

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Diglossia and art. 61 Writing Systems in Contact present, respectively, the phenomena of divergent written and spoken language forms and of multiple written languages in a society, phenomena which can be increasingly observed throughout the world. Every person who does not suffer from a disability can speak, yet not all people can read and write. Art. 62 Demographics of Literacy discusses the problems with respect to assessing literacy, providing data on the proportion of illiteracy in various parts of the world. Articles 63—69 then deal with problems facing mass literacy campaigns in modern times. Art. 63 The Promotion of Literacy in the „Third World” outlines the issues systematically. T he work of the two most important non-governmental agencies of literacy campaigns is presented in art. 64 UNESCO’s Efforts in the Field of Literacy and art. 65 Mother Tongue Literacy — the Work of the S. I. L. , followed by a series of case studies: The Soviet Experiences and Models of Promotion of Literacy, Literacy Movements and Literacy in Ethiopia, Literacy Movements in Central and South America and the Caribbean, The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy, and The Promotion of Literacy in East Asia: The Case of non- Chinese- Speaking People in China (art. 66—70). (Planned articles on Swahili and French-speaking Black Africa could not be realized.) These are followed by two historical articles on The Development and Advancement of Literacy in Germany (art. 71) and in England and North America (art. 72). Article 73 finally deals with the issue of Literacy and Illiteracy in Modern Industrial Nations . Problems of Censorship (art. 74) and Copyright (art. 75) are also social aspects of writing and literacy; these two articles complete the first volume.

4.7. Psychological Aspects of Writing and Its Use Whereas the previous chapters dealt with issues of Writing and Its Use that are of a social, non-individual nature, this section focusses on issues concerning the use of writing by the individual. Art. 76 Writing and Psychological Structures presents, similar to the articles of Chapter V, the ways in which access to literacy influences mental organization, that is, cognitive and emotional processes, the capacity to learn, and processes of forgetting. Art. 77 Production and Perception of Spoken and Written Utterances contrasts basic characteristics of oral versus written language processing by the individual and, based on recent models, formulates differences. T he next set of articles are concerned with the reading process. First, a Historical Outline of Psychological Research on Reading is presented in art. 78. Reading can be considered one of the longest standing research areas in the field of experimental psychology. The most significant research methods in this area are explained in art. 79 Research Methods in the Psychology of Reading. Because one specific method has experienced such tremendous progress, it has been extracted for special attention, namely, eye movement analysis. Art. 80 Eye Movements During Reading offers a survey of the findings in this area. The next article, The Perception of Words and Letters (art. 81), deals with the core of experimental research on reading over the last hundred years, concentrating on questions as to the size of units of perception, the extent of phonological recoding, and the role of lexical structures. Art. 82 Reading as a Means of Text Processing then deals with text processing; recent research findings on fluent reading and text comprehension are discussed. Writing has been a subject of psychological research to a much lesser extent than has reading. Art. 83 Historical Outline of Psychological Research on Writing provides a thorough survey of older research. Art. 84 Research Methods in the Psychology of Writing systematically reports on recent research methods in the field of text production. T he most significant newer models of the writing process are presented in art. 85: Writing as a Mental and Linguistic Process is devoted to the writing process in its entire

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complexity, from planning or conception to the process of translation into language to editing and the interaction of the various individual processes. T he executive-motoric aspects of the process of writing are handled in separate articles. Art. 86 Writing by Hand deals with handwriting, including physiological foundations and pathological disorders of the process. T he process of determining the writer on the basis of handwriting for forensic purposes is the subject of art. 87 Forensic Handwriting Analysis; and attempts to trace the connection between handwritten signs and individual personality traits is discussed in art. 88 Graphology. Because of the relatively scarce amount of psychological literature on the subject, Typewriting and Its Forensic Analysis are treated together in art. 89. Art. 90 Writing with a Computer characterizes the fundamental psychological aspects of writing with this new medium. Spelling forms a problem field of its own which will be discussed again in chapter VIII with reference to acquisition problems. Art. 91 Psychological Aspects of Spelling deals with the role of orthography in writing by adults, looking particularly at pathological disabilities. Articles 76—91 are based, partly due to the research situation, primarily on findings relating to specific languages — most of all English, though to a certain extent German or other languages. T he next two articles deal with fundamental problems of such a research situation. Art. 92 The Influence of an Alphabetic Writing System on the Reading Process and art. 93 Cross-Linguistic Analyses of Basic Reading Processes, with Emphasis on Non- Alphabetic Writing Systems discusses different models on the basis of experimental findings. T he analysis of Disorders of Written Language Processing (art. 94) is also an interesting aspect of recent psychological research on writing. T he article not only deals with the connection between such disorders and other language disabilities, but also analyzes such disorders in view of neuropsychological models of the mental lexicon and of language processing in general. 4.8. The Acquisition of Literacy Chapter VIII combines different aspects of literacy acquisition which have traditionally been treated within separate contexts. Processes of developmental psychology, language learning processes, methodological and didactic considerations of teaching, and acquisition process disorders are all discussed within the common context of acquisition. T here is no question that the acquisition of speech takes place to a large degree spontaneously in early childhood, whereas the acquisition of reading and writing skills is normally directed by didactic objectives and methodological instruction. Nevertheless it would be false to assume that the phase of undirected learning processes is simply replaced by directed processes in school. In fact, the learning processes that take place in school are always accompanied by individual learning processes outside of school. For this reason it is necessary to distinguish between the individual psychological aspects of the acquisition of literacy, on the one hand, and the didactic, methodological aspects, on the other, as well as to trace the connections between the two. This chapter is introduced by art. 95 Aspects of the Acquisition of Literacy and art. 96 Conditions of Acquisition and Teaching of Reading and Writing, both of which discuss such fundamental issues. Articles 97—102 deal with psychological aspects of the acquisition of literacy from their beginnings through their complex development. In art. 97, Early Reading and Writing is discussed. The next three articles are concerned with psychological processes involved in acquiring literacy which interact with methodologically and didactically directed processes at school: art. 98 The Acquisition of Basic Reading and Writing Skills, art. 99 The Development of Reading Skills , and art. 100 The Development of Writing Skills. In art. 101 Acquisition of Written Language under Conditions of Multilingualism,

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a subject is discussed which has long been neglected, though it represents what is currently a relatively normal situation, namely, the acquisition of spoken and written language in different languages. Finally, art. 102 Written Language as a Means of Learning Spoken Language deals with the process from a perspective opposite to that of the normal course of language learning. T he case of deaf people is discussed in which the primary language acquisition takes place or is promoted in the written mode. The didactic and methodological aspects of learning to read and write are developed in the next set of articles. Whereas the subject of instruction is constituted and legitimized within the context of didactic reflection, the goal of methodological considerations is to develop teaching and learning methods more appropriate to subject and student. A systematic outline of the subject follows in the next six articles on Aspects and Problems of the Teaching of Reading resp. Writing: art. 103 Beginning Reading Skills, art. 104 Advanced Reading Skills, art. 105 Instruction in Literature, art. 106 Beginning Writing Skills, art. 107 Spelling, art. 108 Instruction in Essay Writing. Relevant factors differ according to the respective socio-historical context, educational tradition, language, and writing system. There are two historically oriented articles on the didactics and methodology of instruction in reading and literature, and in writing and essays: art. 109 History of the Didactics and Methodology of Instruction in Reading and Literature and art. 110 History of the Didactics and Methodology of Instruction in Writing and Essay Writing. These are followed by three examples from other sociocultural settings: The Teaching of Reading and Writing in English- Speaking Countries, in the Arabic- Speaking World, and in East Asia (art. 111—113). Acquisition of Literacy outside of School is the subject of art. 114. T his includes writing workshops, writers’ seminars, reading circles, book societies, and literary circles. Difficulties and disorders in the acquisition process often first become apparent during the school years. Such disorders can stem from individual learning aptitudes and processing methods as well as didactic decisions and methodological measures. Art. 115 Disorders in Written Language Acquisition contains a survey of the most important developmental psychological, pedagogical, and psycholinguistic theories. The chapter is rounded off with an article on Disorders in Written Language Acquisition And Learning Disabilities (art. 116). T hese disorders are treated in a separate article since they have very distinct causes and symptoms, and require a different type of therapy. 4.9. Linguistic Aspects of Writing and Its Use Following these social and psychological aspects of writing, linguistic aspects are treated in chapter IX. T his includes problems relating to the writing system (art. 117—128), specific features of written language and written language usage (art. 129—135), and textual aspects of Writing and Its Use (136—139). The relationship between Language System and Writing System is discussed in detail in art. 117. T he question arises whether the reference of the writing system to the socalled writing principles can be maintained or whether it is not more justified to analyze the writing system as an autonomous system. T his includes fundamental questions of orthography. In art. 118, the concept of Typology of Writing Systems is explained systematically, using individual cases as examples. T he question as to the connection between Language Change and Writing is treated in art. 119. The hypothesis that written language always exerts a conservative influence is investigated critically, although research has not often examined this issue in detail. In addition, the question is posed as to the consequences that independent changes in spoken and written language have on the language system as a whole.

XL

Preface

T he subjects of the following articles are several writing systems currently in use, with special references to the relation of each writing system to other levels of the respective language systems (phonology, morphology, syntax, etc.). The systems chosen for discussion all represent especially clear examples of particular, widespread writing systems. The Chinese Writing System (art. 120) is chosen as an example of a logographic system and The Japanese Writing System (art. 121) as an example of a word-syllabary one. Of the three main types of alphabetic systems, the Indian Devanagari (art. 122) is described as an example of the alphabetic-syllabic systems and The Arabic Writing System (art. 123) as a consonantic alphabetic system. T he opposition between phonologically shallow and deep alphabetic systems is outlined by means of descriptions of some widespread systems. The Spanish Writing System (art. 124) which can be considered very shallow, and The English Writing System (art. 125), a strongly morphologicalized deep system, represent extreme cases, and the French (art. 126), and German (art. 127) writing systems can be situated within this range. (Planned articles on the Russian writing system and on written language in Russian could not be realized.) These systems can also be distinguished from one another with respect to other features, such as capitalization, foreign word usage, etc. Art. 128 deals with issues of Punctuation, which have not been researched very extensively up to now, concentrating on the German language. T he second part of the chapter is devoted to language as used in written texts, socalled written language. Only in rare cases are the phenomena treated here restricted exclusively to written texts. T he forms of expression discussed, however, are generally distinctive in that they are particularly suited for use in written texts and are thus used especially frequently in that form. Special features of written language usage can be found in morphology, lexicon, syntax, and semantics. T aking the respective cultural conditions into consideration, the next set of articles describes the Written Language: Chinese, Japanese, Arabic, French, English, and German (art. 129—134). A specific feature of written language is the occurrence of Abbreviations (art. 135); the article treats different types of abbreviation conventions in some western European languages and their historical development. Textual aspects of the use of writing form the subject of the third part of chapter IX. Conditions on written texts include constitutive properties of organization and their consequences, such as linearity, discreteness of signs, and intertextuality (art. 136 The Constitution of Written Texts ). As regards The Production (art. 137) and The Reception of Written Texts (art. 138), attention is directed to the processes and activities determined by the written nature of the text that are involved in the formulation and organization of written texts and the teaching and interpretation of them. T he structure of written texts concerns text patterns or text types to the extent that they are used in writing, that is, whether they are used exclusively in written form, such as in the case of letters, telegrams, or scientific treatises, or whether they are used both orally and in writing, as with stories. (Unfortunately, the planned article on the forms of written texts could not be realized.) The concept of style is usually associated with written texts but clearly does not refer to these texts alone. In style manuals, therefore, not only aspects of written texts are treated, but also questions of oral language usage and communication. Since stylistics has always been seen in close connection with Writing and Its Use, it is discussed here in a separate article (art. 139 Stylistics as a Theory of Written Language Usage ). 4.10. Special Writing Systems The subject of this chapter is quite heterogeneous, dealing with scriptlike sign systems derived from writing systems such as stenography and secret codes, as well as with translation into other media and modern substitutes for writing by means of pictograms.

Preface

XLI

Art. 140 Writing and Notation provides a systematic comparison of these two concepts, in an effort to distinguish writing from other systems of notation. The notion that written signs are used in almost all writing systems for mathematical and organizational purposes is outlined historically and systematically in art. 141 Writing as a Numbering and Ordering System, centered around the development and use of alphabetical order. Another notational system, which is not to be characterized as a script type, is Phonetic Transcription, treated in art. 142. T he next set of articles deal with topics of a different type, namely, the translation of a sequence of written symbols into other sequences. Art. 143 deals with the techniques of Transliteration, i. e., the translation of symbols of one writing system into those of another. Art. 144 presents the basic principles and the most important systems of Stenography. The use of written signs as a means of secret and coded communication is the subject of art. 145 Secret Codes. The history, techniques, and channels of secret codes are described. T he next few articles deal with additional transformations, such as Braille (art. 146), the writing system for the blind. T his involves the transfer of written signs from the visual to the haptic dimension. Art. 147 Hand Alphabets, deals with the transformation of permanent written signs to temporary movements for comprehension by the deaf, and Technical Codes (art. 148) with coding of written signs for computer use. Finally, in the last article of the handbook, art. 149 Modern Pictography, this modern form of visual information is examined and the question is posed to what extent this represents a writing substitute.

5. Preparing the Articles The principles used in preparing the individual articles are very similar to those used for other handbooks in the HSK series. Each article had to be comprehensible on its own, thus containing all information necessary to recognize the phenomenon under consideration and to facilitate understanding of existing solutions to the problem, as well as other possible solutions. It was taken for granted that there would be some degree of overlapping among the articles. Points of contact are indicated by crossreferences inserted by the editors. The bibliographic references are primarily for newer works; older references are only included if they are particularly important. In other words, no effort was made to include a comprehensive bibliography. T here are, however, some features which are particular to this handbook, arising primarily as a result of the interdisciplinary perspective already mentioned in section 2. Many of the articles are written by scientists who do not work within the field of linguistics and communications sciences; rather, their sphere of influence is a very different one. T he resulting problem of an extremely diverse set of concepts and terminology could (at the present time) not be solved by offering a standard to be complied with (see section 3 above). It could not be avoided, therefore, that the individual chapters each use their own set of concepts and terms; in fact, such differences sometimes even appear in adjacent articles within a given chapter. Wherever possible, therefore, the editors urged authors to introduce concepts that have different meanings in different disciplines in a way that would define them, insofar as the intended connotation was not already implied; see also section 3 above. T he attempt to provide a truly interdisciplinary work is also reflected in the presentation of theoretical approaches. First, it cannot be avoided that more or less mutually exclusive theories are supported in two different articles. T his is true, for example, in the case of the position that the writing system is dependent on the spoken language, as opposed to the position that the written form of a language is autonomous. T his

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Preface

reflects the present state of research and the problem of insufficient or nonexistent interdisciplinary exchange of information up to now. In areas where such a conflict of positions was forseeable, the editors made every possible effort to represent each existing research position. A perhaps more serious problem is the lack of comprehensive knowledge of basic principles of a given field, in articles from areas outside of that field. In many articles in chapters VII and VIII, for example, the linguistic concepts which represent the basis of certain psychological, developmental psychological, and educational interpretations are very often expressed in a very naive manner. This, too, corresponds to the present state of research. In very flagrant cases, the editors brought it to the attention of the authors, though the result was not always satisfactory. It cannot be expected that the desired goal of this handbook, that is, the intensification of interdisciplinary exchange, be totally achieved through the existence of the handbook itself. Because the editors were aware of this problem, however, particular attention was paid to the preparation of the index. T he method of reference is explained there. Particularly in the case of divergent theories or conceptuality, it is highly recommended to make extensive use of the index.

6. Acknowledgements When the first volume of this handbook becomes available, the editors will have already spent more than ten years on the project. In 1988, after five years of preparatory work, the concept for the handbook was publicly presented, which resulted in the editors receiving much stimulus and numerous ideas, leading to improvements and supplements, as well as the inclusion of additional articles. The first invitations were sent to authors in early 1990, and they also responded with further suggestions. T he Studiengruppe Geschriebene Sprache, a group of scientists representing various disciplines, planned and supervised the project. The group is sponsored by the Werner Reimers Foundation; it was founded in 1981 and has been meeting semiannually since then in Bad Homburg, Germany. T he Foundation has provided extensive support over all the years of the work of the group in general, and the preparation of the handbook in particular. T his is why the editors would like to thank first and foremost the scientific council of the Werner Reimers Foundation and their staff, without whom this project would never have been completed. All of the members of the Studiengruppe, listed below, participated in the conception of the handbook, in developing its structure, both in terms of formal aspects and the contents, and in supervising individual articles and entire chapters: Jürgen Baurmann (Wuppertal), Florian Coulmas (T okyo), Konrad Ehlich (Munich), Peter Eisenberg (Potsdam), Heinz W. Giese (Ludwigsburg), Helmut Glück (Bamberg), Hartmut Günther (Innsbruck), Klaus B. Günther (Hamburg), Ulrich Knoop (Marburg), Otto Ludwig (Hannover), Bernd Pompino-Marschall (Berlin), Eckart Scheerer (Oldenburg), and Rüdiger Weingarten (Bielefeld), as well as Peter Rück (Marburg) and Claus Wallesch (Freiburg), who are no longer members of the group. The two main editors would like to thank their collegues, without whom it would not have been possible to produce a handbook on such a broad, heterogeneous, unstructured interdisciplinary field as Writing and Its Use . All of us, main and associate editors alike, would like to express our sincerest thanks to the many authors of the individual articles for their willingness to take on articles in this very difficult field; for the time and energy they invested in preparing the manuscripts; and for their patience in listening to our reservations, objections and suggestions, and in incorporating these ideas into their articles wherever possible. Our

XLIII

special thanks go to those authors who jumped in at the last minute for others, and to our numerous colleagues who assisted us in the search for such last minute authors. We would also like to express our appreciation and sincerest thanks to the editors of the handbook series, Hugo Steger and Herbert Ernst Wiegand, for their openness to the idea of publishing a handbook in this series in an area which has yet to become firmly established as a research field, and for their unwavering presence and support of the project; our thanks also go to the de Gruyter Publishing Company and their staff, especially Christiane Bowinkelmann, Christiane Graefe, Angelika Hermann, Heike Plank, Susanne Rade, Dr. Brigitte Schöning and Prof. Heinz Wenzel, for the careful preparation and printing of the handbook. Finally, we would like to thank Dr. Jutta Becher, for her efforts in the arduous task of giving structure to this very heterogeneous field in two comprehensive indices. Hartmut Günther, Innsbruck Otto Ludwig, Hannover

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Inhalt/Contents 1. Halbband/Volume 1 V IX

Vorwort Preface

I.

Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit General Aspects of Writing and Its Use

1.

Wolfgang Raible, Orality and Literacy (Mündlichkeit und Schriftlichkeit) .............................................................................................................. Konrad Ehlich, Funktion und Struktur schriftlicher Kom m unikation (Function and Structure of Written Communication) .................................. Roy Harris, Sem iotic Aspects of Writing (Semiotische Aspekte der Schrift) ......................................................................................................... Otto Ludwig, Geschichte des Schreibens (The History of Writing) ............ Hans-Martin Gauger, Geschichte des Lesens (The History of Reading) ..... Claus Ahlzweig, Geschichte des Buches (The History of the Book) ........... Brigitte Schlieben-Lange, Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit (History of the Reflection on Writing and Its Use) ..............

2. 3. 4. 5. 6. 7.

II.

Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit Material and Formal Aspects of Writing and Its Use

8.

Otto Mazal, Traditionelle Schreibm aterialien und -techniken (Traditional Writing Materials and Techniques) ................................................... Eckart Hundt & Gerd Maderlechner, Elektronische Lese- und Schreibtechnologien (Electronic Reading and Writing Technology) ....................... Axel Behne, Archivierung von Schriftgut (Archiving of Written Texts) ...... Rüdiger Weingarten, Datenbanken (Data Bases) ........................................ Herbert E. Brekle, Die Buchstabenform en westlicher Alphabetschriften in ihrer historischen Entwicklung (The Development of Letter Forms in Western Alphabets) ....................................................................... Herbert E. Brekle, Typographie (Typography) ............................................ Christian Scheffler, Kalligraphie (Calligraphy) ..........................................

9. 10. 11. 12. 13. 14.

III.

Schriftgeschichte History of Writing

15.

Florian Coulm as, Theorie der Schriftgeschichte (Theory of the History of Writing) ....................................................................................................

1 18 41 48 65 85 102

122 130 146 158 171 204 228

256

XLII

16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29.

Inhalt/Contents

Denise Schm andt-Besserat, Forerunners of Writing (Vorläufer der Schrift) ......................................................................................................... Harald Haarm ann, Der alteuropäisch-altm editerrane Schriftenkreis (Old European-Old Mediteranean Scripts) ................................................. Manfred Krebernik & Hans J. Nissen, Die sum erisch-akkadische Keilschrift (Sumerian-Accadic Cuneiform Scripts) ............................................ Wolfgang Schenkel, Die ägyptische Hieroglyphenschrift und ihre Weiterentwicklungen (Egyptian Hieroglyphs and Their Development) ............. Josef Tropper, Die nordwestsem itischen Schriften (North-west Semitic Scripts) ......................................................................................................... Walter W. Müller, Die altsüdarabische Schrift (The Old Southern Arabic Script) ............................................................................................... Veronika Wilbertz, Die arabische Schrift (The Arabic Script) .................... Ernst Hammerschmidt, Die äthiopische Schrift (The Ethiopean Script) ..... William Bright, Evolution of the Indian Writing System (Die indische Schrift) ......................................................................................................... Harald Haarm ann, Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften (Evolution and Spread of Alphabetic Scripts) .............................................. Wolfram Müller-Yokota, Die chinesische Schrift (Evolution of the Chinese Script) ............................................................................................. Wolfram Müller-Yokota, Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift: Japan — Korea — Vietnam (Adaptations of the Chinese Script in Japan, Korea and Vietnam) ..................................................................... Nikolai Grube, Mittelam erikanische Schriften (Central American Scripts) ......................................................................................................... Stanislav Segert, Decipherment (Entzifferungen) ........................................

V.

Schriftkulturen Literate Cultures

30.

Nancy H. Hornberger, Oral and Literate Cultures (Mündliche und schriftliche Kulturen) ................................................................................... Jack Goody, On the Threshold to Literacy (Die Schwelle der Literalität) .............................................................................................................. Tetsuji Atsuji, Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì) (The Sphere of Chinese Characters) ............................................................ Chander J. Daswani, The Sphere of Indian Writing (Der indische Schriftenkreis) .............................................................................................. Jan Assm ann, Die ägyptische Schriftkultur (The Literate Culture of Ancient Egypt) ............................................................................................. Claus Wilcke, Die Keilschriftkulturen des Vorderen Orients (Near Eastern Cuneiform Cultures) ....................................................................... Wolfgang Röllig, Die nordwestsem itischen Schriftkulturen (Northwest-Semitic Literate Cultures) .................................................................... Wolfgang Rösler, Die griechische Schriftkultur der Antike (The Greek Literate Culture of Antiquity) .......................................................................

31. 32. 33. 34. 35. 36. 37.

264 268 274 289 297 307 312 317 322 329 347 382 405 416

424 432 436 451 472 491 503 511

Inhalt/Contents

38. 39. 40. 41. 42. 43.

Gregor Vogt-Spira, Die lateinische Schriftkultur der Antike (The Roman Literate Culture of Antiquity) .......................................................... Annem arie Schim m el, Die arabische Schriftkultur (The Arabian Literate Culture) .......................................................................................... Matthias M. Tischler, Das Mittelalter in Europa: Lateinische Schriftkultur (The Latin Literate Culture of Medieval Europe) .............................. Manfred Günter Scholz, Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in Westeuropa (The Evolution of Vernacular Literate Cultures in Western Europe) .......................................................................................... Ernst Brem er, Der Buchdruck und seine Folgen (The Impact of the Printing Press) ..................................................................................entfällt Rüdiger Weingarten, Perspektiven der Schriftkultur (Perspectives of Literate Culture) ..........................................................................................

V.

Funktionale Aspekte der Schriftkultur Functional Aspects of Literacy

44.

Peter Koch & Wulf Oesterreicher, Schriftlichkeit und Sprache (Writing and Language) ............................................................................................. Philip C. Stine, Writing and Religion (Schriftlichkeit und Religion) ........... Jürgen Weitzel, Schriftlichkeit und Recht (Writing and Law) ..................... Annelies Häcki Buhofer, Schriftlichkeit im Handel (Writing and Trade) ... Reiner Pogarell, Schriftlichkeit und Technik (Writing and Technology) ..... David R. Olson, Writing and Industrialization (Schriftlichkeit und Industrialisierung) ....................................................................................... Keith Walters, Writing and Education (Schriftlichkeit und Erziehung) ....... Manfred Geier, Schriftlichkeit und Philosophie (Writing and Philosophy) .............................................................................................................. David R. Olson, Writing and Science (Schriftlichkeit und Wissenschaft) .......................................................................................................... Catherine Viollet, Schriftlichkeit und Literatur (Writing and Literature) .............................................................................................................. Gustav Ineichen, Schriftlichkeit und Philologie (Writing and Philology) ............................................................................................................. Manfred Geier, Sekundäre Funktionen der Schrift (Secondary Functions of Writing) ...........................................................................................

45. 46. 47. 48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55.

VI.

Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit Social Aspects of Literacy

56.

Christian Stetter, Orthographie als Norm ierung des Schriftsystem s (Orthography as a Norm for the Writing System) ........................................ William A. Sm alley, Codification by Means of Foreign System s (Erstverschriftung durch fremde Systeme) ........................................................... William A. Sm alley, Native Creation of Writing System s (Autochthone Erstverschriftung) ........................................................................................ Dieter Nerius, Orthographieentwicklung und Orthographiereform (Development and Reform of Orthography) ................................................

57. 58. 59.

XLIII

517 525 536 555

573

587 604 610 619 628 635 638 646 654 658 672 678

687 697 708 720

XLIV

60. 61. 62. 63. 64. 65. 66. 67. 68. 69. 70.

71. 72. 73. 74. 75.

Inhalt/Contents

Florian Coulmas, Schriftlichkeit und Diglossie (Writing and Diglossia) .... Helmut Glück, Schriften im Kontakt (Writing Systems in Contact) ............ Ludo Verhoeven, Dem ographics of Literacy (Demog raphie der Literalität) .......................................................................................................... Paul E. Fordham , The Prom otion of Literacy in the “Third World” (Alphabetisierung in der „Dritten Welt“) .................................................... Leslie J. Lim age, UNESCO’s Efforts in the Field of Literacy (Die Alphabetisierungsarbeit der UNESCO) ....................................................... Stephen L. Walter, Mother Tongue Literacy — the Work of the S. I. L. (Muttersprachliche Alphabetisierung — die Arbeit des S. I. L.) .................. Helm ut Jachnow, Die sowjetischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung (The Soviet Experiences and Models of Promotion of Literacy) ....................................................................................................... Klaus Wedekind, Alphabetisierung und Literalität in Äthiopien (Literacy Movements and Literacy in Ethiopia) .......................................... Merieta Johnson, Literacy Movem ents in Central and South Am erica and in the Carribean (Alphabetisierung in Mittel- und Südamerika und in der Karibik) ............................................................................................. Thom as Cream er, The Chinese Experiences and Models of Prom otion of Literacy (Die chinesischen Erfahrung en und Modelle der Alphabetisierung) ........................................................................................................ Thom as Heberer, Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung bei den nicht chinesisch sprechenden Völkern Chinas (The Promotion of Literacy in East Asia: The Case of Non-Chinese Speaking People in China) .......................................................................................................... Ulrich Knoop, Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland (The Development and Advancement of Literacy in Germany) ........................................................................................................... Ursula Giere, Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in England und Nordam erika (The Development and Advancement of Literacy in England and North America) ..................................................... Heinz W. Giese, Literalität und Analphabetism us in m odernen Industrieländern (Literacy and Illiteracy in Modern Industrial Nations) ........... Czesław Karolak, Das System der Zensur und seine Auswirkungen auf die Literalität (Censorship) .......................................................................... Pirrko-Liisa Haarmann, Copyright (Copyright) ..........................................

Farbtafeln / Colour Plates

739 745 767 779 790 798 803 814 824 835

855 859 873 883 893 898

Inhalt/Contents

2. Halbband (Überblick über den vorgesehenen Inhalt) Volume 2 (Preview of Contents) VII.

Psychologische Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit Psychological Aspects of Writing and Its Use

76.

Eckart Scheerer, Schriftlichkeit und psychologische Strukturen (Writing and Psychological Structures) ....................................................... Hartm ut Günther & Bernd Pom pino-Marschall, Produktion und Perzeption m ündlicher und schriftlicher Äußerungen (Production and Perception of Spoken and Written Utterances) ............................................ Hartm ut Günther, Historisch-system atischer Aufriß der psychologischen Leseforschung (Historical Outline of Psycholog ical Research on Reading) ....................................................................................................... Philip T. Sm ith, Research Methods in the Psychology of Reading (Methoden der psycholo g ischen Leseforschun g ) Albrecht Werner Inhoff & Keith Rayner, Das Blickverhalten beim Lesen (Eye Movements g Durin g Readin ) Alexander Pollatsek & Mary Lesch, The Perception of Words and Letters (Wortund Buchstabenerkennun g ) Wolfgang Schnotz, Lesen als Textverarbeitung (Reading as a Means of Text Processing) Clem ens Knobloch, Historisch-system atischer Aufriß der psychologischen Schreibforschung (Historical Outline of Psycholog ical Research on Writing) Gunther Eigler, Methoden der Textproduktionsforschung (Research Methods in the Psychology of Writing) Sylvie Molitor-Lübbert, Schreiben als m entaler und sprachlicher Prozeß (Writin g as a Mental and Lin g uistic Process) Arnold Thom assen, Writing by Hand (Schreiben mit der Hand) Lothar Michel, Forensische Handschriftuntersuchung (Forensic Handwriting Analysis) Maria Paul-Mengelberg, Graphologie (Graphology) Peter Baier, Maschineschreiben und seine forensische Analyse (Typewriting and its Forensic Analysis) Markus Pospischill, Schreiben m it dem Com puter (Writing with a Computer) Janice Kay, Psychological Aspects of Spelling (Psycholog ische Aspekte des Rechtschreibens) Leonhard Katz & Laurie B. Feldm an, The Influence of an Alphabetic Writing System on the Reading Process (Der Einfluß eines alphabetischen Schriftsystems auf den Leseprozeß) Ovid Tzeng et al., Cross-Linguistic Analyses of Basic Reading Processes, with Em phasis on Non-Alphabetic Writing System s (Crossling uistische Analysen basaler Aspekte des Leseprozesses, mit besonderer Berücksichtigung nicht-alphabetischer Schriftsysteme)

77. 78. 79. 80. 81. 82. 83. 84. 85. 86. 87. 88. 89. 90. 91. 92. 93.

XLV

XLVI

Inhalt/Contents

94.

Walter Huber, Störungen der Verarbeitung schriftlicher Sprache (Disorders of Written Language Processing)

VIII.

Der Erwerb von Schriftlichkeit The Acquisition of Literacy

95.

Jürgen Baurm ann, Aspekte des Erwerbs von Schriftlichkeit und seine Reflektion (Aspects of the Acquisition of Literacy) ..................................... Hubert Ivo, Bedingungen der Aneignung und Verm ittlung von Lesen und Schreiben (Conditions of the Acquisition and Teaching of Reading and Writing) ................................................................................................. Mechthild Dehn & Am elie Sjölin, Frühes Lesen und Schreiben (Early Reading and Writing) ................................................................................... Gerheid Scheerer-Neum ann, Der Erwerb der basalen Lese- und Schreibfertigkeiten (The Acquisition of Basic Reading and Writing Skills) ........................................................................................................... Hugo Aust, Die Entfaltung der Fähigkeit des Lesens (The Development of Reading Skills) ......................................................................................... Helm ut Feilke, Die Entfaltung der Fähigkeit des Schreibens (The Development of Writing Skills) .................................................................... Edeltraud Karolij & Monika Nehr, Schriftspracherwerb unter Bedingungen der Mehrsprachigkeit (Acquisition of Written Lang uag e under Conditions of Multilingualism) .................................................................... Klaus B. Günther, Schrift als Mittel zum Verbalspracherwerb bei Gehörlosigkeit und einigen Fällen schwerer Spracherwerbsstörungen (Written Language as a Means of Learning Spoken Language) .................. Kurt Meiers, Aspekte und Problem e des Leseunterrichts: Erstlesen (Aspects and Problems of the Teaching of Reading : Beg inning Reading Skills) ........................................................................................................... Peter Conrady, Aspekte und Problem e des Leseunterrichts: Weiterführendes Lesen (Aspects and Problems of the Teaching of Reading : Advanced Reading Skills) ................................................................................. Gerhard Haas, Aspekte und Problem e des Leseunterrichts: Literaturunterricht (Aspects and Problems of the Teaching of Reading : Instruction in Literature) ......................................................................................... Elisabeth Neuhaus-Siem on, Aspekte und Problem e des Schreibunterrichts: Erstschreiben (Aspects and Problems of the Teaching of Writing : Beginning Writing Skills) ............................................................................. Bodo Friedrich, Aspekte und Problem e des Schreibunterrichts: Rechtschreiben (Aspects and Problems of the Teaching of Writing: Spelling) ..... Eduard Haueis, Aspekte und Problem e des Schreibunterrichts: Aufsatzunterricht (Aspects and Problems of the Teaching of Writing : Instruction in Essay Writing) .......................................................................... Harro Müller-Michaels, Geschichte der Didaktik und Methodik des Leseunterrichts und der Lektüre (History of the Didactics and Methodology of Instruction in Reading and Literature) ..........................................

96. 97. 98. 99. 100. 101. 102. 103. 104. 105. 106. 107. 108. 109.

Inhalt/Contents

110. 111. 112. 113. 114. 115. 116.

Bernhard Asm uth, Geschichte der Didaktik und Methodik des Schreibund Aufsatzunterrichts (History of the Didactics and Methodolog y of Instruction in Writing and Essay Writing) ................................................... Stephen Parker, The Teaching of Reading and Writing in EnglishSpeaking Countries (Lese- und Schreibunterricht in eng lischsprachig en Ländern) ...................................................................................................... H. Biesterfeld, Lese- und Schreibunterricht im arabischen Sprachraum (The Teaching of Reading and Writing in the Arabic-Speaking World) ...... Insup Taylor, The Teaching of Reading and Writing in East Asia (Lese- und Schreibunterricht in Ostasien) ................................................... Joachim Fritzsche, Der außerschulische Erwerb der Schriftlichkeit (The Acquisition of Literacy Outside of School) .......................................... Gerheid Scheerer-Neum ann, Störungen des Erwerbs der Schriftlichkeit (Disorders in Written Language Acquisition) .............................................. Gerhard Eberle, Schriftspracherwerbsstörungen und Lernbehinderung (Disorders in Written Language Acquisition and Learning Disabilities) ....

IX.

Sprachliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit Linguistic Aspects of Writing and Its Use

117.

Peter Eisenberg, Sprachsystem und Schriftsystem (Lang uag e System and Writing System) ..................................................................................... Florian Coulmas, Typology of Writing Systems (Schrifttypologie) ............ Jürgen Erfurt, Sprachwandel und Schriftlichkeit (Lang uag e Chang e and Writing) ................................................................................................. Ji Lie, Das chinesische Schriftsystem (The Chinese Writing System) ......... Jürgen Stalph, Das japanische Schriftsystem (The Japanese Writing System) ......................................................................................................... Subhadra Kum er Sen, The Devanagari Writing System (Das Devanagari-Schriftsystem) ................................................................................... Thom as Bauer, Das arabische Schriftsystem (The Arabic Writing System) ......................................................................................................... Trudel Meisenburg, Das spanische Schriftsystem (The Spanish Writing System) ......................................................................................................... Michael Stubbs, The English Writing System (Das eng lische Schriftsystem) ......................................................................................................... Nina Catach, Das französische Schriftsystem (The French Writing System) ......................................................................................................... Peter Eisenberg, Das deutsche Schriftsystem (The German Writing System) ......................................................................................................... Peter Gallmann, Interpunktion (Punctuation) ............................................. W. Lippert, Die schriftliche Sprache im Chinesischen (Written Language: Chinese) ........................................................................................... Tatsuo Miyajim a, Written Language: Japanese (Die schriftliche Sprache im Japanischen) ..................................................................................... Thom as Bauer, Die schriftliche Sprache im Arabischen (Written Language: Arabic) .............................................................................................

118. 119. 120. 121. 122. 123. 124. 125. 126. 127. 128. 129. 130. 131.

XLVII

XLVIII

132. 133. 134. 135. 136. 137. 138. 139.

Inhalt/Contents

Ralph Ludwig, Die schriftliche Sprache im Französischen (Written Language: French) ....................................................................................... William Grabe & Douglas Biber, Written Language: English (Die schriftliche Sprache im Englischen) ............................................................. Gerhard Augst & Karin Müller, Die schriftliche Sprache im Deutschen (Written Language: German) ...................................................................... Jürgen Römer, Abkürzungen (Abbreviations) .............................................. Klaus Brinker, Die Konstitution schriftlicher Texte (The Constitution of Written Texts) ........................................................................................... Gerd Antos, Die Produktion schriftlicher Texte (The Production of Written Texts) ............................................................................................... Ursula Christm ann & Norbert Groeben, Die Rezeption schriftlicher Texte (The Reception of Written Texts) ........................................................ Gerhard Wolff, Stilistik als Theorie des schriftlichen Sprachgebrauchs (Stilistics as a Theory of Written Language Usage) ....................................

X.

Sonderschriften Special Writing Systems

140. 141.

Roy Harris, Writing and Notation (Schrift und Notation) ............................ Hartm ut Günther, Schrift als Zahlen- und Ordnungssystem (Writing as a Numbering and Ordering System) ........................................................ Lisa Schiefer & Bernd Pom pino-Marschall, Phonetische Transkription (Phonetic Transcription) .............................................................................. Hans Zikmund, Transliteration (Transliteration) ......................................... Helmut Jochems, Stenographie (Stenography) ............................................ P. Costamagna, Geheimschriften (Secret Codes) ......................................... Karl Britz, Blindenschrift (Braille) ............................................................. Siegfried Prillwitz, Fingeralphabete (Hand Alphabets) ............................... Walter Am eling & Lothar Kreft, Technische Kodierung (Technical Codes) .......................................................................................................... Hans-Rolf Lutz, Moderne Piktographie (Modern Pictography) ..................

142. 143. 144. 145. 146. 147. 148. 149.

Namen- und Sachregister Index of Names and Topics

1

I.

Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit General Aspects of Writing and Its Use

1.

Orality and Literacy

1. 2. 3. 4. a 5. 6. 7.

1.

Preliminaries Different meanings and types of ‘orality’ and ‘literacy’ The medial and the conceptual aspect of ‘orality’ and ‘literacy’ The possibilities and consequences of twofold scalarity in the theoretical framework Transitional phenomena Multiform contexts, multicausal and multiform evolution processes References

Preliminaries

During the last decades an ever increasing attention has been paid to l i t e r a c y as opposed to o r a l i t y (“l’oral et l’écrit”, “oralité et scripturalité”, “Mündlichkeit und Schriftlichkeit”). The central claims made on literacy’s behalf were that writing had, historically, been responsible for the evolution of new forms of discourse, prose fiction and essayist prose being two examples, that reflected a new approach or understanding of language and a new, more subjective and reflective frame of mind. Literacy, too, it was argued, had been responsible in part for new forms of social organization, of states rather than tribes, and of reading publics rather than oral contact groups. When these arguments were stated more expansively, literacy was seen as the route to ‘modernity’, a route that was exportable to developing countries that also aspired to that modernity (Olson 1991, 251).

Other tenets in the discussion are for instance the thesis that the distinction between a text and its interpretation, abstract inferring processes and the evolution of self and individuality are due to literacy (Luria 1976; Ong 1982 ). To simplify things even more: literacy was seen as the basis of Western civilization with its scientific and technological accomplishments, whereas orality had, of necessity, to be the form of cultures qualified as more simple, primitive or even savage.

During the same past decades a totally different discipline — named evolutionäre Erkenntnistheorie — has taken shape especially in Austrian and German ethology and zoology. Its central thesis is that, as well as the forms and the functions of our body are due to the “struggle for life” leading to successive adaptations with respect to the environment of our species and to the environment in general, the capacities — and above all: the shortcomings — of our mind and perception are to be explained as the result of the same kind of processes (Lorenz 1941; Riedl 1982 ). Whereas our brain works with multidimensional matrices (every English verb form for instance is located in a six-dimensional space), our visual perception is restricted just to the three dimensions which had been sufficient to orientate ourselves in environmental space, the pure idea of a fourth dimension already exceeding nearly everybody’s capabilities. (Particle physics needs more than ten dimensions to describe “reality”.) Another shortcoming is our permanent search for just one agent or one cause. In each of our IndoEuropean sentences we are accustomed to have a subject representing first and foremost this agent. (One needn’t explain why the question “who caused this?” following each noise and each perceived movement could — and can — be vital.) Compelled by the shortcomings of our mind, we look for the Prime Mover, the First Origin, the Big Bang, Genesis, and so on. In the same context, we show an irresistible tendency to take something that happened prior to some other event for the cause of this later event. This is the well known post hoc — propter hoc fallacy which leads to the development of c a u s a l conjunctions from temporal ones (e. g. engl. since, fr. puisque, germ. nachdem ). Knowing these shortcomings of our mind, no matter if literate or not, we might guess that the cited accomplishments and changes

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

2

which — at first glance so convincingly ( post hoc — propter hoc ) — seem to have been brought about by the one Prime Mover literacy, might have multiple (and perhaps even totally different) causes.

2.

Different meanings and types of ‘orality’ and ‘literacy’

As Aristotle taught us, the first question to ask in a context like ours is: what do orality and literacy mean? Plato called notions which are mutually dependent ‘dialectical’. There is no slave or servant without a master, no leisure time without work, no nature without culture ; in the same way literacy cannot be conceived of without orality, and orality not without literacy. Since dialectical notions presuppose one another, their respective meanings depend on the meaning of the opposed notions. Nature is seen in a thoroughly negative way as dangerous and threatening when it is opposed to a culture which means progress and which facilitates human existence. Since in a certain sense nature is what is left by cultural evolution, it is seen in an absolutely positive way by those for whom culture is tantamount to irrevocable destruction. In the same sense Marshall McLuhan (1962 ), relying largely on Eric A. Havelock (Assmann & Assmann 1990), started from an oral society which was originally closed, which attached importance to the spoken word, and in which social roles were relatively fixed. He opposed this idealized form of community to Western literate societies which, having transformed oral language into a visible literate code, depreciate the spoken word, compelling us at the same time to cope with different social roles. In this context a particularly negative influence is attributed to the invention of printing. Whereas Jack Goody and Ian Watt (1962 ) see the transition from orality to literacy more in the sense of a profit-and-loss account, Walter S. Ong (1982 ) underlines the positive aspects of literacy and thus suggests to us the positive kind of evaluation McLuhan was only willing to attribute to the New Age of television which, in his view, takes already the place of literacy (Goetsch 1991). In order to show the difference between types of oral societies and thus between different meanings of ‘orality’, we first have to speak of collective memory. Each community has its collective memory in the sense of Mau-

rice Halbwachs (192 5; 1950). Als Aleida and Jan Assmann (1988; cp. Assmann 1992 ) put it, collective memory can be divided into a cultural and a communicative memory. Cultural memory guarantees the identity of a community over time, whereas communicative memory — comprising in general a timespan of up to three generations — defines the identity of smaller subgroups of variable composition. Irrespective of whether the community in question is literate or oral, both kinds of memory rely to a very large extent on those complex signs we usually call texts. So both oral and literate communities have at their disposal different genres of in part considerable complexity. In the case of cultural memory, these texts tend to be large and often solemn, serious, sometimes boring (Köngäs Maranda 1972 ). Very often their tradition is conveyed to specialists in the matter who perform them on particular occasions and under special ritual circumstances (festivals) needing a large public. They may as well be communicated and interpreted as canonical texts in institutions existing for the purpose of initiating the young into full adult membership. Communicative memory accompanies everyday life. Its genres tend to be less solemn and less artful. There may be different kinds of narrative genres next to jokes, riddles and gossip — jokes and gossip creating their identifying potential at the expense of those who happen to be absent. Now it is important to notice that as far as cultural memory is concerned there are at least two types of oral societies. In one type the texts have to be memorized verbatim, in the other what is important is the transmission of the ‘message’. Old India is a well known example for the first type, Old Greece for the other. The existence of these two types has important consequences. Since language change is inevitable, the same text, transmitted ve r b a l ly from one generation to the next for some hundred years, becomes unintelligible to those who are not initiated. At the same time, it has to be explained to those who have to transmit and to interpret it. This is why, in India, oral commentaries — themselves transmitted orally from one generation to the next — as well as the grammar of Panini, emerged alongside the oral tradition of the Vedic texts, and why the recitation of these texts, of necessity unintelligible to the public at large, eventually acquired a purely ritual function.

1.  Orality and Literacy

As to the other type of oral society where it is the s a m e m e s s a ge that is to be transmitted, the text changes from performance to performance (Paul Zumthor [1987] calls this “la mouvance du texte”) and, above all, it tends to be constantly adapted to the problems and to the needs of the present — a phenomenon well described in the seminal contribution written by Goody & Watt (1962 ). In Old Greece grammatical tradition began only with the edition of the w r i t t e n Homeric texts — i. e. texts in a different dialect from a past epoch — during the Hellenistic Age. The grammar of Dionysios the Thracian (2 nd —1 st century B. C.) — it is a description of eight partes orationis, not to be compared with the work attributed to Pāṇini — took shape in this context. Those who do not see the different meanings and implications of orality in Old Greek and in Old Indian culture tend to infer per analogiam that the grammar of Pāṇini (5 th or 4 th century B. C.) presupposes the basis of written texts (Goody 1987; 1988) — an assumption which proves to be devoid of any material basis (Falk 1990). Another factor which may be connected with major differences between oral cultures is metre. Metre and rhythm are frequently used in the domain of cultural memory. Nevertheless there are differences between metrical systems and metrical prescriptions and restrictions. The more difficult a metre is, the greater is its impact on the content to be communicated. Celtic metres are extremely intricate and thus for instance are apt to protect a text against later modifications (Tranter 1994; Pokorny & Tristram 1992 , 2 11). The metrically bound texts resemble so much the artful, miniaturized products of Celtic craftsmanship, that it is impossible to convey “larger”, for instance epic contents in metrically bound texts. In order to give a simple example: the plan to write the Iliad in limericks would rather not be viable (Raible 1990). As a consequence, in the tradition of Celtic cultural memory those narrative prose genres exist which are generally seen as an offspring of literacy. A similar result may be observed in Iceland, this time due to the extreme semantic difficulties created by the obligatory use of ‘kenningar’ in certain genres. Not only do we find there the prose sagas as a backbone of cultural memory (Jolies 1930, 62 —90), but also the attribution of metrically bound scaldic texts to known authors — another

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phenomenon we would be inclined to attribute to literacy when we think that oral culture is tantamount to oral culture. Under the different conditions of Old Greek oral culture, the concept of authorship did indeed only emerge with written texts (see e. g. Rösler 1980, Nagy 1988, Stein 1990 for Antiquity; cp. Minnis 1984 for the Middle Ages). In a similar way scholars jump to conclusions concerning the interpretation of texts and our commenting on texts. There is no doubt that every social group has to have at its disposal rules governing social coexistence, and mechanisms which allow us to settle conflicts. Thus there must be rules in the form of texts in the collective memory, be it in this case cultural or communicative. A very common means to this end is narrative; narrative texts always contain implicit rules (for positive or negative social behaviour) which may be made explicit for instance by application to analogous cases (Domhardt 1991). In literate societies this feature may evolve into a Case Law system (Raible 1991 c). Another possibility is the proverb — the role of these in an oral society has been described for instance by Jean Paulhan (192 5) — as well as explicit rules or bans. Be the respective society literate or not, all these texts need interpretation, discussion and commentary when they are applied to special cases. So it is not only in the oral culture of Old India that we encounter the activity of commenting on texts, but potentially in all oral societies (for excellent examples see Feldman 1991). Commenting on texts may thus be a very important feature of literate societies (Raible 1983); nevertheless it is by no means restricted to literacy in general. We find the same kind of rash judgements concerning the link postulated between literacy and the evolution of self. The modern conception of individuality is due, we are told, above all to (written) autobiography (Illich & Sanders 1988). Now it is immediately plausible that in writing our biography we select and reject information, creating thus, as did Michel de Montaigne, a highly idiosyncratic and subjective text of ourselves. But an autobiography need not be written, it may be told as well. Here language in general is most important. Between the second and the third year of their life children begin with autobiographical comments (a marvellous example is in Nelson [ed.] 1989). The comments reflect the child’s understanding himself or herself and the surrounding world. In the sense of

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

4

L. S. Vygotsky, self is created with the help of speech. Rendering events of one’s life into an appropriate genre form is a requisite to making such event representations fully amenable to thought (Bruner & Weisser 1991, 140; Bruner & Lucariello 1989; Nelson 1989). The written autobiographical texts of adults are simply particularly elaborate and, above all, fixed instances of this reflective activity.

3.

The medial and the conceptual aspect of ‘orality’ and ‘literacy’

The rash judgements we can find in recent and even in current discussion suggest that we must be more cautious. Not only do we have to differentiate between various kinds of oral and scriptural communities and between different kinds of orality and literacy; what would be appropriate is also a conception which could serve as a theoretical framework for our problems. In this respect it is most important to distinguish between a purely m e d i a l as against a c o n c e p t u a l aspect of orality and literacy (Koch & Oesterreicher 1985, → art. 44). While there is a clearcut medial difference between an orally delivered and a written text, things are more intricate on the conceptual side. In the thirties of the 19 th century, Wilhelm von Humboldt established a distinction between speech as an activity or as a process (implying a subject), and speech as something created and produced, i. e. speech as a product. He called it the difference between enérgeia and érgon. Later on, Ferdinand de Saussure introduced the distinction between language as a system of rules, his langue, and speech activity, his parole. In the third axiom of his Sprachtheorie, Karl Bühler (1934, 48 ff) combines these two aspects into a matrix with four places (figure 1.1).

Lower degree of formalization Higher degree of formalization

Degree of intersubjectivity and planning lower higher SprechSprachwerk handlung (text as a (speech activity, planned parole) product) Sprechakt Sprachgebilde (speech act) (langue)

Fig. 1.1: Karl Bühler’s ‘four place matrix’ (“Vierfelderschema”)

From left to right — corresponding to the distinction of Wilhelm von Humboldt — we find speech under its subjective aspect, then under its intersubjective. This is what Bühler calls “subjektsbezogene Phänomene” as opposed to “subjektsentbundene, intersubjektiv fixierte Phänomene”. From top to bottom of his matrix, Bühler makes a distinction between the material and the formal aspect of language. The first one he calls “lower degree of formalization”, the second one “higher degree of formalization”. (This actually transforms the vertical dimension of his matrix into a scale.) In the intersection between the subjective aspect and the low degree of formalization, we have the term ‘Sprechhandlung’, speech activity (de Saussure’s parole ), in the intersection with the intersubjective aspect (or von Humboldt’s érgon ), we find the term ‘Sprachwerk’, the text as a planned product. In the line corresponding to the formal aspect, that is to say: to the higher degree of formalization, we find the term ‘Sprechakt’ (speech act) in the intersection with the subjective aspect, and ‘Sprachgebilde’ in the fourth field of the matrix, the one corresponding to de Saussure’s langue. The horizontal dimension of Bühler’s matrix corresponds exactly to the c o n c e p t u a l or c o g n i t i ve aspect of orality and literacy: Whereas texts produced in what Bühler would call ‘Sprechhandlungen’ — e. g. smalltalk — lack planning, his ‘Sprachwerke’ are highly elaborate, planned texts addressed to a large and unspecific public. Since there are degrees of planning, it goes without saying that, in contradistinction to the medial aspect of orality and literacy, there cannot be any clearcut distinction on the conceptual level. Reading the text of Bühler with some attention, we see that it is fully compatible with the idea that ‘Sprechhandlung’ and ‘Sprachwerk’ mark the extreme positions on a scale (Raible 1989). Peter Koch and Wulf Oesterreicher (1985; → art. 44) call this scale the one between “Sprache der Nähe” and “Sprache der Distanz”. Since the vertical dimension of the Bühlerian matrix with its lower and higher degree of formalization is already a scale, the whole matrix can actually be seen as a combination of two scales. Some examples will show the consequences of this conception: If somebody reads this article to a listener, beyond any doubt it will be delivered orally. Nevertheless it rests scriptural by its conception because what passes through the oral medium is a highly planned

1.  Orality and Literacy

text. Oral poetry might serve as another example. Although the bard or the rhapsode performing an oral epos may be illiterate, the texts they perform will be much more of a ‘Sprachwerk’ in the Bühlerian sense than a ‘Sprechhandlung’ — because it is planned, premeditated, and conforms to a macrostructural scheme. Conceptually speaking it is scriptural. As has been shown by Michael Reichel (1990), the macrostructure of the Iliad with its typical retardation technique is so planned that even the idea of written composition might suggest itself. We tend to classify something heard or read as chatter, smalltalk, gossip, discussion, as an essay, a sermon, an editorial, a novel, a patent specification, a review, a judgement, a testament, and so on. This simply means that we assign texts heard or read to textual genres. This allows us to take advantage of the vertical scalarity implied by the Bühlerian matrix. The lower degree of formalization concerns t ex t s a s t o ke n s , whereas, on the higher degree of formalization, we are on the s yst e m i c l eve l . Now one of the levels we may insert between the two levels of formalization suggested by Bühler — i. e. the level of text tokens and the systemic level — is exactly the level characterized by t y p e s (text genres) as opposed to t o ke n s . It corresponds to Klaus Heger’s (e. g. 1974, 151) Σ-parole between the levels of parole and langue. This means that to all the genres which have been mentioned there corresponds an approximate position on the c o n c e p t u a l scale which underlies the scale between ‘Sprechhandlung’ and ‘Sprachwerk’. This holds all the more as the ascription of a text to a certain textual genre is tantamount to saying that it represents a certain form of thinking, a certain conceptual attitude or framework (Raible 1988). Thus the genre ‘public lecture’, no matter if it is delivered orally or read afterwards, should at any rate be closer to the pole of the Bühlerian ‘Sprachwerk’ than gossip or chatter, genres which generally are near to the pole called ‘Sprechhandlung’.

4.

The possibilities and consequences of a twofold scalarity in the theoretical framework

These considerations suggest at least five conclusions with respect to changes that may (but

5

need not) be brought about by literacy: 1. Literacy may increase the number of textual genres used in a speech community. There will be neither essays nor editorials, patent specifications or testaments in an oral society (→ 5.3., 5.4., 5.6., 5.7.; → art. 44, 3.1. and 3.2. Koch & Oesterreicher speak of ‘Diskurstraditionen’). 2. In a literate society there may be a greater number of genres in the conceptual dimension extending between ‘Sprechhandlung’ and ‘Sprachwerk’. At the same time, the greater number of textual genres available enlarges the conceptual space, shifting the position of the ‘Sprachwerk’ considerably to the right (→ 5.4., 5.6., 5.7.) Literacy allows for extremely complex texts which have to be read and reread in order to be understood (cp. for examples e. g. Raible 1992, 215 ff). 3. Having introduced an additional level of formalization into the Bühlerian scheme (→ 3.), we are confronted with three scales in the horizontal dimension: if there is a scale on the first level between ‘Sprechhandlung’ and ‘Sprachwerk’, and correspondingly another scale on the level of text types, we have to take into account a scale on the highest, i. e. the systemic level, too (figure 1.2): Degree of intersubjectivity and planning low ↔ high lower degree of Sprech↔ Sprachformalization handlung werk intermediate level of corresponding text degree types (genres) higher degree of Sprech↔ Sprachformalization akt gebilde Fig. 1.2 : Modified and enlarged version of the Bühlerian four place matrix. On the level of the intermediate formalization degree the different genres have to be arranged according to the degree of intersubjectivity and planning they presuppose. At the left hand side would be smalltalk, gossip, and the like; on the right hand side we would encounter for instance the poetry of Pindar, patent specifications or French judgements.

This explains why it is a priori impossible to find, on the level of conceptual orality and scripturality, the same clearcut distinction we necessarily encounter on the

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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level of medial realization. Those who set out to find such a distinction had to admit afterwards that they — very convincingly — had found scales (e. g. Biber 1986), confirming thus indirectly the theoretical achievements of scholars like Bühler (1934) or Koch & Oesterreicher (1985). 4. The augmentation of textual genres and the extension of the conceptual scale by the shift to the right already mentioned automatically means new demands on the systemic side (e. g. Vachek 1939; for examples from the Romance languages see Raible 1992 , 191—2 2 1; → art. 44, 2 .1.— 2.3. and 3.). 5. A conceptual (or cognitive) scale does not only underlie the scales in the above scheme (4.3.). Two further scales may be postulated largely parallel to this conceptual scale, concerning this time not texts, genres and their systemic equivalents, but the social effects of texts — and of other cultural symbols (Cassirer 1977) — according to their positions in the above scheme. The first one is the scale constituted by c o l l e c t i ve m e m o r y with its two poles already mentioned (Assmann 1992 , 55 dislikes the idea of a scale in the case of Old Egypt); the second one concerns the radius of s o c i a l i d e n t i t y which may be created by the corresponding manifestations of cultural symbols and texts. In conjunction with the underlying scale we thus have another triad of scales (figure 1.3): conceptual

conceptual ↔

orality

scripturality

communicative

cultural ↔

memory small radius of social identity



memory large radius of social identity

Fig. 1.3: Two further scales parallel to the one extending between conceptual orality and conceptual scripturality.

Some examples might be appropriate to illustrate the last point. The means contributing to the identity of a group on the large scale may be common habits, common gestures and rituals; a common language, writing system, orthography (→ 5.1.), religion, legal system (→ 5.6.); a ‘holy’ landscape (Mekka,

Mount Rushmore, the Egyptian pyramids, parts of Palestine); the memory of heroes like Roland, El Cid, William Tell, Joan of Arc, Abraham Lincoln, the founders of religions (→ 5.3. [effects of canonical texts]). On the smaller scale, identity is created by smalltalk, gossip, jokes, letters, by a common familiar, local or tribal descendance, a common adolescence, a common service in social institutions, and so on. Both oral and written texts thus play an important part in communicative as well as in cultural memory.

5.

Transitional phenomena

A social community can dispense with literacy, not with orality. Apart from entirely oral cultures, we are thus always confronted with m o r e o r l e s s literate societies. Given the dialectical relationship between orality and literacy, this means that in different social communities we will find different forms and different assessments of literacy and orality. Herbert Grundmann (1958) gave an excellent survey for the Middle Ages (cp. Thomas 1989 and Simondon 1982 for Old Greece). In view of the above mentioned fallacies, prudence will thus be advisable concerning our tendency to draw too general conclusions and to transform observations of a maybe highly particular and idiosyncratic nature into general tendencies. Nevertheless some points — mainly concerning alphabetic literacy — deserve to be mentioned and even to be commented upon with some intensity. 5.1. Slowness as a characteristic of ‘invisible hand processes’ — the example of alphabetic writing Neogrammarians made us familiar with the “laws of sound change”. We learn for instance that an unchecked and stressed Latin «a» results in a French «è» (as in pater > père ). Usually such “laws” take into account the starting point and the end of a process, disregarding as often thousands of years of intermediate states. Similar statements in the domain of cultural change brought about by literacy were highlighted at the beginning of this article. As has been shown by the representatives of Mental History, processes in the domain of cultural evolution tend to be just as slow as language change (which is merely another aspect of cultural change). As in language, the general slowness does not exclude the

1.  Orality and Literacy

possibility of phases characterized by accelerated change. A good example is the evolution of Western alphabetic script. Apart from its very beginning — which may have been influenced by Semitic practice — Greek script shows a feature characteristic of early alphabetic writing: it reflects essential aspects of spoken language. Since we hear no pauses between words, scriptura continua is a quite natural outcome. It prevails in Western texts up to the eight century A. D. For reasons not to be explained here, a natural and necessary consequence of scriptio continua is reading aloud (Saenger 1982). At about 12 00 all the achievements of what most of us would call the ‘modern layout’ are present in scholastic texts: spaces between words, punctuation, capitals at the beginning of a new sentence, paragraph indention, chapter headings, short summaries in the margin, footnotes, emphasis by means of different colours and different script, a table of contents, alphabetic registers, and so on (Parkes 1976; 1992 ). The advantage of these aids is enormous: the reader is not lost in an amorphous text. On the contrary he knows at every page of the book where he is. It is only at this time that the general practice of silent reading can begin. Nearly none of the achievements we find in scholastic texts is an exclusive invention of this epoch — we find all of them scattered here and there in earlier texts. It is only their concentrated appearance in one and the same text which is an ‘invention’ of scholasticism (Frank 1994). When we ask for the reasons that might possibly have brought about scholastic layout, we find a general tendency: in the course of their evolution, alphabetic systems depart more and more from the interest of writers; instead, to an increasing degree they serve the needs of readers by the introduction of ideographic elements. This also explains why these phenomena can be observed at the end of the 12 th century: it was not until then that lay literacy developed to any significant extent. We can observe the same interrelation between layout and the potential reading public in Roman legal texts realized in the form of public inscriptions. Since they were, of necessity, intended for a l l Roman citizens, their form and their legibility anticipates — apart from punctuation — what might seem a scholastic invention by about 12 00 years (Raible 1991 a).

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The consequences of this tendency to serve the interests of the reader by ideographic elements can be seen in all discussions on orthography. Typically, they are dominated by the perspective of elementary-school teachers who would like to reduce — for those learning to write — the difficulties brought about by the tendency under discussion (Raible 1991 a; Maas 1992 ; Strobel-Köhl 1994). It goes without saying that all these achievements (punctuation rules, orthography, layout) increase the intellectual and the practical effort of the writer. Usually the positive side — the facilitation of reading — is not taken into account. Those who would like to “reform” German orthography (which is fairly easy to handle compared e. g. to English or French) wish above all to abolish the initial capitals of nouns. These are the result of a typical ‘invisible hand process’ (Meisenburg 1990) which facilitates reading, the major problem being the interventions made by linguists who formulated inadequate rules at the beginning of the 2 0 th century, complicating the handling and thus obscuring the signification of the feature (→ art. 128). Once an orthography has become established, it belongs to the deepest layers of cultural memory and mentality. Those who would like to reform it should possibly give their sanction to the processes of the invisible hand and to the logic inherent in them instead of trying to impose their will to those who are not willing. 5.2. The invention of printing — a cause or a consequence? Very convincingly at first glance, the invention of the printing press is often seen as a major achievement with vast consequences. McLuhan (1962 ) even made it a pillar of his general thesis. Paul Saenger (1982 ) wrote a significant contribution showing that in many respects the view of McLuhan was erroneous. All the accomplishments in the domain of layout that we might be inclined to attribute to printing had already been made by 12 00 (→ 5.1.). There are no major changes in book production during the 50 years before and after the invention of printing (Eisenstein 1979). The true revolution did not take place in the middle of the 15 th , but at the beginning of the 13 th century. Historians of the Middle Ages know that up to about 12 00 the number of written documents is easily comprehensible → art. 40. With the beginning of the 13 th

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century the number of written texts increases in a way that makes it impossible for the historian to keep more than a very general perspective. To give just one example: in the Archivio dello S tato di S iena there are about 500 documents from the 12 th century, but 16,509 for the 13 th century. In the 14 th century there is only a slight increase. The rate of increase is not constant during the course of the 13 th century. There is an immense acceleration between 12 2 0 and 12 40, whereas the annual output of written texts remains more or less the same later on (Hartmann 1994). The spectacular acceleration in text production coincides historically with major changes in social, commercial and agricultural organization. Thanks to doings and dealings the near-democratic city states of Northern Italy had already a population surplus in these times. This compelled them to organize life and everyday supply very strictly by written statutes, to include the surrounding areas by means of treaties, more and more also by the purchase of real estate. The present-day landscape of Northern Italy is a product of 13 th century agriculture and, to a large extent, of 13 th century scripturality (Keller 1991). In this view Gutenberg’s invention presents itself much more as a necessary consequence, than as an ‘agent of change’ in the domain of literacy. (This holds also for the modern writing servants we call computers.) It goes without saying that printing had consequences, too. One of them is the tendency to standardize orthography, lexis, and grammar (→ art. 44, 4.3.). Another consequence is that, like the computer, it made superfluous certain occupations, at the same time creating new ones. Major preconditions for printing to unfold its true possibilities were a new increase in the potential reading public in conjunction with other factors, among them Italian and French humanism as well as French and German protestantism — the great printers of 16 th century France were in general both humanists and protestants (Catach 1968). If it were only the invention of printing that brought about later Western evolutions, similar consequences should have been observed in China where the same invention had been discovered earlier. 5.3. Cultural memory, the quantity of texts available, and censorship As explained above (→ 5.2 .), the revolution of the 13 th century enormously increased the

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

number of written texts. The medium was Latin at the beginning. On the continent, the 13 th century at the same time marks the true onset of vernacular literacy. Whereas the texts mentioned for the Archivio dello S tato di S iena (→ 5.2 .) were “only” documents, more and more books were published. In order to give one further example: with the help of the bibliography of Cioranescu we can find out that nearly 10,500 book titles were published in France between 1650 and 1750. In about 2 00 different genres they deal with a panoply of subject matters, the most important being religion (whose overall share is 1/3, the production of religious texts ascending until about 1680, thence rapidly descending; cp. Kalverkämper 1985). Among the writers of this epoch there is a first Grand Master, Voltaire (1694—1778), who dominated the field of literature with the 60 odd text genres he mastered. At the same time he was a European institution (“an intellectual superpower in Europe”) popularizing for instance the physics of Newton. He was the true head both of the European Enlightenment and of the famous Grande Encyclopédie (Fontius 1989, xxxiii, xxxvii). The Encyclopédie itself was an enormous challenge at the time: to paper and book production, to book trade, to capital investment (by subscription) — and to censorship. At the same time it was an excellent business. This enormous quantity of printed text, containing in a systematically ordered way the knowledge of the best scholars of the time, was sold in nearly 2 5,000 — very expensive — copies before 1789 (about 11,500 of them in France). The major part of the first edition (1751—1772 ) had already to be produced abroad, mainly in Neuchâtel, then a part of Prussia (cp. Darnton 1979 who exploited the archives of the S ociété typographique de Neuchâtel). The privilège du roi that printers of the 16 th century had asked for in order to protect their exclusive copyright for the titles they sold had imperceptibly turned into a highly efficient censorship in France which allowed both an underground market (Darnton 1982 , 1991) and printers in Switzerland and in the Low Countries to flourish (cp. e. g. Eisenstein 1979). The existence of censorship shows that literacy may develop aspects that are felt to be a ‘threat to the security of the state’, or to other institutions (at that time the Catholic Church had already had its index librorum prohibitorum for centuries). One of the disadvantages of oral cultures is what Roman Jakobson and Pëtr Bogatyrev

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aptly called a “collective censorship” (“Präventivzensur der Gemeinschaft”, 1966 [192 9], 4). Texts the audience dislikes fall into oblivion. In literate cultures all written texts can be preserved and rediscovered by future generations, provided the material they are written on subsists. This advantage changes into a serious problem with mass media — this is above all a true consequence of printing. Unless the literate public simply refrains from reading, there are at least three reactions. The first one is already characteristic of Antiquity (in the 1 st century B. C. the famous Alexandrian Library is said to have contained 700,000 volumes or pinakes). Since it may be somewhat tiresome to read entire texts, shorter (and cheaper) versions are produced. They are called epitomē, summarium, argumentum or hypóthesis (of a play), later on catechismus, breviarium, compendium. Other genres make a new text out of parts of others. The genres flourishing already in Antiquity are called florilegium, anthología, eklogía, miscellanea, stromatéus ‘patchwork’, digests, pandektá, later on, in scholasticism, compilatio and encyclopaedia. Alongside with these reductive forms new genres created in a philological attitude of mind come into being: for instance the lexicon and the grammar. This tendency to create new texts and text genres by abbreviating or compiling other ones has not changed in more recent times. About 2 00 French titles published in the period from 1650 to 1750 belong e. g. to the genre abrégé. Modern forms are Valentino Bompiani’s Dizionario delle Opere di tutti i Tempi e di tutte le Letterature and its different successors, as well as the primer, the introduction, the textbook, Reader’s Digest, and so on. With the terms ‘philology’ and ‘philologist’ we come to the second reaction to the overwhelming production of written texts in literate societies. These societies tend to create institutions they call elementary school, college, Gymnasium, lycée, university, Grande École, Academy of Science, and the like. The graduates leaving such institutions (which may be combined with religious instruction) are employed in the public and in the private economic sector. Since the matters that could be taken into account during such processes of education are potentially unlimited, choices have to be made. In this domain every system of education has the function of censorship — only some texts (literary and other) shall belong to the curriculum, the Lehrplan, the trivium and quadrivium, or simply to the

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canon in effect, the majority being discarded. We find this kind of institutional censorship in all kinds of societies (Assmann & Assmann 1987). Apart from imparting knowledge which could (but need not necessarily) be of practical importance, education functions as a kind of initiation ritual which transforms youth into fully-fledged members of society. Another function — and not the least — is that thereby the young participate in what is the collective memory of the community with its power of social identification. Making texts as attractive as possible is a third possible answer to unwilling potential readers. Authors and printers improve text layout, they illustrate their products. They try new techniques, change genres and ‘invent’ new ones; they introduce more — and more natural — dialogue parts into their texts (and dialect with dialogue — cp. Goetsch 1987), they discover new topics (historians of literature distinguish them in retrospect with the label of a new - ism : realism, naturalism, symbolism, futurism, being well known examples). While in literature — thanks to mass media — there is an increasing tendency to internationalize such achievements (in Spanish we have the term literatura universal with its very special meaning), scientific writing seems to foster national traditions. French scientists knew (Lepenies 1976, 131 ff) and know that they write in a way different from their German colleagues; comprehensible scientific writing has a different standing in anglophone science and in the corresponding Germanspeaking tradition (→ 5.7. [communicative writing]). The most radical changes in writing can be observed in the history of mass media, i. e. in journalistic writing and in the corresponding genres of television. Journalists know best what they can expect of their readers. Reading public means circulation and money. Journalists thus use every trick in the book to persuade the potential public by the layout of the First Page, by headers, leads, photographs and cartoons, the amount of information to be conveyed being as drastically reduced as the value the message has two days later. 5.4. The two dimensions of written texts as a starting point for further achievements The evolution of text layout (→ 5.1., 5.3.) has an aspect which merits some more attention. Spoken texts are one-dimensional. Utter-

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ances, words, sounds cannot but follow one another. One of the great advantages of written texts is the two-dimensional nature of the page. Layout makes use of the respective possibilities in marking chapters, paragraphs, and so on. There is one further possibility which appears most clearly in mathematics. When in 12 02 Leonardo da Pisa wrote his liber abaci, he relied on an Arabic original. Problems we would formulate in a few lines extend over one or more pages of normal Latin text. Mathematicians of the 13 th century are not yet familiar with the system of notation their successors use today. This system only developed in a slow process between the 13 th and the 17 th century. Most of the symbols are the outcome of an intermediate stage which would not have been possible without alphabetic literacy — phenomena of the same kind can be observed in India (e. g. Brahmagupta) and in Alexandrian mathematics (Diophantos): this is the stage of abbreviation. To give some simple examples: abbreviation leads not only to most familiar signs like & ( et ), but also to the plus and minus (+, —), the sign for the square root (√4x 2 ), and so on. For Leonardo da Pisa the unknown is still res or radix, the square of the unknown is termed census, the name of its third power is cubus. Nearly three centuries later, with Luca Pacioli (1494), we find the respective abbreviations co. (for cosa, ‘thing’), ce., cu. (4x 3 is written cu. 4). It was Descartes, at the beginning of the 17 th century, who introduced the modern conventions (x 0 for absolute numbers, x 1 , x 2 , x 3 , and so on for the powers of the unknown — cp. e. g. Tropfke 1921). Today’s system of mathematical notation was indeed shaped to a large extent by the great mathematicians of the 17 th century. It facilitated the highly momentous discoveries of this century: analytic geometry and calculus, resulting in a new ideographic system. Mathematical ideograms, consequently exploiting the two dimensions of the page, are accessible to simultaneous rather than to linear perception — provided one knows the system. This enormous progress made mathematics the most important complementary science to natural sciences, contributing in a decisive way to their role in modern science and technology. The two dimensions of the written page have been exploited in other ways, for instance in the tables, matrices and graphs we find in our texts. They are the result of a long

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process, too. A table (i. e. a particular instance of a two-dimensional matrix) is not made for linear perception, but for simultaneous, global reading. Precise information may be found and interpreted in accordance with its relative position in a well ordered whole. Contemporaries who are professional readers will be familiar with the tendency to take advantage of the ideographic elements that tend to develop in the orthographies of alphabetic writing systems, of good page layout and simultaneously accessible information, in order to overcome the tiresome process of linear reading which proves to be too costly in terms of time (Richaudeau 1969; Günther 1988). Other — more indirect — consequences of the two-dimensional page layout (for instance a decisive change in the conception and in the art of memory — cp. e. g. Yates (1966) — or the idea to create a universal language) can only be mentioned (cp. for this paragraph Raible 1991 b, 1993 a). 5.5. The written text as a metaphor The Presocratics knew that we have to use visible models in order to understand things we cannot see (cp. Anaxagoras, fragment 2 1a Diels-Kranz). The model Leucippus and Democritus used for their atomistic doctrine was the Greek alphabet. Matter, they said, is composed of invisible atoms and void space between them. The diversity and the variety of the visible world is due to the fact that atoms are differently shaped: like an A differs in shape from a N; that their order may be different: AN is different from NA; and that their relative position in space may differ: a rotation of 90° makes a N out of a Z (cp. Aristotle, Metaphysics A 4, 985 b 15 ff). The idea behind this conception is the reduction of immense varieties to a restricted set of elements (the 2 0 odd letters of the Greek alphabet) we can observe in written texts. Models of thinking leave deep imprints in the history of thought and science. When they are used as a model, the works of the clock lead for instance to mechanistic explanations of systems (with God as the great watchmaker and the Prime Mover), whereas for example the model of networks favours the idea of dynamic systems admitting parallel instead of linear processing. Now one of the most powerful and effective models of thinking in Western thought was the book. Hans Blumenberg (1981), a German philosopher, devoted an entire book to this topic. It is

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perhaps the most important publication on the consequences of literacy (although it has escaped the attention of most scholars in the domain). The idea of envisaging the world as a book originated in Jewish and Christian Antiquity. Nevertheless the idea of the legible world became truly productive only with scholasticism, i. e. at the moment when for the first time books had the layout (and the legibility) familiar to modern readers. The idea of the two books of God — the Scriptures and the world (“the book of nature”) — dominated thinking for centuries. At the beginning the book of the world, fostering edification, can be read by illiterates, too. It dictates “true philosophy” to its reader. But, more and more, special knowledge is required in order to read it. Discrepancies between the two books are noticed and commented upon. In the Criticón of Baltasar Gracián (1601—1658) we need already a descifrador in order to understand a human world which is written in cipher, and the result of our lecture will be desengaño. When the new ideographic language of mathematics becomes fully available in the first decades of the 17 th century, Galileo Galilei tells us that the book of nature is written in cipher, too, and that those who intend to read it have to master the language of mathematics. He thus announces in a prophetic manner the definitive separation of humanities from natural sciences so characteristic of modern times. The point in this evolution is that mathematics itself — which brought about these results — does not belong to the natural sciences. In the Platonic sense it is a pure science of ideas. Although by the 17 th century at the latest we are told that in order to decipher nature we need to know a new language, there will be one further offshoot of the central metaphor which likens nature to a text. It is even the most important for modern times since it concerns molecular biology. In the 2 2 nd (and last) chapter of his book Blumenberg describes the process that resulted in the deciphering of the genetic code. It began with the discovery of nucleic acid by Friedrich Miescher in 1869. In 1893, just before his death, he put forward the idea that the relation holding between the letters of our alphabet and the enormous number of words their combination results in could explain the relationship between the information contained in the nuclei of our cells and the variety of life forms (“... daß aller Reichtum und alle Mannigfaltigkeit erblicher Übertragungen

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ebenso gut darin ihren Ausdruck finden können, als die Worte und Begriffe aller Sprachen in den 2 4 bis 30 Buchstaben des Alphabets”). It was not until in 1943 that the same idea was put forward again — this time by the Austrian physicist Erwin Schrödinger — in a series of conferences given in Dublin under the heading “What is life?”. He suggested a genetic alphabet similar to Morse. Mutations would be due to mistakes in the process of copying and reading the code. When Oswald T. Avery, one year later, published the discovery of what today would have been called the succesful cloning of bacteria, one of his rare readers, Erwin Chargaff, had at once the idea of a “grammar of biology”. Both Miescher and Schrödinger were confirmed in 1953 by the discovery of Francis Crick and James Watson who showed that the long strands of deoxyribonucleic acid (DNA, Schrödingers punched Morse tapes) had the structure of a double helix, and by the series of momentous discoveries that followed this breakthrough. The genetic code underlying all forms of life has exactly the same ‘double articulation’ characteristic of human language: corresponding to the sounds or phonemes of our languages there is a “genetic alphabet” consisting of four nucleotides or “letters”, a triplet of letters forming a genetic “word” or codon. Homonymy, rare in our languages, is frequent in the domain of genetics since most of the 64 possible three letter words correspond to (“mean”) one of the 2 0 odd amino acids which are the elementary constituents of all forms of life. The metaphor of language in the form of an alphabetic writing system is omnipresent in molecular biology since 1953 (cp. Raible 1993 b). 5.6. Tendencies in legal systems. Some social and institutional consequences of literacy Literacy may — but need not — lead to institutions and to institutional changes. Jan Assmann (e. g. 1983, 1992 ) described them for Old Egypt, others have done it for Mesopotamia (→ art. 35). As to more recent times, some of the social consequences of literacy can be shown in areas where a legal system relying on written texts clashes with oral common law. This was for instance the case in the Middle Ages. Lots of charters that have been left to us — many of them belonging to the first texts written in vernacular languages — document lawsuits concerning real estate

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affairs. Somebody had made a testament or a gift in favour of the Church. The — illiterate — plaintiffs usually start from the assumption that, in accordance with customary right, the legal heir should be the family or the clan. Since the defendant is able to produce written legal titles, the suit is hopeless for the plaintiffs. To an illiterate plaintiff familiar with oral common law, a written provision coming into validity after the death of the party who made it (as testaments are), is simply incomprehensible (cp. Clanchy 1993 for England). Still more recent observations of this kind concern 17 th and 18 th century Hungary. Here a usually illiterate population clashed with an administration using not only script, but Latin into the bargain. Since neither registers of birth, marriage and death, nor land registers were kept, personal evidence before the court was most important. The existing records of the lawsuits show us that nobody knew in which year she or he was born. The date of birth and the importance of people’s ages seem to be one possible outcome of institutional literacy. At any rate illiterate communities fix the age of people in accordance with the social functions they are able to fulfill. The people testifying in the Hungarian suits have the age appropriate to the event to be witnessed. Thus in two different records the same witness can grow ten years younger or older within a fortnight. Another observation to be made in this context concerns communicative and cultural memory in conjunction with the corresponding social radius (→ 2 .). The records show that the memory of a single party or a small group of persons, for instance a family, does not exceed 70 years. As soon as events concern a larger community, for instance a whole village, a fairly reliable memory going far back in time (admittedly without dates) may be kept alive (Tóth 1991). Apart from common law — which for example was still valid in northern France in the 17 th century — Western civilizations know two major legal systems: Case Law and the systems which have adopted so called Roman Law. In both systems all charges, petitions, judgements, injunctions, and so on are in written form. (Modern) Roman Law requires written laws, bans, prescriptions, stipulations, and the like (nulla poena sine lege), whereas Case Law generally deduces the rules leading to a particular judgement from the judgements passed on analogous former cases. B o t h systems have to strive against vast

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quantities of written texts — these texts being in one case the judgements pronounced, in the other the law texts which by their sheer quantity (→ 5.3.) tend to obscure the principles of justness (Raible 1991 c, 441 f). 5.7. Cognitive demands and consequences It has already been explained that the scale between conceptual orality and scripturality is essentially a cognitive scale and that textual genres — which may be arranged on such a scale — mean cognitive demands which as often call for special knowledge (→ above 3., 4.; this holds also for the genres of oral societies). Every genre automatically means a special patterning and a selection of possible information because information is by definition a ‘reduction of possibilities’. Western institutions initiating the young have to spend a good deal of their time teaching pupils and students how to write texts and how to excel in certain textual genres, these genres being — like essay, panegyric speech, address to the jury, or aphorism — at the same time forms of thinking. French, German, or Italian judgements with their higly ritualized text forms demand not only an obligatory legal knowledge, but also an intensive and thorough training with the aid of specialized textbooks (cp. Krefeld 1985). The same thing holds for articles in certain reviews, for letters, applications, requests, but also for essays, short stories or novels. “Writing can be intellectually very demanding, requiring attention to both rhetorical and substantive issues” (Scardamalia & Bereiter 1985, 327). As has been said above (→ 2 .), speech has an important role in the development of self. Since written texts allow us to exteriorize and to neatly elaborate problems, and since the appropriate abilities have to be acquired, the writing of texts has important ontogenetic aspects (cp. e. g. Scinto 1986 or Ferreiro 1985 for elementary writing; → art. 98). Specialists generally distinguish several levels to be acquired one after the other. The level of “communicative writing” shows what is at issue: the writer should be able to anticipate the difficulties potential readers might have with his text (Jechle 1992 ). At the same time the different drafts preceeding the final version allow us to retrace the intellectual steps an author made in producing his text (cp. e. g. Grésillon 1988, the contributions in Hay 1989, and the so called critique génétique). At least those who practise scientific writing will be familiar with an effect called “epi-

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stemic writing” in the school of Jean Piaget: after having written down, i. e. exteriorized, a text on a certain topic in an often lengthy process, the subject matter tends to be much clearer to the author than it was before. He may have the feeling that he “knows more” than before, although he need not have used exterior knowledge (Eigler et al. 1990). This is one other reason why undergraduates are compelled for their own sake to write papers, master’s and doctoral theses. The exteriorized text — something slowly and consciously produced and revised several times — among other factors may increase the general effect speech has in the construction of self. In one of his important contributions Ivan Illich (1991) pointed out that literacy creates a mentality (he speaks of a “symbolic fallout form”) which moulds the literate as well as the illiterate members of a community. With respect to the illiterates he speaks of “lay literacy” — his perspective is a certain kind of Western mentality developing since the Middle Ages. A modern example will show what is meant: a father goes for a walk with his four-year-old son. Somewhere they see a dog and a cat and the father asks “what do a dog and a cat make?” in order to hear “two animals”. In this way he is trainig hierarchies of notions with an illiterate child. Children have no difficulty at all with this kind of game. The same holds for the elementary set theory underlying such games. At this age children will have no problems when they are asked to arrange objects according to certain features (form, colour, number). Curiously enough literate adults m ay have difficulties with elementary set theory. Some time ago it was introduced in elementary classes in Germany. It had to be abolished very soon because most of the parents — who were not acquainted with this subject — made fools of themselves. In 1930/31 A. R. Luria carried out field studies with illiterate adults in Kasachastan and Usbekistan. They were asked for example which one of four objects — for instance a saw, a hatchet, a hammer and a piece of wood — did not belong to the others. Western psychologists dislike the log among three tools (Luria 1976, 55 ff). Scribner & Cole (1981) made similar tests with — literate — Vai in Liberia. Neither the peasants of Kasachstan and Usbekistan nor the Vai people were upset by the piece of wood (or its equivalent in other tests) — on the contrary: it made sense because the tools presuppose an object to

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work on. To a large extent the mental training one needs to answer the questions psychologists like to ask (witness the famous IQ-tests) does not presuppose literate candidates, although the questions themselves are products of literacy. The same thing holds for the word association tests psychologists have been administering since the beginning of the 2 0 th century. They presuppose three levels of intellectual evolution which seem to be a side effect of literate education, too (Raible 1981). Literacy means demands on the intellect, but intellectual evolution might to a large extent do without reading and writing since many intellectual faculties are really indirect or side effects of literacy (Scribner & Cole 1981). 5.8. The dialectics of literacy It has been said that dialectical notions presuppose and define one another (→ 2 .). There are not only different kinds of oral and literate cultures, but also different degrees of literacy and orality, every change in literacy changing at the same time the role and the assessment of orality. Since literacy is in competition with other media characterized by an indirect, mediated and unidirectional communication, the same holds for the relation between television resp. broadcasting and the print media. No doubt the abundancy of ‘shallow’ broadcast, televised and journalistic information may give a new value to the ‘deeper’ information a book may convey; no doubt also the abundancy of mediated information in general may give a new value to direct (and per definitionem bidirectional) communication in face-to-face situations. The impression a good lecture or a dialogue makes on the participants may be much stronger than the long time effect conveyed by a good editorial, or even a good book: being s o c i a l experiences they concern communicative, sometimes even cultural memory, not only the individual one. One possible effect of literacy was that the scale between conceptual orality and scripturality is enlarged, the pole of conceptual scripturality being “shifted to the right” in the above schema (→ 4.2 ., 4.3.). This may not only be felt as progress — at the same time more and more complex and planned texts may be a disadvantage for comprehension, they may even be felt as a danger: the difference between a “normal” speech and the artful speech delivered by a sophist orator,

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for example, was clearly perceptible. Even in Antiquity this had led, among other things, to Plato’s critique of literacy or to Alkidamas’ critique of the sophists (Kullmann 1990; Friemann 1990; Usener 1994). Just as Culture may cause a new desire for Nature, Literacy makes us long for the (supposed) simplicity of Orality (→ 2 ., e. g. McLuhan 1962 ), making us call out “write the way you speak!” We have only to look at the transcripts of authentic spoken language to see that there is not the slightest chance of this slogan’s being translated into action. The slogan allows us instead to observe the dialectics of literacy for a last time. Once a society has become literate, it can never return to ‘authentic’ orality. Instead orality will be created a r t i f i c i a l ly with the means of literacy. A good example is ex improviso speech. The theoreticians of rhetoric — Aristotle, Cicero, Quintilian, modern representatives — agree on the subject: the more speech is to seem ex improviso, the more it has to be planned (Bader 1994). The same holds for the re-oralization of literature, e. g. the skaz fostered by the Russian Formalist School. Thus ex improviso speech presupposes literacy not only in the dialectical sense, but also on the level of planning, Paradoxically, a good ex improviso speech is the incarnation of a planned speech — just as 17 th century authors conceive of nature — in literature and in the fine arts — as of “the negation of the negation of nature”.

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Multiform contexts, multicausal and multiform evolution processes

Both powder and printing were invented in China as well as in Europe. They had fairly different effects in the West and in the East. By the 1850s nearly universal literacy was reported among the Cree Indians in a syllabic script. It had been invented for this language ten years beforehand by a Methodist minister and matched the communicative needs of a nomadic community with a scattered settlement pattern. It was used for personal communications (letters, notes), diaries, journals and records of both family and business affairs. The texts were in prose, but no literature arose in the strict sense (Bennett & Berry 1991). An analogous syllabic script is used by the Vai in Liberia for the same purposes (Scribner & Cole 1981). Why do the same inventions or achieve-

ments lead to rather different results? Why did the invention of paper money — discovered by Italian merchants of the 13 th century as well as in 11 th century China — have so totally different consequences in the East and in the West where it became a most important root of capitalism? Why did (written) Case Law originate in Great Britain whereas most European countries patterned their laws on the Roman system? One answer is that the same achievements are equivalent only in an identical social, economic, institutional, and cultural context. Like Vai, Cree Indians needed script for their communicative, not for their cultural memory (→ 4.5., 2 .), whereas the great monotheistic religions of Europe and the Near East are typical book religions, a most important part of cultural memory having allegedly been revealed in the form of a written text (→ 5.5. for consequences). Whereas the great reformer Wang An Shi tried to impose paper money on an unwilling Chinese population (Ronan 1978), European paper money — in the form of cheques and letters of credit — was the quite natural outcome of an ever increasing money and stock exchange during the permanent fairs which took place in the cities of Champagne between 1150 and 12 50. Beyond doubt there is an immense creative and changing p o t e n t i a l in literacy — but it has to meet the appropriate (e. g. institutional) conditions. There are many factors contributing to social and cultural change, a factor of major importance being what an education system or a religion make out of literacy (Scribner & Cole 1981; Street 1984). One thing should be clear: Culture — be it literate or not — is a permanent process. All cultural transition processes concern mentality, and all processes impinging on mentality are extremely slow. If we accelerate them artificially, for example by introducing Western civilization everywhere, setbacks are to expected. Currently they are to be observed all over the world.

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Wolfgang Raible, Freiburg (Deutschland)

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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2. 1. 2. 3. 4.

5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

1.

Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation Sprachliches Handeln und Kommunikation Mündliche Vertextung Schrift: Verdauerung II Strukturale Konsequenzen der Verschriftlichung von Kommunikation für das sprachliche Handeln Die Verdinglichung des Textes und ihre kommunikativen Folgen Medienmanipulation Die Transformation des Sprechers zum Autor und ihre soziologischen Konsequenzen Die Transformation des Hörers zum Leser und ihre soziologischen Konsequenzen Schriftliche Kommunikation und die Entwicklung wissenschaftlichen Wissens Schriftlichkeit und das gesellschaftliche Gesamtwissen Schriftliche Kommunikation und ihre Weiterentwicklung Literatur

Sprachliches Handeln und Kommunikation

Schrift ist (historisch wie systematisch) Mittel zur Verdauerung des in sich flüchtigen sprachlichen Grundgeschehens, der sprachlichen Handlung. Die sprachliche Handlung ist ein — zentraler — Subtyp der kommunikativen Handlung; diese ist ein Subtyp der interaktiven Handlung. Als Handlung ist sie eine spezifisch menschliche Form von Tätigkeit. Die sprachliche Handlung hat zwei für sie charakteristische Aktanten, S, den Sprecher, und H, den Hörer, und eine ihr eigene Situation, die Sprechsituation. Die Flüchtigkeit der sprachlichen Handlung ist die Bedingung der Möglichkeit für ihre primäre Effizienz. Durch die sprachliche Handlung greift S in die Situation von H ein. Die Eingriffe beziehen sich auf Hs weitere Handlungen oder ihre Unterlassungen und/oder auf Hs Wissen.

2.

Mündliche Vertextung

In einigen Fällen tangiert die Flüchtigkeit jedoch die Effizienz der sprachlichen Handlung. Das kommunikative Verfahren verkehrt sich dadurch in sein Gegenteil bzw. wird wirkungslos. Dies betrifft vor allem den Bereich der Wissensübertragung. Ein Großteil des Wissens ist seinem Wesen nach auf Kontinuität angelegt. Die Transfor-

mation des mental verarbeiteten partikularen Erlebens bietet dafür eine elementare Grundlage. Die Wissensakquisition löst den Handelnden aus der Unmittelbarkeit der jeweiligen Situation. Dies gilt für selbstbewegungsfähige Systeme insgesamt; es gilt in quantitativ umfänglicher Weise für den Menschen als ein solches System, das mehrfach qualitativ umschlägt und eine Reihe jeweils neuer Stufen der Wissensstrukturierung mit neuen Funktionen des Wissens für das System konstituiert. Die Sprache ist mit diesen Prozessen auf das engste verbunden, indem sie in ihrer Entwicklung einerseits davon abhängt, andererseits wesentliches Medium und so Voraussetzung für die qualitativen Umschläge ist. (Zur ontogenetischen Entwicklung und ihrer Differenz gegenüber den höchstorganisierten sonstigen Lebewesen s. Wygotski (1934) und A. N. Leontjew (1973); zur Gattungsgeschichte der Entwicklung des Wissens s. Hegel 1807 und seine Enzyklopädie.) Die Überwindung der Flüchtigkeit der einzelnen Sprechhandlungen geschieht in der gattungsgeschichtlichen Herausbildung der sprachlichen Handlungskategorie „Text„. Sie bildet das Mittel par excellence für die Ermöglichung von kommunikativ-sprachlicher Überlieferung. (Semiotisch entspricht dem das Denkmal in seinen verschiedenen Formen.) Wesentlich für den Text in diesem Sinn ist eine Strukturveränderung der sprachlichen Mittel, die sich insbesondere in der Herausbildung neuer Formen manifestiert. Diese haben die Funktion, durch die Aktualisierung besonderer Gedächtnisfähigkeiten Tradition zu bewerkstelligen und so die Überwindung der Flüchtigkeit der unmittelbaren, situativ eingebundenen Sprechhandlung über deren einfache Re-Instantiierung hinaus zu garantieren. Diese Prozesse sollen ‘Vertextung’ heißen. Ein Heraustreten aus der Mündlichkeit ist dafür nicht erforderlich, weil die Fälle von Vertextung mit Blick auf die Gesamtheit der sprachlichen Handlungen einer Gruppe als selten zu qualifizieren sind. Zudem wird der Erfolg der Vertextung durch vielfältige sonstige begleitende und stützende Maßnahmen wie den Ritus oder den Situs erleichtert. Diese Verfahren der Vertextung sind in sich noch keine völlige Herauslösung aus der Sprechsituation. Diese geschieht hier vielmehr lediglich tendenziell, in der Eröffnung einer Möglichkeit dazu, die sogleich durch erhebliche Stützmaßnahmen wieder zurückgenommen

2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation

wird, indem gerade die situationellen Elemente verstärkt werden. Die Dauerhaftigkeit wird durch das Herstellen einer artifiziell repetierten Sprechsituation ermöglicht, deren Artifizialität sich in der Herbeigeführtheit für die Aktanten unmittelbar bemerkbar macht. Gerade darin unterscheidet sie sich von der einfachen Instantiierung einer sprachlichen Handlung aus den Handlungserfordernissen heraus, also aus dem je erneuten Auftreten des Anlasses, eine sprachliche Handlung auszuführen, d. h. das ausgearbeitete Handlungsmuster erneut zu aktualisieren. Die Herbeigeführtheit der Vertextung bedeutet zugleich, daß diese Verdauerung der tradiblen Handlung eine gewußte ist.

3.

Schrift: Verdauerung II

Darüber hinausgehende Verfahren zur Herstellung der Dauerhaftigkeit von sprachlichen Handlungen entstehen demgegenüber auf unterschiedlichen Geneselinien, deren wichtigste eine semiotisch-religiöse und eine ephemerökonomische sind. Erstere liegt weitgehend im Dunkeln (s. aber Art. 17) und wird systematisch je und dann reaktualisiert. Die zweite hingegen ist im einzelnen auf der Grundlage von Dokumenten historisch vergleichsweise gut greifbar und hat sich sytematisch zu einem zentralen Stellenwert hin entwickelt (vgl. im einzelnen Ehlich 1980, 1983; Nissen, Damerow & Englund 1991). Beide führen zur Herausbildung von Schrift. Die zweite erweist sich dabei als problemlösungsaktiv, obwohl ihre Fortschreibung keineswegs als Gerade zu konzeptualisieren ist. Die Verdauerung der flüchtigen sprachlichen Handlung durch Schrift stellt ein zu den Text-Formen prinzipiell konkurrierendes Verfahren dar, das — obwohl es in einer langen Koexistenz mit den Textformen als Formen der Verdauerung stand und aus dieser Koexistenz erst vergleichsweise rezent herausgetreten ist — seine empraktische Einbindung erst allmählich verloren hat. Im Vollzug dieses Lösungsprozesses schlug die bloße Parallelität und Koexistenz der beiden Verdauerungsformen auch konkret zunehmend in eine Konkurrenz um, die sich vornehmlich als Konkurrenz der jeweiligen Trägergruppen äußerte und bis heute äußert. Erst die neuzeitlichen Entwicklungen verschufen — insbesondere durch materielle Innovation (Buchdruck, vgl. Giesecke 1991) — der Schrift die Möglichkeit, die mündliche Tradition trotz aller gegen die

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schriftliche erhobenen ernsthaften und gravierenden Einwände weitgehend abzulösen und die „Traditionen des Sprechens“ (Schlieben-Lange 1983) durch die „Tradition durch Schrift“ zu ersetzen. Die Einbeziehung von Schrift für die Verdauerung von flüchtigem sprachlichen Handeln führt zu einem systematisch anderen Ergebnis als bei der mündlichen. Während die Textform-Verdauerung im wesentlichen durch Situationsstärkung gekennzeichnet ist, bedeutet der Einsatz der Schrift, daß eine p r i n z i p i e l l e Loslösung von der Sprechsituation erfolgt. Die in der Verdauerung durch mündliche Vertextung initiierte Entwicklung kommt damit zu sich selbst. Dies aber bedeutet eine Revolutionierung des sprachlichen Handelns, die (systematisch und historisch) nacheinander alle seine Dimensionen erfaßt: Sie tangiert (a) die sprachliche Handlung selbst; (b) die an ihr beteiligten Aktanten; (c) die Sprechsituation und (d) ihre Umsetzung in unterschiedliche Teilbereiche der sprachlichen Handlungsformen; aber auch (e) den Traditionsprozeß als einen Prozeß zweiter Stufe, (f) die Herausbildung neuer Text-Formen und (g) das Verhältnis von Sprache und Wissen. Im Ergebnis erweist sich dieser Prozeß als einer der wesentlichen Gattungsmechanismen, den die Weiterentwicklung der menschlichen Wissenssysteme ausbildet. In sich trägt er zugleich den Keim zu seiner eigenen Relativierung und Entmächtigung, indem an ihm die Möglichkeit des Übergangs als ZeichenTraduktionsprozeß ersichtlich wird, der — erneut angewandt — zur elektronischen Transposition wird, die als solche besonders die Funktionen schriftlicher Wissenstradierung betrifft und möglicherweise zu einem erneuten qualitativen Sprung Anlaß gibt. Im Ergebnis bedeutet die schriftliche Vertextung die Dissoziierung der in sich homogenen Sprechsituation. Die Sprechsituation, die in der Vertextung ohnehin zerdehnt wird, zerfällt in zwei Bereiche, in denen jeweils einer der Aktanten im Mittelpunkt steht, bis auch diese Beziehung sich verliert. Während in der mündlichen Vertextung über die Situationsstärkung dieser Prozeß überbrückt wird, zerfällt die Sprechsituation als einheitliche in der schriftlichen Kommunikation vollends. Dies wirkt sich besonders hinsichtlich der — durch Kopräsenz der an der Sprechsituation beteiligten Aktanten konstituierten — Gemeinsamkeit sinnlicher Wahrnehmung aus, die dem sprachlichen Handeln und, sofern es die Wissensvermittlung betrifft, auch dieser Un-

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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mittelbarkeit verleiht und sie so notwendig lebensweltlich verankert. Demgegenüber hat die Dissoziierung der Sprechsituation durch den schriftlichen Text zur Folge, daß die sinnliche Zugänglichkeit auf die Materialität der Zeichengestaltung einerseits (Haptik), die bloße Konzentration auf die Visualität andererseits zurückgenommen wird. Bereits dadurch wird der schriftliche Kommunikationsprozeß wesentlich abstrakter als der mündliche; Abstraktion bedeutet hier Zurückführung von Sinnlichkeit durch Konzentration und durch Heraushebung einer Dimension der Wahrnehmungstätigkeit gegenüber anderen und gegenüber ihrer Kombinatorik. A. Assmann (1993) spricht in diesem Zusammenhang von einer Exkarnation des Textes. Dies ist freilich bloß ein Aspekt des Abstraktionsprozesses. Dieser findet seine weitere Auswirkung in der Struktur dessen, was durch die Verschriftung an Sprache selbst geschieht. Die sprachlichen Laute werden — sofern Schrift den Weg hin zur Laut-Fundierung geht — einer sekundären S emiotisierung unterzogen. Die Leichtigkeit, Glätte und entwicklungsbezogene Frühe des Erwerbs dieses Verfahrens in Regionen mit entwickelten Alphabetisierungsstrukturen (Elementarschulsystemen) täuscht nur allzu leicht über den Schwellenwert dieses Abstraktionsverfahrens hinweg. Sprache, eine in sich abstrakte, weil Repräsentationen entwickelnde und unterhaltende Struktur, wird ein weiteres Mal abstrahiert. Dadurch werden die Rekonstruktionsprozesse, die der einzelne Aktant zu leisten hat, (a) länger und (b) aufwendiger. Selbst die erworbene Routine kann diese Grundkennzeichen nicht überwinden und macht sich in der Anstrengung des Schreibens, insbesondere aber des Lesens bemerkbar, die offenbar dauerhaft sind.

4.

Strukturale Konsequenzen der Verschriftlichung von Kommunikation für das sprachliche Handeln

4.1. Allgemeines Während Kommunikation im Medium der Mündlichkeit für den Fall der elementaren sprachlichen Handlung sich als ein prinzipiell synchrones Geschehen darstellt, sind bereits die systematischen Übergangsformen hin zu einer — noch mündlichen — interaktiven (d. h. nicht nur intramentalen) Überlieferung komplexere Kommunikationsformen. Situa-

tionsentbindung durch Dissoziierung der einfachen Sprechsituation bedeutet zugleich die Kombination von in sich Disparatem in einer neuen, komplexeren Einheit. Während etwa im Institut des Boten (vgl. Ehlich 1983) diese Kombinatorik über die mentale mnemotechnische Aktivität des Boten vermittelt ist, liegt der wesentliche Beitrag der Verschriftung darin, daß die sprachliche Handlung selbst durch ihre mediale Transposition in einzelne Momente dissoziiert und insbesondere deren Resultat sowohl gegen seine Produktion wie gegen seine Rezeption isoliert wird. Dies bedeutet, daß sich im verschriftlichten sprachlichen Handeln selbst eine neue Substruktur zur Deutlichkeit entfaltet, die vor allem die Grundlage für eine neue Konzeptualisierung von Sprache bildet. Der logos verliert seinen komplexen Charakter als Einheit von Geschehen, Geschichte und Wort, der dābār (althebräisch für „Wort“ wie für „Sache“) wird in Richtung auf seine sprachlichen Anteile hin vereindeutigt. Alle heutige Konzeptualisierung von Sprache setzt diese Differenzierung immer schon voraus, ist also in einem systematischen Sinn post-skriptoral. Dies macht sich nicht zuletzt in der langen Unfähigkeit der Wissenschaft bemerkbar, Mündlichkeit theoretisch angemessen zu konzeptualisieren (vgl. Ong 1987, Linell 1986). Der Sprachbegriff, der sich — vorwissenschaftlich und wissenschaftlich — auf der Grundlage der so kommunikativ entwickelten Dissoziierung der sprachlichen Handlung und der Vergegenständlichung des Handlungsproduktes ausbilden konnte, neigt also aus seiner inneren Systematik heraus einer Isolierung sowohl gegenüber dem Verstehen wie gegenüber der Erzeugung dieses Produktes zu. Während dies einerseits Sprache als spezifische menschliche Struktur überhaupt erst erkennbar werden läßt, führt es andererseits immer schon dazu, daß diese Erkenntnis wesentliche Aspekte des zu Konzeptualisierenden — und zwar gerade aus systematischen Gründen — vernachlässigt. Damit hat die Einsicht in Funktionen und Strukturen sprachlicher Kommunikation paradoxerweise in diesen selbst nicht nur ihre Voraussetzungen, sondern auch die Bedingungen ihres Scheiterns. Eine Überwindung dieses Dilemmas ist nur durch eine im strengen Sinn gefaßte Reflexion möglich, die eben diese strukturellen Gründe für ihre eigene Problematik systematisch in die Analyse von Sprache und sprachlichem Handeln miteinbezieht.

2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation

4.2. Veränderungen des sprachlichen Handelns durch die Verschriftlichung der Kommunikation Die Dissoziierung des sprachlichen Handelns, das Auseinandertreten seiner verschiedenen Aspekte in seinem Vollzug und die Verselbständigung des Handlungsproduktes gegen seine Produktion und seine Produzenten wie gegen seine Rezeption und seine Rezipienten tangiert und verändert die verschiedenen Aspekte dieses sprachlichen Handelns selbst, und zwar in jeweils unterschiedlicher und für seine verschiedenen Dimensionen je spezifischer Weise. Einige dieser Veränderungen sollen im folgenden thematisiert werden, indem zunächst das sprachliche Handeln selbst prozedural (vgl. Ehlich 1991), illokutiv (vgl. Searle 1969), propositional und hinsichtlich der Formentwicklung betrachtet wird. In den Abschnitten 5 und 6 werden dann mediale Aspekte und ihre Folgen, in den Abschnitten 7 und 8 einige Konsequenzen der durch die schriftliche Kommunikation bedingten Transformationen von Sprecher und Hörer erörtert. Dabei werden besonders die prozeduralen Konsequenzen (4.3.) vergleichsweise ausführlich behandelt, weil sie bisher wenig Aufmerksamkeit erfahren haben. 4.3. Prozedurale Konsequenzen Die sprachlichen Handlungen konkretisieren sich in sehr vielen Fällen in einem Zusammentreten der lediglich analytisch zu scheidenden Akttypen Äußerungsakt, propositionaler Akt und illokutiver Akt. In diese gehen kleinere Handlungseinheiten, die Prozeduren, ein, die zum Teil freilich auch in sich hinreichende Formen des sprachlichen Handelns sein können (selbstsuffiziente Prozeduren). Fünf Typen von Prozeduren sind voneinander zu unterscheiden (vgl. Ehlich 1993); ihnen gehören jeweils spezifische sprachliche Ausdrucksmittel zu, soweit eine Sprachstruktur hier bis zur eigenen Formbildung vorangeschritten ist: expeditive Prozeduren/Lenkfeld; deiktische Prozeduren/Zeigfeld, nennende Prozeduren/Symbolfeld; operative Prozeduren/operatives Feld; malende Prozeduren/ Malfeld. Diese Prozedurentypen und die darauf bezogenen Felder werden von der Verschriftlichung in systematisch jeweils sehr unterschiedlicher Weise betroffen. 4.3.1. Die Eliminierung von Teilen des Lenkfeldes Das Lenkfeld umfaßt insbesondere drei for-

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melle Strukturbereiche, die Interjektionen, den Imperativ und den Vokativ. Imperative und Vokative treten in Kombination mit anderen Prozeduren, insbesondere solchen des Symbolfeldes, auf, Interjektionen gehören dem Lenkfeld und nur ihm genuin zu. Die durch die Verwendung von Lenkfeldausdrükken gekennzeichneten sprachlichen Tätigkeiten, die expeditiven Prozeduren, sind Verfahren zur unmittelbaren Einflußnahme eines Interaktanten innerhalb einer Kommunikationssituation auf die aktionale, verbale und/ oder mentale Aktivität eines anderen. Gerade die Unmittelbarkeit dieser Einflußnahme macht die expeditiven Prozeduren in besonderer Weise durch die Dissoziierung der Sprechsituation und des sprachlichen Handelns durch die Verschriftlichung tangibel. Indem die Voraussetzung der Unmittelbarkeit in der Verschriftlichung eo ipso aufgehoben wird, entfällt die Bedingung der Möglichkeit für die Anwendung expeditiver Prozeduren. Für einen Teil der Lenkfeldausdrücke, insbesondere die Interjektionen, bedeutet dies, daß sie in schriftlicher Kommunikation keine raison d’être mehr haben. (Dies hat innerhalb der schriftzentrierten Linguistik zur Folge, daß ihr sprachlicher Stellenwert selbst in Frage gestellt wurde.) Diese Strategie, das Lenkfeld fallen zu lassen, läßt sich freilich nicht in gleicher Weise auf alle Bereiche der Lenkfeldausdrücke ausdehnen, denn eine wesentliche Teilgruppe der Lenkfeldausdrücke dient der Realisierung von expeditiven Prozeduren, deren Funktion in der Prozessierung des sprachlichen Handelns selbst als einer interaktiven Tätigkeit ( hm, na, usw.) liegt. Durch die Dissoziierung der unmittelbaren Sprechsituation und die neue Zugänglichkeit des Äußerungsproduktes stellen sich die Probleme der interaktiven Prozessierung von sprachlichem Handeln prinzipiell neu. Für die verständigungsbezogenen Teile des Lenkfeldes ist es entsprechend unumgänglich, daß kompensatorische Verfahren gefunden werden, die deren kommunikative Funktion übernehmen. Hier ist der sprachstrukturell wichtigste Innovationsbedarf bei der Herausbildung von Schrift gegeben, ein Innovationsbedarf, der in dem Maß besonders spürbar wird, wie auch die empraktische Einbindung des schriftlichen Textes aufgelöst wird. Auf Grund der Dissoziierung von Sprecher und Hörer und ihrer Transformation zu Autor und Leser gestaltet sich das Verständigungsgeschehen zwischen beiden völlig neu. Verständigung geschieht nicht mehr „on line„. Dies bedeutet verstärkte Antizipation des

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Verstehensprozesses des Lesers als Anforderung an den Autor und Tentativität und Repetitivität des Verstehensprozesses durch den Leser. Der Autor modelliert sich einen „impliziten“ Leser (Iser 1976). Dieses Modell steuert den Explizitheitsgrad der Verbalisierung. Während in der unmittelbaren mündlichen Kommunikation Verständlichkeit unmittelbar hergestellt werden kann, indem verständigungsgefährdete interaktive Passagen direkt bearbeitet werden, entfallen diese Möglichkeiten in zunehmendem Maße im Prozeß der Vertextung. Ist für den mündlichen Text eine sekundäre Empraxie — z. B. im Kultus — und eine Veräußerlichung bzw. Transposition von Teilen des sprachlichen Handelns in semiotische Mittel ein praktisch hinreichendes Gegenmittel, so wird für den aus der Empraxie herausgelösten schriftlichen Text eine textinterne Bearbeitung der Problematik unumgänglich. Eine Fehlmodellierung des Lesers wirkt sich fatal für das Verstehen aus. Diese Problematik verstärkt sich durch den beliebigen Akzeß, den der Text finden kann, und die Vervielfältigung des Lesers zur Lesergruppe. Der Text selbst hat also mit Blick auf angezielte Leser eine mittlere Verständlichkeitsstruktur anzustreben. Die Problemlösungen, die entwickelt werden, beziehen die Spezifik der Schrift in charakteristischer Weise ein. Text in schriftlicher Form ist ein Verstehenspotential, der Leseprozeß ist potentiell rekursiv. Die „on line“-Prozessierung kann entlastet werden, indem das Potential selbst möglichst reichhaltig ausgestaltet wird. Besonders die semiotischen Kennzeichen des Textes werden genutzt, um Verstehenserleichterung zu betreiben. Dies beginnt mit der Wort-Separation im schriftlichen Text (Spatium bzw. z. B. Kleinkeile im Ugaritischen) und setzt sich bis zur komplexen graphischen Gestalt von gedruckten Texten fort. Die graphisch-semiotische Struktur von schriftlichen Texten kann also als systematische Umsetzung von Funktionen der verständigungsbezogenen Lenkfeldausdrücke in das Medium der Schrift verstanden werden. Während die Interjektionen von der Verschriftlichung des sprachlichen Handelns vielleicht am stärksten unter allen Sprachstrukturen tangiert werden, bleiben auch Vokativ und Imperativ davon nicht unberührt, wenn sie auch nicht in gleicher Weise davon betroffen sind. Für beide Bereiche ergibt sich als eigenartige Konsequenz der Verschriftlichung das funktional-kommunikative Paradox einer „indirekten Direktheit„. Dies

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

drückt sich für den Vokativ in der Geschichte der Adressatenartikulation schriftlicher, besonders brieflicher Texte und der Einbindung in schriftspezifische Grußformeln aus. Solchen Vokativen und solchen Formen kommt sozusagen die Funktion zu, jene Unmittelbarkeit der Sprechsituation artifiziell zu evozieren, die durch die Verschriftlichung eo ipso verloren gegangen ist. Gerade im Fall des primär diatopisch motivierten Textes mit nur geringer Adressatenreichweite und wenig differenzierter Adressatenstreuung ist diese Funktion des Vokativs zur Überbrückung des dem Text eigenen Abstands charakteristisch. Eine Geschichte der Entwicklung und des mählichen Sich-Verlierens dieser expeditiven Hilfskonstruktion würde eine mikroskopische Darstellung der prozeduralen Konsequenzen von Verschriftlichung ermöglichen. Hinsichtlich des Imperativs bietet die zur Formel erstarrte Terminologie des wissenschaftlichen Verweiswesens ( s., vgl., l. usw.) ein anderes Beispiel der Probleme der Umsetzung dieser Lenkfeldprozedur in das Medium des Textes. 4.3.2. Veränderungen im Zeigfeld Einigermaßen anders als beim Lenkfeld stellen sich die Konsequenzen der Verschriftlichung für das Zeigfeld dar, obwohl auch hier massive Folgen zu beobachten sind. Die deiktische Prozedur dient der Orientierung der Höreraufmerksamkeit primär unter Bezug auf das Sprecher und Hörer gemeinsam zugängliche Wahrnehmungsfeld. Insofern ist auch die deiktische Prozedur an die Mündlichkeit der unmittelbaren Sprechsituation substantiell gebunden. Bereits bei der kommunikativen Funktionalisierung der Rede wird diese Bindung gelöst, indem neben dem Sprechraum der Rederaum zum Verweisraum wird. Dieser Prozeß der Ablösung verstärkt sich im Falle des Textes und insbesondere des schriftlichen Textes. So, wie die Rede einen eigenen Verweisraum konstituiert, tut es der Text. Anders als im Rederaum bietet sich im Falle des Textraums eine Erleichterung der prozeduralen Transposition, und zwar dadurch, daß der Text gerade als schriftlicher in die haptische und visuelle Dimension der sinnlichen Wahrnehmung umgesetztes sprachliches Handlungsprodukt ist. Die Bezüge der deiktischen Prozedur auf sinnliche Gewißheit in der Fokussierung von Aufmerksamkeit des Adressaten erhält einen neuen Objektbereich. Allerdings ergibt sich ein Problem in der Lokalisierung der Origo: Wel-

2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation

chem Teil der zerdehnten Sprechsituation ist die Origo zuzuordnen, dem des Sprechers/ Schreibers, dem des Hörers/Lesers oder dem aus beiden ablösbaren Text selbst? Die Antworten auf diese Frage sind in der Geschichte der deiktischen Prozeduren vielfältig und keineswegs einheitlich. Eine Rekonstruktion etwa in einer kulturenübergreifenden Geschichte des Briefes fehlt. Die neue Qualität des schriftlichen Textes als potentiellen Verweisobjektes wirkt sich auch so aus, daß — zum Teil in idealisierter Form — dieser zum Verweisobjekt für eine neue Gruppe paradeiktischer Ausdrücke wird, die sich entweder auf das visuelle Objekt in einer idealisierten räumlichen Erstreckung (oben, unten) oder auf die schreibende Herstellung bzw. die lesende Verarbeitung des textuellen Objektes beziehen (vorher, im folgenden). Für diese paradeiktischen Prozeduren wird die jeweilige Schreib- bzw. Lese(Teil-)-Zeile/-Spalte/-Seite bzw. der jeweilige Abschnitt, das jeweilige Kapitel zum OrigoOrt. Die deiktischen Prozeduren werden in einer zweiten Hinsicht für den schriftlichen Text mit einer neuen Funktionalität versehen. Schriftliche Texte enthalten in sich die Möglichkeit zu einer qualitativ neuen Stufe von Komplexität (vgl. 4.4.). Diese erfordert mentale Verarbeitungsverfahren neuer Art. In dichter Verarbeitungsfolge müssen die je erreichten mentalen Verarbeitungsresultate für den weiteren Verarbeitungsprozeß präsent gehalten und neuen Zugriffen zugänglich gemacht werden. Diese Zugriffsmöglichkeiten sind in einer Weise erfordert, die es vermeidet, eine einfache Repetition der bereits durchgeführten Verarbeitungsprozesse zu verlangen. Eine derartige einfache Rekursion würde ja die gleiche mentale Arbeit erfordern, die bereits verbraucht wurde. Um eine Fokussierung der mentalen Verarbeitungsresultate zu ermöglichen, bietet die deiktische Prozedur sich an. Ihr Objekt wird dafür freilich transformiert: nicht der schriftliche Text als sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand, sondern insbesondere dessen propositionale (Teil-)Gehalte werden Verweisobjekt. Verbunden mit Veränderungen im operativen Feld (vgl. 4.3.3.) entstehen neue Verwendungsbereiche deiktischer Ausdrücke. Teilweise ergibt sich so ein ganzer Bereich paraoperativer Verwendungen von Deixeis (vgl. Redder 1990, Rehbein 1993). Deiktische Ausdrücke werden so für die Organisation komplexer schriftlicher Texte funktionalisiert.

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4.3.3. Transformationen und Expansionen des operativen Feldes Die erhebliche Komplexitätserweiterung des sprachlichen Handelns durch die schriftliche Kommunikation verlangt eine Umstrukturierung und Erweiterung derjenigen sprachlichen Prozeduren, die unmittelbar der Prozessierung des sprachlichen Handelns dienen, der operativen Prozeduren. Schriftliche Kommunikation ermöglicht eine Konzentration auf solche ontologischen Aspekte, die in der Verbalisierung von Sachverhalten etwa innerhalb der indoeuropäischen Satzform zwar im Prinzip angelegt, aber doch nur in vergleichsweise geringem Umfang konkret verbalisiert werden. Besonders komplexere Strukturzusammenhänge wie Temporalität oder Kausalität werden standardmäßig in Verbalisierungsprozesse einbezogen. Hierfür bildet sich unter dem Einfluß schriftlicher Kommunikation das System sprachlicher Mittel um. Dieser Prozeß ist — wenn er auch nicht als unilinear zu sehen ist, wie etwa die Umstrukturierung des altgriechischen zum neugriechischen Systems zeigt — an verschiedenen Sprachen (durchaus auch unterschiedlichen Typs) zu beobachten. Die frühere naiv-evolutionistische Interpretation verfehlt zwar die angemessene Konzeptualisierung (siehe zuletzt Betten 1987); gleichwohl bedarf die allgemeine Entwicklungstendenz einer theoretisch angemessenen Darstellung, die die Sprachtransformation durch Schrift systematisch rekonstruiert. An zwei Beispielen des operativen Feldes lassen sich die Veränderungen illustrieren: (a) Die Entfaltung des Ausdrucksmittels Hypotaxe zum Periodenbau. Hypotaxe ist ein Verfahren der Desententialisierung von Sätzen: Ein Satz wird zur Konstituente eines anderen Satzes. Dieses in sich „trickreiche“ sprachliche Verfahren wird — allerdings keineswegs notwendig — durch eigene operative Prozeduren kenntlich gemacht, um so die Verarbeitung des Rezipienten zu vereinfachen. Die Existenz komplexer Hypotaxenmarkierung erleichtert die Mehrfachanwendung des Verfahrens innerhalb des Einzelsatzes. So entstehen komplexe Perioden. Die Verarbeitungskomplexität, die dem Rezipienten zugemutet werden kann, erreicht auf Grund der Verarbeitungsrekursion beim schriftlichen Text eine qualitativ neue Stufe. (b) Eng verbunden mit der Hypotaxenentwicklung ist die Entfaltung des operativen Teilfeldes der „Subjunktionen„. Während in

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frühen Sprachstufen zum Teil eine vergleichsweise kleine und funktional undifferenzierte Zahl von Subjunktionen für die Zwecke der Kommunikation ausreichend war (siehe z. B. Althebräisch eine nota relationis, eine polyfunktionale Konjunktion ki „so; dann, ebenso; vielmehr, sondern, trotzdem; weil, denn; daß; als, da, wann, wenn; selbst wenn, obschon; siehe!, da!“ (Fohrer 1989, 12 2 ), eine zweite dubitative Konjunktion ’im „ob, wenn“), so wächst parallel zur Entfaltung der Schriftlichkeit dieses operative Teilfeld zu einer immer detaillierteren Bezeichnung einzelner Relationen. Dabei werden z. T. Ausdrucksmittel anderer Felder, insbesondere solche des Zeigfeldes ( denn, da, Redder 1990) und des Symbolfeldes ( weil ) und Kombinationen daraus ( trotzdem, Rehbein 1993) operativ funktionalisiert. Während diese Prozesse in verschiedenen Sprachen zu beobachten sind, entwickeln einige speziellere Strategien. Ein Beispiel dafür ist die Entwicklung der Verbalklammer im Deutschen als operatives Strukturierungsmittel (siehe Weinrich 1993, Betten 1987), wobei gerade dessen grammatisch-strukturelle Verfestigung auf die Bedingungen und Möglichkeiten schriftlicher Kommunikation in besonderer Weise bezogen ist. 4.3.4. Expansionsmöglichkeiten des Symbolfeldes Die schriftliche Kommunikation löst nicht nur den Bezug zur Sprechsituation auf. Sie verobjektiviert Sprache auch gegenüber den Speicherungsmöglichkeiten der an ihr Beteiligten. Dieser Aspekt betrifft vor allem den Bereich des Symbolfeldes. Die individuellen Zugriffsmöglichkeiten auf Symbolfeldausdrücke finden in den mnemotechnischen Möglichkeiten der Interaktanten in der mündlichen Kommunikation ihre Grenzen. Eine über diese Kapazitäten hinausgehende Existenz sprachlicher Ausdrücke ist nicht möglich. Durch die Verschriftlichung hingegen wird eine Auslagerung von Ausdrücken jenseits der mnemotechnischen Kapazitäten gegeben. Diese Möglichkeit wird vor allem realisiert in bezug auf die Vervielfältigung der Menge von Symbolfeldausdrücken. Eine noch weitgehend mündlich geprägte Kommunikationsstruktur wie die althebräische umfaßt für einen Kommunikationszeitraum von mehr als 1000 Jahren einen SymbolfeldType-Umfang von ca. 5500 Einheiten. Ein heutiges unspezialisiertes Wörterverzeichnis wie der Duden enthält über 110.000 Einträge,

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

von denen der größte Teil dem Symbolfeld zugehört. Der bisher für keine Sprache erschöpfend erfaßte Gesamtwortschatz einer modernen Sprache dürfte wahrscheinlich mit allen Fachausdrücken ein Vielfaches davon umfassen. Das Symbolfeld unterliegt also einer mit der schriftlichen Kommunikation und ihren Bedürfnissen einhergehenden permanenten Expansion. Diese bedeutet zugleich, daß das Lexikon der Sprache für den Großteil ihrer Sprecher zu einer bloß virtuellen Struktur wird. Kein einzelner Sprecher verfügt konkret über das gesamte Symbolfeld der Sprache, dessen er sich bedient. Lediglich in der Gestalt externalisierter schriftlicher oder nach-schriftlicher Speicherungsmedien ist die Sprache als ganze noch existent. Hier zeigt sich ein weiterer Abstraktionsprozeß, der durch die schriftliche Kommunikation an den Sprechern zur Wirkung kommt. Sprache wird durch die schriftliche Kommunikation für die Interaktanten zu einer virtuellen, von ihnen losgelösten Größe. 4.3.5. Konsequenzen der schriftlichen Kommunikation für das Malfeld Nahezu ohne Transformationsmöglichkeiten in das Medium der Schrift erwiesen sich lange die sprachlichen Prozeduren des Malfeldes. Dieses hat es mit der Kommunikation von emotionalen und situativ-atmosphärischen Aspekten der Kommunikationssituation zu tun. Die Ausdrucksformen für malende Prozeduren nutzen in europäischen Sprachen vor allem paralinguistische Faktoren. Diese erweisen sich als schwer in die Schriftform von Texten überführbar. Die Aufgabe, die es dafür zu bearbeiten galt, ist die Entwicklung von Parallel-Strukturen zu den akustisch-intonatorischen Möglichkeiten innerhalb der haptischen und/oder visuellen Dimension des schriftlichen Textes. Eher als eine solche Umsetzung hat sich historisch und systematisch eine genuine ästhetische Dimension für die Schrift entfaltet, die in der Formqualität der Schriftzeichen ihren Ausgang nahm. Als frühe Äquivalenzen von malenden Prozeduren für den schriftlichen Text sind Schriftumfeldfaktoren wie etwa die Schriftträger monumentaler Texte (Königs-, religiöse Stelen usw.) anzusehen. Erst in der scripto- bzw. typographischen Entfaltung des entwickelten Schriftsystems werden genuine Malfeldmittel für die schriftlichen Texte vorgehalten. Sie bedeuten in den meisten Fällen eine Semiotisierung des Malfeldes.

2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation

4.4. Illokutive Konsequenzen 4.4.1. Grundbestimmungen In der Kategorie der Illokution wird die systematische Zweckhaftigkeit des sprachlichen Handelns erfaßt. Dessen Verdauerung im Text und insbesondere im schriftlichen Text scheint zunächst von lediglich medialer Bedeutung zu sein, also den Zweckcharakter des sprachlichen Handelns nicht zu betreffen. So wurde auch in der Linguistik Schrift lange lediglich als mediales Epiphänomen behandelt (vgl. Coulmas 1981). Dieser Eindruck ist jedoch eine durch die Schriftzentrierung der Linguistik bedingte Verkürzung. Die Herausbildung der Schrift als Verdauerungsform sprachlichen Handelns verdankt sich selbst der Bearbeitung eines Defizits bei der Erfüllung von dessen Zwecken. Diese Verdauerung erweist sich überall dort als notwendig, wo sich sprachliches Handeln nicht in der Unmittelbarkeit seines situs, seiner Situativität erschöpft. Innerhalb der Systematik illokutiver Akte betrifft dies einerseits den Umstand, daß eine Sprechhandlung ausgeführt worden ist, also die Dimension der Vergangenheit. Schriftliche Kommunikation hat hier die Funktion, das Ausgeführtwordensein einer Illokution als solches in einer neuen Gegenwart präsent zu halten. (Dieser Fall ist zu unterscheiden von der Re-Instantiierung desselben illokutiven Typs in einem neuen Token.) Insbesondere dieser Bereich steht historisch am Anfang der bis heute existierenden Schriftsysteme. Die zweite Gruppe von Illokutionen, die in besonderer Weise des Übergriffs über die unmittelbare Sprechsituation bedürfen, haben es mit der Dimension der Zukunft zu tun. Dies betrifft Illokutionen, in deren propositionaler Bedingung es um zukünftige Ereignisse, insbesondere um zukünftige Handlungen von S oder H geht. Schriftliche Kommunikation führt hier zu einer Ausweitung der sprachlichen Handlungsmöglichkeiten. Dies ist exemplarisch am Beispiel der Transformation des illokutiven Typs des „Versprechens“ (vgl. Wonneberger & Hecht 1986) hin zum „Vertrag“ zu illustrieren. Die Schriftform entbindet das Versprechen aus der unmittelbaren Sprechsituation. Sie objektiviert es und erleichtert so die Garantierung durch die Einrichtung einer externalisierten Appellinstanz. Das Erfolgtsein der sprachlichen Handlung wird in der Schriftform so dokumentiert, daß die sprachliche Handlung bis zur Erfüllung der nicht-sprachlichen Handlung jederzeit zu-

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gänglich bleibt. Aus dieser funktionalen Veräußerlichung der Illokution entwickelt sich ein spezialisiertes System von Handlungsträgern zweiter Stufe, ein bis heute expandierender Teilbereich des „Rechts“ mit einem zunehmend erheblichen Bedarf an für diese Zwecke schriftlicher Kommunikation spezialisiertem Personal. 4.4.2. Ephemeridität Anders, als es die heutige Allgegenwärtigkeit schriftlicher Kommunikation nahelegt, sind wesentliche Gründe für ihre Herausbildung in alltäglichen, sozusagen banalen Überlieferungsanlässen zu sehen. Schriftliche Kommunikation beruht zunächst und vor allem auf ephemeren Überlieferungszwecken. Erst in einem langen, konkurrentiellen und für Jahrhunderte unentschiedenen Prozeß wurden mündlich realisierte Zweckbereiche von Überlieferung dem neuen Überlieferungsmittel allmählich subsumiert (s. auch oben Zf. 1). Die Funktionalität schriftlicher Kommunikation erschöpft sich hier — besonders für den dokumentarischen Zweckbereich — also im „Daß“ des Geschehenseins des illokutiven Aktes. Im Zweckbereich der Überwindung von Diatopie ist dieser ephemere Charakter noch weiter verstärkt, indem der Überlieferungszweck auf die mediale Dimension zurückgenommen ist. Solche Funktionen schriftlicher Kommunikation sind ihr bis heute inhärent. Sie haben einen bleibenden systematischen Stellenwert. Dieser Bereich von Funktionalität ist durch ein Minimum von Form gekennzeichnet, die jenseits der Formalität des Überlieferungsmittels Schrift läge. 4.4.3. Typologien Eine systematische Typologie der Funktionen von schriftlicher Kommunikation unter dem illokutiven Gesichtspunkt ist ein Desideratum, das bisher um so weniger angegangen werden konnte, als auch eine überzeugende illokutive Typologie insgesamt noch immer fehlt. Zwar lassen sich relativ leicht Funktionsbereiche additiv versammeln, die dann zu einer „Textsorten“-Aufzählung umgearbeitet werden; doch eignet solchen Aufzählungen, so dringend eine Typologie für zahlreiche linguistische und applikative Zwecke benötigt wäre, sowohl systematisch wie empirisch im allgemeinen ein derartiges Maß an Zufälligkeit, daß sie den an sie zu stellenden Anforderungen kaum genügen können.

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4.5. Propositionale Konsequenzen Zahlreiche sich in der Sprechsituation erfüllende sprachliche Handlungen sind durch ein Gleichgewicht von illokutiver und propositionaler Dimension gekennzeichnet, ja im Fall empraktisch eingebundener sprachlicher Handlungen kann die Verbalisierung propositionaler Elemente geradezu minimiert sein. Die Erfordernisse der Überlieferung haben es hingegen bereits im Fall ihrer mündlichen Bearbeitung im allgemeinen mit erheblichen Propositionsmengen zu tun, die es über die jeweilige Sprechsituation hinaus zu erhalten gilt. Die Herausbildung von Überlieferungsverfahren ist insofern substantiell darauf bezogen, der propositionalen Dimension des sprachlichen Handelns ein Übergewicht gegenüber der illokutiven zukommen zu lassen. Die Entwicklung von Form als wesentlichem Überlieferungsverfahren im Medium der Mündlichkeit entspricht diesem Desiderat nur zum Teil. Die Form vermittelt illokutiven Zweck, Überlieferungszweck und propositionalen Gehalt in jeweils spezifischer Weise. Diejenige Form, für die dies am wenigsten gilt, die Liste, ist zugleich das am geringsten ausgeprägte, das schwächste formale Mittel für den Überlieferungszweck. Erst die aus den ephemeren Überlieferungszwecken resultierende Schriftform löst diesen Zusammenhang und ermöglicht so eine veräußerlichte beliebige Repräsentanz beliebiger propositionaler Gehalte. Damit gewinnt schriftliche Kommunikation eine gegenüber der ihr systematisch und historisch vorausliegenden Form von Kommunikation potentiell neue Qualität. Diese sollte sich so sehr entfalten, daß es schließlich innerhalb der sprachbezogenen Theoriebildung zur völligen Illokutionsvergessenheit kam. Erst die Schrift stellt die Überlieferung für jedwede und beliebige sowie in beliebiger Quantität auftretende Überlieferungsinhalte offen. Damit schafft sie die Voraussetzung für die Herauslösung der propositionalen Dimension aus dem sprachlichen Handeln und stellt so eine transindividuelle künstliche Mentalität zweiter Stufe her. Die propositionalen Gehalte werden in der schriftlichen Kommunikation anschaubar und so verallgemeinerbar. Insofern ist schriftliche Kommunikation notwendige Voraussetzung für eine ganze Gruppe von Wissenschaften, ja für Wissenschaft überhaupt (→ Art. 51).

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

4.6. Die Formentwicklung schriftlicher Tradition gegenüber der mündlichen Die Herausbildung der Schrift als eines eigenen Überlieferungsmediums bedeutet gegenüber den hochentwickelten mündlichen Textformen als Traditionsmedium zunächst und vor allem eine erhebliche Dekomplexivierung. Die Veräußerlichung des zu Überliefernden gegenüber dem Überlieferungsprozeß selbst nimmt der Form ihre substantielle Qualität für den Überlieferungsprozeß. Die Struktur schriftlicher Kommunikation verlangt dem Kommunikationsprozeß also weniger Form ab als die mündliche Vertextung. (Dies geht gut zusammen mit dem ephemeren Charakter der Texte, für die und an denen Schrift sich zunächst entfaltete). Gegenüber der erreichten Strukturkomplexität von Vertextung ist schriftliche Kommunikation also zunächst durch eine strukturelle Armut gekennzeichnet. Diese bildet die Basis und den Ausgangspunkt dafür, daß sich im Medium der Schrift und für es eine neue formale Vielfalt entwickeln konnte und daß schließlich auch die bereits erreichten TextFormen und Strukturen ins Medium der Schriftlichkeit übersetzt werden konnten. Das Ergebnis ist eine scheinbar kommunikationsunabhängige Vielfalt textueller Formen, die bis zur Beliebigkeit hin differenziert, spezialisiert, ja zerfasert sein kann. Die Umsetzung des Überlieferungsprozesses in die Dimension der Visualität bedeutet neben der Medialisierung zugleich seine Semiotisierung. Diese enthält in sich die Möglichkeit der Ästhetisierung, die sich auf alle Dimensionen der schriftlichen Kommunikation beziehen kann. Insbesondere die Schriftsysteme selbst entfalten sich nicht zuletzt nach ästhetischen Gesichtspunkten, wobei dieser Aspekt in den verschiedenen Schriftsystemen unterschiedlich relevant wird. Der schriftliche Kommunikationsprozeß erhält so eine Anschlußmöglichkeit zu anderen semiotischen Systemen — wie denn auch eine — freilich nicht dominant gewordene — Entwicklungslinie aus der (religiös eingebundenen) Ästhetik heraus entfaltet wurde. 4.7. Überlieferungszwecke und Textartenvielfalt 4.7.1. Ephemere Schriftlichkeit Durch das entfaltete Überlieferungsmittel Schrift werden dem sprachlichen Handeln Überlieferungsmöglichkeiten geboten, die weit über die seine Entstehung bestimmende

2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation

hinausgehen. Große Teile sprachlicher Kommunikation werden überlieferungsfähig. Gerade die Ephemeridität macht dabei bleibend einen wesentlichen Teilbereich aus. Der Gattungssektor des Briefes als Textart erhält diese Charakteristik als bleibende Möglichkeit. Extrem gesteigert wird die Ephemeridität im bloßen Merkzettel zum Zwecke der externalisierten Memorierleistung, bei der zudem der Schreiber zugleich zum Adressaten und zukünftigen Leser wird. Hier wird Schrift primär in der Dimension der Diachronie genutzt. Der Formverzicht, der als eine Möglichkeit in der ephemeren Schriftlichkeit angelegt ist, wird hier in besonderer Weise aktualisiert. Wie die Untersuchungen von Häcki-Buhofer (1985) zeigen, spielen derartige Formen der Schriftlichkeit in der Schreibpraxis etwa eines Wirtschaftsunternehmens eine nicht unerhebliche Rolle. Für solche ephemeren Formen schriftlicher Kommunikation ist kennzeichnend, daß die äußeren formalen Strukturen ganz der Schnelligkeit des Notats verpflichtet sind. Davon kann die Schriftgestalt stark tangiert werden. Dadurch, daß der Schreiber zugleich angestrebter Leser sein kann, kann die äußere Form idiosynkratisch werden, indem nicht nur die Individualität der einzelnen Handschrift sich besonders deutlich zur Kenntnis bringt, sondern indem diese — in der Form von individuellen Abbreviaturen u. ä. — bis hin zu einer sekundären Schriftlichkeit modifiziert wird. Das Erfordernis der Schnelligkeit bei der Umsetzung gesprochener oder gar bloß gedachter Sprache in Schrift hat in verschiedenen Epochen der Schriftentwicklung auch zu verallgemeinerten Spezialschriften, von der antiken Tachygraphie (Boge 1973) (insbesondere den vom Cicero-Sekretär M. Tullius Tiro erfundenen notae Tironianae) bis hin zu den modernen Stenographien und Kurzschriften, geführt (→ Art. 144). Derartige Formen von Schriftlichkeit haben im allgemeinen — wenn sie nicht reine individuelle Merkhilfen sind — die Funktion einer Zwischenspeicherung des in seiner Äußerungsgeschwindigkeit nicht beeinflußbaren mündlichen sprachlichen Handelns, z. B. bei Predigten oder Vorträgen (vgl. Hunger 1989, 120 ff). 4.7.2. Signaturen In der Nachantike haben derartige Kürzungen auch einen Eingang in die allgemeinen Schriften, insbesondere im Zusammenhang der Monokondylien (ineinander geschriebenen Subskriptionen von „Namensformen“,

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„Funktionen“ und „Titel(n)“ (Hunger 1989, 12 0) sowie in den Suprapositionen und Kontraktionen christlich-theologischer Namen insbesondere in der byzantinischen Schreibtradition und Ikonographie (Hunger 1989, 12 2 f) gefunden. Diese auf 15 theologisch gewichtige Namen (Iesoys → IC) bzw. Qualifikationen (z. B. theotokos, Gottesgebärerin) sowie ihre Ableitungen beschränkten Kürzel führten zu schriftlichen Gesamtgestalten, die gerade auf Grund ihrer zeitübergreifenden Identität aus dem üblichen Schriftsystem herausfielen und eine neue semiotische, als Gesamtgestalt leicht wiedererkennbare und leicht „lesbare“ Form gewannen, die in einen systematischen Zusammenhang mit individual geprägten sekundären Schriftverwendungen wie Signaturen, Unterschriften oder Logos gehört. 4.7.3. Heilige Texte Die Subsumtion bereits mündlich überlieferter sprachlicher Handlungen unter das Medium der Schriftlichkeit und damit die Integration erreichter Formalität markiert den entgegengesetzten Pol. Insbesondere die Schriftlichkeit der drei sogenannten „Buch“-Religionen Judentum, Christentum, Islam bieten hierfür prominente Beispiele. Der „heilige Text“ erfährt eine geradezu hyperpräzise Verschriftlichung. Diese wird für sakrosankt erklärt und so zusätzlich überlieferungs-gesichert. Die Überlieferungstreue und -präzision ist dabei insbesondere den Zwecken der Re-Oralisierung des heiligen Textes geschuldet (→ Art. 45). Bis hin zum in der hebräischen und der arabischen Schrift im Prinzip nicht bezeichneten Vokalismus soll Überlieferungstreue und -präzision für die liturgische mündliche Reproduktion des Textes ermöglicht werden; darüber hinaus werden schriftliche Intonationsfixierungen angestrebt (s. das System der accentus distinctivi und servi im masoretischen Text und die Neumen in der griechisch-lateinischen Tradition). Für die genannten drei Religionen ist charakteristisch, daß der Umschlag bzw. die Umsetzung von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit in den Traditionen selbst noch präsent gehalten wird. Genauer, es ist in ihnen ein mehrmaliger Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit zu Mündlichkeit zu Schriftlichkeit usw. zu konstatieren, der freilich jeweils andere Formen entwickelt und die vorgängigen derartigen Umschlagprozesse in sich enthält und spezifisch weiterverarbeitet. Die Herausbildung eines Kanons stellt in diesem Zu-

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sammenhang einen besonderen Kristallisationspunkt dar. Lediglich im Islam ist der Kanonisierungsprozeß innerhalb zweier Generationen erfolgt und in eine schriftliche Form gebracht worden (vgl. u. a. Graham 1977). Innerhalb der christlichen Kirche hat die Kanonisierung sich in einem über mehr als 150 Jahre hinziehenden Prozeß abgespielt (s. v. Campenhausen 1968, Karpp 1992 ). Die kanonisierten schriftlichen Grundtexte blieben zudem an die mündlich und personal vermittelte, bischöflich garantierte Traditionskette gebunden. Erst mit der reformatorischen Bewegung wurde dieser Zusammenhang dissoziiert und die Schrift als norma normans aller mündlichen Tradition schroff gegenübergestellt. Im Judentum ging dem Kanonisierungsprozeß (Synode von Jamnia, ca. 90 n. Chr.) eine bereits jahrhundertelange auch schriftliche Tradition voraus. Der einmal erreichte und mit Schrift verbundene kanonische Status hebt einzelne heilige Texte heraus und macht die weitere Textbeschäftigung zu einer auslegenden Tätigkeit. Diese kann wiederum quasi kanonischen Stellenwert erhalten, wie insbesondere an der jüdischen Entwicklung zu greifen ist (Mischna — Gemara), wie aber auch aus dem Stellenwert der patristischen Literatur im orthodoxen und römischen Christentum erhellt. Die schriftlich fixierte Kanonisierung des heiligen Textes wird in zweierlei Richtung reaktualisiert: einerseits durch die je neu vorgenommene Reoralisierung im Kultus in der lauten Verlesung von Abschnitten (Perikopen), wobei das schriftliche Wort auch in seiner Materialität einen besonderen Stellenwert erhält (Thora-Rollen in der Synagoge, der „Große Einzug“ ( megale eisodos ) des göttlichen Wortes im orthodoxen Gottesdienst); andererseits im Auslegungsgeschehen, indem eine spezifische Problematik des schriftlichen Wortes bearbeitet und überwunden werden soll, die Gefahr nämlich, daß der schriftliche Text zum sinn-leeren und damit zum sinnlosen, bloßen Zeichenprodukt verkommt. In den Oppositionen von Buchstabe und Geist ( littera und spiritus ) wird diese Problematik als ein permanenter Begleitdiskurs der Verschriftlichung gerade im religiösen Kontext aktuell (vgl. u. Zf. 8). 4.7.4. Textarten-Vielfalt Zwischen den rein ephemeren, häufig vergleichsweise formlosen schriftlichen Texten und den bis ins letzte Detail formierten und in ihrer Form abgesicherten „heiligen“ Texten

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

spannt sich die Fülle der schriftlichen Textarten auf, die sich im kaum zu klassifizierenden historischen und gegenwärtigen Schriftbestand vorfindet. Die immanenten Modifikationen der schriftlichen Kommunikation in ihren verschiedenen Dimensionen und Aspekten setzt sich in je neue und andere Textarten um. Zugleich werden — so wie die mündlichen Textarten der Schrift subsumiert und ihren Erfordernissen und Möglichkeiten adaptiert werden — überkommene Formen überformt, verändert und neuen kommunikativen Zwecken zugänglich gemacht. Einzelne Umschlagpunkte haben dabei zu besonders gravierenden Konsequenzen geführt, insbesondere der Buchdruck (vgl. Giesecke 1991; → Art. 42 ). Ein dadurch beeinflußter, aber in seiner Entwicklung sich wesentlich länger erstreckender Prozeß ist die Verschriftlichung der Rhetorik, die von einer Anweisung zum richtigen und kommunikativ effizienten Reden zu einer Kunst des richtigen Schreibens und als solche besonders in der spätabsolutistischen Zeit eine rein literarisch bezogene sprachliche Theorie wurde (vgl. Lausberg 1960). 4.8. Geschriebene Sprache, schriftliche Sprache, Schriftsprache Die Situationsentbindung der schriftlichen Kommunikation verleiht nicht nur dem Produkt des sprachlichen Handelns eine eigene Materialität. Sie trägt auch wesentlich zur Herausbildung des Konzepts Sprache selbst bei. Schrift — in welcher typologischen Form auch immer — ist verobjektivierte, visuell zugängliche Sprachgliederung, „Artikulation“ im wörtlichen Sinn des Ausdrucks. Im schriftlichen Produkt, dem verschrifteten Text, wird Sprache als ersichtlich segmentierte zugänglich (Günther 1988, Kap. 1). Diese Beiträge zur Herausbildung eines an schriftlichen Texten entwickelten Sprachkonzepts sind freilich erst der Anfang einer Entwicklung, die sich in die Strukturkennzeichen von Sprache selbst hinein fortsetzt. Durch die oben beschriebenen systematischen Veränderungen gewinnt Sprache im Medium der Schrift und für es eine spezifische Formalität. Die schulbezogene Basiertheit des Erwerbs der Schreib- und Lesefähigkeit reglementiert schriftliche Kommunikation von vorneherein institutionell. Für ihre Praxis ist die Naturwüchsigkeit des sprachlichen Handelns aufgegeben. Das sprachliche Handeln in seinen schriftlichen Formen unterliegt der Didaktisierung und enthält so alle Voraussetzungen

2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation

für Standardisierungs- und Normierungsprozesse. Diese kommen zugleich substantiellen Zweckbereichen der schriftlichen Kommunikation entgegen, insbesondere der extensiven Diatopisierung des schriftlichen sprachlichen Handelns. Der schriftliche Text soll auch dem fernen Adressaten zugänglich werden. Dieser hat die Möglichkeit des Lesens dann, wenn er in den gleichen Normierungskontext eingebunden ist wie der Schreibende. Erst entwickelte administrative Strukturen setzen Schrift in nennenswertem Umfang in Gang. Sie sind Ausdruck gesellschaftlicher Komplexität, die in der spezifisch schriftbezogenen Varietät von Sprache bleibend erfordert ist. Sprache als geschriebene wird also zu einer spezifisch schriftlichen Varietät, zur „schriftlichen Sprache“ (Günther 1983, 1988; Ludwig 1983; Klein 1985). Diese gewinnt dann, wenn Normierungsprozesse und dafür erforderliche Agenturen in erheblichem Umfang realisiert werden, die Qualität von Schriftsprache. Dieses Konzept wirkt in bezug auf die Sprachauffassung seinerseits normierend zurück. Die als „Schriftsprache“ ausgezeichnete Varietät einer Sprache hat aufgrund ihrer normativen Qualitäten den Anspruch, diese Sprache allein zu repräsentieren, sie zu sein. Ein solches Konzept von Sprache, das sich insbesondere für die buchdruckbasierten neuzeitlichen europäischen Sprachen herausgebildet und im Zusammenhang der Nationalisierung der Spachfrage im 18. und 19. Jahrhundert verallgemeinert hat, läßt die Redeweise von „dem Deutschen“, „dem Französischen“, „dem Italienischen“ als den Normalfall des Sprechens von Sprache erscheinen. Dieses Konstrukt, aus der oben bezeichneten Entwicklung heraus als gesellschaftliches Abstraktionsresultat auf der Grundlage der Abstraktion des schriftlichen Textes allererst hergestellt, wird wiederum überall dort normativ eingesetzt, wo die schriftsprachliche Vereinheitlichung noch nicht gegriffen hat („das Provenzalische“, „das Baskische“). Diese Abstraktionsprozesse kulminieren in der wissenschaftlich organisierten Form der Sprachkonzeptualisierung, der Linguistik. Ihre Entfaltung im vorigen und in diesem Jahrhundert hat in den meisten Fällen die Gleichung Sprache = schriftliche Varietät = Schriftsprache immer schon vorausgesetzt, was innerhalb der Linguistik zu einem „written language bias“ geführt hat (Linell 1982 ; Klein 1985), der das linguistische Geschäft bis heute präsuppositionell bestimmt. Mühsam wurde demgegenüber der gesprochenen

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Sprache ein theoretischer Platz eingeräumt (insbesondere in den programmatischen Erklärungen der Junggrammatiker, nicht jedoch in deren Praxis). In Vacheks Konzept von „written language“ (Vachek 1939, 1973, 1989) wird die geschriebene Sprache als besondere Sprache zum besonderen linguistischen Objekt erhoben. In neueren Entwicklungen (Feldbusch 1985, 1988) wird dann die geschriebene Sprache gegenüber der gesprochenen vollends noch einmal theoretisch verselbständigt (zur Kritik siehe Knoop 1989). Demgegenüber ist die Faktizität des gesellschaftlich ausgearbeiteten und praktizierten Sprachbegriffs von einer vielfältigen Wechselseitigkeit von Mündlichkeit und Schriftlichkeit geprägt. Die Maxime „Schreibe wie du sprichst!“ (Müller 1990) illustriert in der Vielfalt ihrer Auswirkungen exemplarisch die Komplexität dieses Verhältnisses. Eine Dimension der Anordnung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist die von „Nähe und Distanz“ (Koch & Oesterreicher 1985; → Art. 1; 44). Sie ergibt sich aus den systematischen Bestimmungen des Verhältnisses von mündlicher und schriftlicher Kommunikation selbst. Eine umfassende Systematik von geschriebener Sprache, schriftlicher Sprache und Schriftsprache wäre wahrscheinlich nicht nur linguistisch, sondern auch gesellschaftlich von großem Nutzen.

5.

Die Verdinglichung des Textes und ihre kommunikativen Folgen

5.1. Verdinglichung und Materialitätswandel Die schriftliche Vertextung als Sprachumsetzung in die visuelle und haptische Dimension verlangt ein in diesen Dimensionen zugängliches physisches Substrat. Schriftliche Kommunikation ist also substratgebunden. Dabei ist zwischen zwei Aspekten zu unterscheiden, der eigentlichen Grundlage und den Mitteln der Manipulation dieser Grundlage. Je nach dem Charakter beider sind zwei- (z. B. bedrucktes Papier) und dreidimensionale Formen (z. B. in Stein oder aus Stein (heraus-) geschlagene Inschriften oder auch Keileinprägungen in Tontäfelchen) schriftlicher Texte zu differenzieren. (Andere Formen der Verdauerung wie z. B. die Quipuschnüre (vgl. Haarmann 1990, 56 ff) haben sich demgegenüber nicht durchgesetzt.) Für die Visualisierung von Sprache wird also jeweils eine Oberfläche

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verwendet, die in sich kontinuierlich, glatt und von einer gewissen zweidimensionalen Erstreckung sein muß. In den seltensten Fällen sind solche Oberflächen von Natur aus da. Ihre Herstellung bedarf also der Arbeit, und diese bedarf einer gewissen Entwicklung von Werkzeugen. Das gleiche gilt für die Manipulationsmittel dieser Oberfläche, durch die diese entweder direkt verändert wird (Toneindruck durch Holzgriffel) oder durch deren eines ein anderes Manipulationsmittel der Oberfläche appliziert wird (Tusche/Pinsel; Farbband/Schreibmaschine etc.). Je nach dem spezifischen Verdauerungserfordernis ist der Schriftträger selbst als fix oder (in der Mehrzahl der Fälle) als transportabel ausgelegt. Die fixen Typen finden in der Gestalt etwa von Stelen, Grabmalen, Meilensteinen, Teilen von Bauwerken usw. ihre je spezifische Form. Für sie alle ist charakteristisch, daß die rezeptive Teildimension der sprachlichen Handlung dadurch initiiert wird, daß in sich lokomobile potentielle Leser in den visuellen Horizont des schriftlichen Textes treten und die Möglichkeit der Lektüre aktualisieren. (Einen elementaren und Übergangstyp dieser Klasse bilden nur geringfügig oder gar nicht bearbeitete Gesteinsplatten, die als Schreibgrund in Anspruch genommen wurden und darin andere semiotische Verfahren, insbesondere Felszeichnungen (vgl. Haarmann 1990, Kap. 1), zur Voraussetzung hatten.) Nennen wir diesen Typ von Texten lokostatisch. Dieser ist nicht nur auf den medialen Bereich beschränkt, sondern er gewinnt zugleich eine eigene systematische Qualität. J. Assmann (1993) spricht hier von „Inschriftlichkeit“, die den Leser geradezu einer über Flüche abgesicherten „inschriftliche(n) Gewalt“ (1993, 225) unterstellt. Vom lokostatischen ist der lokomobile Typ zu unterscheiden. Er erlaubt den Transport des Textes in je neue rezeptive Teilsprechhandlungen. Es ist dieser Typ des schriftlichen Textes, der die wesentlichen Expansionen und Veränderungen schriftlicher Kommunikation zur Folge gehabt hat. Die Transportabilität des sprachlichen Handlungsproduktes ermöglichte und ermöglicht die Vervielfältigung von Rezeptionshandlungen, indem der Text diatopisch beliebig zugänglich gemacht wird. Gerade die lokomobilen Substrate erfuhren in der Geschichte der schriftlichen Kommunikation permanente Veränderungen. Einer der für diese Entwicklung zentralen Parameter ergibt sich aus dem Zweck der Lo-

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

komobilität selbst. Die Substrate wurden in ihrer Geschichte leichter. Dieses Erfordernis erfährt seine Grenze durch den anderen zentralen Parameter, nämlich den der Materialdauerhaftigkeit, bezogen auf die jeweils angestrebte Traditionserstreckung. Steine und Ton, dieser in eigens für die Vertextung genutzter Form (Keilschrifttafeln) oder in für andere Zwecke bereits gehärteter oder gebrannter Form (Scherben, Ostraka) stehen am Anfang dieses Prozesses. Sie sind von großer Dauerhaftigkeit, aber schwer. Holz hingegen ist leichter, aber auch weniger dauerhaft. Tierhäute (Pergament), besonders aber Papyrus und Papier sind wesentlich leichter und für viele Kommunikationszwecke hinreichend dauerhaft. Die aufzuwendende Arbeit für die verschiedenen Substrate sowie die Naturbedingungen, die ihrer Verwendbarkeit zugrunde liegen (vgl. die Einsatzmöglichkeiten des Tones im Vorderen Orient mit einer hinreichenden Dauerhaftigkeit durch Lufttrocknung der Oberfläche vs. deren Nichtverwendbarkeit in Nordeuropa) gehen weiter in die Geschichte des Materialitätswandels bestimmend ein. Während die lokostatischen Substrate durch eine relative Beständigkeit der für sie überhaupt in Frage kommenden Mittel, zugleich durch eine zunehmende Verlagerung ihrer kommunikativen Bedeutung an die Ränder der gesellschaftlichen Relevanz gekennzeichnet sind, ist die Geschichte der lokomobilen Substrate nach den jeweiligen hauptsächlichen Typen geradezu epochal zu gliedern: Die Tonphase (insbesondere vorderorientalisch-keilschriftlich) wird durch die Papyrus-, diese durch die Pergamentphase und diese wiederum durch die Phase des Papiers abgelöst (→ Art. 8). Die textkritische Arbeit der Philologie macht von dieser Epocheneinteilung vielfältigen Gebrauch. Innerhalb der einzelnen Epochen können darüber hinaus die Manipulationsmittel für die Oberflächen weitere wichtige Einschnitte bedeuten wie insbesondere die Entwicklung von Auftragungsmitteln (Naturfarben mit geringer Beständigkeit, Aschen, Tusche, Tinte usw.). 5.2. Soziologische Konsequenzen: Die Herausbildung von Schriftarbeitern Der Umstand, daß bereits die Substrate des mediatisierten Textes gesellschaftliche Arbeit erfordern, führt schon in frühen hochentwikkelten Kulturen dazu, daß Spezialisten für die Herstellung dieser Substrate eigene Berufsausprägungen finden, die freilich lange mit

2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation

der eigentlichen professionellen Schreibfähigkeit (vgl. unten Zf. 7) verbunden blieben. Erst mit der Entfaltung des Druckwesens nimmt diese Entwicklung einen explosionsartigen Fortgang, der durch die Subsumtion unter kapitalistische Einzelproduktion und -distribution — mit daran anschließenden Konzentrationsprozessen — eine ihm geeignete ökonomische Form findet.

6.

Medienmanipulation

6.1. Die Falsifizierbarkeit des schriftlichen Textes als Konsequenz seiner kommunikativen Entfremdung und die apotropäischen Maßnahmen zu ihrer Verhinderung Die Herauslösung des schriftlichen Textes aus der Sprechsituation und seine Verselbständigung gegen diese, die als kommunikative Entfremdung gekennzeichnet werden können, machen den schriftlichen Text zu einem äußerst gefährdeten Medium für die Zwecke der Sprechhandlungsüberlieferung. Dadurch, daß der schriftliche Text auch materiell durch die Umsetzung in die haptisch-visuelle Dimension seine verdinglichte Verselbständigung erfahren hat, wird der Transport der sprachlichen Handlung selbst einer Reihe von — zum Teil fatalen — Problemen ausgesetzt. Bereits die Loslösung vom Sprecher hat eine Endgültigkeit erreicht, die den schriftlichen Text unwägbaren Einflüssen offenlegt. Neben den rein natürlichen materiellen Gefährdungen sind es vor allem die Möglichkeiten der Einflußnahme anderer auf den schriftlichen Text, die das herausgehobene schriftliche Traditionsmittel in sein Gegenteil umschlagen lassen können. Die mangelnde Möglichkeit sinnlich vermittelter personaler Vergewisserung innerhalb der durch Sprecher- und Hörerkopräsenz geprägten unmittelbaren Sprechsituation hat diese Problematik frühzeitig eine besondere Aufmerksamkeit der Kommunikationsteilnehmer finden lassen. Die konkurrentielle Auseinandersetzung zwischen mündlicher und schriftlicher Vertextung, die die faktische Koexistenz beider Traditionsverfahren über mindestens 2 000 Jahre prägte, ist von dem Mißtrauen gegenüber der Traditionsverläßlichkeit des schriftlichen Textes geprägt. Die platonische Ablehnung der Schrift etwa ist Ausdruck der Befürchtung prinzipieller Unzuverlässigkeit des schriftlichen Vertextungsverfahrens (Phaidros 2 74 c—2 78 b; s. z. B. Assmann, Assmann & Hardmeier 1983,

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7—9; → Art. 7; 51). Erst der im Kontext der Druck-Medienrevolution aufkommende Umwertungsprozeß der frühen Neuzeit (Reformation) hat diese Suspektheit der Unzuverlässigkeit, ja Kontraproduktivität des schriftlichen Textes für den Überlieferungszweck allmählich aufgelöst und Schriftlichkeit zur prinzipiellen Grundlage gesellschaftlicher Überlieferungsprozesse gemacht. Damit ist Schriftkommunikation zur primären Kommunikationsform geworden, die insbesondere die translokalen, sich bis zum Weltmarkt entfaltenden kommunikativen Erfordernisse der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaftsformation zu gewährleisten in der Lage war. Neben der prinzipiell den schriftlichen Traditionsprozeß diskreditierenden Skepsis und als Reaktion auf sie ist die Herstellung und Übermittlung schriftlicher Texte begleitet von apotropäischen Maßnahmen, die die Gefährdungen des Überlieferungsprozesses im Medium der Schrift bearbeiten und beseitigen sollten. Im folgenden werden einige Aspekte der Medienmanipulation und ihrer Bearbeitung dargestellt. 6.2. Traditionssichernde Flüche Bereits sehr früh wird der schriftliche Text selbst in den fluchbewehrten Schutzbezirk sonstiger der unmittelbaren Macht des Sprechenden nicht zugänglicher Handlungssphären einbezogen. So wie Verträge (vgl. Hillers 1964) und Rechtssetzungen (vgl. u. a. Mercer 1915, Assmann 1993) durch Flüche gesichert werden, so wird der schriftliche Text selbst durch Fluch geschützt. Bereits auf einer Statue Gudeas von Lagasch (3. Jahrtausend vor Chr.) findet sich die Formulierung „Wer immer diese Statue aus dem E-ninnu entfernen oder ihre Inschrift auslöschen wird [...], dessen Schicksal sollen Anu und Enlil wenden, dem sollen sie die Tage zerbrechen wie einem Ochsen und seine Kraft zu Boden werfen wie einem Wildstier, dem sollen sie den Thron zu Boden stürzen, den er errichtet hat.“ (zitiert nach Assmann 1993, 2 44). Diese fluchgeschützte Garantie der Überlieferungsqualität setzt sich über die rechtssetzend-konstituierende Kraft, wie sie im Kodex Hammurabi (Epilog, Rs. XXVI, 18 ff) in Anspruch genommen wird, und die Kolophone von Schreibern als Authentizitätsgarantie und in die (stark weisheitlich bestimmten) frühchristlichen Zeugnisse fort (exemplarisch Offbg. 2 2 , 18 f: „Ich bezeuge allen, die da hören die Worte der Weissagung in diesem Buch: Wenn je-

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mand etwas hinzufügt, so wird Gott ihm die Plagen zufügen, die in diesem Buch geschrieben stehen. Und wenn jemand etwas wegnimmt von den Worten des Buchs dieser Weissagung, so wird Gott ihm seinen Anteil wegnehmen am Baum des Lebens und an der heiligen Stadt, von denen in diesem Buch geschrieben steht.“). Die Sicherung des veräußerlichten schriftlichen Textes gegen seine Fälschung mit Hilfe des Fluches greift auf einen genuin mündlichen illokutiven Typ sprachlichen Handelns zurück, in dem Wirkmächtigkeit des illokutiv realisierten Wortes unterstellt ist. Dieses wird im apotropäischen Textteil „beschworen“. Seine illokutive Kraft wird einfach in Anspruch genommen. Damit wird freilich eben die Voraussetzung für die Notwendigkeit solcher Beschwörung, die Auflösung der personal vermittelten Sprechsituation über ihre Zerdehnung hinaus hin zum veräußerlichten Sprechhandlungsprodukt, strukturell gerade nicht ernst genommen. Insofern ist das Mittel der Falsifikationssicherung selbst in den Gefährdungszusammenhang eingebunden, den zu überwinden es bemüht wird. Mit anderen Worten: Es ist ein ungeeignetes Verfahren, das sich denn auch im Laufe des historischen Prozesses verliert und durch andere Verfahren der Produktsicherung abgelöst wird. 6.3. Kommunikationsraub und parasitäre Textaneignung Die Veräußerlichung des Sprechhandlungsproduktes im schriftlichen Text bedeutet im lokomobilen Fall selbstverständlich die beliebige Aneignungsmöglichkeit dieses Textes. Während der Bote als Träger des zu Überliefernden nur durch List und Folter zur Preisgabe der Botschaft bewegt werden kann, wird die Abzweigung des schriftlichen Textes für andere als die vorgesehenen Adressaten beim schriftlichen Text wesentlich leichter. Die Veräußerlichung des schriftlichen Textes gegenüber der Kommunikationssituation kann also den Kommunikationsprozeß substantiell gefährden. Entsprechend ist die Geschichte der schriftlichen Kommunikation von einer Reihe von Schutzmaßnahmen begleitet, die dieses strukturelle Problem bearbeiten sollen. Diese betreffen einerseits die Schriftform selbst, indem das Kommunikationsprodukt ein weiteres Mal umgesetzt, in eine Geheimschrift umkodiert wird (→ Art. 145). Dieses vergleichsweise aufwendige Verfahren steht freilich im Widerspruch zur Ökonomie der Schriftbeherrschung und beschränkt sich auf spezielle

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Formen der Kommunikation wie die militärische. Wichtiger ist demgegenüber eine Absicherung des Texttransports, die vor allem durch dessen Professionalisierung bewerkstelligt werden sollte. Die Herausbildung eines weltweiten Postsystems hat hier ihren systematischen Ort (vgl. Glaser & Werner 1990). Dessen Geschichte freilich zeigt, etwa am Hause Thurn und Taxis, dem für Mitteleuropa das Postprivileg zufiel (vgl. Dallmeier 1977), daß insbesondere die parasitäre Nutzung der Texte damit noch keineswegs ausgeschlossen, diese vielmehr geradezu provoziert wurde. Für das Gelingen gerade bürgerlicher schriftlicher Kommunikation wurde diesen Gefährdungen eine neue Form apotropäischer Bearbeitung gegenübergestellt, nämlich die rechtliche des „Brief- und Postgeheimnisses“. Dieses wurde als wesentliches bürgerliches Freiheitsrecht im letzten und in diesem Jahrhundert erkämpft und in bürgerlichen Verfassungen verallgemeinert. Damit wird schriftliche Kommunikation als direkt der persönlichen Integrität der Interaktanten zugehörig interpretiert. Das sprachliche Handeln in seiner schriftlichen Form wird — wie andere Formen des sprachlichen Handelns (Bekenntnishandeln, Meinungsäußerung) — als Grundrecht geschützt, seine Einschränkung an besondere rechtliche Bedingungen geknüpft. 6.4. Bücherverbrennung und Zensur Nachdem durch die Entwicklung des Druckes die Vervielfältigung des schriftlichen Textes quantitativ beliebig möglich wurde, geriet schriftliche Kommunikation überall dort in Konflikt mit gesellschaftlichen Strukturen, wo die Verallgemeinerung von Wissen systematisch eingeschränkt werden mußte oder sollte. Durch die Dissoziierung der sprachlichen Handlung in ihre für sich stehenden Dimensionen und Aspekte wird die Eingriffsmöglichkeit zur Verhinderung schriftlicher Kommunikation vielfältig. Sie kann an allen diesen Dimensionen ansetzen: Die Interaktanten selbst können am Produzieren bzw. Rezipieren durch ihre Kasernierung oder Eliminierung gehindert werden. Insbesondere aber erweist sich die vervielfältigte Reproduktions- und Distributionsstruktur als für solche Eingriffe extrem anfällig. Das Institut des Zensors blockiert den Eintritt in den eigentlichen Reproduktionsprozeß. Die Beschlagnahme des Druckerzeugnisses unterbricht die Distribution. Die Bücherverbrennung besei-

2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation

tigt mit dem veräußerlichten Kommunikationsprodukt die Möglichkeit für seine Rezeption (→ Art. 6; 74). Nur allzu oft ist diese nur der erste Schritt zur physischen Bedrohung des Autors und der potentiellen Rezipienten. 6.5. Der Zerfall der Textträger Die Materialität des schriftlichen Textes verlangt ein materielles Substrat. Dieses unterliegt der Gefahr des Zerfalls. Die Veräußerlichung der schriftlichen Kommunikation kann so die Voraussetzung für ihre Unmöglichkeit, für das Verfehlen ihres Zweckes sein. Gerade die Bearbeitung der Diachronie stellt hohe Anforderungen an die materielle Dauerhaftigkeit des Substrats. Diese ist bei der Entwicklung neuer Kommunikationsträger keineswegs immer abschätzbar. Säurezerfall von Büchern, klimatische Zerstörungen, Verwitterung usw. bedrohen den Kommunikationszweck. Die schriftliche Wissensspeicherung erfordert erhebliche gesellschaftliche Aufwendungen, um diesem Substratzerfall zu wehren. 6.6. Texte sekundärer Entstehung Die Begründung des Textes im Überlieferungszweck und die Veräußerlichung in der Form des schriftlichen Dokuments ermöglicht eine Verdauerung von Kommunikation, wo diese weder vom Sprecher noch vom Hörer beabsichtigt ist. Dies geschieht etwa bei geheimen schriftlichen Protokollierungen des gesprochenen Wortes und insbesondere bei den post-skriptoralen Formen der Vertextung z. B. durch Magnetaufnahmen. Hier wird Kommunikation so „abgezweigt“, daß eine hinsichtlich der primär beteiligten Personen nicht-intentionale Verschriftung bzw. Überlieferung in anderer Form hergestellt wird. Die Veräußerlichung der Kommunikation wird also von außen induziert. Das Ergebnis sind Texte sekundärer Entstehung. 6.7. Der Kommunikationsverlust des Textes Die Veräußerlichung des schriftlichen Textes gegenüber der Sprechsituation kann auch bedeuten, daß die Texte letztlich als materielle überdauern, ohne noch rezipiert zu werden. Auch hier wird eine genuine Möglichkeit der Textherauslösung aus dem Kommunikationszusammenhang objektiv realisiert. Nahezu all unsere Kenntnis früherer Epochen schriftlicher Kommunikation verdankt sich solchem Überdauern von Dokumenten, die nicht für unsere Lektüre bestimmt waren. Die Konservierung des Textsubstrats, das den schriftli-

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chen Text auf oder in sich enthält, als eines rein physischen Objektes — der Tontafel, des Steines, des Pergaments usw. — wird sekundärer Lektüre zugänglich gemacht. Im Fall der bis heute nicht oder kaum entschlüsselten Texte ist die kommunikative Qualität völlig in die Potentialität zurückgenommen. Erst der Entzifferungsakt hebt diese re-physikalisierten Objekte erneut in den kommunikativen Zusammenhang hinein (→ Art. 29). 6.8. Die magische Inanspruchnahme des Textes Die Herauslösbarkeit des schriftlichen Textes in seiner Materialität aus der Sprechsituation ermöglicht schließlich dessen Inanspruchnahme für magische Praktiken. Das veräußerlichte sprachliche Handeln in seiner physischen Objektform macht das Objekt und mit ihm und durch es nach magischem Verständnis das sprachliche Handeln selbst manipulierbar. Eine Herkunftslinie von Schrift ist diesem Zusammenhang geschuldet. Die zur Schriftlichkeit verdeutlichte sprachliche Handlung wird als verobjektivierte Gegenstand vielfältiger weiterer Bearbeitung. Dabei ist immer unterstellt, daß diese Bearbeitungen auf den Kommunikationsprozeß selbst durchschlagen. Die magische Inanspruchnahme schriftlicher Kommunikation entfaltet sich in den verschiedenen kommunikativen Dimensionen. Sie intendiert den Umschlag aus physischer Manipulation in illokutive Kraft. Auch die Schrift selbst, ihre innere Struktur, ihre ABC-darische Anordnung (→ Art. 142 ) werden vielfältig für derartige Praktiken funktionalisiert (Dornseiff 192 2 , Glück 1987), insbesondere auch, um den wissensbezogenen Nutzen von Schrift zur Gewinnung von Metawissen und zur Wissensgewinnung aus dem Medium allein heraus einzusetzen: Wenn Schrift zur Speicherung beliebiger propositionaler Gehalte genutzt wird, so sollen in solchen Verfahren propositionale Gehalte aus dem Medium selbst erzeugt werden. Dieses Konzept setzt sich bis in bestimmte Traditionslinien einer ontologisch sorglosen Logik fort.

7.

Die Transformation des Sprechers zum Autor und ihre soziologischen Konsequenzen

7.1. Schreiber Schrift entsteht in Gesellschaften, die eine gewisse Stufe arbeitsteiliger Komplexität erreicht haben. Insbesondere die Herausbildung

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zentraler Verwaltungstätigkeiten, die als solche selbstverständlich auch religiös organisiert sind, setzt sich in der ephemeren Schriftlichkeit um — wie die komplexe kultische Aktivität arbeitsteiliger Hierarchien sich der Schrift früh bedient (vgl. insbes. Schenkel 1983 am ägyptischen Beispiel). Insofern ist Schrift auf ein spezialisiertes Personal von vorneherein bezogen, das freilich zunächst Schriftfertigkeit nur als eines seiner spezifischen Qualifikationsmerkmale aufweist. Erst die weitere Differenzierung grenzt aus dieser Gruppe wiederum die „Schreiber“ aus. Deren Stellung schwankt von der einer relativ untergeordneten, im wesentlichen medial definierten Position bis hin zu einer Position, in der dem Schreiber die Zuständigkeit für das Wissen prinzipiell zugeschrieben ist. Diese Ambivalenz charakterisiert die Position von „Schreibern“ bis heute. Im ersten Fall sind sie lediglich auf den Äußerungsakt bezogene subsidiäre Kräfte für einen von ihnen unabhängigen sprachlichen Handlungszusammenhang. So wie der die Botschaft auswendig lernende Typus des Boten durch sein Memorieren die Sprechhandlung vertextet, sich um ihren propositionalen Gehalt und ihre illokutive Qualität aber weder kümmern darf noch zu kümmern braucht, so leistet der Schreiber lediglich die mediale Umsetzung der gesprochenen Handlung in eine erhaltungsfähige und transportable Form (vgl. Zf. 5.2 ). Anders hingegen gestaltet sich seine Position, wenn er selbst — wie etwa im diplomatischen oder klerikalen Kontext — die Sprechhandlung erst im Sinne des autoritativen Sprechers, etwa des Herrschenden oder im Sinne des Tempels verfertigt. Der Stellenwert altägyptischer Beamter, chinesischer Mandarine, karolingischer Geistlicher, wilhelminischer Politiker („Emser Depesche“), demokratischer „Ghost Writers“ zeigt die Vielfalt, die Macht und die Ohnmacht dieser aus dem medialen Kontext herausgewachsenen Schreibspezialisten. In dem Maß, in dem das Schriftsystem selbst die Voraussetzungen für eine verallgemeinerte Nutzung durch große Populationen (auf Grund veränderter Verschriftungserfordernisse mittels Strukturveränderungen des Systems — Konsonanten- bzw. Alphabetschrift — und/oder durch verallgemeinerten Unterricht in der Kunst des Schreibens) schafft, wird der Spezialistenstatus der Schreiber gesellschaftlich überflüssig — um sich bei jeweiligen technischen Innovationen naturwüchsig wiederherzustellen.

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

7.2. Autorschaft Die Notwendigkeit zu schreiben entfaltet sich im Lauf der letzten drei Jahrtausende derart, daß bis in dieses Jahrhundert hinein immer größere Bereiche der Schriftlichkeit subsumiert werden oder sie jedenfalls subsidiär nutzen. Damit wird auch der Kreis der Schreibenden potentiell erweitert. Selbst bei „demokratisch“ strukturierten, d. h. potentiell einer großen Zahl von Schreibern zugänglichen Schriftsystemen erfordert der Umfang der Schreibanlässe keineswegs auch die tatsächliche Verallgemeinerung der Schreibfähigkeit für die gesamte Sprechergruppe (vgl. Maas 1985) oder große Teile von ihr, wie z. B. die Situation des Äthiopischen durch die Jahrhunderte zeigt (→ Art. 23; 67). Erst eine komplexe Matrix ermöglicht eine Soziographie von Schreibenden, Schrift und Schriftlichkeit (vgl. zur Problematik exemplarisch Haug 1983). Die medial-funktionale Position des Schreibers läßt die Frage der Urheberschaft prinzipiell noch ganz im weitestgehend institutionell-religiös geregelten Zusammenhang mündlicher Kommunikation. Wie der Griot (vgl. Camara 1976) Sprachmittler zwischen dem Herrscher und dem Volk im Medium der Mündlichkeit ist, so der Schreiber im schriftlichen Zusammenhang. Zwar werden bereits in den Kolophonen akkadischer Keilschrifttafeln auch Schreibernamen mitgeteilt. Doch erst mit der gesamtgesellschaftlichen Verselbständigung der ägyptischen Beamtenschaft (vgl. J. Assmann 1992 ) entstehen eine Autonomisierung und Individualisierung des Autors, wie sie uns heute selbstverständlich scheinen Im Griechentum wird dieser Prozeß qualitativ umgesetzt und beschleunigt. Die antike Welt kennt eine Vielfalt von Autoren — sie kennt aber auch das umstandslose Subsumieren von Sprachprodukten unter autoritative Verfasserschaft, die von einer späteren, an historischer Authentizität orientierten Zeit mit dem negativen Stichwort der „Pseudepigraphie“ belegt wurde. Die postantiken Autorschaften bewegten sich in der kommentierenden Reproduktion des Traditionsbestandes. Autorschaft aktualisierte sich hier nahezu immer innerhalb textueller Räume, die bereits vorlagen, und in der Verarbeitung und dem Neuarrangement des bereits Bekannten. Eine angemessene Würdigung solcher Formen von Autorschaft war unter den Bedingungen der Philologie des vorigen und dieses Jahrhunderts, die viele Quellen erst zu-

2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation

gänglich machte, kaum möglich, weil hier ein Autorkonzept präsuppositionell war, das sachlich durch mehrere Innovationsschübe seit der Verbreitung des Buchdrucks und danach in einer ganz anderen Weise bestimmt war. Der Bezug auf ein latentes Gesamtwissen erleichterte noch dem mittelalterlichen Autor die Verfertigung von Schriftlichkeit. Die Modellierung des Lesers konnte so gleichsam prinzipiell nach seinem eigenen Bild geschehen — d. h., sie konnte als explizite Tätigkeit weithin unterbleiben, weil der gemeinsame Wissenshintergrund der Sorge enthob, den konkreten Leser zu verfehlen. Die kanonisierte Elementarbildung und die verallgemeinerte Sprache des gesellschaftlichen Wissens (Latein bzw. Griechisch bzw. Arabisch) garantierten jene sprechsituationsübergreifende Gemeinsamkeit, die die Bedingung der Möglichkeit für das Gelingen schriftlicher Kommunikation war. 7.3. Autorschaft unter den Bedingungen der Neuzeit Diese selbstverständlichen Rahmenbedingungen zerfielen mit der Reetablierung eines TeilWissenssystems, nämlich des klassischen in der Renaissance, besonders aber mit der Devaluierung der Tradition innerhalb der Reformation und durch die Vervielfältigung von Autorschaft, die durch den Buchdruck ermöglicht wurde. Damit kommt das Konzept von Autorschaft auf den ihm eigenen neuzeitlichen Begriff, in dem die Dissoziierungs- und damit Entfaltungsmöglichkeiten der Kommunikationssituation realisiert sind. Das Gelingen der schriftlichen Kommunikation als einer Bewältigung der in sich paradoxen zerdehnten Kommunikationssituation wird zu einem wesentlichen Bereich der Autor-Tätigkeit. Sie wird zum Metier des Autors, der Autor wird zunehmend professionalisiert. Dies betrifft alle Bereiche der schriftlichen Textproduktion. Am massivsten macht es sich bemerkbar in der Herausbildung einer „Literatur“, die den Bezug auf die Schriftlichkeit bereits in ihrem Namen trägt. Diese entfaltet sich durch die Professionalisierung der Autoren, die mit den kapitalistischen Produktions- und Distributionsverfahren der schriftlichen Texte als gedruckten „Büchern“ auch die ökonomischen Voraussetzungen für die Professionalität ihres Schreibens finden. Die Modellierung der angezielten Leser-

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schaft, ihrer Verstehensmöglichkeiten und ihrer Leseerwartungen werden zu zentralen Aufgaben des Autors — bis dahin, daß diese Zusammenhänge für das Bewußtsein von Lesern und teilweise auch Autoren selbst als spezifisch verschleierungswürdig erfahren werden, um im Modus der schriftlich vermittelten Indirektheit die Fiktion von Authentizität und Direktheit möglichst aufrecht zu erhalten.

8.

Die Transformationen vom Hörer zum Leser und ihre soziologischen Konsequenzen

Hören geschieht ohne Mühe — Lesen nicht. In der unmittelbaren Sprechsituation sind die Voraussetzungen für das Gelingen des Verstehens also ebenso unmittelbar gegeben, wenn dieses dadurch freilich auch noch nicht garantiert ist. In dem Maße, in dem die Dissoziierung der Sprechsituation zur Distanzierung des Hörers führt, verliert sich die auditive Sinnlichkeit wie die personale Vermittlung des Geschehens insgesamt. Im Fall der Schriftlichkeit wird der Hörer zum Leser transformiert. Die schriftliche Kommunikation verlangt vom Leser die rezeptive Beherrschung der schriftlichen Verfahren. Sie verlangt von ihm vor allem aber das Umgehen mit dem aus der Kommunikationssituation herausgehobenen Text und mit all den Konsequenzen, die dieser Auflösungsprozeß für das sprachliche Handeln hat (Zf. 4.). Die heutige Form des leisen Lesens, der schweigenden „Sinnentnahme“ aus dem Text, setzt einen voll entwickelten Fertigkeitsfächer voraus. Der Umstand, daß dieser zum didaktischen Grundbaustein geworden ist, täuscht über Umfang und Schwierigkeit der dabei beteiligten Verfahren hinweg. Offenbar ist es selbst bei das Lesen erleichternden phonographischen Schriftsystemen keineswegs selbstverständlich, daß die volle Nutzung des Fertigkeitspotentiales trotz verallgemeinerter Alphabetisierung oder Literalität praktiziert werden kann (funktionaler Analphabetismus (→ Art. 73). Für lange Zeit gehörte es zu den Aufgaben des „Schreibers“, zugleich auch Vorleser zu sein (vgl. exemplarisch Jeremia 36). Das schriftliche Produkt wurde vorgelesen und so reoralisiert. Dafür bietet die Antike zahlreiche Zeugnisse. In diesem Sinn kann sich der Vorlesende auch selbst zu seinem eigenen Auditorium machen. Dies war bis mindestens in

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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die spätantike Zeit der Normalfall (vgl. Scheerer 1993). Die Abkürzung des Rezeptionsprozesses zu einer weitgehend mentalen, entsinnlichten Tätigkeit ist zwar in der Dissoziierung der Sprechsituation von vorneherein angelegt, wird aber erst relativ spät zur historischen und dann auch verallgemeinerten Realität. In diesem Prozeß vereinsamt der Leser zunehmend. Die gesellige Form der Lektüre, wie sie noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gebräuchlich war, erfuhr zu diesem Zeitpunkt einen qualitativen Bruch, der von Schön (1987) als „Verlust von Sinnlichkeit“ treffend charakterisiert wird. Damit geschieht der sprachlichen Handlung eine weitere Dekommunizierung. Diese geht mit einer anderen Charakteristik einher, der potentiellen Repetitivität des Lesens. Dadurch wird Verstehen zu einem lang anhaltenden, möglicherweise auch stochastischen, ja zu einem vieldimensionalen, aber auch vielfach gebrochenen Prozeß. Der schriftliche Text kann weggelegt und wieder aufgenommen werden. Der Verstehensprozeß wird segmentiert — mit der Gefahr seiner Zerstückelung und einer neuen Form des Mißlingens. Dies ruft professionelle Leser auf den Plan, bedeutet also eine Professionalisierung einzelner Teile des rezipierenden Verstehensprozesses. So, wie sich eine Differenzierung in der produktiven Dimension abspielt, entwikkelt sich eine ebensolche in der rezeptiven (Raible 1972 , 1983). Je nach dem Funktionsbereich von Schrift unterscheidet sich das Verstehenspersonal, von den antiken Hermeneuten und textexplizierenden Philologen (vgl. Bruns 1992 ) über die christlichen Interpreten, Prediger und Theologen (vgl. Brinkmann 1980) hin zu den professionalisierten Lesern des Literaturbetriebes, den Kritikern, und den zunächst am — sekundär mit Sinnstiftungsautorität ausgestatteten — klassischen Textbestand arbeitenden Philologen des eigentlichen philologischen, des 19. Jahrhunderts, und den Literaturwissenschaftlern des 2 0. (Die englische Bezeichnung für deren Geschäft, „literary criticism“, hält den Bezug zwischen literarischer Kritik und philologischem Textumgang im Terminus selbst präsent). Gerade die starke institutionelle Position der Philologie mit ihren universitären und schulischen Betätigungsfeldern bietet eine Grundlage dafür, daß diese professionalisierte Leseaktivität sich aus ihrem Vermittlungszusammenhang herauslöst und verselbständigt, und zwar nicht nur gegenüber den Endadressaten, den eigentlichen Lesern, sondern auch

gegenüber dem Autor. Der Text als herausgelöster wird zum manipulierbaren Objekt, zum Material, aus dem die philologische Tätigkeit eine neue Sinnwirklichkeit formt. Gerade die Entwicklungen der literarisch-philologischen Disziplinen in der zweiten Hälfte des 2 0. Jahrhunderts zeigten eine Reihe von methodologisch abgeleiteten Konzepten wie den Dekonstruktivismus, in denen der professionalisierte Leser sich und sein Publikum von der eigenen Unabhängigkeit gegenüber dem Autor und von der eigenen Autonomie zu überzeugen trachtet. (Van Peer 1992 spricht in einer glücklichen Metapher für die philologische Tätigkeit von „the taming of the text“.)

9.

Schriftliche Kommunikation und die Entwicklung wissenschaftlichen Wissens

9.1. Schrift und die Herausbildung von Wissenschaft Wissenschaft, besonders in ihrer vorderorientalisch-europäischen Form, ist mit Schriftlichkeit jedenfalls phänomenologisch auf das engste verknüpft. Dies hat zur Überlegung Anlaß gegeben, daß Schriftlichkeit notwendige Voraussetzung für das Auftreten von Wissenschaft ist (insbesondere Goody & Watt 1963 und öfter; Havelock 1976, 1982 ; Ong 1987; Logan 1986; → Art. 52 ). Diese These, die auch erheblichen Widerspruch erfahren hat, benennt jedenfalls im Kern eine für die Entwicklung bis hin zur neuzeitlichen Wissenschaft offensichtliche Konkomitanz von Schrift und Wissenschaft. Allerdings steht sie in der Gefahr, das Verhältnis zu einfach zu modellieren, und zwar sowohl für die Anfänge wie für die entfalteten Wissenschaftssysteme als Ensembles gesellschaftlicher Institute und Institutionen in ihrem komplexen Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die Herausbildung der in der Form des Spruches für die mündliche Tradition hervorragend zubereiteten abstrakten Zusammenhangsbestimmungen in der altorientalischen Weisheit; die Liste als eine für die mündliche Tradition von Wissen zubereitete Textform für die Erfassung und Tradierung auch komplexer geographischer, kosmologischer, genealogischer Wissensbestände; der Mythos als narrativ organisierte mündliche Wissensweitergabeform ermöglichen eine Komplexität der Wissensgewinnung, -organisation und

2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation

-tradierung, die erheblich ist und über die Unmittelbarkeit des situativ eingebundenen sprachlichen Handelns weit hinausgeht. Gerade die weisheitlichen Wissensstrukturen sind in ihrer Abstraktheit eher dem wissenschaftlichen als dem alltäglichen Wissen zuzuordnen. Die sich bis in die Gegenwart fortsetzende Ambivalenz hinsichtlich von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die Wissenschaft als gesellschaftliche Organisationsform kennzeichnet, genauer die Koexistenz und wechselseitige Vermittlung beider, insbesondere in der didaktisch organisierten Wissensweitergabe mit und in ihren Institutionen und in den kollektiv und diskursiv organisierten Formen der Wissensgewinnung und -distribution von der Forschungsgruppe bis hin zu den auf faceto-face-Kommunikation ausgerichteten wissenschaftlichen Kongressen zeigen bis heute, welche erhebliche Bedeutung für den Wissenschaftsprozeß auch der mündlichen Kommunikation zukommt. Die weitgehend auf Mündlichkeit verpflichteten Formen antiken Philosophierens, die Mündlichkeit des mittelalterlichen Universitätsbetriebes (vgl. Miethke 1991), die memorierende Praxis der Wissensaneignung des Talmuds in der jüdischen Tradition demonstrieren die Kontinuität der essentiellen Mündlichkeit im Wissenschaftsalltag. Die systematische Vernachlässigung dieser Faktoren in der Konzeptualisierung von Wissenschaft ist demgegenüber vor allem der Schriftzentrierung geschuldet, die sich mit der vollen Entfaltung des Buchdrucks herausbildete. Diese wirkte sich also nicht nur hinsichtlich der Entwicklung des Sprachkonzeptes (Zf. 4.8), sondern auch hinsichtlich der Konzeptualisierung von Wissenschaft aus. Gleichwohl hat insbesondere die mit der griechischen Alphabetschrift erreichte Form von Schrift in ihrer leichten Zugänglichkeit, Lehrbarkeit und Nutzbarkeit, verbunden mit einer entwickelten Schriftpraxis, zur Ermöglichung nicht nur der materialisiert verobjektivierten Ablösung des sprachlichen Handlungsproduktes aus der Situation geführt, sondern dazu, daß Wissen in die Form — um es paradox zu sagen — einer abstrakten Anschaulichkeit überführt wurde. Dies macht sich hinsichtlich der Sprache und ihrer Entfaltung zur Ausbildung und Verwendung von zahlreichen Abstraktbildungen (Logan 1986, 104) bemerkbar. Es macht sich vor allem aber in der Ermöglichung von Reflexion bemerkbar, die die Isolation des Wissens und seine Betrachtbarkeit immer schon voraussetzt.

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Dieses reflektierende Denken wurde in einer raschen Entwicklungsfolge zu einem Nachdenken über die arché, die „Prinzipien“, die alles beherrschenden „Anfänge“ im vorsokratischen philosophischen Denken der Ionier entfaltet. Es ist wahrscheinlich, daß hierfür eine andere abstrakte Kategorie, die in die sinnliche Erscheinung trat, das Geld, eine zugleich befördernde Wirkung hatte. (Zur Nachgeschichte dieses Gedankens siehe jetzt Coulmas 1992, § I.) 9.2. Die Entfaltung des Potentials von Schrift zur Erhaltung wissenschaftlichen Wissens Von Anfang an liegt eine zentrale Bestimmung schriftlicher Kommunikation in der Entwicklung von Erhaltungsmöglichkeiten beliebiger propositionaler Gehalte, gerade auch der ephemeren (vgl. Zf. 4.2 und Assmann 1994). Die Schrift bietet dafür in all ihren Dimensionen — von der Materialität des Substrats bis hin zu den inneren Schriftstrukturen — eine Reihe von Problemlösungen an, von denen zwar keine ideal ist, die in ihrer Gesamtheit aber äußerste Effizienz solcher Speicherung ermöglichen. Wissenschaftliches Wissen geht über die Unmittelbarkeit des sinnlich Zugänglichen hinaus (— selbst noch im empiristisch-sensualistischen Protest dagegen, indem dieser Protest seinerseits denkender Protest ist und als solcher kommuniziert werden will). Die Abstraktion von der Mannigfaltigkeit und Beliebigkeit der sinnlichen Zugänglichkeit ebenso wie die dauernde Re-Präsentivierung des einmaligen und vergangenen Ereignisses wie auch die Antizipation des noch nicht Zugänglichen, aber wahrscheinlich Zugänglich-Werdenden bedarf der Herauslösung von Wissen aus jener Unmittelbarkeit, der auch die sprechsituativ eingebundene Handlung zugehört. Schriftliche Kommunikation als zeitüberbrückende, als diachrone Kommunikation ist in diesem Sinn für wissenschaftliches Wissen zentral. Die Speicherung des bereits ins Wissen Gehobenen und die Möglichkeit seiner distanzierenden und distanzierten Betrachtung und Weiterverarbeitung gehen als notwendige Voraussetzung in die Erzeugung neuen Wissens ein. Die Wissensspeicher, die erst in der schriftlichen Form für beliebige propositionale Gehalte voll zugänglich werden, haben insofern einen fundierenden Stellenwert für das wissenschaftliche Wissen, der im Gedanken des „archive“ bei Maingueneau (1991) begrifflich umgesetzt wird.

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I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

9.3. Archivierungen des Wissens

9.4. Schriftlichkeit und die Wissenschaften

Das losgelöste, verselbständigte Wissen in schriftlicher Form hat die Beziehung zur gesellschaftlichen Praxis nur noch indirekt. Es bietet sich aufgrund seiner Herauslösung für die Thesaurierung an. Diese erfolgt nicht mehr in den praxisnahen Zusammenhängen, die für empraktisch bezogenes Wissen charakteristisch, ja notwendig sind. Es entstehen Institutionen der Speicherung von Wissen. Dies sind zunächst und vor allem Bibliotheken (vgl. Kittler 1985, 1986). Sie sind zugleich die Orte, an denen die Ordnung des Wissens systematisierend hergestellt wird. Die Zwecke solcher Institute sind unterschiedlich. Bereits aus der keilschriftlichen Periode gab es Sammlungsbemühungen, die explizit auch der Kanonbildung dienten. Gerade in den Situationen eines brüchig gewordenen Wissensuniversums, das sich nicht mehr über die Selbstverständlichkeit seiner eigenen Präsuppositionalität reproduzierte, wurde die Sammlung, Ordnung und Systematisierung des Wissens zu einer zentralen Aufgabe. Die Zeit des Hellenismus ist dafür exemplarisch, die alexandrinische Bibliothek der geradezu paradigmatische Fall des Resultats. Je nach dem Stellenwert, den Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Organisation des Wissenschaftsbetriebes haben und der ihre Verhältnisbestimmung determiniert, verschieben sich die Orte der Archivierung. Das westeuropäische Kloster etwa wird für die mittelalterliche Struktur zum Ort, an dem die Codices und Bücher gesammelt, die Kopien erstellt und die Inhalte in der mündlichen Aneignung umgesetzt und reproduziert wurden. Die neuzeitliche, durch den Druck bestimmte Struktur der Wissensorganisation verlangte schnell qualitativ neue Lösungen, die wiederum exemplarisch (Wolfenbüttel) entwikkelt wurden und sich nach Maßgabe der ökonomischen Möglichkeiten entfalteten. Das erforderliche Personal professionalisierte sich vom „homme de lettre“, der seine Fähigkeit, mit dem Buch umzugehen, als hinreichende Qualifikation einbrachte, zum fachausgebildeten Bibliothekar, das Bibliothekswesen von einer dienenden Hilfsfunktion der (auch im ökonomischen Sinn) Schatzverwaltung hin zu den Informations-Wissenschaften unserer Tage, denen es schwerfällt, die Notwendigkeit der sammelnden und bereitstellenden Tätigkeiten in bezug auf das vorhandene und je neu erzeugte wissenschaftliche Wissen gesellschaftlich noch hinreichend zu vermitteln.

Die Rolle der Schriftlichkeit für die Wissenschaften differenziert sich nach der Typologie des Wissens, die für die einzelnen Wissenschaften kennzeichnend ist, nach dem Verhältnis zum sprachlichen Handeln als einem — möglicherweise zentralen — Objektbereich der jeweiligen Wissenschaft, nach den didaktischen Erfordernissen, dem Verallgemeinerungsgrad des erreichten Wissensstands und der Auslagerung einzelner Wissensbereiche in die Propädeutik bzw. in die Wissenschaftsdidaktik, d. h. mit Blick auf die Mentalisierungserfordernisse für die am Wissenschaftsbetrieb Partizipierenden. Ausführliche Wissenschaftsgeschichten, die der Rolle der schriftlichen Kommunikation und ihren Folgen für die Disziplinbildung und -entwicklung detailliert nachgingen, sind weithin ein Desiderat.

10. Schriftlichkeit und das gesellschaftliche Gesamtwissen Die Entfaltung des wissenschaftlichen Wissens unter den Bedingungen der Schriftlichkeit und durch sie ist freilich nur ein — wenn auch ein besonders herausgehobener — Fall der qualitativen Veränderungen, die Schriftlichkeit für das gesellschaftliche Wissen bedeutet. In seiner Monographie über „das kulturelle Gedächtnis“ hat Assmann 1992 an einer Reihe von für den vorderorientalischeuropäischen Zusammenhang zentralen Bereichen die gesellschaftlichen Veränderungen rekonstruiert, die sich durch die Schriftlichkeit ergeben. Durch die Schrift entstehen Möglichkeiten einer neuen Kontinuitätsbildung innerhalb von Gesellschaften — die freilich zugleich in größerem Maße gefährdet ist. Die gesellschaftliche Identitätsbildung gestaltet sich bei entwickelter Schrift anders als ohne sie. So hat Schriftlichkeit als wesentliches Resultat schriftlicher Kommunikation Konsequenzen, die die Gruppenmitglieder, die sich ihrer bedienen können, in einer tiefgreifenden Weise beeinflußt.

11. Schriftliche Kommunikation und ihre Weiterentwicklung 11.1. Die synchron-diatopisch zerdehnte Sprechsituation Trotz und bei aller Komplexitätserzeugung, die durch die schriftliche Kommunikation ermöglicht und realisiert wird, bleibt ihr immer

2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation

der subsidiäre Charakter eingeschrieben, aus dem heraus sie entstanden ist. Die Schrift ist e i n e Problemlösung — nicht jedoch die einzige. Die Suche nach anderen, möglicherweise weniger aufwendigen Lösungen setzte sich kontinuierlich fort. Die Einbeziehung elektrischer und elektronischer Übertragungen und Speicherungen hat hier zu den substantiellsten Veränderungen geführt. Die Entwicklung von Telephon und Telegraph im vorigen Jahrhundert hat die Überwindung der diatopischen Differenz in einer Weise ermöglicht, die eine — lebensweltlich gesehen — Synchronie auch bei großen Entfernungen gestattet. Freilich wird durch diesen Übertragungs -shortcut beim Telephon die Möglichkeit der Speicherung zunächst aufgegeben — und damit ein Nebeneffekt, der für die schriftliche Kommunikation immer gegeben ist. Gegenüber der schriftlichen Kommunikation ist die telephonische eine Restituierung von Mündlichkeit unter den Bedingungen der nur noch akustischen Kopräsenz der Interaktanten. Die verschiedenen sprachlichen Dimensionen (vgl. Zf. 4.) werden hiervon jeweils wieder anders tangiert als im Fall der schriftlichen Kommunikation. Es kommt — systematisch gesehen — zu einem Grenzfall zwischen Text und Diskurs. Ihm wird vor allem die ephemere Kommunikation zugewiesen. (Die Telegraphie erweist sich demgegenüber als wesentlich weniger revolutionär, weil die Umsetzung der sekundären Kodierung in die schriftliche Form beschränkt ist auf ein codiertechnisch-mediales Problem.) 11.2. Die elektronische Transposition Von wesentlich größerer Tragweite ist dagegen die elektronische Transposition des Textes. Diese liegt primär auf der Linie der Speicherungsfunktionen schriftlicher Kommunikation, kommt hier aber zu prinzipiell anderen — zunächst medialen, dann und von dort aus aber viele andere Bereiche der Vertextung betreffenden — Faktoren. Die Weiterungen dieser Entwicklung geschehen unter der Beteiligung der gegenwärtigen Generation. Ob die elektronische Transposition von ähnlichen Folgen wie etwa die typographische sein wird, wird sich zeigen müssen (vgl. Giesecke 1992 , Kittler 1993, Weingarten 1989; → Art. 9; 42).

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Konrad Ehlich, München (Deutschland)

Semiotic Aspects of Writing Introduction Written signs as metasigns Writing and representation Writing and linearity Conclusion References

Introduction

Although it is commonly taken for granted that writing systems are systems of signs, sur-

prisingly little has been published which attempts to apply sign theory in a principled way to the analysis of written communication. Apart from Harris 1994, no comprehensive study of this type has so far appeared. The reason for this neglect is not difficult to ascertain. It stems from the unquestioned acceptance of a view long dominant in Western education, which relegates writing to the status of a merely ancillary sign system, based on speech and to be interpreted solely by reference to speech. This view has been rein-

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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forced by the theoretical perspectives adopted in modern linguistics, a notoriously phonocentric discipline. In view of this situation, the present article focuses upon a limited number of issues which are among those most widely raised when writing is discussed within what might be called — even loosely — a semiotic framework. The issues are: (i) the written sign as metasign, (ii) the notion that writing ‘represents’ speech and (iii) the alleged ‘linearity’ of writing.

2.

Written signs as metasigns

The first explicitly formulated semiotic view of writing in the Western tradition is that of Aristotle, who describes the semiotic status of the written word in the following terms: “Words spoken are symbols or signs of affections or impressions of the soul; written words (γραϕόμενα) are the signs (σύμβολα) of words spoken.” ( De Interpretatione, 16A) This doctrine of ‘double symbolism’ (Harris 1986, 2 7, 81 f) was one particularly appropriate to the kind of writing with which Aristotle was most familiar, i. e. Greek alphabetic writing. Aristotle adds cryptically that, as in the case of speech, writing is not the same for all peoples; but he does not further distinguish between different types of writing (γράμματα). When we compare Aristotle’s position on writing with that taken by Saussure in the early 2 0th century, little at first sight seems to have changed. The doctrine of double symbolism is still pre-eminent. According to Saussure, the sole reason for the existence of writing is to represent the spoken language (Saussure 192 2 , 45). However, it does so — in many cases — only imperfectly. Saussure’s main advance on the rudimentary semiotic theory advanced by Aristotle is to distinguish between two major types of writing system, namely: “1. The ideographic system, in which a word is represented by some uniquely distinctive sign which has nothing to do with the sounds involved. This sign represents the word as a whole, and hence represents indirectly the idea expressed. The classic example of this system is Chinese. 2 . The system often called ‘phonetic’, intended to represent the sequence of sounds as they occur in the word. Some phonetic writing systems are syllabic. Others are alphabetic, that is to say based upon the irre-

ducible elements of speech.” (Saussure 192 2 , 47) Saussure’s admiration for the Greek alphabet is obvious: he describes it as a system of brilliant simplicity (Saussure 192 2 ,64). The reason for his admiration is also clear: the Greek alphabet, in his view, approximates to a one-one correspondence between letter and sound ( phonème in Saussure’s terminology; but not a phoneme in the sense of the Prague school and later phonological theories). In other words, this approval of the Greek alphabet itself has a semiotic basis, inasmuch as the virtue of the writing system is seen as residing jointly in the unambiguity of its signs, and the identification of a minimal unit of speech as the basis for each written sign. But it does not appear to have occurred to Saussure that it might be possible to give any other semiotic analysis of Greek writing than the one he assumes to be obviously correct. Nor does he attempt to justify his assumption by a systematic application of his own semiotic principles. That Saussure’s analysis falls in direct line of descent from Aristotle’s needs no emphasizing. It is perhaps less obvious that Saussure’s view represents only one of at least two possible developments of the Aristotelian position. The key features involved, in a semiotic perspective are: (i) the implicit or explicit restriction of the concept ‘writing’ to visual signs that are directly connected in some way with speech, (ii) the assumption that the written sign is by nature a metasign, i. e. a sign for another sign, and is thus situated at a second-order level of semiosis, and (iii) the notion that the relationship between the written sign and what it signifies is one of ‘representation’. These features will be discussed in more detail below. Aristotle’s definition seems either to exclude or to ignore non-glottic uses of writing, i. e. the possibility of using writing for purposes other than the recording of speech. This exclusion has several possible explanations. Greek musical notation was itself an adaptation of the γράμματα. There were two systems, one for singing and another for instruments (Torr 192 9). But both used signs which were variants of the Greek alphabetic letters, and the system for voices was based on conventional alphabetic order. Since any Greek acquainted with musical notation would almost certainly have been acquainted with the use of the alphabet to transcribe speech, it would doubtless have seemed nat-

3.  Semiotic Aspects of Writing

ural to treat the musical system as derivative, rather than as an independent system. The history of Greek mathematical notation (Thomas 1939; → art. 141) also shows the letters of the alphabet pressed into service from an early date. Here, however, there is evidence of the survival of Phoenician characters which did not continue in use in glottic script: so any Greek aware of this discrepancy could hardly have supposed that the γράμματα had no other function than to preserve legal decrees, the poetry of Homer, etc. Nevertheless, the use of the alphabet for musical and mathematical purposes might have seemed, in the context of Greek culture, marginal exceptions not important enough to undermine a generalization identifying writing as glottic script. Aristotle, in any case, was not concerned with the theoretical implications attaching to distinctions of this order. But the same cannot be said of Saussure, who was keenly aware of them. As the founder of modern semiology ( sémiologie ), he could hardly have failed to realize that what is at issue here is the choice of a set of semiotic criteria for defining writing. From Saussure’s point of view, the defect of Aristotle’s semiotic definition is that it fails to specify the mechanism of the metasign; and this omission leaves an important theoretical gap. For instance, what Aristotle says does not exclude the following possibility. Let ∼ be the written sign for negation and P the written sign to indicate that parking is permitted. Then ∼ P can serve as a sign to indicate that parking is not allowed. However, under this system there is no exact verbal translation of ∼ P; or rather, there are various possible translations. They include ‘No Parking’, ‘Parking Prohibited’, ‘Défense de stationner’, ‘Stationnement interdit’, all of these differing verbally one from another, whether interlinguistically or intralinguistically. Nothing in Aristotle’s definition rules out cases like ∼ P as written signs; but this is precisely the possibility Saussure seeks to exclude from the theoretical domain of writing, i. e. that there might be language-neutral forms of writing. That possibility, however, was one which had played an important role in European intellectual history. It is the possibility of a Begriffschrift or, as Wilkins called it in the 17th century, a real character. In other words, it is the notion that writing might bypass speech altogether, expressing ideas directly and independently.

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It is one of the ironies of history that among the spurs towards the development of a writing system which would overcome the imperfections of speech was an imperfect semiotic analysis of ancient systems of writing. Francis Bacon, for instance, supposed that both Chinese characters and Egyptian hieroglyphs were writing systems which bypassed speech (Large 1985, 11 f). Already in antiquity Diodorus Siculus had proposed this interpretation of Egyptian hieroglyphs (Harris 1986, 80 f). The first universal language scheme to be published, by Lodwick in 1647, was proposed by its author as a language-neutral ‘common writing’; but in fact it turned out to be a kind of basic English rendered into an arbitrary graphic system (Large 1985, 2 2 ff). John Wilkins held that, linguistic differences notwithstanding, all people used the same concepts (an essentially Aristotelian position) and estimated that it needed no more than about 8,000 written signs to record this conceptual inventory. Some of the advocates of ‘real character’ systems, including Wilkins himself, supposed that there would be no obstacle in the way of proposing a phonetic interpretation of the characters, so that the system could be spoken as well as written. The development of any such form of speech would in effect reverse Saussurean assumptions concerning the semiological status of writing; i. e. produce a communication system in which the written form is primary and the corresponding spoken form is a secondary derivative. The relationship would still be that of sign to metasign, but the written form would be basic and the spoken form a metasign. Once this possibility is envisaged, it leads naturally to questioning the restriction of the concept ‘writing’ to cases of glottic script, and, more generally, the notion of semiotic ‘priority’. As regards the first of these two issues, the fact has to be recognized that from a semiotic point of view the restriction is totally unwarranted. That is to say, there is nothing distinctive about glottic scriptorial signs which sets them apart, as a class or category, from non-glottic signs. The recording of speech by means of writing does not eo ipso impose any particular structure upon the signs to be employed for that purpose. The second issue is more complex. Theorists who have discussed the relative priority of speech and writing as forms of communication distinguish four types of criteria that

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may be employed. These have been termed ‘phylogenetic priority’, ‘ontogenetic priority’, ‘functional priority’ and ‘structural priority’ (Lyons 1972). Phylogenetic priority is usually presented as a generalized form of historical precedence. Lyons formulates it in the following terms: “Every community of men of which we have any direct knowledge, or any historical knowledge, has, or had, a spoken language. It is reasonable to suppose that in all cases written language is based upon (i. e. derived from) speech; though in the case of written languages with a long literary or scribal tradition, we may have to go back a long way before arriving at the point of derivation.” (Lyons 1972, 62) But here the crucial notions ‘based upon’ and ‘derived from’ are themselves left unexplicated. What the ‘point of derivation’ would look like — if it were accessible to observation — is equally obscure. The biological metaphor (‘phylogenesis’) seems out of place in this context, for its use already presupposes a conclusion which has not yet been established; namely, that there is a ‘biological’ type of evolutionary connexion between speech and writing. And that is precisely what is far from clear. Ontogenetic priority is held to depend on the invariant order of acquisition of skills. Children, it is claimed, acquire a spoken language first and a written language, if at all, only later. According to some theorists, ontological priority also implies genetic programming (Lyons 1972 , 63). Again, the notion is obscure: i. e. it is unclear what an acquisitional sequence is deemed to establish about the relationship between the skills acquired. Presumably most children can walk before they can tie their own shoelaces (if they wear shoes). But this hardly proves that the ability to do the latter is connected in any way with the ability to do the former. Phylogenetic and ontogenetic priority both appeal, albeit in different ways, to the notion of chronological precedence; but this is not the case with functional and structural priority. Functional priority is held to depend on a difference in the range of communicative functions. Speech is held to serve a wider range of functions than writing. In some of these, but not all, writing can be used as a substitute. This claim would be more impressive if it were backed by a well established method for identifying and counting com-

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

municative functions. Without this, the concept that writing ‘substitutes for’ speech is deprived of any objective basis. Speech might equally well be held to substitute for writing (e. g. in such cases as making a telephone call in preference to writing a letter). Structural priority is the notion which comes closest to providing a basis for a semiotic relationship between speech and writing. As explained by Lyons, it involves a “correspondence” between the “basic units” of script and the spoken language. These latter units may be either phonological or grammatical, and the correspondence involved is not necessarily one-one. Nevertheless, it is such that the patterns of combination into which the letters or characters enter, “though arbitrary and inexplicable in terms of their shapes”, can be “accounted for” by relating them to the patterns of combination of the corresponding spoken units. But there are two major difficulties which the notion of structural priority encounters. One is the occurrence of so many cases where the spelling of a word patently cannot be ‘accounted for’ by reference to its pronunciation. The abundance of such cases is the main reason for the existence of manuals of orthography. But the second difficulty is more fundamental. If the correspondence on which structural priority is said to be based is valid, then it is not clear why the priority in question cannot be reversed. According to Saussure, this reversal is in fact a conspicuous feature of lay conceptions of the relationship between speech and writing. In other words, pronunciation is commonly ‘explained’ by reference to spelling rather than vice versa (Saussure 1922, 51 ff). Thus it emerges that none of the four priorities discussed above affords any sound basis for explicating a semiotic priority of speech over writing. The only theoretically plausible basis for establishing such a priority between any two systems of signs is in terms of their relative scope. Thus system A and system B may be said to be of equivalent scope if both can handle exactly the same set of messages. But A may be said to take priority over B if A can handle all the messages that B can handle and if additionally there are some messages that A can handle which B can not. Judged by this criterion, speech as such would appear to have no priority over writing. On the contrary, writing takes priority, since it is is able to exploit many more dimensions of contrast in the communication

3.  Semiotic Aspects of Writing

process. As a result, it is possible to formulate written messages (exploiting contrasts of position, direction, size, colour, fount etc.) which cannot be rendered in the more restricted channel of oral-aural communication. But it is difficult to imagine examples of spoken messages which could not, in principle, be rendered by a graphic system.

3.

Writing and representation

The semiotic status of writing is often described in terms of ‘representation’: as e. g. when it is said that ‘writing represents speech’. (For a detailed discussion of this topic, see Harris 1986, Ch. 4.) Representation in general is usually treated as an asymmetric relation: aRb is not taken to entail bRa, but does not preclude it either. It is a relation which has tended to assume a rather crucial importance in discussions of writing, inasmuch as the difference between scriptorial and pictorial communication is often held to depend on the fact that two different classes of things are represented in the two cases. Furthermore, the origin of writing is often described in terms which assume a gradual transition from the (pictorial) representation of ideas, objects, etc. to the (scriptorial) representation of the words designating them. This notion was already current in Graeco-Roman antiquity and has remained popular ever since. It resurfaces in a number of 2 0th-century accounts of the origin of writing. From a semiotic point of view, the first point to note is that when we say that ‘ a represents b ’ it is unclear that we have said anything more than that a is a sign and b is what it signifies. And unless it can be shown that there is something more to it than this, then it is merely circular to deploy the relation of representation ( R ) as providing any clarification of how the sign signifies. On the contrary, all the problems that might be raised concerning signification immediately resurface as problems about representation. The second point is that in any case the relation R itself is obscure unless it can be made clear, in any given instance, what represents what. It is here that claims such as ‘writing represents speech’ run into serious difficulties. If we take English alphabetic writing as an example, the first issue that calls for clarification is whether the claim is that the writing represents an abstract set of units underlying

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spoken discourse, or whether it represents the discourse itself. In Saussurean terms, is what is represented langue or parole ? There is a long tradition which explains alphabetic letter-shapes as being phonetically iconic. On this view, what is represented is ‘the spoken sound’. But this in turn lends itself to two possible interpretations, depending on whether the iconicity is deemed to be articulatory or acoustic. It is perfectly possible to devise systems of phonetic notation based on either principle, i. e. systems in which the letter forms indicate positions of the organs of speech, or systems in which they indicate properties of the sound waves in question (Potter, Kopp & Green 1947). But it is important to note that the difference between these two cases involves a different notion of representation. In the first case, the representation is visually iconic (as when, for instance, the letter O is said to represent the lip position appropriate for a rounded vowel). In the second case, however, it is doubtful whether the phenomenon can properly be described as one of iconicity at all, inasmuch as it is unclear what properties the letter would have to display in order to make it an ‘image’ of the sound. (The system proposed in Potter et al. 1947 is based on sound spectrograms, but this does not answer the fundamental question being raised here, since in their system the letter-shape is derived from a prior visual image, which is itself derived from one arbitrary set of correlations used in a sophisticated piece of electronic equipment.) Shorthand systems of writing such as Pitman’s are sometimes described as ‘analogically iconic’, but the term is quite misleading from a semiotic point of view. That a straight line always indicates a stop consonant, a curved line a fricative, etc. merely means that a given sign provides certain physiological information about the articulation in question. But it does not in any other sense ‘represent’ the information it provides. When we turn from deliberately constructed writing systems (such as shorthand and phonetic notation) to traditional systems, these problems loom even larger. Does the form of the letter P represent the outline of the closed lips (as earlier theorists of phonetic iconicity held)? And if it is not the fo r m of the letter which represents anything, what else does? Similarly, if it is not the shape of the closed lips that is represented, what other candidates are there? Is it the movement of the lips towards closure, or the closure itself,

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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or the labial release from the closed position? Or is it neither the articulatory movement nor the articulatory posture but the characteristic concomitant disturbance of air? And if so, what features of this vibratory event are represented, and how? Or is what is represented neither an articulatory nor an acoustic event, but just the auditory impression of these events that the ear registers? And again, if so, how is this impression to be characterized and how are its characteristics represented? No respite from these problems is gained if the theorist espouses the alternative proposal that what the various written characters represent are not features of parole but features of langue. It might be urged, for instance, that we should construe alphabetic writing as operating on a principle analogous to the phonemic principle for speech. Thus, crudely speaking, the traditional P of the English alphabet would represent not a pronunciation but, more abstractly, a certain phoneme of English. The trouble with this move is that it is doubtful whether it leaves us with anything we can reasonably call ‘representation’ at all. The particular shape of the letter P is now irrelevant. Or rather, it is the set of visual differences between P and the other letters which are claimed to correlate somehow with the differences between a certain phonemic abstraction and others. And it is not at all clear that this even makes sense as a construal of the relation aRb.

4.

Writing and linearity

Those theorists who claim that (glottic) writing ‘represents speech’ often draw attention to what is claimed to be a basic similarity of semiotic structure; namely, that both systems are ‘linear’. This is another breeding-ground for endless confusion. With regard to speech, the linearity is said to be derived from, or rather dictated by, the limitations of the human vocal organs, these limitations being such as to impose a onedimensional temporal sequence on spoken signs (Saussure 192 2 , 103). Writing is then said to be similarly linear, although the visual mechanism of writing allows for a variety of ‘directions’ in which this linearity may be expressed. In a semiotic perspective, this view is at best the product of a dangerously strained analogy, and at worst downright nonsense. Writing by definition is not one-dimensional,

since its configurations exploit the geometry of two- and three-dimensional objects (Harris 1994, Ch. 18). It is important to draw a semiotic distinction between linearity and alignment. Failure to draw this distinction is at the root of most of the confusions referred to above. Alignment is a matter of the orientation of the written sign relative to the surface on which it is inscribed: it has no counterpart in the case of speech. Furthermore, alignment obeys a logic which p r e s u p p o s e s freedom of arrangement in at least two dimensions. This logic will be sketched briefly below. It is based on a very simple fact: that a written message require a blank space, and somewhere in this space the written signs have to be arranged in such a way that they can be read. The first principle is equally simple: given a blank space and a written message that requires a number of written signs, a start must be made somewhere. And the location of the starting point will limit the options for continuing. The maximum number of options are those available if the written message starts in the middle of the blank space. If the first sign is placed in the middle, then the second can be written immediately above, below, to the left, to the right, at forty-five degrees, etc. This assumes a written message in which the signs have to be read as ordered in a recognizable sequence. If this is not a requirement, then the signs can be set down at random. But if it is, random distribution of signs throughout the space available would require the form of each sign itself to indicate the sequence a reader is expected to reconstruct. No known glottic writing system operates on this principle. One sequencing device used in all traditional forms of glottic writing is what may be called concatenation or the beads-on-a-string model (the only device which, from a semiotic point of view, can be called ‘linear’). This ensures than any three adjacent signs are connected either in the order abc or in the order cba. In itself, that does not reveal which follows which, but it cuts down the number of possibilities to two, depending on which direction along the string is followed. Direction, it should be noted, is not to be confused with alignment, but the two are semiotically connected (see below). One of the interesting things about the history of glottic scripts is that no major script was ever developed on the basis of putting

3.  Semiotic Aspects of Writing

the first sign in the middle of the blank space. The reason for this has to do with a principle which might be summarized in the injunction: don’t waste space. In other words, if it is desired to make as much use of the available writing space as possible, leaving no areas of it empty, then either the project of constructing a single continuous string of signs has to be abandoned, or else at some point the string must loop back upon itself. The reason why no major script ever developed on the basis of using a spiral configuration also has to do with the logic of alignment: it involves continually shifting the orientation relative to the surface. In other words, such a system would be very difficult to write and no less difficult to read. The semiotic notion of direction (in glottic writing) is more complex than it sounds. Whether one writes horizontally in rows, as in this book, or vertically in columns, as in traditional Chinese writing, there are actually two directions to take into account. One is the direction followed by signs within the row or the column, and the other is the direction followed by the rows or columns in sequence. These two directions are in principle independent of each other. Rows may follow from top to bottom or bottom to top independently of whether the signs themselves are going from left to right or right to left. And mutatis mutandis for columns. (‘Top’, ‘bottom’, ‘left’ and ‘right’ are concepts of alignment, not direction. Direction is the result of applying a sequencing principle to the possibilities afforded by alignment.) But the combination of these two produces a third direction, which is the direction obtained by drawing a straight line between the first sign on the surface and the last sign. European writing starts at the top left and finishes at the bottom right. Traditional Chinese writing starts at the top right and finishes at the bottom left. No major glottic writing system goes from bottom right to top left, or from bottom left to top right. The reason usually adduced for this is that any bottom-up system will have the disadvantage (for the writer) of forcing the hand to conceal part of what has been written previously; whereas with top-down systems the writer can always inspect ambulando what has just been written. (And if ink is being used, there is less risk of smudging.) But these are considerations which lie outside the semiotic system as such. European writing offers a very interesting solution to the geometrical problem of scrip-

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torial arrangement. The convention underlying what is thought of as a ‘line’ of writing is that instead of continuing the string of signs by looping it round, a break is introduced and a fresh start made on an adjacent parallel string which begins on a level with its predecessor and is scanned in the same direction. This convention sacrifices strict continuity of the string of signs in favour of allowing all signs to face the same way and be scanned uni-directionally: i. e. directionality takes precedence over the ‘string of beads’ principle. This same feature is characteristic of traditional Chinese writing too, although there it is a vertical column, not a horizontal row. (In this sense, Chinese writing is less different from European writing than at first sight appears.) The main exception to the above precedence in favour of uni-directionality is boustrophedon writing, which is arranged in alternating directions in successive lines. It is interesting that this did not survive as the major form of writing in any civilization we know, which would seem to imply that, for reasons as yet unknown, it is easier for the hand and the eye to proceed uni-directionally, if the alternative is to follow a strict sequence, but one which changes direction intermittently. The logic outlined above has also had its impact on the composition of the book and the newspaper: that is to say, on the organization of a text spaced out over consecutive surfaces of the same dimensions. From the Western viewpoint, Chinese books are printed from back to front, as are Arabic newspapers. This does not depend in the least on whether the writing is horizontal or vertical, but on the ‘third’ direction of writing: i. e. whether a page starts at the top right and ends at the bottom left or begins at the top left and ends at the bottom right. In Europe, China and the Middle East, the principle adopted here is that the composition of the book follows the direction of the script (which may be regarded as an extension of the preference for uni-directionality). Once this geometrical logic of writing is clearly understood, it becomes obvious that no equation at all can be made between the ‘linearity’ of speech and the basic principles which govern the visual disposition of written signs. The alleged linearity of both reduces to the fact that at some level or levels of correspondence between speech and glottic script a sequencing requirement is introduced and catered for by meaning of concatenation.

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

48

5.

Conclusion

The three issues examined briefly above provide clear illustrations of the extent to which the analysis of writing has been hampered on the one hand by subservience to certain traditional dogmas and on the other by the failure to develop explicit semiotic criteria which do not prejudge the status and function of the written sign. As a result, it is not difficult for a semiotician today to endorse the observation made a quarter of a century ago by Haas that “the study of writing is still in its infancy” (Haas 1976, 132).

6.

References

Aristotle. De Interpretatione. Trans. H. P. Cooke, Loeb Classical Library. London. Haas, William. 1976. Writing without letters. Man-

4. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

1.

chester. Harris, Roy. 1986. The origin of writing. London. —. 1994. Sémiologie de l’écriture. Paris. Saussure, Ferdinand de. 192 2 . Cours de linguistique générale, 2 me éd. Paris. Trans. R. Harris. London. Large, Andrew. 1985. The artificial language movement. Oxford. Lyons, John. 1972 . Human language. In: Robert A. Hinde (ed.), Non-verbal communication. Cambridge. Potter, R. K., Kopp, G. A. & Green, H. C. 1947. Visible Speech. New York. Thomas, Ivor. 1939. Greek mathematics. London. Torr, Cecil. 192 9. Greek music. In: P. C. Buck (ed.). Oxford History of Music, Introductory Volume. Oxford.

Roy Harris, Oxford (Great Britain)

Geschichte des Schreibens Einführung Die Anfänge des Schreibens Der alte Orient Das alte Ägypten Die griechische und römische Antike Das europäische Mittelalter Neuzeit und Moderne Literatur

Einführung

Eine Geschichte des Schreibens expliziert Erfahrungen, Einsichten, Erkenntnisse und Wissen, die in unsere Schreibpraxis eingegangen und in ihr aufgehoben sind, derer wir uns wie selbstverständlich bedienen, die in Wirklichkeit aber das Ergebnis einer Entwicklung von mehr als fünftausend Jahren sind. Eine Geschichte des Schreibens projiziert also das Wissen, das der gegenwärtigen Schreibpraxis zugrundeliegt, in die Zeit, in der sie sich ausgebildet hat, und trägt damit zur Erhellung eben dieser Praxis bei. Es gibt mehrere ausgezeichnete Darstellungen der Geschichte der Schrift (vgl. das gesamte Kap. 3 des Handbuches), aber noch keine zusammenhängende Darstellung einer Geschichte des Schreibens. Was vorliegt, sind Detailstudien, meist auf eine Epoche der Schreibgeschichte beschränkt.

Eine Geschichte des Schreibens würde die Geschichte der Schrift ergänzen, indem sie aufzeigt, wie die Schriften jeweils verwendet worden sind. So die Einordnung, die man in der Literatur findet. Es wäre jedoch angemessener festzustellen, daß die Verwendung der Schrift nur ein Moment im Prozeß des Schreibens ist und insofern die Geschichte der Schriften in der des Schreibens enthalten ist. Einer Darstellung der Geschichte des Schreibens stellen sich mehr Fragen, als hier angedeutet werden können. Gibt es überhaupt eine Geschichte des Schreibens oder handelt es sich nicht vielmehr um mehrere Geschichten? Zweifellos ist auch in Mittelamerika und vor allem in Ostasien schon früh geschrieben worden. Insofern gibt es mehrere Geschichten des Schreibens. Man kann die Frage aber auch enger fassen. Trifft es zu, daß, wie auch immer im alten Mesopotamien, Ägypten, Griechenland, Rom, später im Mittelalter geschrieben wurde und heute geschrieben wird, ein roter Faden nachzuweisen ist, der es erlaubt, von einer einheitlichen Entwicklung zu sprechen? Die folgenden Ausführungen möchten belegen, daß dies der Fall ist, und beschränken sich darum ausschließlich auf diesen. Wie ist eine Geschichte des Schreibens von anderen sie begleitenden oder mit ihr kon-

4.  Geschichte des Schreibens

kurrierenden Geschichten abzugrenzen? Kann man von Schreiben sprechen, wenn Schriftzeichen für Zahlen verwendet und zur Grundlage von mathematischen Operationen werden? Ist Drucken eine andere Art des Schreibens, ein Moment im Prozeß des Schreibens oder etwas ganz anderes? Haben die ägyptischen und römischen Steinmetze geschrieben, wenn sie nach Vorzeichnungen Buchstaben für Buchstaben in den Stein schlugen? Wie ist überhaupt die Rolle des Schreibens bei der Produktion von Texten, insbesondere von Kodices und Büchern, zu bestimmen? Gehört die Bearbeitung der Schreibmaterialien und der Schreibwerkzeuge dazu? Wie steht es mit dem Buchschmuck, dem Einband, dem Binden überhaupt? Wann ist die Handlung des Schreibens abgeschlossen? Mit dem letzten Pinselstrich? Mit der Veröffentlichung des Textes? Welche Aspekte des Schreibprozesses sollten in einer Darstellung der Geschichte des Schreibens Beachtung finden? Bisher hat man sich allzu sehr auf die technischen Aspekte des Schreibens beschränkt: das Schreibmaterial, die Schreibwerkzeuge, die Bearbeitung des Schreibmaterials usw. Zu den Schreibtechniken kommen aber die Schreibkonventionen: eine geeignete Schrift, die Aufteilung der Schreibfläche in Kästen, Kolumnen oder Zeilen; die Richtung, in der geschrieben wird; die Markierung von Wort- und Satzgrenzen sowie von Absätzen. Mindestens so bedeutsam wie die Schreibtechniken und Schreibkonventionen sind die pragmatischen Aspekte des Schreibens: Wer hat geschrieben? Zu welchem Zweck? Mit welchen Inhalten? Die Zwecke des Schreibens müssen von denen des Geschriebenen unterschieden werden. Allgemein werden zwei Zwecke des Schreibens angeführt: die Produktion und die Reproduktion von Texten. Damit sind die Funktionen des Schreibens aber nur unvollständig erfaßt. Schreiben ist ein komplexer Prozeß. Er besteht aus mehreren Teilaktivitäten. Deren Ausführung ist in der Geschichte des Schreibens unterschiedlich organisiert worden. Zu allen Zeiten kam es vor, daß ein und dieselbe Person alle Aktivitäten selber verrichtete. Es hat aber auch Zeiten gegeben, in denen dies eine Ausnahme war. Nicht eine, sondern mehrere Personen waren an der Schreibarbeit beteiligt. Einer konzipierte, komponierte und diktierte den Text (der Autor oder, wie man ihn tatsächlich genannt hat, der „Diktator“), ein anderer notierte das Diktierte und fertigte eine Schreibvorlage an (der Sekretär), ein drit-

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ter brachte den Text ins Reine (der Schreiber im eigentlichen Sinne des Wortes), ein vierter korrigierte, ein fünfter edierte usw. Die Organisation der Schreibarbeit — also ebenfalls ein Aspekt in einer Geschichte des Schreibens. Schließlich gehören zu einer Geschichte des Schreibens auch die Veränderungen der psychischen Prozesse: der Rückgriff auf das visuelle Gedächtnis, die planmäßige Entwicklung eines Textes und eine rational-argumentative Weise, ihn zu konzipieren. Die folgenden Ausführungen stellen den Versuch dar, erste Antworten zu geben und die Konturen einer noch zu schreibenden Darstellung der Geschichte des Schreibens vorzuzeichnen.

2.

Die Anfänge des Schreibens

Nachdem sich spätestens vor 40 000 Jahren bei allen Hominiden eine voll artikulierte Lautsprache endgültig durchgesetzt hatte, sind vor etwa 35 000 Jahren die ersten Versuche unternommen worden, Gegenstände in bildhaften oder räumlichen Artefakten darzustellen (White 1989). An die Seite sprachlichen Denkens trat eine Art visuellen Denkens, zur sprachlichen Kommunikation eine Kommunikation mithilfe von Bildern. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß beide Systeme auf die Dauer nicht Einfluß aufeinander genommen haben. Wann aber Menschen entdeckten, daß visuelle Bedeutungen auch sprachlich und sprachliche Bedeutungen visuell repräsentiert werden können, entzieht sich unserer Kenntnis. Wir können lediglich feststellen, daß Teilsysteme ihrer Sprachen bereits eine visuelle Repräsentation erfahren hatten, als die Ägypter um 3000 und die Sumerer gar um 3300 v. Chr. zu schreiben anfingen. Zahlen wurden durch Kerbe, Striche oder Eindrücke (in Ton) zu Ziffern, bildhafte Darstellungen von konkreten Gegenständen zu Symbolen. Möglicherweise ist die Idee zu schreiben mit dem Zählen entwickelt worden (→ Art. 16; 141).

3.

Der alte Orient

Es gibt heute niemanden, der noch die Schrift des alten Orients, die Schrift der Sumerer und Akkader (Babylonier und Assyrer), schreibt. Das letzte Dokument in Keilschrift stammt aus der Zeit um 75 n. Chr. Doch die Praxis, in der diese Schrift Verwendung fand, hat sich weitgehend erhalten. So haben die Völker des

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alten Zweistromlandes, allen voran die Sumerer, den Grund für eine Schreibpraxis gelegt, die sich bis auf den heutigen Tag bewährt hat. Vieles, was uns heute beim Schreiben so vertraut ist, daß wir es für selbstverständlich halten, mußte damals erst einmal gefunden werden und sich bewähren (→ Art. 18, 35). 3.1. Die Produktion der Schriftzeichen Die Geschichte des Schreibens beginnt in Mesopotamien im Neolithikum (ab etwa 9000 v. Chr.). Am Anfang finden sich aus Ton geformte Zählsteine, sogenannte tokens, die für gezählte Gegenstände stehen (→ Art. 16). Diese wurden dann, damit an ihrer Zahl keine Veränderungen vorgenommen werden konnten, in hohlen, etwa tennisballgroßen Tonkugeln, sogenannten „Bullen“, verschlossen. Diese hatten jedoch den Nachteil, daß sie zerbrochen werden mußten, um ihren Inhalt in Augenschein nehmen zu können. So verfiel man auf die Idee, auf der Außenseite der Tonkugel einen Abdruck der Zählsteine zu nehmen. An die Stelle eines Abdruckes konnte man auch das stumpfe Ende eines Griffels so oft eindrücken, wie die Kugel an Zählsteinen enthielt. Man hatte so ein Verfahren, das geeignet war, Zahlen aufzuschreiben. Da die Zählsteine oft für verschiedene Arten von Gegenständen (etwa Kühe und Schafe) standen und sich darum auch in ihrer Form unterschieden, legte es sich nahe, neben den Mengenangaben Abbildungen in Form von Zeichnungen der Gegenstände anzubringen, die gezählt worden waren. So entstanden Piktogramme. In der Tat weisen die ältesten Schriftstücke der Sumerer (ca. 3300 v. Chr.) die Anwendung beider Schreibtechniken auf: Zeichen für Zahlen wurden in den Ton eingedrückt, Zeichen für Gegenstände mit einem spitzen Griffel eingeritzt. „Von diesem Versuch, die Bilder (...) mit einer Nadel in den weichen Ton zu ritzen, mußte man aber bald Abstand nehmen, da es nicht möglich ist, dabei scharfe und befriedigende Zeichnungen zu erhalten. Denn der Ton wird beim Ritzen aufgerissen“ (Messerschmidt 1906, 194). So ist man dazu übergegangen, die Technik, die sich bei der Schreibung der Zahlen bewährt hatte, auch für die Schreibung von Wörtern zu verwenden. Von nun wurden alle Schriftzeichen mit einem an der Spitze dreikantig zugeschnittenen Schreibrohr in den Ton gedrückt. Die neue Weise, in den Ton zu schreiben, hat die Produktion der Schriftzeichen radikal

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

verändert. Mit einem spitzen Griffel lassen sich ohne weiteres gebogene oder gekrümmte Linien ziehen, mit einem die Form eines dreiseitigen Prismas annehmenden Griffel ist dies jedoch kaum mehr möglich. So mußte denn ein Kreis in eine Reihe gerader Linien, eine gebogene Linie in eine Folge kurzer Striche aufgelöst werden. Die Folge war, daß die Zahl der Elemente, aus denen sich ein Schriftzeichen zusammensetzte, reduziert, die Ausführung der Schriftzeichen vereinfacht und die Richtungen, in denen der Griffel geführt wurde, standardisiert werden konnten. 3.2. Die Organisation der Schreibfläche Die Sumerer haben als erste die Möglichkeit erforscht, die eine Schreibfläche zur Aufnahme von Eintragungen bietet. „As long as a tablet records a brief memo containing only a few signs, their arrangement on the tablet seems to be of little importance. But greater detail or quantity of information needs some coherent method of organisation“ (Green 1981, 349). Nacheinander sind drei Lösungen durchgespielt worden, deren letzte schließlich Bestand bis auf unsere Tage hat. (1) Am Anfang steht ein Verfahren (Green 1981), das man als sign clustering gekennzeichnet hat. Kleinere ungeordnete Mengen von Schriftzeichen ( cluster ) wurden frei auf der Schreibfläche verteilt. Auf diese Weise ließen sich Teile von Texten voneinander trennen. Da aber kaum mehr als drei Cluster auf einem Täfelchen Platz fanden, war das Verfahren recht unökonomisch. (2 ) Die Clusterbildung wurde schon recht bald durch dividing-line patterns (Green 1981) abgelöst. Das heißt, die Schreibfläche wurde durch in den Ton gezogene Striche systematisch aufgeteilt. Waren nur zwei Einträge vorgesehen, so genügte es, die Schreibfläche durch einen vertikalen oder einen horizontal geführten Strich in zwei Teile aufzuteilen. Texte mit mehrfachen Einträgen konnten zu einer Aufteilung in Kolumnen führen, die zunächst horizontal, später vertikal angelegt wurden. Die Kolumnen selbst ließen sich wiederum in „Fächer“ (Kästchen) zerlegen, unseren Abschnitten vergleichbar. „We would interpret the invention of columns and cases as an attempt to devise a system of text organization which could encompass more, detailed information within a single tablet record. Mere spatial separation was found to be insufficient, but the addition of linear separators became a satisfactory solution“ (Green 1981, 351).

4.  Geschichte des Schreibens

Wenn die auf einer Tafel zur Verfügung stehende Fläche nicht ausreichte (die größte aufgefundene Tafel hat einen Umfang von 36 × 33 cm), so ließ sich auch die Rückseite beschriften: „dabei wird jedoch nicht, wie bei unseren Büchern, der linke Rand als Achse genommen, sondern vielmehr die untere Kante. Der Vorteil dieser Methode besteht darin, daß man im Notfall außer der unteren und oberen Kante auch den linken frei gebliebenen Rand als Schriftträger verwenden konnte, während der rechte Rand die Enden längerer Zeilen aufzunehmen vermochte“ (Kienast 1969, 46). Wenn schließlich Vorderund Rückseite einer Tafel nicht ausreichten, konnte man weitere Tafeln hinzuziehen, so daß ganze Serien von Tafeln entstanden. Eine der längsten besteht aus insgesamt 42 Tafeln. (3) Das Prinzip der Einheit des Raumes wurde von der Mitte des 3. Jahrtausends an durch das Prinzip der „strikten Einhaltung der Sprech- bzw. Lesereihenfolge“ (Nissen, Damerow & Englund 1991, 163) abgelöst. War bis dahin die Reihenfolge der Schriftzeichen innerhalb der Fächer oder Kolumnen nicht unbedingt festgelegt, so kann man seit der Mitte des 3. Jahrtausends beobachten, wie sie in die Reihenfolge gebracht werden, in der sie auch gesprochen, d. h. gelesen oder vorgelesen werden können. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist die Strukturierung der Schreibfläche in Schriftzeilen. Es fällt schwer, eine solche Linearisierung der Schriftzeichen nicht in einen Zusammenhang mit zeitgleichen Versuchen zu bringen, die geschriebene der gesprochenen Sprache anzunähern. Auf eine Erscheinung ist noch aufmerksam zu machen, von der nicht klar ist, ob sie mit den bereits angeführten in Verbindung steht. „Für die ältesten Texte mit ihren noch stark bildhaften Zeichen wird man davon ausgehen, daß sie so gelesen wurden, daß die Bilder in ihrer natürlichen Lage zu erkennen waren. Das bedeutet, daß die Spalten waagerecht lagen und die darin abgeteilten Fächer von rechts nach links beschrieben wurden. Innerhalb der Fächer wurden die Zeichen von oben nach unten angeordnet. Demgegenüber kann man zeigen, daß in späterer Zeit so geschrieben wurde, daß die Zeichen im Verlauf ihrer Entwicklung aus der am Sehbild orientierten Position um 90° nach links gedreht worden sind“ (Nissen et al. 1991, 162 ). Man kann sich die Veränderung am besten vor Augen führen, wenn man ein beschriebenes Blatt Papier zur Hand nimmt. Dreht man es um 90° im Uhrzeigersinn, dann hat man in etwa die alte

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Schreibung der Sumerer, wenn man einmal davon absieht, daß die Buchstaben sozusagen auf dem Bauch liegen. Die Sumerer haben die Tontafeln im Gegenuhrzeigersinn um 90° gedreht, dabei aber die Schriftzeichen in ihrer ursprünglichen Lage belassen: „Alle Menschen lagen mit einemmal auf dem Rücken (...), die Formen der Vögel und übrigen Tiere waren kaum mehr zu erkennen“ (Chiera ohne Jahr, 53 f). Auf diese Weise konnten die alten Texte sowohl nach der neuen wie nach der alten Manier gelesen werden. „Steinerne Stelen, Weihgaben in Stein oder Metall und Siegel, deren Ober- und Unterkanten zweifelsfrei festliegen (...), zeigen bis zur Mitte des 2 . Jahrtausends v. Chr. die archaische Leserichtung“ (Wilke 1991, 2 72 ). Die Forschung ist sich „über den genauen chronologischen Ansatz jenes Prozesses wie auch über die Gründe, die hierzu führten, nach wie vor nicht vollkommen im klaren, auch nicht darüber, wann der Vorgang abgeschlossen war“ (Nissen et al. 1991, 162 ). Es werden verschiedene Gründe angegeben: größere Tontafeln; die Gefahr, daß bei linksläufiger Beschriftung der Tafeln die Schriftzeichen mit der Hand verwischt werden können; eine bequemere Handhabung der Schrift u. a. m. Wie dem auch sei: die neue Schreibrichtung war erfolgreich und hat sich bis heute behaupten können. 3.3. Die Entwicklung der Schreibprodukte Es bedurfte mehrerer Jahrhunderte, um zu dem zu gelangen, was wir heute als „Texte“ oder zumindest als „schriftliche Äußerungen“ bezeichnen würden. Den Weg dazu haben wiederum als erste die Sumerer beschritten. „Mit den ältesten Elementen aus der Gruppe der vorschriftlichen Verwaltungshilfen, den Tonobjekten und den Siegeln, waren Möglichkeiten geschaffen worden, besonders prägnante Einzelheiten wirtschaftlicher Vorgänge, Mengen bzw. die Identität der beteiligten Personen festzuhalten und für nachträgliche Kontrollen aufzubewahren“ (Nissen et al. 1991, 158). Mit der Entwicklung der Schrift „konnten (...) alle Informationen festgehalten werden, die man als nötig ansah: Nicht nur Mengen und Informationen über die beteiligten Personen, sondern auch Angaben zur Warenart, Zeit, Ort und Kategorie des Vorgangs“ (ebd.). In dem Maße, wie die Transaktionen umfangreicher und komplizierter, die administrativen Kontrollen dichter wurden, nahm die Anzahl und die Art der Einträge auf den Tafeln zu: „Texts became more specific about all aspects of the tran-

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saction — who, what, how much, where and why“ (Green 1981, 362 ). Dennoch blieb die Struktur, die Art der Texte und ihre Funktion über viele Jahrhunderte weitgehend gleich. Diese archaischen Texte zeichnen sich durch einen hohen Grad von Implizitheit aus: „Alles, was in irgendeiner Weise bei dem Leser bzw. Kontrolleur als bekannt vorausgesetzt werden konnte, wurde nicht notiert“ (Nissen et al. 1991, 56). Ein Bezug auf die gesprochene Sprache oder gar die Übertragung gesprochener Äußerungen in das schriftliche Medium lag nicht vor. Alle Texte orientierten sich ausschließlich an räumlich-visuellen Gegebenheiten. Nicht auf die Formulierung kam es an, sondern auf die Plazierung der Schriftzeichen auf der Schreibfläche. Und diese war genrespezifisch organisiert. Listen, etwa 10% der ältesten Texte, zeichneten sich dadurch aus, daß jede Eintragung mit einem Zeichen für „1“ versehen wurde (unserem Gedankenstrich vergleichbar), Verwaltungstexte, 90% der Texte, waren nach folgendem Schema aufgebaut: Anzahl der Objekte einer Transaktion, ihre Art, Namen der an der Transaktion beteiligten Personen, nähere Bestimmungen der Personen, z. B. durch Beruf, Herkunftsort oder andere Personen (Ulshöfer 1991, 153). So war das Layout ein wichtiger Bedeutungsträger. Diese Eigenschaften der ältesten Texte findet ihre Erklärung in der Funktion der Texte. Listen dienten der Organisation von Wissen. Sie spielten in der Ausbildung der Schreiber eine Rolle. Verwaltungstexte waren nicht Mitteilungen, sondern Gedächtnishilfen, „Mittel zum Erinnern“ (Plato), und in dieser Funktion auch Instrumente der administrativen Kontrolle. Was sich im Verlauf des 3. Jahrtausends änderte und zu dem führte, was wir als Texte bezeichnen können, war die Entwicklung einer neuen Funktion des Schreibens. Neben die memorative Funktion, die ein Teil der Texte nach wie vor hatte, trat die kommunikative Funktion von Texten. Schreiben war nun dem Reden und Sprechen vergleichbar. Implizite Bedeutungen mußten expliziert werden: „information which belonged to the sphere of the scribe’s personal familarity with language and writing system, information which was used by him to supplement the featural information of grapheme and text, became systematically incorporated into the writing system itself“ (Green 1981, 360).

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Die Texte wurden nicht nur expliziter, sondern mit der Explizitheit zugleich auch sprachabhängiger. Die Zahl der lautlichen Abstraktionen (die sog. phonetischen Schreibungen) nahm zu. Geschriebene und gesprochene Sprache waren nicht mehr durch die Menschen, die sie verwendeten, aufeinander bezogen, sondern nun auch durch ihre Form. Schließlich wurde auch die genrespezifische Organisation der Tafeln aufgegeben zugunsten einer einheitlichen Aufteilung der Schreibfläche in Kolumne und Zeilen (s. o.). Die Linearisierung der Schriftzeichen folgt einem Prinzip der gesprochenen Sprache. Nur in dieser Form konnten schriftliche Aufzeichnungen laut gelesen oder vorgelesen werden. Man hat angenommen, daß es die Königslisten waren, an denen die Entwicklung ansetzte: „Die sumerischen Königsinschriften haben dem altsumerischen Schreiber zum ersten Mal geregelt die Möglichkeit geboten, ganze Sätze niederzuschreiben und aneinanderzureihen“ (Kraus 1973, 36). Neben den Königsinschriften kommen aber auch noch die Briefe in Betracht, in denen die Könige untereinander verkehrten oder Anweisungen an ihre Beamte gaben. Königsinschriften und Briefe finden sich vereinzelt schon unter den ältesten Texten. In beiden Gattungen steht die Mitteilung im Vordergrund, so daß die Annahme, daß die Bildung neuer Textformen bei ihnen ihren Anfang nahm, recht plausibel ist. Nachdem die Begrenzung der Textbildung auf Verwaltungstexte und Objektlisten aufgehoben war, konnten neue Bereiche (Gesetzgebung, Handel, Religion, Wissenschaften, der diplomatische Verkehr u. a. m.) der Schrift erschlossen und eine Fülle neuer Textsorten gebildet werden. Für die Texte der altbabylonischen Zeit (2 000—1600 v. Chr.) gibt Kraus (1973, 16 f) das folgende Bild: „Das Gebrauchsschrifttum (...) besteht fort, vermehrt um gleichartige akkadische Urkunden. Die nur noch sporadisch vorkommenden sumerischen ‘letter-orders’ werden von der großen und artreichen akkadischen Briefliteratur abgelöst. Auf dem Gebiet der Inschriften sind die vielen, jetzt oft ausführlichen Königsinschriften sumerisch, zweisprachig oder akkadisch abgefaßt. Neben sie treten sumerische und akkadische Sammlungen sogenannter Gesetze und akkadische Edikte des Königs (...). Geradezu verblüffend wirkt die Fülle und Vielfalt der sumerischen literarischen Texte“. Mit der Aufzeichnung der aus der mündlichen Tradition stammenden literarischen Texte gewinnt Schreiben im alten Orient

4.  Geschichte des Schreibens

eine weitere, eine dritte Funktion. Schreiben wird zu einem Mittel, mündliche Äußerungen in eine schriftliche Form zu bringen — „a tool for transferring speech to a more permanent storage medium“ (Green 1981, 366). Es sind hauptsächlich drei Errungenschaften, die wir dem alten Vorderen Orient verdanken: (1) eine Standardisierung der Schriftzeichen; (2 ) eine Standardisierung in der Organisation der Schreibseite und (3) eine erste Differenzierung der Funktionen des Schreibens.

4.

Das alte Ägypten

Bei den alten Ägyptern war so ziemlich alles anders als bei den Sumerern und Babyloniern: eine andere Schrift, andere Schriftträger, andere Schreibtechniken und Schreibkonventionen. Sie entwickelten andere Textformen. Und vor allem: die Voraussetzungen waren andere. Anders als in Mesopotamien „entwickelt sich die Schrift in Ägypten nicht im Rahmen der Wirtschaft, sondern der politischen Organisation und Repräsentation“ (Assmann 1992 , 169). Dennoch sind die Ergebnisse, zu denen die Entwicklung in Ägypten kam, nicht weit von dem entfernt, was im Vorderen Orient erreicht wurde. Man kann also sagen, daß in unserem Kulturkreis das Schreiben gleich zweimal entwickelt und ausgebildet worden ist, einmal im Vorderen Orient und ziemlich gleichzeitig in Ägypten (→ Art. 19; 34). 4.1. Die Herkunft Die Ägypter fingen um 3000 v. Chr., also 2 00 oder 300 Jahre nach den Sumerern, an zu schreiben. Man sollte darum annehmen, daß sie die neue Kunst von ihren Nachbarn übernommen haben. Doch genau dies scheint nicht der Fall gewesen zu sein. Was sie übernommen haben könnten, ist allenfalls die Idee des Schreibens. Doch auch das ist nicht gewiß. Man gebrauchte in Ägypten ein und dasselbe Wort zur Bezeichnung sowohl des Schreibens als auch des Malens. „Sehr wahrscheinlich dürfte dabei die Bedeutung des ‘Malens’ die ältere von beiden sein. Unter den Zeugnissen aus der schriftlosen vordynastischen Zeit finden sich nämlich bereits viele bemalte Gegenstände, so daß angenommen werden darf, daß es in dieser Zeit nur den Vorgang des ‘Malens’ bezeichnete. Das später aufkommende ‘Schreiben’ unterschied sich in der technischen Ausführung nur unwesentlich

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vom ‘Malen’ “ (Weber 1969, 66 f) und konnte so mit demselben Wort wiedergegeben werden. Man schrieb und malte auf denselben Materialien mit denselben Werkzeugen, und auch die Schriftzeichen waren anfangs noch regelrechte Zeichnungen. So dürfte das Schreiben im alten Ägypten eher in einer ikonographischen denn in einer epigraphischen Tradition gestanden haben. 4.2. Die Schreibprodukte (Texte) Wieder brauchte man ein halbes Jahrtausend zur Ausbildung zusammenhängender schriftlicher Äußerungen. Die Zäsur fällt in die Zeit der dritten Dynastie (2 635—2 570 v. Chr.) und könnte durchaus in einem Zusammenhang mit den Reformen des Imhotep (um 2 62 0 v. Chr.) stehen, die sowohl der Architektur als auch dem Verwaltungswesen galten (Baines 1983). Vorher hat man kaum mehr als Namen, Listen und dergleichen aufgezeichnet: „Äußerungen, Überschriften vergleichbar, keine Texte“ (ebd., 576). Bis zum Ende des alten Reiches (2 135 v. Chr.) dominierten kürzere Texte: Dekrete, Kontrakte, Briefe usw. Dann aber entwickelte sich ein breites Spektrum an Texten, auch umfangreicheren: religiöse, historische, juristische, wissenschaftliche und schließlich literarische. Texte dienten im alten Ägypten zwei Zwekken: der Administration und der Repräsentation (Baines) bzw. der Gebrauchs- und der Gedächtniskultur (Assmann). Die Zwecke finden in den Schreibprodukten ihren Ausdruck: auf der einen Seite die in Stein gemeißelten Inschriften, die wir noch heute auf Grab- und Tempelwänden sowie in den Museen der Welt bewundern können, auf der anderen Seite die vielen auf Papyrus geschriebenen Gebrauchstexte, die sich am ehesten mit denen des Vorderen Orients vergleichen lassen. Assmann unterscheidet „Inschriftlichkeit“ und „Handschriftlichkeit“ (Assmann 1991). 4.3. Die Inschriften Man kann im Zweifel sein, ob das Einmeißeln von Schriftzeichen in den Stein als Schreiben gelten kann. Technisch ist der Unterschied zwischen dem Einritzen, einer der ältesten Weisen zu schreiben, und dem Einmeißeln nicht groß. Ausschlaggebend dürfte aber die Bestimmung der Funktion sein. Assmann (1991, 143 f) bestimmt die Herstellung einer Inschrift als „einen performativen Schreibakt“: „Im Modus der hieroglyphischen Inschriftlichkeit verläßt die Sprache die ihr ei-

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gentümliche situative Eingebundenheit in den Zeit-Ort der Kommunikation (ihren ‘Sitz im Leben’) und geht über in die vollkommen andere situative Eingebundenheit des monumentalen Bildes. (...) Die Inschrift (...) gibt kein Sprechen wieder, sondern spricht selbst im Medium monumentaler Sichtbarkeit und Präsenz“. Der andere Zweck kommt in einer Reihe von epigraphischen Besonderheiten zum Ausdruck. Den Inschriften war eine besondere Schriftform vorbehalten: die Hieroglyphenschrift. „Das Spezifikum der Hieroglyphenschrift ist ihre Bildhaftigkeit“. Sie ist „ein Teil der Kunst, war Sache derselben Handwerker“ (Assmann 1991, 142 ). Auch galten hier andere Schreibkonventionen. Während die Schreibrichtung in allen anderen Schriftstücken auf eine Richtung festgelegt war (s. unten), waren die Schreiber der Inschriften freier in ihrer Handhabung: sie konnten von rechts nach links, von links nach rechts, aber auch von oben nach unten schreiben. Später zeichneten sich Inschriften auch durch eine andere Sprachform aus. „Bis zum Aussterben der Hieroglyphenschrift“ (das letzte Zeugnis stammt aus dem Jahre 394 n. Chr.) behielt man „die Sprachstufe des Ägyptischen bei, die im Mittleren Reich in Gebrauch war. Das heißt, man schrieb Mittelägyptisch“ (Schlott 1989, 207). 4.4. Die Handschriften Was die Kultur des alten Ägypten zu einer Schriftkultur machte, war die Tatsache, daß die Verwaltung des Landes, wie bei den Sumerern auch, in den Händen der schreibenden Zunft lag: „der Stand der ‘Schreiber’ oder ‘Kanzlisten’ gab dem Lande seine Signatur“ (Birt 1907, 8). Und so machen nicht Inschriften, sondern Handschriften den größten Teil der ägyptischen Schriftstücke aus. Beamte benötigen eine flüssig zu schreibende Schrift, ohne Schnörkel, von Hand zu schreiben: eine Zweckschrift. Eine solche entwickelte sich sehr bald aus der Hieroglyphenschrift: die hieratische Schrift (→ Art. 19). Wer schreiben lernte, schrieb in hieratischer Schrift. Geschrieben wurde vornehmlich auf Streifen von Papyrus (→ Art. 8), mit einem Pinsel, in schwarzer und roter Tinte. Die rote Tinte diente zu Hervorhebungen der verschiedensten Art. Waren nur kurze Eintragungen vorzunehmen, so konnte dies stehend vorgenommen werden. Bei längeren oder sorgfältig auszu-

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

führenden Arbeiten saß man auf dem Boden im Schneidersitz, einen Schurz straff zwischen die Knie gespannt, so daß darauf, gleichsam wie auf einem Schreibtisch, der offene Abschnitt der Papyrusrolle gelegt und beschrieben werden konnte. Tische wurden nicht benutzt. Anfangs folgten die Schriftzeichen von oben nach unten: in Kolumnen. Um 2 000 v. Chr. entdeckte man, wie im Zweistromland, die Vorteile der Zeilenschreibung. Solange man in Kolumnen schrieb, „war die Aufteilung der Rolle unproblematisch: Man schrieb einfach von rechts nach links Kolumne hinter Kolumne. Sobald jedoch Zeilen vorkamen, hatte man die Wahl, wie lang man sie machen wollte; theoretisch hätten sie so lang sein können wie die ganze Papyrusrolle. Zum Schreiben und Lesen wäre dies jedoch ein sehr unpraktisches Verfahren gewesen, da man ja dann den Papyrus für jede Zeile vollständig hätte aufrollen müssen. Deshalb teilten die Schreiber die Papyrusrollen in einzelne ‘Seiten’ auf, die gerade so breit waren, daß man sie bequem handhaben konnte” (Schlott 1989, 68). Eine Aufteilung der Rolle war überflüssig, wenn man die Zeilen quer zur Längsseite anlegte, und so die gesamte Schreibfläche Zeile für Zeile beschriftet werden konnte — ein Verfahren, das man bei der Anfertigung von kurzen Schriftstücken, etwa bei Briefen, bevorzugte. Das Schriftbild altägyptischer Handschriften zeichnet sich dadurch aus, daß so gut wie keine Untergliederungen vorgenommen wurden: Schriftzeichen reihte sich an Schriftzeichen, Satz an Satz. Lediglich der Beginn eines neuen Abschnittes konnte dadurch markiert sein, daß das erste Wort mit roter Farbe ausgezeichnet war. Eine so wenig entwickelte Gestaltung des Schriftbildes läßt darauf schließen, daß die Handschriften nicht für die Lektüre über das Auge, als vielmehr zum Vortrag vor Hörern bestimmt waren. In vielen, vielleicht sogar in den meisten Fällen wird der Schreiber den Text nicht nur niedergeschrieben, sondern auch selber aufgesetzt haben. Für Listen, Register, Urkunden, Gerichtsentscheidungen usw. lagen Muster bereit, auf die jederzeit zurückgegriffen werden konnten. Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß Texte auch diktiert worden sind. Das Vorbild gaben die Herrschaften: „The governor or executive dictated: the scribe translated his words into script“ (Havelock 1963, 117). Nach diesem Muster konnten sich auch zwei Schreiber die Arbeit teilen:

4.  Geschichte des Schreibens

der eine formulierte den Text, der andere schrieb ihn auf. Oft genügte es, wenn der Auftraggeber mit dem Schreiber die Hauptpunkte seines Anliegens durchging. Im übrigen können wir davon ausgehen, daß eine solche Praxis auch den Nachbarn im Zweistromland nicht unbekannt war. Nur ist sie für Ägypten besser dokumentiert. Ein großer Teil der Tätigkeit von Schreibern bestand in der Anfertigung von Abschriften. Abschriften von Dokumenten wurden zur Archivierung, Abschriften von literarischen Werken für die Verbreitung und Überlieferung benötigt. Auch Abschriften wurden nach Diktat vorgenommen: „although dictation was certainly employed in Pharaonic Egypt for the writing of documents which were required in several copies, there is as yet no agreement among scholars as to the extent, if at all, it was used for the multiplication of literary texts“ (Skeat 1956, 183). Wie stets in alten Zeiten haben sich die Schreiber nicht gescheut, ihre eigenen Kommentare in den Text hineinzuschreiben und Modernisierung vorzunehmen.

5.

Die griechische und römische Antike

Die Griechen und Römer brauchten das Schreiben nicht noch einmal zu erfinden. Sie fanden es vor. Dennoch ist ihre Weise zu schreiben nicht eine Fortsetzung der bei den Sumerern und Ägyptern begonnenen Geschichte. Daß diese noch einmal neu ansetzt, einen eigenen Verlauf nimmt und schließlich eine Prägung erhält, die es erlaubt, von einer griechisch-römischen Schriftkultur zu sprechen (→ Art. 37, 38), ist auf die Tatsache zurückzuführen, daß die Bedingungen für ihre Ausprägung in Griechenland ganz besondere waren. 5.1. Das phönikische Erbe Bekanntlich haben die Griechen die Grundzüge ihres Schriftsystems von ihren östlichen Nachbarn, den Phönikern, übernommen, vermutlich in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. In Anpassung an die Besonderheiten ihrer Lautsprache wurde sie zu einer regelrechten Lautschrift ausgebaut (→ Art. 2 5). Dieser Tatsache wird allgemein eine große Bedeutung für die Alphabetisierung der Griechen und für die spezifische Ausprägung ihrer Form von Literalität beigemessen. Was weniger Beachtung gefunden hat, ist die Tat-

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sache, daß sie „sich auch die Schreibpraktiken derjenigen zueigen gemacht haben, deren Vorbild sie die eigene Schriftlichkeit verdanken“ (Heubeck 1979, 145). Sie haben — wie diese — mit Griffeln auf wachsbeschichtete Täfelchen geschrieben oder mit Pinsel und Tusche auf Papyrus, Leder oder Ostraka; anfangs auch in der im Orient üblichen Weise: von rechts nach links; ohne Worttrenner, also scriptura continua. Ob sie die Schrift auch zu denselben Zwekken wie ihre phönikischen Nachbarn verwendet haben, ist in der Forschung kontrovers. Indizien könnten dafür sprechen, daß es entweder „griechische Händler und Kaufleute“ waren, „die bei ihren phönikischen Partnern den täglichen Gebrauch der Schrift gesehen, als nützlich und notwendig erkannt und deshalb auch in ihre eigene tägliche Praxis übernommen haben“ (Heubeck 1979, 151), oder „orientalische Handwerker“, die „in die griechischen Städte einwanderten und dort ihre Fertigkeiten an Griechen weitergaben“ (Burkert 1984, 2 5). Sollten solche Annahmen der Wirklichkeit entsprechen, so hätten wir mit einer Phase in der griechischen Schriftgeschichte zu rechnen, die in starkem Maße von der der Orientalen abhängig war und diese zunächst einmal fortsetzte. Es fehlen jedoch die archäologischen Belege. Darum ist nicht auszuschließen, daß die griechische Schriftgeschichte von Anfang an einen anderen Verlauf genommen hat. 5.2. Die Entwicklung in Griechenland Daß die Geschichte des Schreibens in Griechenland anders verlaufen ist als bei den östlichen Nachbarn, ist in erster Linie auf die besonderen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zurückzuführen. „Der Sonderweg griechischer Kulturentwicklung ist im engsten Verbund mit einer technologischen Revolution, der Erfindung der Alphabetschrift, zu sehen. Jedoch ist es nicht allein eine Sache des Schriftsystems, sondern eines viel komplexeren Befundes, in dem es auf die Frage ankommt, wo die Instanzen der Weisung konzentriert sind, wie Verbindlichkeit gesichert und durchgesetzt wird. Das Besondere der griechischen Situation liegt in der soziopolitischen Verwendung der Schrift“ (A. und J. Assmann in Havelock 1990, 14). Schreiben war im alten Griechenland kein Mittel, um administrative Kontrollen durchzuführen oder die Macht eines Herrschers ins Bild zu setzen. Schreiben diente hier der Her-

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stellung von Öffentlichkeit in einer sich demokratisch verfassenden Gesellschaft. Dies erklärt zum einen, daß Schreiben nicht das Privileg einer bestimmten sozialen Gruppe war, weder der Beamten noch der Priester. Auch gibt es keine Anzeichen für eine Professionalisierung des Schreibens. Der Weg zum Schreiben stand grundsätzlich allen freien Bürgern offen. Das heißt aber nicht, daß auch jeder Bürger geschrieben hätte. Bis zum 6. Jahrhundert v. Chr. war die Kunst des Schreibens auf ganz wenige Kreise der Bevölkerung beschränkt. Im Verlauf des 5. Jahrhunderts nahm die Zahl derer, die schreiben konnten, rapide zu. Hier wird sich die Tatsache ausgewirkt haben, daß spätestens im ausgehenden 6. Jahrhundert Schreiben zum Gegenstand des Elementarunterrichtes wurde. Man schätzt, daß im 4. Jahrhundert fast jeder Bürger von Athen die neue Kunst beherrschte (Harvey 1966; vorsichtiger Thomas 1989). Die Aufgabe, die dem Schreiben in Griechenland zufiel, erklärt zum anderen die Funktion der Texte, die nun geschrieben wurden. „The earliest Greek inscriptions are public statements; they explain some object, or intention, to a reading public“ (Jeffery 1982 , 831). Bemerkenswert schnell drang die neue Kunst in den Bereich ein, in dem das gesellschaftliche Wissen überliefert und der darum schon seit eh und je öffentlich war: den Bereich der Lieder und vor allem der großen Epen. Die homerischen Epen sind vielleicht schon im 8. Jahrhundert schriftlich festgehalten worden. Im 6. Jahrhundert wurden die Gesetze aufgezeichnet. Das 5. Jahrhundert zeigt eine Fülle an schriftstellerischen Aktivitäten: philosophische, historische und wissenschaftliche. Komödien und Tragödien werden geschrieben und vor allem Reden der verschiedensten Art. „Le tribunale est (...) la grande forge où le discours écrit s’élabore et se perfectionne“ (Canfora 1988, 2 12 ). Im 4. Jahrhundert gab es schließlich kaum noch einen Vorgang von öffentlichem Interesse, der nicht schriftlich zu erfolgen hatte: „for real and striking proof one needed written documentation“ (Thomas 1989, 286). Die Rolle, die das Schreiben bei der allmählichen Verschriftlichung der griechischen Kultur spielte, muß im Zusammenhang mit grundlegenden Veränderungen der sprachlichen Kommunikation insgesamt gesehen werden. „Was uns schriftlich aus dem achten, siebten, sechsten und teilweise auch noch aus dem fünften Jahrhundert begegnet (...), sind

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

erste Komponenten der Schriftlichkeit innerhalb einer immer noch vorwiegend mündlichen Kultur“ (Andresen 1987, 37). Zwar mehren sich die Texte, die von vornherein zum Lesen eingerichtet waren. Doch die große Masse war für den öffentlichen Vortrag bestimmt und wurde über das Ohr, auditiv, aufgenommen. Die Rezeption dieser Texte blieb also, was sie immer schon war: aural. Hier hat sich vorerst nichts geändert. Was sich änderte, war der Modus der Produktion. Ein Text entstand nicht mehr im Augenblick des Vortrages und bei jedem Vortrag immer wieder neu, sondern wurde vor dem Vortrag und unabhängig von ihm aufgeschrieben. Schreiben ersetzte die ephemere Produktionsweise der alten oralen Praxis. Das hatte Konsequenzen. Texte brauchten nicht mehr von Mund zu Mund weitergegeben zu werden, es genügte, daß man sie aufschrieb. Die Veröffentlichung vollzog sich teils oral, teils literal. Sie blieb oral, insoweit der Text zum Vortrag kam. Sie wurde literal in dem Maße, wie sich der Vortragende, der „Rhapsode“, auf einen schriftlich ausgearbeiteten Text stützen konnte, sei es daß er nach ihm memorierte, sei es daß er einfach aus ihm vorlas. 5.3. Die Entwicklung im römischen Reich Während wir im alten Griechenland ziemlich genau den Übergang von einer oralen zu einer literalen Praxis verfolgen können, zumindest genauer als dies für Ägypten und den Vorderen Orient möglich ist, geben uns die lateinischen Quellen eine einigermaßen vollständige Vorstellung von der Praxis des Schreibens, die, wenn auch vermutlich nicht in dem Maße ausgeprägt, so doch im Grundsatz schon in griechischer Zeit vorhanden gewesen sein dürfte. In technologischer, organisatorischer und funktionaler Hinsicht lassen sich die folgenden Arten des Schreibens unterscheiden: (1) Man schrieb eigenhändig, aber „nur in Ausnahmefällen“ (Norden 1981, 954): flüchtige Notizen, persönliche Aufzeichnungen, vertrauliche Briefe und wohl auch Gedichte (Kleberg 1969). (2 ) In der Regel zog man das Diktat vor: man ließ nach Diktat schreiben. Anders als in den bürokratisch oder autoritär organisierten Schriftkulturen des Nahen Ostens galt das Schreiben bei den Römern als eine minderwertige Tätigkeit, die man lieber Angestellten oder Sklaven überließ (Dekkers 1952).

4.  Geschichte des Schreibens

(3) Dem Nach-Diktat-Schreiben nahe steht das Mitschreiben oder Mitstenographieren. Mitgeschrieben wurden Reden oder Predigten bekannter Persönlichkeiten, Anklageschriften und Zeugenaussagen, Debatten aller Art. Protokollanten oder Stenographen ( notarii, exceptores ) nahmen die Aufzeichnungen auf Wachstäfelchen vor, gleichzeitig oder sich abwechselnd, erstellten auf der Grundlage ihrer Aufzeichnungen ein Manuskript, das dann zur Reinschrift auf Papyrus oder Pergament gebracht werden konnte. (4) Abschreiben: „In den frühesten Zeiten der Buchgeschichte war es ohne Zweifel der einzige (...) Weg, um sich ein Buch zu beschaffen, das man besitzen wollte: man ließ durch einen des Schreibens kundigen Sklaven ein verfügbares Exemplar (...) abschreiben oder aber besorgte dies mit eigener Hand“ (Kleberg 1969, 5). Abgeschrieben wurde entweder von einer Vorlage oder nach Diktat. „The scribe copying visually can range over the exemplar at will, he can gain a complete image of a passage, and look either forwards or backwards in search of a clue to the meaning; nor is he troubled by any need to keep up with the speed of the dictator. The scribe writing from dictation, on the other hand, is in a fundamentally different predicament; he depends entirely on a single, fleeting, auditory image for the produktion of his text, and if he mishears the chances of his rectifying, or ever realizing, the mistake are small. All he has before him at any one time is the small section of text with which he is currently concerned“ (Skeat 1956, 206). (5) Die Anfertigung einer Reinschrift. Sieht man von dem eigenhändigen Schreiben einmal ab und berücksichtigt man, daß das Schreiben ins Reine nur ein Moment bei der Produktion von Manuskripten ist, so läßt sich der Prozeß der Produktion für das NachDiktat-Schreiben, das Mit- und Abschreiben ziemlich einheitlich beschreiben. Da das Mit- und Nach-Diktat-Schreiben erheblich mehr Zeit als das Sprechen beansprucht, galt es, die unterschiedlichen Geschwindigkeiten aufeinander abzustimmen. Wer diktiert, kann Rücksicht auf den Schreibenden nehmen: das Tempo verzögern, Pausen einlegen oder Wiederholungen zulassen. Einem Vortragenden bleibt dies jedoch versagt. Man behalf sich auf verschiedene Weisen (Arns 1953). Man verwendete für die Aufzeichnung Wachstafeln unter anderem auch deswegen, weil sie ein höheres Schreibtempo erlaubten als andere Materialien. Man schrieb

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in Kursive und führte (übrigens schon in griechischer Zeit) Abkürzungen ein: ließ Teile von Wörtern oder Sätzen einfach weg, zog Wortteile oder ganze Wörter zusammen und setzte (in römischer Zeit) eine Art Kurzschrift ein, die sog. „tironischen Noten“. Die Aufzeichnung mußte in eine Fassung gebracht werden, die einem Schreiber diktiert oder zur Abschrift vorgelegt werden konnte. Ergänzungen wurden vorgenommen, wenn die Zeit nicht ausgereicht hatte, um alles aufzuzeichnen. Wenn eine Rede von mehreren Sekretären mitstenographiert worden war, mußte das Manuskript aus den verschiedenen Mitschriften erstellt werden. Für die Reinschrift waren in der Regel Schreiber ( librarii, scriptores oder scribae ) zuständig. Ihre Aufgabe bestand darin, ein Exemplar des Textes herzustellen, das, wenn es sich um einen Brief handelte, verschickt oder, wenn es sich um ein Buch handelte, veröffentlicht werden konnte. Da während der ganzen Antike scriptura continua üblich war, diese Schreibkonvention aber das Lesen schwierig machte, hat man Vorlesehilfen eingeführt. Dazu zählt die Gliederung des Textes in Abschnitte. Raible (1991) führt weitere Hilfen an: Akzente oder ein kommaähnliches Zeichen über dem Raum zwischen zwei Buchstaben zur Kennzeichnung von Wortgrenzen; Zeichen für Aspiration bzw. Nichtaspiration zur Kennzeichnung eines Wortanfanges; schließlich die ersten Interpunktionszeichen. Korrekturarbeiten fielen in allen Stadien der Produktion eines Manuskriptes an. Als erstes mußten die Aufzeichnungen der Sekretäre korrigiert werden. Nicht selten wurden sie erst auf andere Täfelchen übertragen, „puisque la hâte d’un tachygraphe et sa technique toujours très personelle rendent inutile un grande partie de sa correction“ (Arns 1953, 73). Eine weitere Korrektur wurde notwendig, sobald die Reinschrift vorlag. Diese wurde mit der Vorlage verglichen und, falls nötig, verbessert. Schließlich konnten am Manuskript auch dann noch Korrekturen vorgenommen werden, wenn Abschriften schon im Umlauf waren.

6.

Das europäische Mittelalter

Die antike Schreibpraxis setzt sich im Mittelalter in vieler Hinsicht fort (Bischoff 1986; Vezin 1989; → Art. 40). Nach wie vor werden Texte diktiert und Reden mitgeschrieben. Der Codex als die für das Mittelalter charakteristische Buchform war bereits in der späten

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Antike bekannt. Das gilt auch für das Schreibpult. Latein blieb noch lange die sprachliche Form, in der vornehmlich geschrieben wurde. Und geschrieben wurde wie eh und je auf Wachstäfelchen und Pergament. Papier kam erst gegen Ende des Mittelalters auf. Veränderungen in der Schreibpraxis sind selten und eher periphär. Die Kenntnis der tironischen Noten ist wohl nie ganz verloren gegangen, doch hat man von ihnen nur recht sporadisch Gebrauch gemacht. Das Schreibrohr, der calamus der Römer, wurde durch die Feder, eine Vogel- oder Gänsefeder, ersetzt. Das hatte Folgen für die Handhaltung, zumindest bei kalligraphischem Schreiben. Die Feder wurde mit drei gestreckten Fingern gehalten. Mit Ring- und kleinem Finger stützte man die Hand ab. Die Veränderungen, die das Schreiben erfahren hat, sind nicht so sehr in den Techniken und Konventionen des Schreibens, als vielmehr in den Zwecken zu suchen. Es war die Kirche, die sich des geschriebenen Wortes bemächtigte und damit das kulturelle Erbe der Antike antrat (McKitterick 1989; zur byzantinischen Schreibkultur vgl. Hunger 1989). 6.1. Monastisches Schreiben Das ganze Mittelalter hindurch gab es Laien, die schreiben konnten, und notarii, die für andere schrieben (vgl. dazu 5.3.). Die Schreibkultur, die sich zwischen dem 7. und 12 . Jahrhundert entwickelte, wurde durch Mönche geprägt (Leclercq 1963; Clanchy 1979; Saenger 1982; McKitterick 1989). Schreiben war wie Beten und Fasten, Latein und Chorgesang ein wesentliches Element der monastischen Lebensform: „Der Mönch schreibt, weil er nicht spricht und um nicht zu sprechen“ (Leclercq 1963, 173). Die Mönche haben in erster Linie für geistliche Zwecke geschrieben: zur Versorgung der Kirchen mit liturgischen Büchern, zur Tradierung vor allem des christlich-antiken Erbes, aber auch heidnischer Schriftsteller, zumindest soweit sie für das Verständnis der heiligen Schrift als nützlich erachtet wurden. Vor allem aber diente ihr Schreiben dem Lobe Gottes: „Writing was aimed at God’s eye more often than at communicating information to fellow human beings“ (Clanchy 1979, 226). Mönche haben zwar in einem bescheidenen Rahmen Texte verfaßt und Bücher geschrieben. Zwischen den Klöstern bestand ein reger Briefverkehr. Predigten wurden mitgeschrieben, aufgearbeitet und in Sammlungen für die

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abschrift bereit gehalten. Auch Bücher stammen aus dieser Zeit, vornehmlich historische Darstellungen: die Geschichte als Dokument der Werke Gottes. Einige Autoren schrieben ihre Texte eigenhändig. Sie blieben jedoch die Ausnahme. In der Regel wurde diktiert. In den Klöstern wurden jedoch mehr Bücher abgeschrieben als verfaßt. Schreiben war in dieser Zeit eine ausgesprochen reproduktive Kunst, und so finden wir hier die bedeutsamsten Veränderungen in der Praxis des Schreibens. Die Einführung der Worttrennung (Saenger 1982 ) erlaubte es, gleich aus der Vorlage abzuschreiben. Sie hatte zur Folge, daß man sich nicht mehr an den einzelnen Buchstaben, sondern an ganzen Wörtern orientierte: „So wie die Seite und die Zeile sollte auch der Wortkörper einen Block bilden. (...) Das Ziel war die Vernetzung der Zeichen zu einem Körper, die optische Darstellung, nicht die schreibmotorische Herstellung einer graphischen Einheit“ (Rück 1988, 12 7). — Mönche haben viel Zeit, und so kam es ihnen nicht darauf an, schnell zu schreiben, sondern eine dem sakralen Inhalt der Texte angemessene Schrift zu finden. Das Ergebnis war die karolingische Minuskel, keine Gebrauchs-, sondern eine Buchschrift (Bischoff 1986). — In vielen Fällen beschränkte sich die Abschrift nicht auf die Reproduktion der sprachlichen Vorgaben, sondern umfaßte auch die künstlerische Gestaltung sowohl jeder einzelnen Seite als auch des ganzen Buches (Jantzen 1940). Die Seite wird zum Bild, das Buch zu einem heiligen Gegenstand, der Reliquie vergleichbar, und so Schreiben zu einer Kunst, die dem Malen und Zeichnen näher stand als dem Sprechen. Angefertigt wurden die Abschriften von Büchern fast ausschließlich in den Skriptorien der Klöster (Bischoff 1986, 63 f; Trost 1986; Bibliotheka Palatina 1986). Oft ist die Abschrift das Werk eines einzigen Schreibmeisters. Er schrieb nicht nur den Text ab, sondern bestimmte auch die Gesamtanlage der Handschrift, die Aufteilung der einzelnen Seite, die Zuordnung von Text und Bild und nahm selbst die Rubrizierung, die Verzierung der Ränder sowie die Vorzeichnung der Bilder und ihre Bemalung vor. 6.2. Scholastisches Schreiben Um 1150 wird ein neues Kapitel in der mittelalterlichen Geschichte des Schreibens aufgeschlagen (Saenger 1982 ; Illich 1991). Die ersten Universitäten wurden gegründet, und in ihnen entstand ein neues Denken, ein Den-

4.  Geschichte des Schreibens

ken, in dem Offenbarung und Vernunft versöhnt werden sollten: die Scholastik. In dem Bereich, in dem zuvor die größten Veränderungen zu verzeichnen waren, dem Bereich der Reproduktion von Texten, trat nun eher ein Stillstand ein. Nach wie vor blieb Schreiben in den Skriptorien der Klöster eine Art Gottesdienst. Doch jenseits der Klostermauern verlor die Abschrift ihren geistlichen Glanz. An die Seite des monastischen Schreibers trat der professionelle Schreiber, der für Lohn schrieb und, um möglichst rationell arbeiten zu können, sich auf bestimmte Tätigkeiten (Ausführung der Schrift, der Initiale, der Seitenränder, der Illustrationen) spezialisierte. Der Markt bestimmte, was und wieviel abgeschrieben wurde. Worauf es ankam, war nicht die Herstellung eines Manuskriptes, sondern die Multiplikation eines Textes. Der Text löst sich aus seiner Bindung an das Manuskript (s. unten). Was die Zeit nach 1150 auszeichnet, sind die Veränderungen im produktiven Bereich. Der Autor wird zum Schreiber. Er verwandelt sich von einem „Diktator“ zu einer frühen Form des Schriftstellers. Saenger hat auf diesem Weg drei Stadien unterschieden: (1) Die Theologen des 12 . Jahrhunderts waren Kommentatoren. Sie folgten dem Text Satz für Satz, schrieben ihre Glossen auf kleine Wachstafeln und überließen diese einem Schreiber zur Abschrift. (2 ) Die Autoren des 13. Jahrhunderts, Scholastiker wie Albertus Magnus und Thomas von Aquin, begnügten sich nicht mehr mit Glossen und Kommentaren: „Der Autor wählt selbst ein Thema und bringt seine eigene Ordnung in die Reihenfolge, in der er sich mit dem Thema befassen wird. Die sichtbare Seite ist nicht mehr die Aufzeichnung von Äußerungen, sondern die visuelle Darstellung einer durchdachten Beweisführung“ (Illich 1991, 106). Da Wachstäfelchen für die Aufzeichnung komplexer und darum umfangreicher Gedankengänge wenig geeignet waren, gingen die Scholastiker dazu über, gleich auf Pergament zu schreiben. Diese Autographenmanuskripte waren aber für Außenstehende kaum zu lesen, da weder eine flüssig zu schreibende Kursive noch ein standardisiertes System von Abkürzungen zur Verfügung stand. Die schriftlichen Aufzeichnungen mußten also nach wie vor einem Sekretär diktiert werden. Doch das Diktat hatte seine Funktion geändert: „Saint Bernhard had used dictation to compose his works; Saint Thomas used dictation in the process

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of editing and disseminating a text composed, at least in rough form, by his own hand“ (Saenger 1982, 387). (3) Die Behinderungen, die der Schreibprozeß durch die Schrift erfuhr, wurden im 14. Jahrhundert mit der Entwicklung der gotischen Kursive und eines Systems von Abkürzungen aus dem Weg geräumt. Das Diktat wurde überflüssig. Der Autor konnte selber seine Texte niederschreiben. Solange Schreiben arbeitsteilig vollzogen wurde, hatten die einzelnen Aktivitäten einen hohen Grad an Eigenständigkeit. Die Korrekturarbeiten hoben sich deutlich von den Schreibarbeiten im engeren Sinne des Wortes ab: der Nieder- und Reinschrift. Und diese wiederum waren deutlich von den mentalen Vorgängen im Kopf des Autors abgesetzt. Man hatte noch nicht einmal einen Begriff für den Schreibprozeß als ganzen und vermutlich auch nur wenig klare Vorstellungen von der Zusammengehörigkeit der einzelnen Vorgänge. Die Selbständigkeit der verschiedenen Aktivitäten dürfte verhindert haben, daß die eine auf die andere einen nachhaltigen Einfluß nahm. Das mußte sich mit dem Augenblick ändern, in dem alle diese Aktivitäten von ein und derselben Person ausgeführt wurden. Nun war es möglich, daß sprachliche Korrekturen, selbst kompositorische oder gar konzeptionelle Veränderungen noch während der Niederschrift vorgenommen werden konnten und — was sich als noch bedeutsamer erwies — daß der Vollzug der Niederschrift sich auf Formulierungen, die Komposition und sogar auf die Konzeption des Textes auswirken konnte. Kurz: die Integration der verschiedenen Schreibarbeiten in einer einheitlichen, kontinuierlich sich entwikkelnden Schreibhandlung führte zu einer Interaktion unter diesen und veränderte so den Schreibprozeß grundlegend. 6.3. Säkulares Schreiben Auch außerhalb der Klöster und Universitäten ist im Mittelalter viel geschrieben worden (Clanchy 1979; Saenger 1982 ; McKitterick 1989). Hier ging es nicht um geistliche, sondern ausschließlich um weltliche Dinge. Juristische und verwaltungstechnische Intelligenz, kaufmännische Rationalität und diplomatische Klugheit bestimmten nicht nur, was und wieviel, sondern auch wie geschrieben wurde. Dies erklärt, weshalb von allen Weisen mittelalterlichen Schreibens diese der Praxis heute am nächsten kommt.

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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Die Integration des Schreibens in die Rechtsgeschäfte hatte lange vor dem Mittelalter begonnen: „Writing shifted the emphasis in testing truth from speech to document“ (Clanchy 1979, 2 0). Mit den Rechtsgeschäften zog Schreiben zugleich in den Bereich der Ausübung von Herrschaft ein. Hier gewinnt es zunehmend an Bedeutung, bis sich schließlich, seit dem 13. Jahrhundert, „Herrschaft mit Hilfe von Schrift zu ‘Verwaltung’ “ (Patze 1970, 9) wandelte. Urkunden und Briefe waren die häufigsten Schriftstücke. Es kamen hinzu: Verträge, Gesetze, Erlasse, Listen, Berichte, Register, aber auch Protokolle, Stadtbücher und Chroniken. Die im Spätmittelalter entstehende Kommunalverwaltung ist ohne Schreiben nicht denkbar. Die Integration des Schreibens in die Handelsgeschäfte, zunächst in die des Fernhandels (Pitz 1989), hatte „die Trennung der leitenden von der ausführenden Arbeit“ (ebd., 381) zur Voraussetzung, d. h. die Tatsache, daß die Kaufleute in zunehmendem Maße die risikoreichen Seefahrten ihren Agenten überließen, um von den Kontoren aus ihre Unternehmungen zu leiten. Das geschah etwa im 13. Jahrhundert, also ziemlich gleichzeitig mit den Reformen in der Administration. Mit Hilfe schriftlicher Aufzeichnungen konnte präziser kalkuliert, rationeller organisiert und verläßlicher verwaltet werden. Geschäftskorrespondenzen, Buchungen, Ausstellung von Verträgen und Rechnungen waren täglich zu verrichtende Arbeiten. „Les écrits des hommes d’affaires se distinguent par leur apparance même de ceux des notaires ou des lettres de profession. Tant dans leur expression que dans leur graphie ils sont claire, nets, précis, ordonné“ (Bec 1967, 49). Schließlich hielt Schreiben auch Einzug in den diplomatischen Verkehr (Queller 1967, 10): „While babarian rulers at the dawn of the Middle Ages sent envoys without letters merely to mouth memorized messages, civilized states such as those of the High Middle Ages conducted their relations by means of envoys whose powers depended upon the letters entrusted to them“. Dazu kamen die Berichte, die die Gesandten regelmäßig abzuliefern hatten. Spätestens seit dem 14. und 15. Jahrhundert drang Schreiben in alle Kreise der Laienschaft. Damit verlor die lateinische Sprache das Monopol, das sie so viele Jahrhunderte hindurch hatte behaupten können (→ Art. 40; 41). An ihre Stelle trat eine sich nun ausbildende geschriebene Form der jeweiligen Landessprache. Damit war der Graben, der

viele Jahrhunderte die literale Kultur des Mittelalters von der oralen Welt der großen Mehrheit der Bevölkerung trennte, eingeebnet. Schreiben war nicht länger mehr eine Kunst, wie Zeichnen und Malen, sondern ein Analogon oder besser eine Alternative zum Sprechen, genau so, wie wir es heute für selbstverständlich halten.

7.

Neuzeit und Moderne

Es gibt kein Ereignis, das erlauben würde, in der Geschichte des Schreibens eine Zäsur zwischen Mittelalter und Neuzeit zu setzen. Auch die Einführung des Buchdruckes im 15. Jahrhundert ist nur ein Moment, gleichwohl ein sehr augenfälliges, in einem kontinuierlich sich vollziehenden Übergang. 7.1. Fortsetzungen Einige Entwicklungen, die noch im Mittelalter eingesetzt haben, fanden in der Neuzeit eine Fortsetzung. So hat sich der Autor, der selber schreibt, bereits im späten Mittelalter etabliert, aber durchgesetzt hat er sich erst in der Neuzeit. Es waren Kaufleute, die bereits im ausgehenden Mittelalter für private Zwecke schrieben: Briefe, aber auch Tagebücher, Lebenserinnerungen und Chroniken. In der Neuzeit erfaßte die Privatisierung des Schreibens weitere Kreise der Bevölkerung, im 17. und 18. Jahrhundert das Bürgertum (Engelsing 1973), im 19. Jahrhundert auch die unteren Schichten, die Handwerker und Bauern (Schikorsky 1991; → Art. 70). Das Schreiben expandierte aber auch in den Bereichen, in denen es bereits im Mittelalter und vorher Fuß gefaßt hatte: in der Administration, im Handel und in der Diplomatie. Neue Bereiche kamen und kommen hinzu: im 19. Jahrhundert die Industrie, im 2 0. Jahrhundert die Bedürfnisse der modernen Informations- und Kommunikationsgesellschaft (Beniger 1986). In allen diesen Bereichen wird die Notwendigkeit der Kontrolle dringlicher und damit der Bedarf an der Sammlung, Speicherung, Verarbeitung und Verbreitung von Informationen größer. Nirgendwo ist die Expansion des Schreibens deutlicher erkennbar als in den Schulen. In den Schreibschulen des Mittelalters lernten die Söhne der Kaufleute und Handwerker neben Rechnen und Lesen auch Schreiben, doch nur soviel, wie ihnen später nützlich zu werden versprach: das Alphabet, die Rechtschreibung, vor allem die Kalligraphie und

4.  Geschichte des Schreibens

das Aufsetzen geschäftlicher Texte nach vorgegebenen Mustern. In den Lateinschulen des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit fertigten die Söhne des begüterten Bürgertums Reden, Briefe und Gedichte im Rahmen des Lateinunterrichtes an. Die Anfertigung erfolgte schriftlich, doch vorgetragen wurden die Texte mündlich. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand in Deutschland an den Gymnasien der schriftliche Aufsatz (Ludwig 1988), eine Übungsform, die nicht auf den Vortrag abzielte, sondern ausschließlich das Schreibvermögen schulen sollte. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts setzte sich der schriftliche Aufsatz auch in den Elementarschulen durch, so daß man davon ausgehen kann, daß am Ende des Jahrhunderts so gut wie jeder Bürger zumindest einmal in seinem Leben mit der Schrift in Berührung gekommen war. Im folgenden sollen drei neuere Entwicklungen in der Praxis des Schreibens dargestellt werden. Man könnte weitere anführen, so die Ausbildung einer Schriftsprache seit dem 15. Jahrhundert (Giesecke 1992 ); die Entwicklung von Stenographien (Segelken 1991; → Art. 144); die Normierungen der Schriftsprache, also der Sprache, die beim Schreiben verwendet wird, durch die Stilistiken des 19. Jahrhunderts (→ Art. 139); der Einsatz von Diktiergeräten; die wissenschaftliche Erforschung des Schreibprozesses (→ Art. 83—86). Die Beschränkung auf drei Entwicklungen ist damit zu rechtfertigen, daß wir über die Veränderungen, die die Schreibpraxis in der Neuzeit erfahren hat, kaum etwas wissen, und es erst einmal darauf ankommt, einige Gesichtspunkte für ihre Darstellung ausfindig zu machen und zu explizieren. 7.2. Die Auswirkungen des Buchdruckes Um die Auswirkungen des Buchdruckes auf die Praxis des Schreibens (Giesecke 1991) ins rechte Licht zu rücken, muß man sie in einen größeren Rahmen stellen. Bis zur Einführung des Buchdruckes hatte Schreiben zwei Hauptfunktionen zu erfüllen: die Produktion und die Reproduktion von Texten. Das eine geschah durch Aufschreiben, das andere durch Abschreiben. Seit etwa dem 3. Jahrhundert wurden Bücher abgeschrieben, um sie zu vervielfältigen. Genau diese Aufgabe hat im 15. Jahrhundert der Druck übernommen. Mehr nicht. „Gutenberg blieb in der Tradition und zielte auch seinerseits auf nichts anderes ab, als literarische Texte zu vermitteln und zu vervielfältigen, so wie es seit langer Zeit ge-

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schehen war, nur auf eine neue und rationellere Weise. Er hat (...) der in weiten Kreisen seit langem bestehenden Hinwendung zum Buch durch seinen codex impressus eine Dynamik verliehen, die der codex manuscriptus nie besitzen konnte. Denn bei diesem entstand durch den Arbeitsvorgang des Abschreibens jeweils nur ein neues Exemplar, beim codex impressus dagegen durch den vergleichbaren einen Arbeitsvorgang des Druckens eine Auflage, d. h. eine Anzahl identischer Exemplare“ (Schmidt 1973, 32 5). So läßt sich feststellen, daß das Drucken das Schreiben weder ersetzt noch in seiner Bedeutung beeinträchtigt hat. Es hat lediglich eine Funktion der Reproduktion: die massenhafte Vervielfältigung von Texten übernommen. Nach wie vor mußte aber alles, was gedruckt werden sollte, erst einmal aufgeschrieben werden. Und bei weitem nicht alles, was geschrieben wurde, wurde auch gedruckt: nicht die vielen Akten und Urkunden, die in den Kanzleien angefertigt wurden. Nicht die vielen persönlichen Aufzeichnungen. Selbst Abschriften wurden vielfach noch mit der Hand vorgenommen, bis dann der Kopierer das Abschreiben weitgehend überflüssig machte. 7.3. Andere Vorstellung vom Schreiben „Im Westen war bis über die Renaissance hinaus die förmliche Rede die meistgelehrte aller verbalen Produktionen. Implizit blieb sie das Basis-Paradigma für jeden Diskurs, den schriftlichen wie den mündlichen“ (Ong 1987, 119 f). Autoren waren Redner, nicht Schriftsteller, und die Rede war definiert durch die Wirkung, die sie auf die Zuhörer ausübte. Schreiben spielte nur eine untergeordnete Rolle, diente der Herstellung eines Manuskriptes, auf das man sich während des Vortrages stützen konnte. Auch viele Texte, die nicht vorgetragen wurden, waren wie Reden angelegt. Eine ganz andere Vorstellung von Schreiben kam während des 18. Jahrhunderts auf (Geitner 1992 ). Aufgeklärte Menschen reden und schreiben nicht, um Einfluß auf andere Menschen zu nehmen oder gar um diese zu überreden, sie reden und schreiben, um ihre Gedanken, Ansichten und Meinungen zum Ausdruck zu bringen. Nicht die Wirkungen, die ein Text auf Zuhörer oder Leser ausübt, standen im Mittelpunkt ihrer Vorstellungen, sondern die Gedanken, die in ihm zum Ausdruck kommen. Damit haben sich die Vorstellungen vom Schreiben ziemlich grundlegend geändert. Im Schreiben entdeckte man

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die Möglichkeit, nicht nur Gedanken zum Ausdruck zu bringen (das leistete das Reden auch), sondern darüberhinaus Gedanken zu ordnen, sich Klarheit über Gedanken zu verschaffen, Gedanken zu verarbeiten und — überhaupt erst einmal auf Gedanken zu kommen. „Der Griffel, d. i. bey uns die Schreibfeder“, so Herder, „schärft den Verstand, sie entwickelt Ideen, sie macht die Seele auf eine wundersame Weise thätig“ (182 0, 170). Einst „die Magd der Rede“ (Giesecke) wird Schreiben nun zur Herrin. Der Schriftsteller verdrängt als Leitfigur den Redner. Das „BasisParadigma für jeden Diskurs, den schriftlichen wie den mündlichen“ (Ong) ist nun der Text, der schriftliche Text, das Buch, und nicht mehr die förmliche Rede. Nirgends kommen die Veränderungen in den Vorstellungen vom Schreiben emphatischer zum Ausdruck als in dem Begriff, den die Schriftsteller von ihrer Tätigkeit entwikkelt haben. „Aus der traditionellen Gleichsetzung von Stil und Mensch ist im 19. Jahrhundert die Gleichsetzung von Kunst und Mensch geworden. Daraus ging die moderne Vorstellung hervor, daß sich der Dichter durch seine sprachkünstlerische Arbeit in einem ‘Transformationsprozeß’ in das Kunstwerk umsetzt und dieses ein objektives Äquivalent der Künstlerseele oder eines Seelenzustandes (...) des Künstlers ist“ (Müller 1981, 156). 7.4. Die Technisierung des Schreibens „Während die Technik in allen anderen Gebieten der menschlichen Arbeit Neuerungen brachte, ging sie bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts an den Büros vorbei“ (Segelken 1991, 14), und nicht nur an den Büros, wie zu ergänzen ist, sondern überall, wo geschrieben wurde. Nachhaltigen Einfluß auf die Praxis des Schreibens konnte die Technik erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts nehmen. Der Einsatz der Schreibmaschine, des Telegraphen und des Computers haben sie radikal verändert. 7.4.1. Die Schreibmaschine Die Schreibmaschine (Segelken 1991; → Art. 89) führte das Prinzip des Druckens, das bisher ausschließlich bei der Multiplikation von Texten genutzt worden war, in die Praxis des Schreibens generell ein. Im Vergleich zum Schreiben mit der Hand läßt sich das Schreiben mit der Maschine erheblich schneller bewerkstelligen. Die Typoskripte sind leichter und vor allem eindeutiger lesbar. Diese Vor-

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

züge empfahlen die Schreibmaschine vor allem für den Einsatz in Büros. Der Hauptvorzug der Schreibmaschine ist aber ihre leichte Handhabbarkeit. Aus der übersichtlichen Menge von Tasten einer klar strukturierten Tastatur ist nur jeweils die Taste zu wählen und anzuschlagen, die das gewünschte Schriftzeichen trägt. So eignet sich die Schreibmaschine für alle Arten von Abschriften, insbesondere für das Schreiben nach Stenogramm, findet aber auch Verwendung beim Aufsetzen von Texten. Für den modernen Schriftsteller wurde sie oft zu einem unentbehrlichen Werkzeug. 7.4.2. Der Telegraph Der Telegraph, in demselben Jahr erfunden wie der Morseapparat (1837), hat zwar nicht den Schreibakt als solchen, wohl aber den Produktionsprozeß von Texten verändert. Man schreibt wie auf einer Schreibmaschine, doch der Text erscheint nicht unmittelbar vor Augen auf einem Bogen Papier, sondern wird in einem Sendegerät in elektrische Impulse oder Impulsfolgen umgewandelt (kodiert). Diese können von einem Aufnahmegerät empfangen, in Buchstaben oder Buchstabenfolgen zurückverwandelt (dekodiert) und dann aufgezeichnet und gelesen werden. Durch die Einschaltung von Geräten wird der unmittelbare Zusammenhang zwischen der Erstellung eines Textes in seiner abstrakten Bedeutung (dem sog. Textkorpus oder der Textbasis) und seiner konkreten Darstellung auf einem Schriftträger aufgelöst. Man brauchte nun nicht mehr einen Boten oder die Post auf den Weg zu schicken, um einem Empfänger eine Nachricht zukommen zu lassen. Den Transport der elektrischen Signale besorgte ein Kabel bei der drahtgebundenen oder der Funk bei der drahtlosen Telegraphie. Die Folgen waren immens. Fast ohne Zeitverlust konnten so Nachrichten auch über große Distanzen hinweg übermittelt werden, eine wichtige Voraussetzung für die um die Mitte des vorigen Jahrhunderts einsetzende Industrialisierung (Beniger 1986). Die Ausgliederung der Textdarstellung und die Übermittlung des Textkorpus auf energetischem Wege haben zu einer Variante in der Organisation der Textproduktion geführt. Bis zur Erfindung der Telegraphie konnten Texte erst distribuiert werden, nachdem sie eine Darstellung gefunden hatten. Ein Brief muß geschrieben sein, um verschickt werden zu können. Mit der Telegraphie tritt die Distribution zwischen die Erstellung des Text-

4.  Geschichte des Schreibens

korpus und seine Darstellung. Die Nachricht wird kodiert, auf den Weg geschickt und kommt dann erst zur Darstellung. Die Distribution ist zu einem Teil der Produktion geworden. 7.4.3. Der Computer Die Computertechnik hat sich die Einsichten, die man bei der Entwicklung des Telegraphen gewonnen hatte, zunutze gemacht. Der Text wird einer Maschine eingegeben, kodiert, damit er in Zahlen ausdrückbar wird, doch dann werden die Zahlen nicht auf die Reise geschickt, sondern in Form elektromagnetischer Signale auf einer Datenbank gespeichert. Der Text ist zwar noch beständig, da „elektromagnetisch gebunden“, aber nicht mehr sichtbar. Damit ein solcher Text wahrgenommen und gelesen werden kann, muß er sichtbar gemacht werden. Sichtbar wird er durch seine Darstellung auf einem Bildschirm oder auf einem Ausdruck. Also ist auch hier der Zusammenhang zwischen der Erstellung des Textkorpus und seiner Darstellung aufgelöst. Auf der Trennung der Funktionen beruhen alle Veränderungen, die der Computer für das Schreiben mit sich gebracht hat. Es handelt sich um die folgenden (→ Art. 9; 90). (1) Wer schreibt, verändert oft das Geschriebene. Veränderungen werden zwar am Computer über den Bildschirm vorgenommen, doch verändert wird nicht, wie beim herkömmlichen Schreiben, die Textdarstellung, sondern die Textbasis. Und weil das so ist, können solche Veränderungen in Bruchteilen von Sekunden durchgeführt werden, ohne größeren Aufwand, genauso schnell und mühelos wie die Veränderungen, die wir im Kopfe vornehmen. (2 ) Wenn wir in Gedanken einen Text konzipiert haben, müssen wir uns entscheiden, wie er dargestellt werden soll: gesprochen oder geschrieben; geschrieben mit der Hand oder mit der Schreibmaschine; nur flüchtig hingeschrieben oder gleich ins Reine usw. Schreiben wir mit dem Computer, so bleibt uns diese Entscheidung nicht erspart, sie ist nun aber an der Maschine durchzuführen. Durch eine einfache Schaltung entscheidet der Schreiber darüber, wie der ausgedruckte Text aussehen soll: er kann die Schrifttypen, die Schriftgrößen, die Formatierung der Textseite, die Gestaltung der Fußnoten, kurz das gesamte Layout bestimmen. So läßt sich jeder Text im Computer druckreif machen und ohne Zwischenschaltung von Lektoren, Drukkern usw. abdrucken.

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(3) Bei der Herstellung des Textkorpus können Programme einbezogen werden, Programme etwa zur Unterstützung der Worttrennung am Zeilenende. Ist in dem Computer ein Wörterbuch gespeichert, so kann dem Schreibenden signalisiert werden, ob ein Wort richtig oder falsch geschrieben worden ist. Die Maschine braucht nur nach dem geschriebenen Wort zu suchen und zu prüfen, wie es zu schreiben ist. Man spricht von einem „Rechtschreibprüfer“ ( spelling checker ). Es gibt auch schon stylecheckers, sozusagen „stilistische Kontrolleure“, allerdings bisher nur für das Englische: Programme, die den Schreibenden darauf aufmerksam machen, wenn er Wörter wiederholt, die Sätze unvollständig sind oder ungewöhnliche Ausdrücke verwendet werden. Die Einschaltung solcher Programme bei der Herstellung der Textbasis geht über die bisher dargestellten Möglichkeiten insofern hinaus, als in ihnen Wissen zur Anwendung kommt, über das der Schreiber nur unzureichend oder überhaupt nicht verfügt. Der Computer verdoppelt in diesem Fall nicht das Wissen des Schreibenden, sondern er ergänzt es. (4) Mindestens ebenso folgenreich wie die Einbeziehung von zusätzlichen Programmen in die Herstellung von Texten dürfte eine Veränderung in der Struktur der Textbasis sein: der „determinierte Charakter, der einen einmal erstellten Text für immer in der Wortfolge festlegt, ist prinzipiell auflösbar, indem man statt der starren Fixierung eines Textes auf dem Papier eine Rechenvorschrift zur Erstellung des Textes angibt und dadurch dem ‘Leser’ die Möglichkeit zur interaktiven Nutzung solcher rekombinierenden Algorithmen bietet. (...) Für den Leser am Bildschirm löst sich damit die lineare Textfolge auf (...) und der Autor kann nicht mehr eindeutig festlegen, wie der Text zu lesen ist. (...) Mit dem Computer steht so ein technisches Potential zur Erzeugung nichtlinearer und nicht mehr vollständig determinierter Texte zur Verfügung“ (Coy 1989, 53 f). Für eine nichtlineare Nutzung der Textbasis werden die folgenden Beispiele angeführt: „die Kombination von im linearen Raum des Buches entfernt liegenden Textteilen“ (ebd., 55); „das Guide-System, das für einzelne Worte den Verweis auf tiefer liegende Texte zuläßt, die die Worte erläutern oder andere Verbindungen zulassen“ (ebd., 60) sowie das System der Hypercard, „das eine eigene Programmiersprache (HyperTalk) zu vieldimensionalen Verknüpfungen von Texten, Graphiken, Bildern und Dateien zuläßt“ (ebd.). Der traditionell eindimensionale

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Text wird zu einem multidimensionalen Text und die Produktion von Texten, also das, was früher „Schreiben“ genannt wurde, zu einer Angelegenheit, die sich nicht mehr aus einer einzelnen Schreibhandlung ergibt.

8.

Literatur

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5.  Geschichte des Lesens

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Otto Ludwig, Hannover (Deutschland)

Geschichte des Lesens

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Lesen und Verstehen Fragen, die zu stellen sind Materielle Voraussetzungen Sechs Lesekulturen Vorhellenistische Lesekultur Hellenistisch-römische Lesekultur Frühmittelalterliche Lesekultur Hochmittelalterliche Lesekultur Frühneuzeitliche Lesekultur Moderne Lesekultur Fragen und Schwierigkeiten Literatur

1.

Lesen und Verstehen

Was ist das — lesen? Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten, wie es scheint. Suchen

wir, nach und nach zu bestimmen. Lesen ist eine Tätigkeit. Freilich gilt dies kaum, wenn „lesen“ nur etwas wie ein kurzes Zurkenntnisnehmen ist: man liest auf einem Wegweiser „Hauptbahnhof“ oder „Frankfurt“. In „Buddenbrooks“, dritter Teil, findet sich eingangs eine Beschreibung. Die Familie sitzt im Garten; da heißt es: „Und Klothilde, die mager und ältlich in ihrem geblümten Kattunkleide dasaß, las eine Erzählung, welche den Titel trug: ‘Blind, taub, stumm und dennoch glückselig’ “. Hier ist Lesen zweifellos eine Tätigkeit. Anders jedoch wenige Zeilen später: Anton, der Diener, kommt über den Hof, auf dem Teebrett eine Visitenkarte; man sieht ihm erwartungsvoll entgegen. „‘Grünlich, Agent’, las der Konsul. ‘Aus Hamburg. Ein angeneh-

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mer, gut empfohlener Mann, ein Pastorssohn ... Sage dem Herrn ... er möge sich hierher bemühen’“. Bei diesem Lesen mag man von „Tätigkeit“ kaum reden; trotzdem geht es um Lesen. Was uns jedoch, wenn von der Geschichte des Lesens die Rede ist, interessieren muß, ist Lesen als Tätigkeit: ein Vorgang von einiger Dauer und Konzentration; das Interesse wendet sich dem Geschriebenen zu, gleichzeitig vom Umgebenden ab. Ferner: lesen ist eine menschliche, schärfer: eine dem Menschen s p e z i f i s ch e Tätigkeit; kein Tier liest, und nicht allein deshalb nicht, weil kein Tier schreibt (denkbar wäre ja, weil eine gewisse Getrenntheit hier vorliegt, daß ein Tier zwar lesen, nicht aber schreiben könnte). Mag man zögern, ob man bestimmten Tiergattungen Sprache in jeder Hinsicht absprechen soll (es ist dies auch eine Frage der Definition), wenn es aber um Lesen geht, ist die Antwort klar. Sodann: es geht beim Lesen um eine ge i st i ge Tätigkeit, obwohl sie auf das engste an Materielles gebunden und auf Materielles gerichtet ist. Weiter: es ist eine k u l t u r e l l e Tätigkeit; das heißt: es ist historisch. Es ist nicht nur historisch überformt (in-formiert), wie dies wohl für alles Menschliche gilt, sogar zum Beispiel für ein zunächst so eminent „natürlich“ erscheinendes Phänomen wie das des Sexuellen. Das Lesen ist also nicht nur kulturell überformt, es ist kulturell durch und durch, und zwar in einer noch radikaleren Weise als das Sprechen. Dies impliziert: das Lesen vollzieht sich in einer spezifischen Form, die historisch geworden und dem Wechsel unterworfen ist und die man als Einzelner gelernt haben muß. Dieses Lernen ist dabei in einem doppelten Sinne zu nehmen: einmal geht es um die schiere Technik des Entzifferns, die man mehr oder weniger früh erwirbt (in Deutschland später, in aller Regel, als in den romanischen Ländern), dann um das Lernen des Lesens in einem inhaltlicheren, quantitativ und qualitativ spezifizierten Sinn. Goethe: „Die guten Leutchen wissen nicht, was es einem für Zeit und Mühe gekostet, um lesen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht und kann noch jetzt nicht sagen, daß ich am Ziel wäre“ (Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, ed. Beutler, Zürich, 1949, 24, 709). Gegenstand des Lesens, sodann, ist etwas Geschriebenes. Man verwendet „lesen“ zwar auch im Blick auf anderes als Geschriebenes; aber diese Verwendung ist nur metaphorisch: „In deinen Augen hab ich einst gelesen, / Es

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

blitzte drin von Lieb’ und Glück ein Schein ...“ (Victor von Scheffel). Oder dann die große, rekurrente Metapher vom „Lesen im Buch der Natur“, die eigentlich der Renaissance zugehört, sich aber schon im Mittelalter findet: „omnis mundi creatura / quasi liber, et pictura — nobis est et speculum“ (Alain de Lille, zit. bei Illich, 1991, 132 ; dann etwa Descartes, Discours de la méthode, Ende 1. Teil: „étudier dans le livre du monde“, Descartes sagt also „studieren“, nicht „lesen“, und er sagt „Welt“, nicht „Natur“). Hier geht es überall um Übertragung. Auch etwa in dem witzigen Carlo Schmid zugeschriebenen Satz über die Beschäftigung mit Illustrierten: „Man liest die Bilder und sieht den Text an“. Lesen kann man ja Bilder gerade nicht, und Texte kann man nicht ansehen; auch „ansehen“ ist hier metaphorisch und zwar für „flüchtig lesen“. Somit: „lesen“ bezieht sich stets auf etwas Geschriebenes; alle anderen Verwendungen sind von daher analogisch übertragen. Schließlich und vor allem setzt „Lesen“ einen Nachvollzug voraus und zwar zumindest einen a n s a t z we i s e n . Denn dies ist wichtig: einerseits wird ein solcher Nachvollzug durch den Begriff „lesen“ selbst vorausgesetzt, andererseits reicht es bereits, wenn dieser nur ansatzweise vorhanden ist. Man kann dies natürlich auch „Informationsverarbeitung“ nennen. „Lesen“ impliziert also Verstehen, weshalb neuerdings, nicht allein im Deutschen, dieses Verb einfach synonym zu „Verstehen“ verwendet wird, zum Beispiel, wenn jemand sagt: „man kann diesen Text auch sozialkritisch lesen“ oder einfach „man kann das Buch auch so lesen“ (was übrigens irreal ist — in Wirklichkeit laufen beim Lesen mehrere „Verständnisse“ nebeneinander her). Auch würde man die Frage „Lesen Sie Russisch?“ schwerlich als in dem Sinne gemeint verstehen, daß es hier lediglich um die lautliche Entzifferung der kyrillischen AlphabetZeichen ginge. Ein bemerkenswertes biblisches Beispiel: die Erzählung von jenem Äthiopier, einem hohen Beamten, dem „Kämmerer aus dem Mohrenland“, wie er bei Luther heißt, den der Apostel Philippus lesend antrifft (Apostelgeschichte 8, 2 8—35): „Er saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja. Und der Geist sagte zu Philippus: Geh und folge diesem Wagen! Philippus lief hin und hörte ihn den Propheten Jesaja lesen. Da sagte er: Verstehst du auch, was du liest? Jener antwortete: Wie könnte ich es, wenn mich niemand anleitet?“. Und nun erklärt Philip-

5.  Geschichte des Lesens

pus die fragliche Stelle, legt sie aus, sagt dem Äthiopier, wer hier gemeint ist. Wichtig hieran ist für uns dies: einerseits liest der Äthiopier bereits, er versteht irgendetwas, versteht insoweit den Text. Er muß aber noch zum r i ch t i ge n Verstehen gebracht werden. Prinzipiell ist das Verstehen unabschließbar. Das heißt: es gibt natürlich Äußerungen, die abschließbar, ohne irgendeine Offenheit verstehbar sind, aber prinzipiell ist bei jeder Äußerung mit solcher Unabschließbarkeit zu rechnen. Wir stoßen also hier auf das äußerst schwierige Problem des Verstehens, das sich bei Geschriebenem sehr anders als beim Gesprochenen stellt, schon weil man in aller Regel nicht zurückfragen kann „Wie meinst du das?“ (nämlich dann, wenn der Autor nicht oder — als Verstorbener — definitiv nicht mehr greifbar ist). Verstehen heißt hier: Rekonstruktion dessen, was dem Autor als Meinung vorschwebte, bevor und während er schrieb. Es geht um seine Intention. Verstehen ist hier wirklich ein Zwischen-Lesen, interlegere , bildlich geredet: die zu ermittelnde Intention ist hier gerade nicht im materiell Erscheinenden, sondern in dem, was z w i s ch e n ihm ist. Sie ist gleichsam im Leeren; man liest immer „zwischen den Zeilen“. Jene Intention kann in eine Reihe von Elementen auseinandergefaltet werden, denn sie ist in der Tat zusammengesetzt: da ist einmal die Intention im Sinne der Bühlerschen Aufteilung in „Darstellung“, „Ausdruck“ und „Appell“. Hinzukommen aber zumindest zwei weitere Intentionselemente: der Text fügt sich ein (oder w i l l dies) in eine bestimmte Diskurstradition, er will, formal und inhaltlich, einen bestimmten vorgegebenen Texttyp realisieren oder abwandeln (was auch eine Realisierung ist). Sodann kann der Text bestimmte andere Texte als Vorbild haben: das Phänomen, also, das man mit dem von Kristeva eingeführten Terminus „Intertextualität“ zu fassen sucht; bestimmte Texte können als Vorbilder fungieren, als positive oder „negative“ Vorbilder (mein Text soll so sein wie der Text A ..., oder: so wie der Text A soll meiner gerade auf keinen Fall sein), und es gibt natürlich noch andere intertextuelle Gegebenheiten. Dies alles, die drei Bühlerschen und die beiden anderen Intentionen, läßt sich unter „Intention“ insgesamt subsumieren. Intention ist, was ein Text „meint“. Die Komplexität vergrößert sich nun aber dadurch erheblich, daß zu den bewußten Elementen unbewußte Elemente in aller Regel hinzukommen. Aber da-

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mit nicht genug. Die Situation zeigt sich schließlich als noch komplexer: das „Meinen“ eines Texts und sein „Verstehen“ können ja auch in einem weiteren und nun gleichsam o b j e k t i ve n Sinne genommen werden: ein Text kann objektiv, t a t s ä ch l i ch etwas sagen, das in der Intention (in deren bewußten und unbewußten Elementen) beim Autor mitnichten war. „Objektiv“ kann hier aber nur meinen „unabhängig vom Autor“, denn jedes Meinen und Verstehen ist an ein Subjekt gebunden: es gibt beide nur innerhalb von Subjektivität. All dies kann und muß Lesen involvieren. Also wirklich nichts Einfaches ... Karl Vossler sagt einmal pathetisch: „Ein ähnliches Gefühl beschleicht uns, wenn von den Galerien einer großen Bibliothek vieltausend Bände auf uns niederblicken, von denen jeder doch ein Geschöpf eines ringenden, sich abarbeitenden Menschen ist, der angehört und verstanden und durch uns, die wir lebendig sind, erlöst sein möchte aus seinen toten Papieren und Buchstaben und wieder aufleben mit s e i n e r in m e i n e r Seele“ (Die Universität als Bildungsstätte, Vortrag, 15. 12 . 192 2 , München 192 3, 3). Wer liest, in der Tat, bietet sein lebendes Bewußtsein (es gibt nur lebendes Bewußtsein) dem toten Geschriebenen an, auf daß es sich in ihm erneut realisiere. Was ist ein Text, den niemand liest? Er ist doch eigentlich bloß etwas Materielles. Lesen ist immer Rekonstruktion, geradezu: Wiederauferstehung — und durchaus von Totem. Wichtig ist demnach, daß Lesen einerseits Verstehen impliziert, andererseits aber ein ansatzweises Verstehen schon genügt. Man kann etwa sagen: ich habe es gelesen, aber nicht richtig, nicht ganz, gar nicht verstanden. Selbst aber wenn wir sagen gar nicht meinen wir, daß wir doch etwas verstanden haben, etwa — ungefähr — worum es geht. Dies entspricht dem alltagssprachlichen Gebrauch von „lesen“. Für die wissenschaftliche Verwendung, jedenfalls für unseren Zweck, haben wir jedoch ein Interesse, zwei Arten von Lesen zu unterscheiden: erstens ein Lesen mit Verständnis zumindest in jenem ansatzweisen Sinne, also ein gleichsam s e m a n t i s c h e s Lesen (Lesen 1), zweitens ein Lesen im Sinne der puren Fähigkeit zu vokalisieren, der Fähigkeit, das Geschriebene zu Gehör zu bringen, ein bloß l a u t l i c h e s Lesen (Lesen 2). Wenn es um eine Fremdsprache geht, ist das Lesen im letzteren Sinne bereits eine nicht unbeträchtliche Fertigkeit: jemand kann etwas mehr oder weniger lautkorrekt vorlesen; er kann es lesen in einem

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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phonetischen Sinne, wenn er es unter Umständen auch gar nicht — nicht einmal in dem zuvor vorausgesetzten ansatzweisen Sinne — versteht. Was wir „Lesen 1“ nennen, kann sich ausbilden zu einer regelrechten Kunst im Sinne literarischen oder wissenschaftlichen oder lebenstechnischen Umgangs mit Geschriebenem. „Umgang“ — in der Tat kann man mit Geschriebenem, mit Büchern „umgehen“ beinahe wie mit einem Menschen ... Und das g u t e Lesen hat einen quantitativen, vor allem aber auch einen qualitativen Aspekt: der gute Leser liest erstens nicht wenig, zweitens (in verschiedener Weise) Gutes, drittens liest er Gutes gut, in angemessener Weise, und viertens bedarf er, besonders beim wissenschaftlichen Lesen, eines gesunden, streng auswählenden Egoismus, um zu dem zu kommen, was er in den jeweiligen Zusammenhängen, die ihn beschäftigen, braucht (hierüber Weinrich 1984). Eine schöne Bestimmung des Lesens — im Sinne eines Gesprächs — findet sich bei Descartes: „la lecture de tous les bon livres est comme une conversation avec les plus honnêtes gens des siècles passés, qui en ont été les auteurs, et même une conversation étudiée, en laquelle ils ne nous découvrent que les meilleures de leurs pensées“ (Discours de la méthode, Erster Teil).

2.

Fragen, die zu stellen sind

Die Geschichte des Lesens kann verfolgt werden nach dem bekannten, als Hexameter skandierten Frageraster: quis? quid? ubi? quibus auxiliis? cur? quomodo? quando? Also zunächst: we r liest? Was sind dies jeweils für Menschen, die lesen? Zwei äußerliche Voraussetzungen müssen ja zusammenkommen: man muß lesen können (lesen 1) und muß über Geschriebenes verfügen. Beides, besonders das letztere, hängt auch mit Wohlstand zusammen; es gilt weit mehr als für heute für frühere Zeiten. Dann: wa s wird gelesen? Hier nun sind die Arten des Geschriebenen zu unterscheiden. Es gibt „schöne“ Literatur, die gelesen wird zur Unterhaltung und zur (wie immer gearteten) geistigen Bereicherung, dann wissenschaftliche Literatur, die dem Austausch der Wissenschaftler und Gelehrten untereinander dient (und der geistigen Bereicherung natürlich auch). Da Wissenschaft ein kollektiv kommunikatives Unternehmen ist, ist Austausch hier essentiell — geradezu condicio sine qua non. Hier ist der besondere Fall des Lehr-

buchs herauszuheben: ein Buch dient zur Einführung in eine wissenschaftliche Disziplin. Wissenschaftliche Lektüre hat den Charakter der Arbeit, obgleich auch hier das Element Unterhaltung keineswegs zu fehlen braucht; die Elemente Vergnügen und geistige Bereicherung fehlen ohnehin nicht. Bei den sogenannten Sachbüchern geht es um die Vermittlung von Wissen nach außen, wobei — sehr oft übersehen — zu beachten ist, daß auch gerade der Wissenschaftler zu diesem „außen“ gehört, wenn nämlich die entsprechende Materie nicht die seines Faches ist: so dienen auch solche Bücher für „Außenstehende“ nicht selten wissenschaftlichem Austausch. Austausch ist übrigens auch für die „schöne“ Literatur von Bedeutung, freilich in ganz anderer Weise (der genannte Begriff der „Intertextualität“ gehört hierher). Dann kann es um Schriften gehen, die eine Fertigkeit wissenschaftlicher oder außerwissenschaftlicher Art zu vermitteln suchen, also nicht ein Wissen theoretischer Art, sondern ein Können, ein knowing how, nicht ein knowing that. Schließlich gibt es Schriften, die der religiösen Erbauung oder Erweckung oder — allgemeiner — spirituell religiöser Anleitung dienen. Sie sind, wie immer geartet, gegenüber der „schönen“ und der wissenschaftlichen Literatur eindeutig etwas verschiedenes Drittes, obwohl sie sich oft wissenschaftlich oder geradezu a l s Wissenschaft geben. Dem Kriterium “ wo ?“ mag hier geringere Bedeutung zukommen; es spielt aber seine Rolle: lesen zu Hause, auf Reisen, im Freien, in einer Bibliothek. Immerhin setzt intensives Lesen Stille voraus, wird jedenfalls durch Stille stark gefördert, weil diese jene Abkehr von der Außenwelt und den Rückzug auf das eigentümliche Gespräch mit dem zugleich redenden und doch stummen Autor — ein Gespräch im Lesenden selbst — erleichtert. Diese Abkehr gehört zum Lesen, weshalb es eine Unhöflichkeit ist oder sein kann zu lesen, wenn ein Anwesender mit einem reden will. Stille, also, als fördernde, wenngleich keineswegs notwendige Voraussetzung des Lesens. Bei der Frage “ m i t we l ch e n M i t t e l n ?“ geht es um die Art der Vervielfältigung und der Verbreitung (Verlage, Vertrieb, Bibliotheken). Die Frage “ wa r u m ?“ hängt mit den Arten des Geschriebenen zusammen. Bereits Francis Bacon unterscheidet, einigermaßen vollständig, drei Gründe, die einen zum Lesen bringen: die Suche nach delight, nach ornament und nach ability, wobei die „innere Bereiche-

5.  Geschichte des Lesens

rung“ unter ornament subsumiert werden kann. Man liest also, weil es Vergnügen bereitet, dann um sich geistig zu bereichern, oder endlich um eine Fertigkeit zu erwerben. Bemerkenswert, daß hier die für unsere Lesekultur so kennzeichnende Aufspaltung in „schöne Literatur“ einerseits, „wissenschaftliche Literatur“ und „Sachbücher“ andererseits noch kaum angelegt ist. Was nun das “ W i e “ des Lesens angeht, so ist zu unterscheiden einmal das individuelle Lesen und das kollektive, welch letzteres in der Weise geschieht, daß einer einem anderen oder vielen anderen vorliest, wobei unter Umständen das Lesen zu zweit wiederum spezifisch ist. Sodann ist zu unterscheiden ein lautes Lesen, das vom Lauten bis zum gerade noch Vernehmbaren, schließlich zur stummen, aber sichtbaren Bewegung der Artikulationsorgane gehen kann (entscheidend ist also die Artikulation) und ein stummes, nicht mehr artikuliertes, „subvokales“ Lesen. Schließlich ein langsames und ein schnelles, sich unter Zeitdruck setzendes, ein „diagonales“, nämlich Einschlägiges oder in anderer Weise Wichtiges s u ch e n d e s Lesen, welch letzteres eine spezifische Fertigkeit darstellt (hierüber Weinrich 1984). Verfolgen wir das Lesen mit diesen Kriterien durch die Geschichte! Seit wa n n wird gelesen? Auch diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten, wie es zunächst scheint. Natürlich koinzidiert der Beginn eigentlichen Lesens mit dem Beginn eigentlichen Schreibens. Hier haben wir nun zwei Einsätze: Sumer 3300 v. Chr. und Ägypten 3000 v. Chr. (→ Art. 4). Es ist jedoch zu beachten, daß es bildartige Darstellungen von Gegenständen und Sachverhalten schon viel, viel früher gab. Wir müssen da bis 35 000 v. Chr. zurückgehen. Hier ist in der Tat eine Art von „visuellem Denken“ vorauszusetzen (Ludwig), das j a übrigens auch die „archaische Ausdrucksweise“ (Freud) des „manifesten“ Traums bestimmt. Auch diese Darstellungen mußten in gewissem Sinn durchaus „gelesen“ werden. Doch steht an dieser Stelle nur das Lesen zur Debatte, das dem eigentlichen Schreiben entspricht, wenngleich die Koppelung keineswegs so eng ist, wie man von heute aus schließen möchte.

3.

Materielle Voraussetzungen

Die Art des Lesens ist auch mitbedingt durch das Material (und seine Aufbereitung), auf dem das Geschriebene (oder Gedruckte) er-

69

scheint. Auch dies gehört zu den materiellen Bedingungen (→ Art. 8). Schicken wir, was hier zu sagen ist, voraus! Was wir zunächst antreffen, sind Papyrusrollen. Sie wurden gefertigt aus dem Mark der Stengel der Papyrusstaude, Cyperus Papyrus, und bestanden aus zusammengeklebten Blättern. Die Rollen waren in der Regel fünf bis zehn Meter lang und fünfundzwanzig bis dreißig Zentimeter breit; sie wurden abgewickelt von rechts nach links, und der Text war in Kolumnen geschrieben. Eine solche Rolle konnte man also schon rein materiell nicht so lesen wie ein Buch: „Unsere Haltung, auf einem Stuhl vor einem Tisch zu sitzen und darauf zu lesen, war der Antike unbekannt“ (Schön 1987, 31). Der Papyrus blieb bis ins 9. Jahrhundert n. Chr. im Gebrauch, wurde aber ab 2 00 n. Chr. mehr und mehr durch das Pergament verdrängt. Hier handelte es sich um Blätter aus ungegerbter, geglätteter Tierhaut. Natürlich waren sie ungleich dauerhafter als der Papyrus, und vor allem wurde nun das Buch, der Kodex, ermöglicht, wenngleich es hier meist — durchaus nicht immer — um ein großes, also relativ unhandliches Format ging; es gab nämlich früh auch kleinere Formate, so daß sich hier, wiederum rein vom Materiellen her, das Lesen veränderte. Zwischen dem 12 . und dem 14. Jahrhundert endlich breitete das Papier sich aus. Die Erfindung geht auf China zurück (100 n. Chr.), sie gelangte von dort in den arabischen Kulturkreis und auf diesem Weg nach Spanien; von dort aus breitete sie sich überallhin aus. Papier wurde aus Lumpen hergestellt, erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts gelang die Herstellung aus Holz. Das leere, dem Schreiben dienende, dann das beschriebene oder bedruckte Papier wurde zu dem, was es bis heute, wenngleich mit Einbrüchen, ist: das grundlegende Kulturmittel. Man muß sich die materiellen Bedingungen des Lesens insgesamt klarmachen, weil sie das Wie des Lesens mitbedingen (hoher Preis, Unhandlichkeit, Lesestäbe, Lesepulte, Vorrichtungen anderer Art). Hinzu kam um 1400 der Holzschnitt, um 1450 der Kupferstich, also zeitgleich mit der Erfindung des Buchdrucks (Vervielfältigung mit Hilfe beweglicher Lettern aus Metall) durch Johann Gutenberg oder Gensfleisch. Mit Recht hebt Schön hervor, daß diese Erfindung „im historischen Moment nicht jenes umwälzende technische Faktum war, welches revolutionäre Veränderungen des Buchwesens verursachte und mit einem Schlage eine Buch-

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

70

und Lesekultur erschuf, als das sie von geläufigen Vorstellungen gern gesehen wird“. Allerdings: „Möglich wurden nun gleichförmige Editionen nach den Bedürfnissen der Gelehrten, ohne die bisherige Unzuverlässigkeit der Abschreiber, schnellere, zahlreichere und damit bald auch billigere Ausgaben ...“ (Schön 1987, 35 f). Daß die Erfindung des Buchdrucks so bedeutsam nicht war, ist nunmehr so oft gesagt worden, daß es wichtig wird zu betonen, daß sie trotz allem keineswegs unerheblich war. Nur muß man dies sehen: große geistige Erneuerungen machten zu früheren Zeiten auch ohne dieses Mittel rasch ihren Weg. Es ist also verfehlt, etwa den „Erfolg“ der Reformation durch den Buchdruck mitzuerklären, ganz abgesehen davon, daß dies Mittel ja auch der anderen Seite zur Verfügung stand und auch von dieser bald gebraucht wurde. Weitere wichtige Stationen sind: Flachdruck (Lithographie), um 1800, die mechanische Papierherstellung, ebenfalls um 1800, nur wenig später die Zylinderdruckmaschine („Schnellpresse“), die Setzmaschine (1872 ), die es ermöglichte, siebentausend Buchstaben pro Stunde zu setzen (mit der Hand bis dahin ungefähr zweitausend), dann, ebenfalls 1872 , die Rotationsmaschine, die bis zu vierundzwanzigtausend Abdrucke pro Stunde ermöglichte (in den Vereinigten Staaten gab es sie schon zehn Jahre früher), schließlich die Falzmaschine (1890, alle diese Angaben nach Schön 1987, 51 f). Insgesamt: das Materielle ist auch hier wichtig, es sollte aber, auch hier, in seiner Bedeutung, seinem Gewicht für das Geistige nicht überschätzt werden. Man kann ja in gewissem Sinne auch jeweils umgekehrt sagen: diese Erfindungen wurden gemacht und ins Werk gesetzt, weil sie „geistig“ gebraucht wurden.

4.

Sechs Lesekulturen

Wenn wir die komplexe Geschichte des Lesens durchlaufen, ist es sinnvoll, zumindest sechs verschiedene Lesekulturen zu unterscheiden. Sie gehören in verschiedene Kulturwelten, verschiedene kulturelle Zusammenhänge, die sich in vieler Hinsicht voneinander unterscheiden, wobei aber ein jeweils spezifischer Stellenwert d e s L e s e n s gerade konstituierend beiträgt zur Verschiedenheit jener Kulturwelten. Gewiß ist übrigens unsere Skizze eurozentrisch. Eine Geschichte des Lesens müßte auch Altamerika und Ostasien, auch etwa Ägypten, miteinbeziehen (→ Kap. IV). Es gibt sicher auch Gemeinsamkeiten zwi-

schen diesen Kulturen und der sogenannten abendländischen. Doch bereitet es bei jenen Kulturen noch ungleich größere Schwierigkeiten, sie von außen her nachzuvollziehen, sich in sie einzuleben, weil hierfür — für uns — entscheidende Voraussetzungen fehlen. Es ist für die früheren Zeiten abendländischer Lesekultur schon schwer genug. Im übrigen gibt es hier keine Kontinuität; für Amerika gilt es ohnehin, es gilt aber auch für Ostasien; im Falle Ägyptens mag es sich anders verhalten. Für Europa darf und muß gesagt werden, daß auch hier das Neue in Griechenland beginnt. Wobei freilich dies Neue aus dem Vorderen Orient stammt. Schreiben und Lesen kamen im 8. Jahrhundert v. Chr. nach Griechenland aus Phönizien; die Buchstaben hießen einige Zeit hindurch, in Griechenland, „die phönikischen“ (Zeichen). Unsere Skizze ist zudem, auch innerhalb Europas, auf die „großen“ Sprachräume hin orientiert; anders sieht es vielfach bei den „kleineren“ Sprachen aus, dem Rumänischen etwa oder auch, wieder nur als Beispiel, dem Galegischen in Nordwestspanien. Wir unterscheiden, im Raum der Zeit, insgesamt sechs verschiedene Lesekulturen. Erstens die vorhellenistische Lesekultur, die bis 400 v. Chr. dauerte. Zweitens die hellenistischrömische Lesekultur von 400 v. Chr. bis 500 n. Chr.; sie ist die längste und dauerte über tausend Jahre. Drittens die frühmittelalterliche Lesekultur von 800—1150; es ist da also, zwischen der zweiten und dritten Lesekultur, eine undeutliche Lücke von rund dreihundert Jahren. Der frühmittelalterlichen schließt sich viertens die kurze hoch- und spätmittelalterliche Lesekultur an, die um 1300 endet. Fünftens die frühneuzeitliche Lesekultur von 1300 bis 1800. Schließlich, sechstens, die moderne Lesekultur, die im 18. Jahrhundert beginnt und sich von da an nur noch ausweitet und intensiviert mit einem Einbruch oder sich abzeichnenden oder zu vermutenden Umbruch in unseren Jahrzehnten. Dies gilt es nun, im Einzelnen, wenngleich skizzenhaft, auszuführen.

5.

Vorhellenistische Lesekultur

Die vorhellenistische Lesekultur umfaßt die hohe Zeit des Griechentums. Insofern ist die relative und gleichsam negative Kennzeichnung „vorhellenistisch“ leicht irreführend. Doch gilt es, sich zu verständigen. Erst die hellenistische Kultur brachte nämlich eine wirkliche Entfaltung des Lesens. Für die vor-

5.  Geschichte des Lesens

hellenistische Zeit war die Bedeutung des Lesens gering. Das eigentliche Mittel der Bildung war da keineswegs das Lesen, sondern der Vortrag, öffentlich oder nicht, vor einem mehr oder weniger großen (oder kleinen) Kreis; auch das Einzelgespräch spielte eine erhebliche Rolle. Funktion des Lesens war vorwiegend, dem Memorieren Hilfe zu bieten. Der aufgeschriebene Text war Hilfsmittel für das Memorieren, dem größte Bedeutung zukam. Zwar veränderte sich die Kultur grundlegend durch die Anwesenheit der Schrift, sie blieb jedoch wesentlich mündlich. Hierzu gehört, daß die Literatur jener Welt keineswegs zum Lesen gedacht, sondern zum freien, nicht manuskriptgestützten Vortrag. Überaus bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Schrift- und also Leseskepsis des klassischen Griechentums, wie sie insbesondere bei Platon hervortritt. Im „Phaidros“ läßt Platon den Sokrates seine Einwände gegen die Schriftlichkeit darlegen (2 74 c—2 77 a): Schrift führe zu einer Schwächung des Gedächtnisses, und zwar eben weil sie das Gedächtnis „stütze“; gerade die Stützung des Gedächtnisses führe zu seiner Schwächung; wirkliche Belehrung sei nur dialogisch möglich, wenn also der Belehrte und der Lehrende zurückfragen können, bis der Belehrte weiß, daß er richtig verstanden hat, und der Lehrende, daß er richtig verstanden wurde; das Geschriebene hingegen zeichne sich durch irritierende, dialogfremde „Stummheit“ aus, es wiederhole gleichsam nur immer sich selbst; zudem gerate das Geschriebene — dies ist für Platon überaus wichtig — leicht in Hände, für die es nicht gedacht war, in die Hände von Köpfen, die es nicht verstehen können oder es falsch verstehen müssen, was auf dasselbe hinausläuft; auf diese Weise komme kein wirkliches, „philosophisches“ Wissen, sondern bloßes Scheinwissen und Blendwerk zustande. Alle diese Einwände gegen das Geschriebene gelten eigentlich d e m L e s e n, denn man schreibt für das Lesen; sie meinen es immer mit. Im übrigen verbindet sich bei Platon Schriftskepsis mit Sprachskepsis überhaupt; was für die Sprache überhaupt gilt, ein unzuverlässiges, vielfach trügerisches Mittel, gilt für das Geschriebene erst recht (→ Art. 51). Hier ist nun hinzuweisen auf einen bemerkenswerten Unterschied zur biblischen Welt. Altes und Neues Testament zeichnen sich gegenüber der griechischen Welt in gleicher Weise durch ein ungebrochenes Vertrauen sowohl in die Sprache als auch in die Schrift

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aus. Schrift- und Sprachskepsis treten im Judentum wie auch im Christentum erst nachbiblisch, etwa in der jüdischen und christlichen Mystik, auf. Das Vertrauen in das Aufgeschriebene erscheint besonders eindrucksvoll in einer im Alten Testament im 2 . Buch Könige 2 2 berichteten Episode: hier wird erzählt von der Auffindung des Gesetzbuches unter König Joschija anläßlich von Reparaturen am Tempel. Der Hohepriester Hilkija findet das Gesetzbuch, übergibt es dem Staatsschreiber Schafan, der es dem König vorliest. Dieser zerreißt, nachdem er es gehört hat, seine Kleider und weint: „Der Zorn des Herrn muß heftig gegen uns entbrannt sein, weil unsere Väter auf die Worte dieses Buches nicht gehört und weil sie nicht getan haben, was in ihm niedergeschrieben ist“. Gerade wenn, wie zu vermuten, diese Episode spätere Konstruktion ist, ist sie für unseren Zusammenhang lehrreich: sie zeigt die außerordentliche Bedeutsamkeit, die der schriftlichen Aufbewahrung und der durch diese gewährleisteten genauen Reproduzierbarkeit zugemessen wird. Ein aufgeschriebenes Gesetz ist ein ständig bereitliegender Maßstab für das Verhalten und seine Beurteilung (→ Art. 46). Zu erinnern ist hier namentlich auch daran, daß es Jahwe selbst ist, der den Dekalog auf die beiden doppelseitig beschriebenen Tafeln schreibt: „Die Tafeln hatte Gott selbst gemacht, und die Schrift, die auf den Tafeln eingegraben war, war Gottes Schrift“ (Exodus 32 ). Die weitergehenden Weisungen schreibt dann Mose auf, übergibt das Aufgeschriebene zur sicheren Verwahrung den Leviten, ordnet zusätzlich an, daß das Aufgeschriebene alle sieben Jahre bei der Zusammenkunft im Laubhüttenfest „laut vorgetragen“ werde, schließlich soll die Weisung auswendig gelernt werden. Also: eine Sicherung erstens durch schriftliche Niederlegung, zweitens durch sichere Aufbewahrung des Geschriebenen, drittens durch lauten mündlichen Vortrag — das Geschriebene muß immer wieder vermündlicht werden —, schließlich, viertens, die Sicherung durch Auswendiglernen (Deuteronomium 31). Interessant ist hier das Nebeneinander, die Verschränkung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Es geht um Mündlichkeit, aber um eine schriftgestützte, immer wieder auf die Schrift rekurrierende, eine lesende Mündlichkeit. Die griechische Welt kennt solchen Buchrekurs nicht. Natürlich hängt dieser Buchrekurs der biblischen Welt mit der außerordentlichen Bedeutung des Geschichtlichen zusammen, die dem Griechen-

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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tum ebenfalls fremd ist: der „eminente Geschichtsbezug“ (Gerhard Ebeling, vgl. Rudolf Smend, Zur ältesten Geschichte Israels, Gesammelte Studien, Band 2 ), der dem Judentum eignet und den das Christentum fortsetzt in anderer, radikalisierter Weise. Noch auf der letzten Seite des Neuen Testaments definiert sich Gott selbst alphabetisch: „ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der letzte, der Anfang und das Ende“ (Offenbarung 2 2 , 13), was heißt: alles, ohne Ausnahme alles, kann gesagt und a u f ge s ch r i e b e n werden.

6.

Hellenistisch-römische Lesekultur

Die hellenistisch-römische Lesekultur, die 400 v. Chr. beginnt, ist gekennzeichnet durch eine erhebliche Zunahme individuellen Lesens, das zunächst kaum anderes als bloßer Ersatz war für fehlende Mündlichkeit, also einen nicht möglichen Vortrag. Das individuelle Lesen wird nun zum eigentlichen Bildungsmittel. Wir gelangen zu einer „Lesekultur des einzelnen Lesers“ (Schön 1987, 31), doch behält das Vorlesen außerordentliche Bedeutung; dasselbe gilt für den Vortrag von Memoriertem. Gerade dieses individuelle Lesen wird nun auch zum Gegenstand von Kritik und expliziter Anleitung. Das Problem freien Lesens und die Notwendigkeit, dieses zu regeln, zu disziplinieren, werden gesehen. Erst vom 5. vorchristlichen Jahrhundert an gibt es auch vermehrt Bücher. Eines ist aber hervorzuheben: das Lesen erfolgte mehr oder weniger hörbar l a u t , man artikulierte mit. In der zuvor herangezogenen Stelle aus der Apostelgeschichte, die etwa in die zeitliche Mitte dieser Lesekultur fällt, tritt dies klar hervor: Philippus h ö r t e , wie der Äthiopier den Jesaja las („ἤκουσεν αὐτοῦ άναγινώσκοντος ’Ἠσαίαν τον προϕήτην“, “ audivit eum legentem Isaiam prophetam “). Die Rede ist hier traditionell von den „Stimmen der Buchseiten“, „voces paginarum“. Illich hat den Tatbestand geradezu sinnlich (vielleicht ein wenig überzogen, aber gewiß eindrucksvoll und in die richtige Richtung gehend) dargelegt: „In einer anderthalb Jahrtausende langen Tradition geben die sich bewegenden Lippen und die Zunge die klingenden Seiten als Echo wieder. Die Ohren des Lesers sind aufmerksam und mühen sich ab, das aufzufangen, was sein Mund äußert. So wird die Buchstabenfolge unmittelbar in Körperbewegungen umgewandelt, und sie strukturiert die Nervenimpulse. Die Zeilen sind wie eine Tonspur, die mit dem

Mund aufgenommen und vom Leser für das eigene Ohr wiedergegeben wird. Die Seite wird durch das Lesen buchstäblich einverleibt“ (Illich 1987). Gerade die berühmte Stelle Augustins über Ambrosius (Confessiones VI, 3), in der mit Erstaunen hervorgehoben wird, daß Ambrosius las, ohne daß man irgendetwas vernahm und ohne daß er auch nur die Zunge bewegte ( vox autem et lingua quiescebant ) zeigt, daß dies eine Ausnahme war. Gleichwohl mag man sich fragen, ob solche Ausnahmen nicht doch häufiger und „normaler“ waren. Es ist für uns kaum nachvollziehbar, daß diese Mitartikulation so selten unterblieben sein soll. Illich erklärt den Sachverhalt so: „Auf Wachstäfelchen, Papyrus und Pergament war jede Zeile eine ununterbrochene Folge von Buchstaben. Es gab kaum eine andere Möglichkeit zu lesen, als die Zeilen laut aufzusagen und zu horchen, ob sie einen Sinn ergaben“ (Illich 1992 , 119). Natürlich stellt sich da die Frage: warum aber hat man dann gerade so geschrieben? Unbestreitbar ist jedoch, daß individuelles Lesen in aller Regel und wesentlich artikuliertes Lesen war. Hinzukommt die klassische Vorlesesituation: „Selig, wer diese prophetischen Worte vorliest (das heißt: auch sich selbst) und wer sie hört“, „Μακάριος ὁ άναγινώσκον καὶ οἱ άκούοντες τους λόγους τῆς προϕητείς“, Offenbarung, 1,3). Was für den Hellenismus gilt, gilt für das republikanische und insbesondere kaiserliche Rom, weil es sich hier um eine Fortsetzung, wenngleich mit Abwandlungen, des Hellenismus handelte. Wer las in der römischen Welt? Voraussetzungen waren für Lektüre als Mußetätigkeit Wohlstand und Bildung. Es lasen somit gebildete Adlige oder andere Gebildete, die auf anderem Weg am Wohlstand partizipierten. Sogleich ist hier auf die bedeutsame Rolle der Frauen hinzuweisen. Leser sind von früh an und durch die Jahrhunderte hindurch wesentlich Leserinnen. Es lasen aber auch Sklaven und Freigelassene, die auf spezifisch vermittelte Weise am Wohlstand teilhatten. Schön geht so weit, im Blick auf die römische Kaiserzeit, was das Lesen angeht, von einer „Alltagskompetenz“ zu reden (Schön 1987, 32 ). Was das quibus auxiliis? betrifft, ist hinzuweisen auf die Verbreitung von Geschriebenem durch Schreibstuben, auch auf eine Art von Buchhandel: Werke, die als interessant galten, fanden auf diesem Weg eine den damaligen Gegebenheiten entsprechend r a s ch e Verbreitung im Imperium. Es gab auch öffentliche Bibliotheken, zum Teil von den

5.  Geschichte des Lesens

Kaisern eingerichtet, zum Teil auch durch Privatpersonen. Natürlich blieb aber Geschriebenes in dieser ganzen Zeit eine erhebliche Kostbarkeit. Auch dies ein materieller Beitrag zur Wertschätzung gerade auch des I n h a l t l i ch e n am Buch. Die hellenistisch-römische Lesekultur endete im 5. und 6. Jahrhundert.

7.

Frühmittelalterliche Lesekultur

Die frühmittelalterliche Lesekultur ist gegenüber der vorhergehenden stark reduziert, nämlich auf die Klöster, auf die Mönche in ihnen. Es handelt sich hier um das „monastische Lesen“ (Illich). Dieses Lesen kennzeichnet die Zeit zwischen 800 und 1150; in der Mitte des 12 . Jahrhunderts kam es zu einem Umbruch, wobei dieser Umbruch — dies ist wichtig und kennzeichnend — keineswegs alleine steht, sondern mit anderen Umbrüchen im Sozialen und Geistigen zusammenhängt. Gegenüber der vorhergehenden Lesekultur haben wir in der frühmittelalterlichen eine Reduzierung sowohl der Lesenden als auch des Lesestoffs, Reduktion also im quis? und im quid?. Eigentlich lesen nur Kleriker; sie haben ein Lesemonopol. Nur sie also lesen (das französische clerc ist bis heute ein elegantes Synonym zu intellectuel, so in dem berühmten Titel Julien Bendas La trahison des clercs, 192 7), aber nicht einmal für alle Geistlichen ist andererseits Lesefähigkeit gesichert. Sodann reduziert sich der Lesestoff enorm: biblische Schriften, natürlich nur in enger Auswahl, insbesondere, von herausragender Bedeutung, die 150 Psalmen, also der „Psalter“ oder „Psalterium“, dann Heiligenlegenden und Ähnliches. Freilich wird von der römischen Literatur doch einiges mitgenommen: Ovid etwa oder das späte „De consolatione philosophiae“ des Boethius (6. Jahrhundert), ein Werk, das für das Mittelalter und darüber hinaus besonders bedeutsam war. Etwas Spezifisches und für unsere Begriffe überaus Merkwürdiges ist die Bindung der Literalität an das Lateinische, also an eine Sprache, die nicht oder kaum alltagssprachlich (und dann in räumlich auch jeweils sehr besonderer Weise) gesprochen wurde. Aber mehr noch: nicht nur wurden die Volkssprachen nicht oder kaum durch die Buchstaben reproduziert, sondern nicht einmal das tatsächlich gesprochene Latein: die Schriftlichkeit blieb verbunden mit einer Form des Lateinischen, die nicht mehr gesprochen wurde. Gewiß sind einzelne Einbrüche der Volks-

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sprache in Schriftlichkeit zu verzeichnen, namentlich im altenglischen Bereich, wo sie sich erheblich früher finden als anderswo; im romanischen Bereich liegen sie im Französischen früher als etwa im Italienischen. Illich spricht von einer „Alleinherrschaft des Lateins über die Buchstaben“. Beredt macht er deutlich, was uns hieran überaus fremd ist: „Wenn wir das Alphabet betrachten, sehen wir in ihm ein Werkzeug, das der Aufzeichnung sprachlicher Laute dient. Anderthalb Jahrtausende lang war das einfach nicht so ... Das Monopol des Lateinischen über sein Alphabet war so absolut, daß es nie als Ergebnis eines ‘Tabus’ betrachtet und nie als überraschende historische Anomalie eingeschätzt worden ist. Diese Vernachlässigung einer verfügbaren Technik ist genauso auffällig wie die Vernachlässigung des Rads in präkolumbianischen Kulturen, in denen nur Götter und Spielsachen jemals auf einen Wagen gesetzt wurden ... Im ausgedehnten und politisch differenzierten Gebiet zwischen dem Schwarzen Meer und Spanien wurde das lateinische Alphabet nie dazu verwendet, das niederzuschreiben, was die Leute redeten“ (Illich 1991). Also gab es davon, vom tatsächlich dort Geredeten, auch so gut wie nichts zu lesen. Nur wenige, nämlich die Kleriker, sagten wir, konnten lesen. Dies heißt nun aber — unter Voraussetzung jener Bindung ans Lateinische — umgekehrt: wer lesen konnte, konnte auch Latein. So ist die berühmte Selbstkennzeichnung des alemannischen Ritters Hartmann von Aue zu verstehen: „ein ritter sô gelêret was / daz er an den buochen las / swaz er dar an geschriben vant ...“ Das heißt: der Mann konnte Lateinisches lesen und zwar, offenbar, was immer er an in dieser Sprache Geschriebenem antraf. Auch sehr hochgestellte Persönlichkeiten waren somit Analphabeten, ko n n t e n es jedenfalls sein: zum Lesen und Schreiben (dies war die Auffassung) hatte man Leute, „Personal“. Wiederum eine gewisse Ausnahme bilden hier die Frauen: „Den lateinischen Psalter lesen und beten zu können, war für sie Bildungsnorm“ (Schön 1987, 33). Natürlich handelte es sich da um a d l i ge Leserinnen. Illich hält sich bei seiner Schilderung des „monastischen Lesens“ exemplarisch an das „Didascalicon“ von Hugo von St. Victor, das gegen Ende der dritten Lesekultur, um 1130, geschrieben wurde. Zunächst wird hier deutlich, daß es sich um ein intensives Lesen handelte, intensiv freilich nur in einem bestimmten Sinn: in dem einer spezifischen Aneig-

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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nung. Hugo fordert ein eigentliches und strenges studium legendi. Das Lesen ist ihm der Anfang des Lernens, principium doctrinae. Zunächst wieder das Memorieren, dann die Klarlegung der historia, also wohl der Fabel, des plot ; die historia wird interpretiert nach dem Verfahren der analogia : Analoges ist zwischen den berichteten oder erzählten Ereignissen aufzudecken; dann geht es weiter zu anagogia, welche so etwas ist wie die „Einverleibung“ des Lesers in die historia. Es folgt die cogitatio, von Illich als „konzeptuelle Analyse“ herausgestellt, schließlich die meditatio, die eine gleichsam gesteigerte, intensivierte cogitatio ist. Hugo definiert die meditatio als eine cogitatio frequens cum consilio, also, wie Illich zutreffend übersetzt, „wohlüberlegtes und anhaltendes Nachdenken“. Die meditatio, Ziel geistlichen Lebens, hebt somit an, letzten Endes, mit dem Lesen. Dies zeigt dessen wahrhaft grundlegenden Charakter für diese Kultur. Wobei in der meditatio das Lesen eine eigentümliche Freiheit gewinnt; es ist dann nur noch etwas wie ein Anstoß, eine textgebundene, gleichsam, mit Freud zu sprechen, „freischwebende Aufmerksamkeit“. Das Lesen erscheint monastisch in zweierlei Gestalt: einmal als ein sibi legere, „für sich selbst lesen“, dann aber, im Unterschied dazu, als clara lectio, als lautes Lesen also für die Ohren anderer. Zudem ist d i e s wichtig: nach abgeschlossenem Lesen, sei dies nun individuell oder kollektiv, setzt es sich fort durch ein Murmeln, eine Art von Wiederkäuen, wie es mehrfach beschrieben wird, und ruminatio ist auch das übliche Wort: „Während der dunklen Stunden zwischen Mitternachtsgebet und Morgendämmerung summt Johannes von Gorze (976 gest.) ‘wie eine Biene die Psalmen, leise und ohne Unterbrechung’ ( in morem apis psalmos tacito murmure continuo revolvens ) (Illich 1991, 58); offenbar war er keine Ausnahme. Ein Text war für jene Lesekultur, wie Illich drastisch formuliert, eine „Partitur für fromme Murmler“, und Klöster sind ihm für jene Zeit geradezu „Aufenthaltsorte für Murmler“. Man sieht: dies Lesen ist Einverleibung; es setzt sich fort o h n e das Geschriebene; das Einverleibte wird wieder ins Murmeln, in den Raum der Artikulation, zurückgeholt.

8.

Hochmittelalterliche Lesekultur

Nunmehr die vierte Lesekultur, die des Hochund Spätmittelalters, um 1150 beginnend und

endend um 1300. Aus der „Partitur für fromme Murmler wurde der optisch planmäßig gebaute Text für logisch Denkende ...“, wie Illich etwas weitgehend formuliert. Ob nun „logisch denkend“ oder nicht, das Lesen wandelt sich: „Die Buchseite wurde von einer Partitur zum Textträger umgestaltet“. Dem „monastischen“ Lesen folgt das „scholastische“. Dies heißt: es ergibt sich jetzt, was etwas Neues ist, einerseits ein gelehrtes Lesen, mit spezifischer Zielsetzung und Technik, andererseits ein ungelehrtes Lesen, ein anderen Zwecken dienendes Lesen a u ß e r h a l b der Gelehrsamkeit. Es entstehen nunmehr zwei verschiedene Lesekulturen innerhalb des Lesens, man könnte auch sagen: die neue Lesekultur zeichnet sich durch solche Aufspaltung aus. Nun nämlich (es hängt mit der Aufspaltung zusammen) geschieht dies Neue, daß die „Volkssprachen“ eintreten in die Schriftlichkeit, wobei „Volkssprache“ ein irreführender Ausdruck ist, denn nun wird eben in breiter Front die Sprache geschrieben, die tatsächlich — nicht allein vom „Volk“ — gesprochen wird (bei allen Abstrichen, die hier zu machen sind, weil das Geschriebene nie genau dem Gesprochenen entspricht: das medial Differente hat „konzeptionelle“ Konsequenzen, und das „Konzeptionelle“ ist ein Stück weit auch unabhängig vom Medialen; hierzu Koch & Oesterreicher 1985; → Art. 1; 44). „Volkssprache“, vulgaris elocutio (Dantes Ausdruck in De vulgari eloquentia, „Über Dichtung in der Volkssprache“, 1303/1304), meint hier den Unterschied zum Latein, damals schlicht grammatica genannt. Die Lage war ja vorher die, daß überhaupt nur eine Sprache geschrieben wurde, die man n i ch t (jedenfalls nicht spontan, alltagssprachlich) sprach. Latein wird nun (freilich nur in diesem Sinn) eine Sprache neben anderen; sie bleibt in anderer Hinsicht gewiß privilegiert. In Deutschland lernt man aber doch erst im 16. Jahrhundert m i t dem Deutschen und i n ihm lesen; bis dahin erfolgte der Einstieg in die Literalität noch immer übers Lateinische. Hervorzuheben ist auch, was uns ebenfalls fremd erscheint, daß man zuerst lesen lernte und dann erst, in einem gewissen Abstand, schreiben. Also eine eigentümliche Trennung von Lese- und Schreibkompetenz. Diese didaktische Praxis wurde bis ins 19. Jahrhundert fortgesetzt. Nunmehr ergibt sich also ein gewisser Bruch mit der Mündlichkeit („konzeptionelle“ Schriftlichkeit entsteht in der Volkssprache, die dann rückwirkt auf das Mündliche). Andererseits ist die Verschriftung der gesprochenen Sprache auch wieder als

5.  Geschichte des Lesens

Gewinn an Mündlichkeit zu verbuchen (Ansätze zu „konzeptioneller“ Mündlichkeit im Geschriebenen). Es entsteht nun eigentliche Schrift- und Lesekultur, wobei dem freien oder dem lesegestützten Vortrag, dann auch dem Vorlesen, weiterhin größte Bedeutung zukommt. Dies gilt natürlich weit bis in die Neuzeit, ja, in die moderne Zeit hinein. Im „Don Quijote“ (1605—1616) lautet eine Kapitelüberschrift witzig: „Handelt von dem, welches der sehen wird, der es liest, oder der hören, der es sich vorlesen läßt“ ( Que trata de lo que verá el que lo leyere, o lo oirá el que lo escuchare leer, 1. Kap. des 11. Buchs). Nach wie vor findet sich auch das laute individuelle Lesen. Und wiederum sind es vor allem die Frauen, die sich auszeichnen durch Lesekompetenz. Die individuelle Leserin, die dann natürlich auch vorliest, wird zu einem wichtigen Adressaten der Literatur. Ritter und andere hochgestellte Männer lesen in dieser Zeit in aller Regel noch nicht. Was die verschiedenen Rezeptionssituationen angeht, verweist Schön mit Recht auf die große Schwierigkeit, Typen von Texten nach der Art der Rezeption zu unterscheiden, wie dies häufig versucht wurde: „ein rezeptionsästhetischer Holzweg“. Vermutlich ist es in der Tat, wie er andeutet, so, daß damals keine entscheidende Differenz erlebt wurde zwischen e i ge n e m Lesen und dem Zuhören des Vorlesens eines anderen. Wirklich ist ja generell die Stimme dessen, der redet, völlig anders, wenn er vo r l i e s t, als wenn er redet, o h n e vorzulesen (Jean-Paul Sartre hat dies überaus plastisch in „Les mots“, 1964, S. 35, beschrieben; übrigens eine auch unter diesem Gesichtspunkt äußerst bemerkenswerte Schriftlichkeit-Autobiographie: „Lesen“ und „Schreiben“ lauten, nicht zufällig, die Titel der beiden, nahezu gleichlangen Teile). Es ist bis heute ein gewaltiger Unterschied, ob man jemandem zuhört, während er redet oder während er vorliest. So war wohl damals der Unterschied zwischen einem Sichselbst-Vorlesen und einem Vorlesen für einen oder mehrere andere nicht groß. Was nun das spezifisch gelehrte, das „scholastische“ Lesen angeht, so geht es da gar nicht mehr um Murmeln, sondern um geordnete Anhäufung von Wissen, um gedankliche Durchdringung, verstehendes, intelligentes Gedächtnis. Man liest nun nicht mehr einen Text, wie eine „Partitur“, von vorne bis hinten, sondern wählt aus ihm aus, was man in den jeweiligen gedanklichen Zusammenhängen braucht. Dem kommt dann eine neue Textgestalt entgegen, die diesem Lesen in spe-

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zifischer Weise hilft: Paragraphen, Angabe des Inhalts am Rand, den Inhalt aufschließende Überschriften, Indices, auch dann graphische Darstellungen, kurz, was Raible (1991) mit einem glücklichen Ausdruck „Semiotik der Textgestalt“ nennt. Raible kann aber auch zeigen, daß sich in diese Richtung Gehendes schon weit früher findet, daß da eher ein Kontinuum ist. Daß Bücher Vorteile haben können, gegenüber dem Unterricht durch Personen, wird — im Unterschied zu Plato, aber ohne Bezugnahme auf ihn — von R. de Bury („Philobiblon“, 1345) bemerkenswert hervorgehoben: Bücher „sind Lehrer, die uns ohne Ruten und Gerten unterrichten, ohne zornige Worte, ohne Kleider und Geld. Wenn du zu ihnen kommst, schlafen sie nicht. Wenn du sie befragst und ausforschst, halten sie nicht zurück. Sie fahren dich nicht an, wenn du etwas nicht weißt“ (zit. bei Müller 1988).

9.

Frühneuzeitliche Lesekultur

Die fünfte Lesekultur beginnt um 1300. Hier haben wir zunächst eine beträchtliche Zunahme individuellen Lesens zu verzeichnen. Neben den Adel treten nun zunehmend die Bürger; das quis? des Lesens also weitet sich aus. Zum Feudaladel kommt ein städtisches Patriziat, kommen Kaufleute, dann auch Handwerker hinzu. Letztere lesen (und schreiben) natürlich auch vielfach und nun zunehmend aus praktischen Gründen: es gehört zu ihrer — ganz außerliterarischen — Tätigkeit. Die zwei Lesekulturen bestehen weiter fort, formieren sich stärker und setzen sich dadurch stärker voneinander ab. Auf der einen Seite die Gelehrten, deren Sprache weiterhin das Lateinische ist. Auch sind die Schriftsteller, für die sie sich interessieren, natürlich die antiken Schriftsteller. Daneben die Bürger und die Adligen. Sie lesen religiöse Literatur (Biblisches, erbauliche Schriften, Katechismen), auch praktisch weltlich Orientiertes (Recht, Medizin), dann aber auch, in Frankreich früher als in Deutschland, Literarisches. Schön hat aber Recht, wenn er hervorhebt, daß es damals „noch kein literarisches Lesepublikum im heutigen Sinne“ gab. Immerhin war nun das Lesemonopol der „Kleriker“, vor allem im Zusammenhang mit der Gründung der Universitäten, von der Mitte des 14. Jahrhunderts an, gebrochen. Andererseits kehren in der Lektüre dieselben Bücher immer wieder: Biblisches, wiederum besonders die Psalmen, Andachtsbücher. Und noch immer hieß

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Lesen einen Text laut werden lassen: „Das Schreiben blieb, wie das Lesen, eine murmelnde Tätigkeit“ (Illich 1991). Was die Zahlen derer, die überhaupt lesen können, angeht, so werden für die Zeit um 1500 für Deutschland 5% der Stadtbevölkerung genannt, und dies heißt weniger als 1% der Gesamtbevölkerung. Eine andere Schätzung kommt auf 3% bis 4% Leser (→ Art. 70). Zu Recht weist aber Schön, der diese Angaben referiert, auf die Problematik solcher Schätzungen hin: „Zwischen Lesefähigkeit und tatsächlicher regelmäßiger Lektüre besteht eine große Kluft, die nur in Ausnahmefällen geschlossen wird“ (Schön 1987, 37). Es lesen (im Sinne von lesen 1) also weit weniger als lesen könnten (lesen 2 ). Schön selbst nennt schließlich als „regelmäßig Lesende“ für die Zeit um 1500 1% bis 2 %, für die Zeit um 1600 2 % bis 4%. Hier handle es sich aber vor allem um „Leser von berufsbezogener Lektüre“, dann von religiösen Texten und von Sachliteratur. Das literarische Publikum bildete hiervon nur „einen kleinen Bruchteil“. Bekannt ist, daß unter Protestanten mehr gelesen wird als unter Katholiken. Für Deutschland speziell ist bemerkenswert, aber kaum überraschend, der enorme Rückgang des Lesens (auch der Buchproduktion) im Dreißigjährigen Krieg. In die Zeit dieser Lesekultur fällt, wie gesagt, die Erfindung des Buchdrucks: sie veränderte für den Augenblick nichts oder wenig, aber auf Dauer wurde sie natürlich doch zu einem wichtigen Markstein in der Geschichte des Lesens. Man kann hier zweierlei beobachten: einmal, daß eine solche Erfindung, wie die Technik bekanntlich überhaupt, eine Eigendynamik entwickelt, zum anderen, daß sie Bedürfnisse weckt oder verstärkt, die dann ihrerseits die technische Entwicklung weitertreiben. Der Buchdruck entlastete das Schreiben (das Abschreiben); er belastete andererseits, auf Dauer, das Lesen ... Einige Zahlen für den deutschen Sprachraum: während des 15. Jahrhunderts wurden sechshundert bis achthundert Titel produziert, während des 16. Jahrhunderts hunderttausend, im 17. hundertfünfzigtausend bis zweihunderttausend. Von erheblicher Bedeutung war das Entstehen einer neuen Kommunikationsform: um 1700 gab es im deutschen Sprachraum zwischen fünfzig und sechzig Zeitungen, um 1800 bereits zweihundert; die Gesamtauflage all dieser Blätter betrug dreihunderttausend, und die Zahl der Rezipienten wird auf drei Millionen geschätzt (Schön 1987, 38, der sich hier

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

auf Angaben von Welke 1981 stützt). Was die Buchproduktion angeht, ist zu betonen, daß hier weiterhin Gelehrte für Gelehrte, Leser für Leser, produzieren, und an der Spitze der Fächer steht hier mit großem Abstand die Theologie. Die Dichtung war im 17. Jahrhundert noch durchaus Randproduktion. Ihr Adressatenkreis war außerordentlich gering, es handelte sich um die „literarische Kultur einer kleinen Oberschicht“, wiederum mit Frauendominanz, die aus dem Adel und Patriziern bestand. Die übrige Bevölkerung, insofern sie überhaupt las, las Zeitungen, Kalender, Flugschriften und natürlich religiöses Schrifttum, all das, was vom Adel und von den Patriziern noch zusätzlich gelesen wurde. Mit Recht weist Schön, wie andere vor ihm, darauf hin, daß es sich bei der Buchlektüre weithin um Wiederholungslektüre handelt (dasselbe Buch, vererbt durch die Generationen, wird wieder und wieder gelesen) und daß, inhaltlich gesehen, die moralische Nutzanwendung im Vordergrund stand: man suchte Belehrung und Erbauung, Lebenshilfe.

10. Moderne Lesekultur Die sechste Lesekultur hebt, wie gesagt, mit dem 18. Jahrhundert an, wobei diese Zeitangabe natürlich nur ungefähren Charakter hat. Es entstand nun, nach und nach, ein wirkliches Lesepublikum, und zwar eines, das sich vom heutigen nicht grundlegend unterscheidet. Im Verein damit entstand ein neuer Begriff von Literatur. Träger dieses neuen Literaturbegriffs war eine Bildungsschicht, die sich in England und in Frankreich im reicher werdenden Bürgertum herausbildete, sich in Deutschland hingegen eher auf die Beamtenschaft stützte. Das „Merkmal“ der Schicht, welche die Literaturrezeption nun trägt, „ist vornehmlich Bildung, zunächst instrumentell zur Erlangung eines Amtes, dann auch als Wert an sich in Profilierung gegenüber dem Adel“ (Schön 1987, 42 , der hier speziell Deutschland meint). Die soziale Grundlage dieses entscheidenden Wandels im Leseverhalten, gerade im Blick auf „schöne“ Literatur, ist klar greifbar. Andererseits steht dieser Wandel natürlich auch mit der Tatsache in Zusammenhang, daß das 18. Jahrhundert überhaupt die Moderne vorbereitet, ja, in gewissem Sinn schon die Moderne i st . Dies gilt insbesondere für den Umbruch zwischen dem ausgehenden 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert, von Kosellek nicht zu Unrecht, wenngleich vielleicht überpointiert, als „Sat-

5.  Geschichte des Lesens

telzeit“ herausgestellt. Weniger einleuchtend erscheint es, wenn Schön, unter Hinweis auf Foucault, einen Zusammenhang jener neuen Lesekultur mit der „Verzeitlichung“ herzustellen sucht, wie sie als Kategorie für die Analysen Foucaults wichtig ist. Treffender als „Verzeitlichung“ wäre übrigens „Vergeschichtlichung“ (hierzu Walter Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, 1972 , 469—62 8). Bereits Theodor Litt sprach, mit klarer Wertung, von der „Befreiung des geschichtlichen Bewußtseins“ (durch Johann Gottfried Herder). Doch ist ein Zusammenhang zwischen „Vergeschichtlichung“ und neuer Lesekultur schwer dingfest zu machen. Die These ist nicht plausibel. Es ist eben nur wieder so, daß die neue Lesekultur in ihrem zeitlichen Zusammenhang zu sehen ist mit einer allgemeineren, in diesem Falle sehr tiefgreifenden und vielleicht irreversiblen geistesgeschichtlichen Veränderung: der Konstituierung eines historischen Bewußtseins. Zunächst einmal machen jedoch die sozialen Veränderungen für sich allein diese neue Lesekultur hinreichend plausibel. Auch hier ist wiederum hinzuweisen auf die spezifische Dominanz der Frauen. Die Delegierung häuslicher Arbeiten an Dienstpersonal gibt auch den Frauen des Bürgertums mehr Muße. Überhaupt entsteht nun ein neues Phänomen, das frühere Zeiten in dieser Form nicht kannten, nämlich „die heute geläufige kategoriale Trennung von Arbeit und Freizeit“ (Schön). Dies führt nun dazu, daß nun auch die Männer sich mehr und mehr zu Lesern emanzipieren. Überhaupt ist für das 18. Jahrhundert eine enorme quantitative Steigerung des Lesens zu verzeichnen, wenngleich, was den Anteil der regelmäßig Lesenden an der Gesamtbevölkerung angeht, die Zahl möglicherweise nur von einem auf zwei Prozent gestiegen ist (es bleibt dies aber eine Verdopplung). Die absolute Steigerung liegt auch in der Bevölkerungszunahme. Starken Aufschwung nimmt in dieser Zeit namentlich die belletristische Produktion: zwischen 1740 und 1800 ergibt sich bei der Dichtung ein Zunahmeverhältnis von 1 : 13, beim Roman speziell ist das Zunahmeverhältnis zwischen 1750 und 1805 1 : 32 (Angaben wiederum nach Schön 1987, 44). Auch im quibus auxiliis? finden sich nun wichtige Veränderungen: zu nennen sind hier die Lesegesellschaften, Diskussionszirkel, in denen über gemeinsame Lektüre gesprochen und zu gemeinsamer Lektüre angeregt wurde, dann vor allem die Leihbibliotheken, deren

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sich auch das Bürgertum und der Adel bedienten, denn noch immer war ein Buch ein relativ teurer Gegenstand. Schließlich ist bemerkenswert die Etablierung des „freien“ Schriftstellers: es gibt nun Autoren, die von den Erträgen ihrer literarischen Produktion leben. Dies gilt in Frankreich insbesondere für Jean-Jacques Rousseau, dessen „Nouvelle Héloïse“ ein enormer Bucherfolg gewesen ist. Für die große Zunahme des Lesens in quantitativer Hinsicht spricht auch eine spezifische Diskussion, die nun anhebt und die sogenannte „Lesesucht“ oder „Lesewut“ zum Gegenstand hat. Die Motivation dieser Kritik ist einerseits religiös und kommt hier besonders von calvinistischer und pietistischer Seite, andererseits sind die Gründe auch gleichsam ökonomischer Art (die auf das Lesen verwendete Zeit werde, wird argumentiert, gewinnbringender Arbeit, der Arbeit überhaupt, entzogen). Natürlich spielt hier auch, im Zusammenhang mit der religiösen Motivation, der inhaltliche Gedanke eine Rolle, daß Bücher zu Zuchtlosigkeit verführen können, was bereits Dante im fünften Höllengesang zum Thema macht ( Galeotto fu il libro e chi lo scrisse — der Verführer Lancelots und Guenievres wird an dem fatalen Tag, an dem sie „nicht weiterlasen“ — quel giorno più non vi leggemmo avante —, zum Verführer von Francesca und Paolo). Das Buch als Verführer, Lektüre als Quelle von Wirklichkeitsverlust und falschem Bewußtsein ist im übrigen ein wichtiges Thema der Literatur selbst („Don Quijote“, „Madame Bovary“). Es ist wohl zutreffend, wenn Schön für das 19. Jahrhundert, gegenüber dem 18., lediglich noch quantitative Veränderungen der Lesekultur verzeichnet: Massenproduktion. Hinzukommt aber gewiß auch, wie er ebenfalls hervorhebt, eine Verstärkung in der Differenzierung des Publikums. Die beiden Lesekulturen, die der Bildung verpflichtete und eine eher volkstümliche, treten stärker und definitiv auseinander: E-Literatur und U-Literatur. Auf der einen Seite das später sogenannte „Bildungsbürgertum“, auf der anderen das übrige Leserpublikum, wobei das erstere offen gewesen sein dürfte — relativ zumindest — für den Lesestoff des letzteren; in die umgekehrte Richtung ging die Offenheit kaum. Eine wichtige Veränderung, die sich seit ungefähr 1870 ergab, war die Ermöglichung der Produktion für Einzelne, das heißt: es wurden nun Bücher massenhaft produziert für einzelne Käufer. Es ergaben sich — eben durch

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Massenproduktion — wirklich niedrigere Preise, während bisher Bücher weiterhin teuer waren (im Lauf des 18. Jahrhunderts waren die Preise sogar kräftig angestiegen). Zuvor bediente sich, wie gesagt, auch das reiche Bürgertum und gar der Adel der Leihbibliotheken. Das „Volk“ im übrigen wurde versorgt, insbesondere natürlich auf dem breiten Land, durch den sogenannten „Kolporteur“, den fahrenden Händler. Der Kolporteur war eine Erscheinung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kommen nun Zeitschriften, dann, speziell für das Proletariat, Kalender und Heftchen hinzu, in denen oft Romane in Fortsetzung erscheinen. Auch dies ist eine neue Form des Lesens. Was die Lesefähigkeit angeht, die natürlich im Lauf des 19. Jahrhunderts enorm zunahm, nennt Schenda für Deutschland die folgenden Zahlen: um 1800 2 5% der Gesamtbevölkerung, um 1830 40%, um 1870 75%, um 1900 90% (zit. bei Schön 1987, 45; → Art. 70). Neu ist jetzt auch, daß Lesen und Schreiben nunmehr zu e i n e r Fähigkeit werden: wer l e s e n kann, kann auch s ch r e i b e n . Freilich wird sich dies wieder ändern in unseren Jahrzehnten. Was ist hervorzuheben an Veränderungen in unserem zu Ende gehenden Jahrhundert? Es bleibt zunächst die starke Verbindung des Lesens „guter“ Literatur mit dem gebildeten Bürgertum, das sich eben Bildung als Privileg und Auszeichnung anrechnet. Bildung als Ausweis und als Besitz: „und bringt ein Gespräch über Stellen aus guten Autoren in Lauf“, wie es — bereits ironisch — in dem Studentenlied heißt („Es wär’ der studierenden Jugend die herrlichste Zukunft gewiß ...“). Hierher gehört auch das Empfinden dieser Literatur, wie auch der Musik und der bildenden Künste, als Reservat, als Ausgleich, als geschützten und schützenden Bereich für die Erholung von Geschäften und Arbeitswelt. Der Schwund des Religiösen erhebt die Kunst, nicht nur für die Künstler selbst, sondern auch für jenes Bürgertum, zu einer Art Religionsersatz. Sie befriedigt ja auch, rein psychologisch gesehen, dieselben Bedürfnisse. Diese oft ganz implizite Auffassung und dieses Erleben von Literatur können gehen bis zur regelrechten Verdinglichung des Buchs, die in ganz anderer Weise auch schon zu früheren Zeiten, etwa im Mittelalter, während der „monastischen“ Lesekultur (und darüber hinaus), gegeben war: Lesebildung als Ausweis der Zugehörigkeit: also Prachtausgaben der Klassiker, die man aufstellt wie Kunst-

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

objekte und vielfach eben bloß aufstellt, weil dies eben dazugehört, und kaum liest: das Buch als Möbel. Schön glaubt, von 1900 an ungefähr, etwas zu erkennen wie eine Auflösung dieser schichtspezifischen Literatur, was sich dann gesteigert zeige ab 192 0, nach dem Ersten Weltkrieg, „mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat“, wie Thomas Manns ominöse Formulierung im „Vorsatz“ zum „Zauberberg“ (192 4) lautet. Das naturalistische Werk Hauptmanns wäre hier zu nennen oder, besonders entschieden in diese Richtung gehend, Döblins „Berlin Alexanderplatz“ (192 9). Richtig ist hieran gewiß, daß sich da in der Literatur selbst etwas öffnete. Die literarische Moderne ist ja, von ihrem Anbeginn in Frankreich an, gerade auch ein Sichabsetzen von der überkommenen „bürgerlichen“ Bildungswelt, auch von ihrer Sprache, eben der Bildungssprache, der Sprache, die das Bürgertum als für Dichtung kennzeichnend zu betrachten gewohnt war („gute Autoren“). Andererseits ist aber dann doch zu sagen, daß sich gerade die moderne Dichtung durch Elitarismus kennzeichnet: sie richtet sich an wenige, wird nur von wenigen, eben Hochgebildeten, rezipiert. Es gilt für Mallarmé und Valéry, aber auch für Eliot und Pound, dann für Rilke und Benn; es gilt auch für die großen Romanciers: für Kafka und Joyce und Proust, auch für Thomas Mann, der am „Bildungsbürgertum“, wenngleich ironisch parodistisch, partizipiert. Kaum je finden wir hier Werke, welche einerseits die Kriterien von E-Literatur erfüllten und trotzdem viel gelesen würde, wirklich p o p u l ä r wären (es gibt Ausnahmen: in Spanien gilt es für den Lyriker Antonio Machado und für den Lyriker und Dramatiker Federico García Lorca). Auch für Brecht, so zugänglich er als Lyriker und Dramatiker ist, läßt sich Volkstümlichkeit — weder bürgerliche noch gar proletarische — nicht behaupten. Kein Vergleich zu Heines „Buch der Lieder“, einem lyrischen Großerfolg. So bleibt es bis heute bei der Fortexistenz jener zweier Kulturen innerhalb der Lesewelt, das heißt: wir haben zwei Lesewelten, die der Bildung und die andere, die der Unbildung, die von „Bild“, einer Zeitung für Nicht-Leser, und Konsalik und Simmel, um im deutschsprachigen Raum zu bleiben; aber die beiden letztgenannten Autoren hatten und haben auch über diesen hinaus größten Erfolg. Sodann finden wir die offenkundige Reduzierung des Lesens in den vergangenen Jahr-

5.  Geschichte des Lesens

zehnten, so daß Beobachter bereits von einer „postliteralen Kultur“, auch von „Post“- und „Semi-Literalität“ sprechen. Illich gebraucht diese Ausdrücke und legt dar, in unseren Tagen gehe ein „Kulturverhalten“ zu Ende, das vor achthundert Jahren begonnen habe und das er mit George Steiner als bookish bezeichnet: „Die universale Liebe zum Buch wurde zum Kern der westlichen säkularen Religion, Unterricht wurde zu ihrer Kirche. Heute ist die westliche Gesellschaft diesem Glauben an das Buch entwachsen, vielleicht so, wie sie auch dem Christentum entwachsen ist. Inzwischen ist das Buch längst nicht mehr die wichtigste Grundlage des Bildungswesens. Wir haben die Kontrolle über sein Wachstum verloren. Medien und Kommunikation, der Bildschirm haben die Buchstaben, die Buchseite und das Buchlesen verdrängt“ (Illich 1991). Ist dies so? Die Schwierigkeit liegt darin, daß wir hier auf viele Fragen nicht die nötigen, ausreichend präzisen und ausreichend verläßlichen Antworten bekommen. Ganz ohne Zweifel ist aber an den Feststellungen, die in diese Richtung zielen, etwas daran. Das Schreiben, zunächst — dies hat mit dem Lesen zu schaffen — ging enorm zurück: viele schreiben so gut wie gar nicht mehr; mit der Hand, von der Leistung der Unterschrift abgesehen, noch weniger. Aber auch das Lesen ging zurück, obwohl andererseits immer mehr Bücher — von der Zahl und den Titeln her — verkauft und also produziert werden. Es wird immer noch viel gelesen: in den Schulen aller Art, in der Ausbildung überhaupt. Zurück ging aber das Lesen belletristischer Literatur im Sinne wirklicher und anhaltender Tätigkeit. Und dieser Rückgang betrifft nicht allein die klassische Literatur (im weiten Sinne dieses Begriffs, für das Deutsche etwa von Lessing bis Fontane), sondern auch die Lektüre der modernen. Das Bürgertum ist heute nicht mehr in der Weise „literat“, wie es dies vor achtzig Jahren war. Auch gelten Lesen und Besitz von Büchern weniger als früher als Merkmal der Zugehörigkeit — wenngleich dieser Literaturbezug keineswegs geschwunden ist. Natürlich sind hier zunächst andere Medien, dann speziell die neuen Medien zu nennen. An erster Stelle, oft übersehen, die Illustrierten, Zeitschriften mit Bildern, die es ja nicht erst in unseren Jahrzehnten gibt. Dann das Kino, das Radio, das Fernsehen und die Videokassette als dessen Verlängerung und Verstärkung. Hier handelt es sich durchweg

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um Konkurrenzunternehmen. Sie erfüllen dieselben Funktionen: Unterhaltung, durchaus auch Belehrung, zum Teil (Film!) erheben sie auch — sehr zu Recht — hohen Kunstanspruch, oft auch literarisch abgestützt (der Film zum Buch), dann gibt es auch hier etwas wie soziale Verpflichtung („das muß man gesehen haben“); kurz: diese Konkurrenzunternehmen halten vom Lesen ab. Alles, was beim Lesen von Literatur purer „Zeitvertreib“ ist — und dies ist ja ein legitimes, keineswegs unkulturelles Bedürfnis —, wird nun von diesen Konkurrenzunternehmen e h e r erfüllt, ganz besonders vom Fernsehen, das so bequem zuhanden ist. Diesen Konkurrenzunternehmen gegenüber hat das Lesen den Charakter von Arbeit. Es ist aber festzustellen, daß es keineswegs nur jene Konkurrenz ist, die das Lesen reduziert. Zunächst ist da die Arbeit selbst, die viele so anstrengt und mitnimmt, daß trotz vermehrter Freizeit kein Raum für ausgedehntes Lesen, für Lesen als wirkliche Tätigkeit, bleibt. Man könnte und müßte wohl aber auch sagen: ausgedehntes Lesen wird nicht mehr als Bedürfnis empfunden, so daß es auch dann unterbleibt, wenn es ohne weiteres stattfinden könnte. Eine der häufigsten Auskünfte ist: ‘Ich habe leider zum Lesen kaum noch Zeit’. Dies ist aber wohl immer so interpretierbar: das Lesen ist mir nicht so wichtig; es ist mir kein elementares Bedürfnis. Und wirklich ist es ja so: wer tatsächlich und dringend lesen w i l l , findet immer Zeit (er stiehlt sie dann seiner Arbeit, seiner Familie, seiner Nachtruhe ...). Wir fügen an dieser Stelle eine Übersicht des B. A. T. Freizeit-Forschungsinstituts ein, die uns Gunther Eigler vermittelte und die für sich selbst spricht (Abb. 5.1). Im Mai 192 4 hielt Viscount Grey of Fallodon, britischer Außenminister zwischen 1905 und 1916, vor der Royal Society of Literature in London einen Vortrag über das Thema „The Pleasure of Reading“. Er nennt die folgenden Hindernisse: zunächst, eigentümlicherweise, die Post: man verliere viel Zeit mit unnötiger, belangloser, lästiger Korrespondenz. Danach die Mobilität, das vermehrte Herumreisen. Zwar sei die Eisenbahn zum Lesen vorzüglich geeignet, werde aber dafür nicht ausreichend benutzt, nun aber das Auto, das in dieser Hinsicht nur Nachteile bringe: „even for people with good eyes“ (ein Chauffeur wird also mit Selbstverständlichkeit vorausgesetzt). Das Telefon schließlich sei „a deadly disadvantage; it minces time into fragments and frays the spirit“. Zerstücke-

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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Abb. 5.1.

5.  Geschichte des Lesens

lung, also, der Zeit und Zermürbung des Geistes. Radio und Kino wirkten sich, trotz unbestreitbar positiver Elemente, weiterhin ungünstig aus (hierüber, sehr interessant, auch Sartre in seiner Autobiographie: Kino, geheim frequentiertes Laster, als Gegenwelt zum Buch). Schließlich wird das Vordringen der „picture papers“ als äußerst negativ herausgestellt: „picture papers are tending to divert people not only from reading, but from thought“. Und Viscount Grey ist in der Lage, ein Sonett von Wordsworth aus dem Jahr 1846 zu zitieren, welches diese Gefahr schon herausstellt und im übrigen viele bemerkenswerte Bildungstopoi enthält: „A backward movement surely have we here, From manhood — back to childhood; for the age — Back towards caverned life’s first rude career. Avaunt this vile abuse of pictured page!“

Und lange vor Fernsehen und Video und Computer, welch letzterer nicht ohne weiteres auf dieser Linie einzuordnen ist, stellt Viscount Grey fest: „All these things must make it more difficult for successive generations to acquire the habit of reading, and, if that habit be acquired, to maintain it. Even before all these changes it was not easy to maintain the habit, but it could be done“. Es ist dies alles vielleicht nicht gerade kritische, aber doch britische Vernunft. Und was Grey hier beobachtet, ist, fernab von Zahlen, Repräsentativbefragungen und soziologischen Analysen, schlicht richtig. Das Wichtigste und Notwendigste für die Freude am Lesen sei es, daß die Gewohnheit des Lesens f r ü h erworben werde, „when people are young“. Gerade dies werde aber zunehmend schwieriger ... Es ist, was den letzteren Punkt angeht, in unseren Bereichen wohl so, daß Kinder, namentlich in der ausgehenden Kindheit, fast alle viel, zum Teil gar sehr viel lesen, auch wenn es da vielfach bloß um „Comics“ geht. Da ist noch immer, für kurze Zeit, „Lesesucht“. Dann aber bricht sie ab. Das Lesen, das nun als Forderung herantritt und den Charakter der Arbeit gewinnt, wird aufgegeben. Die Schule hindert dies offensichtlich nicht — im Gegenteil, muß man wohl sagen. So sind die Leser, also die, die aus Vergnügen weiterlesen, eigentlich die, die so betrachtet, infantil geblieben sind. Bei Umfragen zeigt sich: „Eine niedrigere Altersgrenze erhöht stets den Anteil und die Lesehäufigkeit der Buchleser“ (Schön 1987, 58). Im Jahre 1967 lasen in der Bundesrepublik „mindestens einmal pro Woche ‘ein Buch zur Unterhaltung’

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44%, im Jahre 1981 41%. Im Jahr 1967 lasen ein Buch, das ‘zur Weiterbildung beiträgt’, 2 3% und im Jahr 1981 2 5%“. Insgesamt stellt Schön fest, auf dessen Gewährsleute wir hier rekurrieren, daß der „Leseumfang fast konstant“ sei, „daß das Lesen der Männer ‘zur Unterhaltung’ in seiner Häufigkeit deutlich abnimmt, obwohl sie ohnehin seit je geringer war als bei den Frauen“. Und „daß das Lesen der Frauen ‘zur Weiterbildung’ stark zunimmt“. Insgesamt habe „die Zahl der pro Kopf gelesenen Bücher in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren eher abgenommen, obwohl sich der Buch-Stückumsatz vervielfachte“ (Schön 1987, 59). Wird der Computer zu einer weiteren Reduzierung des Lesens führen? Muß er eingereiht werden in die Reihe der Faktoren, die zu jener Reduzierung beitragen? So ohne weiteres wird man dies nicht tun wollen, allein deshalb nicht, weil mit dem Computer sowohl geschrieben als auch gelesen wird (→ Art. 43). Er gehört auch nicht zu den Konkurrenzunternehmen wie etwa das Fernsehen, das — ohne Arbeitscharakter — dieselben Bedürfnisse wie das Lesen befriedigt, es sei denn, er würde genutzt, was ja eine propagierte Möglichkeit ist, als Spielzeug: für Computerspiele, ohne Zweifel, gilt unsere Einschränkung nicht. Insgesamt ist es doch wohl verfrüht oder vielleicht überhaupt verfehlt, von einem Ende des Buchs als Kulturmittel zu sprechen: „man kann nur das sehen, was schon ist“ ( videri nisi quod est non potest, Augustin). Was eindeutig zurückgegangen ist, im „Bürgertum“, das es ja in d e r Weise auch nicht mehr gibt, ist die von Viscount Grey apostrophierte „Freude am Lesen“. „In old days I think it must have been easy to acquire the habit of reading. People stayed for months in the same house without stirring from it even for a night. The opportunities for reading were so many, and the opportunities for doing other things were comparatively so few, that the habit of reading must almost have been forced upon them“. Natürlich sieht der Viscount dies aus seiner Sicht oder Schicht: was er meint, galt für Menschen, die der Arbeitsfron nicht oder kaum oder doch nur in sehr vertretbarem Maß unterworfen waren. Heute jedoch ist es so, daß gerade in der Freizeit, die für diejenigen, die jener Fron unterworfen sind, erheblich zugenommen hat, die Faktoren, die vom Lesen abhalten und früher gar nicht da waren, so zahlreich und übermächtig geworden sind, daß sich das Lesen von Büchern,

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das Lesen aus purer Freude, aus früh erworbener und gefestigter Gewohnheit und aus gefühlter Notwendigkeit, reduzierte.

11. Fragen und Schwierigkeiten Stellen wir abschließend einige Punkte zusammen. Von erheblichem Interesse wäre eine Untersuchung, in systematischem Durchgang durch die Geschichte, der Thematisierung des Lesens überhaupt und dann auch bestimmter, positiv oder negativ eingeschätzter Lektüren in der Literatur selbst. Hierzu gibt es bisher nur punktuelle Ansätze. Untersuchenswert wäre auch die Kritik des Lesens unter moralischen oder philosophischen Aspekten (ein überaus eindrucksvolles Beispiel hierfür findet sich bei Descartes an der genannten Stelle im „Discours de la méthode“, vielleicht die erste, jedenfalls eine frühe gleichsam antihumanistische Stellungnahme; aber in Shakespeares „Love’s labour’s lost“, I, 1, äußert eine Figur, Berowne, auch schon Bedenken: “... painfully to pore — „brüten“ — upon a book / To seek the light of truth; while truth the while / Doth falsely blind the eyesight of his look“, und dann: „S mall have continual plodders — „Büffler“ — ever won , / Save base authority from others’ books ...“). Sodann: es gibt ohne Zweifel große Leser, Männer und Frauen, die nicht nur literarisch groß sind für sich selbst, sondern gerade auch als Leser, denen es also gelungen ist, ihre Lektüre in besonderer Weise für ihr eigenes Werk fruchtbar zu machen. Natürlich heißt dies gerade nicht, daß sie besonders viel gelesen haben. Zu denken wäre hier an Figuren wie Montaigne, Goethe, Nietzsche (letzterer ein klassischer Wenig-Leser, aber ein guter gleichwohl, und er konnte sich gründen auf eine überaus solide Schulbildung). In gewissem Sinn, weiterer Punkt, gehört auch das Übersetzen zu unserem Thema, denn der Übersetzer ist ein spezifischer Leser: ein Leser, der s ch r e i b t und zwar auf Grund vorhergehender, möglichst genauer Lektüre. Er schreibt sein Lesen, und sein Ziel ist es, das Gelesene undeformiert, soweit es seine Bedingungen, also seine Sprache, dies erlauben, wiederzugeben. Das Thema „Übersetzung“, speziell dann die „literarische Übersetzung“, wäre auch unter diesem Aspekt anzugehen — der Übersetzer als Leser. Eine konstante Schwierigkeit, die sich auch bei der Geschichte des Lesens stellt, besteht darin, daß es kaum möglich ist, sich zurückzuversetzen in Zeiten, die in dieser Hinsicht

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

ganz anderen Bedingungen unterlagen als diejenigen, die wir überblicken. Da ist zunächst die Schwierigkeit, sich hineinzudenken in ein „Jenseits der Schrift“ (Illich). Kaum leichter ist es, sich hineinzudenken in ein „Jenseits“ der Buchkultur oder dann, weiter zurück, in ein „Jenseits“ der Manuskriptkultur ... Die Aussagekraft, sodann, der Zeugnisse wäre hier genau zu überprüfen. Was dringend fehlt, ist eine möglichst vollständige Zusammenstellung dieser Zeugnisse und eine sorgfältige Interpretation, die sich vor allem zum Ziel setzen müßte zu klären, was diese Zeugnisse tatsächlich hergeben und was sie, genau genommen, offen lassen. Konkret, zum Beispiel: was folgt tatsächlich aus dem immer wieder zitierten Zeugnis Augustins in Bezug auf Ambrosius? Wir haben dieses Problem aber nicht nur bei den frühen Zeugnissen. Bei dem Thema „Lesen“ und „Geschichte des Lesens“ stoßen wir vielfach auf Daten, die unvollständig, ungenau und unzuverlässig sind. Infolgedessen gibt es hier viel empirisch unabgestützte Spekulation. Dies trifft gerade auch für die Gegenwart zu. Eine Arbeit wie die von Steiner After the book? ist dafür, gerade weil sie geistvoll ist, ein Beleg, aber wirklich nur einer unter vielen. Eine andere Schwierigkeit besteht darin, daß es in der Geschichte des Lesens sowohl Brüche als auch Kontinua gibt und daß es schwer ist, sie beide in ihrem jeweils korrekten Nebeneinander zu sehen. Oft ist Unterschiedliches, ja Gegensätzliches, gleichzeitig da, oft verschieben sich im Wandel lediglich die Akzente. Natürlich gibt es hier überall auch die häufig apostrophierte „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, was ja oft eine allzu bequeme Formel ist, denn: inwiefern kann das Gleichzeitige als ungleichzeitig bezeichnet werden, wenn es faktisch doch gleichzeitig erscheint? Wer entscheidet über die Ungleichzeitigkeit? Ist das Ungleichzeitige nur darum ungleichzeitig, weil es — im Rückblick — schon früher da war und später nicht mehr? Es bestehen hier zwei konträre Gefahren: die Gefahr, daß nur Kontinua, also keine Brüche gesehen werden, und die Gefahr, daß nur Brüche gesehen oder daß sie überakzentuiert werden und das Kontinuum, das Beharrende, aus dem Blick gerät. Zu beachten ist auch, was die erste Gefahr angeht, daß dasselbe a n d e r s sein kann in einem a n d e r e n Kontext. Schließlich liegt überall, nicht nur im Blick auf das Thema „Lesen“, sondern im Bereich Schriftlichkeit/Mündlichkeit überhaupt, die

5.  Geschichte des Lesens

Gefahr einer Überschätzung des Medialen. Es ist nicht leicht, die Bedeutung des medialen richtig einzuschätzen. Natürlich, zum Beispiel, spielt die mediale Differenz — gesprochen/geschrieben — eine Rolle. Aber sie ist doch nicht alles. Gerade darum ist die Unterscheidung zwischen den beiden Unterscheidungen — phonisch/graphisch — mündlich/ schriftlich —, auf die Koch & Oesterreicher 1985 im Anschluß an Söll so großen Wert legen, von Gewicht. Sie zeigt, daß die Differenz mündlich/schriftlich in gewissem Sinn unabhängig ist vom Medialen. Nur darf, andererseits, hier auch wieder die Bedeutung der medialen Differenz nicht verkürzt werden, weil Schriftlichkeit, zum Beispiel, doch wieder viel zu tun hat mit dem Medium des Graphischen, des bloß Optischen. Nun aber wieder umgekehrt: das Mediale spielt in der Geschichte des Lesens eine bedeutsame Rolle, immer wieder ist aber doch auch festzustellen, daß dies Mediale ge i st i g gleichsam überspielt werden kann. So haben wir, bereits bei Plato, eine Überschätzung der Veränderungen, die die Schrift bewirkte, eine Überschätzung dann auch der Veränderungen, die der Buchdruck bewirkte, eine Überschätzung sicher auch der Veränderungen, die der Computer bewirkt hat und weiter bewirkt. Dies zeigt sich auch vielfach im Einzelnen. Zum Beispiel ist die Behauptung schwer haltbar, daß erst die Schrift ein Wortbewußtsein vermittelt habe, so als hätten die Sprechenden in jenem „Jenseits der Schrift“ nicht über ein intuitives Wissen darüber verfügt, was ein Wort ist. Als ob dazu die Schrift notwendig gewesen wäre! Als ob das Wort ein Produkt wäre der Schrift! Es ist doch unzweifelhaft so, daß die Logographie nur denkbar ist unter Voraussetzung eines Wortbegriffs im Sinne von Dingbezeichnungen (Wort als Name eines Dings, einer Eigenschaft, eines Vorgangs und Zustands ...). Daß daneben, grammatisch betrachtet, das Wort von Sprache zu Sprache, „einzelsprachlich“, variieren kann, steht auf einem anderen Blatt. Ein intuitives Wissen über das, was ein Wort ist, gab und gibt es also vo r und unabhängig von jeder Schrift. Wobei wir wiederum sehen müssen, daß die Schrift, dann speziell die Einführung der spatia in der Schrift zwischen den Wörtern, die Wortbewußtheit bereits zur Voraussetzung hat, dies Bewußtsein weiter verstärkten. Es geht also um die richtige Einschätzung des Medialen und der Veränderungen im Medialen, die sich in der langen Geschichte des Lesens (und Schreibens) ergaben und jetzt und künftig weiter ergeben.

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Hans-Martin Gauger, Freiburg (Deutschland)

6.  Geschichte des Buches

6.

Geschichte des Buches

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Allgemeines Der alte Orient und die Antike Das Mittelalter und die frühe Neuzeit Das 17. und 18. Jahrhundert Das 19. Jahrhundert Das 20. Jahrhundert Literatur

1.

Allgemeines

Nach der Geschichte des Lesens und der Geschichte des Schreibens wäre an dieser Stelle des Handbuchs eine Geschichte des Textes bzw. der Texte zu erwarten. Eine solche Geschichte würde freilich den Rahmen eines Handbuchartikels sprengen. Es soll stattdessen die Entwicklung des Buches als einer prototypischen Form schriftlicher Texte gekennzeichnet werden. Das ist selbstverständlich eine Einengung. So ist das Buch in seiner heutigen Form primär ein Träger westlicher Schriftkultur: die Entwicklungen in Fernost oder z. B. auch in der jüdischen oder arabischen Geschichte sind durchaus anders verlaufen (→ Kap. IV). Darüberhinaus wird in diesem Beitrag, insbesondere bezüglich der neuzeitlichen Geschichte, die Kennzeichnung exemplarisch am Beispiel der Entwicklung in Deutschland vorgenommen. Was ein Buch ist, wird in unterschiedlichen Zusammenhängen sehr verschieden bestimmt. Für die Mehrwertsteuerermäßigung sind ganz andere Kriterien maßgebend als etwa für die juristische Regelung des Copyrights oder für die Bestimmung der kulturellen Bedeutung des Buches. Deshalb soll hier der „Normalfall“, der Prototyp Buch, beschrieben werden, der die durchschnittliche gesellschaftliche Erfahrung von „Buch“ in den westeuropäischen Ländern der Gegenwart prägt. Diesen Prototyp „Buch“ formen dann Merkmale und Bedingungen, die in einem konkreten Einzelfall „Buch“ nicht alle verwirklicht sein müssen, und so entstehen Übergänge zu anderen Formen von kulturellen Äußerungen. Ein Buch ist ein von Menschen hergestellter Gegenstand, der aus einer Menge von bedruckten Papierseiten in einem Einband besteht. Die Papierseiten sind mit einem Text bedruckt, der von einem oder mehreren Autoren oder Herausgebern verfaßt oder zusammengestellt ist. Dieser Text besteht aus Unterhaltungs- oder Bildungsliteratur, er bezieht

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sich auf kulturelle gesellschaftliche Erfahrung, oder es handelt sich um ein Fach-, Sach-, Schul- oder Lehrbuch. Das Buch ist eine Ware; es wird von einem Verlag produziert, bei dem das Copyright liegt und der das Buch von einer Druckerei und einer Buchbinderei herstellen läßt; er wirbt für das Buch und distribuiert es über Großhändler und Sortiment, teilweise auch über andere Geschäftsformen. Der Verlag bestimmt die Ausstattung des Buches, schreibt dem Handel den Endverkaufspreis (gebundene Preise) vor, bezahlt aus den Einnahmen das Autorenhonorar, die Verlags- und Druckkosten und räumt dem Großhandel und dem Sortimentsbuchhandel einen bestimmten Anteil am Endverkaufspreis ein. Im Sortimentsbuchhandel erscheint das Buch in einer bestimmten Ausstattung mit einem festgelegten Titel, der über Verlagsoder Buchhandelsverzeichnisse erschließbar ist. Für dieses Buch wird Werbung betrieben, damit es Käufer findet, die es dem potentiellen Leser zuführen. Es wird Bestandteil einer privaten oder öffentlichen Bibliothek, die die Literaturversorgung der Bevölkerung sicherstellen und so — gemeinsam mit anderen Presseerzeugnissen und den elektronischen Medien — eine Öffentlichkeit schaffen, die durch den freien Zugang zu allen Informationen konstituiert wird. Diese Bestimmungen charakterisieren das Buch und den Buchmarkt in Westeuropa seit dem 18. Jahrhundert, denn erst seit dieser Zeit bilden die einzelnen Merkmale eine Einheit. Aber jede dieser Bestimmungen hat eine zum Teil Jahrtausende alte eigene Geschichte.

2.

Der alte Orient und die Antike

2.1. Tontafeln Eine wichtige Funktion des Buches, die Überlieferung längerer zusammenhängender Texte, wird sehr bald nach der Erfindung von Aufschreibsystemen in allen Schriftkulturen mit Hilfe der jeweils verbreitetsten Schreibmaterialien vorgenommen. So finden sich die ältesten Vorläufer des Buches auch in den ältesten Schriftkulturen. In Mesopotamien als der Wiege der Schreibkunst enthalten ca. 3000 der bisher gefundenen 300 000 Keilschrifttontafeln der Sumerer literarische Texte. Ein „Buch“ besteht oft aus mehreren Tafeln, die

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numeriert sind und auf jeder Tafel die Anzahl der zusammengehörigen Tafeln und die Anfangsworte des Textes verzeichnen. Diese Tontafeln stammen meist aus dem späten 3. und frühen 2 . Jahrtausend v. u. Z., gehen aber sicher auf ältere Vorlagen zurück (→ Art. 35). Die Texte wurden in Tempelbibliotheken gesammelt und in Schreibschulen, die den Tempeln angegliedert waren, tradiert. Spätestens in babylonischer Zeit (ca. 18.—17. Jahrhundert v. u. Z.) hat es einen Austausch zwischen den verschiedenen Tempelbibliotheken gegeben. 2.2. Papyrusrollen Wichtiger für die Geschichte des Buches wurde Ägypten. Hier begann die schriftliche Überlieferung etwa 3000 v. u. Z. Überliefert sind ähnliche Texte wie in Mesopotamien (Lieder, Mythen, epische und hymnische Dichtung, Reiseschilderungen und Romane etc.; → Art. 34). Entscheidend ist aber der Gebrauch eines neuen Beschreibstoffes, des Papyrus. Der Papyrus ist eine Pflanze, die im Nildelta in großen Mengen wuchs. Sie wurde von den Ägyptern vielseitig verwendet, und ihre schreibtechnischen Vorteile wurden früh entdeckt: Bereits in Steininschriften, die 5000 Jahre alt sind, ist eine Hieroglyphe für eine Papyrusrolle überliefert, die ältesten gefundenen Papyri stammen aus dem 3. vorchristlichen Jahrtausend. Das Material des Papyrus führte zur Rollenform schriftlicher Texte. Diese Form wurde der „Normalfall“, und so wurden auch Tierhäute zu einer Rolle zusammengenäht. Eine neue gesellschaftliche Qualität erhielt das Buch, als Texte in Alphabetschrift verfertigt werden konnten. Zwar stellten die sumerischen und ägyptischen Texte bereits das „gesellschaftliche Gedächtnis“ dar, aber dieses war nur einer kleinen Gruppe zugänglich und wurde nur zu bestimmten Anlässen aktiviert, konnte also gesellschaftliche Kommunikationsbeziehungen noch nicht durchgreifend umstrukturieren. Dies änderte sich mit der Übernahme der Buchrolle durch die Griechen, die nicht nur ihr Alphabet, sondern auch ihren Beschreibstoff von den Phöniziern übernahmen: Schon der Name biblos verweist auf den phönizischen Hafen Gubla, aus dem die Griechen ihre Papyrusrollen importierten. Spätestens seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. wurde griechische Dichtung schriftlich tradiert, seit ca. 550 v. u. Z. gab es in Athen Staatshandschriften der „klassischen“ Dich-

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

ter, die großen Prosawerke etwa eines Perikles wurden von vornherein schriftlich konzipiert. Diese Entwicklungen vollzogen sich öffentlich, „demokratisch“ kontrolliert, und hatten so für das Literaturverständnis eine unerhörte Bedeutung (→ Art. 37): Während in der oralen Kultur Dichtung durch ihre formalen Eigenschaften gekennzeichnet war und im übrigen der Selbstvergewisserung der kulturellen Gruppe diente, ihr also von vornherein Wahrheitswert zukam, wurden bei der schriftlichen Aufzeichnung von Literatur „unwahre“, der eigenen Erkenntnis widersprechende Aussagen fixiert und für die Rezipienten erfahrbar. So erhielt Dichtung fiktionalen Charakter (Rösler 1980). Über die schriftliche Überlieferung einer Dichtung entschieden im klassischen Griechenland die Zeitgenossen der Dichter, die sich die Manuskripte der erfolgreichen Werke abschrieben und so deren Tradierung sicherten. Daneben ist ein professioneller Abschreibbetrieb und ein Handschriftenhandel für griechische Städte seit dem 5. Jahrhundert bezeugt. In dieser Zeit bekommen Bücher eine neue Funktion, sie sind nicht mehr nur Aufzeichnung erfolgreicher Texte, sondern bereits das Medium, in dem die Konzeption der Werke erfolgt, und auch die Verbreitung dieser Werke erfolgt nicht mehr primär mündlich, sondern mündlich und schriftlich. Dies beweist nicht nur der Bücherhandel, sondern auch die Entstehung einer Vielzahl von Bibliotheken. Mit den Bibliotheken von Alexandria und Pergamon wurde eine neue Qualität der schriftlichen Überlieferung entwickelt: Da aufgrund der klimatischen Verhältnisse außerhalb Ägyptens Papyrusrollen nach zweioder dreihundert Jahren unbrauchbar wurden, mußten ältere Texte immer wieder abgeschrieben werden. Bei diesem Abschreiben ergaben sich notwendigerweise Abweichungen von der Vorlage, so daß der Wortlaut eines Textes größeren Schwankungen unterworfen war. Da sich gleichzeitig die Sprache verändert hatte, entwickelten die Bibliothekare Alexandrias eine philologisch-hermeneutische Methode, die den „Urzustand“ der Texte wiederherstellte bzw. ihre unveränderte Tradierung gewährleistete. Die damals entwickelten Methoden prägen die Philologien bis heute (→ Art. 54). In dieser alexandrinischen Philologenschule wurde erstmals ein Unterschied zwischen Text und Buch relevant: Während bei handschriftlicher Buchproduktion normaler-

6.  Geschichte des Buches

weise Text und Handschrift als Einheit erfahren wurden, wurde nun ein „Originaltext“ aus unterschiedlichen Handschriften rekonstruiert, und so der Text als sprachlich-literarische Größe von dem materiellen Träger unterschieden. Damit entstand eine Buchproduktion, die sich auf Bücher bezog: Kataloge, Inhaltsangaben, Kommentare und methodische Abhandlungen, die das Buch selbst zum Gegenstand hatten (Erbse in Hunger et al. 1975, 221 ff). Die beiden größten Bibliotheken des Altertums initiierten zur Bestandssicherung einen das ganze Mittelmeer umspannenden Handschriftenhandel und entwickelten so die Kommerzialisierung der Handschriftenproduktion entscheidend weiter. Die Bibliothek von Alexandria soll ca. 400 000 Rollen enthalten haben, da aber wohl nur von 2 0 000 verschiedenen Texten für das ganze griechische Altertum auszugehen ist, zeigt diese Proportion die in dieser Bibliothek geleistete Arbeit an (Hunger 1975 et al., 63 f; Canfora 1990, passim). Pergament ist ein Beschreibstoff, der durch Gerbung aus Tierhäuten hergestellt wurde. Auch die Herstellung dieses Beschreibstoffes war sehr aufwendig, denn für zwei Folioseiten mußte jeweils ein Tier geschlachtet werden, aber Pergament hatte vor dem Papyrus den Vorzug, daß Texte gelöscht und es wiederbeschriftet werden konnte (sog. Palimpseste). 2.3. Der Codex Auch das Pergament wurde in der Antike in Rollenform verwandt, doch entsteht in Rom daneben der Codex. Er wurde entwickelt aus der Form zusammengebundener Wachstäfelchen, die an einer Seite durch Lederriemen verbunden waren. Diese Technik wurde zum Zusammenheften von Einzelblättern übernommen, und daraus entwickelte sich die Bindung des Codex an der linken Seite. Diese Form hatte gegenüber der Rolle einige Vorteile: Man konnte den Codex aufschlagen, auf einen Tisch legen, Vorder- und Rückseiten der Blätter beschreiben. Der Leser konnte vorund zurückblättern und damit erst wörtlich zitieren. Durch die Bindung wurden Reihenfolge und Gesamtumfang einer Werksammlung „kodifiziert“, Codices waren praktischer. Rolle und Codex (sowohl aus Pergament wie aus Papyrus) existierten in römischer Zeit nebeneinander, wobei der Codex als geringerwertig galt. Literarische Werke konnten in beiden Formen vertrieben werden, so daß man in römischer Zeit von verschiedenen

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Ausgaben eines Werkes sprechen kann. Die Vervielfältigungen wurden in Schreibmanufakturen in der Regel von Schreibsklaven kommerziell hergestellt (im allgemeinen wohl nach Diktat). Sie wurden von einem das ganze Imperium Romanum umspannenden Netz von Buchhändlern vertrieben und zumindest in Einzelfällen von Verlegern betreut. Bücher unterlagen bereits damals der Zensur. Der Autor wurde durch „Mäzene“ gefördert, über Autorenhonorare ist nichts bekannt. Wichtig für den Autor war der literarische Ruhm, die gesellschaftliche Anerkennung, die sein soziales Fortkommen bestimmte, nicht das Honorar. In der Spätantike begann das Buchwesen so unübersichtlich zu werden, daß Kurzfassungen der wichtigsten Werke für eilige Leser erstellt werden mußten (Erbse in Hunger et al. 1975, 234 ff). In den ersten Jahrhunderten n. Chr. scheint sich die Buchform je nach Inhalt des Buches unterschieden zu haben. Juristische, philosophische, historische und literarische Texte wurden sowohl als Rolle wie als Codex verbreitet, christliche Texte, vor allem die Bibel bzw. das NT, erschienen fast ausschließlich als Pergament- oder Papyruscodex. Die Bevorzugung des Codex im christlichen Schrifttum mag ein Grund für die Durchsetzung dieser Buchform in den ersten 5 Jahrhunderten n. Chr. gewesen sein. Daneben hat aber sicherlich die Veränderung in der Versorgung mit Beschreibstoff eine Rolle gespielt, da der Papyrusanbau in Ägypten einen Niedergang erlebte und zugleich die Handelsverbindungen nach dem Ende des weströmischen Reiches erschwert waren. Vom 4.—6. Jahrhundert jedenfalls erfolgte der Umwandlungsprozeß der Papyrusrolle zum Pergamentkodex auch für Literaturwerke. 2.4. Büchervernichtung Die Geschichte der christlichen Literatur ist eine Geschichte der Zensur, der Verfolgung und der Bücherverbrennung. Zwar gibt es den Versuch, durch Zensur und Verbot das kollektive Gedächtnis und die „öffentliche Meinung“ zu steuern, seitdem wir schriftliche Überlieferungen kennen (z. B. ließ der ägyptische Pharao Thutmosis III. nach seinem Regierungsantritt den Namen seiner Vorgängerin Hatschepsut aus allen öffentlichen Inschriften entfernen, und auch das klassische Griechenland kannte Bücherverbrennungen). Dennoch hat es erst die spätrömische Kaiserzeit zu einer organisierten Verfolgung und Vernichtung von Büchern, Bücherbesitzern

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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und den Anhängern der in diesen Büchern vertretenen Lehren gebracht. Objekt dieser Verfolgungen waren alle religiösen Gruppen, die sich der Staatsreligion widersetzten, am heftigsten traf sie die Christen und die christliche Literatur. Einen durchschlagenden Erfolg konnten Zensurmaßnahmen allerdings aufgrund der Abschreibpraxis und der damit verbundenen individuellen Vervielfältigung von Manuskripten nicht haben. Die Zensur christlicher Literatur endete mit dem Mailänder Edikt von 313, in dem Kaiser Konstantin den Christen Schutz gewährte. Nach der Anerkennung begann das Christentum seinerseits mit dem Verbrennen von Büchern und Menschen. „Die Bücherverbrennung ist ein Teil der Christianisierung“ (Canfora 1990, 184). Diesem Vorgehen fielen nicht nur die antichristlichen heidnischen Schriften und die christlich-häretischen Werke zum Opfer, die Christianisierung bedeutete auch das Ende für die berühmteste Bibliothek der Antike, der Bibliothek von Alexandria. Nachdem eine kleinere Bibliothek in Alexandria wohl bei der Eroberung der Stadt durch Julius Caesar vernichtet wurde und die zweite bedeutende Bibliothek der Antike in Pergamon als römische Kriegsbeute zerstreut worden war, haben die verschiedenen Christianisierungen Ägyptens im 4. Jahrhundert das Ende der großen alexandrinischen Bibliothek bedeutet (Canfora 1990). Die christliche Bücherverbrennungspraxis erfaßte seit dem 5. Jahrhundert auch zunehmend die religiösen Schriften des Judentums, vor allem den Talmud, der bis in die Neuzeit immer wieder dem Feuer übergeben wurde.

3.

Das Mittelalter und die frühe Neuzeit

3.1. Handschriften Nach dem Zerfall des römischen Weltreiches entfielen die Voraussetzungen für die antike Schriftkultur in weiten Teilen Europas. Dies zwang die christliche Kirche, die Tradierung der Basistexte und deren Verständlichkeit zu sichern. Diese Aufgabe fiel den im 6. Jahrhundert neugeschaffenen Mönchsorden zu. So entstanden anstelle der antiken Bibliotheken die mittelalterlichen Klosterbibliotheken. An die Stelle des relativ offenen antiken Literaturmarktes trat ein „geschlossener Kreislauf“ von Autoren, Herausgebern, Schreibern, Korrektoren, Illustratoren, Kopisten,

Buchbindern und Lesern (Wittmann 1991, 13). Das kirchliche Interesse galt der Sicherung der Überlieferung der religiösen Texte, die im Vordergrund aller schreibsprachlichen Bemühungen stand. Als Staatskirche hatte die christliche Kirche jedoch auch ein genuines Interesse an der Überlieferung juristischer Texte, denn diese schrieben auch die Privilegien der Kirche fest bzw. waren für ihre Zwecke auch umzuschreiben. S o war durch den Charakter der tradierenden Institution die Überlieferung zweier entscheidender literarischer Bereiche gesichert. Die Überlieferung des dritten literarischen Bereiches, Philosophie, Geschichte, Medizin und Literatur, ergab sich aus der Notwendigkeit, das Verständnis der biblischen Texte zu sichern. Wie bei Gründung der Bibliothek von Alexandria ergab sich aufgrund der sprachlichen Entwicklung die Notwendigkeit, Grammatik und Lexik der zu untersuchenden Texte zu erläutern, und dies war nur mit Hilfe der profanen Literatur möglich. Die Überlieferung der antiken Literatur in Europa verdankt sich also im wesentlichen pädagogisch-philologischen Interessen. Dies erklärt auch, daß viele Pergamenthandschriften, die profane Literatur enthielten, im Laufe der Zeit neu geglättet und mit christlichen Texten beschrieben wurden, während der umgekehrte Vorgang sehr selten ist. Immerhin ist das, was an klassischer Literatur bis 1500 in Europa bekannt war, entweder durch die Abschreibetätigkeit christlicher Mönche überliefert worden oder durch die Vermittlung der spanischen Araber auf uns gekommen. Die mittelalterlichen Klöster und ihre Bibliotheken im deutschsprachigen Raum sind Produkte der angloirischen Mission, und die Missionare brachten auch ihre Bücher von den Inseln mit. Diese waren in einer neuen Schreibkonvention verfaßt: Die irischen Mönche setzten nicht Buchstaben neben Buchstaben, wie es während der gesamten Antike der Fall war, sondern setzten die einzelnen Wörter durch Zwischenräume, Spatien, voneinander ab. In diesen Handschriften vergegenständlicht also bereits der Schreiber eine Analyse des Satzes, der Leser muß die syntaktische Gliederung nicht mehr durch lautes Lesen selbst vornehmen. Diese neue Schreibtechnik war eine der Voraussetzungen für das „stille“ Lesen und damit für eine revolutionär veränderte Einstellung zum Buch: das Buch wurde zu einem Objekt für das Auge (Illich 1991, 91 ff).

6.  Geschichte des Buches

Karl der Große wollte sein Reich religiös und politisch vereinheitlichen, und dies war bei der Größe des Gebietes nur durch eine Vereinheitlichung des Schriftwesens zu erreichen. Nach dem Vorbild der karolingischen Hofschule wurde die Schrift reformiert (karolingische Minuskel), in den Kloster- und Bischofsbibliotheken wurden revidierte Texte abgeschrieben und dazu Schreibschulen eingerichtet. Der Bücherbestand der ostfränkischen Bibliotheken ist weitgehend auf die Kulturpolitik Karls zurückzuführen (Schmitz 1984, 19 ff). Die Mönche vermehrten ihre Bibliotheksbestände vor allem dadurch, daß sie sich Bücher aus anderen Bibliotheken ausliehen und diese abschrieben. Daneben hat es in geringem Maße auch den Kauf von Handschriften gegeben, und neben der Produktion für den im engeren Sinne kirchlichen Bedarf sind auch Prachtkodices für weltliche Herrscher angefertigt worden, die schon wegen ihrer Größe und ihres Gewichtes nur Repräsentationszwecken dienen konnten. Aber auch die „Gebrauchshandschriften“ des Mittelalters waren so gewichtig, daß sie nur in den seltensten Fällen die ganze Bibel enthielten. Für den kirchlichen Gebrauch bestand die Bibel aus einer Sammlung separater, voluminöser Bände, denn die zur Verfügung stehenden Blätter aus Pergament waren zu schwer und zu sperrig, als daß eine vollständige Bibel hätte problemlos gebunden werden können, und die verwendeten Buchstaben waren zu groß, um viel Text auf einer Seite unterzubringen. Auch eine Bibel des 13. Jahrhunderts, die in kleinen Buchstaben und mit vielen Abkürzungen geschrieben war, wog noch 5 kg. So war das Buch bis ins 13. Jahrhundert Kult- und Repräsentationsgegenstand, der Text der Bibel wurde auswendig gelernt. Auch die seit der Antike bekannten Handschriftenillustrationen dienten der Repräsentation und als Memorierhilfe. Dieser Funktionsbestimmung und der Anzahl der verfügbaren Handschriften genügte ein Katalogisier- und Zitierverfahren, das die Anfangs- und Schlußworte der Handschrift anführte, das Incipit und das Excipit, wie päpstliche Enzykliken ja auch heute noch nach ihrem Incipit benannt werden. 3.2. Das Papier Von kaum zu überschätzender Bedeutung war die Übernahme des Papiers im christlichen Europa. Es veränderte das Buchwesen in wesentlichen Punkten. Es verbilligte erstens die

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Herstellung einer Handschrift, dennoch machten die Beschreibstoffkosten immer noch die Hälfte des Endpreises eines Buches aus. Da das Papier nicht nur für die Buchproduktion benötigt wurde, war es zweitens immer in ausreichenden Mengen erhältlich. Zum dritten war das Papier erheblich leichter und damit einfacher zu transportieren, und dies galt auch für das Endprodukt. Endlich garantierte der maschinelle Herstellungsprozeß eine gleichbleibende Qualität und gleichbleibende Maße. Papier konnte darüber hinaus mit anderen Tinten und anderen Schreibwerkzeugen beschrieben werden als Pergament. Diese Möglichkeiten trugen ebenso wie neuentwickelte Techniken der Buchbinder, die erheblich leichtere Einbände produzierten, dazu bei, daß sich im 14. Jahrhundert ein neuer Buchtyp entwickelte, der neue Möglichkeiten des Gebrauchs bot, unter anderem das individuelle Lesen ermöglichte. Ivan Illich (1991 passim) hat darauf hingewiesen, daß mit der Entstehung der Scholastik im 13. Jahrhundert eine radikal neue Einstellung zum Buch verbunden war: Seit dieser Zeit muß auch im christlichen Europa zwischen Text und Buch unterschieden werden. Bis zu dieser Zeit waren Text und Buch eine Einheit, die Lektüre eines Buches verwies auf die Welt, auf die das Buch bezogen war. Jetzt wurde der Text zu einer Einheit der Kommunikation, er verwies auf einen argumentativen Diskurs. An die Stelle des dictators des Buches trat der auctor des Textes, der als Individuum für das Geschriebene verantwortlich war. Eine der Voraussetzungen für diese Entwicklung war die Wiederentdeckung der antiken Philosophie, eine der Folgen, daß jetzt nicht mehr das Buch von der Hörergemeinde kollektiv nachvollzogen wurde, sondern daß die Inhalte vom Leser erschlossen werden mußten. Dies geschah u. a. durch nach dem Alphabet gegliederte Register, Konkordanzen, Bibliotheksinventare; Wörterbücher wurden seit dem 12 .—13. Jahrhundert nach dem Alphabet gegliedert (→ Art. 141) und folgten nicht mehr der Reihenfolge eines vorgegebenen Textes oder einem Sachzusammenhang, die geschriebene Sprache löste sich von ihrem materiellen Träger wie die Buchstaben von der lateinischen Sprache, seit dieser Zeit wurde das lateinische Alphabet allgemein für volkssprachliche Aufzeichnungen verwandt. Diese Entwicklungen waren notwendige Voraussetzungen für die Erfindung des Buchdrucks, in dem dann der Text seine Materialisierung erfuhr.

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Eine andere wesentliche Voraussetzung für die Erfindung des Buchdrucks war die Entstehung eines allgemeinen gesellschaftlichen Bedürfnisses nach Büchern. Dazu trugen die Veränderungen im Bildungsbereich wesentlich bei, vom 13. bis zum 15. Jahrhundert erfolgte eine enorme quantitative Ausweitung des Schulwesens durch die Einrichtung neuer Dom- und Ratsschulen. Eine qualitative Ausweitung läßt sich darin erblicken, daß die Juristen in den neu entstehenden Verwaltungen auf dieses Medium angewiesen waren, daß in diesen Jahrhunderten das Beherrschen des Lesens und Schreibens für das städtische Patriziat und die Fernhandelskaufleute zur Selbstverständlichkeit wurde und auch die verschiedenen Schichten des Adels in unterschiedlicher Form literarisiert wurden. Mit der Entstehung dieser literaten Schichten ist wiederum eine Verlagerung der literarischen Interessen verbunden. Neben die theologische und erbauliche Literatur treten juristische, aber auch poetische und sachgebundene Texte. Wichtig gerade für die neu literarisierten Schichten wurde die Ende des 13. Jahrhunderts erfolgte Übernahme des von den Arabern entwickelten Lesesteins, der wie eine Lupe auf den Text gelegt wurde und diesen vergrößerte. Dieser Lesestein wurde in Europa bald zur Niet- und Bügelbrille weiterentwickelt. Erst mit dieser Erfindung wurde die Lesefähigkeit nicht mehr durch die Alterssichtigkeit begrenzt (Wittmann 1991, 14 ff). Der Bedarf an Literatur führte in Italien und Frankreich schon früh zur Massenproduktion von Handschriften durch Verleger. Der bedeutendste Handschriftenhändler des 15. Jahrhunderts, Vespasiano da Bisticci, beschäftigte zeitweise 45 Lohnschreiber und konnte so für Cosimo de Medici innerhalb von 2 2 Monaten über 2 00 Prachthandschriften liefern. Der bekannteste deutsche Handschriftenproduzent und -verleger, Diebold Lauber, betrieb im elsässischen Hagenau eine rege deutschsprachige Bücherproduktion auf Vorrat, nicht mehr auf Bestellung, er entwikkelte die ersten überlieferten Verlagsanzeigen und belieferte mit den Erzeugnissen seiner Schreiberwerkstatt zwischen 142 5 und 1467 vor allem die Rheinlande, Franken und die Schweiz. Zu seinen Kunden gehörten Angehörige des Hochadels, vermögende Stadtpatrizier, Angehörige des hohen Klerus und auch Klöster, insgesamt ein sozial sehr geschlossener Kreis, der aber nicht mehr nur kirchlich bestimmt war.

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Eine wesentlich breitere Öffentlichkeit wurde mit holzgeschnittenen Bildern und Texten erreicht. Etwa seit 1380 wurden Heiligenbilder und Spielkarten „massenhaft“ dadurch produziert, daß Holzschnitte auf Papier abgezogen wurden. Zum Holzschnittbild trat dann bald der Text, der seitenverkehrt in die Holztafel eingeschnitten wurde und dann auf dem Papier als normal lesbare Schrift erschien. Diese Technik war von der Stempelherstellung und der Münzprägung bekannt und wurde erst für Einblattdrucke, dann auch für Bücher genutzt. Diese „Blockbücher“ enthielten nur einseitig bedruckte Blätter, da der hier angewandte Reiberdruck durch das Blatt durchschien. Die bekanntesten Blockbücher stellen die sogenannten Armenbibeln dar, die Teile der biblischen Geschichte als Bilderfolge darstellen. Daneben gab es Blockbücher, die reinen Text enthielten. Diese Blockbücher wandten sich nicht an das „einfache Volk“, sondern an den niederen Klerus, der des Lesens und Schreibens wie des Lateins nur unvollkommen mächtig war. So entstand in den Jahrhunderten vor der Erfindung des Buchdrucks ein neues Lesepublikum mit einem neuen Textverständnis und differenzierten literarischen Neigungen, dessen Bedürfnisse aber noch durch die handwerksmäßige Vervielfältigung von Handschriften oder Blockbüchern befriedigt werden konnten, da durch die Entwicklung der Papiermanufaktur ein relativ preiswerter Beschreibstoff zur Verfügung stand und die handwerkliche Arbeitsteilung hinreichend effektiv war. Diese Verhältnisse wurden durch die Erfindung des Buchdruckes mit Hilfe beweglicher Metallettern durch Johannes Gensfleisch zum Gutenberg in wenigen Jahrzehnten revolutioniert. 3.3. Der Buchdruck Johannes Gutenberg entstammte dem mainzischen Patriziat und wurde zwischen 1394 und 1404 in Mainz geboren, wuchs in Mainz und Eltville auf und hat wahrscheinlich studiert, wohl in Erfurt, und das Goldschmiedehandwerk erlernt. Zwischen 1434 und 1444 hielt er sich in Straßburg auf und experimentierte mit metallenen Druckvorlagen. Dabei dürfte es sich um Pilgerzeichen und Wallfahrtsandenken gehandelt haben, also um Massenartikel, die in hoher Stückzahl produziert werden mußten. Diese Erfahrungen machte Gutenberg sich für den Buchdruck zunutze. 1449 gründete er zusammen mit seinem Geldgeber Johann Fust in Mainz eine

6.  Geschichte des Buches

Druckerei, aus der 1454 das erste gedruckte Buch, die berühmte 42 zeilige lateinische Bibel, hervorging (Kapr 1988; → Art. 13; → Abb. 14.7 auf Tafel XVI). Die einzelnen Techniken des Druckens mit beweglichen Metallettern waren zu Gutenbergs Zeit bereits bekannt, so daß als sein eigener Beitrag „nur“ die Erfindung des Handgießinstrumentes gilt, das die industrielle Herstellung von Lettern ermöglichte, und die Herstellung einer Druckerschwärze, die an den Metalltypen haften und deshalb ganz andere chemische Eigenschaften haben mußte als diejenige, welche beim Abdruck von Holzstöcken gebraucht worden war. „Seine eigentliche Leistung beruhte also vor allem in der wissenschaftlichen Synthese der zu seiner Zeit bekannten Verfahren der Vervielfältigung von Schrift“ (Steinberg 1988, 2 7). Michael Giesecke (1991, 77 ff) hat jedoch zu Recht darauf hingewiesen, daß schon die Wahl des Metalls als materiellem Träger der Schrift keineswegs selbstverständlich war, daß eine Linearisierung des Produktionsverfahrens eine Vielzahl von neuartigen Abstimmungen der beteiligten Einzelteile erforderte und daß das Prinzip der Wiederverwendbarkeit des Typenvorrats den Druck zum Prototyp eines industriellen Verfahrens machte. Gutenbergs Erfindung ist eine geniale Entdeckung gewesen und nicht auf ein Einzelmoment reduzierbar. Wie fortschrittlich seine Erfindung war, zeigt die Anekdote, daß 1485 alle Exemplare der ersten Druckausgabe des Regensburger Meßbuches von mehreren Geistlichen einzeln mit der Druckvorlage verglichen wurden und diese dabei feststellten, daß die Druckexemplare übereinstimmten. M. Giesecke zeigt auch, daß Gutenberg nicht die einfache Vervielfältigung von Handschriften beabsichtigte, sondern die künstlerische Vollendung des Buches. Indem er den Schreibvorgang mechanisierte, machte er ihn von menschlichen Unzulänglichkeiten unabhängig. S o läßt sich die immer wieder bestaunte ästhetische Vollendung gerade der frühesten Drucke erklären, und so erklärt sich der Qualitätsverlust der gedruckten Bücher in den folgenden Jahrzehnten auch nicht einfach als durch die Kommerzialisierung bedingte „Verwilderung“, sondern dadurch, daß Bücher von dieser Zeit an nicht mehr vollendetere Handschriften sein sollten, sondern gerade gewollt Druckerzeugnisse. In den Jahren 1454 und 1455 kam es zu gerichtlichen Auseinandersetzungen zwischen Gutenberg und seinem Geldgeber Fust, die damit endeten, daß die (oder besser eine)

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Druckereieinrichtung in den alleinigen Besitz Johann Fusts überging, der die Druckerei mit seinem Schwiegersohn Peter Schöffer weiterbetrieb und in der Folgezeit öfter als Erfinder der Buchdruckerkunst bezeichnet wurde. Unabhängig von diesen Streitereien um das geistige Eigentum an der Erfindung war jedoch die Existenz zweier Druckereien und der damit verbundene Loyalitätskonflikt der betroffenen Mitarbeiter in diesen Druckereien eine der Voraussetzungen für die ungeheuer schnelle Verbreitung der Druckkunst, die trotz versuchter Geheimhaltung des Produktionsprozesses, die j a auch durchaus den damaligen Gepflogenheiten entsprach, erfolgte. Von 1455 bis 1500 wurde in 2 55 Orten, die sich über ganz Mittel- und Westeuropa erstreckten, ca. 2 7 000 verschiedene Bücher in einer Gesamtauflage von etwa 2 0 Millionen Exemplaren gedruckt. „Unter den aus der Frühdruckzeit erhaltenen Druckwerken nehmen, soweit sich das Material überblicken läßt, die in lateinischer Sprache gedruckten mit 77,5% mit Abstand den Vorrang ein; deutlich treten demgegenüber die Titel zurück, die in Landessprachen gehalten waren (2 2 %), und ganz gering (0,5%) ist der Anteil der auf uns gekommenen Drucke in Hebräisch, Griechisch und Kirchenslawisch.“ (Widmann 1975, 48) Durch den Buchdruck ergab sich ein völlig verändertes Verhältnis zur schriftlichen Überlieferung: Kam es vor der Erfindung des Buchdrucks darauf an, eine möglichst gute Handschrift als Vorlage für seine Abschrift zu erhalten, so konnte nun für den Druck ein kritischer Text erstellt werden, der auf der Vergleichung vieler Handschriften und der Anwendung textkritischer Methoden beruhte. Dadurch wurde der Text endgültig vom Buch unterschieden, die Handschrift als Form der mittelalterlichen Überlieferung und Veröffentlichung eines Werkes wurde entscheidend abgewertet, eine Handschrift bot von jetzt an den verderbteren Text gegenüber der gedruckten kritischen Edition und stellte keine Form der Veröffentlichung mehr da, sondern eine Form der Privatisierung (Giesecke 1991, 319 ff). Dem entsprach eine neue Form der Distribution des Buches. Mit der Durchbrechung der geschlossenen Kreisläufe des Buchvertriebs in Kirche und Verwaltung war ein neues Wirtschaften verbunden. Der Schreiber kannte seinen Auftraggeber, Handschriftenhändler wie Diebold Lauber hatten eine gute Vorstellung von ihrem Kundenkreis. Ein Drucker mußte seine Absatzmöglichkeiten

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frei kalkulieren. Dabei zwang die Größe des in die Druckerei investierten Kapitals zu einer möglichst großen Ausnutzung der Maschinen. So mußte der Drucker einerseits über genügend Manuskripte verfügen, um etwas drucken zu können, andererseits mußten seine Waren Käufer finden. Daraus ergaben sich die Notwendigkeiten, neue Leserschichten zu erschließen bzw. den Menschen den Nutzen des Lesens zu demonstrieren, ein Verteilungssystem für Bücher aufzubauen und genügend Autoren zu gewinnen. Darüber hinaus mußten genügend Rohstoffe für die Bücherproduktion bereit gestellt werden. So entstanden neue Berufsgruppen, von den Lumpensammlern, die den Rohstoff für die Papierherstellung heranschafften, über die Papiermacher, die meist für Handelskapitalisten die Produktionsstätten betrieben, über die akademisch gebildeten Drucker (Lateinkenntnisse waren für die Bücherproduktion unabdingbare Voraussetzung), die Stempelschneider und Graveure, die oft Künstler bzw. Kunsthandwerker waren, die ungelernten Druckereiarbeiter, die humanistisch gebildeten Editoren und Korrektoren, die Verleger und Buchführer, die alle nicht mehr in Formen des mittelalterlichen Zunfthandwerks organisierbar waren, sondern bereits Kapitalverwertungsbedingungen unterlagen. Die ersten Buchdrucker-Verleger gingen noch von den Erfahrungen der Handschriftenproduktion aus, viele volkssprachige Drucke zielten noch auf einen regional begrenzten Kommunikationsraum, der als Absatzgebiet anvisiert wurde, und wenn der Text auch in anderen Gebieten von Interesse war, wurde er in einer den dortigen kulturellen und sprachlichen Gegebenheiten angepaßten Form nachgedruckt. So entstanden überregionale Ausgleichssprachen, die sich um bekannte Drukkorte gruppieren. Große wissenschaftliche Editionsvorhaben wurden überregional geplant, zumal man an die Erfahrungen des internationalen Handschriftenhandels anknüpfen konnte. So entstanden gespaltene Märkte, auf der einen Seite etwa Auftragsproduktionen für eine bestimmte Kirchenprovinz, auf der anderen Seite eine Buchproduktion, die mit dem Fernhandel verbunden war. Vor allem diese Fernhandels-Drucker-Verleger konnten ihre Anlagen kontinuierlich auslasten, sodaß die bedeutenden Verlage nicht in den Universitätsoder Bischofsstädten angesiedelt waren, sondern in den Zentren des europäischen Fernhandels. Waren hier anfangs deutsche Städte

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

führend, entstanden ihnen bald in Lyon und Paris wichtige Konkurrenten. Zur dominierenden Buchdruck- und Buchhandelsstadt entwickelte sich aber für das 15. und 16. Jahrhundert Venedig, ehe es von Paris abgelöst wurde. In Venedig, dem Zentrum des europäischen Handschriftenhandels, wurde die wirtschaftliche Bedeutung des Verlagswesens früh erkannt und die Buchdruckerkunst entschieden gefördert, hier entstanden die wichtigsten Ausgaben antiker Autoren (und der erste Druck des hebräischen Alten Testaments), hier wurden neue Drucktypen, neue Formen der Buchillustration und des Bucheinbands entwickelt (→ Art. 13). Der Vertrieb von Büchern war unterschiedlich organisiert. Bei Auftragsproduktionen übernahm der Auftraggeber den Vertrieb, sonst verkauften sowohl der Drucker-Verleger selbst als auch von ihm beauftragte Vertreter. In den großen Städten gab es sehr rasch stationäre Bücherlager, in den anderen Gebieten wurden Bücher durch Handlungsreisende vertrieben. Feste Preise gab es nicht. Mit der Entwicklung der Handschrift zum gedruckten Buch wurden neue Gestaltungsformen notwendig, Bücher konnten nicht mehr nach dem Incipit unterschieden werden. So setzte sich um 1480 das Titelblatt durch, das Foliantenformat der Handschriften wurde durch kleinere, leichter zu transportierende Formate ersetzt, die ursprüngliche Typenvielfalt der Drucker wurde vereinheitlicht, aus den Bilderklärungen von Kupferstichoder Holzschnittillustrationen wurden Kapitelüberschriften. Hinzu kamen dann im 16. Jahrhundert wegen der Zensur Vorschriften für die Buchgestaltung: ab 1530 mußte jedes gedruckte Buch den Namen des Druckers und den Druckort enthalten (Wittmann 1991, 25 ff). 3.4. Zensur Zu einem ökonomischen Problem wurde bald der Nachdruck erfolgreicher Werke. Zu Zeiten der Handschriftenproduktion war das Abschreiben, also das Vervielfältigen einer Vorlage, die einzige Möglichkeit, an den Text zu gelangen. Jetzt stellten Nachdrucke eine Konkurrenz für den Erstdrucker dar. Gegen diese Nachdruckpraxis entwickelten die Verleger unterschiedliche Strategien. Die verbreitetste Maßnahme war der Versuch, Privilegien für den alleinigen Vertrieb eines Titels zu erlangen. Diese Privilegien galten jedoch immer nur für begrenzte Gebiete, selbst ein kaiserliches Privileg wurde durch Territorialhohei-

6.  Geschichte des Buches

ten begrenzt und galt außerhalb des Reiches natürlich nicht. Dennoch waren kaiserliche oder landesherrliche Privilegien der wirksamste Schutz gegen Nachdrucke. Diese Privilegien wurden aber nur für Bücher erteilt, die zuvor der Privilegien erteilenden Stelle vorgelegt worden waren, sie wurden so zu einem Mittel der Vorzensur. Staatlichen und vor allem kirchlichen Stellen war der Buchdruck nicht nur ein „Geschenk Gottes“, sondern die durch ihn ermöglichte öffentliche Diskussion, die neue und allgemeine, ungesteuerte Kommunikation, wurde auch als Gefahr für bestehende Zustände begriffen. Bereits 1485 verbot der Erzbischof von Mainz (!) den Verkauf von deutschen Übersetzungen aus dem Lateinischen oder Griechischen, wenn diese Übersetzungen nicht zuvor von Theologen eine Unbedenklichkeitsbescheinigung erhalten hatten, 1479 wurde vom Papst die Zensur für gedruckte Bücher gefordert, 1512 verbot Kaiser Maximilian 1. die „judenfreundlichen“ Bücher des Johannes Reuchlin. Zur institutionellen Macht wurde die Zensur aber erst mit den reformatorischen Auseinandersetzungen. Nachdem Luther 152 0 vom Papst durch die Bulle „exsurge domine“ öffentlich als Ketzer verdammt worden war, verbot Kaiser Karl V. 152 1 die Schriften Luthers, ohne die Reichsstände zu hören. In der Folge des „kaiserlichen Mandates“ entstand ein System der Aufsicht über das Buchwesen. Das Recht und die Pflicht, eine Vorzensur über sämtliche in den Druck gehenden Schriften auszuüben, stand den „landesherrlichen Ortsobrigkeiten“ unter der Aufsicht des Landesherrn zu. Seit Beginn der Reformation war es das Hauptziel der Zensurmaßnahmen, die publizistischen Angriffe auf die katholische Kirche und den Papst abzuwehren, nach dem Augsburger Religionsfrieden wurde die Wahrung von dessen Bestimmungen zum Hauptzweck der Zensur. Der Augsburger Religionsfriede verbot, die zugelassenen Religionen und deren Anhänger zu schmähen und zu beleidigen. Die Zensur wurde jedoch jeweils von den Landesherren parteiisch im Sinne ihrer Konfession ausgeübt, und so entstanden katholische und evangelische Büchermärkte und Kommunikationsräume (Eisenhardt 1985). Im 16. Jahrhundert wird dann in allen europäischen Ländern versucht, den Buchmarkt unter die Kontrolle der in den jeweiligen Ländern Herrschenden zu bringen (Weyrauch 1985).

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3.5. Luther und die Reformation Die Zensurmaßnahmen zeigen, daß die Reformation nicht nur religiös und politisch einer der entscheidenden Vorgänge des 16. Jahrhunderts war, sondern auch buchgeschichtlich eine herausragende Stellung einnimmt. Im Verlauf der Reformation nahm die Bücherproduktion in Deutschland ein neues Gesicht an: theologische, wissenschaftliche und politische Fragen wurden mit Hilfe des Buchdrucks zum ersten Male öffentlich diskutiert, dementsprechend stieg die Produktion deutschsprachiger Bücher und die Zahl der Lesekundigen. Volkssprachige reformatorische Schriften erreichten Auflagenhöhen, die vorher undenkbar gewesen waren. Dies betraf erst einmal die Schriften Luthers. Seine Flugschriften erschienen jeweils in Erstauflagen, die bis zu 4000 Exemplare betrugen, und wurden zu seinen Lebzeiten bis zu 2 5mal nachgedruckt. Dennoch nehmen sich diese Auflagen bescheiden aus gegen den Erfolg seiner Bibelübersetzung. Von 152 2 bis zu Luthers Tod 1546 erschienen etwa 2 00 000 Teildrucke und Gesamtausgaben der „Lutherbibel“, bis zur Jahrhundertwende rechnen manche Forscher gar mit 1 Million Bibel- und Bibelteildrucken. Auch für die Sprachgeschichte ist die Bibelübersetzung von gar nicht zu überschätzender Bedeutung, nicht nur wegen ihres Vorbildcharakters, sondern auch deshalb, weil Luthers Korrektoren nach seinem Tode verlangten, daß die Nachdrucker den Graphembestand seiner Bibel nicht antasteten. Hier wurde aus der theologischen Autorität Luthers die Unveränderlichkeit seiner Orthographie abgeleitet und damit ein neues Sprachnormbewußtsein formuliert. Mit der reformatorischen Literatur kehrte sich das Verhältnis von lateinischen und deutschen Drucken um: waren im 15. Jahrhundert 74% der Drucke in Latein erfolgt, so waren 152 2 72 % der Drucke deutschsprachig. Mit der Konsolidierung der Reformation steigt der Anteil des lateinischsprachigen Buchangebots allerdings wieder stark an, erst 1692 überwiegen volkssprachige Drucke endgültig (Wittmann 1991, 47—77). Außer durch reformatorische Schriften wurde der Buchmarkt durch Sachliteratur vergrößert, durch „beschreibende Fachprosa“, die praktische Nutzanwendungen für Menschen bot, die anders nicht an diese Informationen gelangen konnten. Diese Bücher wandten sich an verschiedene Interessengruppen und schufen so zum erstenmal einen in-

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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homogenen Büchermarkt, machten gerade dadurch für viele Menschen das Lesenlernen erst interessant. Eine weitere Folge der Reformation war ein schwerer Eingriff in das Bibliothekswesen Deutschlands. In den evangelischen Ländern wurden die Orden und Klöster und damit ihre Bibliotheken aufgehoben. Die Anhänger der Reformation hatten oft kein Interesse an den „alten pfäffischen Schriften“, und so sind zahlreiche wertvolle Klosterbibliotheken in den evangelischen Gebieten zugrunde gegangen. Die Reformation führte demgegenüber zur Gründung von Schul- und Stadtbibliotheken, deren Bestand sich jedoch von dem der herkömmlichen katholischen Bibliotheken unterschied (Schmitz 1984, 70 ff).

4.

Das 17. und 18. Jahrhundert

4.1. Der Buchmarkt Reformation und Gegenreformation hatten die Bücherflut so anschwellen lassen, daß schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erste Versuche gemacht wurden, Kataloge aller gedruckten Bücher und Verzeichnisse der Neuerscheinungen zu erstellen. Diese Bibliographien mußten bald durch inhaltliche Zusammenfassungen, durch Rezensionen, Inhaltsangaben etc. ergänzt werden, so daß seit dem 17. Jahrhundert eine Gattung von Druckwerken existiert, die sich vor allem mit Büchern beschäftigt. Derartige Unternehmungen waren vor allem in den Wissenschaften notwendig, die Gelehrten entwickelten Zusammenfassungen des Bücherwissens, Polyhistorien. Daneben entwickelte sich ein wissenschaftliches Zeitschriftenwesen, das für eine schnellere wissenschaftliche Kommunikation sorgen sollte. Auch im nichtwissenschaftlichen Bereich etablierten sich bereits im 17. Jahrhundert Periodika, die Nachrichten allgemein interessierenden Inhalts verbreiteten, Vorläufer des Zeitungswesens. In all diesen Bereichen entwickelte sich das westeuropäische Buchwesen erheblich schneller. Auch wenn auf dem deutschen Buchmarkt einzelne Erscheinungen früher als im übrigen Europa auftraten (etwa Einblattdrucke etc.), blieben diese vereinzelt, während sich in Westeuropa bereits im 17. Jahrhundert eine literarisch-politische Öffentlichkeit bildete. Dort veränderten sich das Verhältnis von Autor und Werk, von Werk und Publikum und die damit verbundenen Distributionsmechanis-

men viel rascher. Einer früheren Zentralisierung des Verlagswesens entsprach eine raschere Entwicklung des Marktes. Bereits 1709 wurde in England das Eigentumsrecht eines Autoren an seinem Werk gesetzlich verankert, damit konnte sich eine „freie“ Schriftstellerexistenz entwickeln. Der Nachdruck wurde illegal. Deutschland verlor durch den 30jährigen Krieg in vielen Bereichen den Anschluß an diese Entwicklung ganz. Eine entscheidende Voraussetzung für die westeuropäische Entwicklung, die Existenz eines einheitlichen nationalen Büchermarktes, fehlte in Deutschland von Anfang an. Hier wurde der nationale Buchaustausch durch die Buchmessen gewährleistet, die in Frankfurt und Leipzig stattfanden, wobei die Frankfurter Messe anfangs, besonders für den Fernhandel, bedeutender war. Der internationale Buchhandel wurde gegen Bezahlung abgewickelt und war von daher organisatorisch problemlos, überforderte aber die Finanzkraft vieler Buchhändler und verlor auch stetig an Gewicht gegenüber dem deutschsprachigen Buchhandel. Da die Verleger meist auch Buchhändler waren, tauschten sie ihre Erzeugnisse gegen die Produkte anderer Verleger, und zwar Menge bedruckten Papiers gegen Menge bedruckten Papiers, Tauschwert gegen Tauschwert unabhängig vom Gebrauchswert. Auf diese Weise war gewährleistet, daß die Verlagsprodukte überall im deutschsprachigen Raum erhältlich waren. Jeder Buchhändler war aber auch gezwungen, selbst Verleger zu werden, um Ware zum Tausch zu haben. Durch diese Organisationsform wurde eine schon in Ansätzen vorhandene Arbeitsteilung und die Differenzierung von Drucker, Verleger und Buchhändler wieder zurückgenommen und eine weitere Spezialisierung und Professionalisierung verhindert. Dennoch war diese Organisationsform den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen in den deutschen Staaten angemessen und funktionierte fast zweihundert Jahre gut. Die Messeplätze Frankfurt und Leipzig waren von Zensurbestimmungen unterschiedlich betroffen: Zwar war der Frankfurter Magistrat bestrebt, den eigenen Buchhandelsplatz zu schützen und zu fördern, als freie Reichsstadt war Frankfurt jedoch dem Zugriff der kaiserlichen Zensurbehörde, die im 17. Jahrhundert aus päpstlichen Beauftragten bestand, viel unmittelbarer ausgesetzt als Leipzig. Hinzu kam durch den 30jährigen Krieg ein Rückgang des Fernhandels mit Bü-

6.  Geschichte des Buches

chern. All diese Faktoren begünstigten die Leipziger Buchmesse (Widmann 1975, 87 ff). Der 30jährige Krieg bedeutete für das Buchwesen einen ähnlichen Einschnitt wie das Reformationszeitalter. Zwar sind die Organisationsformen des Buchhandels vor und nach diesem Krieg gleich, dennoch haben sich wesentliche Bedingungen verändert. Während zwischen 1610 und 1619 jährlich etwa 1500 neue Buchtitel erschienen, wurden im letzten Jahrzehnt des Krieges auf den Messen nur noch 660 neue Titel angeboten, der nationale Bücheraustausch war zusammengebrochen. Erst 1768 erreichte er wieder den Stand von 1618. 4.2. Bibliotheken Im dreißigjährigen Krieg wurden viele bedeutende Bibliotheken zerstört oder geplündert. Die bekanntesten Verluste sind wohl die Plünderung der Heidelberger Bibliothek, die im Vatikan landete, und der Prager Bibliothek, aus der wichtige Bestände nach Schweden verschleppt wurden. Aber auch andere Bibliotheken, wie Bremen, München, Hohentübingen oder Mainz sind um ganze Schiffsladungen von Büchern erleichtert worden. In der Folge des 30jährigen Krieges verlieren die Stadtbibliotheken an Bedeutung, da sie finanziell kaum noch unterstützt werden können, und wichtig für das deutsche Bibliothekswesen werden die Fürstenbibliotheken in den absolutistisch regierten Flächenstaaten. Daneben entwickeln sich bedeutende Privatbibliotheken von Gelehrten und gebildeten Bürgern. Bedeutender als der dreißigjährige Krieg selbst waren jedoch die Folgen des Friedensschlusses. Die vielen quasi-autonomen absolutistischen Territorien versuchten, ihre jeweiligen Einzelinteressen durchzusetzten, und dazu gehörte u. a. eine Religions- und Bildungspolitik, die auf innere Homogenisierung abzielte. Dazu wurden Einfuhrverbote für Bücher erlassen, die die jeweils falsche Konfession unterstützten. Dies führte etwa für Bayern und Österreich zu einem weitgehenden Einfuhrverbot für nord- und mitteldeutsche Bücher, während spanische und italienische sogar ohne Vorzensur eingeführt werden durften. Diese Ablehnung protestantischer Bücher ging soweit, daß die Sprachform der norddeutschen Literatur verpönt war. Für das süddeutsche Buchwesen hatte diese Abschottung zwar keine Abschwächung der Druckproduktion zur Folge, aber die volkssprachliche Buchproduktion umfaßte wesent-

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lich Themen, die in nichtkatholischen Gebieten niemanden interessierten. Dadurch wurde die Tauschfähigkeit des süddeutschen Buchhandels sehr eingeschränkt, und dies war eine der Ursachen für die Veränderung der Buchhandelsstrukturen. 4.3. „Nettohandel“ und Nachdruck Zwischen 1740 und 1770 stieß der vorherrschende Tauschhandel zwischen den Verlegern an seine Grenzen. Der Tausch von bedrucktem Papier gegen bedrucktes Papier ohne Berücksichtigung des Inhaltes hatte bei vielen Verlegerbuchhändlern zu riesigen Lagern mit unverkäuflichen Produkten geführt, und dies zwang sowohl zu einer Veränderung der Ware Buch (um 1750 verschwinden schlagartig die barocken Titel, die Literatur erschließt sich neue Inhalte und Gattungen) wie zu einer Veränderung der Austauschbedingungen: die Leipziger Buchhändler unter Führung des Buchhändlers Philipp Erasmus Reich ersetzten den Tauschverkehr durch den Nettohandel. Buchhändler, die die Produkte Leipziger Verleger erwerben wollten, mußten diese bar bezahlen, ohne Rückgaberecht. Die modernere Form der Geldwirtschaft war vom süddeutschen Buchhandel nicht zu verkraften, zumal das Geschäftsrisiko allein beim Buchhändler lag. Leipzig aber war das Zentrum nicht nur des deutschen Buchhandels (nach 1764 boykottierten die Leipziger Buchhändler die Frankfurter Buchmesse, die zur völligen Bedeutungslosigkeit herabsank), sondern auch des deutschen Verlagswesen. Leipzig war das entscheidende Zentrum der deutschen Frühaufklärung, die Leipziger Verleger verlegten so auch den interessantesten Teil der deutschen Literatur, Leipzig erlangte durch die Konzentration der Buchmarktfunktionen auch noch ein Übersetzungsmonopol für fremdsprachige Werke. Hinzu kam, daß die Leipziger Verleger gerade um die Mitte des 18. Jahrhunderts ihre Bücher enorm verteuerten. Auf diese neue Situation antworteten sowohl die nord- wie die süddeutschen Verleger mit einer Intensivierung und Systematisierung des Nachdruckwesens, das gezielt eingesetzt wurde, um die Leipziger Buchhändler zu schädigen, zumal die süddeutschen „Reichsbuchhändler“ nicht Gefahr liefen, selbst zu Opfern des Nachdrucks zu werden, da nach ihren Originalproduktionen keine überregionale Nachfrage bestand. Nach einigen Veränderungen der Leipziger Bedingungen ging der Nachdruck in Norddeutschland

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wesentlich zurück, hörte allerdings nicht völlig auf. In den süddeutschen Gebieten dominierte er für einige Jahrzehnte den Buchhandel, es kam sogar zur Privilegierung von Nachdrucken, denn diese Nachdruckpraxis befand sich in Übereinstimmung mit der kammeralistischen Wirtschaftspolitik der absolutistischen Kleinstaaten. Diese Nachdruckpolitik behinderte die Entfaltung eines modernen Buchwesens und die Etablierung kapitalistischer Buchmarktstrukturen, denn der Nachdruck schädigte ja nicht nur die Leipziger Verleger, sondern durch das entgangene Honorar auch die Autoren. Leipziger Verleger hatten nämlich begonnen, ihre Marktposition auch dadurch zu festigen, daß sie vielversprechende Autoren durch höhere Honorare an sich banden. Hier wurden in Deutschland zögernd Entwicklungen zur Etablierung eines freien Schriftstellerdaseins vollzogen, die in Westeuropa 100 Jahre früher begonnen hatten, und die in Deutschland auch nur bedingt erfolgreich waren. Die ersten „freien Schriftsteller“, die von ihren Werken bedingt existieren konnten, waren Wieland und Goethe, während Lessing bekanntermaßen bei diesem Versuch scheiterte. Auch bei den Leipziger Verlegern war die Einführung des Geldverkehrs nicht in der Fürsorge für die Autoren begründet, denn weder erkannten sie das Recht auf die Verfügung der Autoren über ihre Werke an, noch hielten sie sich an ihre eigenen Verträge: der Nachdruckpraxis der süddeutschen Verleger entsprach bei ihnen eine Doppeldruckpraxis, d. h., wenn die durch das Honorar bezahlte Erstauflage eines Werkes vergriffen und die Nachfrage noch nicht befriedigt war, legten sie das Buch mit dem Originaltitelblatt noch ein- oder mehreremal auf und ersparten sich damit weitere Honorarzahlungen. Für einige Werke Wielands sind zahlreichere Doppeldrucke seines Originalverlegers Göschen belegt als süddeutsche Nachdrucke (Wittmann 1982). 4.4. Das Lesepublikum Die süddeutschen Verleger setzten mit ihrer Nachdruckpraxis eine einheitliche deutsche Nationalliteratur auch in den katholischen Gebieten durch, sie sorgten damit für die Durchsetzung einer einheitlichen schriftsprachlichen Norm. Durch die Verbilligung der Bücher erschlossen sie neue Käufer- und Leserschichten und trugen damit indirekt zur Herstellung eines Massenpublikums bei. Dieses Massenpublikum war zwar objektiv

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

die Voraussetzung für die Entstehung eines leistungsfähigen literarischen Marktes, der die Existenz des Autoren materiell sichern konnte, die Anonymität dieses Marktes war aber für die Autoren anfangs eher abschrekkend. Für den Autor stellte sich der Verleger zwischen ihn und sein Publikum, der Verleger erwarb ja auch alle Rechte an dem Werk, er hatte den materiellen Nutzen von einem literarischen Erfolg. Um diesem „Diktat“ der Verleger zu entgehen, wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Autorenverlage gegründet, die den Verfasser auch zum Nutzniesser seines Werkes machen und den Kontakt zum individuellen Leser herstellen sollten. Noch deutlicher diente das Pränumerationswesen und die Subskription von Büchern sowohl ökonomischen Zwecken wie der Konstitution einer Gesellschaft von literarisch Gebildeten (Wittmann 1991). Aber auch die Entstehung von Lesegesellschaften und Literaturzirkeln hatte sowohl den Sinn, die Kaufpreise zu minimieren, wie für eine gebildete Gesellschaft zu sorgen und einen Gruppendiskurs zu ermöglichen. Gerade wegen des aufkommenden anonymen Büchermarktes vollzog sich so die Stabilisierung einer bildungsbürgerlichen Gesellschaft, die durch die Kenntnis schöngeistiger Literatur charakterisiert war. Dies wiederum verallgemeinerte die Sprachformen dieser Literatur. Die abgeschlossenen Literaturzirkel wurden dann oft zu Gruppen, die durch die Zeitungs- und Zeitschriftenlektüre eine Art bürgerlicher Öffentlichkeit herstellten. Diese war jedoch auch weiterhin durch die Zensur eingeschränkt, alle klassischen deutschen Dichter von Lessing über Wieland bis Schiller und Goethe waren von Zensurmaßnahmen ebenso betroffen wie viele heute vergessene Autoren. Dabei schufen gerade aufgeklärte Herrscher, die die Zensur auch als Mittel der Modernisierung ihrer Staaten nutzen wollten, indem sie traditionalistische Propaganda unterdrückten, moderne und effektive Zensurinstitutionen, die dann unter veränderten politischen Bedingungen auch wieder gegen aufklärerische Literatur eingesetzt wurden, zumal gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als die Verbreitung der Gedanken der französischen Revolution unterbunden werden sollte. Einer besonders strengen Kontrolle unterlagen dabei das Theater, Zeitungen und Zeitschriften. Insgesamt wird im 18. Jahrhundert die religiöse Zensur ersetzt durch offen politische Unterdrückung und diese ergänzt durch eine Zensur aus ästhetischen Gründen.

6.  Geschichte des Buches

5.

Das 19. Jahrhundert

Die napoleonischen Kriege veränderten die Bedingungen für das Buch weiter, vor allem in den katholischen Gebieten. Dort waren nach der Aufhebung des Jesuitenordens 1773 dessen Bibliotheken in Staatsbesitz gelangt und erweiterten staatliche Bibliotheken beträchtlich, doch erst die Aufhebung der geistlichen Territorien und vor allem der Klöster 1803 ließen die reichen Bestände etwa der Wiener oder Münchener Bibliotheken entstehen. Bei dieser Auflösung der Klosterbibliotheken ging jedoch der größte Teil der Buchbestände, der für die Hofbibliotheken nicht von Interesse war, verloren (Schmitz 1984, 107 ff). Die Zeit von 1770 bis 1830 war für das deutsche Buchwesen von entscheidender Bedeutung. In dieser Zeit trennte sich allmählich der Verleger vom Sortimentsbuchhändler, das literarische Publikum erweiterte sich auf ca. 300 000 Leser, deren Interessen sich immer mehr ausdifferenzierten. So entstanden neue literarische Teilmärkte, aber gleichzeitig wurde die Sprache der schönen Literatur zur (natürlich nicht immer erreichten) Norm der Publikationen, die sich an einen Berufsstand richteten, etwa an die Juristen. Erst seit dieser Zeit gab es Fachsprachen und damit Klagen über das „Amtsdeutsch“. Die schöne Literatur wurde quantitativ und für das gesellschaftliche Bewußtsein zum führenden Segment des Buchmarktes vor der Theologie und der übrigen Fachliteratur. Die schöne Literatur begriff sich erstmals als Erscheinung des Druckmediums, die Autoren fingierten nicht mehr selbstverständlich „mündliche Erzählung“, sondern bedienten sich auch der Möglichkeiten eines Druckwerkes, wie es etwa in den Verweisstrukturen der Fachliteratur längst üblich war. Damit veränderte sich auch der Autor, der nicht nur von seiner Arbeit leben zu können beanspruchte, sondern durch die Anerkennung der medialen Gebundenheit seiner Arbeit auch auf den Journalismus und die entstehende periodische Presse verwiesen wurde. Die Romanproduktion, die bis 1805 stetig zunahm, wurde zahlenmäßig bald von ökonomischen und politischen Schriften erreicht. Zum anderen erwuchs der Unterhaltungsliteratur in den Zeitungen und Zeitschriften eine bedeutende Konkurrenz. Charakteristisch für die sozialen Folgen des gesellschaftlichen Umbruchs der napoleonischen Zeit ist darüber hinaus die Verbreitung der neu entstehenden Conversationslexika,

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die dem Informationsbedürfnis neuer Aufsteigerschichten entsprachen. Während von der ersten Auflage des „Brockhaus“ von 1809 nur 2 000 Exemplare abgesetzt werden konnten, wurden bis zur Jahrhundertmitte etwa 150 000 Exemplare der Neuauflagen verkauft und von den Nachahmungen und Konkurrenzunternehmungen noch einmal soviel (Wittmann 1991, 211 ff). Neben diesen sozialen Bedingungen prägten jedoch staatliche Maßnahmen und Unterlassungen den Buchmarkt: Die Zensur (→ Art. 74) und die fehlende Regelung des Copyrights (→ Art. 75). Der deutsche Buchhandel versuchte auf dem Wiener Kongreß, ein einheitliches Gesetz gegen den Nachdruck in allen Bundesstaaten durchzusetzen. Da der Büchernachdruck in Österreich und in Württemberg aber immer noch ein florierender Wirtschaftszweig war, enthielt die Bundesakte von 1815 in ihrem letzten Artikel nur eine unverbindliche Absichtserklärung. Es dauerte noch bis 1835, bis ein generelles Nachdruckverbot für alle Länder des Deutschen Bundes beschlossen wurde. Die Rechte an einem Text lagen von nun an beim Verfasser und erloschen 30 Jahre nach seinem Tode. Erst 1856 wurde bestimmt, daß die Werke aller vor 1837 verstorbenen Autoren von 1867 an frei seien. Ein umfassendes reichseinheitliches Urheberrecht erlangte erst 1871 Gültigkeit. Eine einheitliche Regelung der Zensur wurde viel schneller erreicht. Die absolutistische Reaktion setzte alles daran, die in der napoleonischen Aera entstandene bürgerliche politische Öffentlichkeit unter ihre Kontrolle zu bekommen und nahm den Mord an August von Kotzebue zum Vorwand, um 1819 die Karlsbader Beschlüsse zu fassen, die eine umfassende Vorzensur für sämtliche Zeitungen, Zeitschriften und Bücher bis zu einem Umfang von 2 0 Bogen, d. h. 32 0 Seiten Oktav, vorschrieben. Umfangreichere Bücher unterlagen nur der Nachzensur, hier sorgte das finanzielle Risiko des Verlegers für die Einhaltung der Zensurvorschriften. Auf technischem Gebiet wurde das Druckwesen und seine Voraussetzungen revolutioniert. Diese Veränderungen betrafen sowohl die Papierherstellung (seit 1844 konnte Papier aus Holz hergestellt werden) wie die Typenherstellung (vollautomatische Typengießmaschine seit 1883), den Setzvorgang durch die Erfindung von Matern (Stereotypie seit 182 0) und durch die automatische Zeilensetz- und Gießmaschine Linotype 1886, die Illustra-

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tionsverfahren wie das Buchbinden (Drahtund Fadenheftmaschine). Am bedeutsamsten aber war die erste große Neuerung auf dem Gebiet des Buchdrucks seit Gutenberg: die von Friedrich König konstruierte Schnellpresse, die die flache Druckform durch rotierende Zylinder ersetzte. 1865 wurde die Schnellpresse zur Rollenrotationsmaschine weiterentwickelt, die für Bücher wie für Zeitungen Verwendung fand. Gegen die staatliche Bevormundung und die „unseriöse“ Konkurrenz organisierten sich die Buchhändler ab 182 5 im Börsenverein der deutschen Buchhändler. Um 1835 war eine relativ einheitliche Organisation des deutschen Buchhandels entwickelt worden, die auch für eine schnelle und umfassende Distribution der Produktion sorgte und die finanziellen Beziehungen zwischen den Verlagen, den Groß-, Mittel- und Einzelhändlern regelte. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848 stellt für das deutsche Buchwesen in vielerlei Hinsicht einen Einschnitt dar. Die Aufhebung der Zensur 1848 war nur ein vorübergehendes Zwischenspiel, denn 1849 wurden wieder rigorose Maßnahmen zur Meinungskontrolle eingeführt, allerdings nicht mehr als Präventivzensur, sondern durch juristische Maßnahmen, die nicht mehr vor allem das Buch, sondern die mit seiner Herstellung und Verbreitung befaßten Menschen betrafen. Diese Kontrolle richtete sich aber nun gegen eine Öffentlichkeit, die nicht mehr primär durch die Rezeption literarischer Werke geprägt war, sondern in der Meinungsbildung als Massenprozeß vor allem durch die sich rasant entwickelnde Zeitung und die Zeitschriften erfolgte. Das Publikum für fortschrittliche, ästhetisch anspruchsvolle Literatur war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sicher nicht zahlreicher als um 1800. Das Bürgertum, das sich politisch mit den herrschenden Zuständen arrangierte, mißtraute einer Literatur, die auf Veränderung drängte, und kanonisierte die Klassiker, bildete sich seine politische Meinung durch Tagespresse und Zeitschriften wie die „Gartenlaube“ und las eskapistische oder affirmative Trivialliteratur. Dieser Funktionsverlust der anspruchsvollen Literatur führte zu einer Funktionsaufsplitterung des Buchmarktes. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden Richtungsverlage, die konfessionell oder politisch gebunden waren, Fachbuchverlage, die sich an die Spezialisten bestimmter Fächer wandten, es entstanden Sachbuch-

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

verlage und Verlage für Belletristik. Andererseits wuchs die lesefähige Bevölkerung rapide an, am Ende des 19. Jahrhunderts ist in etwa der heutige Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung erreicht. Dieser Parzellierung des Buchmarktes stand das Prestige der klassischen deutschen Literatur gegenüber, das für alle Leserschichten galt und sich vor allem im Kauf der Werke Schillers und Goethes äußerte, nicht unbedingt auch in der Lektüre dieser Schriften, deren Kenntnis vielmehr durch die Schule vermittelt wurde. Der Erwerb dieser Schriften war nach 1867 auch durch die Freigabe der Urheberrechte ermöglicht worden, die eine Flut preiswerter Klassikereditionen nach sich zog, die unter anderem das Programm der jetzt entstehenden Reihen wie Reclams Universalbibliothek prägten. Bedeutsam für die Geschichte der deutschen Sprache wurde aber vor allem, daß die Trivialliteratur, die von allen Schichten der Bevölkerung massenhaft gelesen wurde, in der „Sprache Schillers und Goethes“ verfaßt wurde, d. h. sich an den Stilnormen der deutschen Klassik orientierte und dadurch zur allgemeinen Durchsetzung der Standardsprache beitrug. Die Geltung dieser Standardsprache war so allgemein, daß im 19. Jahrhundert die Verfasser von Literatur sich unbedenklich der Dialekte (Hebel, Reuter, Groth) und Soziolekte (Hauptmann) bedienen konnten, während es noch im 18. Jahrhundert eine Aufgabe der Literatur war, die Hochsprache zu entwickeln. Im Ausland bestand ein großes Interesse an der deutschsprachigen Literatur, sodaß der Buchexport einträglich wurde. Besonders auf dem Fachbuchmarkt und auf dem Fachzeitschriftenmarkt wurde die deutsche Sprache wichtige internationale Publikationssprache und deutsche wissenschaftliche Bücher und Zeitschriften führend auch in den westeuropäischen und amerikanischen Staaten. Der Differenzierung des Buchangebotes und des Publikums entsprach in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Differenzierung des Buchhandels und der buchhändlerischen Gewohnheiten. Nach der Absatzkrise von 1843 erreichte der Buchmarkt erst 1879 wieder den vorherigen Stand. Diese Bücher wurden durch eine stetig wachsende Zahl von kleinen und kapitalschwachen Buchhandlungen vertrieben, die sich große Lager gar nicht leisten konnten. Dies führte in den Gründerjahren zu neuen Buchhandelsusancen, die Sortimenter hielten nur noch ein kleines Lager an gefragten Werken vorrätig

6.  Geschichte des Buches

und bestellten die anderen gewünschten Bücher fest mit günstigeren Rabatten bei den Kommissionären (Zwischenhändlern) oder beim Verlag. Durch die verbesserten Transportwege wurde dies ebenso begünstigt wie durch die Praxis der Zwischenhändler, die etwa seit 1852 die broschierten Bücher der Verlage kauften und sie industriell binden ließen. Da die industrielle Bindemethode sehr viel billiger war, erlangten die Kommissionäre einen erheblichen Handelsvorteil, bis gegen 1870 das Innungsprivileg der Buchbinder, das nur sie zum Verkauf von gebundenen Büchern berechtigte, abgeschafft wurde und sich der Verlegereinband durchsetzte. Dieser wurde bald darauf durch Schutzumschläge ergänzt, mit denen der Buchhandel werben konnte, nachdem sich das Schaufensterglas durchgesetzt hatte und Straßenbeleuchtung üblich geworden war. Gleichzeitig veränderte das elektrische Licht auch die Lesegewohnheiten des Publikums. Viele der traditionellen Sortimenter wurden finanziell vom Zwischen- und Großhandel abhängig, vor allem, weil sie der neuen Konkurrenz der „Ramscher“ und des Kolportagebuchhandels nicht gewachsen waren. Die Ramscher waren zu einer übermächtigen Konkurrenz geworden, weil die technischen Möglichkeiten und die Form des Sortimentsverkehrs zu einer Überproduktion von Büchern geführt hatten, die die Verleger über das „moderne Antiquariat“ absetzen wollten. Zwischen 1850 und 1870 wurden Bücher häufig schon nach wenigen Monaten im modernen Antiquariat zu einem Bruchteil des Originalpreises angeboten. Gegen die Praktiken des „Ramschens“ und „Verschleuderns“ wehrte sich der traditionelle Buchhandel durch „genossenschaftliche Selbsthilfe“. Auf Initiative des Stuttgarter Großverlegers Adolf Kröner beschloß eine außerordentliche Hauptversammlung des deutschen Börsenvereins in Frankfurt (nicht in Leipzig, da die dortigen Kommissionäre an der Schleuderpraxis gut verdienten) 1887 die sog. Krönersche Reform. „Sie erklärte bei Verkäufen an das Publikum den vom Verleger festgesetzten Ladenpreis als verbindlich für alle Mitglieder in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Zuwiderhandelnde wurden von sämtlichen Verlagslieferungen und allen Einrichtungen der Standesorganisation ausgeschlossen.“ (Wittmann 1991, 2 44). Dieser monopolistische Grundsatz wurde 1888 zum wichtigsten Punkt der Buchhändlerischen Verkehrsordnung, die vom Börsenverein durchgesetzt

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wurde und trotz einiger kartellrechtlicher Bedenken staatlicherseits abgesegnet wurde und bis heute den Buchmarkt in Deutschland prägt. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist ebenso durch die Einrichtung von Volksbibliotheken gekennzeichnet. In der Gründung von Volksbüchereien schlugen sich volksaufklärerische Gedanken, Erfahrungen mit dem ein halbes Jahrhundert älteren angelsächsischen öffentlichen Bibliothekswesen und karitative Vorstellungen (besonders von seiten der Kirchen) nieder. Vor allem aber dienten diese Büchereien der Untertanentreue; während die Zensur unerwünschte Publikationen verhinderte, lenkten die Volksbibliotheken durch ihr Bücherangebot die Lektüre der Unterschichten. Bis heute wechselten nur die Begründungen für die Lektüresteuerung, es folgten pädagogische, moralische, ästhetische und offen politische (im Nationalsozialismus) Begründungen. Die Volksbüchereien haben im wesentlichen zur Erschließung neuer Leserschichten und zur Alphabetisierung der deutschen Bevölkerung beigetragen. Dies wurde vor allem durch die quantitative Ausweitung dieses Zweigs des Bibliothekswesens möglich. Seit der ersten Hälfte des 2 0. Jahrhunderts erreichen öffentliche Bibliotheken im Prinzip die gesamte Bevölkerung.

6.

Das 20. Jahrhundert

6.1. Das Buch in der Weimarer Republik Der erste Weltkrieg stellte auch für das deutsche Buchwesen einen Einschnitt dar. Nach dem Grauen des ersten Weltkrieges schwand das internationale Interesse an deutscher Literatur und damit auch nach Literatur in deutscher Sprache, zum anderen waren deutsche Wissenschaftler durch den Versailler Vertrag von der internationalen wissenschaftlichen Kommunikation weitgehend ausgeschlossen. Deutsch war nur noch in seltenen Fällen Konferenzsprache, die neue wissenschaftliche Literatur des Auslandes selbst fehlte in Deutschland, da sie während des Krieges nicht erworben werden konnte und nach dem Krieg wegen der Inflation nicht zu bezahlen war. Diese Lücke in der Literaturversorgung konnte durch die Einrichtung zentraler Kopierstellen und durch ausländische Hilfe behelfsweise geschlossen werden, und nach der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund 192 6 wurden die Beschränkungen für die wissenschaftliche Kommunikation aufgehoben.

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Nun errang die wissenschaftliche deutsche Literatur auch in den westlichen Ländern eine Stellung, die der Bedeutung der deutschen Wissenschaft im internationalen Vergleich zukam. Im Bereich der wissenschaftlichen Zeitschriften wurden die deutschen Publikationen sogar — auch gegen die immer stärker werdende US-amerikanische Konkurrenz — führend, so daß Deutsch als Wissenschaftssprache sich behauptete, allerdings ohne die unumschränkte Geltung von vor dem ersten Weltkrieg wieder zu erlangen. Nach dem ersten Weltkrieg erfolgte ebenfalls eine radikale Umwälzung des Buchmarktes. Verleger und Buchhändler hatten mit der Inflation zu kämpfen, die Honorare der Autoren, die ja nachträglich gezahlt wurden, wurden durch die Inflation fast bis auf Null reduziert, vor allem aber waren die traditionellen Bücherkäufer, Bildungsbürger und intellektueller Mittelstand, durch Krieg und Kriegsfolgen ruiniert und fielen als Käuferschichten auf Dauer aus. „Aus der tiefgreifenden sozialen Umschichtung ging der neue Typus des kleinen Angestellten hervor, der in einer hektisch und schnellebig gewordenen Zeit nach aktueller unterhaltsamer Lektüre verlangte“ (Meyer 1987, 2 52 ). In Konkurrenz zu dieser Unterhaltungslektüre traten zunehmend die neuen Medien Radio, Film und Massensportveranstaltungen. So werden als neue Verkaufsstrategien einerseits Buchgemeinschaften gegründet, auf der anderen Seite billige Großauflagen über Kaufhäuser abgesetzt. Auf der organisatorischen Ebene entspricht dieser Phase der Kapitalverwertung die Entstehung von Druckimperien, Ullstein und Hugenberg werden zu großen Konzernen. 6.2. Das Buch im Dritten Reich Diese Konzentrationsprozesse wurden politisch im Dritten Reich vollendet. Mit der Verbrennung des „schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ am 10. Mai 1933, der „Säuberung“ der öffentlichen und sogar privaten Bibliotheken, der Volks- und Leihbüchereien, der „Arisierung“ und Gleichschaltung der Verlage, der Vertreibung unerwünschter Autoren und der Organisation der Reichsschrifttumskammer betrieben die Nationalsozialisten eine konsequente Kulturpolitik. Dem entsprach eine Förderung „deutscher“ Literatur und Kunst, die in der deutschen Geschichte ohne Beispiel ist. So machte die Mehrzahl der verbliebenen „Kulturschaffenden“ willig mit oder arrangierte sich zumin-

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

dest mit den Verhältnissen; hinhaltender Widerstand gegen die NS-Kulturpolitik, wie ihn etwa Peter Suhrkamp übte, blieb die Ausnahme. Eine der Folgen war die totale Provinzialisierung der im Reich erscheinenden Literatur, denn auch die internationale Literatur, die in Übersetzungen erschien, wurde nach den üblichen politischen Grundsätzen ausgewählt. Demgegenüber entwickelte sich im Exil unter schwierigsten materiellen und politischen Bedingungen eine Exilliteratur. Sie wurde getragen von den renommiertesten und ästhetisch anspruchvollsten deutschen Autoren und in Exilverlagen publiziert, bis 1938 noch in Österreich und der Schweiz, aber auch schon seit 1933 in deutschsprachigen Verlagen in der ganzen Welt. Trotz der enormen individuellen Leistungen wurde diese Literatur in Deutschland jedoch kaum noch rezipiert. 6.3. Das Buch im Nachkriegsdeutschland Auch nach der Niederlage des Nationalsozialismus konnte diese bessere deutsche Literatur nicht traditionsbildend wirken. Das gesamte Publikationswesen wurde von den vier Besatzungsmächten kontrolliert und bald durch neulizensierte Verleger dominiert. Wegen des sich entwickelnden kalten Krieges kam es zu unterschiedlichen Buchmärkten im Osten und in Westen Deutschlands sowie Österreichs. Im Osten Deutschlands wurde eine umfassende Säuberung von NS-Literatur versucht und bald eine Verstaatlichung der lizensierten Verlage vorgenommen. Die Verleger übersiedelten daraufhin in den Westen. Daraus entstanden Rechtsstreitigkeiten, die während der Existenz der DDR den freien Bücheraustausch in ganz Deutschland ebenso behinderten wie die Zensurpolitik der DDR. Die im Osten angesiedelten Verlage arbeiteten wesentlich arbeitsteilig nach politischen Vorgaben der Staatsführung. Trotz massiver Indoktrination entwickelte sich in der DDR eine Lesekultur, die dem Buch eine außerordentliche Bedeutung verlieh. In den ostdeutschen Verlagen fanden auch viele Exilautoren ihre verlegerische Heimat, da für ihre Literatur in der Restaurationsphase der BRD kein großes Interesse bestand, hier bestimmten eher die Literaten der „inneren Emigration“ das kulturelle Klima. In der BRD entwickelte sich nach der Zeit der von den Alliierten lizensierten Verlage eine auf den ersten Blick unübersehbare Verlagslandschaft und ein vielfältiges Bücherangebot. Die auffälligste Veränderung des Bücher-

6.  Geschichte des Buches

marktes war das Erscheinen des Taschenbuchs, das heute ein Drittel der Buchhandelsumsätze trägt. Nicht so offensichtlich ist der stetige Konzentrationsprozess, der auf dem Büchermarkt wie in allen übrigen Wirtschaftsbereichen vor sich geht, und die Tatsache, daß sich hinter der Vielfalt des Buchangebotes vielfach eine Konformität des Angebotenen verbirgt. So waren etwa in den sechziger Jahren „linke“ Autoren im Buchhandel nicht erhältlich und mußten durch „Raubdrucker“ der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Die Spaltung Deutschlands führte zu zwei Buchmarktorganisationen, die sich in Leipzig und Frankfurt ihre Buchmessen schufen. Heute ist die Frankfurter Buchmesse die wichtigste Buchhandelsmesse der Welt (gehandelt werden natürlich Verwertungsrechte), der deutsche Buchmarkt ist der zweit- oder drittgrößte Buchmarkt der Welt (über den Buchmarkt der ehemaligen Sowjetunion ist derzeit keine genaue Aussage zu machen), er wird durch jährlich ca. 100 000 Neuerscheinungen geprägt. Durch diese enorme Überproduktion ergeben sich seit einigen Jahren die gleichen Probleme wie zur Zeit der „Krönerschen Reform“, das Ramschen und das „moderne Antiquariat“ bedrohen die Buchhandelsstrukturen wie damals. Hinzu kommen aber heute die Konkurrenz durch neue Medien, die Bedrohung des festen Ladenpreises durch die europäische Integration und Konzentrationsprozesse auf der Ebene der Verlage und des Zwischenbuchhandels (hier dürften nur zwei oder drei Zwischenbuchhandlungen, die zudem Teile internationaler Konzerne bilden werden, überleben), während der Sortimentsbuchhandel noch nicht wie in den USA durch Ladenketten bestimmt wird.

7.

Literatur

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I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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7. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

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Claus Ahlzweig, Hannover (Deutschland)

Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit Vorüberlegungen Antike Mittelalter Renaissance Das 17. Jahrhundert Das 18. Jahrhundert Das 19. Jahrhundert Das 20. Jahrhundert Literatur

Vorüberlegungen

Wenn ich im folgenden versuche, die Geschichte der Schriftreflexion zu skizzieren, so geschieht dies unter bestimmten Voraussetzungen und Einschränkungen, die vorweg erläutert werden sollen. Diese Skizze trägt die Überschrift „Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit“. Sie könnte auch heißen „Geschichte der Schrift- und Schriftlichkeitstheorien“ oder „Geschichte der Wissenschaft von Schrift und Schriftlichkeit“. Damit ist gemeint, daß die zu den jeweiligen historischen Zeiten üblichen systematischen und expliziten Bearbeitungen der Schriftproblematik rekonstruiert werden sollen. Dies impliziert zweierlei. Einmal verwende ich einen weiten Begriff von Wissenschaft und Theorie, der keine strikte Trennung zwischen einer „vor“ wissenschaftlichen und einer wissenschaftlichen Periode der Schriftreflexion macht. Wissenschaft und Theorie werden selbst als historische Ausdrücke verstanden. Zum anderen kann es nur um explizite Äußerungen gehen, nicht etwa um implizite Schrift„theorien“, die bestimmten Schriftsystemen oder Schriftlichkeitspraktiken zugrundelie-

gen, ohne daß sie expliziert würden. So wird häufig gesagt, daß die Alphabetschriften eine Phonemtheorie oder zumindest eine Phonemanalyse implizit enthalten (so vor allem Lüdtke 1969). Solange diese impliziten Annahmen nicht ausformuliert werden, können sie nicht als Beitrag zu der Geschichte der Schriftreflexion behandelt werden, sondern nur als Bedingung für die Entwicklung der Schriftreflexion in die eine oder andere Richtung. Weiterhin muß ich auch einschränkend vorausschicken, daß es in diesem Beitrag aufgrund meiner eingeschränkten Kompetenz für andere Kulturkreise und die dort entwickelte Sprach- und Schriftreflexion nur um die Rekonstruktion der europäischen Tradition gehen wird, die selbstverständlich in hohem Maße alphabetzentriert ist und für die andere Schriftsysteme nur am Rande relativierend in den Blick kommen. Wie immer, wenn die Geschichte komplexer Sachverhalte geschrieben werden soll, stellt sich das Problem, ob die systematische Verschränkung verschiedener Aspekte während einer Epoche oder aber die Kontinuität und Transformation einzelner Traditionen über die Epochen hinweg die Darstellung dominiert, ob also Querschnitte oder Längsschnitte die Materialien strukturieren sollen. Vor- und Nachteile beider Optionen liegen auf der Hand: wenn man sich für die Darstellung der synchronischen Verschränkungen als strukturierendes Prinzip entscheidet, so geht leicht der Blick für durchgehende Traditionen verloren; im anderen Fall, wenn nämlich die Längsschnitte nacheinander abgearbeitet werden, fällt dieser Darstellungsweise die Verflochtenheit verschiedener

7.  Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit

Aspekte im gleichen Zeitraum zum Opfer. Gerade im Bereich der Schriftreflexion gäbe es eine Reihe von Einzeltraditionen, die über große Zeiträume hinweg strukturierend wirken, etwa die Idee der untrennbaren Zusammengehörigkeit von Laut und Schrift, die sich auch in einer jahrhundertelang gültigen Terminologie ( littera als Überbegriff, dazu VogtSpira 1991) widerspiegelt, oder die Konkurrenz phonographischer und morphologischer Interpretationen der Abbildfunktion von Schrift in der aristotelischen Tradition (vgl. Maas 1986). Trotz der Bedeutsamkeit dieser durchgehenden Stränge entscheide ich mich für die Darstellung der Schrift- und Schriftlichkeitsreflexion im Epochenzusammenhang. So ist es möglich, die Verflechtung der unterschiedlichen Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit (Schrift vs. Laut, medial vs. konzeptuell, Folgen der Schriftlichkeit), die Betonung oder das Fehlen des einen oder anderen Gesichtspunkts zu einem bestimmten Zeitpunkt sowie die Einbettung der Schriftreflexion in kulturelle Zusammenhänge und wissenschaftliche Entwicklungen im Blick zu behalten. Für jede Epoche soll also zunächst ganz kurz die kulturelle und wissenschaftliche Situation umrissen werden, auf deren Hintergrund die jeweiligen Überlegungen zur Schrift entwickelt werden. Die schrifttheoretischen Äußerungen (die selbstverständlich meist in direktem Kontrast zum Bereich des Lautlichen, der Rede und der Mündlichkeit im allgemeinen ausformuliert werden) sollen dann unter drei Gesichtspunkten vorgestellt werden (wobei die Reihenfolge der Behandlung dieser drei Fragestellungen je nach den Gegebenheiten der Epochen variieren kann): 1. Wie wird das Verhältnis zwischen Schrift und Laut interpretiert? Wird die Schrift als völlig abhängig vom Lautsystem gesehen? Oder werden Lautsystem und Schriftsystem als (relativ) selbständige Systeme gesehen, die weitgehend unterschiedlichen Prinzipien folgen? Diese beiden Möglichkeiten der Konzeptualisierung des Verhältnisses von Schrift und Laut (Abhängigkeit vs. Autonomie) werden gelegentlich zur Strukturierung der gesamten Schriftdiskussion herangezogen (vgl. Feldbusch 1985, Müller 1990). Die strenge Dichotomisierung darf aber nicht den Blick dafür verstellen, daß im Laufe der Geschichte der Schriftreflexion auch andere Möglichkeiten der Konzeptualisierung eine Rolle gespielt haben, z. B. die Zurückführung beider Modalitäten auf ein gemeinsames zugrundelie-

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gendes System. In diesem Falle wäre also der Autonomie die Integration, nicht die Abhängigkeit entgegengesetzt. Zwischen diesen drei Positionen lassen sich selbstverständlich auch Zwischenpositionen ausmachen, die von der Dominanz des einen oder anderen Prinzips ausgehen, dessen Gültigkeit aber durch Anteile des jeweils anderen Prinzips relativiert wird. 2 . Wird ein Unterschied zwischen medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit gemacht? Damit beziehe ich mich auf die im Freiburger Projekt „Übergänge und Spannungsfelder von Mündlichkeit und Schriftlichkeit“, besonders von Koch & Oesterreicher (1985) in Anschluß an Ludwig Söll entwickelte Unterscheidung von Sprache der Distanz und Sprache der Nähe, in denen unterschiedliche Verfahren der Versprachlichung verwendet werden. Hier wäre zu denken an unterschiedliche Verfahren der Referentialisierung, eine unterschiedliche Beteiligung der verschiedenen Umfelder (z. B. Situation und Kontext) am Sprechen, an dialoggebundene Praktiken, an Verfahren des Ausdrucks emotionaler Beteiligung usw. Betrifft also die Schriftreflexion zu einer bestimmten Zeit nicht oder nicht nur die unterschiedlichen Materialitäten, sondern auch diese unterschiedlichen Verfahren der Versprachlichung? 3. Betrifft die Schriftreflexion über die medialen und konzeptionellen Unterschiede von Rede und Schrift hinaus auch die kulturellen Erscheinungsformen und Implikationen der Schriftlichkeit? Wie wird das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu einer bestimmten Zeit interpretiert (autonom vs. anzillar; umfassend vs. sektorial usw.)? Spielen die Folgen der Einführung von Schrift in einer Kultur eine Rolle in der Schriftreflexion, also zum Beispiel die Veränderungen des kulturellen Gedächtnisses, die Problematik der Wahrheit der Dichtung, die Übermittlung und Konzeptualisierung von Wissen, die Veränderung religiöser und administrativer Praktiken? Wird die fundierende Rolle der Schrift bei der Entwicklung sprachtheoretischer und historiographischer Arbeit thematisiert? Es gibt bislang keine umfassende Darstellung der Geschichte der Schriftreflexion. Zwar sind einzelne Traditionsstränge bearbeitet worden (vgl. Maas 1986 zur AristotelesInterpretation, Vogt-Spira 1991 zur Terminologie im Umkreis von vox und littera ; Giesecke 1991 zur Schriftreflexion im Umkreis des Buchdrucks, David 1965 zur europäischen Hieroglyphen-Rezeption, Couturat &

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

104

Léau 1907 zur Geschichte der Universalsprachen, die ja weithin Universalschriften sind, Müller 1990 zur Geschichte der Maxime „Schreibe, wie du sprichst“, Kohrt 1985 zur Geschichte des Graphembegriffs vor allem im europäischen Strukturalismus), und die schrifttheoretischen Äußerungen einzelner Autoren sind interpretiert worden (z. B. Settekorn 1979 zu Tory, Derrida 1967 zu Plato, Rousseau und Hegel, Labarrière 1986 und Schlieben-Lange 1986 zu Destutt de Tracy und den anderen Idéologues, Trabant 1986/ 1990, 1988/1990 und 1993 und Stetter 1989 zu Humboldt). Darüber hinaus findet man zahlreiche Hinweise in den umfassenden Darstellungen der Schriftproblematik und der Schriftgeschichte. Weitere Hinweise erhält man in den Kommentaren zu den einschlägigen Autoren. Man kann aber für die uns hier interessierende wissenschaftsgeschichtliche Fragestellung ohne Übertreibung behaupten, daß noch sehr viel zu tun bleibt. So ist sicher auch die hier vorgelegte Skizze nach der Erschließung weiterer Quellen und nach Vorlage weiterer Interpretationen und Rekonstruktionen revisionsbedürftig.

2.

Antike

Die griechische Antike ist sicher, wie vor allem Havelock (z. B. 1963) betont hat, sehr stark dadurch gekennzeichnet, daß sich hier unter Entfaltung der Möglichkeiten der Alphabetschrift eine differenzierte Schriftkultur mit allen zugehörigen Institutionen (Buch, Verleger, Buchhandel, Bibliotheken usw.) entwickelt hat, die die ältere mündliche Kultur marginalisiert hat oder zumindest das Verhältnis beider Kulturen als problematisch erscheinen ließ. Freilich ist Havelocks These von der Schriftverfaßtheit der griechischen Kultur keineswegs unwidersprochen geblieben. Verschiedene Autoren halten dagegen, daß die griechische Kultur gerade durch eine explizite Schriftskepsis charakterisiert sei und daß vor allem eine Sakralisierung schriftverfaßter Texte, wie sie in anderen Kulturen vorliege, vor allem jenen, die Träger der großen Offenbarungsreligionen sind, der griechischen Kultur gänzlich fremd sei (vgl. Glück 1987; Erler 1987, 46). Wie auch immer man die widersprüchlichen Erscheinungen interpretiert: sicher ist, daß die Einführung der Schrift in Wissenschaft und Dichtung ein Gegenstand intensiven Nachdenkens ist, und daß in diesem Umfeld die ersten für die gesamte europäische Tradition richtungweisenden Ausein-

andersetzungen mit Schrift und Schriftlichkeit entstanden sind. Die griechische Schriftreflexion setzt ein mit Platos Schriftkritik, die er vor allem im Phaidros ausformuliert. Sie ist im Zusammenhang des neu erwachten Interesses für Schrift und Schriftlichkeit in den letzten Jahren wiederholt ausführlich zitiert und interpretiert worden (Derrida 1967, der Plato in die Reihe der von ihm kritisierten logozentrischen Autoren einordnet, dazu Assmann 1983, Gadamer 1983, Raible 1983, Knoop 1983, Ehlich 1983, Schlieben-Lange 1983, Illich 1984, Feldbusch 1985, Borsche 1986; eine kurze Zusammenfassung dieser Diskussion bei Müller 1990). Wichtig sind aber vor allem auch die Interpretationen der Schriftkritik im Zusammenhang des platonischen Gesamtwerks (dazu besonders Sinaiko 1965, Laborderie 1971, Derbolav 1972 , Wieland 1982 , Erler 1987, Szlezák 1985, Wyller 1991). Im Phaidros lobt der ägyptische Gott Theuth (in der Tradition später mit Hermes und Merkur identifiziert) seine Erfindungen, darunter besonders die Schrift. Der König Thamus ist skeptisch: statt Erinnern wird die Schrift Vergessen mit sich bringen. Ohne Anwesenheit des „Vaters“ der Gedanken bleibt der schriftverfaßte Text stumm. Plato führt also zwei Argumente zusammen, einmal, daß schriftlich Erinnertes immer den Subjekten äußerlich bleibt, während nur die von einem lebendigen Subjekt im Dialog entwickelten Gedanken erinnerungsfähig sind. Komplementär dazu stellt er fest, daß der Text keine über sich selbst hinausgehende Antwort geben kann, während im Dialog gerade neue Gedanken erzeugt und von den Subjekten sich anverwandelt werden. Offensichtlich handelt es sich bei diesen Reflexionen um eine Antwort auf einen sich vollziehenden tiefgreifenden Wandel, wie er sich beispielsweise in der Tatsache manifestiert, daß Perikles schriftverfaßte Reden vorträgt. Erler (1987) zitiert eine Reihe von Paralleltexten, die zeigen, daß die im Phaidros formulierte Schriftkritik einem größeren Diskussionszusammenhang angehört: so äußert sich Alkidamas ähnlich radikal wie Plato zugunsten der älteren Kultur; Isokrates teilt die Bedenken, daß schriftverfaßte Texte „ohne Hilfe“ des Verfassers unflexibel sind; insgesamt ist er aber weniger skeptisch: die Qualität des Adressaten (der nun als Interpret einspringen muß, wenn der Vater schweigt) vermag die Nachteile weitgehend auszugleichen.

7.  Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit

Die explizite Schriftkritik wirft für die Plato-Interpretation insgesamt große Probleme auf. Sie berührt direkt die alte Frage der ungeschriebenen Lehre Platos (VII. Brief). Spricht die vehemente Schriftkritik nicht dafür, daß die zentralen Teile der philosophischen Lehre gar nicht erst der Schrift überantwortet worden sind? Darüber hinausgehend stellt sich die Frage, weshalb Plato überhaupt (mehr oder minder große, je nachdem wie die Antwort auf die Frage nach der ungeschriebenen Lehre aussieht) Teile seines Denkens schriftlich niedergelegt hat. Bei der Beantwortung dieser Frage muß der Dialogform entscheidende Bedeutung zukommen. Nur die Dialogform kann garantieren, daß der dialogische Prozeß nachvollziehbar bleibt. So erscheinen die platonischen Dialoge als Form, die die Vorteile von Mündlichkeit und Schriftlichkeit verbindet, und als Antwort auf eine komplexe kulturelle Situation mit widersprüchlichen Anforderungen: Die Prozeßhaftigkeit der Erkenntnissuche bleibt bewahrt, sie kann aber nur im Medium der Schrift gezeigt und tradiert werden. Nach Plato nimmt eine Generation später Aristoteles eine „modernere“ Position ein. Er kämpft nicht mehr argumentativ gegen die Schrift an, sondern arbeitet sie in einer selbstverständlichen Weise sowohl in seine sprachtheoretischen als auch in seine dichtungstheoretischen Schriften ein. Trabant (1986/1990, 186) nennt folgende Züge der aristotelischen Theorie als schriftvermittelt: die Äußerungen zur lautlichen Artikulation, zur Arbitrarietät, zum apophantischen, d. h. logisch-darstellenden Diskurs, zu einer nicht-religiösen Auffassung der Dichtung. Die sprachtheoretischen Äußerungen zum Verhältnis von Laut und Schrift finden sich vor allem in Peri Hermeneias 16 a (in der lateinischen Tradition De Interpretatione ). Dort heißt es: Ἔsti mèn un tà n tẽ phonẽ tõn n tẽ psychẽ pathemáton sýmbola, kaì tà graphómena tõn én tẽphonẽ (in der lateinischen Übersetzung des Boethius, die für das Mittelalter traditionsbildend wurde: S unt ergo ea quae sunt in voce earum quae sunt in anima passionum notae, et ea quae scribuntur eorum quae sunt in voce ). Diese Äußerung steht in einem Kontext, in dem es vor allem um die Selbständigkeit der sprachlichen Zeichen gegenüber den Dingen geht, und in dem die Charakterisierung des Sprachlichen als artikuliert und konventionell ( kata synthéken ) erfolgt. Sie ist vielfach paraphrasiert und häufig als Grundlegung einer spezifisch aristotelischen Schriftauffassung inter-

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pretiert worden, die von der vollständigen Abhängigkeit der Schrift vom Lautlichen ausgehe (vgl. Müller 1990, 2 86 f, 305 ff). Demgegenüber weist Günther (1983) auf die Fortsetzung der oft zitierten Stelle hin, die eher auf eine Parallelisierung von grammata und phonai ( litterae und voces ) schließen läßt denn auf die Formulierung der Nachgeordnetheit der Schrift. Maas (1986) zeigt, auch unter Rückgriff auf Steinthals Aristoteles-Interpretation (1890), daß bei genauer Übersetzung die übliche Interpretation nicht haltbar ist. Das Korrelat zum schriftlichen Zeichen ist das, was in der S timme enthalten ist (d. h. die sprachlich-grammatische Gestaltung der Welt), nicht die Stimme selbst. Erst im Laufe der Tradition, endgültig im Grunde erst in der Renaissance, setzt sich die phonographische Lesart durch (zu dieser Tradition Maas 1986). Es wäre aber falsch, nur die Schriftreflexion des Aristoteles in einem engeren sprachtheoretischen Sinne zur Kenntnis zu nehmen. Er befaßt sich durchaus auch mit den Folgen der Durchsetzung der Schriftkultur, zunächst einmal insofern er den apophantischen, logisch-darstellenden Diskurs in seinem sprachtheoretischen Denken als Normalfall setzt, dann aber auch, indem er die bereits geraume Zeit währende Diskussion über die Wahrheit der Dichter (zu dieser Diskussion vom 8.—4. Jahrhundert und ihrer Verschränkung mit der Einführung der Schriftkultur Rösler 1983) einer überraschenden Auflösung zuführt, die in der „Entdeckung“ und Bestimmung von Fiktionalität besteht. Die Wahrheit der Dichter ist gegenüber der der Historiographen allgemeiner und „philosophischer“: die Dichter zeigen nämlich nicht, wie es gewesen ist, sondern was geschehen könnte. In der hellenistischen Zeit, die eine Hochblüte der Schrift- und Buchkultur (Bibliotheken, Philologie) erlebte, wurde die Terminologie für Laut und Schrift entwickelt und bekam ihre kanonische, in der lateinischen Antike und in der mittelalterlichen Schulgrammatik verbindliche Form. Der Teil der Grammatik, der die grammata/litterae behandelt, war neben einem optionalen prosodischen Teil und der Wortartenlehre das Kernstück der antik-mittelalterlichen Grammatik. An der Entwicklung der Schriftterminologie hatten Vertreter verschiedener Schulen Anteil, besonders die Stoa und die alexandrinische Schule. Die Geschichte der Terminologie ist zuletzt von Vogt-Spira 1991 (unter Rückgriff auf Ax 1986) rekonstruiert worden. Die terminolo-

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gische Unterscheidung zwischen phonischen und graphischen Elementen wird systematisch von stoischen Autoren gemacht. So unterscheidet Diogenes von Babylon im 2 . Jahrhundert v. Chr. unter dem Überbegriff gramma drei zu unterscheidende Lesarten: stoicheion (Elementarteil, hier wohl phonisch interpretiert), charakter (graphische Gestalt) und onoma (Name des Elementarteils). Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang der Begriff stoicheion (Elementarteil, Glied einer Kette, dazu Burkert 1959), der ursprünglich wohl die Funktion des Überbegriffs hatte (so noch belegt bei Sextus Empiricus). Jedenfalls werden gramma und stoicheion lange Zeit gleichbedeutend (so bei Dionysios Thrax und Dionys von Halikarnaß) verwendet. In der Einführung eines Begriffs für ein sprachliches Elementarteilchen und in der Aufzählung solcher Elementarteilchen, wie sie Dionysios Thrax vornimmt, sieht Lüdtke (1969) eine erste rudimentäre Formulierung einer Phonemtheorie. Im Wege der Differenzierung wird dann stoicheion für das Lautliche festgelegt, so kanonisch im byzantinischen Ammonius-Lexikon, das auf ein Synonymen-Lexikon des 1. oder 2 . Jahrhunderts n. Chr. zurückgeht. Die Divergenzen zwischen den verschiedenen Akzentuierungen und Definitionen erklärt Ax (1986) mit dem in den aristotelischen Texten selbst angelegten Schwanken zwischen einer mehr physiologischen Sprachauffassung (in der die Kriterien der Artikuliertheit und Untrennbarkeit als entscheidende Merkmale des menschlichen Sprechens im Vordergrund stehen) und einer semiotischen Konzeption (in der die unterschiedlichen Zeichenrelationen reflektiert werden, wie z. B. in der oben skizzierten Stelle aus Peri Hermeneias). In der römischen Antike wurden im wesentlichen die aristotelischen und hellenistischen Ansätze weiter systematisiert (dazu Ax 1985, Maas 1986, Vogt-Spira 1991). Zwei kulturelle Rahmenbedingungen müssen hier besonders ins Auge gefaßt werden, deren Auswirkung für die Entwicklung unterschiedlicher Schrifttheorien noch nicht abschließend erforscht sind. Einmal ist dies die herausragende Bedeutung der Rhetorik als Technik der mündlichen Rede in der römischen Kultur (Cicero, Quintilian), in der memoria (Gedächtnistechniken) und pronuntiatio (mündliche Performanz) integrierende Teile sind. Unter dieser Finalisierung konnte der Schrift allenfalls als Instrument der memoria nach-

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

geordnete Bedeutung zugestanden werden (zur Rolle der Rezitation in der römischen Kultur Vogt-Spira 1990). Andererseits entwickelte sich aber in der Spätantike allmählich Techniken des leisen Lesens, die zu einer Abkopplung des Lesevorgangs vom Lautlichen implizierten (zum leisen Lesen Balogh 192 7, Saenger 1989). Bekannt ist der Bericht Augustins in den Confessiones, der zu seinem großen Erstaunen seinen Lehrer Ambrosius lesen sieht, ohne daß er Töne hervorbringt: Sed cum legebat, oculi ducebantur per paginas et cor intellectum rimabatur, vox autem et lingua quiescebant. Die Erforschung des Zusammenhangs zwischen der Entwicklung von Lesetechniken und der Veränderung von Schreibtechniken (Markierung von Wortgrenzen statt scriptio continua , dazu Raible 1991) steht erst am Anfang. Diese beiden gegenläufigen Tendenzen: Unterordnung der Schrift unter die Finalitäten der mündlich frei vorgetragenen Rede einerseits und Autonomisierung der Schrift durch lautunabhängige Lesetechniken müßten in ihren Konsequenzen für die antiken und spätantiken Schrifttheorien erst noch gewürdigt werden. Quintilian formuliert in De institutione oratoria (I, 7, 30—31) ein Schriftverständnis aus, das abhängig ist von der klaren Priorität der mündlichen Rede: Ego (...) sic sribendum quidque iudico, quomodo sonat. Hic enim est usus litterarum, ut custodiant voces et velut depositum reddant legentibus. Diese Auffassung der Funktion der Schrift als lediglich der Aufbewahrung dienend und der mündlichen Rede eindeutig nachgeordnet ist natürlich dazu geeignet, eine phonographische Interpretation der aristotelischen Schrifttheorie zu begünstigen. Die zitierte Stelle ist jedenfalls der locus classicus , auf den sich später, vor allem in der Neuzeit und vor allem in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts (vgl. Müller 1990) die Vertreter einer obersten Maxime „Schreibe, wie du sprichst“ wieder und wieder beziehen werden, auch wenn es längst nicht mehr um die Bestimmung der Funktion der Schrift in einer redeorientierten Kultur, sondern um die Normierung der Einzelsprachen in völlig veränderten kulturellen Kontexten geht. In der Spätantike bildet sich eine Trennung zwischen einer praxis- und didaktikorientierten Schulgrammatik einerseits (die im Mittelalter dann als grammatica positiva fortgeführt wird) und einer an sprachtheoretischen Fragen interessierten Sprachphilosophie andererseits (die sich im Mittelalter als grammatica

7.  Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit

speculativa auch deskriptiven Fragen zuwenden wird), heraus. Die Schulgrammatik, deren wichtigste und für die Tradition des Mittelalters bekannteste Autoren Donat (4. Jh.) und Priscian (6. Jh.) sind, unternimmt es, die griechischen Ansätze zu einer Schrifttheorie zu vereinheitlichen und systematisierend zu vereinfachen. In der hellenistischen Tradition waren zwei unterschiedliche Arten der Zuordnung der verschiedenen Bedeutungen von gramma entstanden: Identifikation (so bei Sextus Empiricus) oder Attribution. Das zweite Verständnis setzt sich nun in der lateinischen Tradition durch. Dort werden drei kanonische Akzidentien zu littera angenommen: nomen — forma vox/vis (für dynamis)/sonus (Belegstellen bei Vogt-Spira 1991, 308), später kanonisch in der Form: nomen — figura — potestas. Littera kommen also drei Akzidentien zu: der Name einer Einheit ( nomen ), ihre schriftliche Form ( forma/figura ) und ihr Lautwert ( vox/sonus bzw. elementum bzw. vis/potestas. Die eindeutige Festlegung von littera als Übergriff gegenüber dem schwankenden Gebrauch von gramma in der griechischen Tradition ist auch durch die geringere etymologische Festlegung von littera auf die Schrift erklärbar. Diese Systematisierung wird der feste Bezugspunkt für die Schriftreflexion im Mittelalter und in der Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts sein. Die spätantike Sprachphilosophie betont die semiotischen Aspekte von Schrift. Dies gilt in besonderer Weise für Augustinus, der als der eigentliche Begründer der Semiotik gelten kann. In De doctrina christiana (397—427) behandelt er die Schrift unter dem Gesichtspunkt einer Klassifikation unterschiedlicher semiotischer Systeme. Bemerkenswert ist, daß Augustinus annimmt, auch die Schrift sei der babylonischen Verwirrung zum Opfer gefallen ( De doctrina christiana II, 5). Boethius (6. Jh.) versucht in seiner AristotelesÜbersetzung (aus der wir oben zitiert haben) und in seinem Kommentar, die Komplexität der aristotelischen Schriftauffassung zu zeigen und eine semiotisch-kulturwissenschaftliche Auffassung von Laut und Schrift gegenüber der konkurrierenden physiologischen stark zu machen. Sicher müßten auch noch andere spätantike Gelehrte unter dem Gesichtspunkte ihrer Aussagen zur Schrifttheorie untersucht werden (vgl. z. B. den Hinweis von Vogt-Spira 1991 zu Isidor von Sevilla). Priscian, auf den sich auch die mittelalterliche grammatica speculativa vielfach, wenn

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auch oft kritisch, beziehen wird, nimmt in gewisser Hinsicht eine Mittelstellung zwischen Schulgrammatik und philosophischer Sprachtheorie ein. Er formuliert eine recht komplexe Schrifttheorie, in der er die konkurrierenden Ansätze der antiken Schriftreflexion synthetisiert. So übernimmt er einerseits die physiologische Interpretation des Lautes als artikuliert (gegenüber den nichtartikulierten tierischen Lauten); andererseits verweist er aber auch auf die semiotische Interpretation der littera als Symbol, nota des Lautlichen (wobei, wie wir gesehen haben, phonographische und semiotisch-grammatische Ausdeutungen konkurrieren). Die wichtigsten Elemente seiner Schriftauffassung seien hier kurz zitiert (aus Priscian, Institutiones I, 3—8): Litera est pars minima vocis compositae oder litera est vox, quae scribi potest individua; dann aber auch: Litera igitur est nota elementi (hier Rückgriff auf das stoicheion der griechischen Schrifttheorie) (...) hoc ergo interest inter elementa et literas, quod elementa proprie dicuntur ipsae pronuntiationes, notae autem earum literae. (...) S unt igitur figurae literarum quibus nos utimur viginti tres (...) und schließlich Accidit igitur literae nomen, figura, potestas.

3.

Mittelalter

Es ist sehr schwer, die Rahmenbedingungen der Schriftreflexion im Mittelalter umfassend zu charakterisieren, dies umsomehr, als sich durch die neueste Forschung unsere Kenntnisse und Einschätzungen sehr gründlich geändert haben, ohne daß schon eine neue Synthese in Sicht wäre. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist ganz sicher, daß im Zuge der Verschriftung der Volkssprachen, auch wenn sie zunächst für begrenzte Sektoren des kulturellen und politisch-administrativen Lebens erfolgte, das Verhältnis von Laut und Schrift neu überdacht werden mußte (→ Art. 41). Konnte man einfach das lateinische Vorbild übernehmen? Genügte die Hinzufügung einiger Buchstaben? Oder bedurfte es einer umfassenden neuen Analyse der zu verschriftenden Sprachen in lautlicher Hinsicht? Die Einführung der Schrift in den Volkssprachen bedeutete natürlich nicht nur die Einführung eines neuen Mediums, sondern auch die Veränderung der konzeptionellen Formulierungstechniken. Weiterhin stellten sich auch die bei Einführung von Schriftlichkeit notwendigerweise auftretenden strukturellen Fragen: nach der Wahrheit der Dichter an-

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gesichts konkurrierender Traditionen, nach dem Funktionieren des kulturellen Gedächtnisses, nach der Legitimität mündlicher und schriftlicher Vereinbarungen usw. Es ist wahrscheinlich, daß in all diesen Umbruchsituationen, die ja in den verschiedenen europäischen Ländern nicht gleichzeitig eintreten, eine verstärkte Bereitschaft zur Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit vorhanden war. Weiterhin zwingt uns die Forschung der letzten Jahre dazu, das stereotype Bild des oral geprägten Mittelalters gegenüber der schriftkulturorientierten Renaissance zu revidieren. Es scheint fast das Gegenteil der Fall zu sein: das Mittelalter entwickelt eine dezidiert schriftorientierte Kultur, auf die die Renaissance mit einem Re-Oralisierungsschub zu antworten scheint. Sicher sind beide Arten der Gegenüberstellung zu pauschal; wichtig ist jedoch die neue Erschließung verschiedener Aspekte der Schriftorientierung der mittelalterlichen Kultur. Dazu gehört z. B. der von einer Reihe von Forschern geführte Nachweis (dazu McKitterick 1989) einer wesentlich stärkeren Kontinuität von Spätantike und Frühmittelalter, als sie bisher angenommen wurde, die auch die Kontinuität zwischen Latein und romanischen Volkssprachen (einschließlich der Verschriftungsmodalitäten) einschließt. Andere Untersuchungen weisen einen hohen Grad an Schriftorientierung und die Entwicklung skripturaler Techniken in verschiedenen Phasen und Ländern nach, so im administrativ-juristischen Bereich (Clanchy 1979), im religiösen Bereich (Stock 1983), beim Übergang der mündlichkeitsorientierten Rhetorik zu den schriftorientierten Artes Dictaminis (Koch 1989), in der Entwicklung der scholastischen Buchkultur und den damit einhergehenden technischen Neuerungen (leises Lesen: Saenger 1989, scriptio discontinua: Raible 1991, Techniken der Klassifikation von Wissen und der Visualisierung von Klassifikationen: Raible 1990, Carruthers 1990; Ablösung mnemotechnischer Verfahren durch Techniken der Visualisierung: Carruthers 1990, die sich damit gegen die lange Zeit unangefochtenen Thesen von Yates 1966 wendet). Es ist noch nicht abzusehen, ob diese erst in letzter Zeit beschriebenen schriftorientierten Veränderungen der mittelalterlichen Kultur auch zu einer expliziten Reflexion über Schriftlichkeit geführt haben. Für einen Bereich ist das sicher der Fall, nämlich dort, wo schriftliche Erzähltraditionen in Konkurrenz zur mündlich überlieferten Literatur treten. Es entsteht hier eine Auseinandersetzung, die

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

strukturelle Ähnlichkeiten mit der von Rösler 1980 rekonstruierten Debatte über die Wahrheit der Dichter in der griechischen Antike hatte. Diese Auseinandersetzung findet vor allem im Umkreis der Entstehung der Prosaromane, die die Versepik ablösen, statt (vgl. Schlieben-Lange 1987). Ob es sich dabei nur um verstreute Bemerkungen handelt, oder aber ob die Elemente dieser in Ansätzen nachweisbaren Schriftlichkeitsreflexion systematisch zusammengeführt werden, ist eine Frage, die sich aufgrund der Forschungslage noch nicht abschließend beantworten läßt. Was die Behandlung der Schrift in sprachtheoretischer Hinsicht angeht, so ist zu unterscheiden zwischen drei unterschiedlichen Traditionen: der Schulgrammatik, der philosophischen Grammatik und den ersten Ansätzen von auf die Volkssprachen bezogener Sprachbeschreibung. Die Schulgrammatik erscheint im Mittelalter in zwei Formen, einmal als Tradition der spätantiken Artes von Donat und Priscian in zahlreichen Abschriften und Überarbeitungen, andererseits in Form von Lehrgedichten auf der Basis des antiken grammatischen Wissens, wie etwa des außerordentlich erfolgreichen Doctrinale des Alexander von VillaDei (12 . Jh.). Weder hier noch da finden sich in schrifttheoretischer Hinsicht interessante Neuerungen. Die Definitionen von Donat und Priscian werden in stark vereinfachter und stereotypisierter Form wiederholt. Dies gilt auch für eine Reihe von schulgrammatischen Autoren des 15. Jahrhunderts wie Pastrana, Guarino Veronese und Niccolò Perotti (Jensen 1990; Vogt-Spira 1991). Ganz anders verhält es sich in der grammatica speculativa. In Auseinandersetzung mit Priscian und in Fortsetzung der über Boethius vermittelten Aristoteles-Tradition, später auch unter Heranziehung weiterer Aristoteles-Texte, entsteht eine äußerst scharfsinnige Auseinandersetzung gerade auch mit den überlieferten schrifttheoretischen Konzepten. Da die Erschließung der grammatica speculativa sich bisher vor allem auf die semantischen Überlegungen (die sog. modi significandi ), die Wortartenlehre und die Syntax konzentriert hat, fehlen noch systematische Untersuchungen in dem uns interessierenden Bereich. Maas (1986) weist auf die Behandlung der Schrift bei Abaelardus, Albertus Magnus und Thomas von Aquin hin, Vogt-Spira (1991) auf Hugo von St. Viktor (dazu auch Illich 1991) und Johannes Dacus. Hugo von St. Viktor formuliert die traditionelle Unter-

7.  Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit

scheidung littera — figura/elementum in Termini von Genus und Spezies neu: ... cuius repraesentatio quod scribitur figura est, quod dicitur elementum, littera utrumque (S. 77, 43). Ganz klar trennt Johannes Dacus zwischen Laut und Schrift und schlägt auf dem Hintergrund der aristotelischen hyle-eidos-Unterscheidung weitere Feinunterscheidungen vor: ... quod littera in scripto et littera in pronuntiatione non sunt idem, quia littera in pronuntiatione est pars vocis, sed littera in scripto non est pars vocis (S. 113 f). Die littera in scripto ist viererlei: materia in qua est, materia ex qua est, figura, dispositio (zitiert nach Vogt-Spira 1991, 320). Die dritte Gruppe von mittelalterlichen Sprachbeschreibungen, die auch erst in Ansätzen erschlossen und fast noch überhaupt nicht unter schrifttheoretischen Gesichtspunkten betrachtet worden ist, bilden die Grammatiken der Volkssprachen. Diese stehen teilweise vollständig in der Donat-Tradition, sind teilweise aber auch sehr selbständig (wie etwa die Gruppe der Leys d’AmorsGrammatiken für das Altokzitanische). Erste Ansätze zur schrifttheoretischen Erschließung dieser Texte finden wir bei Günther 1985 (zu Otfried von Weißenburg) und Maas 1986 (zu einer isländischen Grammatik des 12 . Jahrhunderts).

4.

Renaissance

Zwei einschneidende Veränderungen in schriftkultureller Hinsicht charakterisieren den Beginn der Neuzeit: die Erfindung und Ausbreitung des Buchdrucks und die Reformation. Wenn auch, wie wir gesehen haben, die neueste Forschung zeigt, daß bereits durch die „scholastische“ Buchrevolution viele Entwicklungen vorbereitet waren, die man bisher mit dem Buchdruck in Verbindung gebracht hatte, bildet doch die massenhafte Verbreitung von gedruckten Schriftzeugnissen eine einschneidende Neuerung (wobei übrigens der Gesichtspunkt der „Masse“ als Garant von Unvergänglichkeit in der zeitgenössischen Diskussion eine große Rolle spielt). Eisenstein (1979), Maas (1985) und Giesecke (1991, 1992 ) haben umfassend die Dimensionen des durch den Buchdruck induzierten Kulturwandels aufgezeigt. Einige Stichpunkte mögen genügen: Entwicklung der Wissenschaften aufgrund der Entbindung der Techniken aus der Werkstattsituation und des mit der schriftlichen Formulierung einhergehenden Zwangs zur Konzeptualisierung, schnelle Verbreitung

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der Reformation, Demotisierung von Wissen, administrative Praktiken und Rechtsreformen, Unterwerfung von Gedächtnis und Information unter Marktmechanismen, Selbstreflexion der Nationen als Schriftgemeinschaften, Nationalisierung von Wissen, Überlegungen zu Urheberrecht, Zensur und Meinungsfreiheit. Die Reformation ist der zweite Faktor, der das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit tiefgreifend ändert, vor allem insofern sie der in der katholischen Tradition geltenden Gleichberechtigung von mündlicher und schriftlicher Überlieferung ein exklusives sola scriptura entgegensetzt, das natürlich in erster Linie die Bibel als Garant der Offenbarung meint, aber in der Konsequenz eine Marginalisierung und Stigmatisierung mündlicher Überlieferungen ganz allgemein mit sich bringt. Buchdruck und Reformation wirken nicht nur gleichzeitig; beides hängt auch eng zusammen: der Erfolg der Reformation wäre ohne die schnelle Verbreitung durch gedruckte Flugschriften nicht denkbar gewesen. Und schließlich sind beide Bewegungen eng mit der Nationalisierung verbunden (nationale Märkte beim Buchdruck, Bibelübersetzungen, Nationalisierung der Kirchen). Unter dem Eindruck der Reformation und der massenhaften Ausbreitung des Buchdrucks entsteht als Gegenbewegung eine Art Re-Oralisierung, die sich in unterschiedlichen Weisen manifestiert. So kann man zum Beispiel, vor allem in der Gegenreformation, eine — zumindest kurzfristige — Wiederbelebung der fast schon vergessenen ars memorativa feststellen. Diese Versuche zur Rehabilitierung der mündlichen Überlieferung aus anti-reformatorischen Gründen fallen teilweise zusammen mit neuplatonistischen Gedankengängen, die ebenfalls die mündliche Überlieferung und Gewinnung von Wissen, auch durch die Reaktualisierung von dialogischen Formen, fördern. Die Konsequenzen der Schriftlichkeit unter den Bedingungen ihrer massenhaften Reproduzierbarkeit sind Gegenstand intensiver Debatten im 16. Jahrhundert. Giesecke (1991) hat für Deutschland die entsprechenden Texte erschlossen; in anderen europäischen Ländern gibt es diese Debatten natürlich auch, sie sind nur noch nicht unter schriftlichkeitstheoretischen Gesichtspunkten aufgearbeitet worden. Zwei Gesichtspunkte, die Gegenstand des Nachdenkens zu Beginn des 16. Jahrhunderts sind, möchte ich besonders hervorheben: die Überlegungen zur Überlieferung und Generierung von Wissen. Giesecke (1991, 1992 ) hat

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gezeigt, daß die Verfasser von deutschsprachiger Fachprosa in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Brunfels, Bock, Fuchs u. a.) sich zunächst sehr besorgt äußern über den abgang der erkantnuß , d. h. also das Vergessen von Fachwissen, das mit der Drucklegung von Fachprosa-Texten einhergehe, also eine strukturell ähnliche Überlegung, wie sie Plato angesichts der Bedrohung durch die sich durchsetzende Schriftkultur formuliert hatte, wenn hier auch beschränkt auf je eng umgrenzte Wissensgebiete, z. B. das Wissen über Heilpflanzen u. ä. Diese Befürchtung war eng an das Problem der Versprachlichung von Werkstattwissen gebunden, das bis dahin über Verfahren der Ostension vermittelt wurde. Während man also einerseits den Verlust mündlicher Überlieferung beklagte, arbeitete man gleichzeitig an der Entwicklung von Strategien, die die Loslösung des Wissens aus der Werkstatt ermöglichen sollten, z. B. Lehrdialoge, partielle Entsituierung mit dem Angebot, bei Bedarf die beschriebenen Techniken zu zeigen. Ein anderer wichtiger Gesichtspunkt, der gerade im reformatorischen Deutschland explizit diskutiert wurde, war die Demotisierung der Schrift (Maas 1985). Schrift war aufgrund der Möglichkeiten des Buchdrucks nicht mehr einer gebildeten Elite vorbehalten, sondern wurde Allgemeingut. Es ging also darum, durch geeignete Verfahren, d. h. vor allem durch einen adäquaten Erstleseunterricht, die neuen Schichten an Schrift, Schriftlichkeit und ihre Möglichkeiten heranzuführen mit dem Ziel, daß jeder darueber (= reformatorische Diskussionen) selbs lesen und desto bas darin urteilen moege. Diese Bemühungen werden vor allem von reformatorischen Grammatikern wie Valentin Ickelsamer und Fabian Frangk vorangetrieben (Giesecke 1992 ). Dieser Versuch, die Möglichkeiten der Schrift durch Alphabetisierungskampagnen und Erstleseunterricht für breite Bevölkerungsschichten zu erschließen, impliziert natürlich auch eine Orientierung an den Verstehensmöglichkeiten der Zielgruppen, d. h. gerade der Versuch, die Schrift zu verbreiten, ist notwendigerweise begleitet von der Orientierung an mündlichen Modellen. Diese Orientierung am mündlichen Sprachgebrauch leitet im übrigen auch die schriftstellerische Tätigkeit der Reformatoren. Man denke nur an Luthers Erläuterung seiner Übersetzungspraxis im S endbrief vom Dolmetschen, wo es heißt, man müsse dem Volk aufs Maul schauen. So ist es sicher auch kein Zufall, wenn wir in dieser Zeit, nämlich bei Valdés,

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

auch die erste Formulierung der Maxime „Schreibe, wie du sprichst“ finden (Gauger 1986). Wie wirken sich nun die oben skizzierten Bedingungen (Buchdruck und Reformation mit der damit einhergehenden Aufwertung und Festlegung der Volkssprachen, Demotisierung der Schrift, Nationalisierung, Vermarktung) auf die Schrifttheorie im engeren Sinne aus? Die schnelle Durchsetzung des Buchdrucks machte eine umfassende Normierung der Volkssprachen, vor allem ihrer Orthographie, notwendig, und zwar in einer sehr rigiden Weise, da es ja um die technologische Notwendigkeit der Herstellung von Lettern und der Instruktion von Druckern ging. Vom Erfolg der möglichst eindeutigen Durchführung der notwendigen Festlegung hing schließlich auch die Konkurrenzfähigkeit der Druckunternehmen ab. Der Zusammenhang zwischen Sprachnormierung und Buchdruck ist in vielen Fällen sehr eindeutig: so waren Geoffroy Tory, der Verfasser des ersten Renaissance-Traktats über das Französische (152 9, vgl. Settekorn 1979) und die verschiedenen Mitglieder der Familie Estienne in Frankreich selbst Drucker; Aldo Manuzio, der große venezianische Drucker, war Ratgeber von Bembo; die von Giesecke (1992 ) analysierte Orthotypographia (1608) des Hieronymus Holzschuch verdichtet diesen Zusammenhang im Titel. Auch in anderen Fällen wird man solche Kontakte vermuten können, z. B. bei Fernão de Oliveira, dem Verfasser der ältesten portugiesischen „Grammatik“ (1536, dazu Schlieben-Lange 1994). Ganz gleich wie eng man im Einzelfall die Zusammenarbeit von Druckern und Grammatikern zu denken hat, die Fixierung der Lettern macht eine umfassende Re-Analyse des Grapheminventars der jeweiligen Sprache notwendig. Dabei sind besonders eindeutige und besonders ökonomische Lösungen vorzuziehen, die sich dann ergeben, wenn sie auf einer genauen phonologischen Analyse beruhen. So kann man tatsächlich feststellen (Giesecke 1992 , 302 ff), daß im Laufe von drei Generationen die Zahl der Lettern drastisch reduziert wird, alle Ligaturen und Abkürzungen verschwinden, übrig bleiben die Lettern, die Phoneme repräsentieren; d. h. daß sich in relativ kurzer Zeit das phonographische Prinzip gegenüber konkurrierenden (logographischen oder syllabographischen) durchsetzt. Sowohl in konzeptioneller („dem Volk aufs Maul schauen“) als auch in medialer Hinsicht orientieren sich also die Schriftsteller und die

7.  Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit

Grammatiker/Drucker des 16. Jahrhunderts am mündlichen Sprachgebrauch. Neben den praktischen Überlegungen (Verständlichkeit für neu alphabetisierte Sozialschichten; Vereinfachung der Drucktechnik) spielt dafür sicher auch die anti-scholastische Orientierung an der Natur, wie sie der Humanismus propagiert, eine Rolle. Paradoxerweise hat also die massenhafte Verbreitung von Schrift gerade eine Orientierung des Schreibens und der Schrift an der mündlichen Rede und am Laut zur Folge und damit auch eine Nachordnung der Schrift gegenüber dem Laut. Erst jetzt setzt sich eine eindeutig phonographische Interpretation der aristotelischen Schriftauffassung durch (Maas 1986, 2 64). Sehr deutlich ist dies zum Beispiel bei Antonio de Nebrija, der sich in der Gramática de la lengua castellana (1492 ) und den Reglas de orthographia en la lengua castellana (1517), übrigens auch in seinen von den Zeitgenossen wesentlich mehr beachteten lateinischen Schriften, auf die einschlägigen Stellen bei Aristoteles und Quintilian bezieht und diese eindeutig phonographisch interpretiert (zur Terminologie und den antiken Quellen Quilis 1977 und Tollis 1971). Jede Sprache muß gesondert phonologisch analysiert werden (das Kastilische anders als das Lateinische oder das Arabische), und jedem in der betreffenden Sprache identifizierten Laut ( boz, pronunciación, fuerça ) wird eine Graphie ( letra, figura ) zugeordnet und zwar nach dem obersten Prinzip: ... assí tenemos de escrivir como pronunciamos, & pronunciar como escrivimos (Gramática, Kap. I, 10). Ähnliche Prinzipien befolgen auch viele andere Orthographen und Grammatiker des 16. und 17. Jahrhunderts, in Spanien in der Nachfolge Nebrijas Villalón, Alemán, Jiménez Patón, Correas, in Portugal Fernão de Oliveira. In Frankreich löst Louis Meigret mit seinem Vorschlag einer phonologischen Orthographie für das Französische eine umfangreiche Debatte (1532 —1550) über Vor- und Nachteile einer etymologisierenden Orthographie aus (vgl. Hausmann 1980), in der wichtige schrifttheoretische Argumente ausgetauscht werden (Durchsichtigkeit der Derivationen, Unterscheidung von Homonymen). Während die volkssprachlichen Grammatiker in der skizzierten Weise die Schrift phonographisch interpretieren und aufgrund phonologischer Analysen normieren, verhalten sich die Grammatiker des Lateinischen zwar auch zu den Rahmenbedingungen des 16. Jahrhunderts, jedoch in anderer Weise.

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Julius Caesar Scaliger versucht unter Rückgriff auf die griechisch-römische Tradition vor Donat und Priscian in seinen De causis linguae latinae libri tredecim (1540) den Begriff littera enger mit dem geschriebenen Buchstaben zu verknüpfen und klar von der lautlichen Realisierung zu trennen. Daraus folgt eine klare Trennung von Schrift und Laut (vgl. Jensen 1990; Vogt-Spira 1991, 312 ). Übrigens folgen ihm hier auch volkssprachliche Grammatiker, vor allem des 17. Jahrhunderts, z. B. Buommattei, der auch von der Selbständigkeit von Laut und Schrift ausgeht (vgl. Brekle 1980). Scaligers Auffassung trägt in gewisser Hinsicht der kulturellen Entwicklung des Spätmittelalters (Techniken des leisen Lesens, scriptio discontinua ) besser Rechnung als die volkssprachlichen Grammatiker, die sich von den technologischen und sozialen Notwendigkeiten leiten lassen. Ganz anders wieder Sanctius, der in seiner Minerva explizit die Behandlung der Schrift ablehnt; diese gehöre zum Diskurs, nicht zur Grammatik. Möglicherweise hat diese völlige Ausblendung der Schriftproblematik auch etwas mit Sanctius neuplatonischer Orientierung zu tun.

5.

Das 17. Jahrhundert

Viele schrifttheoretische Äußerungen des 17. Jahrhunderts sind als unmittelbare Fortsetzung der Bemühungen des 16. Jahrhunderts zu verstehen (einige Autoren sind auch schon im Zusammenhang des 16. Jahrhunderts genannt worden). Vorherrschend ist dabei weiterhin die phonographische Orientierung, häufig unter Berufung auf ihre Naturgemäßheit. Andererseits gibt es aber auch eine Reihe von Grammatikern, die die Grenzen der phonographischen Orientierung erkennen und die Selbständigkeit der beiden Modalitäten betonen. Von Buommattei war oben schon die Rede; auf deutscher Seite müßte in diesem Zusammenhang Schottel genannt werden (vgl. Maas 1986, 2 73 f; Müller 1990, 30 ff). Wahrscheinlich ist es kein Zufall, daß gerade italienische und deutsche Autoren eine der Grenzen der rein phonographischen Schrift in der diatopischen Vielfalt ihrer jeweiligen Sprachen sehen. Auch die Stildiskussionen orientieren sich weiterhin vielfach am Ideal einer mündlichkeitsnahen Art der Verschriftung. Besonders aufschlußreich in dieser Hinsicht ist die Diskussion um den plain style als Stilideal im englischen 17. Jahrhundert (Hüllen 1990).

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Andererseits entsteht aber im 17. Jahrhundert ein ganz neues Interesse an der Schrift. In gewisser Hinsicht kann vieles im 17. Jahrhundert als Wiederaufnahme mittelalterlicher Traditionen interpretiert werden, und meist geschieht dies von einer aufklärerischen Position her: in dieser Perspektive erscheint dann das 17. Jahrhundert als Verzögerung der Durchsetzung humanistischer Positionen, die erst im 18. Jahrhundert greifen werden. Aus einer schriftgeschichtlichen Perspektive scheint aber das 16. Jahrhundert mit seiner (unter den unterschiedlichsten Bedingungen entstandenen) Mündlichkeitsorientierung die Entfaltung der Visualisierung von Wissen und der Autonomisierung der schriftspezifischen Möglichkeiten, wie sie die „scholastische Buchrevolution“ angelegt hatte, behindert zu haben. Hier knüpfen die Wissenschaftler und Dichter des 17. Jahrhunderts an und entwikkeln einen ausgeprägten Sinn für die Möglichkeiten visueller Medien. Ich erinnere nur an die entfalteten Taxonomien und ihre Visualisierung in den Wissenschaften (vgl. Raible 1991) und an die Nutzung der linearholistischen Doppelkodierung geschriebener Texte in der Barocklyrik. Wenn hier die Epochen in dieser umfassenden Weise charakterisiert werden, so darf das natürlich nicht den Blick dafür verstellen, daß die unterschiedlichen Orientierungen, die dann in einer bestimmten Epoche als dominant erscheinen, häufig auch an unterschiedliche Gruppen und Finalisierungen gebunden sind (z. B. Volksbildung vs. Wissenschaft), häufig sogar innerhalb derselben Gruppe eine komplexe Mischung eingehen (z. B. plain style und Entwicklung von lautunabhängigen Visualisierungstechniken). Das neue Interesse an der Schrift als eigenständigem Medium, das nicht vollständig in der isomorphen Abbildung der Lautsprache aufgeht, wird weiterhin dadurch genährt, daß andere Schriftsysteme als die Alphabetschrift in den Horizont der Gebildeten des 17. Jahrhunderts treten. Dies geschieht einerseits durch Reiseberichte; so ist der Bericht Acostas über Mexiko (1590) eine im 17. und 18. Jahrhundert vielzitierte Quelle der Kenntnis der aztekischen Bilderschrift. Andererseits entsteht auch ein neues historisches Interesse: besonders die Hieroglyphen (Athanasius Kircher), deren Kenntnis ja nie ganz erloschen war, beschäftigen die Gelehrten des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts (David 1965). Auf diesem Hintergrund, einerseits der

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Nutzung der gegenüber der Linearität gesprochener Sprache autonomen Möglichkeiten der Visualisierung und andererseits der Erweiterung des Schrift-Horizonts, entsteht ein vielfach und explizit artikuliertes Interesse an Schrift, losgelöst von der Lautsprache. Es manifestiert sich vor allem in den zahlreichen Vorschlägen zur Entwicklung einer universellen Wissenschaftssprache auf visueller Basis, der gar kein direktes lautliches Substrat entspricht. Besonders interessant unter schrifttheoretischen Gesichtspunkten ist der Mercury: or the secret and swift messenger (1641) von John Wilkins (dazu Asbach-Schnitker 1984), ein Traktat über Schrift im Zusammenhang anderer semiotischer Systeme, besonders über Geheimschriften. George Dalgarno macht in seiner Ars S ignorum (1661) ausdrücklich den Unterschied zwischen den S igna S ignorum, id est sonorum einerseits und den Bildschriften, die Zeichen rerum ipsarum & mentis conceptuum sind. Der Gebrauch von Tönen und Figuren ist dem Menschen gleichermaßen natürlich ( naturale ) und kann gleichermaßen Gegenstand von Vereinbarung ( ad placitum ) werden; Annahmen über die Priorität des Lautlichen seien abzulehnen. Auch die anderen Entwürfe für Universalsprachen (vgl. Couturat-Léau 1907) müßten unter schrifttheoretischen Gesichtspunkten untersucht werden (Kircher, Comenius, Leibniz). Diese Abkopplung der Schrift von der Lautsprache wird vorangetrieben durch die Entwicklung der Mathematik und der Naturwissenschaften, die sich gerade auch unter Nutzung visueller Symbole schnell entwickeln und verselbständigen. Die Entwicklung einer Universalsprache ohne einzelsprachliches lautliches Substrat scheint auch wünschenswert unter dem Gesichtspunkt der Ablösung des obsolet gewordenen Latein als Wissenschaftssprache ohne gleichzeitige Schaffung einer modernen Sprach-Hegemonie. In dieser Perspektive erscheint die Schrift als ein semiotisches System, das anderen Gesetzmäßigkeiten folgt als die Lautsprache. Die Wissenschaftssystematiken des 17. Jahrhunderts, die immer ausgeprägtere semiotische Überlegungen enthalten, weisen der Schrift einen ausgezeichneten Platz zu. So ist das 6. Buch des Novum Organum von Francis Bacon, das ja häufig als Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft gewürdigt wird, der Ars Tradendi gewidmet, wobei explizit zwischen locutio und scriptio unterschieden und der Darstellung der unterschiedlichen Arten von

7.  Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit

Schrift viel Raum gewidmet wird (vgl. Maas 1986, 2 76 f). In Leibniz Schriften spielen Überlegungen zur symbolischen Fundierung der Wissenschaften eine große Rolle, in systematischer und entfalteter Form dann vor allem auch im 18. Jahrhundert bei Christian Wolff, hier besonders in der Psychologia Empirica (1732 ). Die Wissenschaftssystematiken und Semiotiken des 17. und frühen 18. Jahrhunderts (z. B. Izquierdo, Costadau) sind insgesamt kaum erschlossen; hier ist sicher in schrifttheoretischer Hinsicht noch mancher Fund zu erwarten. Im 17. Jahrhundert entsteht auch wieder eine Art der Sprachbetrachtung, die sich als übereinzelsprachlich versteht so wie die Grammatica speculativa im Mittelalter (die Diskussion darüber, ob hier Beziehungen bestehen, hält an), nämlich die Grammaire générale et raisonnée (1661) von Port-Royal. Die traditionelle Unterteilung der Grammatik in einen lautlich-orthographischen und einen grammatischen Teil wird beibehalten, allerdings in kartesianischer Weise re-interpretiert als Behandlung des materiellen bzw. ideellen Aspekts von Sprache. Im ersten Teil, der sich mit den Materialitäten ( Des signes ) beschäftigt, gehen die Autoren sehr selbständig mit der littera-Tradition um und erkennen den beiden Modalitäten durchaus eine gewisse Eigengesetzlichkeit zu (dazu Maas 1986, 2 73). Sie verwenden damit (wie auch Dalgarno) eine Unterscheidung, die für das 18. Jahrhundert sehr folgenreich werden sollte, nämlich die zwischen signes des sons und signes des idées. Damit tragen sie der Entdeckung und Diskussion unterschiedlicher Schriftsysteme im 17. Jahrhundert Rechnung, legen aber auch gleichzeitig — wohl unter Rückbezug auf Augustinus — die Grundlagen für eine differenzierte Semiotik der Schrift.

6.

Das 18. Jahrhundert

Das 18. Jahrhundert ist das Jahrhundert der intensiven Schriftreflexion par excellence. Diese Schriftreflexion entfaltet sich auf dem Hintergrund der endgültigen Durchsetzung einer umfassenden Schriftkultur (Verlage, Bibliotheken, Periodica, soziale Orte, an denen Lektüre einen zentralen Stellenwert hat: Café, Cabinet de lecture , Lesegesellschaften usw., Autor, unveränderlicher Text, Copyright), der gegenüber oral strukturierte Bereiche und Traditionen als marginal und anachronistisch erscheinen. Die intensive Lektüre einiger weniger Texte macht der extensiven Lektüre vie-

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ler Texte Platz. Freilich gilt es auch hier wieder Unterschiede zu beachten: so fragt z. B. Chartier (1985), ob es in Frankreich überhaupt die intensive Lektüre, die Engelsing für Deutschland beschreibt, in gleicher Weise gegeben hat, da in Frankreich der für diese Art der Lektüre konstitutive protestantisch-pietistische Hintergrund weithin fehle. Weiterhin muß einschränkend gesagt werden, daß zumindest in Frankreich die Schriftorientierung relativiert wird durch die dialogischen Formen der aufklärerischen Soziabilität (Salons, Akademien, sociétés savantes ). Häufig entstehen auch sehr komplexe Mischformen: so wird man sicher annehmen müssen, daß die aufgeklärte Kommunikation in Deutschland, aufgrund der Zersplitterung und des Fehlens einer Metropole, sehr viel stärker schriftorientiert war als in Frankreich: trotzdem wird hier, und zwar gerade im bewußten Gegenzug zu Frankreich mit seiner aristokratisch geprägten Schriftkultur, die Maxime „Schreib, wie du sprichst“ (z. B. bei Gottsched und Adelung, dazu Müller 1990) hochgehalten. Trotz all dieser Unterschiede und Verwerfungen im einzelnen ist aber die Charakterisierung des 18. Jahrhunderts als Jahrhunderts der Schriftkultur vertretbar, insbesondere aufgrund der engen Verbindung von Aufklärung und Schriftkultur. Die Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, die sich als Emanzipation aus theologischer und absolutistischer Bevormundung konkretisiert, erscheint als untrennbar verbunden mit dem ungehinderten Zugang zu aufklärerischen Texten. Das große Projekt der Encyclopédie ist auf diesem Hintergrund zu verstehen. Aufklärung ist auch vor allem Kampf gegen die Instanzen, die diesen Zugang versperren: Zensur und Privilegienwirtschaft. Die Herausbildung einer opinion publique als Basis der politischen Freiheit geschieht über die Schrift und wird auch schriftvermittelt gedacht. Die Schriftreflexion wird weiterhin, wie schon im 17. Jahrhundert, angeregt durch die Diskussion anderer als alphabetischer Schriften. Besondere Bedeutung kommt hier William Warburtons Ausführungen zu den Hieroglyphen, die zuerst im Rahmen einer theologischen Untersuchung (1738—41) auf Englisch erschienen sind, dann aber in der Übersetzung von Léonard de Malpeines unter dem Titel Essai sur les hiéroglyphes des Egyptiens (1744) traditionsbildend geworden sind. Dieser Übersetzung fügt de Malpeines (unter Bezugnahme auf Frérets Arbeiten zur chinesi-

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schen Schrift (1718/1733) übrigens noch eigene Remarques sur la première écriture des Chinois an (vgl. die Ausgabe von 1977 mit Kommentaren von Derrida und Tort). Warburton entwirft eine Systematik der Schriftsysteme, auf die während des ganzen 18. Jahrhunderts immer wieder Bezug genommen wird (vgl. Condillac, Rousseau, Encyclopédie): Auf die peinture der Mexikaner (unter Verweis auf die Beschreibung Acostas von 1590) folgen die Hieroglyphen, die peinture und caractère gleichzeitig sind, die chinesische Schrift, die die idées direkt symbolisiert, und schließlich die Alphabetschrift. Er betont die Nähe von Gesten ( langage d’action ) und peinture. Die Alphabetschrift habe sich direkt aus den Hieroglyphen entwickelt, wobei die Argumentation bemerkenswerterweise an einer wörtlichen Interpretation des antiken Begriffs des stoicheion festmacht. Auf dem Hintergrund der Erprobung der Möglichkeiten taxonomischer Visualisierungen und der Reichweite von lautunabhängigen Wissenschaftssprachen sowie des Anwachsens der Kenntnisse über nicht-alphabetische Schriftsysteme entwickelt nun die Schriftreflexion des 18. Jahrhunderts ihre Dynamik. Diese entsteht vor allem dadurch, daß sie integriert wird in genetische Theorien sensualistischer Prägung. Ein Hauptschauplatz der Aufklärungsdiskussionen ist die Sprachursprungsfrage (vgl. Gessinger & von Rahden 1986), da hier den Offenbarungsreligionen die Zuständigkeit auf ihrem ureigensten Terrain streitig gemacht wurde, nämlich eben die Ursprungsfragen betreffend (übrigens auch induziert durch die Entwicklung der Geologie). In diesem Diskussionszusammenhang entwikkelte Condillac z. B. im Essai sur l’origine des connaissances humaines (1746) eine genetische Theorie der Selbstkonstruktion des Menschengeschlechts, wobei die verschiedenen Zeichensysteme eine zentrale Rolle bei der Ermöglichung höherrangiger intellektueller Operationen spielen. Der Schrift als eindeutig von Menschen geschaffenem Zeichensystem kommt hierbei ein Teil der Beweislast zu: Wenn sie von den Menschen geschaffen ist, so ist das auch für die Lautsprache, die ihrerzeit wieder eine Weiterentwicklung der Gestensprache war, denkbar. Die Entwicklung der verschiedenen Schriftsysteme, deren Charakterisierung Condillac von Warburton übernimmt, wird nun ebenfalls in eine genetische Reihe gebracht: von der peinture , die direkt mit dem langage d’action verbunden ist, zu einer immer größeren Klarheit, die mit

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

einer Emanzipation von bildlichen Elementen Hand in Hand geht und in der Alphabetschrift ihren Höhepunkt erreicht. Diese Art der Schriftreflexion ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beherrschend. Sie kulminiert in und nach der Französischen Revolution im Umkreis der sog. Idéologues , die die Condillacsche sensualistische Theorie ausbauen. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang Condorcets Esquisse d’un tableau historique du progrès de l’esprit humain (1793), eine Menschheitsgeschichte, die vor allem eine Geschichte der Fortschritte der Schriftkultur und der dadurch ermöglichten Fortschritte von Wissenschaft und Freiheit ist, und das 5. Kapitel des 2 . Bands der Elémens d’Idéologie (1803) von Destutt de Tracy, in dem die Alphabetschrift als Schrift, die dem Laut folgt ( signes des signes ), als entscheidende Errungenschaft der Menschheitsgeschichte gefeiert wird. Dieses Schriftlob ist also eng an die Unterordnung unter den Laut gebunden, wie überhaupt das phonographische Prinzip in der Französischen Revolution, z. B. bei Domergue gegen das etymologische Prinzip als Rest des Ancien Régime stark gemacht wird. Dabei kommt der leichten Erlernbarkeit als Argument der Breitenaufklärung besonderes Gewicht zu. Die Völker, die nicht zur Alphabetschrift übergehen, schnitten sich damit selbst jede Möglichkeit zum Fortschritt ab. Die Alphabetschrift macht auch eine lautunabhängige Universalsprache überflüssig (so gegen die in der Französischen Revolution wieder auftretenden Vorschläge für Pasigraphien z. B. von de Maimieux, Hourwitz und Grotefend); sie i st das Universelle im jeweils Besonderen der Einzelsprache (dazu Labarrière 1986, Schlieben-Lange 1986, dort auch zu weiteren Idéologues wie Volney, Degérando, Lancelin; Trabant 1994). Die Condillacsche Tradition, in der die Alphabetschrift vorläufiges Ende und Gipfelpunkt der Genese des Menschengeschlechts darstellt, ist im 18. Jahrhundert in Frankreich beherrschend. Vergleichbare Ansätze in anderen europäischen Ländern sind unter Schriftgesichtspunkten noch kaum untersucht. Hier wäre auf jeden Fall an Johann Nicolaus Tetens, vor allem an Über den Ursprung der S prachen und der S chrift (1772 ) zu denken. Es gibt aber durchaus auch andere Arten der genetischen Rekonstruktion. Hier ist zunächst einmal an diejenigen Autoren zu denken, für die die Schrift älter als die Lautsprache und aufgrund der direkten Abbildungs-

7.  Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit

beziehung zu den Dingen auch „natürlicher“ ist. Auroux (1983) nennt als Vertreter einer solchen kratylischen Sprach- und Schriftauffassung de Brosses und Court de Gébelin (übrigens wäre durchaus auch Condillac teilweise so zu lesen). Ob hier ein direkter Rückgriff auf Plato vorliegt und wie diese auch im platonischen Rahmen neue Zuordnung Schrift — Natur argumentativ vertreten wird, wäre noch im Detail zu untersuchen. Vor allem aber wäre natürlich in diesem Zusammenhang an Vico zu denken (Trabant 1987). Andere Autoren unterscheiden sich zwar nicht hinsichtlich der genetischen Abfolge, dafür aber um so radikaler in der Wertung von Lautsprache und Schrift. Hier ist besonders an Rousseaus Essai sur l’origine des langues (verfaßt um 1750/1781) zu denken, der ja von Derrida zum Kronzeugen des europäischen Phonozentrismus erhoben wird. Er verwendet dieselben (von Warburton übernommenen) Elemente wie Condillac, kommt aber zu einer gänzlich anderen Einschätzung: die Schrift, die doch die Lautsprache nur fixieren sollte, verändert sie vollständig. Diese Charakterisierung der Wirkung von Schrift impliziert eine sehr klare und zu dieser Zeit neue Einschätzung der konzeptuellen Unterschiede der beiden Medien. Die Schrift ist in Rousseaus Denken der Sündenfall der Sprache (ähnlich dem Eigentum in sozialer Hinsicht). Auch für Herder, der in seiner Abhandlung über den Ursprung der S prache (1772 ) das Ursprungsproblem als anthropologische Frage umformuliert und der in dieser neuen anthropologischen Perspektive sehr ausführlich das Ohr als den eigentlich menschlichen „mittleren“ Sinn charakterisiert, ist die Schrift der Lautsprache eindeutig nachgeordnet, sie ist ihr gegenüber sogar defizitär, die Buchstaben nichts als „Schatten“ der Laute. Die genetischen Rekonstruktionen des 18. Jahrhunderts sind untrennbar verknüpft mit einem semiotischen Begriffsinstrumentarium, das im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert sowohl in rationalistischen als auch in empiristischen Zusammenhängen entwickelt worden war (vgl. oben). Die Schrift und ihre Funktion wird gefaßt in Begriffen von facultés, sens, idées usw. Besonders der Zusammenhang mit der Leibniz-Wolffschen Tradition (z. B. Lamberts Ausführungen im zweiten Teil des Neuen Organon , der Semiotik von 1764) harrt hier noch der Aufarbeitung. Das gleiche gilt für die Zusammenhänge von Schriftdiskussion und ästhetischer Diskussion. Die Charakterisierung der Schrift und

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verschiedener Schrifttypen verweist auf die Bestimmung der Spezifizität der verschiedenen Künste (Dubos, Mercier, Lessing u. a.). Der Zusammenhang ist besonders deutlich dort, wo von Malerei/peinture und Bild/image die Rede ist. Ein weiterer Gesichtspunkt bei der Bearbeitung der Schrifttheorien des 18. Jahrhunderts, der der systematischen Bearbeitung bedürfte, ist die Funktionalisierung des aufklärerischen Kernbegriffs der „Natur“. Die meisten Schrifttheoretiker nehmen darauf Bezug, jedoch in sehr unterschiedlicher Weise: für diejenigen, die von der Gleichursprünglichkeit oder gar Priorität der Schrift ausgehen, ist diese gerade aufgrund ihrer malerischen Qualitäten und der unvermittelten Abbildung der Natur näher als die Lautsprache; für Rousseau ist die Lautsprache die Sprache der Natur, von der sie die Schrift entfernt; für die Orthographietheoretiker der Französischen Revolution muß das Prinzip der Orthographie in der Natur aufzufinden sein, und zwar in den Lauten, die eine rein phonographische Wiedergabe erfordern. Neben dieser zentralen semiotisch-genetischen Schriftdiskussion finden wir im 18. Jahrhundert auch umfangreiche Diskussionen über die verschiedensten Aspekte der Schriftkultur und der Konsequenzen von Schrift. So interessiert man sich für die unterschiedlichen Formen des Lesens (z. B. im Artikel Lecture der Encyclopédie ). Besonders Rousseau wendet sich gegen die „extensive Lektüre“ (Terminus von Engelsing), d. h. die oberflächliche Lektüre vieler Texte und versucht dagegen die intime gemeinschaftliche und tiefempfundene Lektüre weniger Texte stark zu machen (Darnton 1985, Schlieben-Lange 1991). Besonders wird immer wieder die Bedeutung der Schrift für das Gedächtnis ( mémoire ) hervorgehoben. Dies geschieht vor allem im Umkreis der genetischen Rekonstruktionen. Besonders die sensualistischen Theoretiker gehen ja davon aus, daß höherrangige kognitive Fähigkeiten nicht ohne Zeichenvermittlung gedacht werden können. Dies betrifft vor allem die mémoire , und hier ist selbstverständlich die Schrift noch bedeutsamer als die Lautsprache. So wird in der Systematik der Encyclopédie und der Encyclopédie S ystématique (hier sogar noch ausgeprägter) die Schrift dem Gedächtnis zugeordnet. Ein weiterer hervorstechender Zug der Reflexion über Schriftkultur ist die Engführung von Schrift und Aufklärung, wie sie sich besonders in der Apotheose des Buchdrucks

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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(z. B. bei Condorcet) verdichtet. Alphabetschrift und Buchdruck sind die Voraussetzungen für Breitenaufklärung. Die im 16. Jahrhundert begonnene „Demotisierung“ (Maas 1985) von Schrift wird hier weitergeführt und zum Gegenstand expliziter Reflexion gemacht. Besonders bemerkenswert ist die Diskussion der Schrift als Voraussetzung für geschichtliches Bewußtsein und für Historiographie, wie sie vor allem von Volney (nach dem im 19. Jahrhundert der Prix Volney für das beste internationale Schriftsystem benannt ist) in seinen Leçons d’histoire (1795) geführt wird. In dieser Perspektive erweist sich die Schrift als einzig zuverlässige Voraussetzung (im Gegensatz zu Polymorphie und Veränderlichkeit der mündlichen Überlieferung) der histoire positive , also der empirischen Geschichtswissenschaft, die der konjekturalen Geschichte der genetischen Rekonstruktionen gegenübergestellt wird (ähnlich auch schon bei Condorcet).

7.

Das 19. Jahrhundert

Das 19. Jahrhundert ist unter schrifttheoretischen Gesichtspunkten, wenn man von einigen allerdings herausragenden Autoren absieht, recht unergiebig. Das betrifft vor allem die main stream-Sprachwissenschaft, die zwar mit der jahrtausendealten Zuordnung von Laut und Schriftzeichen unter einem Überbegriff ( littera, lettre, Buchstabe ) definitiv abschließt (so finden wir bei Jacob Grimm in der ersten Auflage der Deutschen Grammatik (1818) noch den Überbegriff „Buchstabe“, der beides umschließt; zwar wird dies in den späteren Auflagen verändert), jedoch keine neue Schriftreflexion dagegensetzt. Diese Abstinenz in schrifttheoretischer Hinsicht ist zu verstehen auf dem Hintergrund einer selbstverständlichen und vollständig durchgesetzten Schriftkultur, die nicht mehr verteidigt werden muß. In dieser Situation erfolgt die romantische Rückwendung auf die mündlichen Traditionen, die interessanter als die herrschende Schriftkultur erscheinen. Hinzu kommt, daß in Deutschland, wo die neue Form der Sprachwissenschaft entsteht, die Orientierung am mündlichen Sprachgebrauch — im Gegenzug zur etymologischen Orientierung des Französischen (vgl. Müller 1990) und kompensatorisch zur faktischen Verwiesenheit auf Schrift aufgrund des Fehlens einer Metropole — eine lange Tradition hat.

Eindeutig zugunsten der Priorität der Lautsprache äußert sich Hegel (wie vor ihm schon Herder; zu Hegel Knoop 1983, Maas 1986, 2 75 und Trabant 1990), an einigen Stellen der Enzyklopädie der Wissenschaften , weshalb ihn denn auch Derridas Phonozentrismus-Kritik trifft. Dabei benutzt er durchaus die schrifttheoretischen Topoi des 18. Jahrhunderts, wenn er von der Alphabetschrift, Zeichen der Zeichen , als der „an und für sich intelligenteren“ Schrift spricht und die Gedächtnisleistung der Schrift hervorhebt. Andere Autoren, die ebenfalls in der Sprachreflexion der Aufklärung verwurzelt sind und doch zu schriftkritischen Schlußfolgerungen kommen, sind Jochmann und Schlabrendorf (vgl. Müller 1990, 116). Ganz in der Tradition der Aufklärung steht dagegen A. F. Bernhardi mit seiner positiven Bewertung der Schrift als eines höherrangigen Fluchtpunkts der Sprachentwicklung in seiner Sprachlehre (1801). Besonders bemerkenswert (und in einem gewissen Umfang auch traditionsbildend) sind Wilhelm von Humboldts Überlegungen zur Schrift, vor allem in der Akademie-Rede Über die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem S prachbau (182 4) (dazu Maas 1986, Stetter 1989, Trabant 1986/1990 und 1988/1990). In dieser Rede unterscheidet Humboldt wie die Autoren der Aufklärung drei Schrifttypen; die Alphabetschrift sei der Sprache am angemessensten, weil sie am besten das „Theilungsgeschäft der Sprache“ erledige, insofern sie die Artikulation als zweite Gliederung der Sprache direkt erfasse. Dies ist natürlich besonders bedeutsam in den flektierenden Sprachen, in denen Grammatik und Laut am engsten miteinander verbunden sind. Insofern ist also erst in der Schrift die Arbeit des Sprachsinns vollendet. Trabant 1986/1990 betont, daß Humboldts Äußerungen zur Schrift im Zusammenhang der Humboldtschen Anthropologie gesehen werden müssen, deren Zentrum das Individuum ist, wobei eben die Individuierung durch Schrift erst ermöglicht werde. „Wenn Humboldt die Schrift so mit der Sprache verschränkt, daß erst sie die Arbeit des Sprachsinns vollendet, so ist — man ist versucht zu sagen: Herder und Kant vermittelnd — im Grunde zu Beginn des 19. Jahrhunderts der neue Phonozentrismus schon überwunden.“ (Trabant 1990, 2 16). Humboldt vermittelt also aufklärerische Schrifttheoreme mit der Auseinandersetzung mit den phonozentrischen Positionen seiner Zeit und schafft eine neue Schrifttheorie, die

7.  Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit

ihre besondere Qualität daraus bezieht, daß sie Teil einer umfassenden Sprachtheorie ist. Dadurch unterscheidet sie sich auch von der Schrifttheorie der Idéologues , die noch nicht durch die Auseinandersetzung mit phonozentrischen Positionen hindurchgegangen ist und auch nicht integraler Bestandteil einer Sprachtheorie ist (Trabant 1994). Trabant (1990, 195) weist darauf hin, daß Humboldts Beschäftigung mit dem Schriftthema vor allem auch durch die Auseinandersetzung mit Champollions Hieroglyphen-Entzifferung ausgelöst worden sei. Die Verbindungen zwischen Schriftkenntnissen und Schrifttheorien müßten systematisch aufgearbeitet werden (vgl. oben zu Fréret). In der Humboldt-Tradition, die aber im 19. Jahrhundert gerade nicht die dominierende Richtung der Sprachwissenschaft ist, bleibt das Interesse an der Schrift bestehen. Das gilt sowohl für Heymann Steinthal als auch für Georg von der Gabelentz. Dieser behandelt in Die S prachwissenschaft (1890) im Kap. 18 „Sprache und Schrift“. Drei Triebfedern für die Schrifterfindung führt er an: den „Trieb zu bildnerischem Schaffen“, das Verlangen nach Verewigung und das Bedürfnis, ein Hilfsmittel gegen die Vergeßlichkeit zu schaffen. Von reinen Bildersystemen unterscheidet sich die Schrift durch ihre „Lesbarkeit“, d. h. dadurch, daß Schrift nur sinnvoll in Hinsicht auf eine Sprache interpretiert werden kann. Die orthographische Festigung führt im Laufe der Geschichte einer Einzelsprache zur Auseinanderentwicklung von Lautsprache und Schrift, womit sich aber die Mitglieder der Sprachgemeinschaft in der Regel gut zurechtfinden. Die Vorteile der relativen Selbständigkeit der Schrift sind die Verbindlichkeit eines Schriftsystems für verschiedene Dialekte und die Gewährleistung historischer Kontinuität. Auch andere Autoren des 19. Jahrhunderts wie z. B. Whitney erkennen der Schrift relative Selbständigkeit zu. In der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft ist dagegen die Schriftreflexion sehr schwach ausgeprägt. Das Bekenntnis zur Priorität des Lautlichen wird expliziter Programmpunkt bei den Junggrammatikern, die gegenüber ihren Vorgängern vor allem die Untersuchung moderner Sprachen vorantreiben. Man muß allerdings sehen, daß Hermann Paul, der führende Junggrammatiker, in seinen Prinzipien der S prachgeschichte (1889) dem Zusammenhang von S prache und Schrift ein sehr differenziertes Kapitel widmet: zwar sei die Schrift gegenüber der Laut-

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sprache prinzipiell und noch mehr in der Ausführung defizitär; andererseits ermöglicht aber gerade dieses Fehlen von Deckungsgleichheit geographische und historische Kontinuität. Die Leistungen der Schrift werden also gerade durch ihre Defizienzen ermöglicht. Bei den Junggrammatikern und noch mehr dann in der Sprachgeographie kehrt das Schriftproblem allerdings auf eine überraschende Weise zurück: es erweist sich, daß die lebendigen Sprachformen gar nicht direkt zugänglich sind, sondern nur in fixierter Form, d. h. also über Transkriptionen.

8.

Das 20. Jahrhundert

Die Sprachwissenschaft des 2 0. Jahrhunderts wird, wieder abgesehen von einigen Ausnahmen, ähnlich wie schon die des 19. Jahrhunderts die Schrift entweder ignorieren oder ausdrücklich der Lautsprache nachordnen. Vachek 1973, Günther & Günther 1983, Feldbusch 1985, Maas 1986, Baum 1987, Glück 1987, Erfurt 1991 kritisieren diese Auffassung und zitieren umfassend die in dieser Hinsicht wichtigsten Belegstellen. Ich kann mich im folgenden also auf die Skizzierung der großen Linien beschränken, zumal die aktuelle Diskussion der Gegenstand vieler anderer Artikel dieses Handbuchs ist. Sowohl im europäischen Strukturalismus Saussurescher Prägung als auch im amerikanischen Strukturalismus einschließlich der Generativen Grammatik spielt die Schrift keine Rolle, wird sogar gelegentlich explizit aus dem Gegenstandsbereich der Linguistik ausgeschlossen. Ein solcher Ausschluß erfolgt z. B. bei Ferdinand de Saussure (1916) im Cours de Linguistique Générale (zumindest in der postumen Ausgabe, die traditionsbildend geworden ist, vgl. Baum 1987, 18 f): langue et écriture sont deux systèmes de signes distincts; l’unique raison d’être du second est de représenter le premier; l’objet linguistique n’est pas défini par la combinaison du mot écrit et du mot parlé; ce dernier constitue à lui seul cet objet. Freilich darf man nicht übersehen, daß dieses ausschließliche Objekt der Sprachwissenschaft, die gesprochene Sprache, in Saussures Sprachkonzeption stark schriftsprachlich überformt ist: alphabetische Phonemanalyse, scriptio discontinua , Formulierung im Duktus konzeptioneller Schriftlichkeit gehören zu den Selbstverständlichkeiten der strukturalistischen Sprachauffassung (vgl. Auer 1993; Müller 1993). Dieses Zusammenspiel

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von expliziter Ausgrenzung von Schrift und faktischer — nicht reflektierter — Bindung an Schrift ist konstitutiv für die meisten sprachwissenschaftlichen Richtungen des 2 0. Jahrhunderts. Das soeben Gesagte gilt jedoch nicht für alle sprachwissenschaftlichen Schulen des 2 0. Jahrhunderts. Hier ist zunächst Baudouin de Courtenay zu nennen, der in mehreren Schriften zu Beginn des Jahrhunderts die Eigengesetzlichkeit der beiden Modalitäten betont hat, die lediglich psychisch aufeinander bezogen seien. Ihm sind auch erste Fassungen des Graphem-Begriffs zu verdanken (vgl. Kohrt 1985). Die strukturalistische Richtung, in der die Beschäftigung mit Schrift und Schriftlichkeit den größten Raum einnimmt, ist die Prager Schule. Dies gilt in gewisser Hinsicht bereits für Nikolaj S. Trubetzkoy, der vor allem die implizite phonologische Analyse durch die Alphabetschrift für seine Auffassung der Phonologie explizit nutzbar macht (Kohrt 1985). Der wichtigste Schrifttheoretiker der Prager Schule ist Josef Vachek, der 1939 ( Zum Problem der geschriebenen S prache ) erstmals explizit die relative Autonomie von gesprochener und geschriebener Sprache feststellt und aus ihrer unterschiedlichen Funktion begründet. Dabei bezieht er sich auf Baudouin de Courtenay, Frinta und Artymovic als seine Vorläufer. 1948 ( Written language and printed language ) beschreibt Vachek die gedruckte Sprache als Intensivierung der Schriftsprache. In zahlreichen weiteren Aufsätzen diskutiert er Einzelaspekte, die er in einer Synthese, die zugleich auch Forschungsbericht ist, zusammenfaßt: Written Language (1973). Die Arbeiten von Vachek berühren einerseits das Medium (Verhältnis von Phonem und Graphem, Problem der spelling pronounciation, phonographische und logographische Prinzipien in der Schrift), aber auch die konzeptionellen Unterschiede zwischen den beiden Medien. Diese Schriftorientierung gilt jedoch nicht in gleichem Maße für alle Mitglieder der Prager Schule, so etwa nicht für Roman Jakobson, der an dem sekundären Status der Schrift festhält. Im Zusammenhang der Prager Schule muß auch Karl Bühlers Sprachtheorie (1934) erwähnt werden, die viele Ansätze für eine Theorie von Schrift und Schriftlichkeit enthält. So kann etwa die Unterscheidung zwischen Sprechhandlung und Sprachwerk in dieser Hinsicht interpretiert werden: die Definition des Sprachwerks als objektiver, interindividuell zugänglicher und gestalteter

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Manifestation des Sprachlichen, die vor allem auf der „Befreiung aus den Situationshilfen“ beruht, ist lesbar als Beschreibung schriftsprachlicher Konzeptualisierung (so Raible 1989). Besonders aber die Unterscheidung von Zeigfeld und Symbolfeld ist von grundlegender Bedeutung für die angemessene Erfassung der konzeptuellen Unterschiede von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Bühlers Text selbst enthält eine Reihe von Hinweisen auf die Möglichkeit dieser Interpretation. In der Kopenhagener Schule (Glossematik) spielt die Schriftreflexion ebenfalls eine gewisse Rolle, jedoch in anderer Weise als in der Prager Schule. Für Louis Hjelmslev und die Glossematik ganz allgemein ist sowohl auf der Inhaltsebene als auch auf der Ausdrucksebene die Form, also die distinktive Gestaltung, der Gegenstand der Beschreibung, nicht die jeweilige Substanz. Der Ausdrucksform (die allein Gegenstand des linguistischen Interesses ist) entsprechen verschiedene Ausdruckssubstanzen, nämlich eben Laut und Schrift. In gewisser Weise erscheint hier also wieder eine Übereinheit, ähnlich der antiken littera (vgl. Vogt-Spira 1991), die sich in zwei verschiedenen Ausprägungen manifestiert. Damit sind zwar Laut und Schrift gleichgeordnet, aber auch im gleichen Schritt in ihrer Substantialität als für die Linguistik unerheblich erklärt. Diese bei Hjelmslev in Omkring sprogteoriens grundlaeggelse (1943) angelegte Konzeption wird von H. J. Uldall 1944 ( S peech and writing ) und Henning Spang-Hanssen 1959 ( Phoneme and Grapheme ) weiterentwickelt. Auch in der amerikanischen Linguistik, die im Gefolge von Leonard Bloomfield die Schrift als sekundär und vernachlässigbar ansieht, gibt es doch eine Reihe von interessanten Ansätzen zur Schrifttheorie. Ich denke hier besonders an die Arbeiten von Ernst Pulgram und Dwight Bolinger, von diesem Autor vor allem an den Aufsatz Visual Morphemes (1946), in dem er auf die logographischen Elemente von Alphabetschriften hinweist. In der Gegenwart erleben wir die Zunahme des Interesses an Schrifttheorie, möglicherweise aus dem Bedürfnis heraus, sich über das Funktionieren eines bedrohten Mediums zu vergewissern, ähnlich wie in der Geschichte das Interesse an der Mündlichkeit immer dann besonders stark war, wenn die Schriftkultur sich durchsetzte. Trabant (1986/1990) gebraucht in diesem Zusammenhang das Bild der Eule der Minerva, die erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnt. In

7.  Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit

diesem späten Schriftinteresse konvergieren ganz unterschiedliche Forschungsansätze: — Beschreibung der mündlichen und schriftlichen Varietäten der verschiedenen Einzelsprachen (z. B. Söll, Koch & Oesterreicher 1986) — Oral-Literature-Forschung (Parry, Lord) — kulturanthropologische Forschungsrichtungen, die sich vor allem für die kulturellen Folgen von Schrift interessieren (Goody, Ong) — schrifttheoretische und texttheoretische Interessen (Coulmas, Ehlich, Glück, Feldbusch) — psycholinguistische Fragestellungen (Leontev) — Erforschung, Klassifikation und Historiographie von Schriftsystemen (Gelb, Catach, Cohen, Diringer, Coulmas, Simpson, Haarmann). Von besonderer Bedeutung bei der Auslösung der gegenwärtigen Schriftdiskussion waren ohne Zweifel ganz gegensätzliche kulturtheoretische Ansätze wie die Schriftkritik von Illich, die Medienkritik von Flusser, die Kritik an der phonozentrischen Tradition der europäischen Philosophie, wie sie Derrida formuliert hat, und nicht zuletzt die paläontologischen Untersuchungen Leroi-Gourhans, die auf die Bedeutung schriftsymbolischer Praktiken in der Menschheitsgeschichte hinweisen. Die Rekonstruktion der Behandlung der Schrift in der Philosophie- und Sprachwissenschaftsgeschichte kann beitragen zur Systematisierung der Fragestellungen, zur Identifikation von — teilweise langverschütteten — Traditionen. Sie kann zeigen, daß im Bereich der Kulturgegenstände gewonnene Einsichten nicht „veralten“: man denke etwa an die späte Rechtfertigung (wenn ich es einmal so verkürzt formulieren darf) Vicos durch LeroiGourhan. Sie kann aber vor allem unsere Sensibilität wecken für die Einbettung unserer wissenschaftlichen Fragestellungen in Bedingungen, die einerseits durch die Entwicklungen der jeweiligen Wissenschaften selbst und andererseits durch die kulturellen Veränderungen gegeben sind.

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I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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7.  Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit

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Brigitte Schlieben-Lange, Tübingen (Deutschland)

122

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit Material and Formal Aspects of Writing and Its Use

8. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

1.

Traditionelle Schreibmaterialien und -techniken Einleitung Papyrus Pergament Papier Schreibinstrumente Literatur

Einleitung

Im Rahmen der kulturellen Entwicklung der Menschheit war Schriftlichkeit entstanden, als sich der Zweck der bewußten Mitteilung eines gedanklichen Inhaltes an andere oder als Gedächtnisstütze des Schreibers selbst mit der Anbringung des Geschriebenen auf einem für diesen Zweck bestimmten Untergrund oder Beschreibstoffverband; fehlt eines dieser Merkmale, kann nur von Vorstufen der Schrift gesprochen werden. Im Verlauf der menschlichen Geschichte wurden denn auch zahlreiche Materialien zur Anbringung schriftlich fixierter Gedanken verwendet; man denke an Stein, Marmor, Holz, Baumrinde, Bast, Textilien, Tontafeln, Wachstafeln, Metallplatten, Scherben, Leder, Knochen oder dickblättrige Pflanzen. In Hochkulturen wurden allmählich dauerhafte und transportfähige Materialien als Überlieferungsträger kanonisiert; Palmblätter und Baumrinde aus fernöstlichen Kulturen seien ebenso erwähnt wie Tontafeln der mesopotamischen Kulturen. Für die große Masse der schriftlichen Denkmäler des antiken Mittelmeerraumes, der mittelalterlichen Kulturwelten und der Neuzeit wurden indes drei Beschreibstoffe von kanonischer Bedeutung: der Papyrus, das Pergament und das Papier. Als sekundäre Beschreibstoffe konnten in der Antike Holz- und Wachstafeln, Ostraka und Leder verwendet werden. Die Darstellung der mittelmeerischen und der europäischen Handschriftenkunde hat die drei genannten Schriftträger Papyrus,

Pergament und Papier als vornehmliche und traditionelle Materialien der Schriftlichkeit zu berücksichtigen.

2.

Papyrus

Innerhalb der griechisch - römischen Antike tritt Papyrus (πάπυρος, βύβλος, βίβλος) als umfassender Überlieferungsträger auf. Das Haupterzeugungsgebiet war Ägypten; als Sumpfpflanze wuchs die Papyrusstaude in stehenden Gewässern oder versumpfenden Flußarmen; besonders das Nildelta bot einen vortrefflichen Nährboden. Mesopotamien, Syrien und Sizilien sind als weitere Regionen des Wachstums der Staude zu nennen. Zum Zwecke der Bereitung des Beschreibstoffes wurde das poröse und weiche Mark der Staudenstengel der Länge nach in dünne Streifen zerschnitten, welche in der Folge, einander teilweise überdeckend, nebeneinander gelegt wurden; eine zweite Schicht von Streifen wurde in analoger Weise, im rechten Winkel gedreht, auf die erste Schicht gelegt. Durch Klopfen mit Fauststein oder Holzhammer wurden beide Schichten zu einem zusammenhängenden Blatt geformt; der eigene Saft der Pflanze dürfte im Wesentlichen zur Festigung des Blattes genügt haben. Ein eigentlicher Klebstoff wurde erst bei der Verbindung von Einzelblättern zu Rollen oder größeren Stükken in Anwendung gebracht. Trocknen und Glätten der Blätter rundeten den Arbeitsvorgang ab. Die natürliche Größe des Staudenstils setzte der Blattgröße Grenzen; allerdings waren Blattgrößen von 60 bis 100 cm nicht unbekannt; die Durchschnittsbreite von Blättern, die zu Rollen verarbeitet wurden, betrug 25 bis 30 cm; die Breite konnte aber auch zwischen 15 und 40 cm schwanken. Für die Beschriftung der Blätter kam in erster Linie jene Seite in Frage, auf der die

8.  Traditionelle Schreibmaterialien und -techniken

Fasern des Marks horizontal verliefen; diese Seite wird daher als Rectoseite bezeichnet; die Außenseite mit den vertikal verlaufenden Fasern ist die Versoseite. Bei opisthograph beschriebenen Blättern ist also in der Regel die Schrift auf der Rectoseite die ältere. Die Farbe der Papyrusblätter war Schwankungen unterworfen; ihre Palette reichte von weißlichgelb bis schokoladebraun. Die Rollenform war in der Antike die vorherrschende Form des Buches. Auch die Materialien Leder und Pergament konnten in der Antike in Rollenform verarbeitet werden. Die Papyrusrolle konnte durch das Aneinanderkleben von einzelnen Papyrusblättern in beliebiger Länge angefertigt werden. Die als χάρτης, charta , βίβλος oder liber , κύλινδρος oder volumen , später auch als τόμος bezeichnete Rolle besaß im Durchschnitt eine Länge von 6 bis 10 Metern; auch größere Längen sind bezeugt. Die Blätter wurden derart aufeinandergeklebt, daß die horizontal verlaufenden Fasern innen zu liegen kamen; auf dieser Rectoseite konnte der Kalamos leicht über den Beschreibstoff gleiten, während ihm die vertikalen Fasern der Versoseite doch gewissen Widerstand entgegensetzten. Fein ausgeführte Klebung an den Nahtstellen der Blätter konnte vom Schreiber leicht überschrieben werden. Die Beschriftung literarischer Papyrusrollen fand durch Kolumnen gleichmäßiger Breite statt, die parallel zum Längsrand standen und möglichst gleiche Zeilenzahl aufwiesen. Ober- und unterhalb der Kolumnen blieb ein Streifen leer; denn an den Rändern der Rollen konnten beim Manipulieren leicht Beschädigungen eintreten; zudem kam ein breiter Rand bibliophilen Bedürfnissen entgegen. Kommentierende Bemerkungen und Scholien konnten ober- und unterhalb der Spalten oder dazwischen eingesetzt werden. Waren Illustrationen vonnöten, konnten diese ihren Platz in frei gebliebenen Räumen in der Kolumne oder auch zwischen diesen und an den Rändern finden. Während der Tätigkeit des Lesens hatte die rechte Hand des Benützers den Text aufzurollen, während die linke Hand den gelesenen Text ihrerseits einzurollen hatte. Von dieser Art der Manipulation stammt der Terminus volumen. Nach Beendigung der Lektüre mußte die Rolle wieder zurückgerollt werden, um abermals gebrauchsfertig zu sein. Ein in die Rolle gesteckter Stab (ὀμφαλός, umbilicus ) konnte dabei von Nutzen sein. Der Titel des Werkes (τέλος, explicit ) war am Ende der Rolle vermerkt; ebenso stand er auf

123

der Außenseite der geschlossenen Rolle. War ein literarisches Werk in mehrere Rollen unterteilt, war eine Wiederholung von Autornamen und Titel zu Beginn und am Ende jedes Buches notwendig. Es war ein bemerkenswertes Phänomen des buchgeschichtlichen Traditionalismus, daß die Sitte der Wiedergabe des Incipit und Explicit auch noch im Codex beibehalten wurden, in den Handschriften des Mittelalters in Ost und West belegt ist, ja sogar noch in den frühen Buchdruck eindrang. Nach dem Aufkommen der Unterbringung der Rollen in Fächern eines Bücherkastens kam die Sitte der Etikettierung auf; Pergamentstreifen (σίλλυβοι, tituli ) mit dem Titel der Rolle wurden am oberen Rand der Rolle derart befestigt, daß sie von der liegenden Rolle im Fach herabhingen und leicht gelesen werden konnten. Da die Papyrusrolle als Hieroglyphe in Ägypten bereits im 4. Jahrtausend v. Chr. aufscheint, muß ihre Verwendung in diese Epoche zurückreichen. Aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. stammen bereits die ältesten erhaltenen beschrifteten Papyrusstücke. Reste von Papyrusrollen reichen ins 2. Jahrtausend zurück. In seiner Historia naturalis berichtet der ältere Plinius († 79 n. Chr.) über die Herstellung des Papyrus (13, 74—82). Aus diesem Bericht geht hervor, daß zur Zeit des Autors sechs Sorten des Beschreibstoffes bekannt waren, die vom Luxuspapyrus bis zum Packpapier reichten. Erzeugerland des Papyrus war durch Jahrtausende fast ausschließlich Ägypten. Aufgrund des immer größer werdenden Bedarfes mußten auch künstliche Pflanzungen veranstaltet werden; denn es war nicht nur der ägyptische, sondern auch der vorderasiatische, griechische, römische und abendländische Markt zu versorgen. Früh mag eine staatliche Aufsicht bestanden haben; ein Staatsmonopol dürfte sich in ptolemäischer Zeit entwickelt haben, das auch in der römischen Kaiserzeit und der frühbyzantinischen Epoche bestand und noch von den arabischen Eroberern übernommen wurde. Papyrus pflanzungen sind auch für Sizilien belegt, sogar noch bis ins 13. Jahrhundert. Die ägyptische Papyruspflanzung ging allerdings unter dem Druck der wachsenden Papiererzeugung mehr und mehr zurück, um im 11. Jahrhundert eingestellt zu werden. Die umfassende Verwendung des Papyrus für literarische, urkundliche, juristische und private Zwecke wurde ab dem 4. Jahrhundert n. Chr. durch die Konkurrenz des Pergaments

124

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

in Frage gestellt; in der gleichen Epoche begann auch der Siegeszug der Codexform des Buches, der die Rolle zurückdrängte. Zwar gab es auch Papyruscodices; in Ägypten sind die ältesten erhaltenen Papyruscodices ins 1. Jahrhundert n. Chr. zu datieren. Bis zum Ende des 3. Jahrhunderts waren ägyptische Papyruscodices einlagig; Blätter wurden oft aus Rollen herausgeschnitten, bis im 4. Jahrhundert eigens Papyrusblätter für Codices angefertigt wurden. Doch konnte auf Grund der Sprödigkeit des Materials die Codexform für Papyrus keine glückliche Lösung bedeuten. Die Heftfäden ließen die Doppelblätter leicht einreißen, wogegen man sich durch Fälze zu schützen suchte. Als sich Pergament als Überlieferungsträger literarischer Texte durch setzte, beschränkte sich Papyrus auf die Verwendung für Urkunden und Briefe in Ost und West. Die letzten Ausläufer von Papyrusrollen literarischen Inhaltes finden sich im 6. Jahrhundert n. Chr. Papyrusrollen urkundlichen Inhaltes begegnet man bis in die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts. Die frühbyzantinische Kaiserkanzlei verwendete noch Papyrus; aus dem lateinischen Kulturkreis sind seit dem Ende des 5. Jahrhunderts neben einigen wissenschaftlichen, juristischen und christlichen Papyri Urkunden der germanischen Reiche der Völkerwanderungszeit zu nennen, insbesondere des Odoaker, der ostgotischen und langobardischen Könige. Die merowingischen Herrscher verwendeten Papyrusurkunden von 625 bis ca. 673, die Kanzlei der Päpste bis ins 11. Jahrhundert, die Erzbischöfe von Ravenna bis in die Mitte des 9. Jahrhunderts. Karolingische Kaiser- und Königsurkunden sind aus dem 8. und 10. Jahrhundert bezeugt, Privaturkunden aus Italien bis ins 10. und 11. Jahrhundert, aus dem Frankenreich bis ins 8. Jahrhundert, aus Spanien bis in die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts. In Sizilien ist Papyrus noch bis ins 13. Jahrhundert verwendet worden. Den Terminus papirus hat Friedrich II. 1231 für das neu aufkommende Papier verwendet. Auch der Terminus chartaceus bedeutete in der Antike den Papyrus; erst sekundär wurden die alten Bezeichnungen auf das neue Medium Papier angewandt, was in der Regel nicht vor dem 14. Jahrhundert stattgefunden hat.

3.

Pergament

Entwicklungsgeschichtlich gesehen stellt Pergament eine durch verfeinerte Bearbeitungsmethoden fortentwickelte Form des Leders

dar. Tierhäute in Gestalt des durch Gerbung erzeugten Leders waren in Ägypten und Vorderasien seit ältesten Zeiten als Beschreibstoff verwendet worden. Aus dem 2. Jahrtausend ist auch bereits eine pergamentartig verarbeitete literarische Rolle bezeugt. Seit dem 9. Jahrhundert v. Chr. wurden Lederrollen in Babylonien neben den Tontafeln verwendet; auf diese Weise gelangte das Leder als Beschreibmaterial zu den Phönikern und Joniern. Relativ früh findet sich die Lederrolle bei den Festlandgriechen und Italikern sowie im jüdischen Kulturkreis. Das Pergament unterscheidet sich vom Leder durch den Wegfall der Gerbung. Galenos bezeugt auf Pergament geschriebene Texte des Hippokrates aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. Eine verfeinerte Methode der Herstellung des Pergaments ist mit der Dynastie der Attaliden in Pergamon aus hellenistischer Zeit verbunden; unter König Eumenes II. (195—158 v. Chr.) soll die heute übliche Art der Produktion erfunden worden sein, woran auch der Name περγαμηvóv erinnert. In der Antike wurde der Beschreibstoff zumeist als διφθέρα bezeichnet; es finden sich auch Termini wie σωμάτιον, δέρμα, μεμβράνα, περγαμενή und μεμβράνα περγαμενή. Der Begriff membrana taucht seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. im lateinischen Kulturkreis auf. Sueton (70—140) kennt den Ausdruck membrana pergamena , Hieronymus bereits die Termini membrana und pergamena. Der für Papyrus gebräuchliche Ausdruck charta konnte mitunter unter Hinzuziehung unterscheidender Adjektiva für Pergament verwendet werden; man denke an Ausdrücke wie charta pergamena, charta ovina, charta vitulina, charta montoniana. Der Herstellungsprozeß des Pergaments zerfiel in der Regel in folgende Phasen. Die Tierhaut wurde für einige Tage in eine Kalklösung gelegt, danach wurden Haare, Oberhaut und Fleischreste abgeschabt. Nach einer Reinigung wurde die Haut gespannt, getrocknet und schließlich mit Bimsstein und Kreide geglättet und geweißt. Im Süden Europas verwendete man vorwiegend Schaf- und Ziegenhäute, im Norden hauptsächlich Kalbfelle. Das feinste Pergament — die charta virginea — wurde aus der Haut neu- oder ungeborener Lämmer angefertigt. Das fertige Pergament läßt eine Haar- und eine Fleischseite unterscheiden. In der Regel ist die Fleischseite weiß bis weißlichgrau, die Haarseite eher gelblich; auch sind auf der Haarseite die Poren sichtbar. In verschiedenen Regionen gab es eine unterschiedliche Bearbeitung des Pergaments.

8.  Traditionelle Schreibmaterialien und -techniken

Vor allem im Urkundenwesen traten Unterschiede stärker hervor als im Buchwesen; dies ist verständlich, da Urkunden nur einseitig, Buchseiten aber zweiseitig zu beschreiben waren. Im Süden wurde die Fleischseite besser geglättet und kalziniert, die Haarseite hingegen weniger glatt bearbeitet. Für den Norden ist meist eine ziemlich gleichmäßige Bearbeitung des Pergaments auf beiden Seiten, die den Gegensatz zwischen Haar- und Fleischseite zurücktreten läßt, charakteristisch. „Südliches“ Pergament ist vor allem in Italien, auf der Iberischen Halbinsel und in Südfrankreich in Gebrauch gestanden. Möglicherweise stammt die Bearbeitungsart des südlichen Pergaments aus Kanzleien, die durch einseitige Bearbeitung des Beschreibstoffes den einseitig zu beschreibenden Papyrus nachahmten. Selbstredend mußte aus praktischen Gründen frühzeitig eine doppelseitige Bearbeitung des Pergaments stattfinden, doch blieb einseitig bearbeitetes Pergament der Beschreibstoff südlicher Kanzleien. Hingegen ist bei den Angelsachsen Aufrauhung der Häute auf beiden Seiten festzustellen, wodurch der Unterschied zwischen Haarund Fleischseite verschwand. Pergamentherstellung war auch von wirtschaftlichen Problemen begleitet, da für die Fertigung allein eines umfänglichen Codex bereits viele Tiere geopfert werden mußten. So nimmt es nicht wunder, daß für weniger anspruchsvolle Handschriften auch fehler hafte, mit Löchern und Rissen versehene Pergamentblätter verwendet werden konnten, ja mußten. Fallweise wurden die Löcher und Risse im Skriptorium vernäht; immerhin hatte der Schreiber die Löcher im Text auszusparen und zu umschreiben. Regionen wie Süditalien sind für ihr schlechtes Pergament bekannt gewesen. Eine Möglichkeit der Beschaffung billigen Beschreibstoffes war die Wiederverwendung älterer Handschriften nach der Tilgung der ursprünglichen Schrift. Die Tinte konnte mit einem Bimsstein abgeschabt oder mittels Feuchtigkeit abgewaschen werden. Derart bearbeitete Handschriften werden als Palimpseste (παλίμψηστος = wieder abgekratzt, abgewischt; lateinisch: codex rescriptus ) bezeichnet. Die Bedeutung der Palimpseste für die Textüberlieferung kann fallweise sehr beträchtlich sein. Ihr Wert liegt nicht nur darin, daß oft ein sehr alter Textzeuge ganz oder teilweise zu Tage tritt; manche Texte wie Ciceros De re publica, Briefe von Fronto, Institutiones des Gaius und Liviusfragmente aus Verona sind nur in Palimp-

125

sesten erhalten. Welcher Art getilgte Texte sind, läßt oft einen interessanten Einblick in Geschmack oder literarische Bildung einer Schreibschule zu. Theologische Interessen mittelalterlicher Schreiber konnten an der Vernichtung antiker paganer Autoren schuld sein; doch fehlt es nicht an Beispielen für die Palimpsestierung christlicher Texte; man denke etwa an patristische Werke, die dem Schabmesser zum Opfer fielen, damit über sie hagiographische Texte geschrieben werden konnten. Erwähnt seien als Beispiele Apophthegmata patrum und Heiligenviten über Reden von Gregor von Nazianz in den Codices Suppl. gr. 59 und Suppl. gr. 189 der Österreichischen Nationalbibliothek zu Wien. Ebenso konnten in den philologisch orientierten Skriptorien der Palaiologenzeit hochgeschätzte Klassiker über ältere theologische Texte geschrieben werden. Während man im 19. Jahrhundert die ältere Schrift mittels Chemikalien zu reaktivieren suchte und damit auch viel Unheil anrichtete, arbeitet die neuere Forschung mit Ultraviolett- oder Infrarotlampen, deren Strahlen im Dunkel die alte Schrift mit gewisser Deutlichkeit sichtbar werden läßt. Zu den bisher ältesten erhaltenen Pergamentstücken zählen Urkunden aus Dura Europos in Mesopotamien aus der Zeit von 195 v. Chr. bis 121 n. Chr. Seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. stieg die Verwendung des Pergaments rasch an, bis ab dem 4. Jahrhundert dieses Material über Papyrus zu überwiegen begann. Die Überlegenheit des Pergaments über den Papyrus war zu augenscheinlich, als daß sein Siegeszug aufgehalten werden konnte. In Gestalt von Tieren war der Rohstoff praktisch überall zu finden. Ferner stand die Dauerhaftigkeit und die Geschmeidigkeit von Pergament in großem Kontrast zum spröden und brüchig werdenden Papyrus. Da Pergamentblätter beiderseitig zu beschreiben und auch zu bemalen waren, ja da auf Pergament neue Techniken der Buchmalerei angewendet werden konnten, boten sich durch Pergament und in Verbindung damit durch die Codexform des Buches neue Möglichkeiten der Komposition von Schrift und Bild; alsbald nahm die Buchkunst nach der Durchsetzung des Pergamentcodex einen großen Aufschwung. Waren Denkmäler der Buchkunst im 7. und 8. Jahrhundert im allgemeinen selten, so tritt mit der Epoche der karolingischen Renovatio im ausgehenden 8. und im 9. Jahrhundert ein erster großer Schwerpunkt der mittelalterlichen Textüberlieferung auf, der

126

sich in der Anfertigung zahlreicher Pergamenthandschriften dokumentierte. Was in der Epoche der Umschrift der alten Majuskelcodices in Minuskelcodices in karolingischer Minuskel berücksichtigt wurde, blieb auch in der Regel den folgenden Jahrhunderten erhalten. In auffallender zeitlicher Parallele war es auch die Epoche des 9. Jahrhunderts, in der im byzantinischen Kulturkreis die kritische Phase der Umschrift der Majuskelhandschriften in die neue griechische Minuskel stattfand. Aus der Epoche vom 9. bis zum 12. Jahrhundert sind Tausende von Pergamenthandschriften erhalten. Vor allem war die abendländische Produktion von Pergamenthandschriften im 12. Jahrhundert sehr groß; die Schreibfreudigkeit dieser Epoche resultierte aus einer Bildungsexplosion, aus der Begegnung mit dem arabisch- islamischen und dem byzantinischen Kulturkreis, dem Aufblühen von Stadtkultur und höherem Bildungswesen, der Entstehung der scholastischen Theologie und Philosophie, der Anreicherung des Kanons der Fachdisziplinen. Ab dem 13. Jahrhundert begannen die Papierhandschriften vorzudringen, die das Pergament im 14. und 15. Jahrhundert entscheidend zurück drängten. Eine letzte Belebung der Herstellung von Pergamentcodices brachte das Zeitalter des Humanismus und der Renaissance. Für bestimmte Literaturgattungen, wie Bibeln und liturgische Bücher, wurde allerdings mehrheitlich Pergament verwendet; auch dort, wo es wirtschaftliche Gegebenheiten erlaubten oder bibliophile Ansprüche forderten, blieb Pergament im ganzen Mittelalter in Gebrauch. Die Sitte von Drucken auf Pergament im frühen Buchdruck war ein letzter Nachhall mittelalterlicher Bibliophilie. Pergament als Beschreibstoff für Urkunden wurde im Westen zuerst in Italien verwendet; die ältesten erhaltenen Pergamenturkunden setzten im langobardischen Italien in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts ein. Merowingische Pergamenturkunden reichen bis in die zweite Hälfte des 7. Jahrhunderts zurück. Aus Deutschland sind Beispiele ab dem 8. Jahrhundert erhalten; ähnlich liegen die Verhältnisse in England und Spanien. Der Beschreibstoff Pergament war in Spätantike und Mittelalter fast ausschließlich mit der Buchform des Codex verbunden. Für mittelalterliche Pergamentrollen wurden mehrere Einzelblätter aneinandergenäht; doch sind literarische Pergamentrollen im Mittelalter selten; die Hauptmasse wird von Urkunden in Rollenform gestellt. Im byzantinischen Be-

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

reich wurden Briefe und Urkunden ab dem 4./5. Jahrhundert parallel zur Breite beschrieben. Mittelalterliche Beispiele für nichtarchivalische Pergamentrollen, gleichfalls parallel zur Breite beschrieben, bilden liturgische Rollen der Ostkirche bis ins 16. Jahrhundert und die hochmittelalterlichen Exultetrollen für die Liturgie der Osternacht in Süditalien. Der Codex hingegen besteht aus einer Mehrzahl gefalteter und gehefteter Blätter, die zum Schutz vor mechanischer Beschädigung einen Einband erhielten. Als Urform des Codex dürfen antike Wachstafeln, Diptycha oder Polyptycha, angesehen werden. Bereits aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. sind Zeugnisse für das Auftreten der Codexform bekannt. Möglicherweise hat die juristische Literatur den Übergang vom Aktenkonvolut zum Codex gefördert. So werden vom Juristen Neratius Priscus aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. sieben Bücher als membrana bezeichnet, die als Pergamentcodices betrachtet werden dürfen. Der Dichter Martial (40—104 n. Chr.) berichtet über die Verwendung von pugillares membranei , von Pergamentcodices für literarische Werke wie Homer, Ovid, Vergil, Cicero, Livius und eigene Werke. Der 2. Timotheusbrief (4, 13) belegt die Existenz des christlichen Pergamentcodex bereits für die zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts. Die ältesten erhaltenen Pergamentblätter entstammen dem 2. Jahrhundert n. Chr. Bei den Juristen des 3. Jahrhunderts ist der Codex bereits arriviert. Die alte Bedeutung des caudex für „Holzblock“ hat bereits die Bezeichnung für „Buch“ angenommen. Römische Gesetzessammlungen des 3. Jahrhunderts wie der Codex Gregorianus oder der Codex Hermogenianus belegen den Codex als publiziertes Buch und als autorisierte Sammlung. Der endgültige Durchbruch des Pergamentcodex gelang im 4. Jahrhundert. Durchgesetzt hatte sich die Einsicht in die technischen Vorteile und in die neuen Möglichkeiten des Codex für die Buchkunst; damit kam der Codex auch dem kulturellen Selbstverständnis der Kirche entgegen. So ist überliefert, daß bereits Konstantin I. der Große an Eusebios von Kaisareia den Auftrag erteilte, 50 Codices für den liturgischen Gebrauch in den Kirchen seiner neuen Hauptstadt Konstantinopel anfertigen zu lassen. Umschreibeaktionen in Pergamentcodices retteten zahlreiche antike Texte; man denke an das Beispiel der im Verfall befindlichen Bibliothek des Origenes und Pamphilos in Kaisareia, die durch zwei Nachfolger des Eusebios auf die angedeutete Weise gerettet

8.  Traditionelle Schreibmaterialien und -techniken

127

wurde. Die Skriptorien des Benediktinerordens fertigten nurmehr Pergamentcodices an. Auch im byzantinischen Bereich wurde der Codex ab dem 7. Jahrhundert zur Normalform des Buches. Älteste Pergamentcodices waren meist einlagig und daher in ihrem Umfang begrenzt, wie denn auch die Breite des Codexblattes nach innen abnehmen mußte. Ab dem 4. Jahrhundert sind mehrlagige Pergamentcodices erhalten. Die aus dem Pergamentrohstoff geschnittenen Blätter wurden in der Mitte zu Doppelblättern gefalzt; fertig beschriebene Doppelblätter wurden zu Lagen zusammengesetzt. Ein Doppelblatt wird als eine Unio bezeichnet, zwei Doppelblätter bilden eine Binio, drei Doppelblätter eine Ternio, deren vier eine Quaternio, deren fünf eine Quinternio; seltener sind höhere Zusammensetzungen von Lagen. Alte Bezeichnungen der Buchform der Rolle wurden allmählich auf dem Pergamentcodex übertragen, so die Termini βίβλος, liber, volumen und tomus. Seit dem 3. Jahrhundert ist die Bezeichnung codex allgemein gebräuchlich. Da die Worte liber, volumen und tomus längere Zeit sowohl für die Rolle als auch den Codex in Gebrauch standen, ist es im Einzelfall nicht immer eindeutig, ob tatsächlich die Codexform stets gemeint ist. Doch dürften die Papstregister des 6. Jahrhunderts bereits Codices gewesen sein. Vor der Beschriftung der Pergamentblätter konnte der Schreiber eine Glättung, Reinigung und allfällige Ausbesserung vornehmen. Einstiche mit dem Zirkel dienten der Festlegung des Linienschemas. Die Blindlinierung ist seit dem 5./6. Jahrhundert belegt. Schon im 12. Jahrhundert begann die Bleistiftlinierung aufzutreten, Tintenlinierung im 13. Jahrhundert. Die Zahl der Schriftkolumnen betrug in frühen Handschriften bis zu deren vier; später schwankte sie zwischen einer und zweien. Seiten- oder Blattzählung sind in Spätantike und Mittelalter belegt, aber unterschiedlich gebraucht worden. Im Spätmittelalter setzte sich die Foliierung durch. Üblich ist auch die seit dem 4. Jahrhundert zu beobachtende Lagenzählung geworden, und zwar mit Hilfe sogenannter Kustoden am Anfang oder Ende der Lagen. Die Reklamanten — Anfangsworte einer Lage am Ende der vorhergehenden Lage — entwickelten sich im Mittelalter von der Hilfe für den Buchbinder zu einer Lesehilfe.

4. Der

Papier dritte

traditionelle

Beschreibstoff

des

Mittelalters war das Papier. Die Erfindung ist dem chinesischen Kulturraum zuzuschreiben und reicht bis in vorchristliche Zeit zurück. Seidenabfälle, Faserpflanzen, Bast, Hanf, Lumpen und Fischernetze konnten als Rohmaterial dienen. Eine Quelle des 5. Jahrhunderts n. Chr. berichtet von der Erfindung des kaiserlichen Beamten Tsai- Lun von 105 n. Chr., aus Baumrinde, Hanfabfällen, Fischernetzen und Hadern einen Beschreibstoff herzustellen. Es mag sich um die Verbesserung einer älteren Erfindung gehandelt haben. Die ältesten erhaltenen fernöstlichen Papiere gehören dem Zeitraum des 2. bis 6. Jahrhunderts n. Chr. an. Nachdem die Araber seit dem 7. Jahrhundert Papier aus China importiert hatten, übernahmen sie im 8. Jahrhundert selbst die Papierfabrikation. Chinesische Kriegsgefangene in Samarkand im Jahre 751 machten ihre Sieger mit der neuen Kunst bekannt. Schon um 800 veranlaßte der Kalif Harun ar- Rašid (786—809) seine Kanzleien in Bagdad, vom Papyrus bzw. Pergament auf Papier überzugehen. Um 900 dürfte man in Kairo, bald darauf in Syrien, um 1000 in Marokko mit der Papierherstellung begonnen haben. Die Araber verbesserten die Produktionsverfahren durch praktischere Stampfung, Stärkeleimung und Verwendung neuerer Arten von Rohmaterial wie Linnen- und Hanfhadern, eventuell auch Baumwollhadern. Das orientalische Papier besitzt eine bräunliche Farbe und eine sehr glatte Oberfläche; es ist gut geleimt und sieht mitunter wie Löschpapier aus. Trotz der gewissen Stärke ist es geschmeidig. Seine Formstreifen — je 20 in einer Breite von 22—30 mm — sind fein, manchmal gekrümmt oder schief; die Stege sind unregelmäßig verteilt. Es können drei Größenformate beobachtet werden. Hingegen hat das noch zu besprechende abendländische Papier eine weiße oder gelbliche Farbe und eine runzlig- hökerige Oberfläche ohne festen Körper, ebenso eine Konsistenz nach Art eines weichen Stoffes. Die Formstreifen — je 20 in einer Breite von 34 bis 52 mm — stehen dicht, stets gerade und parallel zum Blattrand, während die Stege regelmäßig verteilt sind. Im Gegensatz zum orientalischen Papier besitzt das abendländische zumeist Wasserzeichen. Das Wasserzeichen ist eine italienische Erfindung; ein erster Beleg stammt aus Bologna aus dem Jahre 1282. Im 8. Jahrhundert sind griechische Papierhandschriften nichtbyzantinischen Ursprungs belegt. Datierbare griechische Papierhand schriften sind erst ab dem 12. und 13. Jahrhundert belegbar, wenngleich die Existenz sol-

128

cher Codices schon vor dieser Epoche zu postulieren ist. Orientalisches Papier ist in der byzantinischen Kaiserkanzlei seit der Mitte des 11. Jahrhunderts nachweisbar. Im Westen finden sich Papierurkunden bereits im Sizilien des späten 11. Jahrhunderts. Auch in den Kanzleien der normannischen und staufischen Herrscher wurde Papier neben Pergament gebraucht. Das mit 1154 beginnende Imbreviaturbuch aus Genua ist auf arabischem Importpapier abgefaßt. Seit dem 13. Jahrhundert ist die Verwendung von Papier für Akten der Apostolischen Kammer belegt, seit dem 14. Jahrhundert für die Urkunden der päpstlichen Kanzlei. Das islamische Spanien kannte Papier seit der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts. Ein auf 1009 datiertes Papierdokument im Eskorial und zwei Handschriften, die im Kloster San Domingo in Silos bei Burgos im 11. und 12. Jahrhundert geschrieben sind, zeigen, daß in dieser Epoche Papier in Spanien in verbreiteter Verwendung stand. Eine spanische Papierfabrikation ist für die Mitte des 12. Jahrhunderts bezeugt. Bis über die Mitte des 13. Jahrhunderts scheint Papier in Italien Importartikel gewesen zu sein. Erst ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts sind Zeugnisse für eine eigene italienische Papierfabrikation vorhanden. Datierbare Papiere sind ab 1260 feststellbar. Die Herstellung breitete sich rasch aus; und schon nach der Mitte des 13. Jahrhunderts war Italien Zentrum der abendländischen Papierfabrikation geworden. In Frankreich war wohl um die Mitte des 12. Jahrhunderts die Kenntnis des Papiers vorhanden. Nach einer Phase des Importes von Papier wurde eine landeseigene Papierfabrikation in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts aufgebaut. Die Zeugnisse beginnen mit dem Jahre 1338. Die Kenntnis des Papiers drang in Deutschland im 10./11. Jahrhundert ein. Eine Verwendung als Beschreibstoff ist seit dem Ende des 13. Jahrhunderts nachweisbar. Aber erst spät begann die eigene deutsche Papierherstellung. Unsicher sind die Nachrichten von rheinischen Mühlen um 1320 oder süddeutschen Mühlen der 30er und 40er Jahre des 14. Jahrhunderts. Sicher nachweisbar ist die Gründung der ersten Nürnberger Papiermühle durch Ulman Stromer um 1389/90. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts bestanden bereits Papiermühlen in etwa einem Dutzend deutscher Städte. Eine böhmische Papierfabrikation ist 1499 belegt, wiewohl schon um 1310 das Prager Stadtbuch auf Papier angelegt worden war. Um 1300

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

setzt die Verwendung des Papiers in der ungarischen Königskanzlei ein. England kannte vor 1300 Importpapier; die erste englische Papierfabrik wurde wohl 1494 gegründet. Holland benützte Papier seit 1308. Die skandinavischen Länder errichteten Papiermühlen erst im 16. und 17. Jahrhundert. Als Rohstoff für die Papierherstellung dienten im Abendland lange Zeit Lumpen und Hadern. Nach der Reinigung und Zerkleinerung des Materials wurde der Rohstoff in Wasser geweicht, einem Fäulnisprozeß unterzogen, mit Wasser versetzt und mittels des Stampfgeschirrs zum „Halbzeug“ zerkleinert. Ein weiteres Stampfverfahren brachte das „Ganzzeug“ hervor. Aus den Bottichen, die mit dieser Masse gefüllt waren, schöpfte der Büttgeselle eine dünne Schicht mittels eines mit Bronzedraht bespannten Holzrahmens. Ein leichtes Schütteln der Masse ließ das Wasser ablaufen und eine Verfilzung der Fasern eintreten. Der Gautscher übernahm vom Schöpfer den feuchten Bogen und „gautschte“ ihn auf einem Filz ab. An der Bütte wurde mit zwei Formen gearbeitet, die stets zwischen Schöpfer und Gautscher wechselten. Beim Gautschen kam Papier auf Filz, Filz auf Papier, bis ein Stoß von 181 Bogen zwischen 182 Filzen erzeugt war, ein sogenannter „Bausch“ oder „Puscht“. Nach einem Preßvorgang in der Büttenpresse wurden vom Leger Bogen und Filze getrennt, die Papierbogen abermals gepreßt und zum Trocknen aufgehängt. Die letzten Arbeitsvorgänge bestanden in der Leimung der Oberfläche, im Pressen, Trocknen, Glätten, Zählen und Verpacken. Ein Ries Schreibpapier umfaßte 480 Bogen, ein Ries Druckpapier 500 Bogen. Das Ries hatte 20 Buch, ein Buch umfaßte 24 Bogen Schreibpapier bzw. 25 Bogen Druckpapier. Ein Ballen umfaßte 10 Ries. Neuerungen in der Papierfabrikation traten erst in der Neuzeit auf. Nahezu alle Papiere nach 1300 weisen Wasserzeichen auf. Es sind dies durchscheinende Zeichen oder Buchstaben, die durch Drähte erzeugt werden, die auf dem Schöpfsieb aufgenäht oder aufgelötet waren. Auf den Stegen des Schöpfrahmens ruht ein Drahtgeflecht, das ebenfalls seinen Abdruck auf dem Papierbogen hinterläßt. Das Wasserzeichen kam auf dem Steg oder zwischen den Stegen zu stehen, fallweise konnte es über mehrere Stege laufen. Da zwei Formen für die Papierherstellung verwendet wurden, treten Wasserzeichen immer paarweise auf. Im Folioformat liegt das Wasserzeichen in der Regel — zu-

8.  Traditionelle Schreibmaterialien und -techniken

mindest im ausgehenden Mittelalter — in der Mitte des einmal gefalzten Bogens, während der gegenüberliegende Halbbogen frei blieb. Wurde der Bogen zweimal zum Quartformat gefalzt, änderten die Stege ihre Richtung, während das Wasserzeichen durch die Falzung halbiert und auf zwei Buchseiten verteilt wurde. Eine dreimalige Falzung des Bogens läßt die Stege abermals vertikal stehen, das Wasserzeichen hingegen geviertelt in die oberen Ecken der Seiten rücken. Die Wahl der Wasserzeichenmotive stand im Belieben der Betreiber der Papiermühle. Es gab „redende“ Zeichen, Motive aus der Volkskunde oder Motive auf der Basis religiöser oder weltanschaulicher Einstellung. Motive konnten auf Geschichte, Sage, Zeitereignisse und lokale Gegebenheiten zurückzuführen sein; es konnte sich um Wappen des Ortes, des Landes, der Herrschaft, der privileggebenden Herren handeln. Allmählich, so im 15. Jahrhundert, setzte eine behördliche Regelung des Führens der Wasserzeichen ein. Alte Wasserzeichen bieten oft Tier- und Pflanzenmotive oder Buchstaben oder Geräte ab. Man denke an den weit verbreiteten Ochsenkopf, an das gotische p, das Posthorn, die Lilie, die Weintraube, die Schlange, den Narrenkopf, die Krone, den Bogen mit Pfeil. Die Wasserzeichenforschung hat sich für die paläographische Bestimmung von Texten als sehr nützliche Hilfsdisziplin erwiesen. Allerdings muß sich die Forschung weitgehend damit begnügen, die Zeit der Verwendung und das Verbreitungsgebiet eines Wasserzeichens zu ermitteln. Bei der Verbreitung des Papiers im Abendland wurden ältere Termini für den Papyrus auf den neuen Beschreibstoff übertragen, so die Begriffe carta oder charta ; unterscheidende Adjektiva wie carta papyri, carta cuttunea, carta xylina konnten hinzutreten. Die Termini bombycinus und cuttuneus dürften auf den Rohstoff Leinenhadern hindeuten; es handelt sich um orientalische Lehnwörter. Im 13. Jahrhundert erfolgte der Übergang des Wortes papyrus von Papyrus auf Papier. Die übergroße Zahl der Papierhandschriften des 14. bis 16. Jahrhunderts mit Texten griechischer, lateinischer und mittelalterlicher Autoren erhellt augenscheinlich die Bedeutung des Papiers als Überlieferungsträger. Mögen viele Codices auch als spätere Abschriften philologisch weniger bedeutsam erscheinen, so dürfen die codices recentiores nicht pauschal als deteriores abqualifiziert werden. Auch gibt es viele mittelalterliche

129

Autoren, deren Werke nur mehr in Papierhandschriften überliefert sind.

5.

Schreibinstrumente

Als Schreibinstrument wurden im alten Ägypten dünne Binsen verwendet, die mit ihrem gekappten Ende je nach Ansatz dicke oder dünne Striche erzeugten. In Vertiefungen von Schreibpaletten konnte Tinte und Farbe verwahrt werden; in röhrenförmigen Vertiefungen steckten die Binsen. Etwa im 3. Jahrhundert v. Chr. wurde der Kalamos, ein gespitztes Schreibrohr, in allgemeine Verwendung gebracht. Im Abendland trat seit dem frühen Mittelalter die Gänsefeder auf, die mit scharfen Messern zurechtgeschnitten wurde. Die antike Rußtinte wurde durch Mischung eines Klebestoffes mit Ruß unter Beisatz von Wasser hergestellt. Die Römer nannten sie atramentum oder encaustum. Auf den letzteren Begriff gehen die Termini inchiostro (italienisch), inkoust (böhmisch), encre (französisch), ink (englisch), inkt (niederländisch) zurück. Der deutsche Name Tinte und das spanische tinta stammen vom Begriff tinctura oder tincta ab. Seit frühbyzantinischer Zeit tritt braunrote Metalltinte auf, mitunter auch bläulich- grüne Tinte mit dem Beisatz von Kupfervitriol. Galläpfel, Kupfervitriol, Wein, Essig blieben im Mittelalter häufige Ingredienzien der Tinte. Rote Tinte wurde für Überschriften, Auszeichnungsstriche, Unterstreichungen, Zah len, Paragraphenzeichen, Rubrikzeichen, Titel und Schlußschriften verwendet. Schreiber oder Rubrikatoren waren für diese Rubrizierung verantwortlich. Tintenfässer, oft paarweise für schwarze und rote Tinte, sind schon aus der Antike bekannt. Auch ein Horn konnte als Tintenfaß dienen. Zu den vom antiken Schreiber benötigten Gegenständen gehörten auch ein Lineal und ein Schwamm zum Löschen. Der mittelalterliche Schreiber besaß ein Radiermesser und einen Bimsstein zum Tilgen von Schrift. Ein Zirkel diente der Herstellung der für die Linierung benötigten Löcher an den Rändern der Blätter. Die Blindlinien wurden mit Bleirad, Griffel und Lineal eingeritzt; später traten Bleistifte für Bleistiftlinierung hinzu. Lesepulte dienten als Unterlagen. Häufig schrieb der Kopist aber auf seinen Knien, wie erhaltene Miniaturen zeigen. Im Zeitalter des Codex wurden die fliegenden Blätter beschrieben, die erst dann zu La-

130

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

gen zusammengesetzt wurden. Rubrikatoren und Illuminatoren vollendeten ihr Werk zu einem späteren Zeitpunkt; der Schreiber hatte nach entsprechender Vorgabe den Platz für Initialen, Ziertitel und Miniaturen freizulassen.

6.

Literatur

Bischoff, Bernhard. 1986. Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. 2. Auflage. Berlin. Briquet, Charles - Moise. 1923. Les filigranes. 4 Bände, 2. Aufl. Leipzig. Dold, Alban. 1950. Palimpsesthandschriften, ihre Erschließung einst und jetzt, ihre Bedeutung. In: Gutenbergjahrbuch 1950, 16 ff. Hunger, Herbert, Stegmüller, Otto, Erbse, Hartmut et al. (ed.). 1961. Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur Band 1. Zürich. Labarre, Emile Joseph. 1952—1967. Dictionary and encyclopedia of paper and papermaking. Amsterdam. —. et al. (ed.). 1950 ff. Monumenta chartae papyraceae historiam illustrantia or Collection of works and documents illustrating the history of paper. Hilversum. Leif, I. P. 1978. An international sourcebook of paper history. Hamden.

Lemaire, Jacques. 1989. Introduction à la codicologie. Louvain.la-neuve. Lowe, Elias Avery. 1964. Codices rescripti. A list of the oldest Latin palimpsests with stray observations on their origin. In: Mélanges Eugène Tisserant. 5. Citta del Vaticano, 67 ff. Mazal, Otto. 1986. Lehrbuch der Handschriftenkunde. Wiesbaden. Mošin, Vladimir & Traljić, S. M. 1957. Vodeni znakovi XIII i XIV vijeka. Zagreb. Piccard, Gerhard. 1961 ff. Wasserzeichen. Veröffentlichungen der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg. Stuttgart. Ranker, A. 1950. Das Buch vom Papier. 3. Aufl. Wiesbaden. Reed, R. 1973. Ancient skins, parchments and leathers. London. —. 1975. The making and nature of parchment. Leeds. Sabbe, E. 1947. Papyrus et parchemin du haut moyen age. In: Miscellanea in Honorem Leonis van der Essen. 1. Brüssel, 95—103. Santifaller, Leo. 1953. Beiträge zur Geschichte der Beschreibstoffe im Mittelalter. Teil 1: Untersuchungen. Graz/Köln. Stiennon, Jacques. 1973. Paléographie du moyen age. Paris. Weiss, Karl Theodor. 1962. Handbuch der Wasserzeichenkunde. Leipzig.

Otto Mazal, Wien (Österreich)

9. 1. 2. 3.

Elektronische Lese- und Schreibtechnologien

10. 11.

Einleitung Überblick Möglichkeiten elektronischer Datenverarbeitung Desktop publishing (DTP) Schriftzeichenerkennung Dokumentanalyse Scanner Drucker Elektronischer Dokumentaustausch und Standards Schlußbetrachtung Literatur

1.

Einleitung

4. 5. 6. 7. 8. 9.

Elektronische Datenverarbeitung und mo derne Kommunikationstechnik haben wäh rend des vergangenen Jahrzehnts die Lese-

und Schreibtechnologie in einem Maße verändert, das an die Einführung des Buchdrukkes durch J. Gutenberg im 15. Jahrhundert erinnert. Diese neuen Technologien ermöglichen heute eine nahezu uneingeschränkte Gestaltungsvielfalt von Schriften und Dokumenten, die Speicherung und rasche Verfügbarkeit der notwendigen Informationen sowie den weltweiten Austausch von Nachrichten in Sekundenschnelle. Die Schriftlichkeit erreicht damit eine weltweite Dimension und eine Vielseitigkeit, die über alle Kulturen und Bevölkerungsschichten übergreift. Die Auswirkungen dieser technologischen Veränderungen auf unsere Kultur, Politik, Wissenschaft und Publizistik sind gewaltig. Wie alle technischen Neuerungen bieten auch diese eine Fülle von Chancen zur fruchtbaren Nutzung, aber auch gewisse Risiken des Mißbrauchs.

131

Funktionen

Anwendungsbeispiele

elektronische

Belege lesen

Verarbeitung

Texte verfassen Grafik erstellen desktop publishing

Speicherung

elektronische Aktenordner Archive (magnet. und optische Speicher) Datenbanken l

Übertragung

FAX electronic mall

Abb. 9.1: Funktionen der maschinellen Verarbeitung von Schriften.

Der vorliegende Beitrag stellt die Funktionsweise und die Möglichkeiten der elektronischen Lese- und Schreibtechnologien dar und versucht, die Bedeutung an einigen Beispielen zu belegen. In unserem täglichen Leben sind wir Menschen daran gewöhnt, Schriften auf Papier in Händen zu halten. Dabei verwenden wir sehr vielfältige Formen wie beispielsweise Bücher, Zeitungen, Briefe, Dokumente, Skizzen, Pläne und vieles andere. Sie werden von uns Menschen gelesen und in der uns allen vertrauten Weise genutzt. Papiervorlagen sind bequem zu handhaben, lassen sich leicht transportieren, können an jedem Ort ohne technische Einrichtung bearbeitet werden, können leicht mit Notizen versehen werden und sind schließlich vor Zerstörung relativ sicher. So werden die Menschen auf Schriften in Papierform nicht verzichten können und

das papierlose Büro bleibt auch in nächster Zukunft eine Fiktion (Ryan 1991, Schäfer 1986). Auf der anderen Seite werden die Möglichkeiten und der Funktionsumfang der elektronischen Verarbeitung durch die moderne Rechnertechnik ständig erhöht. Abb. 9.1 gibt darüber einen Überblick. Texte können beispielsweise mit Hilfe von Publishing Systemen gestaltet, mit Bildern und Grafiken kombiniert und aufbereitet werden. Als elektronische Daten werden Briefe, Dokumente und Informationen über schnelle Nachrichtenkanäle über die ganze Welt verbreitet, auf Datenbanken (→ Art. 11) gespeichert und für raschen Zugriff verfügbar gemacht. Auf diese Weise ist auch die elektronische Form der Schrift aus unserem heutigen Leben nicht mehr wegzudenken, und sie erreicht eine stets wachsende Bedeutung. Elektronische Lese- und Schreibtechnologien ermöglichen die Umsetzung zwischen der papierenen und der elektronischen Welt (z. B. Baird 1992, O’Gorman 1992, Hundt 1987, Schürmann 1984). Lesegeräte und - technologien setzen Papiervorlagen in elektronische Daten um, die dann elektronisch weiterverarbeitet werden können. Schreibgeräte und - technologien erzeugen aus den Daten wieder Papiervorlagen, die für unseren üblichen Umgang geeignet sind. Schreib- und Lesetechnologie sind Bindeglieder eines Kreislaufes zwischen Papier und elektronischen Daten bzw. zwischen elektronischer Verarbeitung

Abb. 9.2: „Kreislauf“ von der Erzeugung eines Papierdokumentes über den Drucker zur Erfassung von Papierdokumenten durch den Scanner und anschließende Interpretation.

132

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

und menschlicher Handhabung, wie er in Abb. 9.2 dargestellt ist. Diese Technologien nehmen Schlüsselfunktionen im Umgang mit Schrift und Schriftlichkeit ein.

2.

Überblick

Der vorliegende Beitrag beschreibt die große Spannweite elektronischer Schreib- und Lesetechnologien. Ihre Einsatzmöglichkeiten und Funktionsweisen sowie die heute verfügbaren Funktionalitäten werden erörtert und an einigen erklärenden Anwendungsbeispielen diskutiert. Zugleich wird der Stand der am Markt verfügbaren Komponenten und Geräte vorgestellt. Zf. 3 zeigt die Möglichkeiten elektronischer Datenverarbeitung im Zusammenhang mit Schreib- und Lesetechnologien auf. Beispiele sind die numerische kalkulatorische Bearbeitung von Belegen, die Automatisierung im Büro und in der Verwaltung sowie die redaktionelle Texterstellung und die Unterstützung des kreativen Schreibprozesses für Publizistik, Wissenschaft und Wirtschaft. Aufkommende neue Technologien wie Multimedia und elektronisches Papier werden kurz erläutert. Zf. 4 beleuchtet Desktop publishing (DTP) als ganz neues, im Entstehen begriffenes, aber für die Zukunft wichtiges Beispiel der elektronischen Schreibtechnologie. DTP bedeutet die Unterstützung durch den Computer bei allen Schritten von der Erstellung des Manuskriptes bis zum Druck der endgültigen Vorlage. Die Zfn. 5 und 6 beschäftigen sich mit den Verfahren der elektronischen Lesetechnologien. Die in jedem Lesegerät vorhandene Schriftzeichenerkennung (OCR) wird in Zf. 5 ausführlich vorgestellt und erklärt. Während die OCR nur die Aufgabe hat, zu jedem einzelnen Bild eines isolierten Schriftzeichens den zugehörigen Computer - Code zu erkennen, geht es bei der Dokumentanalyse in Zf. 6 um eine weitergehende Analyse des ganzen Dokumentes. Dabei wird sowohl die Form und der Aufbau eines Dokumentes analysiert als auch der Inhalt erschlossen. Die Zfn. 7 und 8 beschreiben die zum elektronischen Lesen und Schreiben benötigten Geräte. Die Funktionsweise und Technik der Scanner wird in Zf. 7 und die der Drucker in Zf. 8 behandelt. Wachsende Bedeutung haben heute die Möglichkeiten, über öffentliche oder private Netze Nachrichten und Schriften zu übertra-

gen und auszutauschen. In großen Datenbanken elektronisch gespeicherte Informationen können in Sekundenschnelle über große Entfernungen abgerufen werden. Diese Techniken werden in Zf. 9 betrachtet.

3.

Möglichkeiten elektronischer Datenverarbeitung

Ohne elektronische Datenverarbeitung werden Texte handschriftlich oder mit Schreibmaschine geschrieben. Das Ergebnis ist dabei ein Papierdokument. Immer mehr Texte werden heute schon gleich mit dem Computer erstellt. Das Ergebnis ist ein elektronisches Dokument, das mit den vielfältigen Verfahren der elektronischen Datenverarbeitung (EDV) weiterverarbeitet werden kann. Es kann auch jederzeit auf dem Bildschirm dargestellt oder mit dem Drucker auf Papier gebracht werden. Die neuen Möglichkeiten und Trends der EDV für Schrift und Schriftlichkeit werden im folgenden vorgestellt. Es werden beispielhaft zwei Gebiete beschrieben, die heute schon die EDV intensiv nutzen: (1) Die reine Texterstellung und - bearbeitung im Büro und in Verlagen, und (2) die Buchungs - und Datenbankanwendungen in Banken, Versicherungen und Betrieben. Die Texterstellung am Computer mittels Tastatur und Bildschirm ist zwar der Arbeit mit der Schreibmaschine sehr ähnlich, erlaubt aber müheloses Korrigieren, Abändern und Wiederverwenden von Texten und Textteilen. Hinzu kommen noch die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten bei der Form und Struktur des Dokumentes. Wenn das elektronische Dokument nach Fertigstellung am Bildschirm im Büro gleich ausgedruckt wird und in kleiner Auflage verteilt wird, spricht man von Desktop publishing (vgl. Zf. 4). Für größere Auflagen wird die EDV noch weiter genutzt zum automatischen Erstellen der Druckvorlagen aus dem elektronisch gespeicherten Dokument. Zeit und Kosten für die Druckerei können dadurch gesenkt werden. In Zeitungsverlagen können aktuelle Meldungen gleich elektronisch über Fernschreiber usw. übernommen und von Redakteuren überarbeitet werden. Dabei hat jeder am Erstellungsprozess Beteiligte Zugriff auf die aktuelle Version des Textes, wenn die Computerarbeitsplätze miteinander vernetzt sind. Die Stärke der Texterstellung mit Hilfe der EDV zeigt sich durch Zusatzfunktionen wie automatische Silbentrennung, Randausgleich, Rechtschreibkor -

9.  Elektronische Lese- und Schreibtechnologien

Abb. 9.3: Überweisungsbelege als Beispiel für die automatische Erfassung und Bearbeitung von Dokumenten.

rektur oder sogar Hinweise auf stilistische Schwächen wie Wortwiederholungen. Im Gegensatz zur Texterstellung in Büro und Verlagen wird die Schriftlichkeit auf dem Gebiet der kommerziellen EDV (Banken, Versicherungen usw.) weitgehend nach inhaltlichen Aspekten ausgewertet. Hier spielen die Zahleneingaben und kurze Eintragungen wie Namen die entscheidende Rolle. Bei einer Banküberweisung wird z. B. ein Feld für den Empfänger, eines als Kontonummer und ein anderes als Überweisungsbetrag ausgewertet (vgl. Abb. 9.3). Das ermöglicht z. B. eine unmittelbare Aktualisierung des Kontostandes durch den Computer. Wenn die Überweisung vom Kunden auf einem Papierformular ausgefüllt wurde, müssen die Daten entweder über das Terminal oder durch einen Belegleser (vg. Zfn. 5 und 6) in den Computer gebracht werden. Mit Datenbanken und vernetzten Computersystemen lassen sich weltweit Buchungen oder auch Reservierungen für Flüge oder Hotels durchführen. Eine vor allem im kaufmännischen Bereich weit verbreitete Anwendung ist das Schreiben und Auswerten von Tabellen. Dazu bietet die elektronischen Datenverarbeitung heute leistungsfähige Programme, sogenannte Spreadsheet oder Tabellenkalkulationsprogramme. Der Vorteil des Rechners besteht darin, daß

133

er die Zahlenwerte in der Tabelle gleich automatisch verknüpfen und auswerten kann, wie z. B. die Summe über alle Einträge einer Spalte. Hier steht die übersichtliche Darstellung und die leichte Änderbarkeit im Vordergrund. Darüber hinaus gibt es noch viele EDV Anwendungen, die erst durch die elektronische Form der Dokumente möglich sind, wie z. B. das Senden und Empfangen von elektronischer Post (e-mail), Facsimile (FAX, Fernkopie) oder Teletext. Hierzu sind allerdings einheitliche Standards (vgl. Zf. 9) für die Formate der zu übertragenden Daten erforderlich. Zur Umwandlung der verschiedenen vorhandenen elektronischen Formate werden Konversionsprogramme angeboten. Das Papier als Träger der Information wird in steigendem Maße durch digitale Speichermedien ergänzt. Halbleiter- und Magnetspeicher sowie optische Speichermedien werden immer leistungsfähiger und billiger. Mit optischen Platten ist beispielsweise eine sehr kompakte Speicherung von Dokumenten möglich, auf einer Platte lassen sich ca. 100 000 Seiten Text unterbringen. Solange jedoch die Bildschirme noch nicht die hohe Bildschärfe, Mobilität und Flexibilität des Papiers haben, wird man auf das Papier nicht verzichten können. Während die bisher erwähnten Techniken des Umganges mit dem Computer über Bildschirm und Tastatur in schriftlicher Form erfolgen, lassen innovative Entwicklungen, auf Gebieten wie Spracherkennung, MultimediaTechnik und Elektronischem Papier, in Zukunft Einfluß auf den Umgang mit Schrift und Schriftlichkeit erwarten: Wenn die langjährigen Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der automatischen Erkennung der gesprochenen Sprache zu leistungsfähigen und erschwinglichen Erkennungsgeräten führen, dann wird sicher ein großer Teil des Schreibens durch das Diktieren ersetzt werden. Mit einer Sprachausgabe können auch elektronische Dokumente automatisch vorgelesen werden. Auf eine angenehme Computerstimme wird man allerdings noch geraume Zeit warten müssen. Mit der Multimediatechnik wird die Schrift durch weitere Medien wie Grafik, Bild, Bildszene, Sprache und Ton ergänzt. Dadurch wird zugleich die Mensch- Maschine Kommunikation auf eine breitere Basis gestellt und ein effektiverer Informationsaustausch möglich im Vergleich zu den rein textorientierten Systemen. So können z. B. Kommentare zu einem Text als Sprachanmerkungen im elek

134

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

tronischen Dokument eingefügt werden, um dem Leser auf natürliche Weise akustisch eine Zusatzinformation zu geben. Multimediasysteme erlauben auch die Integration von Videoszenen oder bewegter Computergrafik, um beispielsweise dem Servicepersonal die Fehlersuche in komplexen Anlagen zu erleichtern. Eine weitere neue Entwicklung ist das sogenannte elektronische Papier (s. a. Carr 1991). Mit einem elektronischen Griffel (Schreibstift) schreibt der Benutzer auf ein flaches Display, das die Spur seiner Schriftzüge als „elektronische Tinte“ wie auf dem Papier wiedergibt. Die Hardware besteht aus einem flachen Display (LCD- Monitor) und einem auf seiner Oberfläche angebrachten positions empfindlichen Sensortablett. Kernstück dieser neuen Technik ist jedoch eine Software, die aus den Schriftzügen die Bedeutung der Schriftzeichen erkennt und als ComputerCode in die Anwendungsprogramme des Computers umsetzt, wie z. B. in Textverarbeitungs- Programme. Wenn die technischen Probleme hierzu gelöst sind, können wir eines Tages die Vorteile des Schreibens mit (Blei)stift und Papier (Portabilität, direkte Sichtbarkeit und Manipulation) auch auf dem Computer haben mit den weiteren Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung wie Auswertung und Kommunikation. Das könnte dann zu einer Renaissance der Handschrift führen.

4.

Desktop publishing (DTP)

Desktop publishing (abgekürzt: DTP) bedeutet soviel wie „am Schreibtisch publizieren“. Es ist auch unter der Bezeichnung Computer Aided Publishing (CAP) bekannt und ist heute zu einer der wichtigsten Computeranwendungen geworden. DTP ist einer der wesentlichen Fortschritte in der Geschichte des Publizierens seit Gutenberg (Trambacz 1987). Mit DTP können alle Schritte von der Manuskripterstellung bis zur Endgestaltung der Publikation vom Schreibtisch aus am Computer schnell und kostengünstig in einem einheitlichen Datenformat durchgeführt werden. Das DTP orientiert sich an den Verarbeitungsschritten der professionellen Verlage, die Veröffentlichungen mit hohen Auflagen herstellen, wie Zeitungen, Zeitschriften und Bücher. Während die professionellen Publishing Programme von Spezialisten benutzt werden, haben die DTP eine auch für Laien verständliche Benutzerführung. Die wesentlichen Ver-

arbeitungsschritte des DTP sind Manuskript schreiben, Korrektur des Textes, Layout erstellen, Bilder und Grafiken erzeugen, Bilder und Grafiken in das Dokument einbinden, Auswahl des Zeichensatzes, Seitenumbruch, Seitennumerierung, u. U. Inhaltsverzeichnis erstellen, und schließlich Ausdruck auf Laserdrucker. DTP- Systeme bestehen aus Hardware und Software. Zur Hardware gehören der Computer mit den Ein- und Ausgabegeräten Tastatur, Maus und Bildschirm sowie Drucker und Scanner. Die DTP- Software besteht aus Programmen zur Erstellung und Korrektur von Texten (Texteditoren) sowie zur Gestaltung des Layouts, d. h. der Anordnung von Textspalten, Abbildungen, Bildunterschriften usw. Außerdem kann die Typographie in nahezu unbegrenzter Art und Weise gestaltet werden durch graphisches Erzeugen neuer Schriftzeichenformen (Fonts) und deren Hervorhebungsmöglichkeiten wie Kursiv- , Fettdruck usw. Im folgenden werden die Komponenten von DTP-Systemen vorgestellt. Zum Kern der Hardware eines DTP Sytems gehört der Computer, bestehend aus Prozessor, Hauptspeicher und Magnetplatte, sowie der Bildschirm, die Tastatur und die Maus. Die Tastatur dient der Texteingabe in gewohnter Weise. Die Maus ist neben der Tastatur zum üblichen Zeigegerät für DTP geworden und wird zur Auswahl der zu bearbeitenden Stelle des Dokumentes verwendet. Die aktuelle Position wird auf dem Bildschirm mit einer Marke (Cursor) angezeigt, und mit einer oder bis zu drei Tasten auf der Maus werden Auswahlaktionen ausgelöst. Als neuestes Eingabegerät gibt es den Scanner, mit dem Papiervorlagen mit Bildern, Grafiken und Text in ein elektronisches Bild umgewandelt werden (vgl. Zf. 7). Bilder und Grafiken werden dabei unverändert in das Dokument als Abbildung übernommen. Textteile müssen durch anschließende Dokumentanalyse und Schriftzeichenerkennung (vgl. Zfn. 5 und 6) in die interne Dokumentstruktur des DTP umgesetzt werden. Das wichtigste Ausgabemedium zur Darstellung von Text, Grafik und Bild für die Arbeit am Computer ist der Bildschirm, der zur visuellen Rückkopplung der Eingabe unerläßlich ist. Der Drucker wird benötigt zur Ausgabe von Text, Grafik und Bild auf Papier (vgl. Zf. 6). Wenn die Qualität des Druckers nicht ausreicht, werden Belichter (Fotosatzmaschi-

135

nen) zur Ausgabe von Text, Grafik und Bild in hoher Auflösung eingesetzt. Der entscheidende Bestandteil eines jeden DTP- Systems ist — trotz des rasanten Fortschritts der Hardware — die Software. Sie ermöglicht, verglichen mit der herkömmlichen Schreib- und Satztechnik, völlig neuartige Gestaltungsmöglichkeiten. Mit Tastatur und Monitor kann der Computer zunächst als elektronische Schreibmaschine verwendet werden. Der Vorteil gegenüber der mechanischen Schreibmaschine liegt in der leichteren Art und Weise, den Text zu ändern, und in der Wiederverwendbarkeit von gespeicherten Textteilen, was bei den herkömmlichen Schreibverfahren nur mit Schere und Kleber gemacht werden kann. Letztere Funktion des Korrigierens eines Textes durch Ausschneiden (engl. cut ) und Einkleben (engl. paste ) ist eine der häufigsten Operationen in Text- und Grafik- Editoren und wird auch danach so (cut and paste) benannt. Diese Operation braucht nur noch einen Bruchteil der Zeit des entsprechenden mechanischen Vorgangs. Außerdem ist die Benutzeroberfläche der DTP- Programme grafikorientiert, d. h. der Benutzer muß nicht die Funktionen über Kommandozeilen ausführen, sondern er kann über Auswahlmenues mit der Maus auf einfache Weise die Funktion auslösen. Die häufigsten Funktionen sind Löschen, Kopieren, Verschieben, Suchen nach einem Wort usw. Darüber hinaus sind Hilfsinformationen in unklaren Situationen direkt über das Menue abrufbar, ohne mühsames Blättern im Ma-

nual. Doch DTP ist mehr als reine Textverarbeitung oder eine elektronische Schreibmaschine! DTP ermöglicht die Gestaltung des Layouts einer ganzen Seite eines Buches, einer Zeitschrift oder Zeitung (siehe Abb. 9.4). Das wurde möglich durch die verbesserte Darstellungsqualität der Monitore und die grafikorientierte Benutzeroberfläche. Damit ist auch die gleichzeitige Bearbeitung mehrerer Seiten eines Dokumentes oder mehrere Dokumente in verschiedenen überlappenden Fenstern auf dem Bildschirm möglich. Die Kombination von Grafik und Text erlaubt auch das Ausfüllen von Vordrucken und Formularen. Diese neue Technik des DTP nennt man „WYSIWYG“ ( What You See Is What You Get, d. h. was auf dem Bidschirm gezeigt wird, erscheint nach dem Ausdrucken auch so auf dem Papier). Der Bildschirm stellt ein maßstabsgetreues Abbild der zu druckenden Seite dar. Die meisten DTP Programme erlauben auch das Erstellen von Grafiken oder das Einfügen externer Grafik- und Bilddateien. Bilder wie Photos oder Zeichnungen können dabei mit einem Scanner (vgl. Zf. 7) digitalisiert und abgespeichert werden. Zusätzliche Softwareprogramme (Fonteditor) ermögli chen Entwurf und Änderung der Gestalt der verwendeten Schriftzeichen (sogenannte Fonts, wie z. B. Courier, Helvetica, Times). Fertige Fonts werden auch als Dateien von spezialisierten Firmen angeboten. Der Laserdrucker mit seiner hohen Auflösung (vgl. Zf. 5) erlaubt eine wesentlich bes-

Abb. 9.4: Layout einer Seite und Rückseite auf einem DTP-System.

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

136

sere Qualität der Ausgabe, als sie auf dem Bildschirm möglich ist, und verhilft dem DTP zu einer leistungsfähigen und kostengünstigen Herstellung kleiner Auflagen. Die Leistungsfähigkeit von DTP Systemen nimmt noch weiter zu, so daß die Unterschiede zu den professionellen Systemen allmählich geringer werden (Bieler 1987, Bove 1987, Görgens 1987).

5.

Schriftzeichenerkennung

Die Schriftzeichenerkennung, auch optical character recognition (OCR) genannt, hat zum Ziel, in einem Schriftstück einzelne Schriftzeichen zu erkennen. Dazu wird aus der Vorlage ein einzelnes Zeichen separiert und dem entsprechenden Buchstaben des Alphabets zugeordnet. Erste Systeme für den praktischen Einsatz wurden bereits in den 50er Jahren entwickelt, die allerdings starke Einschränkungen aufwiesen (Nagy 1982). So konnten nur wenige Zeichen in einer fest vorgegebenen Schriftart erkannt werden. Außerdem war eine perfekte Qualität der Vorlage Voraussetzung. Heutige Systeme haben einen technisch sehr hohen Stand erreicht, der sich in leistungsfähigen auf dem Markt verfügbaren Geräten zeigt. Schrittmacher für den praktischen Einsatz sind die Banken mit dem automatischen Lesen von Schecks und Belegen. Die weitere Verbreitung in der Verwaltung, in Schreibbüros, im Zeitungswesen ist in vollem Gange. Der Verkauf von Scannern und Beleglesern zeigt derzeitig hohe jährliche Wachstumsraten. Zugleich sind aber auch Forschungsarbeiten im Gange. Sie konzentrieren sich auf störungsunempfindliche Erkennung unter Berücksichtigung benachbarter Schriftzeichen und des Kontextes, sowie auf die Erkennung von Handschrift. Ziel der OCR- Verfahren ist die Erkennung von Schriftzeichen auf Papiervorlagen oder auf Werkstücken und Teilen. Schriftzeichen sind Ziffern, Buchstaben des Alphabets sowie gewisse Sonderzeichen. Dabei kann jedes Zeichen in unterschiedlichem Schriftfont und in verschiedenartiger Ausprägung vorliegen. Durch die Anwendung der Computertechnik wird heute die Vielfalt der Schriftgestaltung ständig erhöht (vgl. Abb. 9.5) und damit das Erkennungsproblem erschwert. Für bestimmte Anwendungen kann allerdings die Menge der Zeichen, sowie deren Ausprägung eingeschränkt werden. So wurde beispielsweise für die automatische Bearbei-

tung von Schecks und Belegen eine spezielle Schrift geschaffen, OCR- A und OCR- B (vgl. Abb. 9.5). Sie ist so gestaltet, daß eine besonders einfache und sichere Erkennung möglich ist und sie wird zur automatischen Verarbeitung bei Banken und bei der Verwaltung sehr viel eingesetzt. Leistungsfähige Erkennungssysteme sind heute aber in der Lage, über 100 verschiedene Zeichen in den gängigen Schriftarten (ca. 25) zu erkennen. Auch Handblockschrift kann heute mit recht guter Sicherheit verarbeitet werden. Dagegen ist die Erkennung von fließender Handschrift ein ungelöstes Problem und Gegenstand der Forschung. Bei einer speziellen Anwendung, der handschriftlichen Direkteingabe mit einem Stift auf einem elektronischen Tablett (vgl. Zf. 3), werden Zusatzinformationen über die Dynamik des Schreibvorganges zur Erkennung herangezogen (vgl. Tappert 1990). Neben der Erkennung der alphanumerischen Zeichen ist die Erkennung von japanischen und chinesischen Handschriftzeichen heute ein wesentliches Forschungsgebiet. Im Hinblick auf Maschinenschrift konzentrieren sich die Entwicklungen auf die Erkennung von fett gedruckten, kursiven oder speziell ausgeprägten Schriftzeichen sowie auf die Trennung verklebter Zeichen (Bayer 1987), insbesondere bei Proportionalschrift oder bei speziellen Satztechniken. Besonderes Gewicht liegt auf der Verarbeitung von Kontext, um bei zweifelhaften Erkennungen aus den benachbarten Zeichen und aus Zusatzinformationen Rückschlüsse ziehen zu können. Hierbei werden auch Ansätze der wissensbasierten Verarbeitung verfolgt. Der größte Anwendungsbereich liegt in der Erfassung und Sortierung von Belegen und Formularen für Banken und für Verwaltung (siehe Abb. 9.3). Die Anforderungen sind vor allem eine möglichst hohe Lesegeschwindigkeit, und hohe Toleranz bezüglich der Druckund Vorlagenqualität. Dagegen ist in vielen Fällen die Vielfalt der zu erkennenden Zeichenklassen eingeschränkt. Bei Hochleistungsgeräten werden bis zu 150 000 Belege pro Stunde verarbeitet mit einer Erkennungsrate von bis zu 3000 Zeichen pro Sekunde. Dabei wird mit 0,001% Fehlerkennung (Substitutionen), d. h. falsch erkannte Zeichen, und 0,01% Rückweisungen, d. h. vom System nicht erkennbare Zeichen, eine extrem hohe Erkennungssicherheit erreicht. Naturgemäß ist die Erkennung auf wenige Schriftarten wie OCR- A und OCR- B und eventuell auf eine reduzierte Zeichenmenge eingeschränkt. Bei

9.  Elektronische Lese- und Schreibtechnologien

137

Abb. 9.5: Einige Beispiele der heute vorkommenden Schriftarten, die von OCR-Systemen beherrscht werden müssen.

vielen Anwendungen wird aber der volle Zeichensatz mit allen verfügbaren Schriftarten einschließlich Handblockschrift verlangt. Hier reduziert sich dann der Durchsatz auf ca. 500 bis 1000 Belege/Stunde bei ca. 300 Zeichen pro Sekunde je nach Anzahl der zu lesenden Zeilen. Der zweite große Anwendungsbereich liegt in der Texteingabe für Schreibbüros, Zeitungswesen, Dokumentation und ähnlichem. Solche Geräte dienen zur Erfassung ganzer Textseiten für die elektronische Weiterverarbeitung, wie Textbearbeitung, Übertragung, Drucken usw. Solche Ganzseitenleser sind schon seit einiger Zeit verfügbar, können sich aber am Markt nur wesentlich langsamer durchsetzen als erwartet wurde. Dies ist vermutlich durch die beschränkte Zahl der erkennbaren Schriftfonts und durch eine für den praktischen Einsatz unbefriedigende Lesequalität bedingt. Bei diesen Anwendungen kann von Vorlagen in guter Druckqualität meist im Format A4 ausgegangen werden. Die Schrift ist Maschinenschrift mit dem vollen Zeichensatz. Heutige Geräte verarbeiten ca. 30 DIN A4- Seiten pro Stunde mit ca. 100 Zeichen pro Sekunde.

Außerdem gibt es eine Reihe von Spezialanwendungen für Lesegeräte, die vorwiegend zur Prozeßautomatisierung dienen und jeweils sehr spezielle Anforderungen stellen. Dies sind beispielsweise die Handlesegeräte, die entweder Barcode oder einfache Schriftzeichen erfassen und beispielsweise an Registrierkassen oder zur Lagerhaltung eingesetzt werden. Sie müssen sehr klein, handlich und insbesondere sehr billig sein, können aber meist auf einen extrem kleinen Schriftzeichensatz beschränkt sein. Ein anderes Beispiel sind Adressleser zum automatischen Sortieren von Briefen. Bei der Post können heute ca. 80% der einkommenden Briefe erfaßt und automatisch sortiert werden. Dabei wird eine Durchsatzrate von 30 000 Briefen pro Stunde entsprechend ca. 500 Zeichen pro Sekunde erreicht. In der Regel wird sowohl die Postleitzahl, als auch die Adresse gelesen. Die Ausnutzung dieser Redundanz erhöht die Erkennungssicherheit. Dabei muß allerdings der volle Zeichensatz in verschiedenen Schriftarten erkannt werden. Die Verfahren der Schriftzeichenerkennung haben inzwischen einen hohen Entwicklungsstand erreicht und sind auch theoretisch gut

138

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

fundiert (Nagy 1982, Niemann 1983, Schürmann 1984, O’Gormann 1992). Die Verarbeitung beginnt mit dem Abtasten des Dokumentes im Raster von üblicherweise ca. 100 µm, woraus später pro Einzelzeichen eine Matrix von etwa 32 × 32 Pixeln gebildet wird. Daraus müssen zunächst die einzelnen Zeichen separiert werden. Diese Verfahren führen jedoch zu Schwierigkeiten, falls gewisse Zeichen sich berühren oder überlappen. Ausgangspunkt der Einzelzeichenerkennung ist ein Raster von Bildpunkten, das als Meßwertvektor aufgefaßt werden kann. Daraus werden geeignete Merkmale berechnet, die eine eindeutige Zuordnung in eine der Zeichenklassen erlauben. Im allgemeinen entspricht diese Klasse genau einem Zeichen (Ziffer oder Buchstabe). Für gestaltgleiche Zeichen, wie z. B. l, I und 1 in manchen Schriftfonts, bilden sie zunächst eine gemeinsame Gestaltklasse, die durch den Kontext in die richtige Zeichenklasse zugeordnet werden muß. Aber auch gestaltverschiedene Darstellungen ein und desselben Zeichens, wie z. B. a und a, können die gleiche Zeichenklasse, hier „klein A“, bilden. Charakteristische Merkmale sind beispielsweise die Zahl und die Anordnung der Schwarzpunkte beim Matrixverfahren oder die Zahl der Schwarz- /Weißübergänge und die Zahl der Schwarzpunkte aus verschiedenen Winkelschnitten (Bernhard 1984, Kahan 1987). Üblicherweise werden pro Schriftzeichen ca. 100 Merkmale gewonnen. Sind sie richtig gewählt, so bilden die Vertreter der gleichen Musterklasse eine scharf begrenzte Punktwolke in dem Merkmalsraum. Die Eigenschaften dieser Cluster werden durch eine Lernstichprobe ermittelt. Danach wird der Klassifikator eintrainiert. Zur eigentlichen Klassifikation gibt es verschiedene Ansätze, z. B. statistische auf Grund der Wahrscheinlichkeitsverteilung oder geometrische auf Grund von Trenn- und Diskriminantenfunktionen, die heute vorwiegend angewandt werden.

6.

Dokumentanalyse

Die in Kapitel 5 diskutierten Ansätze befaßten sich mit der Erfassung einzelner, isolierter Schriftzeichen. Die beschriebenen Verfahren sind heute in Lesegeräten implementiert, kommerziell verfügbar und in vielen Anwendungen routinemäßig im Einsatz. Diese Ansätze genügen jedoch nicht, um die Schriftlichkeit im weiteren Sinne zu erfassen (Fruch-

termann 1989). So kann der Inhalt von frei gestalteten Dokumenten nicht erschlossen werden. Dies ist insbesondere dann schwierig, wenn die Dokumente keine starr vorgegebene Form wie beispielsweise bei Formularen haben. Hier genügt es nicht mehr, einzelne Buchstaben zu erkennen. Man muß hier auf den semantischen Inhalt der Worte schließen und zugleich aus dem Layout, d. h. Anordnung der Textblöcke, auf die Art und den Inhalt des Dokumentes schließen. Erst so läßt sich die Schriftlichkeit voll erfassen. Für einen breiten Einsatz im Bürobereich sind solche Verfahren unerläßlich. Sie sind heute allerdings erst im Stadium der Entwicklung und werden in den nächsten Jahren allmählich in kommerziellen Geräten verfügbar sein. Die wissensbasierte Analyse hat zum Ziel, auch den Bedeutungsinhalt von Dokumenten zu erschließen und einer Weiterverarbeitung zugänglich zu machen (Hundt 1987, Überblicksartikel in Baird 1992 und O’Gorman 1992). Beispielsweise wird automatisch erkannt, ob das vorliegende Dokument ein Geschäftsbrief ist, so daß wichtige Informationen wie Absender, Datum oder Betreff extrahiert werden können, um in entsprechenden Datenbanksystemen abgelegt zu werden (Kreich 1991, Dengel 1992). Die wissensbasierte Dokumentanalyse macht grundsätzlich keine Einschränkungen mehr hinsichtlich der Gestaltung gedruckter Vorlagen: es ist das im Buch- und Zeitschriftendruck übliche Layout mit unterschiedlichen Fonts und zusätzlichen Grafiken, Logos und Halbtonbildern zugelassen. Daraus leiten sich die drei wichtigsten Komponenten der Dokumentenanalyse ab, nämlich (1) die Zerlegung (Segmentierung) in Text- , Grafikund Bildteile, (2) die Repräsentation des Wissens über Layout und Inhalt von Dokumenten und (3) der Kontroll- und Inferenzmechanismus zur Steuerung der wissensbasierten Analyse (vgl. Abb. 9.6). Im Rahmen der wissensbasierten Analyse wird der Typ des Dokumentes und die inhaltliche Bedeutung einzelner Blöcke aus einer allgemeinen Beschreibung des Layouts erschlossen. Das Wissen über die möglichen Vorlagen ist in einem Modell niedergelegt. Hier sind die möglichen Anordnungen der Textblöcke, ihre Beziehungen zueinander und ihre möglichen Ausprägungen festgelegt. Grundlage für die wissensbasierte Analyse ist eine Zuordnung zwischen Layout und logischem Inhalt. Um die Vielfalt der im Büro vorkommenden Dokumente unter einem ein-

9.  Elektronische Lese- und Schreibtechnologien

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Abb. 9.6: Wissensbasierte Dokumentanalyse mit den drei Komponenten: Text/Grafik/Bild-Segmentierung, Wissensbasis sowie Kontroll- und Inferenzmechanismus.

Abb. 9.7: Formularerkennung durch Analyse des Grafischen Layouts (links) und Zuordnung der logischen Bedeutung (rechts).

heitlichen Gesichtspunkt beschreiben zu können, wurde eine Dokumentenarchitektur (ODA = office document architecture) entwickelt. Sie wurde von internationalen Gremien wie ISO, CCITT und ECMA standardisiert (vgl. ISO 1988). Der Inhalt (content) eines Dokumentes wird dabei sowohl aus logischer Sicht (z. B. Kapitel, Überschrift, Fuß-

noten usw.), als auch aus der Sicht des Layouts (z. B. Seiten, Textblöcke, Zeilen usw.) beschrieben. Ein Bürodokument wird dabei als hierarchische Struktur von Objekten und Relationen so flexibel beschrieben, daß es anwendungs- und geräteunabhängig gespeichert, übertragen und bearbeitet werden kann. Diese Dokumentstruktur eignet sich

140

deshalb auch für die Modellbildung bei der Dokumentanalyse. Die Dokumentarchitektur reicht zur Analyse jedoch nicht aus. Die Wissensbasis braucht noch geeignete Regeln über die gegenseitigen Abhängigkeiten von LogikObjekten und Layout- Objekten. Diese Beziehungen sind von den zu untersuchenden Dokumentklassen, wie z. B. Briefe oder Berichte, abhängig. Die Text- Grafik- Bild- Segmentierung ist eine wesentliche Vorstufe zur wissensbasierten Analyse (Wahl 1982, Kubota 1984, Scherl 1987, Kreich 1991, Dengel 1992). Zur Segmentierung von Halbtonbildern und Grafikanteilen liegen schon erfolgreiche aber noch isolierte Ansätze vor. Einen Schritt weiter geht die Formularerkennung in Abb. 9.7, die den Formulartyp aus dem grafischen Layout ermittelt und damit eine logische Zuordnung von Textteilen ermöglicht. Das auf einem Bildgraph basierende Verfahren ist jedoch noch anfällig gegen Linienunterbrechungen und Verschmelzungen von Grafiken mit Textteilen. Eine Lösung ist in Maderlechner (1986) beschrieben. Ein Verfahren zur Interpretation von Geschäftsbriefen ist in Abb. 9.8 zu sehen. Ausgangspunkt des Analyseprozesses ist die Vorverarbeitung, die zunächst Text/Grafik und Bildbereiche separiert und ihr Layout beschreibt (Abb. 9.8 Mitte). Die dabei erkannten Dokumentteile werden jedoch nicht einfach bottom up oder top down zu einer ODADokumentstruktur zusammengefaßt, sondern bis zu einer endgültigen Entscheidung mit meist heuristischen Bewertungen als Hypothesen verwaltet. Die Steuerung der Inferenzschritte ist bei den Produktionensystemen durch ein schrittweises Anwenden der Regeln und Mustervergleich mit den Fakten gekennzeichnet. Falls Konflikte auftreten, können vorwärts- oder rückwärtsverkettende Strategien und Heuristiken zur Auswahl der Prioritäten (Bewertungen) von Regeln eingesetzt werden (Kreich 1991).

Abb. 9.8: Ablauf der Dokumentanalyse: oben: Beispieldokument eines Geschäftsbriefes; mitte: Ergebnis der Text/Grafik-Segmentierung und Textblockfindung; unten: Ergebnis der wissensbasierten Analyse des Inhaltes und der Struktur des Dokumentes. Die erkannten für einen Brief typischen logischen Bestandteile wie Absender, Datum usw. können automatisch an ein Anwendungsprogramm übertragen werden.

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

141

7.

Scanner

Scanner zählen zu den in Zf. 4 erwähnten neuesten Eingabegeräten für Computersy steme. Der Scanner ist auch das für die OCR und Dokumentanalyse (Kap. 5 und 6) erforderliche Eingabegerät. Dabei wird die auf dem Papier gedruckte, handschriftliche oder gezeichnete Information automatisch abge tastet und als elektronisches Abbild zum Computer übertragen, vergleichbar mit dem heute weit verbreiteten Facsimile (FAX)- Gerät. Das Prinzip des Scanners ist in Abb. 9.9 dargestellt. Mit einer lichtempfindlichen Diodenzeile (CCD- Elemente, Charged-CoupledDevice ) und einer homogenen Beleuchtung wird die Helligkeitsinformation des Papiers zeilenweise abgetastet und mit einem Analog/ Digitalwandler in den Computer als Zahlenwert übertragen. Durch die punktweise Abtastung der Helligkeits- und eventuell auch Farbinformation entsteht im Rechner ein zweidimensionales Zahlenfeld, das auch Rasterbild genannt wird. Die Bildpunkte werden auch Pixel (Abk. von picture element ) genannt und haben typischerweise Werte zwischen 0 und 255 (8 Bit). Die Dimension eines Rasterbildes für eine DIN A4 Seite ist beträchtlich: Bei 300 dpi (Punkte pro Zoll oder 12 Punkte pro mm) ergibt sich z. B. ein Feld von 2500 × 3500 Bildpunkten. Die Zahlenwerte umfassen bei Farbbildern 24 Bit, bei Graubildern 8 Bit und bei Schwarz- Weiß- Bildern (Binärbildern) 1 Bit. Bei Standarddokumenten, die schwarz auf weiß gedruckt sind, reichen die Binärbilder im allgemeinen aus. Es gibt Scanner für die unterschiedlichsten Papierformate von DIN A6 (Belege) bis zu DIN A0 (Technische Zeichnungen), wobei für DTP

das A4 Format eindeutig dominiert. Entsprechend der technischen Realisierung des Scanvorganges unterscheidet man die folgenden 4 Typen von Scannern (Abb. 9.10). Beim Durchzugs- oder Einzugsscanner wird das Papier an der CCD- Zeile durch eine Rollenmechanik vorbeigezogen. Diese Technik erlaubt eine schnelle und präzise Abtastung und eignet sich vor allem für die Erfassung von größeren Mengen von Seiten. — Der Flachbettscanner bewegt die Diodenzeile mechanisch unter einer Glasabdeckung, so daß beliebige Vorlagen, auch gebundene Zeitschriften und Bücher, wie bei einem Kopierer erfaßt werden können. Durch das notwendige manuelle Auflegen ist der Durchsatz typischerweise geringer als beim Durchzugsscanner. — Der Handscanner enthält ebenfalls eine CCD- Zeile mit Beleuchtung. Hier wird die mechanische Abtastung des Dokumentes jedoch manuell vorgenommen. Die Geschwindigkeit und Genauigkeit sind geringer als beim Flachbettscanner. Er eignet sich für gelegentliches Erfassen kleiner Ausschnitte. — Der Trommelscanner besteht aus einer Videokamera mit eingebauter Beleuchtung und eignet sich besonders für das schnelle Erfassen von Fotos und Grafiken. — Der Trommelscanner (ohne Abb.) arbeitet oft sowohl im Auflicht- als auch im Durchlicht- Verfahren, wobei die Vorlage auf die Trommel gespannt wird. Hier wird die Abtastung mit einer hochwertigen Photodiode rein mechanisch horizontal und vertikal (über Trommelrotation) durchgeführt, wodurch eine hohe Präzision erzielt wird. Diese Scanner sind teuer und werden hauptsächlich zur Erstellung der Farbauszüge von Photos für Druckvorlagen eingesetzt.

Abb. 9.9: Prinzip eines Scanners. Die CCD-Zeile wird mechanisch über das Papier gescannt (oder das Papier an der festen CCD-Zeile vorbeigezogen).

142

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

8.

Abb. 9.10: Vier Ausprägungen von Büroscannern 1. Flachbettscanner; 2. Durchzugsscanner; 3. Handscanner; 4. Auflichtscanner (Kameras).

Drucker

Der Drucker als Ausgabegerät des Computers unterscheidet sich von der herkömmlichen Druckmaschine in zweierlei Hinsicht, in der höheren Flexibilität und in der geringeren Geschwindigkeit. Im Unterschied zu den herkömmlichen Druckmaschinen finden sie daher hauptsächlich ihren Einsatz im Desktop publishing (s. o. Zf. 4), wobei sie i. a. auf einem Schreibtisch Platz haben. Zum einen liegt das an der kleineren Auflage und Geschwindigkeit, zum anderen jedoch an der völlig anderen Technik. Im DTP sind im wesentlichen zwei Drucktechniken im Einsatz, die Matrixdrucker und die Laserdrucker. Im Gegensatz zu den Schreibmaschinen (Typenhebel, Kugelkopf und Typenrad) können die Matrix- und Laserdrucker beliebige Rastermuster auf das Papier bringen. Dadurch ist eine ständig wachsende Vielfalt von Schriftarten möglich und deren völlig freie Anordnung, sowie auch die Ausgabe von Grafik und Bildern. Der Matrixdrucker bringt das Druckbild durch feine Nadeln (typisch 9 bis 24 in der Breite eines 12 Punkt Schriftzeichens) über ein Farbband auf das Papier. Die Druckqualität wird eingeteilt in Draft, Near- LetterQuality (NLQ) und Letter - Quality (LQ). Letztere erreicht nicht ganz die Qualität eines Typenraddruckers. Mit dem Matrixdrucker kann man Durchschläge erzeugen, was mit den Laserdruckern nicht möglich ist. In letzter Zeit haben sich zwei Varianten des Matrixdruckers, die Tintenstrahldrucker und die Thermotransferdrucker, im Büro durchge setzt. Bei diesen Druckern wird die Druckfarbe durch Versprühen flüssiger Tinte bzw. durch Erhitzen eines Farbstoffes auf das Papier gebracht. In der Geschwindigkeit und Qualität sind sie mit dem Matrixdrucker vergleichbar, jedoch haben sie ein wesentlich geringeres Betriebsgeräusch. Der Laserdrucker (Abb. 9.11) verwendet einen feinen Laserstrahl, der zunächst ein virtuelles Zwischenbild auf einer elektrisch aufladbaren Trommel erzeugt. Die Ladungsverteilung ist ein getreues Abbild des zu drukkenden Dokumentes und wird nun mit Hilfe eines flüssigen oder pulverförmigen Toners mit Hitze auf das Papier übertragen (Prinzip des Kopierers). Man erzielt dabei eine Auflösung von 300 dpi (d. h. 300 Punkte pro Zoll oder ca. 12 Punkte pro mm), was zu einem besseren Druckbild führt als beim Matrixdrucker (vgl. Abb. 9.12). Neueste Laserdruk-

9.  Elektronische Lese- und Schreibtechnologien

143

Abb. 9.11: Prinzip eines Laserdruckers: Das digitale Rasterbild der Dokumentseite wird zeilenweise mit dem Laserstrahl über den Ablenkspiegel und auf die Trommel als virtuelles Bild übertragen und anschließend wie bei einem Kopierer auf das Papier gebracht.

Abb. 9.12: Beispiel für die Vielfalt von Schriftarten und die Qualität der Darstellung auf Laserdruckern.

ker bieten schon eine Auflösung von 600 dpi. Damit kommt die Qualität schon nahe an die eines Belichters (1200 bis 2540 dpi) heran. Die individuelle Ansteuerung eines jeden Bildpunktes beim Matrix- und Laserdrucker bedeutet, daß der Computer die Punktinformation (schwarz oder weiß, also 1 Bit) für alle Punkte des Dokumentes berechnen und zum Drucker übertragen muß (bei 300 dpi ca. 1 Million Punkte). Das erfordert eine hohe Rechenleistung und schnelle Datenübertra gung vom Computer zum Drucker. Die Ge-

schwindigkeit eines Matrixdruckers wird meist in Zeichen pro Sekunde (cps) angegeben und liegt zwischen 100 und 400 cps bei einfacher Druckqualität (Draft Quality), bei 50 bis 200 cps in höherer Qualität (Near Letter Quality oder Letter Quality). Im Grafikmodus, d. h. wenn die Zeichen frei vom Rechner berechnet und punktweise übertragen werden, sinkt die Druckgeschwindigkeit deutlich auf ca. 30 cps. Bei Laserdruckern gibt man die Geschwindigkeit in Seiten pro Minute an. Sie liegt zwischen 6 und 16 bei den DTP-

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II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

Modellen, kann aber im Hochleistungsbereich auf über 1000 steigen. Hier ist dann oft die Datenübertragungsrate der Engpaß. Eine Möglichkeit zur Reduktion der Datenrate ist die Verwendung einer Seitenbeschreibungssprache (heute meist Postscript, s. Adobe 1985), bei der das Dokument nicht durch einzelne Bildpunkte beschrieben wird, sondern durch seine Bestandteile Schriftzeichen und Grafikprimitive. Die Schriftzeichen werden dabei durch ihren Konturverlauf charakterisiert und im Laserdrucker gespeichert. In Postscript wird nun die jeweilige Schriftart, ihre Größe und ihre Attribute wie fett, kursiv usw. in codierter Form beschrieben, übertragen und vom Laserdrucker interpretiert, der daraus mit einem eingebauten schnellen Prozessor eine saubere Rasterdarstellung berechnet und ausdruckt. Die gleichen Postscriptdateien können auch auf Diskette in ein Belichtungssystem eingespielt werden, um eine professionelle Druckqualität zu erzielen.

9.

Elektronischer Dokumentaustausch und Standards

In elektronischer Form sind die Dokumente (Text, Bild, Grafik) dem Menschen nicht direkt zugänglich. Auf dem Monitor eines Computers erscheint das Dokument nur unvollkommen. Entweder ist der Text lesbar, aber nur ein Teil des Dokuments sichtbar, oder das ganze Dokument mit seinem Layout ist auf dem Bildschirm sichtbar, jedoch ohne Lesbarkeit des Textes. Abhilfe schafft heute nur das Ausdrucken auf Papier. Der Vorteil der Papierform ist die gleichzeitige Darstellung des Layouts, der Logik und des Inhaltes auf einem langlebigen jedermann zugänglichen Speichermedium. In ihrer Papierform bereitet der Austausch von Dokumenten keine Schwierigkeiten. Er läßt sich durch Transport (Post) oder auch besonders schnell elektronisch per Facsimile Gerät (Fernkopierer, FAX) bewerkstelligen. Eine Vervielfältigung ist mit dem Kopierer leicht möglich. Der Austausch elektronischer Dokumente zwischen verschiedenen DTP - Programmen, Rechnern, sowie ihre Darstellung auf verschiedenen Monitoren und Druckern ist keineswegs so einfach. Da ein Rechner nur Codes stets bitgenau verarbeitet, müssen die rechnerinternen Formate von jedem Hardund Software - Hersteller beachtet werden, d. h. bekannt gemacht und verwendet werden.

Um die Vielfalt und den Programmieraufwand zu begrenzen, wurden Standards für die Codes und Strukturen eingeführt. Für reine Textdokumente gibt es schon lange den sog. ASCII-Code (American Standard Code of Information interchange) und den EBCDIC Code (Extended Binary Code Data Interchange). Im Zuge der Internationalisierung des Computereinsatzes entstand das Problem, die verschiedensten Alphabete und sogar nichtalphabetische Schriften zu codieren. Da hierfür die 8 Bit des ASCII (256 verschiedene Zeichen) nicht ausreichen (ISO 1983), wurde einen neue ISO Norm auf 32 Bit Basis vorgeschlagen (ca. 24 Billionen Zeichen). Um den 4 mal größeren Speicherbedarf zu umgehen, wurde in USA ein 16 Bit langer sog. Unicode vorgeschlagen. Aber dadurch ist heute selbst der Austausch reiner Textdokumente international noch nicht endgültig gelöst. Wesentlich komplexer ist der Austausch von Dokumenten, die neben der reinen ASCII- Information noch mit Layout- und Logikstruktur sowie mit Grafik- und Bildinhalten ausgestattet sind (Scheller, 1987). Zur Lösung dieses Problems wurde eine sehr allgemeine und flexible Norm geschaffen, die Office Document Architecture (ODA) und das Office Document Interchange Format (ODIF) (vgl. ISO, 1988). Es wird jedoch noch geraume Zeit vergehen, bis dieser Standard auf jedem Rechner implementiert sein wird. Bis dahin muß man sich mit den bestehenden de facto Standards (z. B. verbreitete Textverarbeitungsprogramme, und die Formate T E X, SGML u. a.) begnügen. Die bekannten DTP Programme (Word, Pagemaker, Ventura Publisher, Framemaker, u. a.) unterstützten meist einige Formate anderer Hersteller und einige neutrale Austauschformate. Letztere können aber unter Umständen zu leichter Verfälschung gewisser Layout- oder Textattribut- Informationen führen. Die bekanntesten universellen Formate für wissenschaftlich technische Texte sind SGML (Standardized Generalized M arkup Language) und T E X (Knuth 1986). SGML beschreibt die logische Struktur des Dokumentes (z. B. Kapitel, Abschnitte, usw.) mit Steuerzeichen. T E X ist eine Beschreibungssprache für das typographische Erscheinungsbild des Textes, die besonders für mathematische Typographie geeignet ist. Viele vor allem wissenschaftliche Verlage bevorzugen heute Manuskripte in Form einer T E X Datei (Schulze, 1986).

9.  Elektronische Lese- und Schreibtechnologien

Für den Austausch von Grafik in Dokumenten gibt es die ISO Norm CGM (Computer Graphics Metafile), bei der standardisierte Grafikelemente wie Linien oder Kreisbögen mit normierten Koordinatentransfor mationen übertragen werden. Für Bilder in Schwarz/Weiß, Grautönen oder Farbe gibt es verschiedene Dateiformate, von denen sich TIFF (Tag Image File Format) durchsetzt. Hier kann jedoch die Vielfalt der Datenkompressionsverfahren zu Schwierig keiten beim Austausch zwischen verschiedenen DTP-Programmen führen. Wenn Wert darauf gelegt wird, daß das Dokument beim Empfänger ganz genau so aussieht wie beim Autor, dann kann man eine Seitenbeschreibungssprache wie Postscript (vgl. Adobe 1985) verwenden. Wenn es nicht auf die äußere Form, sondern nur auf das Weiterverarbeiten des Inhaltes ankommt, genügen leistungsfähige Texteditoren, die aber mit den eventuell vorhandenen Steuerzeichen zurechtkommen müssen. Soll sowohl Inhalt als auch Layout verändert werden, ist man heute auf die vorhandenen DTP Programme mit ihren beschränkten Austauschmöglich keiten angewiesen. In Zukunft wird nur ein internationaler Standard für Dokumente, sei es ODA/ODIF oder ein anderer, eine Lösung bringen.

10. Schlußbetrachtung Schrift und Schriftlichkeit sind geprägt durch die menschliche Wahrnehmung und Interpretation. Erst durch die geistige Verarbeitung des Menschen erreicht die Schrift ihren Sinn. Dieser Prozeß wird durch elektronische Hilsmittel und deren vielseitige Möglichkeiten in immer stärkerem Maße unterstützt. Sie helfen, die Schriften • übersichtlich und leicht verständlich zu gestalten • rasch an alle Interessenten zu verbreiten • zu archivieren und leicht wiederzufinden.

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Eckart Hundt/Gerd Maderlechner, München (Deutschland)

10. Archivierung von Schriftgut 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

1.

Einleitung Keilschriftarchive im Vorderen Orient Griechische und römische Archive der Antike Archive im Mittelalter und der frühen Neuzeit Archivordnungen Zugang zu und Gebrauch von Archiven Neuzeit Literatur

Einleitung

Archivierung ist die grundsätzlich vom Trägermaterial (Beschreibstoff) unabhängige Übernahme, Ordnung und dauernde Aufbewahrung, Erhaltung (vgl. Weber 1992), Erschließung (Verzeichnung) und Bereitstellung von Schriftzeugnissen zu historiographischen, juristischen, administrativen und ökonomi schen Zwecken in Archiven. Archive unterscheiden sich von anderen Speichern der Schriftlichkeit (Bibliotheken, Datenbanken, begrenzt auch Museen) durch die Entstehungsursache und den kommunikativen Charakter der Masse des verwahrten Schriftguts und die Absicht seiner Aufbewahrung. Bibliotheken und Datenbanken sammeln ihrem kulturellen, ökonomischen oder administrativen Auftrag entsprechend nicht- adressiertes Material, d. h. solches Schriftgut, das sich an eine nicht näher definierte Öffentlichkeit richtet. Archive hingegen übernehmen vorwiegend die adressierten, d. h. die von der kommunikativen Absicht her empfängergezielten Schriftprodukte bestimmter Herkunftsstellen (Provenienzen), die im Zusammenhang einer

verwaltenden Tätigkeit entstanden (vgl. Leidel 1992, 253; Brenneke 1988, 35; Enders 1962; Franz 1990); daneben aber auch anderes schriftliches und nicht- schriftliches Material, sofern es zur Dokumentation der politischen und gesellschaftlichen Vergangenheit und Gegenwart geeignet ist (das sog. archivische Sammlungsgut). Je nach dem institutionell, politisch oder wissenschaftlich festgelegten Sammlungsauftrag (Zuständigkeit) kann es dabei, wie im Falle der Literaturarchive (vgl. Dilthey 1889), zu begrifflichen Überschneidungen kommen. Im Gegensatz zur Tätigkeit der Bibliotheken zählen zu den besonderen archivischen Aufgaben ferner die Regelung des Zugangs, d. h. eine den Anforderungen des Datenschutzes entsprechende Nutzung des Archivguts (Fragen des Archivrechts, vgl. Polley 1991 und Archivum XXVIII, 1982) und die Bewertung, d. i. die Scheidung des aufzubewahrenden (archiv würdigen) von dem im Hinblick auf die Archivierungszwecke unerheblichen (kassablen) Material. Auch wenn der Beschreibstoff nicht maßgeblich ist für die Frage, ob ein Schriftstück archiviert wird, so ist er doch bestimmend für die Weise, wie es aufgehoben wird. In dem Maße, wie der zur Verfügung stehende Beschreibstoff die Art des Schreibens bedingt (das cuneiforme Ritzen der Schrift auf Ton beispielsweise), so bestimmt er auch die Aufbewahrungsweise des Schriftzeugnisses. Die Frage nach dem Trägermaterial ist die zentrale Frage der materialen Schriftkultur und somit auch der Archivierung (vgl. Posner 1972, 18).

10.  Archivierung von Schriftgut

2.

Keilschriftarchive im Vorderen Orient

Die geordnete Aufbewahrung schriftlicher Information zu juristischen, administrativen und ökonomischen Zwecken ist die älteste Art der Archivierung. Durch die häufig dismembrierende Grabungstätigkeit der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg wurde allerdings der Archivcharakter der Fundstätten oft übersehen: Die über 400 000 Tontafeln, die bis 1972 hauptsächlich in Mesopotamien, aber auch in Ägypten (el - Amarna: auswärt. Korrespon denz Amenophes III. und IV.), Anatolien, Syrien, der Peloponnes, der Ägäis und Transsylvanien zu Tage gefördert wurden, sind die Zeugnisse einer archivischen Tätigkeit zu Verwaltungszwecken, die im 3. Jahrtausend v. Chr. begann und sich bis in die achämenidische Epoche um 500 v. Chr. erstreckte, als die Verbreitung der aramäischen Schrift den Gebrauch des Tons als Beschreibstoff unbequem werden ließ (vgl. Posner 1972, 23). Schon während der Ur- III- Periode (ca. 2100 v. Chr.) wurden Tontafeln in speziellen tönernen Behältern an eigens dafür bestimmten Plätzen für künftigen Gebrauch archiviert. An den Behältern angebrachte tönerne Etiketten gaben Aufschluß über den Typ und den Umfang des nach sachlichen Betreffen und nach seiner Entstehungszeit z. T. peinlich genau datierten Inhalts (vgl. Goossens 1952). Unter den über 20 000 Tontafeln, die im Königspalast von Mari am mittleren Euphrat gefunden wurden, läßt sich bereits für die Zeit um ca. 1800 v. Chr. eine Trennung zwischen hausinterner (wirtschaftlicher) und außenpolitischer Dokumentation unter der Verwaltung eines eigenen (Archiv- )Beamten nachweisen. Aus Mari stammen auch die frühesten Zeugnisse einer archivischen Inventarisierung nach der Eroberung der Stadt durch Hammurabbi, der mit seinem Zugriff auf die Archive, wie Posner (1972, 62) vermutet, Informationen über Maris Kontakte mit Ägypten und dem Hethiter- Reich zu finden hoffte. Neben dem gewöhnlichen administrativen Gebrauch läßt sich aber auch eine Reihe von Fällen nachweisen, in der die altmesopotamischen Archive zu historischen Zwecken, insbesondere zur Anfertigung kommemorativer Inschriften genutzt wurden (Posner 1972, 65). Diversifizierter noch als in Mari war das System der archivischen Zuständigkeiten in Ugarit (Ras- Shamra/Syrien), wo man die Tontafeln möglicherweise schon nach

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ihrer administrativen Herkunft, nach Provenienzkriterien also, ordnete. Eine Besonderheit der Tontafel - Archive, wo die Archivalien zumeist auf gemauerte Bänke oder in Nischen, Körbe und Kisten gelegt, z. T. auch an Kordeln aufgehängt wurden, ist die Klimatisierung des Archivlokals durch ein System kleiner Wasserrinnen, wie man es in dem aus neo- babylonischer bzw. achämenidischer Zeit stammenden Eanna Tempel in Uruk freigelegt hat. Ein antikes Beispiel für die später zu erörternde räumliche Trennung von Kanzlei und Archiv aus der Zeit um 750 v. Chr. fand sich in Nimrud im nördl. Irak. Obwohl organische Beschreibstoffe — Papyrus, Leder, Pergament und gewachste Holztafeln, bisher belegt seit 700 v. Chr. durch die Nimrud- Grabungen, vermutlich aber wesentlich älter — häufiger verwendet wurden, so standen sie doch in ihrer Haltbarkeit dem gebrannten Ton nach: Die Überreste der hochentwickelten Schriftkultur des alten Ägypten, die sich des Papyrus bediente, sind vergleichsweise karg. Die Tontafelfunde geben deshalb bis heute den reichsten Aufschluß über das Archivwesen der Antike, wobei sich allerdings die übliche Scheidung zwischen Archiv- und Bibliotheksgut (s. o.) nicht immer aufrechterhalten läßt. Bestimmte Arten von kultisch- religiösem Archivgut, wie beispielsweise die assyrischen Omen - Texte (vgl. Posner 1972, 27), waren unter der Herrschaft des mythischen Weltbildes ein elementarer Teil der administrativen Entscheidungsfindung.

3.

Griechische und römische Archive der Antike

In Griechenland, wo die frühen Kulturen (Kreta, Mykene und Pylos) auch Tontafeln hinterlassen haben, traten in klassischer Zeit Papyrus, Pergament und vor allem Holztafeln als bevorzugte Beschreibstoffe an deren Stelle. Das bedeutendste dort ergrabene Archiv ist das auf der Agora gelegene Metrôon, das institutionell um die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. in höchster Blüte stand und das vermutlich bis zur Hälfte des 3. Jahrhunderts bestand. Während es als eine Art „staatliches Hauptarchiv“ (Brenneke 1988, 108) vornehmlich der Aufnahme des Schriftgutes des Athener Rates, der Boulé, diente — wofür auch seine unmittelbare Nähe zum Bouleutérion spricht — erhielt es seinen Namen von der Muttergöttin Métér, deren Heiligtum zuvor

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schon in dem Gebäude untergebracht war. Literarische Hinweise auf das griechische Archivwesen finden sich in reicher Zahl; am bekanntesten sind die Ausführungen in Aristoteles’ Politik (1321 b, 33—40), wo das Archiv als fünfte Magistratur nicht nur als Ermittlungsinstanz der städtischen Rechtsprechung und Aufbewahrungsort der Urteile, sondern auch als Ort der Aufzeichnung privater Rechtsakte geschildert wird. Diese Tendenz zur Transformation von privatem zu öffentlichem Schriftgut ist das Charakteristikum der démosia grammata i. a., als die die griechischen Archive oft bezeichnet wurden. Hervorgegangen aus der Institution des mnémôn, eines öffentlichen Erinnerers, dienten sie vornehmlich der Stabilisierung der innerstädtischen dinglichen Rechtsverhältnisse, wo durch sie schließlich auch die Funktion einer Art öffentlichen Katasters ( anagraphé, vgl. ital. anagrafe für das Personenstandswesen) ausbildeten. Wie schon in Mesopotamien, so finden sich auch in Griechenland Belege für archivische Nutzungen zu epigraphischen Zwecken: Auf Stelen aus Amorgos fanden sich Abschriften von Dokumenten mit den auf den Originalen aufgebrachten Kanzleivermerken. Das römische Rechtsleben der republikanischen Zeit hat sich lange mündlich abgespielt (Posner 1972, 160; vgl. die Preisung des goldenen Zeitalters bei Vergil, Georgica II 502, in dem die Menschen keine ‘öffentlichen Archive beschauen mußten’). Dabei geschah die Promulgation der Ordnungsvorschriften, auch in späterer Zeit noch, durch öffentliche Ausrufung, renuntiatio genannt. Auch nach der Verfügbarkeit von Papyrus blieb der römische Schreibgebrauch weitgehend bei der Verwendung von Holztafeln, die — wie es auch in Griechenland schon Brauch war — entweder geweißt (album, gr. leukômaton) oder auf der Schreibseite gewachst (tabula cerata) und oft zu Polyptychen ( caudex — > Codex) zusammengehängt wurden. Daneben gab es in der ältesten Zeit leinene Bücher (libri lintei), die, wie Livius berichtet, im Tempel der Juno Moneta bewahrt, zur Auflistung der Magistrate bestimmt waren. Bis zum Bau des Tabularium diente dann das von den Quaestoren kontrollierte Aerarium insbesondere als Depot des Senats, dessen Beschlüsse erst durch die delatio ad aerarium genannte Registrierung ihre Verbindlichkeit erhielten; die delatio stellte somit einen notwendigen prozessualen Bestandteil der Rechtsetzung dar. Die Journale der Beamten (commentarii) fan-

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

den allerdings noch keinen Eingang in das Aerarium, sie wurden stattdessen meist den privaten Geschäftsunterlagen der einzelnen aus dem officium scheidenden Beamten zugeschlagen; ein Gebrauch, der sich bis zur Schaffung lokaler Archive in den Provinzstädten der Kaiserzeit fortsetzte. Erst durch das 79 v. Chr. erbaute Tabularium erhielt Rom ein zentrales Staatsarchiv (Posner 1972, 185), in dem die Akte der Volksversammlungen (comitia), des Senats, der Censoren, Praetoren, städt. Quaestoren, der Spitzen der Provinzverwaltung und die commentarii der Consuln anscheinend schon nach Provenienzkriterien archiviert wurden. Da die Aufsicht über das u. a. von Tacitus und Sueton benutzte Tabularium und sein Personal, die in sog. decuriae korporierten apparitores, den in der Regel nur bedingt amtserfahrenen Quaestoren oblag und die apparitores überdies ein Präsentationsrecht für ihre freiwerdenden Posten besaßen, kam es zum Ämterkauf und damit zu dem von Cicero (De legibus III, 46) beklagten Mißstand, daß ‘das Gesetz war, was die apparitores wollten’. Nach der Einsetzung dreier curatores tabularum publicarum zur Vervollständigung des Tabulariums durch Tiberius im Jahre 16 kam es durch die verfassungsrechtliche Komplettierung des Prinzipats im Jahre 69 (Lex regia) zur Verschiebung des politischen Gravitationszentrums vom Capitol — und damit auch vom Tabularium — zum Palast des Princeps auf dem Palatin. Bis in die Mitte des 3. Jahrhunderts fungierte das Tabularium noch als Archiv des im wesentlichen entmachteten Senats. Ein institutionalisiertes imperiales Zentralarchiv bildete sich während des Prinzipats noch nicht aus, die Akte blieben vielmehr bei den sie erzeugenden und bearbeitenden Behörden, wurden aber in ihrer Gesamtheit als tabularium Caesaris bezeichnet (Posner 1972, 191 f). Allerdings entstand mit dem secretarium eine Art Geheimarchiv des Princeps (Cencetti 1953), das wohl in der Regel an den jeweiligen Nachfolger gelangte. Bezeichnend hierfür ist der Briefwechsel Trajans (53—117) mit Plinius d. J., in dem der Princeps dem Gouverneur u. a. mitteilte, daß sich die von diesem gewünschten Informationen zu einem bestimmten Sachverhalt in den commentarii seiner Vorgänger nicht fänden. Zum secretarium führt Posner (1972; 193) aus: “... although it was not part of the bedchamber (cubicularium), it was in the custody of the most trustworthy of the emperor’s secretaries or bedchamber personnel.“ Neben dem Begriff ta-

10.  Archivierung von Schriftgut

bularius begegnet in der kaiserlichen Hausverwaltung aber auch der des chartularius cubicularii. Die Gewohnheit, besonders wertvolles Archivgut im Privat- und insbesondere im Schlafgemach aufzubewahren, setzte sich bis in die frühe Neuzeit fort (s. u.). Nach der Reform Diokletians († um 315) begann die Reiseherrschaft der Caesaren. Wenn ihre zeitweilig mitreisenden Behörden (scrinia) z. T. schon archivische Findmittel benutzten, die möglicherweise den alphabetischen diastrômata der römischen Verwaltung in Ägypten ähnelten, und wenn sie auch zwischen verschiedenen Serien ihres Schriftguts schon unterschieden, so konnten doch Schäden desselben, seiner Vollständigkeit und Ordnung auf Dauer nicht ausbleiben. Es ist auch unbekannt, inwieweit das Schriftmaterial der Behörden anläßlich des Umzuges des Hofes nach Konstantinopel (330) überführt wurde. War dies der Fall, so wird vieles dem 599 von Papst Gregor I. berichteten Brand des chartophylacium Kaiser Justinians zum Opfer gefallen sein. Auch wenn es aufgrund ihrer mangelnden Subsidiarität zu einer „Zerrüttung“ der Archive kam, auf die E. Stein 1928 (Gesch. d. spätröm. Reiches I, 433) die Probleme der ersten, theodosianischen Kodifikation (nach 435) zurückführt, so hinterließ die römische Verwaltung doch eine Reihe von Errungenschaften, die einerseits von der sich entwickelnden christlichen Kirche übernommen wurden und damit in die Tradition des mittelalterlichen Europa gelangten, die anderseits aber auch in gewissen frühneuzeitlichen Verfahrensweisen geradezu neu entdeckt scheinen (Posner 1972, 205 und Behne 1990, 38). Die vielgestaltigsten Nachwirkungen, nicht nur im Bereich der Archive, sondern auch auf dem Gebiet der öffentlichen Rechtssicherung, des Urkunden - und Beglaubi gungswesens, hatte gewiß das Recht der spätrömischen Magistrate, Urkunden von öffentlichem Glauben (publica fides) auszustellen. Eng verbunden mit diesem ius actorum conficiendorum war die oben angesprochene delatio. In der delatio als dem Akt der rechtsetzenden Niederlegung einer Anordnung durch ihre Registrierung oder Aufbewahrung in einem Archiv dürfen wir eine Wurzel des neuzeitlichen Ius archivii (s. u.) sehen.

4.

Archive im Mittelalter und der frühen Neuzeit

„Was das Archivwesen betrifft, brachte die Karolingerzeit einen Aufstieg und einen Ab-

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stieg zugleich“. Dem vergleichsweise hohen Grad der karolingischen Schriftlichkeit entspricht der in den Quellen verbreitete Gebrauch des Begriffes archivum und die Errichtung eines Palastarchives bei der kaiserlichen Residenz in Aachen (Fichtenau 1977, 120— 125). Allerdings sind aus dieser Zeit keine Quellen überliefert, die sich unmittelbar auf die Archive bezögen. Von Rekonstruktionsversuchen und verstreuten Nachrichten abgesehen setzt eine positive Geschichte der Archive somit erst bei den Ansätzen territorialer Staatsbildung und der neuerlichen Zunahme der Schriftlichkeit im ausgehenden Hochmittelalter wieder ein (Casanova 1966, 301 ff; Stengel & Semmelmann 1958, 120—182). „Nur in Italien reichen vereinzelt die Archive fürstl. Geschlechter bis ins 10. Jahrhundert zurück“ (Bresslau 1969, 149—161: ältere Geschichte der päpstlichen Archive). Es handelt sich hier jedoch um Ausnahmefälle: Gegenüber den Archiven der Collalto und der Este lassen sich die hochmittelalterlichen Wurzeln des Archivs der Gonzaga von Mantua z. B. nur deduzieren (Behne 1990, 39). Bei der Erforschung der Grundlagen der heutigen Archivierungstechniken müssen wir zunächst nach der i n st i t u t i o n e l l e n St e l l u n g der Archive, ihrer Selbständigkeit oder ihrer Zugehörigkeit zu anderen Einrichtungen, zum Schatz, zur Bibliothek, zur Kanzlei oder Kammer fragen. Zu einer Verselbständigung der Archive als eigene Verwaltungszweige kam es, von Einzelfällen abgesehen, frühestens im 16. Jahrhundert. Bis zum 14. Jahrhundert wurden die Archive i. a. noch zum Schatz, insbesondere bei geistlichen Körperschaften auch zur Bibliothek (vgl. Ehrle 1885), seit dem 15. Jahrhundert dann zunehmend zur Kanzlei gerechnet. In wirtschaftlich fortgeschritteneren Gegenden, insbesondere in Städten, war das Archiv — gewissermaßen als Titelsammlung zur Einforderung von Rechten in klingender Münze — auch häufig der Kammer, d. h. der Finanzverwaltung unterstellt; vielerorts nimmt eine rationale Archivverwaltung überhaupt erst von der Wirtschaftsverwaltung ihren Ausgang: „Die Erhaltung der fiskalischen Rechte, die Renovatur ( renovatio extentarum u. a.), ist ... überall die Mutter der Registratur“ (Rück 1971, 101; vgl. Goldinger (1957); Ottnad (1986, 2); Bresslau (1969, 162): Schatzarchiv der merowing. Könige; Bock (1957, 317); Behne (1990, 19 f/79—82). In Mantua Teil des kommunalen Schriftgutes schon im ausgehenden 13. Jahrhundert beim massarius Communis, dem städt. Schatzmeister / noch 1432 ein Teil der

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markgräfl. Archivalien im Schatzgewölbe, 1456 ein Armarium Argentariorum im Archivlokal; v. Schönherr (1886, 95; Stengel & Semmelmann 1958, 163; Vorrede zum Codex Eberardi aus Fulda von ca. 1150, Bd. I: „cedulas accepimus a librario“; Lewinski 1893, 125: in Brandenburg im 15. Jahrhundert Archiv Teil der Kanzlei. — Rück 1971, 101: Ordnung der savoyischen. Archive durch die Kammer. — Petz 1885, 160: Nürnberger Archiv im 14. Jahrhundert in der Schatzkammer unter der „Obhut der Losunger, d. i. der obersten reichsstädtischen Finanzstelle“. — Markgraf (1878, 118): 1438 löst in Breslau der Kämmerer die Schlüsselmannen in der Aufsicht über das Archiv ab). Da die Archive also auch im 15. Jahrhundert zumeist noch keine selbständigen Verwaltungseinheiten waren, findet sich der Begriff archivum oft erst im 16. Jahrhundert und später (vgl. Stolz 1934, 91: ‘Archiv’ bei der oberösterr. Regierung erstmals Ende des 17. Jahrhunderts; dagegen Ficker 1880, 121 f: Nachweis der Begriffe archivarius und archivum im angiovinischen Neapel bereits im frühen 14. Jahrhundert; Usteri 1931, 227: archivum der Genfer Bischöfe 1371). Diejenigen Archive, die nur aus einem einzigen Behälter bestanden, bezeichnete man oft einfach als Kasten (capsa), Kiste (cista), Lade (ladula), Schrein (scrinium), Schachtel (scatel, von scatula), oder Karnier (carnerius) (vgl. Behne 1990, 75—78/146; Krausen 1972; Rück 1990, 133; Schieckel 1956, 102; Markgraf 1876, 114). Größere Archive hingegen, die man zum Schutz vor Feuer bevorzugt in gemauerten Räumen unterbrachte (Bruckner 1968, 589), wurden dementsprechend oft nur Gewölbe (crota oder volta) oder auch Kammer genannt (Gundlach 1931, 58: 1486 „brivkamer uffin sloß zu Marpurg“). Dabei darf man davon ausgehen, daß diese Gewölbe usw. in der Regel nah bei der Kanzlei und nicht unbedingt unter der Erde lagen (Ulrich 1886, 3/9: „gewolve zo der stede privilegien“ im Kölner Rathausturm 1406, 1500 „camera vultata“. — Wehrmann 1876, 385: in Lübeck Archiv (Treserie) in einem Gewölbe der Marienkirche, Kanzlei „in einem Gebäude neben dem Rathaus“. — Behne 1990, 53 ff: Volta Inferior und Superior in Mantua 1432—1540. — Meklenburg. Urkundenbuch I,VIII f: 1480—92 „Registratura der vorsigelten brieffe in der ... cantzeley zu Sweryn vorwart“; vgl. weiter Krausen 1972, 29). Im Vorgriff auf die neuzeitliche Terminologie nannte man das Archiv der Herzöge von Mailand im 15. Jahrhundert schon die camera segreta

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

(Behne 1988, 98). Diese Benennung mutet aber nur fortschrittlich an. Tatsächlich steht nämlich hinter dem Konzept der camera secreta nur die seit der röm. Kaiserzeit (s. o.) nachweisbare Aufbewahrung von Archivteilen in camera bzw. in guardaroba, d. h. im intimsten Privatbereich des Archiveigentü mers. So wurden „in der päpstlichen Guardarobba ... noch zu Anfang des 17. Jahrhunderts Archivalien“ aufbewahrt (Bresslau 1969, 159). Ähnliches ist von den Urkunden des Kaisers Heinrich VII. und eines Klosters bei Le Mans bekannt (Wattenbach 1958, 636; Fichtenau 1977, 119). In Mantua stand der sog. Cassono dali Signi seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in der Guardarobba der Fürstin, und zu dieser Truhe besaß nur sie die Schlüssel (vgl. Behne 1990, 147 f). Auch am fränkischen Hof der Hohenzollern „hat man ... Urkunden in den fürstlichen Schlafgemächern aufbewahrt“. 1516 fand man dort Akten in der Kammer der verstorbenen Markgräfin (Lewinski 1893, 127; vgl. Stolz 1934, 91: Indexband eines 1540 fertiggestellten Archivrepertoriums trägt den Titel: ‘Tabulatur der fünf Bücher, in denen die Briefe und Schriften des Hauses Österreich registriert sind und die zu Innsbruck in dem oberen Briefgewölbe hinter dem Frauenzimmer in fünf Kästen liegen’, zum Begriff der Tabulatur s. u.).

5.

Archivordnungen

Da die meisten europäischen Archive im Laufe ihrer Geschichte mehrfach neu geordnet wurden, lassen sich die frühen Archivordnungen heute nur noch aus Rücknotizen und Signaturen auf dem archivierten Material und aus alten Dokumentenverzeichnissen erschließen. Dabei hängt die Frage nach den ersten Formen archivischer Ordnung unmittelbar mit der Menge des aufbewahrungswürdigen Schriftguts zusammen. Aufgrund der massenweisen Verfügbarkeit eines neuartigen, billigen Beschreibstoffes, des Papiers — seit dem 13. Jahrhundert in Italien und Spanien (Fabriano ca. 1270), seit dem 14. Jahrhundert dann auch in Frankreich und Deutschland (Troyes und Essonnes um 1350, Nürnberg ca. 1390) — verstärkte sich die Tendenz zur Verschriftlichung von Rechts- und Verwaltungsgeschäften, die man bis dahin mündlich geregelt hatte. Sekundär stehen die frühen Formen archivischer Ordnung aber auch im Zusammenhang mit dem Prozeß der Residenzenbildung, d. h. der Zentralisierung erster herrschaftlicher Behörden an bestimmten Or-

10.  Archivierung von Schriftgut

ten (vgl. Streich 1989). Die ersten Archivordnungen sind damit ein Reflex der staatsrechtlichen Evolution der europäischen Reiche und Fürstentümer als Überlieferungsträger (Ar chivbildner): Je umfassender deren Anspruch auf die Ausübung der Funktionen des gesellschaftlichen Lebens wurde, desto schneller vollzog sich der Prozeß der Verschriftlichung und desto dringender stellte sich damit auch das Problem, die Schriften geordnet zu archivieren (vgl. Behne 1991, 317—327: Wegen der Aneignung entsprechender Kompetenzen ab 1328 städtisches Archivgut im Archiv der Stadtherren (capitanei) von Mantua, welches hierdurch zum Vorläufer eines Staatsarchives wurde, bis ins frühe 18. Jahrhundert aber ein Teil des patrimonialen Guts der Familie blieb). Die ersten europäischen Archivordnungen stammen frühestens aus dem 14. Jahrhundert (Bruckner 1968, 569 f; Schieckel 1956, 97). Dabei sind die Vermerke, die wir heute auf den Rückseiten alter Urkunden finden, die sog. Dorsualnotizen (vgl. Staerkle 1966), oft nicht so sehr der Ausdruck einer wirklichen Ordnung der Archive, als vielmehr ein zeitgenössischer Anhaltspunkt für ihren Gebrauch in der Kanzlei und für die Zurücklegung des Materials ins Archiv (Reponierung). Auch die ersten Archivverzeichnisse lassen zumeist die materielle Ordnung der Bestände noch nicht erkennen (formale Ähnlichkeit zu den älteren sog. Kopiaren und Urbaren). Da der Begriff des Inventars allgemein eine Systematik bzw. Ordnung des archivierten Dokumentenbestandes voraus setzt, ist es ratsam, diese Verzeichnisse noch nicht als Inventare anzusprechen (vgl. Rück 1969, 191; Carucci 1983, 212; Walne 1988, 87 f; Elsevier 1964, 39). Die frühesten Archivverzeichnisse entstehen seit der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert: 1284 in Neapel; 1318 im Pariser Trésor des Chartes, der seit dem frühen 13. Jahrhundert mit den Abteilungen der Layettes (= Laden) und der Registres als Empfänger- und Ausstellerarchiv der französischen Krone fungierte; 1323 beim Exchequer in London; in Trier nach 1344; in Mantua nach 1367; in Aquileia vor 1376; in Meißen 1378; in Lutry/Westschweiz und in Würzburg vermutlich um 1395 (vgl. Sthamer 1911; Güthling 1934, 30; Posner 1940, 160; Lichter 1967; Behne 1991, 319; von Zahn 1878, 63; Schmidt—Ewald 1932, 291; Rück 1970; Frenz 1984, 142). Demgegenüber handelt es sich bei den 61 Blättern des vatikanischen Codex Ottob. 2546 zwar um die „Reste eines Inventars der Urkunden des päpstlichen

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Archivs zur Zeit Nikolaus III. [1277—1280], aber nicht zu archivischen Zwecken zusammengestellt, sondern ... als Mittel zu politischen Zielen gedacht“ (Bock 1954, 320). Bei einer genaueren Betrachtung dieser frühen Archivverzeichnisse fällt auf, daß viele derselben sich nur erst auf einen Ausschnitt des archivierten Materials beziehen (Ottnad 1986, 3), nämlich auf die privat veräußerten Rechte an Grund und Boden: Dies hat einerseits mit der juristischen Dauerhaftigkeit und der vitalen Bedeutung dieser Rechte für die sich entfaltenden Gebietshoheiten zu tun, andererseits damit, daß die Zahl der Privaturkunden gegenüber den vergleichsweise wenigen, in der Regel separat bewahrten Königs- und Papsturkunden (sog. Privilegia maiora ) unüberschaubar wurde. Substantiell ähnlich war die Verfahrensweise in den Städten: So hob man in Lucca die Dokumente über Grundstückstransaktionen auf — diejenigen Dokumente, die den Handel betrafen, wurden hingegen weggeworfen, „weil sie kurzfristige Alltagsgeschäfte betrafen“ (Esch 1985, 534 f). „Während aber Königs- und Papsturkunden am natürlichsten rein chronologisch geordnet wurden, war für die über riesige Räume verstreuten privaturkundlichen Rechtstitel ... die topographische Gliederung das gegebene Ordnungsprinzip“ (Stengel & Semmelmann 1958, 158). Derlei Ordnungen nach Orten (lokale Pertinenz), wie sie lt. Stengel & Semmelmann (1958, 160) in Fulda zum ersten Mal angewendet wurden, finden sich in vielen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Archiven Europas. Zur Aufrechterhaltung und zur Legitimation ihrer Vorherrschaft waren z. B. die oberitalienischen Signorien des 14. Jahrhunderts vordringlich auf die Sicherung und den Ausbau ihres Hausgutes angewiesen. Deswegen enthält lt. Behne (1991, 319) das erste Mantuaner Dokumentenverzeichnis von 1367 fast nur Käufe, Verkäufe, Erbschaften und Konfiskationen von Grund und Boden — privilegia maiora sind demgegenüber kaum erwähnt (vgl. Rück 1970, 150: „verhältnismäßig wenige [Dokumente des Priorates von Lutry], auch bei weitem nicht alle älteren vor 1393, wurden bei der ersten Inventur erfaßt. Diese kann also nur einen Teil der Urkunden betroffen haben, wahrscheinlich nur die Grundbesitztitel“; das von Lichter 1967, 251—258 wiedergegebene Archivverzeichnis des Würzburger Domkapitels weist aus schließlich privat veräußerte Liegenschaftsrechte auf). Dermaßen verzeichnete Urkundendepots des 14. Jahrhunderts sind deswe

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gen also weder als Schatzarchive noch als Kanzleiarchive, sondern als Liegenschaftsarchive zu bezeichnen. Zwei Gliederungsprinzipien des archivierten Materials bestimmten den inneren Aufbau dieser Depots: Erstens wurden die Dokumente nach ihrer geographischen Pertinenz geordnet, zweitens nach der alphabetischen Abfolge der Ortsnamen. Derlei alphabetische Archivverzeichnisse, in die jeder territoriale Neuerwerb mühelos eingearbeitet werden konnte, nannte man bis ins 16. Jahrhundert in Deutschland Tabulatur (Behne 1991, 320: Listung der Archivalien nach Orts- und Gemarkungsnamen von Armanorium bis Zenevrium; Schieckel 1956, 95: „Vorgänge, die in der Verwaltung ... einheitlich behandelt wurden“, konnten beisammen liegen; Stengel & Semmelmann 1958, 158; Stolz 1934, 91; Goldinger 1957, 18; Meisner 1969, 99). Indem die diplomatischen Verbindungen der Fürsten zunehmend in das Zentrum ihrer Tätigkeit rückten, wurden die herrschaftlichen Kanzleien Europas seit dem 15. Jahrhundert zum politischen Instrument regionaler und internationaler Beziehungen. Die vormaligen Liegenschaftsarchive wandelten sich dabei zu Kanzleiarchiven (vgl. Behne 1990, 51 f), die von nun an immer häufiger dem exklusiven Zugriff einzelner Hofbeamter unterstanden. In der Folge kam es in ganz Europa zu den ersten umfassenden Archivordnungen (vgl. Schoebel 1991, 25—32: nach 1447 Inventarisierung aller Urkunden der Abtei St. Victor in Paris, allerdings nur erst nach geographischen Kriterien. — Markgraf 1878, 116 ff: 1484 Kommission zur Archivordnung in Breslau. — Schmidt- Ewald 1932, 292: Aufschrift auf einem sächsischen Archivinventar: ‘Anno domini 1464 ... sind alle Privilegien, Handfesten und Register im Gewölbe zu Meißen gesichtet, aufgezeichnet und nacheinander in Laden gelegt, wie es dieses Register ausweist’). Die dabei entstandenen Archivinventare, anfangs oft nur liber oder Register genannt, wurden zum Teil schon in Volkssprache verfaßt (Koss & Bauer 1939, 387 f: „Registrum vsech deseti truhlic, do nichz jsou slozena privilegia krålovstvie Českeho“ von 1510; zum archivhistor. Begriff des Registers vgl. Zimmermann 1962, 49). Bereits vom Jahrhundertbeginn stammen die beiden ersten Inventarbände des savoyischen Archivs, die auch über ihren Autor Auskunft geben (Rück 1971, 51 f: „Registrum informacionum ... Sabaudie comitis in sua crota Chamberiaci existencium factum per me Johannem de Balay

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

... domini nostri secretarium ...“) und das älteste Repertorium des Kölner Ratsarchivs (Ulrich 1886, 4/7: ‘Dies ist ein Register all der Privilegien und Briefe, die die Stadt Köln in ihrem Gewölbe verschlossen hält’). Noch vor 1440 entstanden die Archivinventare der böhmischen Krone, der Herzöge von BayernMünchen und der Reichsstadt Nürnberg. Aus Mantua sind von 1432, 1456 und 1480/81 insgesamt drei Inventare überliefert, die — mit archivischen Ordnungsarbeiten verbunden — aufgrund der Dorsualnoten kompiliert wurden (Koss & Bauer 1939, 387; Zimmermann 1962, 53 ff; Petz 1885, 160; Behne 1990, 122). Dabei kommt der Begriff des Inventars erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts in Gebrauch (vgl. Behne 1990, 103 f: Inventario de le scripture in el Cassono dali Signi 1481; Ulrich 1886, 8 f: Inventarium librorum et litterarum in cancellaria 1500 in Köln; Petz 1962, 167). Wo die Archive neu geordnet wurden, da wählte man in Ermangelung einer Kompetenzengliederung der archivbildenden Verwaltung in der Regel ein Mischsystem aus dem Sachbetreff und der politisch- geographischen Herkunft des Schriftguts. Dies ist z. B. im Archiv des Domkapitels von Durham in England der Fall, wo die mit dem Repertorium minus aus dem 14. Jahrhundert und dem Repertorium maius von 1456 geschaffene Ordnung nach päpstlichen, königlichen, erzbischöflichen und Yorker (Eboracensia) Urkunden sich bis ins 20. Jahrhundert weitgehend erhalten hat (vgl. Holtzmann 1930, 18). In einigen Archiven wurde das Material darüber hinaus auch hierarchisch nach den Beziehungen des jeweiligen Archiveigentümers zu Höherrangigen, Ebenbürtigen und Untertanen angeordnet (vgl. Rück 1971, 78—82: konsequenteste Verwirklichung dieses Konzepts in der savoyischen Clairvaux - Ordnung von 1445/46. — Ulrich 1886, 1 ff: sog. Weißes Buch, ältestes Repertorium des Kölner Ratsarchivs), wobei man gewisse Dokumente nun auch schon als unnütz bzw. fremd bewertete (sog. Inutilia und Exteriora, vgl. Behne 1990, 122 f; Schieckel 1956, 95 ff; Petz 1962, 165 f; Mötsch 1985, 258: Bewertung zwischen dauernd aufbewahrungswürdigen Perpetualia und Dokumenten von vorübergehendem Wert (Temporalia) bereits bei der Archivordnung des Erzbischofs Balduin von Trier im frühen 14. Jahrhundert. — Ulrich 1886, 5: summarisch angeführte Papstbriefe und Landfriedensurkunden, ‘die belanglos scheinen’ in Köln. — Goldinger 1957, 19: Einstu-

10.  Archivierung von Schriftgut

fung von Papsturkunden der Wiener Universität als „bullae inutiles“. — Behne 1990, 135: Aufbewahrung von iura evanida ). Im Hinblick auf die Tragweite dieser ersten umfassenden Archivordnungen müssen wir heute allerdings die Feststellung von Petz (1962, 172) verallgemeinern: „Konsequenz war nicht die starke Seite der alten Archivare“.

6.

Zugang zu und Gebrauch von Archiven

Der durch Benutzungsordnungen geregelte allgemeine Zugang zum Archiv und das Recht auf Einsicht in die Archivalien ist eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts. Was den älteren Gebrauch der Archive betrifft, so lassen sich doch — neben der gewöhnlichen juristischen Nutzung — schon seit dem 15. Jahrhundert die Ansätze einer archivgestützten Geschichtsschreibung wahrnehmen. Rück (1990, 133) berichtet von einem Berner Notar, der — aufgrund eines Ratsbeschlusses von 1420 — als Stadtschreiber „für seine ... Chronik die Urkunden ‘in der Stadt Kisten’, d. h. im Urkundentrog der Stadt“ verwendete; ähnliches läßt sich auch in Mantua und den Archiven von Chambéry feststellen, wo um das Jahr 1475 der herzogliche Sekretär Perrinet Dupin bei den Vorarbeiten zu seiner Chronik des Hauses Savoyen verschiedene Registerserien zu Rate zog (Chaubet 1984, 95/ 112: „car le registre de ... Haulte Combe n’en parle point“. — Behne 1990, 131 f; Ottnad 1986, 10: Ende des 16. Jahrhunderts historiographische Arbeiten des Luzerner Stadt schreibers und Diplomats Renward Cysat „im Zuge von Ordnungsarbeiten“). Diese Art des Zugriffs auf archiviertes Material war indes in der Regel demjenigen Personenkreis vorbehalten, dessen Obhut die Archivalien auch im allgemeinen unterstanden. Die Wurzeln des Archivars als eines modernen Berufsstandes mit einem mehr oder minder fest umrissenen Horizont von Aufgaben und Qualifikationen reichen bis in die Zeit zurück, als man bei den geistlichen Institutionen und in den Fürstentümern und Städten zur meist nur beiläufigen Versorgung der Archive besonders bestimmte „Schlüsselherren“ hatte (Ottnad 1986, 3). Aufgrund der seit dem 15. Jahrhundert verbreitet nachweisbaren räumlichen und funktionellen Nähe der Archive zu den Kanzleien waren es in der Regel eigens dazu bestimmte Domherren und Ratsmannen (Markgraf 1878, 144: seit 1386 in

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Breslau mit dem Vermerk „habent claves ad privilegia“), Kanzler, Kämmerer oder städtische Notare, die mit der Aufsicht über die Archive betraut waren. Nur stellenweise ist es dabei schon im 14. Jahrhundert zur personellen Verselbständigung einzelner Archive gekommen: So etwa durch die Bestellung von Pierre d’Étampes und Ulrich Schoff, „clericus et familiaris Caroli IV.“, zu Aufsehern (garde des chartes) des frz. und des böhm. Kronarchivs oder durch den Mantuaner Hieronymus de Iusen, einen Notar und Angehörigen der gebildeten städtischen Oberschicht, der sich 1392 „notarius et officialis archivii sive registri Communis Mantue“ nannte. Dabei ist die hauptamtliche Betreuung für die „Entstehung eines Archivs im modernen Sinne fast ebenso entscheidend wie die räumliche Trennung ... von Kanzlei und Registratur“ (Zimmermann 1962, 56). In den mittleren und kleineren Territorien, in Hessen oder Württemberg z. B., hat dieser archivgeschichtliche Entwicklungsschritt erst im 16. Jahrhundert oder noch später stattgefunden (vgl. Brichford 1986; Koss & Bauer 1939, 381; Behne 1990, 53; Ottnad 1986, 4; Gundlach 1931, 118: hauptamtl. hess. Registrator seit 1506). Da für die Eigentümer der juristische Nutzen ihrer Archive an oberster Stelle stand, die Archive im Streitfall also authentische Dokumente beizubringen hat ten, lag es nahe, juristisch gebildetes Personal und Fachleute für urkundliche Authentizität, d. h. Notare mit der Archivaufsicht zu betrauen. Es stimmt mit dieser Aufgabenstellung überein, daß Kanzler und Sekretäre bis ins 16. Jahrhundert hinein in der Regel öffentlichen Glauben als Notare besitzen mußten (vgl. von Zahn 1878, 62: der Autor des ersten Archivverzeichnisses von Aquileia aus der Zeit vor 1381 „war Notar und als solcher Kanzleiangehöriger des Patriarchen Mark wart“. — Abschn. Notari cancellieri bei Casanova 1966, 322 f: ‘Machiavell braucht nicht mehr Notar zu sein, um Sekretär der Kanzlei der Stadt Florenz zu werden, dasselbe gilt in der Folgezeit von den Sekretären der Großherzöge der Toscana, der Herzöge von Savoyen, Mantua, Modena und denen der ausländischen Souveräne’; Behne 1990, 121). Über die technischen Fähigkeiten hinaus erwartete man von den neuen Archivbeamten eine besondere Seriosität und Ergebenheit, die sich oft in einer Vererbung des Amtes innerhalb derselben Familie widerspiegelte (vgl. Behne 1990, 92 ff: Mantuaner Familie der Andreasi im Laufe des gesamten 15. Jahrhun-

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

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derts in wenigstens drei Generationen mit dem Archiv befaßt). Das Bewußtsein für den Wert gewisser Archivalien hat deren Eigentümer zum Teil schon im 15. Jahrhundert zur Bildung von archivischen Sonderbeständen in Form von sog. Hausarchiven und Samtarchiven veranlaßt. So zog man in Mantua aus der Befürchtung, wichtige dokumentarische Zusammenhänge könnten durch die Erbteilung von 1478 zerstreut werden, um 1480 gut 200 Urkunden als Keimzelle eines Hausarchivs zusammen (Behne 1990, 151; vgl. Schmidt- Ewald 1932, 292: kurz nach der sächs. Teilung von 1487 Absonderung des Urkundenarchivs im Wittenberger Gewölbe „als eine Art von Hausarchiv“. — Thiel 1914, 3: in Folge der Länderteilungen im Hause Habsburg gegen Ende des 14. Jahrhunderts „Bildung eines ... Depots für die Urkunden des Hauses und die nicht zum unmittelbaren Amtsgebrauche erforderlichen Kanzlei- und Rechnungsbücher in den innerösterr. Landen“. — Fink 1951, 2 nennt das während des Pontifikats Sixtus IV. (1471—1484) in der Engelsburg angelegte Urkundendepot „ältestes päpstliches Zentralarchiv, das Archivalien ... nach ihrer Bedeutung für die Rechte und Ansprüche des Hl. Stuhles, also nur eine Auswahl, in ... Verwahrung nahm“. — Wagner 1885, 18 f: Bildung zweier Samtarchive der hohenzollerschen Lande nach der Länderteilung von 1437. — Gundlach, 88: hess. Samtarchiv seit 1462).

7.

Neuzeit

Wegen der Entwicklung fester Behörden mit zunehmend umrisseneren Aufgaben und Zuständigkeiten nahm seit dem 16. Jahrhundert die Menge des zu archivierenden Schriftguts weiter zu. Vielerorts entstanden deswegen nun die ersten schriftlich niedergelegten Kanzleiund Archivanweisungen und im Gefolge der Publikationen des Württembergers Jakob von Rammingen (Heidelberg 1571) auch die ersten archivtheoretischen Schriften (vgl. Ottnad 1986, 5 f). Der Prozeß der Separierung der Urkunden von den nun in großer Zahl entstehenden Akten, der sich in vielen europäischen Territorien schon im 15. Jahrhundert anbahnte, kam spätestens im Laufe des 16. Jahrhunderts in den meisten europäischen Archiven zum Tragen. Damit war die grundsätzliche Unterscheidung zwischen neuzeitlichen Schatzarchiven und Kanzleiarchiven gegeben (Goldinger 1957; Brenneke 1988, 171), deren Über-

windung die archivische Entwicklung bis in das 19. Jahrhundert hinein prägen sollte. Am Endpunkt der Entwicklung stand die Schaffung von Zentralarchiven, die sich am reibungslosesten dort vollzog, wo das Urkundenarchiv als Summe der Rechtstitel und damit als Garant des staatlichen Besitzstandes fortgeführt und mit neu entstehenden Verwaltungsakten angereichert worden war. Im Laufe dieses Prozesses wurden die europäischen Archive des 16. bis 18. Jahrhunderts zu den vielfach zitierten Arsenalen der Politik. Während man z. B. in Frankreich im Jahre 1562 die Archive zur Untermauerung der staatskirchlichen Ideologie des Gallikanismus gebrauchte (Kelley 1966, 347), lieferten die Archive im alten deutschen Reich die urkundlichen Argumente in den Auseinandersetzungen „um behauptete oder bestrittene Hoheitsrechte eines Reichsstandes über einen anderen“ (Bresslau 1969, 21). Dieser Gebrauch der Archive geschah auf der Grundlage des sog. Ius archivii, das 1664 maßgeblich von dem schwarzburgischen Kanzler Ahasver Fritsch formuliert wurde (Tractatus de iure archivi et cancellariae). Während das aktive Archivrecht eine größere Rechtskraft der kaiserlichen und reichsständischen Archive im ganzen behauptete, privilegierte das passive Ius archivi die prozessuale Beweiskraft des archivierten gegenüber dem vereinzelten Dokument. In England gilt noch heute „der lükkenlose Nachweis seiner Aufbewahrung unter verantwortlicher amtlicher Aufsicht“ (Prinzip der unbroken custody ) als Merkmal eines vollgültigen Archivale (Leesch 1956, 18; Jenkinson 1965). Die mit Hilfe dieses Ius archivi ausgetragenen Bella diplomatica endeten mit dem Reichsdeputations - Hauptschluß von 1803, der den alten Diplomen, Privilegien usw. die verfassungsrechtliche Geltung entzog (Brenneke 1988, 175). Der Durchbruch zu einem in seiner Organisation und seinen Zielen modern zu nennenden Archivwesen geschah also in der Folge der Französischen Revolution (vgl. Delmas 1992). Die Marksteine waren zwei Dekrete von 1794 (7. Messidor II) und von 1796, in denen das 1789 gegründete Nationalarchiv zum zentralen Staatsarchiv der Republik bestimmt wurde, dem sämtliche öffentliche Depots in der Provinz (als künftige Archives départementales ) unterstellt wurden. Zusätzlich erklärte der Staat nun durch die Schaffung einer speziellen Bewertungsbehörde ( Bureau de triage des titres von 1796) seine grundsätzliche Sorgfaltspflicht für die Ar-

10.  Archivierung von Schriftgut

chive, die als das dokumentarische Erbe der Nation künftig für jeden Bürger frei zugänglich sein sollten (vgl. Staehelin 1968). Die Romantik und das Erwachen des nationalstaatlichen Denkens förderten in den folgenden Jahrzehnten das öffentliche Bewußtsein für den Wert der archivierten Schriftdenkmale als monuments historiques (1819 Begründung der bis heute fortgeführten Quelleneditionen der ‘Monumenta Germaniae Historica’). Dabei entfernten sich die Archive von der Verwaltung und gewannen zunehmend den Charakter historischer Forschungsstätten. Der Archivar wandelte sich vom vornehmlich juristisch orientierten Verwalter (Registrator) zum fachhistorisch vorgebildeten Erforscher des Archivguts. Überall im kontinentalen Europa zogen die Revolution und die napoleonischen Staatenbildungen archivische Konzentrationen nach sich. Durch den territorialen Zuwachs und die Neuschaffung europäischer Mittelstaaten (Baden, Cisalpine Republik z. B.) standen deren Archivare vor der Aufgabe, das Archivgut der säkularisierten geistlichen und der mediatisierten weltlichen Kleinstaaten in die eigenen Archive zu integrieren. Den noch herrschenden enzyklopäidschen Denkge wohnheiten verpflichtet ordnete man das neu erworbene und z. T. auch das eigene Archivgut nach alphabetischen Pertinenzkatalogen (vgl. Schnelling 1991; Graf 1990, 103: in Karlsruhe sog. Brauersche Rubriken von ‘Absterben’ bis ‘Zwanganstalten’; Behne 1988: Sistema peroniano in Mailand). Die hierbei zwangsläufigen Zuordnungsprobleme führten in Belgien und Frankreich seit 1840 zur Propagierung des sog. Respect des fonds, d. h. einer Beachtung der gewachsenen inneren Ordnung eines Archivbestandes. Vor dem Hintergrund des organistischen Denkens (Archivkörper) fand dieses Konzept 1898 durch die Niederländer Muller, Feith und Fruin seinen reifen Ausdruck: Sie formulierten maßgeblich das sog. Provenienzprinzip, dem zu Folge das Archivgut seinem Entstehungszusammenhang entsprechend archiviert wird, d. h. auf der Grundlage der Registratur oder der Aufgabenorganisation der Institution, die das Schriftgut erzeugte. Wenn es als solches auch nicht unumstritten war (vgl. Posner 1940, 169), so ist die Provenienz doch für das archivische Arrangement in den staatlichen und kommunalen und in den in unserem Jahrhundert neu entstandenen Archiven der Parlamente, Parteien und Verbände, der Wissenschaft und Presse, des Rundfunks und der Wirtschaft (vgl. Ze-

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chel 1965; Franz 1990, Kap. II) bestimmend geworden. Inwieweit es sich auch als Bewertungskriterium der Archivwürdigkeit von Dokumenten eignet, wird bis heute diskutiert (vgl. Booms 1972; Uhl 1990). Ob es sich auch im dritten Zeitalter der (elektronischen) Archive (vgl. Delmas 1992; Buchmann 1988; Menne- Haritz 1993), angesichts des damit sich erneut stellenden Problems der archivischen Authentizität und veränderter Benutzungsanforderungen, behaupten kann, wird die künftige Entwicklung zeigen; → Art. 11.

8.

Literatur

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Axel Behne, Otterndorf (Deutschland)

Datenbanken Einleitung Geschichte Struktur, Aufbau und Typen von Datenbanken Anwendungen Künftige Entwicklungen der Datenbanktechnologie Datenbanken als Medien der schriftlichen Kommunikation Literatur

Einleitung

Als Datenbank(- system) (engl. data base system ) bezeichnet man ein elektronisches Dokumentationssystem zur Erfassung, Speicherung, Verknüpfung, Auffindung, Sicherung und Ausgabe von Daten. Es ermöglicht eine Verarbeitung von sehr großen Mengen ähn-

lich strukturierter Informationseinheiten mit Hilfe eines Computers. Eine Datenbank läßt sich als ein modernes Medium zur (gegenwärtig noch überwiegend schriftlichen) Kommunikation begreifen, das zwischen einer sozialen Instanz, die Information bereitstellt, und einer sozialen Instanz, die Information benötigt, vermittelt. Die Behandlung der theoretischen, technischen und praktischen Fragen in Zusammenhang mit Datenbanken erfolgt üblicherweise in der Informatik, den Informations und Dokumentationswissen schaften sowie in denjenigen Disziplinen, in denen, wie etwa in der Medizin, den Wirtschafts und den Ingenieurwissenschaften, Datenbanken bereits eine besonders große Rolle spielen. Mit den zunehmend schwieriger werdenden Fragen der Sicherstellung der Rechte und Pflichten der an der Datenbankkommunikation beteiligten und der von ihr

11.  Datenbanken

betroffenen Personen( - gruppen) beschäftigt sich die Rechtsinformatik. In diesem Kapitel wird keine rein technische Darstellung von Datenbanken ange strebt. Dazu sei auf die einschlägige informationswissenschaftliche Fachliteratur ver wiesen (z. B. Henzler 1992; Buder, Rehfeld & Seeger, 1990 3 ). Die Darstellung der technischen Aspekte von Datenbanken soll vielmehr in eine Analyse ihrer Eigenschaften als Kommunikationsmedien eingebettet werden. Diesem Vorgehen liegt die Annahme zugrunde, daß eine Technologie nur in ihren sozialen Zusammenhängen verstanden werden kann. In den folgenden Abschnitten werden die verschiedenen Aspekte von Datenbanken in vier Schritten dargestellt. Zunächst wird im zweiten Abschnitt ein historischer Überblick über die Entstehung von Datenbanken gegeben. Hier soll gezeigt werden, auf welchen Verfahren der schriftlichen Informationskodierung und technischen Informationsverarbeitung Datenbanken aufbauen und welchen Informationsbedürfnissen sie entgegenkommen. Danach erfolgt in Ab schnitt drei die Darstellung der technischen Seite von Datenbanken. Im vierten Abschnitt werden verschiedene Anwendungsgebiete der Datenbanktechnologie vorgestellt. Mittler weile ist hier ein äußerst umfangreicher und ausdifferenzierter Markt entstanden, der die schnell wachsende Bedeutung von Datenbanken in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen verdeutlicht. Im letzten Abschnitt werden Datenbanken als Kommunikationsmedien, die weitreichende Folgen für soziale Prozesse mit sich bringen, untersucht.

2.

Geschichte

Medientechnische Neuerungen bauen immer in irgendeiner Weise auf bereits vorhandenen medialen Problemlösungsmustern auf. Üblicherweise geht man davon aus, daß die neuen Lösungen eine Erhöhung des Wirkungsgrades oder eine Verbesserung der Zweck- Mittel- Relation erbringen. Diese Konzepte des sog. medientechnischen Fortschrittes stimmen jedoch häufig nicht mit tatsächlichen Entwicklungen überein. Sie beschreiben vielmehr die Visionen, die mit einer neuen Technologie verknüpft werden und zu ihrer sozialen Durchsetzung beitragen sollen. Die moderne Datenbanktechnologie ist nun auch nicht voraussetzungslos entstanden, sondern besitzt eine reiche Vorgeschichte, ohne die sie sich nicht so schnell hätte durchsetzen können. Gleich-

159

zeitig verknüpft sie sich mit der Vision einer bestimmten Gesellschaftsform, der Informationsgesellschaft. 2.1. Vorgeschichte Eine der ältesten Funktionen der Schrift bildet wahrscheinlich das Speichern geordneter Daten. Von Beginn an gab es den schriftlichen Text als Liste, als Aufzählung einzelner Fakten nach einem bestimmten Ordnungssystem. Der lineare Text mit seiner narrativen Struktur, seiner Beziehung zu fortlaufenden Ereignisfolgen und Denkprozessen, dürfte dagegen ein jüngeres Ergebnis der Schriftgeschichte sein. Bereits in den protoschriftlichen Systemen, den Zählsteinen der Altsteinzeit und ihrer späteren Verwahrung in versiegelten Tongefäßen, den bullae (vgl. Ehlich 1983; → Art. 16), wurden die kognitiven Grundlagen für ein schriftliches, listenförmiges Dokumentationssystem geschaffen. Die weitere Entwicklung der Schrift ging dann einher mit der Ausdifferenzierung schriftlicher Dokumentationssysteme in Kalendern, Annalen, Warenund Steuerlisten etc. und schuf so ein vielfältiges Inventar von Problemlösungsstrategien für Dokumentationsaufgaben. In der Folge der Industrialisierung, der Wissenschafts- und Technikentwicklung sowie der Entstehung des modernen Staatswesens mit seinen Teilbereichen Recht, Verwaltung, Finanzwesen etc. entstanden Anforderungen zur Anlage von Dokumentationssystemen in historisch einmaligem Ausmaß. Diese Aufgaben wurden lange Zeit mit hand- und druckschriftlichen Verfahren bewältigt. Bereits vor der Einführung des Computers existierten daher in hohem Maße ausdifferenzierte und professionalisierte schriftliche Datendokumentations systeme. Karteisysteme, Aktenablagesysteme, Registraturen, Archive, Bibliotheken und Kataloge bilden die wichtigsten schriftli chen Texttypen, die auf verschiedenen Ebenen die Voraussetzungen für die Einführung eines elektronischen Dokumentationssystems schafften (→ Art. 10). Bereits in den frühesten Phasen der Schriftverwendung findet man auch Texte, die den Charakter von Formularen, einer wichtigen Textform für Dokumentationsaufgaben, haben (z. B. zum Formularcharakter von Bodenpachtverträgen in altbabylonischer Zeit vgl. Mauer 1979; zum Texttyp Formular vgl. Grosse & Mentrup 1980). Formulare bestehen aus einem in vielfach reproduzierter Version vorliegenden Schriftsatz mit Aufforderungen zu bestimmten schriftlichen Handlun-

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gen, die in Form und Inhalt eng festgelegt sind (nach dem Muster slot and filler ). Sie erzwingen ein uniformes Problemlöseverhalten und uniforme Darstellungsweisen. Formulare haben auf verschiedenen Ebenen die Voraussetzungen für moderne Datenbanken, speziell das Datensatzformat (→ 3.1.), geschaffen, indem sie die Ersteller und die Benutzer auf ein fest definiertes sprachliches und inhaltliches Inventar verpflichten. Für die Benutzer besitzen sie insbesondere dann einen disziplinierenden Charakter, wenn sie die einzige Kommunikationsform bilden, in der eine gesellschaftliche Aufgabe abgewickelt werden kann und individuelle Formen der Sachverhaltsdarstellung nicht möglich sind. Historisch gesehen kommt ihnen also eine starke erzieherische Funktion in der Herausbildung jener formatierten Verhaltensweisen und Einstellungen zu, die in der informatisierten Welt verlangt werden. Ein weiterer wichtiger Schritt bestand in der Mechanisierung eines Teils der dokumentarischen Aufgaben durch sog. Lochkartensysteme (vgl. Oberliesen 1982). 1889 meldete Herman Hollerith ein erstes Patent mit dem Titel Art of Compiling Statistics an. Die Idee der Mechanisierung geistiger Arbeit hatte hier im Rahmen des Büros eine erste Gestalt gewonnen. Das vorläufige Ergebnis der Geschichte schriftlicher Dokumentationssysteme bestand in einem umfassenden Instrumentarium zur Sammlung, Ordnung, Speicherung und Wiederauffindung von Informationen. Es führte zur Entwicklung verschiedenster Systematiken, zu ausdifferenzierten schriftlichen Kodierungsverfahren, zur weitgehenden Professionalisierung (Bibliothekare, Archivare, Dokumentare), zu spezialisierten Institutionen und Organisationen. Auch die Idee, daß nicht nur manuelle, sondern ebenso geistige Arbeit, z. B. Büroarbeit, zum Gegenstand von Rationalisierung und Mechanisierung werden kann, bildete für die folgende Entwicklung eine wichtige Grundlage. Insgesamt entstand ein kognitives, ein schriftliches und ein soziales Fundament, auf dem eine weitere schrifttechnische Innovation entstehen konnte. 2.2. Moderne Datenbanken Datenbanken im heutigen Sinn bauen weitgehend auf den im vorhergehenden Abschnitt geschilderten Traditionen der schriftlichen Informationsverarbeitung auf. Hier gilt unmittelbar die Formulierung McLuhans, daß „the »content« of any medium is always another

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

medium“ (McLuhan 1964, 8). Zur Entstehung der neuen Technologie führten insbesondere zwei Faktoren: der exponentiell gewachsene Informationsbedarf und die Computertechnologie. Die vollständige Etablierung der industriellen Produktionsweise in diesem Jahrhundert, die Verwissenschaftlichung der Technik und das moderne Staatswesen sprengten die Grenzen eines Dokumentationssystems mit Papier als Informationsträger (umfangreiches statistisches Material zu diesem Punkt stellte z. B. Kreibich (1976) zusammen). Nachdem in vielen Bereichen der Gesellschaft die traditionsbasierten Formen der Informations vermittlung schon durch ein externes Speichermedium verdrängt worden waren, mußten nur weitere, bis dahin personengebundene Funktionen des Dokumentationsprozesses auf externe Träger und Operatoren verlagert werden. Wenn z. B. eine Menge von 300 000 Patenten (vgl. Henzler 1992) zu verwalten ist, dann kann die systematische Suche in dem Datenbestand nicht mehr in einer ökonomischen und konsistenten Weise von Personen alleine durchgeführt werden. Mit der Entwicklung der ersten Computer seit dem Ende der vierziger Jahre dieses Jahrhunderts begann nun eine neue Ära in der Dokumentationsgeschichte. Die Datenbanktechnologie verknüpft sich hier mit der Vision von Information als neuem und zentralem Wirtschaftsfaktor. Wie viele andere Entwicklungen der Computertechnologie sind auch Datenbanken aus militärischen Projekten hervorgegangen. Der Begriff database, aus dem sich der deutsche Ausdruck Datenbank (auch Datenbasis ) herleitet, wurde zuerst 1963 auf einer Tagung des US- Militärs mit dem Titel Development and M anagement of a Computer-centered Data Base verwendet. Hier wurde bereits folgende Definition festgelegt: „(1) a database is a set of files (2) a file is a ordered collection of entries (3) an entry consists of a key or keys and data“ (Jones 1986, 33) Die zivile Entwicklung der Datenbanktechnologie steht insbesondere in Zusammenhang mit dem CODASYL- Committee (Conference On DAta SYstems Language) und der 1965 gegründeten Data Base Task Group. Anders als viele andere Modelle aus der kurzen Geschichte der Informationstechnologie, z. B. das gesamte Gebiet der Künstlichen Intelli-

11.  Datenbanken

genz, gelangten Datenbanken sehr schnell aus den Entwicklungslabors heraus und haben innerhalb kurzer Zeit weltweit zahlreiche Anwendungsgebiete gefunden. Mittlerweile sind sie zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor geworden. Dies hängt insbesondere mit ihrer langen Vorgeschichte zusammen, wobei ältere Dokumentationssysteme weitgehend nur in quantitativer Weise (Verarbeitungsgeschwin digkeit und Verarbeitungsmenge) ersetzt wurden. Zunächst kam es nicht zu qualitativ neuen Arten der Datenverarbeitung. Bis jetzt stimmen technische Visionen, tatsächliche Leistungsfähigkeit und gesellschaftlicher Bedarf noch überein. Künftige Entwicklungen (5.) streben hier wesentlich weitreichendere Veränderungen an. Dort wird in gänzlich neuer Weise eine Funktionsverteilung zwischen Mensch und Maschine im Rahmen des Dokumentationsprozesses gefunden werden müssen. Zur Terminologie. Der deutsche Ausdruck „Datenbank(- system)“ geht auf das englische Wort „data base“ bzw. „data base system“ zurück („data bank system“ wird im Englischen nur selten gebraucht). Allerdings wird im Deutschen auch von „Datenbasis“ gesprochen. Insgesamt ist nun die Terminologie nicht einheitlich. Normalerweise wird „Datenbank“ als Kurzform für „Datenbanksystem“ verwendet, wobei sowohl die eigentlichen Daten als auch die erforderlichen Programme für eine einzelne Anwendung gemeint werden. Der Ausdruck „Datenbasis“ kann sowohl „Daten einer Datenbank“ bedeuten (analog zu „Wissensbasis“) als auch eine noch nicht recherchierfähige Sammlung von Daten, die für eine Datenbankanwendung erst noch aufbereitet werden muß. In dem vorliegenden Kapitel soll der Ausdruck „Datenbasis“ in dem ersten Sinn verwendet werden.

3.

Struktur, Aufbau und Typen von Datenbanken

In diesem Abschnitt werden zunächst die wesentlichen technischen Eigenschaften und Funktionen von Datenbanksystemen erläu tert. Unter einer medientheoretischen Perspektive werden hier diejenigen dokumentarischen Aufgaben erläutert, die auf den Computer als Informationsträger und - verarbeiter übertragen wurden. In Abschnitt 3.3. werden dann die wichtigsten Akteure und Akteursgruppen der Datenbankkommunikation vorgestellt. Die Darstellung in dem gesamten Ab-

161

schnitt soll stärker auf Belange des Nutzers als auf solche des Entwicklers einer Datenbank ausgerichtet sein. 3.1. Komponenten und Struktur Die interne Struktur eines Datenbanksystems soll unter drei Perspektiven beschrieben werden: den technischen Geräten, die für Datenbankoperationen erforderlich sind; der Programmarchitektur eines Systems; und den inhaltlichen Gesichtspunkten, nach den Datenbanken unterschieden werden können. Hardware. Datenbanken im heutigen Sinn entstanden zusammen mit der Computertechnologie. Computer bilden somit die zentrale Grundlage für alle Operationen der Datenerfassung, - speicherung und - wiedergewinnung. Waren zunächst die sog. Main- FrameComputer (Großrechner) die Grundlage für Datenbankanwendungen so gewinnt heute der Personalcomputer (PC) immer größere Bedeutung. Großanbieter von Datenbanken benötigen allerdings weiterhin Rechner mit einer großen Speicherkapazität, insbesondere auf der Seite der Nutzer setzen sich jedoch PCs durch. Eine wichtige Komponente bilden die Speichermedien, die als Magnetplatten oder optische Speicher auch als externe Medien verwendet werden können. Zur Hardware der Datenbankkommunikation gehören in vielen Fällen weiterhin Einrichtungen der Datenfernübertragung. Diese bestehen zu nächst aus der Datenendeinrichtung, häufig ein PC, der über ein sog. MODEM (Modulation - Demodulation; technische Anpassung zwischen Endgerät und Leitung) an die eigentliche Übertragungseinrichtung ange schlossen wird. Der PC muß mit einer Kommunikationssoftware ausgestattet sein. Die Datenübertragung erfolgt dann über Kabel oder über Satelliten, wobei gegenwärtig der DATEX -P - Dienst der Bundespost für die Nutzung von Datenbanken große Bedeutung besitzt. Ein Datenbanksystem besteht neben der Hardware aus einem Datenbankmanage mentsystem, der eigentlichen Datenbank bzw. Datenbasis mit dem Datenbestand und den Anwenderprogrammen. Datenbankmanagementsystem (DBMS). Mit diesem System (gelegentlich auch Datenbankverwaltungssystem ) werden alle Operationen innerhalb eines Datenbanksystems gesteuert. Es handelt sich hierbei also um die Softwarekomponente eines Systems. Der Entwickler definiert mit dem DMBS das Format

162

einer Datenbank und organisiert mit seiner Hilfe die Daten in Dateien. Weiterhin steuert das DBMS alle Operationen des Lesens, Änderns, Einfügens und Löschens von Daten der Datenbasis. Für die Anwender werden häufig gesonderte Programme geschrieben (→ 3.2., 4. Online-Retrieval ). Eine Datenbank kann die folgende Struktur besitzen (Abb. 11.1):

Abb. 11.1: Struktur einer Datenbank

Die Datenbank besteht zunächst aus einer Menge von Dateien. Die Dateien wiederum enthalten die Datensätze. Dies sind inhaltlich zusammengehörende Informationseinheiten,

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

die nach einem von dem Entwickler definierten Prinzip, dem Datensatzformat, strukturiert sind. Die Datensätze bestehen aus Datenfeldern, in denen die eigentliche Information steht. Die Menge, Ordnung und Art der Felder bestimmen das Format eines Datensatzes. Datenfelder können nach ihrer Länge und der Art der Zeichen (alphanumerisch, boolesch, ordinal etc.) definiert werden. Datenbankmodelle. In einem Datenbankmodell werden die logischen Beziehungen zwischen den einzelnen Datensätzen des Datenbanksystems definiert. Üblicherweise werden drei Datenbankmodelle unterschieden. In einer hierarchischen Datenbank sind einzelne Datensätze nach dem System einer Baumstruktur miteinander verknüpft. Der Eintritt in ein solches System erfolgt über einen sog. Anker. Von dort aus kann der Benutzer über Kettungen zu den gewünschten Datensätzen weitergehen. Ein Nachteil hierarchischer Datenbanken besteht darin, daß der Benutzer die gewünschten Datensätze nur dann erreichen kann, wenn er sowohl den Anker als auch das hierarchische System kennt (vgl. Abb. 11.2). In einer vernetzten Datenbank können unterschiedliche Entitäten bzw. Attribute als Anker benutzt werden. Diese können nach verschiedenen Modellen untereinander ver netzt sein; im Extremfall bilden sie ein sog. vollvermaschtes Netz, worin von jeder Entität auf jede andere zugegriffen werden kann (vgl. Abb. 11.3).

Abb. 11.2: Hierarchiches Datenbankmodell (aus: Computer Enzyklopädie 1989)

11.  Datenbanken

163

Abb. 11.3: Vernetztes Datenbankmodell (aus: Computer Enzyklopädie 1989)

1. Relation Artikel in Bestellung ANR ART BNR M Druckfarbe 10003 50 l 2597 Winkel 10002 150 St. 3115 4911 Buchsen 10001 1000 St. Härtesalz 10004 20 kg 5312 2. Relation Lieferanten mit Bestellungen der Artikel LNR LFT BNR ANR ART Alchemie 10004 Härtesalz 5312 50007 Krüger & Sohn 10002 Winkel 3115 50218 Meyer GmbH 10001 4911 Buchsen 50678 Print AG 10003 Druckfarbe 2597 50714 3. Relation Bestellung der Artikel beim Lieferant BNR ANR ART LNR LFT Meyer GmbH 10001 4911 Buchsen 50678 Krüger & Sohn 10002 Winkel 3115 50218 10003 Druckfarbe Print AG 2597 50714 10004 Härtesalz Alchemie 5312 50007 Relationales Datenbankmodell mit möglichen Relationen der Beispieldaten

M 20 kg 150 St. 1000 St. 50 l M 1000 St. 150 St. 50 l 20 kg

Abb. 11.4: Relationales Datenbankmodell (aus: Computer Enzyklopädie 1989)

Das gegenwärtig wichtigste Modell ist die sog. relationale Datenbank. In diesem Modell werden alle Informationen als Werte von Attributen dargestellt. Die Datenbank besteht aus zweidimensionalen Tabellen (bzw. Listen), wobei die Attribute den Kopf der Liste bilden und die Werte die einzelnen Einträge: Bei-

spielsweise werden in einer bibliographischen Datenbank dem Attribut „Autor“ als Werte alle Autorennamen zugeordnet. Entsprechend werden auch alle anderen Datensatzfelder strukturiert, die den einzelnen Datensatz definieren. Die zweidimensionalen Tabellen werden Relationen genannt (vgl. Abb. 11.4).

164

Typen von Datenbanken. In Abhängigkeit von der Struktur des Textes und dem Inhalt der einzelnen Datensätze werden Typen von Datenbanken unterschieden. Mit den einzelnen Typen gehen jeweils besondere Anforderungen an die Datenaufbereitung und auch an das Retrieval (→ 3.2.) einher. In einer Volltextdatenbank sind die Primärinformationen als nicht weiter segmentierte Einheiten, z. B. Zeitschriftentexte, enthalten. Gelegentlich sind sie mit Schlagworten bzw. Deskriptoren versehen, so daß ein systematischer Zugriff ermöglicht wird. In Faktendatenbanken werden die Primärdaten systematisch aufbereitet und in ein definiertes Datensatzformat aufbereitet. Statistische Datenbanken, die auch zu den Faktendatenbanken gerechnet werden, liefern numerische Informationen (häufig in Form von Tabellen), z. B. über ökonomische, fiskalische oder demographische Entwicklungen. Die bibliographische Datenbank liefert Sekundärinformationen, indem sie auf andere Informationsquellen, die jeweiligen Schriften, verweist. Insbesondere in der Chemie werden Formalismendatenbanken verwendet, die u. a. komplexe Strukturformeln enthalten. 3.2. Rückgewinnung der Information aus einer Datenbank Die in Datenbanken gespeicherte Information kommt nicht automatisch bei dem Rezipienten an, sie „ruht“ vielmehr in der Datenbank und erfordert eine gesonderte Aktivität auf der Rezipientenseite (einen Sonderfall stellen die sog. Profildienste dar; s. u.). Diese Aktivitäten heißen Information Retrieval (IR; Wiedergewinnung der Information). Unter IR versteht man ein computergestütztes Verfahren, das auf der formalen Grundlage von Algorithmen nach Informationen in einer Datenbank sucht. Bei dem sog. Offline-Retrieval wird eine vollständige Suchoperation ohne weitere Eingriffsmöglichkeiten des Benutzers gestartet, während er bei dem Online-Retrieval die Möglichkeit hat, im Dialogbetrieb eine Suchoperation schrittweise zu verfeinern. Das wichtigste Instrument des Retrieval ist die Abfrage- oder Retrievalsprache. Über sie werden alle Kommandos im Rahmen des OnlineRetrieval durchgeführt: Mit ihr kann eine Datenbank ausgewählt werden; man kann sich die Suchbegriffe anzeigen lassen; man führt die tatsächliche Suche z. B. als Verknüpfung zwischen verschiedenen Begriffen durch; ein erfolgreiches Suchprofil läßt sich damit speichern; schließlich führt man mit der Retrieval-

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

Sprache die Ausgabeoperationen durch. Bisherige Versuche der Standardisierung von Retrieval- Sprachen hatten nur zum Teil Erfolg. Der Informationssuchende muß meistens noch mehrere Sprachen anwenden, die allerdings nicht so schwer zu erlernen sind wie Programmiersprachen. Neben den formalen Verfahren der Informationssuche muß der Rezipient für ein erfolgreiches Retrieval die begrifflichen Grundlagen des jeweiligen Fachgebietes und seiner Dokumentation kennen. Diese werden in Klassifikationssystemen bzw. Thesauri zu sammengefaßt. Nach DIN 1463 wird ein Thesaurus wie folgt definiert: „Ein Thesaurus im Bereich der Information und Dokumentation ist eine geordnete Zusammenstellung von Begriffen und ihren (vorwiegend natürlich sprachlichen) Bezeichnungen, die in einem Dokumentationsgebiet zum Indexieren, Speichern und Wiederauffinden dient.“ Bewertung von Datenbankrecherchen. Innerhalb der Informationswissenschaften wurden verschiedene Verfahren entwickelt, die sich mit der Beziehung zwischen dem Informationsbedarf und der Qualität der Datenbankinformation beschäftigen. Insbesondere zwei Parameter werden hier verwendet (vgl. Henzler 1992, 165/278 f). Die Wiederauffindungsquote/Vollständigkeitsquote (Recall) soll die Anzahl der gefundenen relevanten Dokumente an der Anzahl der relevanten Dokumente in der Datenbank insgesamt angeben. Die Genauigkeitsquote/Relevanzquote (Precision) soll die Anzahl der gefundenen relevanten Dokumente an der Anzahl der gefundenen Dokumente angeben. Diese Verfahren setzen eine Quantifizierbarkeit der Bewertungshandlungen des Informationssu chenden voraus, was häufig nicht unmittelbar gegeben ist. In der praktischen Datenbankarbeit kann daher hieraus oft nur eine ungefähre Einschätzung eines Rechercheergebnisses erfolgen. 3.3. Institutionen, Organisationen und Akteure des Datenbankwesens Die Datenbankkommunikation vollzieht sich in einem komplexen sozialen Netzwerk, das über zahlreiche ausdifferenzierte Funktionen verfügt. Nachdem Datenbanken die For schungslabors verlassen hatten, haben sie sich sehr schnell in der privaten Wirtschaft etabliert, werden zum Teil aber noch von öffentlich-rechtlichen Einrichtungen getragen. Hardware-Hersteller. Alle operativen und alle Speicherfunktionen von Datenbankpro-

11.  Datenbanken

zessen werden von Computern übernommen. Daher bildet die Computerindustrie eine wichtige Komponente, wobei praktisch keine spezifischen Computer für Datenbankpro zesse produziert werden. Sie sind in Abhängigkeit von der Software auf jedem System durchführbar. Netzwerkbetreiber. Online-Datenbanken sind als Form der Telekommunikation auf Datennetze angewiesen, die in Deutschland mit Ausnahme der Inhouse- Systeme von der Deutschen Bundespost betrieben werden. Software-Hersteller. Die Software- Hersteller entwickeln die Computerprogramme, mit denen einzelne Datenbankmanagementsyste me, Abfragesprachen und sonstige Programme erstellt werden. Buchhandel. Trotz aller Visionen von dem „papierlosen Büro“ nimmt der Buchhandel eine wichtige Rolle für Datenbanken ein. Ohne technische Handbücher, Informationen über Hosts und ihre Angebote wäre die Datenbankkommunikation derzeit noch nicht möglich. Vielfach erfolgt auch der Vertrieb von CD-ROMs über den Buchhandel. Informationsquellen. Die Informationen in einer Datenbasis greifen immer auf bereits vorhandene Informationsträger zurück. Dies können gedruckte Informationen sein oder komplexe Quellen, etwa personales Wissen. Datenbankproduzenten. Die Datenbasisproduzenten verfassen für ein bestimmtes Sachgebiet aus vorhandenen Informations quellen eine Datenbasis. Mit der Übertragung auf das elektronische Medium ist in der Regel eine komplexe Umkodierung der Information erforderlich. Die hier erstellten Datenbasen werden dann an Hosts zum Vertrieb weitergegeben. Hosts. Als Hosts bezeichnet man Organisationen, die im Rahmen von Online- Recherchen Dialogteilnehmerdienste anbieten. Dazu gehört die Bereitstellung von Leitungen, Paßwörtern, Verträgen, Retrievalsprachen und Datenbanken. Manche Hosts bieten auch sog. Profildienste an: Ein Interessent kann sich hier regelmäßig Informationen zu einem bestimmten Teilgebiet oder einer bestimmten Fragestellung zuschicken lassen. Unterschieden wird ein Standardprofildienst und ein individueller Profildienst, wobei letzterer auf das spezifische Informationsbedürfnis eines einzelnen Kunden zugeschnitten ist. Informationsvermittler. Ein Informationsvermittler führt im Auftrag eines Endbenutzers eine Online- Recherche durch. Häufig wird diese Aufgabe von Dokumentaren

165

durchgeführt. Gelegentlich wird auch die Berufsbezeichnung Informationsbroker verwendet. Informationsrezipient. Er bildet das letzte Glied in dem durch eine Datenbank vermittelten Kommunikationsprozeß. Ihm obliegt die Übersetzung der in der Datenbank kodierten Information i n einen sozialen Sinnzusammenhang. Er muß letztlich auch die Kosten für alle vorhergehenden Instanzen aufbringen.

4.

Anwendungen

Datenbanken haben sich zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor entwickelt. Sie werden in einer eigenständigen Wirtschaftssparte, die beachtliche Umsatzzuwächse zu verzeichnen hat, vertrieben. Die Nutzung von durch Datenbanken bereitgestellten Informationen wird ebenfalls mehr und mehr als Bedingung erfolgreichen Wirtschaftens angesehen. Hier gibt es allerdings noch große ungenutzte Ressourcen. Nach einer Untersuchung des Rationalisierungs - Kuratoriums der Deutschen Wirtschaft (RKW) betreiben nur 15 Prozent der befragten Betriebe ein systematisches Informationsmanagement (vgl. AFI 1991, 7). Wenn Information zu einem immer bedeutenderen Produktionsfaktor wird, dann liegen hier noch große Wachstumsmöglichkeiten. Neben Inhouse- Datenbanken und allen anderen Anwendungen, die nicht öffentlich sind, tragen insbesondere zwei Anwendungen zur wirtschaftlichen Relevanz von Datenbanken bei: Online - Datenbanken und CD - ROMs. Deren Anwendungssituation soll hier exemplarisch dargestellt werden. Online-Datenbanken. Unter einer OnlineDatenbank versteht man heute eine aus der Perspektive einer Institution externe Datenbank, auf die über ein Telekommunikationsnetz zugegriffen werden kann. Die Struktur der Benutzung einer Online- Datenbank sieht normalerweise so aus, daß ein Informationsvermittler an einem Datenendgerät, das über ein MODEM mit einem Telekommunikationsnetz verbunden ist, eine Online- Recherche durchführt. Dazu steuert er einen Host bzw. Datenbankanbieter an, der normalerweise ein Sortiment von vielen verschiedenen Datenbanken hat. Die für die Anfrage relevante Datenbank wählt der Vermittler an und führt hier mittels einer Retrieval- Sprache die eigentliche Recherche durch. Dafür muß er dann je nach Dauer der Anfrage und Menge der ausgegebenen Informationen eine Gebühr

166

an den Host entrichten. Dieser führt davon dann einen Anteil an den Hersteller der Datenbank ab. Für 1991 kann man von einer Zahl von ca. 4500 Online- Datenbanken ausgehen, die von ca. 600 verschiedenen Hosts angeboten werden und im Gebiet der alten Bundesrepublik erreichbar waren (vgl. AFI 1991, 9 und Henzler 1992, 167). In AFI (1991) werden davon ca. 2100 Online- Datenbanken aufgeführt. Der weltweite Umsatz der Anbieter betrug nach diesen Quellen 1990 ca. 10 Milliarden Dollar. Dabei wird der Markt eindeutig von den USA dominiert. Ca. 50 Prozent des Umsatzes entfielen auf sie, ein Drittel auf Europa und ca. 12 Prozent auf Japan. Die wichtigsten Nutzer in Deutschland sind das produzierende Gewerbe, gefolgt von Banken und Versicherungen und schließlich den Dienstleistungsbetrieben. Die Rangfolge der wichtigsten Nutzungsgebiete lautet gegenwärtig: Chemie, Biowissenschaften, Patentdatenbanken, Wirtschaftsinformationen, wobei der stärkste Zuwachs in dem letzten Bereich zu verzeichnen ist. Derzeit verzeichnet der Markt eine stabile Zuwachsrate von jährlich 23 Prozent. CD-ROMs. Eine der wichtigsten Neuerungen in der Speichertechnologie sind die optischen (bzw. optomagnetischen) Datenträger, von denen die CD- ROMs ( Compact DiskRead Only M emory ) die derzeit am weitesten verbreitete Anwendung darstellen (nach ähnlichen Prinzipien funktionieren CD- I ( Interactive ), CD-V ( Video ), Mini-CD, DVI ( Digital Video Interactive ) etc.). Diese Datenträger enthalten digitalisierte Informationen, physikalisch als Rillen einer Platte, die von einem Laserstrahl gelesen werden. Der Zusatz „ROM“ bringt zum Ausdruck, daß sie nur gelesen werden können und der Rezipient keine eigenen Informationen auf den Datenträger schreiben kann. Auf die kleinen und leicht transportablen Platten (12 cm Durchmesser) lassen sich Informationen im Umfang von ca. 600 Megabyte speichern, so daß sie auch sehr große Datenmengen aufnehmen können. Jeder PC mit einem CD- ROM- Laufwerk und der entsprechenden Treiber- Software kann als Abspieleinrichtung genutzt werden. Damit bilden CD- ROMs eine Alternative zu Online- Datenbanken, etwa wenn von einer Institution regelmäßig auf eine bestimmte Datenbank zugegriffen werden muß und es nicht auf eine Aktualisierung der Datenbestände in sehr kurzen Zeiträumen ankommt (vgl. Cox 1991; Schwerhoff & Schüler 1988). Etwa seit Mitte der achtziger Jahre

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

werden CD- ROMS vertrieben, und bereits 1991 wurden weit über 2000 Titel angeboten; derzeit verdoppelt sich etwa jährlich das Angebot (vgl. die Kataloge: Handbuch lieferbarer CD- ROMs, CD- ROMs in print, The CDROM directory). Davon waren ca. 800 Multimedia- CDs. Aufgrund der großen Speicherkapazität dieses Datenträgers wird in den nächsten Jahren sicherlich der Trend weg von rein schriftlichen Informationen und hin zu Multimedia - Anwendungen anhalten. Nicht alle CD- ROMs enthalten Datenbanken, sondern auch Spiele und Volltexte. Auch die inhaltlichen Schwerpunkte sind hier anders als bei den Online- Diensten. 1991 war die Rangfolge der wichtigsten Gebiete: Freizeit und Unterhaltung, Kunst und Geisteswissenschaften, Computer(programme), Biomedizin, Wissenschaft und Technik, Wirtschaft (vgl. The CD- ROM directory 1992, 9). Die Anschaffungspreise für einzelne CD- ROMs liegen gegenwärtig noch relativ hoch, so daß sie noch kein Ersatz für z. B. gedruckte Informationen sein können. Da die Material- und die Produktionskosten jedoch sehr gering sind, werden CD- ROMs bei entsprechender Verbreitung sehr schnell ein äußerst kostengünstiger Träger für Datenbanken sein. Rechtliche Probleme. Die massenhafte Speicherung von Daten und ihr Angebot in Datenbanken wirft erhebliche rechtliche Probleme auf (vgl. z. B. Goebel 1990; Weingarten 1994 c). Sofern es sich um personenbezogene Fragen handelt, entstehen Probleme des Datenschutzes. Durch die beliebige und kostengünstige Reproduzierbarkeit elektronisch gespeicherter Daten entstehen Fragen des Urheberrechtes (→ Art. 75). Schäden, die aus der Anwendung von in Datenbanken gespeicherten Informationen verursachen, können haftungsrechtlich beurteilt werden. Aus diesen Gründen und weiteren rechtlichen Aspekten wird die Regelung des Zuganges zu Datenbanken und die Steuerung verschiedener Nutzungsformen als zentraler Bedingung bei der Einrichtung von Datenbanken angesehen.

5.

Künftige Entwicklungen der Datenbanktechnologie

Seit ihrer Einführung vollzieht die Datenbanktechnologie einen unaufhörlichen Entwicklungsprozeß. Es werden immer effizientere Verfahren der Speicherverwaltung eingeführt; die Benutzeroberflächen werden auch für den Nicht- Experten bedienbar ge-

11.  Datenbanken

staltet; Programmodule erleichtern die Erstellung einer Datenbank; die anfängliche Bindung an Main - Frame - Computer wurde aufgehoben und Datenbanken stehen nun jedem PC- Besitzer zur Verfügung. Standardisierungen der verschiedenen Systeme trugen weiterhin zur großen Verbreitung der Datenbanken bei. In ihrer Summe wurden damit große Veränderungen gegenüber den anfänglichen Konzepten erreicht. Die Basisarchitektur der Datenbankmodelle blieb jedoch weitgehend unverändert. Gegenwärtig zeichnen sich nun verschiedene Modelle ab, die bei erfolgreicher Einführung zu weitreichenden Veränderungen von Dokumentationsprozes sen führen werden. Es läßt sich noch nicht mit Sicherheit sagen, ob und wenn ja in welcher Form sich diese technischen Visionen realisieren lassen werden. Sie können auch nicht auf so ausgereifte Vorläufer zurückgreifen, wie es die Datenbanktechnologie bei ihrer Einführung konnte. Viele der neueren Ansätze haben sich dem Leitbild der Künstlichen Intelligenz verschrieben. Sollten sie erfolgreich sein, so werden Dokumentationsprozesse in allen Phasen eine gänzlich neue Qualität erhalten. Der Input-Bereich eines Datenbanksystems bildet immer noch ein Nadelöhr. An dieser Stelle muß eine Übersetzung von einer vorhergehenden Struktur einer Information in diejenige der Datenbank erfolgen. Hier stellt sich die Frage, ob Teilfunktion dieser Aufgabe aus dem Bereich des menschlichen Handelns ausgegliedert und auf einen Computer übertragen werden können. Die automatische Schrifterkennung (OCR: Optical Character Recognition) bildet ein Verfahren, das insbesondere für Volltextdatenbanken zu einem wichtigen Hilfsmittel geworden ist (→ Art. 9). Die Eingabe in eine höher strukturierte Datenbank erfordert dagegen eine weitergehende Umkonstruktion der Information, die nicht problemlos von einer Maschine zu leisten ist. Auch mit Verfahren der Automatischen Inhaltserschließung kann der Input- Prozeß entlastet werden (vgl. Buder, Rehfeld & Seeger 1990 3 ). Die umfassendste Vorstellung zur Automatisierung des Inputs in ein Dokumentationssystem wird in dem Konzept Maschinelles Lernen zusammengefaßt. Danach baut der Computer selbständig eine Datenbasis auf, indem er eingehende Informationen nach einem definierten Algorithmus verarbeitet. Die listenförmige Datenbasis relationaler Datenbanken steht ebenfalls vor einer Herausforderung durch alternative Modelle.

167

Diese hängen unmittelbar mit den Input- und Output - Verfahren zusammen. Die Daten struktur relationaler Datenbanken erlaubt nur eine begrenzte Zahl von einfachen mengentheoretischen Operationen im Rahmen des Retrieval. Mit der Analogisierung zwischen dem menschlichen Geist und dem Computer in der Künstlichen Intelligenz entstand die Idee, die Datenbasis als Folge von Regeln zu gestalten, analog zur mutmaßlichen Struktur des menschlichen Wissens. Daraufhin sprach man von wissensbasierten Systemen oder Expertensystemen (vgl. Jackson 1987). Durch diese Form der Dokumentation wird eine erheblich größere logische Durchdringung und technische Rekonstruktion des Gegenstandsbereiches erforderlich. Dementsprechend gibt es bis heute nur sehr wenige erfolgreiche Anwendungen. In Zusammenhang mit dem maschinellen Lernen steht das Konzept der Neuronalen Netze, das am weitesten von der Struktur relationaler Datenbanken abweicht (Möglichkeiten des Einsatzes von Neuronalen Netzen für Dokumentationsaufgaben diskutiert z. B. Wilbert 1991). Hiernach bauen einzelne, untereinander vernetzte Prozessoren ohne zentrale Steuerung selbständig eine Datenbasis auf, die letztlich in einer bestimmten Netzwerkstruktur besteht. Eben falls auf dem Netzwerkkonzept basiert der Hypertext. Hier werden einzelne Informationseinheiten, die auch Volltexte sein können, in einer von dem Entwickler definierten Weise miteinander vernetzt (vgl. Kuhlen 1991). Der Benutzer kann sich seinen eigenen Weg durch das Netzwerk suchen. Da bei Hypertexten die Informationen am wenigsten umkonstruiert werden müssen, haben diese bislang die weiteste Verbreitung gefunden. Eine weitere wichtige Entwicklung künftiger Dokumentationssysteme werden nichtschriftliche Datenbasen sein. Mit kostengünstigen und äußerst dichten Speichermedien können auch Informationen, die weniger speicherökonomisch sind als die Schrift, in Datenbanken verwaltet werden. Unter den Etiketten Hypermedia und Multimedia werden entsprechende Systeme entwickelt. Ein Bereich, der vor größeren Neuerungen steht, wenn neue Modelle der Datenbasis entwickelt werden, ist das Information Retrieval. Je nach Struktur der Datenbasis können unterschiedliche logische Operationen der Informationserschließung durchgeführt werden. Viele Verfahren wenden heute den Begriff der Inferenz an. Aus einer Datenbasis sollen Folgerungen gezogen werden, die auch den Cha-

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

168

rakter von neuer Information besitzen können. Zwei neuere Projekte seien hier genannt: Wenn eine automatische semantische und syntaktische Analyse natürlichsprachlicher Texte ( Parsing ) möglich ist, könnten komplexe Retrieval- Operationen auf Volltextdatenbanken angewendet werden. Mit der Wissensbasis von Expertensystemen werden ebenfalls logisch und in ihrem Informationswert anspruchsvollere Retrieval - Operationen angestrebt. Ein wichtiges formales Modell bildet hier die Fuzzy- Logik. Gänzlich neue Probleme des Information Retrieval stellen sich bei Hypermedia Systemen, wenn z. B. auf Bilddaten zugegriffen werden muß. Schließlich bilden die Benutzeroberflächen eine Komponente, die vor weitreichenden Veränderungen steht. Die Verbreitung von Datenbanken hängt insbesondere davon ab, daß sie auch für Personengruppen bedienbar sind, die über keine spezialisierte Ausbildung verfügen. Graphische Benutzoberflächen, die mit Zeigersystemen bedient werden, haben sich schon für viele Funktionen durchgesetzt. Das zweite wichtige Konzept versucht, einen natürlichsprachlichen Zugang zu Datenbanken zu ermöglichen. Hier sind erheblich größere Probleme zu bewältigen: So lange es nicht gelingt, einen eng umrissenen Sprachausschnitt für die Bedienung zu definieren, müßte im Prinzip ein komplettes automatisches Sprachverstehenssystem vorhanden sein. Dies zeichnet sich derzeit aber noch nicht ab. Wahrscheinlich wird sich hier eine Mischung zwischen einem standardisierten und einem frei wählbaren Sprachausschnitt herausbilden. Diese Konzepte sind nun alle noch nicht wesentlich über die Laborphase hinausgekommen. Sie werden sicherlich nur in einer stark modifizierten und in ihrem Anspruch reduzierten Form realisierbar sein. Aber auch dann werden sie noch zu einer fundamentalen Änderung der Struktur und Funktion für die Kommunikation gegenüber dem ursprünglichen Datenbankmodell führen.

6.

Datenbanken als Medien der schriftlichen Kommunikation

6.1. Datenbanken als Texte Datenbanken sind Medien der (z. Z. noch überwiegend schriftlichen) Kommunikation. Sie werden im Rahmen einer komplexen kommunikativen Handlung verwendet, die mit zwei Unbekannten operieren muß: dem Kom-

munikationspartner und dem Zeitpunkt der Rezeption. Aus diesem Grund können sie nicht auf ein gemeinsames Zeigfeld der Kommunikationspartner zurückgreifen, sondern müssen alle relevanten Informationen in einem systematischen „formatierten“ Sym bolfeld unterbringen (vgl. Weingarten 1989). Gegenüber anderen Formen schriftlicher Kommunikation besitzt der in Datenbanken verwendete Texttyp weiterhin die Eigenschaft, daß der Pfad, den der rezipierende Kommunikationspartner durch die Datenbasis nimmt und der Ausschnitt, den er von ihr wahrnimmt, unbekannt sind. Damit entfallen alle ansonsten üblichen textdeiktischen Mittel (vgl. Ehlich 1992), aber auch makrostrukturelle Verfahren der Kohärenzbildung, wie z. B. narrative Strukturen. Diese sind immer an eine beiden Kommunikationspartnern be kannte Abfolge der Verarbeitungsschritte geknüpft. Unter diesen Bedingungen haben sich die abstrakten und gegenüber anderen Textsorten ungewöhnlich strikten Ordnungssystematiken der heutigen Datenbanken wie auch bereits der älteren Dokumentationssysteme entwickelt. Sie verbinden gleichartig strukturierte, elementare Textsegmente nach Prinzipien, die zum Teil sachlogisch begründet werden (z. B. Fachsystematiken), zum Teil aber arbiträr sind (wobei lediglich das alphabetische Prinzip allgemeiner Kulturbesitz ist; → Art. 141). Es handelt sich hier um spezielle Formen des Weltwissens und eines metatextuellen Wissens, das der Rezipient zum Textverstehen besitzen muß. Dieses Wissen ist so spezialisiert, daß die Datenbankkommunikation zum Teil nur mit Hilfe sprachlicher Experten möglich ist. Damit besitzt sie auch innerhalb der Fachkommunikation einen nochmals ausgezeichneten Stellenwert. Ein weiteres Merkmal des Datenbanktextes besteht in dem nahezu vollständigen Verbergen des Autors. Nur in dem Eingangsmenü, analog der Titelseite, tritt der Autor (in der Regel eine Institution) sprachlich in Erscheinung. In den einzelnen Informationseinheiten taucht er nicht auf. Damit handelt es sich um einen objektivierenden Texttyp, der in dieser Radikalität wohl nur wenige Entsprechungen besitzt. Selbst in wissenschaftlichen Texten gelingt es nur selten, das Ich - Verbot durchzuhalten (vgl. Weingarten 1994 b). Zumindest in den sog. Faktendatenbanken dominieren ausschließlich repräsentative Sprechakte, womit in diesem Texttyp der sprachliche Habitus der „reinen Bereithaltung von Wissen“ ohne weitere kommu-

11.  Datenbanken

nikativen Zwecke besonders deutlich verkörpert wird. Datenbanken lassen sich am besten als Textpotentiale bezeichnen. Sie werden von den Verfassern so konzipiert, daß ihre Kommunikationspartner daraus einen je eigenen Text erstellen können. Dies betrifft zunächst die Auswahl einer Teilmenge aus den vorhandenen elementaren Informationseinheiten. Sodann werden die ausgewählten Elemente in einer bestimmten Weise verknüpft. Bis zu diesem Punkt kann der Text des Rezipienten als Potential in der Datenbank angelegt werden. In modernen Datenbanksystemen, die mit Abfragesprachen und Hilfesystemen ausgestattet sind, ändert sich der rein repräsentative Charakter des Datenbanktextes. Bei den interaktiven Systemen bzw. bei dem Dialogbetrieb wird gegenüber dem Informationssuchenden der Eindruck erweckt, die Datenbank selber sei der Kommunikationspartner und nicht das Kommunikationsmedium. Bezeichnungen wie Agenten- oder Assistentensysteme bringen diese metakommunikative Modellierung zum Ausdruck. Als dominantes Interaktionsmuster wird die Frage- AntwortVerbindung herausgestellt. Allerdings ermöglichen die meisten Systeme auch andere sprachliche Handlungen auf seiten des Informationssuchenden (Aufforderungen, Ant worten) und Quasi- Handlungen auf seiten des Systems (Aufforderungen, Fragen, Erklärungen, Warnungen). Der Verzicht auf den rein repräsentativen Charakter des Datenbank textes und die Anthropomorphisierung des Mediums geht vermutlich auf eine Tendenz der Informationssuchenden zurück, ihrer seits schon überkomplexe Computerprozesse zu anthropomorphisieren (vgl. Weingarten 1988 a). Dies wurde dann von den Softwareentwicklern systematisch umgesetzt. Aus der Sicht des Informationssuchenden stellt sich die durch eine Datenbank vermittelte Kommunikation so dar, daß er sein Informationsbedürfnis zunächst nach den Maßgaben der Systematik der Datenbank reformuliert. Bei Frage- Antwortsystemen nimmt der Rezipient eine permanente verfeinerte Anpassung seiner Problemformulierung vor (vgl. Weingarten 1988 b; eine ausführliche Dokumentation einer Datenbankabfrage zusam men mit einem Dialog zwischen dem Informationsvermittler und dem Informationssuchenden findet man z. B. in Weingarten & Fiehler 1988). Bei diesem Anpassungsprozeß dürfte es sich um einen Lernprozeß handeln, der auch längerfristig dem Benutzer die Pro-

169

blemlösungskategorien vorgibt. 6.2. Datenbanken als soziales Gedächtnis Datenbanken besitzen wie andere schriftliche Texte auch die Funktion eines sozialen Gedächtnisses. Dieses spezifische Gedächtnis ist mittlerweise so groß, daß die entscheidende Frage lautet, wie sein Inhalt in sinnvolles soziales Handeln rückübertragen werden kann. Die häufig verwendete Metapher der „Datenfriedhöfe“ bringt zum Ausdruck, daß nicht nur der Weg in die Datenbank hinein einen Engpaß durchläuft, sondern auch der Weg heraus. Dies hängt zum einen mit der Tatsache zusammen, daß Datenbanken nicht vergessen, alte Informationen damit nicht automatisch in den Hintergrund treten. Lediglich die begrenzten Möglichkeiten der Datenpflege insbesondere in Zusammenhang mit dem schnellen Wechsel der Hardware- und Software- Generationen bewirken einen quasinatürlichen Verfall vieler einmal gesammelter Daten. Dieser in den Informationswissenschaften vielfach beklagte Prozeß besitzt aus der Perspektive der Funktion von Datenbanken als soziales Gedächtnis auch durchaus einen positiven Aspekt: In begrenztem Umfang wird das Gedächtnis durch den ungesteuerten Verfall alter Informationen entlastet. Mit der permanenten Erneuerung der technischen Informationsträger wurde so ein unbeabsichtigter Filter in dieses Tradierungsverfahren eingebaut. Ein erheblich größeres Problem dieses sozialen Gedächtnisses besteht in dem immer größer werdenen Mißverhältnis zwischen der ständig wachsenden Menge und Ausdifferenziertheit der gespeicherten Informationen und den begrenzten Möglichkeiten sozialer Systeme, diese wieder in sozialen Sinn zu integrieren. Gelegentlich wird dieses Problem durch die Gegenüberstellung der Begriffe Information und Wissen zum Ausdruck gebracht (z. B. Frühwald 1986). Die Zukunft der Datenbanktechnologie wird wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, die soziale Relevanz massenhaft gespeicherter Informationen zu erhalten. Die Vereinheitlichung von Produkten, technischen Verfahren, Institutionen sowie begrifflichen Systematiken jeglicher Art kann hier in einem gewissen Umfang eine Hilfe darstellen. Letztlich setzen aber die nicht beliebig ausdehnbaren und formbaren menschlichen Verstehensfähigkeiten einen Rahmen, der auch der medientechnischen Entwicklung vorgegeben ist.

170

7.

II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

Literatur

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Rüdiger Weingarten, Bielefeld (Deutschland)

12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung

171

12. Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrer historischen Entwicklung 1. 2. 3. 4. 5.

6.

7.

1.

Grundlagen Frühgriechische Buchstabenformen (ca. 750 bis 403 v. Chr.) Buch- und kursivschriftliche Entwicklungen des griechischen Alphabets bis in die Neuzeit Lateinische Buchstabenformen von der archaischen bis zur klassischen Lapidarschrift Entwicklungen der lateinischen Schrift vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr. Von der karolingischen zur „gotischen“ Minuskelschrift. Humanistischer Zugriff auf die Karolinger Minuskel Literatur

Grundlagen

In diesem Beitrag wird versucht, die Morphogenese des griechischen und lateinischen Alphabets zu beschreiben und Erklärungsansätze zu Formentwicklungen auf kognitivistischer Basis zu liefern. Es wird davon ausgegangen, daß eine vollständige Grammatiktheorie analog und parallel zur Phonetik und Phonologie auch über eine Komponente verfügen sollte, in der die graphische Ausdruckssubstanz — in unserem Falle Alphabetschriften — mit ihren jeweiligen Form- bzw. Gestaltregularitäten erfaßt wird. Dabei sollen folgende Entsprechungen gelten: artikulatorische Phonetik — produktionale oder Kineto-Graphetik; auditive Phonetik — rezeptive oder Phano-Graphetik. Der eigentlich phonologischen Komponente soll eine graphemische entsprechen, mit AlloRegeln und der üblichen funktionalen Invariantenbildung. Beide, Phonologie und Graphemik, lassen sich auf jeweils einem System distinktiver Merkmale aufbauen, wobei klar ist, daß unser westliches Alphabet nur e i n e mögliche Lösung für ein phonographisches System ist. Die je nach Einzelsprache unterschiedlichen Abbildungsbeziehungen zwischen den Einheiten der phonemischen und graphemischen Komponente können in sprachspezifischen graphophonemischen Brückenkomponenten, etwa im Sinne von Bierwisch (197 2), erfaßt werden (vgl. auch Catach 1990). Für weitere Überlegungen zum Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache wird auf Coulmas (1989, Kap. 1—3) und auf einschlägige Artikel in

diesem Handbuch verwiesen. Im weiteren beschränken sich unsere theoretischen Vorüberlegungen auf Kriterien und Kategorien einer kognitivistisch fundierten Morphologie der Elemente unseres westlichen Alphabets (diachronisch und synchronisch). Rein geometrisch-konstruktiv gesehen ist es eine beinahe triviale Aufgabe, die Buchstabenformen der Versal- und Minuskelreihe unseres Alphabets aus einer kleinen Menge von geometrischen Grundelementen aufzukonstruieren; etwas schwieriger ist es, dieselben Formen durch algebraisch-topologische Gleichungen zu erzeugen (vgl. z. B. Harary 1969). Im folgenden wird jedoch deutlich werden, daß solche von den Bedingungen des Schreibund Leseprozesses losgelösten Rekonstruktionen keine geeigneten Grundlagen für eine kognitiv-realistische Theorie der Morphologie der Elemente unseres Alphabets sein können. Dies gilt sowohl für dessen historische Entwicklung über die zurückliegenden ca. 3500 Jahre, als auch für eine kognitivistisch befriedigende Darstellung und Erklärung der schreibmotorischen (kinemischen) bzw. visuell-rezeptiven (phanemischen) Faktorenzusammenhänge beim aktualen Vollzug von Schreib- und Leseakten (vgl. McClelland & Rumelhart 1981; Marshall 1987 ). Gezeigt werden soll im weiteren, wie die historischen Veränderungen der Buchstabenformen auf der Basis von kinemisch-phanemischen Bedingungszusammenhängen von Mengen von Schreib- und Leseakten plus einiger Randbedingungen wie Schreibmaterial und der Hierarchisierung von Schriftausformungen (monumental bis kurrent-kursiv) und Kriterien wie Homogenität/Heterogenität der Formenmenge des Gesamtalphabets und der Schreibökonomie einzelner Buchstaben und Buchstabensequenzen in textu zu verstehen sind (vgl. zur Diskussion dieser Kriterien Brekle erscheint). Anders gesagt soll der hier verfolgte Ansatz deskriptiv und explanativ die für diachronische Veränderungen u n d die für aktuale Schreib- und Leseakte anzunehmenden Prinzipien und Einflußgrößen auf die Gestalt von Buchstaben und deren visueller Wahrnehmung integriert erfassen. Angestrebt wird also eine Art von Prinzipien- und Parametertheorie für die Morphologie der Elemente unseres Alphabets. Damit unterschei-

172

det sich der hier verfolgte Ansatz methodologisch und hinsichtlich seiner Erkenntnisinteressen ganz wesentlich von der traditionellen, kaum theoriegeleiteten antiquarisch-philologischen Epigraphik und Paläographie. Gleichwohl basieren die folgenden Untersuchungen ganz wesentlich auf den oft subtilen Beschreibungen und Einzelanalysen von Vertretern dieser venerablen Disziplinen. Ein Problem, mit dem sich jeder, der irgendwelche Schriftzeichen auf Beschreibmaterialien mit dem jeweils adäquaten Beschreibungsinstrument zu fixieren versucht, auseinander zu setzen hat, ist die Orientierung der Zeichen im normalerweise zweidimensionalen Schreib- und Leseraum. Die Entscheidung des Schreibers fällt unter normalen Bedingungen (z. B. keine Beschränkungen durch Umgebungsbedingungen, Form des Schreibmaterials u. ä.) zugunsten der vertikalen Orientierung des einzelnen Schriftzeichens, das für den Schreiber ein Oben und ein Unten hat. Diese schriftzeichenintrinsische Oben-UntenStruktur kann im Falle der Ikonisierung (z. B. altsemitisch rosch → ) aus der natürlichen Orientierung des Vorbildes übernommen sein; sie kann jedoch auch konventionell oder schreibfunktional bedingt zustande kommen. Definiert man Vertikalität anthropomorph als ideale körpermittige Achse, dann ergibt sich zwanglos als zweite Orientierungsdimension die Links-Rechts-Erstreckung. Jeder visuell wahrgenommene, durch Hell-Dunkel-Differenzen konturierte Gegenstand hat für uns in der Regel — natürlich oder konventionell — seine normale Stellung in diesem Koordinatensystem. Zieht man nun auch noch in Betracht, daß diese Orientierungsachsen in neuronalen Verarbeitungs- und Repräsentationsprozessen quasi als Konstanten fest einprogrammiert sind, so ist damit eine erste Ebene für eine kognitiv-realistische Beschreibung und Erklärung der Situierung von Schriftzeichen im Schreib- und Leseraum gewonnen. Es kann nun schriftvergleichend und schrifthistorisch gezeigt werden, daß dieses Koordinatenschema grundsätzlich für alle historisch bekannten Schriften gilt. Streng empirisch gesehen, ist diese Aussage natürlich cum grano salis zu nehmen; aufgrund verschiedener Randbedingungen (z. B. Grad der Kursivität einer Schrift, extrem geformte Schreibmaterialien) können sich die historisch-konkreten Manifestationen dieses Prinzips vom Idealtypus mehr oder weniger weit entfernen. In engem Zusammenhang mit diesem evolutionär und kognitivistisch fundierten Prinzip der vertikalen Orientierungsachse im visu-

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

ellen Wahrnehmungsraum steht die buchstabenforminterne Entwicklungspräferenz der vertikalen Geradlinigkeit in westlichen Alphabeten. Diese topologisch prominente Eigenschaft kann auf piktographischer Basis natürliche Gründe haben, sie kann jedoch auch schreibmotorisch induziert sein, nämlich durch vertikale finale Abstriche einer Buchstabenform (= kinemische Hasta), z. B. beim Übergang von protophönizisch > phönizisch-altgiechisch (= K); von protophönizisch > phönizisch > griechischlateinisch ; von protophönizisch > phönizisch > griechisch-lateinisch . Wie im einzelnen genauer gezeigt werden kann (Brekle erscheint), läßt sich an dieser buchstabeninternen Vertikalität (plus buchstabendifferenzierende „Anhänge“ oder caudae ) ein wichtiges und die gesamte morphologische Entwicklung unseres Alphabets dominierendes Strukturprinzip festmachen: das Hasta + Coda-Prinzip. Spätestens auf der praktisch vollständig de-ikonisierten phönizischen Entwicklungsstufe (ca. 1100 v. Chr.) unseres Alphabets treffen wir auf Buchstabengestalten (bis auf zwei Ausnahmen und betrifft dies alle 22 Elemente des phönizischen Alphabets), deren schreibkinetisches Programm durch einen initialen oder finalen Abstrich (= kinemische Hasta) charakterisiert ist; an diesem mehr oder weniger vertikalen Basis„stab“ hängen die Codaelemente (z. B. phöniz. ). Dabei kann plausibel gemacht werden, daß die buchstabeninterne Produktionsrichtung im Phönizischen — wie auch in allen späteren westlichen Alphabeten und im Hebräischen (nicht im Arabischen) dextral war bzw. ist; d. h. idealiter begann ein Phönizier eine Buchstabenform von links und endete rechts (z. B. = /j/ oder /p/ etc.). Die Schreibrichtung, d. h. die Sequenzierung der Buchstaben in der Zeile verlief im Phönizischen (wie auch in allen späteren semitischen Schriften) von rechts nach links (= sinistrograd); dies galt auch noch im Altgriechischen, das erst im 6. Jahrhundert v. Chr. über boustrophedon-Zeilenfolgen

zur reinen dextrograden Schreibrichtung fand, vgl. die etwas anders laufende Argu-

12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung

mentationsrichtung in de Kerckhove (1988) und die Kritik dazu in Brekle (erscheint). Aus dem dabei stattfindenden gleichsinnigen Wechsel der buchstabeninternen Vektorialität bei vertikalaxial asymmetrischen Buchstabenformen („der Buchstabe blickt in die jeweilige Schreibrichtung“; d. h. dextrograd ≙ dextral bzw. sinistrograd ≙ sinistral; für den kinemischen, den Produktionsmodus galt diese Gleichsinnigkeit vermutlich nur partiell; dextrograd = dextral; sinistrograd  sinistral, vgl. oben) läßt sich schließen, daß die altgriechischen Schreiber und Leser so etwas wie eine Intuition über buchstabeninterne Vektorialität und ihren Gleichklang mit der Schreib- bzw. Leserichtung gehabt haben könnten. Diese Gleichsinnigkeit von buchstabeninterner Vektorialität und Schreib- bzw. Leserichtung könnte bei der Generalisierung des dextrograden Verfahrens ein entscheidender Faktor gewesen sein; die phönizisch-altgriechische Gegensinnigkeit sinistrograd-dextral wäre damit beseitigt gewesen. Im Zusammenhang damit könnte auch die im 6. Jahrhundert v. Chr. weitgehend vollzogene Symmetrisierung einiger Buchstabenformen — zumindest in der Monumentalschrift — gesehen werden: > , > , > , > . Die vertikalaxial asymmetrische Hasta + Coda-Struktur eines großen Anteils — je nach Entwicklungsphase schwankend — der Elemente der altsemitisch-westlichen Alphabete läßt sich im übrigen auch durch neurologische und wahrnehmungspsychologische Evidenzen als phanemisch „gute Gestalt“ begründen (vgl. Harcum 1964, Kolers 1969, 197 5, 197 8, 1980, 1983, Kolers & Perkins 197 5, und die Diskussion in Brekle erscheint, 3.3.). Nach diesen knappen Andeutungen sollte nachvollziehbar sein, daß das Vertikalitätsund das Hasta + Coda-Prinzip kinemisch und phanemisch kognitiv verankert werden können und die sich aus der Schriftproduktion und -wahrnehmung ergebenden topologischen Kategorien (vertikalaxiale (A)-Symmetrie, Vektorialität) als für eine noch ausstehende Theorie der distinktiven graphemischen Merkmale bzw. für eine theoretisch fundierte Morphologie unserer Schrift wesentliche Bausteine angesehen werden können. Schließlich muß zur detaillierten Erfassung der morphologischen Binnenstruktur der Buchstaben die Verteilung solcher Qualitäten wie Rektilinearität und Kurvilinearität auf die durch Symmetrien/Asymmetrien und Vektorialitäten nur abstrakt erfaßten Buchstaben-

173

strukturen geklärt werden. Wie eine solche Verteilung in „geregelter“ Weise erfaßt und dargestellt werden kann, hat Watt in seinen Arbeiten seit 197 5 für die kinemische und phanemische Modalität der Versalreihe unseres Alphabets maximal detailliert gezeigt. Ob jedoch den Wattschen kinemischen und phanemischen Programmen in allen Einzelheiten auch eine kognitivistische Begründung gegeben werden kann, bleibt vorläufig eine offene Frage. Es erscheint einleuchtend, daß für die Beschreibung und Erklärung der Verteilungen von Rekti- und Kurvilinearität auch die folgenden Vor- und Randbedingungen adäquat erfaßt werden müssen. Es gibt jeweils verschiedene Grade der Kursivität bzw. Monumentalität. Interdependent müssen die schreibphysikalischen Eigenschaften der aufeinander abgestimmten Schreibmaterialien berücksichtigt werden. Griffel und Wachstafel lassen den Schreiber zu einer Kursive mit vermehrt rektilinearen Zügen tendieren. Die „Eckigkeit“ der Runenbuchstaben erklärt sich zwanglos aus dem vermutlich häufig gebrauchten Beschreibstoff (Fichten-) Holzbrettchen. Schilfrohr (Kalamus) oder Vogelfeder + Tinte „passen“ gut zu Papyrus, Pergament und Papier. Läßt man kostenökonomische Faktoren außer acht, so eignen sich diese Schreibmaterialien gleichermaßen für litterae currentes wie für litterae formatae. Wie zu zeigen sein wird, finden kurrentschriftliche Entwicklungen — im Gegensatz zu buch- und monumentalschriftlichen — ihren Extrempunkt in der verbundenen Schrift, d. h. die Feder verläßt innerhalb einer Wortform die Beschreibfläche nicht, der Schreiber macht also keine „Luftzüge“. Es ist klar, daß in diesem Fall die Kurvilinearität dominieren kann, nicht muß (vgl. die sog. deutsche Kurrentschrift). Stein und Meißel können zwar grundsätzlich jede Schrift abbilden; aus politisch-hierarchischen und/oder textfunktionalen Gründen finden sich jedoch überwiegend monumentalschriftliche Ausprägungen, die in aller Regel vom „ordinator“ mit Feder, Kohle oder Pinsel auf der Steinfläche vorgezeichnet wurden. Will man einen der wichtigsten Entwicklungsschritte unseres Alphabets historischempirisch korrekt beschreiben und möglichst auch noch theoretisch tragfähig erklären, dann muß auch das Phänomen der vertikalen Stufung von Buchstabenformen angemessen berücksichtigt werden. Es geht um die Herausbildung des sog. Minuskelalphabets, um

174

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

dem Übergang von einem Zweilinien- zu einem konventionell geregelten Vierlinienschema bzw. um den Schritt von der Einstufigkeit zur Dreistufigkeit. Unsere heutige Schrift besteht aus zwei Teilalphabeten (darin unterscheidet sie sich von allen anderen Schriften): den Versalien, die morphologisch ziemlich genau (eingeschränkt wegen J, U und W) der klassischen capitalis quadrata entsprechen (Zweilinienschema), und den Minuskeln, die ausgehend von römischen Kursivschriften in einer im Detail nicht immer leicht nachvollziehbaren Folge von Entwicklungsschritten in der Karolinger Minuskel kanonisiert wurden (Vierlinienschema). Der „Erfolg“ des Minuskelalphabets, das ja als unmarkierter Fall recht eigentlich als unsere Schrift aufzufassen ist — Versalschrift bildet in mehrfacher Hinsicht den markierten Fall — dürfte nicht zuletzt auf der guten visuellen Diskriminierbarkeit dieser Buchstabenformen in sequentia beruhen. Anders gesagt, es wurde ein schreib- und lesefunktional günstiger Grad an Heterogenisierung erreicht.

2.

Frühgriechische Buchstabenformen (ca. 750 bis 403 v. Chr.)

Der Beginn dieses Zeitraums ergibt sich zwangsläufig aus den frühesten dokumentierten Inschriften; als Endpunkt wird das Datum der athenischen Entscheidung (403 v. Chr.) über die Verbindlichkeit des ionischen Alphabets für den griechischen Sprachraum angenommen. Das Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. rechtfertigt sich — wie zu zeigen ist — vor allem durch die Abschlußphase der grundlegend wichtigen Entwicklungstendenz der frühgriechischen Alphabetausformungen, nämlich der vertikalaxialen Symmetrisierung und der Rektangularisierung jeweils einer Teilmenge der Buchstabenformen, der definitiven Festlegung der dextrograden Schreibrichtung und der Eingrenzung der Höhenentwicklung der Buchstabenformen in einem Zweilinienschema (letzteres gilt jedenfalls für monumentale und buchschriftliche Textmanifestationen; ausgeprägt kurrentschriftliche Belege fehlen für diesen Zeitraum). Als augenfälligen Nachweis für die Übernahme des phönizischen Alphabets in seiner Morphologie wie sie sich im 8. Jahrhundert v. Chr. zeigt, seien sieben — teilweise unvollständige — kolonialphönizische Alphabete vorgestellt. Sie bestehen grundsätzlich aus 22 Buchstaben, die ihrerseits die 22 Konsonan-

tenphoneme des Phönizischen abbilden (vgl. Abb. 12.1). Die Namen der phönizischen Buchstaben, die wenigstens teilweise semitischen Lexemen entsprechen, machen das akrophonische Prinzip zumindest im Ansatz plausibel (vgl. kritisch Gelb 1963, 138 ff): ’alep, bet, gimel, dalet, he, waw, zayin, ḥet, ṭet, yod, kap, lamed, mem, nun, samek, ‛ayin, pe, ṣade, qop, resch, schin, taw. Ersehen läßt sich aus dieser Namensreihe auch die grundsätzliche Beibehaltung der kanonischen Reihenfolge der Buchstaben im griechischen Alphabet und die morphonologisch bedingte Angleichung der Namen im Griechischen. Ein Vergleich dieser sieben kolonialphönizischen Alphabete mit den nachfolgend gezeigten sinistrograd ausgerichteten frühgriechischen Alphabeten (ebenfalls nicht immer vollständig) zeigt auf den ersten Blick nur wenige morphologische Unterschiede. Eine vergleichende Diskussion der Morphologie der einzelnen Buchstaben nach den oben unter 1. vorgestellten Kriterien und Kategorien ergibt folgendes (vgl. Abb. 12.2 und 12.3): alpha : Die sehr frühen Alphabete 1 und 2 zeigen noch „liegende“ Formen, die insoweit dem phönizischen Vorbild entsprechen; ihre Spitzen zeigen jedoch nach rechts, während alle phönizischen ’ alep- Formen, die ursprünglich einen Ochsenkopf im Halbprofil darstellten, mit ihren Spitzen nach links in Schreibrichtung weisen. Ein möglicher Grund für diese Abweichung von der phönizischen Norm mag in der intuitiven vektoriellen Reinterpretation dieser Buchstabenform durch früheste griechische Schreiber zu suchen sein: sie könnten nämlich — in Analogie zur Mehrzahl der frühgriechischen Buchstabenformen — die Öffnung dieser Buchstabenform nach links als mit dem Hasta + Coda-Prinzip besser übereinstimmend empfunden haben als die insoweit prinzipienlose phönizische Form. Gleichzeitig oder wenig später setzte sich dagegen jedoch das Prinzip der vertikalen Orientierung einer Buchstabenform im Schreibund Leseraum durch, mit der Folge, daß die „liegende“ Form des frühesten alpha im Gegenuhrzeigersinn um ca. 90° gedreht wurde und so auf seine „Füße“ zu stehen kam (vgl. die Alphabete 10—16). Der Effekt dieser Vertikalorientierung ist eine optimale Anpassung an das Hasta + Coda-Prinzip: an die rechte vertikale Hasta schließt sich die Coda-Konfiguration in Form eines schräg angehängten

12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung

175

Abb. 12.1: Alphabete kolonialphönizischer Inschriften, 8. Jahrhundert v. Chr. (aus McCarter 1975, 132 f). In der Referenzzeile erscheinen auch die Buchstabenformen für digamma, qoppa und san, die im griechischen Alphabet nur zur Zahlenschreibung verwendet werden. 1. Schale aus Kition, Zypern, ca. 800 v. Chr. 2. Krug, Zypern, 1. Hälfte 8. Jh. v. Chr. 3. Ba‛1-Inschrift. Zypern, 3. Viertel 8. Jahrhundert v. Chr. 4. Sevilla-Statuette, Spanien, 2. Hälfte 8. Jahrhundert v. Chr.

T an; die interne Sinistralität der Form „paßt“ nun exakt zur sinistrograden Schreib- und Leserichtung. In den Alphabeten 7 bis 12 wird jedoch deutlich, daß auch diese „Lösung“ in Konkurrenz mit einer anderen Tendenz steht, die sich vor allem bei den im frühen 7 . Jahrhundert v. Chr. auftretenden sog. Zusatzbuchstaben , aber auch schon bei heta, omikron und tau zeigt, nämlich die vertikalaxiale Symmetrisierung. Mit dieser Ausprägung des alpha, der Form A, ist für das griechische und lateinische Alphabet in seiner monumentalschriftlichen Dimension das Endstadium erreicht. Im Sinne der Konventionstheorie von David Lewis (197 5) können die drei genannten Ausformungen des Alpha als konkurrierende Lösungen eines Koordinationsproblems aufgefaßt werden, wobei sich die vertikalaxial symmetrische Struktur als bis heute gültige Konvention (mit Auswirkungen auf die Entwicklung anderer Buchstabenformen wie H, M, N, Y, V und Z) durchgesetzt hat (vgl. Brekle 1987).

5. 6. 7. *

Karatepe-Inschriften, ca. 725 v. Chr. Gold-Anhänger, Karthago, ca. 700 v. Chr. Malta-Stele, spätes 8. Jahrhundert v. Chr. = beschädigte Form

beta : Die frühgriechischen Ausprägungen dieses Buchstabens zeigen ebenfalls — vor allem in ihrer geographischen Streuung (vgl. Jeffery 1961; McCarter 197 5, 91 ff) — eine gewisse Variationsbreite. Die Konvention, die sich schließlich bis heute durchgesetzt hat, entspricht optimal dem Hasta + Coda-Prinzip: senkrechte Hasta + zwei übereinander stehende Coda-Bögen. Als Grund dafür könnte gelten, daß die phönizische Bet -Form sich von der Pe- Form nur durch den nach links abgeschlossenen Codabogen unterschied; die frühgriechischen Schreiber entschieden sich deshalb für eine stärkere morphologische Differenzierung dieser beiden Buchstabenformen. Als „Zwischenlösung“ kann die theräische Form im Alphabet Nr. 8 — ein am Kopfende gespiegeltes phönizisches bet — angesehen werden. gamma : Auch hier sind frühgriechische Varianten festzustellen: das der phönizischen spitzwinkligen Form entsprechende gamma in Nr. 14, das schiefwinklige in Nr. 7 und das

176

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 12.2: Alphabete der frühesten griechischen Inschriften, 8./7. Jahrhundert v. Chr. (aus McCarter 1975, 134 f) 1. Dipylon-Weinkrug, attisch, ca. 725 v. Chr. 2. Lacco Ameno-Scherbe, Euböa (?), Mitte 8. Jahrhundert v. Chr. 3. Pithekoussai-Skyphos, Euböa, Letztes Viertel 8. Jahrhundert v. Chr. 4. Tasse aus Rhodos, spätes 8. Jahrhundert v. Chr.

rechtwinklige gamma in Nr. 12; in dieser Form manifestiert sich wie in anderen Buchstabenformen die Präferenz für Rektangularität. Die in Nr. 10 erscheinende Form kann auf der Basis etwa des gamma in Nr. 7 als kurrentschriftlich bedingte Beschleunigungsform gedeutet werden; sie erscheint wieder in der lateinischen Schrift und hat sich dort sowohl im Majuskel- wie im Minuskelalphabet durchgesetzt. delta : Zwei Typen frühgriechischer Varianten sind feststellbar: 1. vertikalaxial asymmetrische, die insoweit phönizischen Vorbildern entsprechen und wie diese klar dem Hasta + Coda-Prinzip gehorchen; 2. vertikalaxial symmetrische Formen (gleichschenkliges Dreieck). Bei 1. gibt es wiederum zwei Unterklassen: das auf einer Ecke stehende delta mit senkrechter Hasta (vgl. Nr. 8) und das fast zeitgleiche in Nr. 7, das — wie bei gamma — als kurrentschriftliche Beschleunigungsform zu deuten ist und als solche in das mo-

5. Steinscheibe, athenische Akropolis, spätes 8. Jahrhundert v. Chr. 6. Ägina-Dipinto, 720 bis 710 v. Chr. 7. Mantiklos-Statuette, böotisch, 1. Viertel 7. Jahrhundert v. Chr. 8. Graffiti aus Thera (Santorin), spätes 8. und frühes 7. Jahrhundert v. Chr.

numentalschriftliche lateinische Alphabet übernommen wurde. epsilon : Morphologisch ist dieser Buchstabe in frühgriechischer Zeit mit der Form des phönizischen he praktisch identisch (die Varianten in Nr. 10 und 13 sind morphologischgenetisch zu vernachlässigen). Sowohl die phönizische wie die griechische Form gehorcht vollständig dem Hasta + Coda-Prinzip. Die entscheidende Veränderung zur klassischen Form E liegt in der Rektangularisierung der Coda-Anschlüsse an die vertikale Hasta (unter gleichzeitiger Vermeidung der nach oben und/oder unten überschießenden Hasta-Striche). digamma ( fau ): Dieser Buchstabe — wie auch seine lautliche Entsprechung, ein wohl bilabialer Halbvokal — hatte im griechischen Alphabet eine prekäre Existenz (vgl. Wachter 1987 b, § 10). Der Name fau, die Form und Reihenfolge im Alphabet stammen zweifelsfrei aus dem Phönizischen (vgl. McCarter

12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung

177

Abb. 12.3: Alphabete früher griechischer Inschriften, 7. Jahrhundert v. Chr. (aus McCarter 1974, 136 f) 9. Aetos-Weinkrug, Ithaka, ca. 700 v. Chr. 10. Scherben aus dem Töpfer-Viertel, Korinth, ca. 700 v. Chr. 11. Argivische Tasse, kleonäisch (?), frühes 7. Jahrhundert v. Chr. 12. Wachstäfelchen aus Marsiliana, euböisch, 1. Hälfte 7. Jahrhundert v. Chr. 13. Tonkästchen aus Syrakus, frühes 7. Jahrhundert v. Chr.

14. Ankylion-Epitaph, Thera, frühes 7. Jahrhundert v. Chr. 15. Graffiti vom Berg Hymettos, attisch. 1. Viertel 7. Jahrhundert v. Chr. 16. Thebanische Lebes-Inschrift, böotisch, 1. Viertel 7. Jahrhundert v. Chr. * = beschädigte Form Die Buchstabenformen der Abb. 12.2 und 12.3 wurden sinistral orientiert.

197 5, 93 f; zur Form vgl. die kretischen und theräischen Varianten aus dem 7 . Jahrhundert bei Larfeld 1907 , I: Tafel III). In der griechischen Zahlenschreibung bleibt digamma für die Ziffer 6 erhalten, ebenso qoppa für 90 und san für 900 (→ Art. 141; vgl. Abb. 12.1—3 für die entsprechenden Formen). Die F-Form überlebte jedoch im klassischen griechischen Alphabet nicht; dagegen aber wohl im lateinischen Alphabet. Die Forschung ist sich darüber einig, daß dieser Buchstabe durch seine Nachbarschaft zu epsilon im Alphabet dessen rechtwinkliger Hasta + Coda-Struktur folgte. zeta : Die frühgriechische Form entspricht morphologisch genau dem phönizischen Vorbild (frühe theräische und korinthische Varianten wie konnten sich nicht durchsetzen). Die heutige Form Z setzte sich erst in hellenistischer Zeit durch; begründet werden kann diese Form durch Schreiberleichterung (vgl. die Entwicklung von zum kursiven und möglicherweise aus dem Differenzierungsbe-

darf gegenüber späten serifierten Formen des iota. eta : Der strukturell signifikante Unterschied zwischen den phönizischen ḥet -Formen und den frühgriechischen ēta- bzw. hēta- Formen liegt in der eindeutigen Rektangualisierung letzterer. Für die lautliche Zuordnung zu einem langen offenen /e/ bzw. zum Hauchkonsonanten /h/, der später durch ein halbiertes H (= ) und heute durch das Diakritikum repräsentiert wurde, sind wohl frühgriechische dialektale Differenzierungen verantwortlich zu machen. Die klassische und heutige Form H ist erklärbar durch Schreiberleichterung bzw. durch Redundanzbeseitigung; damit verbunden mag die Beseitigung der einzigen rechtwinklig geschlossenen Form im griechischen Alphabet gewesen sein (insoweit ein Moment der Homogenisierung!). theta : Morphologisch-genetisch ist die thetaForm nicht besonders ergiebig, die Füllung des Kreises, manchmal auch eines Quadrats

178

durch Kreuz, Strich oder Punkt (erstere in wechselnder Orienrtierung) erschöpfen den frühgriechischen Variantenreichtum. In hellenistischer Zeit wurde die heute gültige Form verbindlich gemacht. iota : Von den abgewinkelten bzw. gekrümmten phönizischen Formen finden sich lediglich in alten oder peripheren Alphabeten (vgl. Nr. 1, 8, 10 und 14) näherungsweise Entsprechungen. I n allen anderen frühgriechischen Alphabeten tritt die vertikale Hasta als dominierende und bis heute morphologisch-genetisch erfolgreiche Form auf. Als Erklärungsfaktoren können gelten: Generalisierung des Vertikalitäts- bzw. Rektilinearitätsprinzips (damit verbunden schreibmotorische Ökonomie) und möglicherweise stärkere Differenzierung der iota -Form von ähnlichen sigma -Formen (vgl. Nr. 1, 3, 10 und 12). kappa : Seine Form ist morphologisch-genetisch völlig unproblematisch, sowohl was ihre Übereinstimmung mit dem phönizischen Vorbild (vgl. z. B. phöniz. Alphabet Nr. 4) anlangt, als auch hinsichtlich ihrer späteren Geschichte; kappa zeigte immer dieselbe Morphologie: vertikale Hasta plus die in jeweiliger Schreibrichtung angesetzten Codawinkel. lambda : In frühgriechischer Zeit wurde zwar die prinzipverletzende phönizische Form (untere Coda entgegen der sinistrograden Schreibrichtung) in die „richtige“ Richtung gebracht, jedoch bestand zunächst freie Variation innerhalb und zwischen den Lokalalphabeten zwischen dem oben bzw. unten angesetzten Codahäkchen. Wohl ausgelöst durch die mit diesen Varianten konkurrierenden gamma -Formen wurde im Sinne einer notwendigen Heterogenisierung der Buchstabenformen innerhalb des Alphabets bzw. der morphologischen Eindeutigkeit einer Buchstabenform eine Lösung des Problems durch vertikalaxiale Symmetrisierung (wie auch letztlich bei A, , M, (N: pseudo-vertikalaxialsymmetrisch), T und den sog. Zusatzbuchstaben) gefunden. Spätestens ab Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. wurde die Form kanonisiert. mu/mü : Die schreibkinemische Genese dieses Buchstabens ist — wie auch jene von kappa ( < ) und nu ( < ) — hinsichtlich der Entstehung von Hasta + Coda-Strukturen besonders instruktiv. Aus der morphologischen Entwicklung der (proto)phönizischen und frühgriechischen Formen dieses Buchstabens

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

läßt sich zeigen, daß bei sinistrograder Schrift, jedoch dextraler buchstabeninterner Schreibrichtung, die rechte Hasta aus einem mehr oder weniger schwungvollen finalen Abstrich (leicht gebogen oder vertikal), historisch-genetisch auf der Form basierend, entstanden sein muß. Deshalb kann hier von einer kinemisch induzierten Hasta + Coda-Struktur gesprochen werden. Phanemisch stellt sich die kinemisch finale Hasta entsprechend der sinistrograden Schrift als Initial-Hasta dar. Insgesamt ist damit e i n schreibmotorisch bedingter Entstehungsgrund für das die gesamte griechisch-lateinische Schriftmorphologie (kinemisch und phanemisch) dominierende Hasta + Coda-Prinzip plausibel gemacht, das dadurch auch erklärende Kraft gewinnt. Wie bei anderen Buchstaben gewinnt auch bei M die Symmetrisierungstendenz spätestens ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. die Oberhand. nu/nü : Für die Formentwicklung dieses Buchstabens gilt mutatis mutandis das bei mü Ausgeführte. Das Ergebnis des Symmetrisierungsprozesses konnte bei der gegebenen morphologischen Ausgangslage (vgl. die Formen in den vorgestellten phönizischen und frühgriechischen Alphabeten) topologisch nur eine punktsymmetrische Form N sein, deren visueller Effekt jedoch mit dem einer vertikalaxial symmetrischen Form identisch sein dürfte. samek : Die Formen dieses Buchstabens erscheinen in den Abbildungen 12.1 Nr. 3 und Nr. 5, 12.2 Nr. 8 und in 12.3 Nr. 12 (Variante!). In klassischer Zeit wurden die erstgenannten Formen zu Ξ (Xi) vereinfacht und zur Repräsentation des Lautkomplexes /ks/ verwendet (für Details vgl. Wachter 1987 b, 31, 49 ff). omikron : Morphologisch-genetisch hat sich diese Kreisform — sieht man einmal von wechselnden Größenverhältnissen zu anderen Buchstaben und einigen frühen Innenpunktierungen (vgl. Nr. 8) ab — über ca. 3000 Jahre bis heute als konstant erwiesen. Da zentralsymmetrisch, genügt sie a fortiori auch der topologischen Qualität der vertikalaxialen Symmetrie. pi : Die Form dieses Buchstabens entspricht in frühgriechischer und klassischer Zeit klar dem Hasta + Coda-Prinzip (besonders bei den eckig angesetzten Codae in Nr. 1, 6 und 16). In ihrer weiteren Entwicklung folgt die Form der Rektangularisierungstendenz, was ergibt; erst in hellenistischer Zeit wird — so-

12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung

zusagen systematisch verspätet — die vertikalaxiale Symmetrisierung vollzogen: . san und qoppa werden hier nicht weiter diskutiert (für Details vgl. Wachter 1987 a, 31 ff und 49 ff). Es handelt sich hier um klare Fälle von „Reduktionsreform“ (Wachter 1987 a, 25), überdies ergaben sich in einigen Lokalalphabeten Homomorphieprobleme mit müund phi -Formen (vgl. Larfeld 1907 , I: Tafel III). rho : Anders als bei z. B. kappa und mü findet die schon im Phönizischen voll ausgeprägte Hasta + Coda-Struktur dieser Buchstabenform eine ikonische, naturalistische Erklärung: die Hasta ergibt sich aus der rektilinearisierten Profillinie des Hinterkopfes und Halses, die Coda aus dem Gesichtsprofil der proto-phönizischen rosch (= „Kopf“)-Form. In frühgriechischer Zeit bildeten sich auf der morphologischen Basis der phönizischen Form innerhalb und zwischen den Lokalalphabeten folgende Varianten des Prototyps aus: und . Es ist offensichtlich, daß die lateinische Schrift nicht die rektangularisierte Form des pi, sondern die frühere mit der Bogencoda übernahm und diesen Bogen mehr oder weniger an die Hasta anschloß. Damit war ein Homomorphieproblem mit der prototypischen Form des rho gegeben; die Lösung bestand in der Übernahme der diakritisierten Variante R. Ein funktional wünschenswerter Grad an Heterogenität der Buchstabenformen untereinander war so erreicht. sigma : Das phönizische schin erscheint in den frühgriechischen Alphabeten um 90° im Gegenuhrzeigersinn (vgl. jedoch Nr. 16) gedreht. Bemerkenswert ist, daß die frühesten Formen dreistrichig sind, sich insoweit also vom vierstrichigen phönizischen Vorbild unterscheiden. Ein möglicher Grund für das „Aufrichten“ der liegenden phönizischen Form kann in der generellen griechischen Präferenz der vertikalen Orientierung, die ja auch eine Voraussetzung für die Generalisierung des Hasta + Coda-Prinzips ist, gesehen werden. Im 7 . Jahrhundert v. Chr. kehrte die griechische Schrift wieder zum vierstrichigen Prototyp zurück und horizontalisierte später den initialen oberen und finalen unteren Strich. Das sigma ist dann auch systematisch richtig vektorialisiert; es „blickt“ (vergleichbar dem E, aber ohne eigentliche Hasta + Coda-Struktur) in die jeweilige Schreibrichtung. Die endgültige Form ist im 5. Jahrhundert v. Chr.

179

erreicht. tau : Dieser Buchstabe nimmt die letzte Position im 22-buchstabigen phönizischen Konsonantenalphabet ein. Gegenüber den phönizischen Formen, unter denen sich noch häufig X-Formen finden, zeigen schon die frühesten griechischen Ausprägungen die bis heute gültige T-Gestalt. Dies entspricht genau der auch sonst im Alphabet festzustellenden Tendenz der vertikalen Orientierung der Hasta und dem dazu rechtwinkligen Ansatz der Coda (vgl. die späteren Entwicklungen von gamma, epsilon, digamma und eta ). Topologisch markiert tau so schon von frühester Zeit an die Tendenz zur vertikalaxialen Symmetrie. upsilon, phi, chi, psi, omega : die lokale Verteilung, die Reihenfolge, der jeweilige Lautwert und die gesamte Genealogie dieser sog. Zusatzbuchstaben ist einigermaßen verzwickt (vgl. Wachter 1987 b, 31 ff für eine sehr klare und überzeugende Darstellung). Heute kann davon ausgegangen werden, daß die Schaffung dieser Buchstabenformen ab dem 8./7 . Jahrhundert v. Chr. autochthon vor sich gegangen ist. Zur Morphologie dieser Zusatzbuchstaben ist bemerkenswert, daß sie grundsätzlich von Anfang an dem Kriterium der vertikalaxialen Symmetrie genügen; lediglich upsilon variiert in frühgriechischer Zeit zwischen der Hasta + Coda-Struktur und vertikalaxial symmetrischen Formen (vgl. Nr. 10 und 12). Letztere Form wird in klassischer Zeit als die fürderhin allein gültige kanonisiert. Dieser Überblick über die Morphologie frühgriechischer Alphabete und ihre Entwicklung bis zum klassischen Kanon (siehe Abb. 12.4) sollte die entscheidende Phase des westlichen Basisalphabets hinsichtlich der unter 1.1 vorgestellten Kategorien und Kriterien deskriptiv und partiell auch explanativ derart erfassen, daß grundlegende Strukturen und Veränderungsparameter deutlich werden. Festzustellen bleibt noch, daß die dextrograde Schreibrichtung sich im wesentlichen im 5. Jahrhundert als allgemein gültig verfestigt hatte. Im Übergang von der alten sinistrograden Schreibrichtung findet sich die boustrophedon -Schreibweise; dem zeilenweisen Wechsel der Schreibrichtung folgt die buchstabeninterne Orientierung der Buchstaben mit Hasta + Coda-Struktur (vgl. die Monumentalinschrift von Gortyn (Kreta), Abb 12.5). Als ein möglicher Grund für die Präferenz der

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II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 12.4: Bruchstück eines Pfeilers aus dem Tempel von Ägina, ca. 410 v. Chr., Ende der Aufzeichnung eines Inventars des Heiligtums. München Glyptothek (eigene Aufnahme).

dextrograden Schreibrichtung könnte die Generalisierung der buchstabeninternen dextralen Produktionsrichtung gelten; dextral wäre dann zu dextral + dextrograd verallgemeinert worden. Die ursprüngliche kinemische Schlußhasta (z. B. bei , etc.) wäre dann zu einer kinemischen und phanemischen Initialhasta geworden, z. B. > , > etc. Wie aus der Abbildung der Gortyn-Inschrift zu ersehen ist, hatte sich bei diesem Inschriftentyp (sicherlich nicht bei kursiven Schreibäußerungen) das Zwei-Linien-Schema im 5. Jahrhundert v. Chr. durchgesetzt: alle Buchstaben weisen grundsätzlich dieselbe Höhe auf. Wie aus den frühgriechischen Alphabeten (Nr. 1—16) sofort ersichtlich ist, handelt es sich dabei noch keineswegs um ausgeprägt monumentale Schriftmanifestationen (vgl. dazu Abb. 12.4 und 12.5); anders gesagt, in der frühgriechischen Phase erscheinen sonst in der Epigraphik und Paläographie weithin akzeptierte Unterscheidungen zwischen Funktionalstilebenen wie monumental, buchschriftlich und kursiv nicht anwendbar zu sein. Diese Differenzierung wird erst — auch

wegen der entsprechenden Datenlage (vgl. unten) — ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. sinnvoll faßbar. Zu Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr. war — vergleichbar der später kanonisierten römischen capitalis quadrata — ein morphologischer Entwicklungsstand erreicht, auf den — von der Serifierung einmal abgesehen — die Drucker der beginnenden Neuzeit bei ihrem Bedarf nach Versalienformen zurückgreifen sollten.

3.

Buch- und kursivschriftliche Entwicklungen des griechischen Alphabets bis in die Neuzeit

Die ersten überlieferten buchschriftlichen Zeugnisse aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. zeigen, je nach Schreiberstil, sowohl noch starke Anlehnungen an nicht ausgeprägt monumentale lapidare Buchstabenformen, als auch schon deutliche Buchstabenumformungen, die einerseits vom Schreibinstrument (Schilfrohr) und Beschreibmaterial (Papyrus) und andererseits von schreibmotorisch induzierten Veränderungen bedingt sind. Diese Veränderungen ergeben sich klar aus schreibökono-

12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung

Abb. 12.5: Ausschnitt aus einer Gesetzesinschrift in boustrophedon -Schreibung aus Gortyn (Kreta), ca. 450 v. Chr. (eigene Aufnahme).

181

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mischen Gründen: weniger „Luftlinien“ bzw. Verbindungen zwischen sonst voneinander abgesetzt ausgeführten einzelnen Zügen einer Buchstabenform. So zeigt der Ausschnitt aus einem Schulbuch aus der Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. (Abb. 12.6) Buchstabenformen, die — von stilistischen Minimalien einmal abgesehen — in griechischen und lateinischen Buch- und Kursivschriften bis heute überlebt haben: ( alpha ), ( epsilon ), beide werden in zwei Zügen geschrieben. Vom jeweiligen kinemischen Schreibprogramm dieser beiden Buchstaben her gesehen heißt dies, daß bei alpha die linke Hasta und der Querstrich zu einer Art Coda verschmelzen, die, an der rechten kinemischen Finalhasta hängend, sozusagen in die falsche Richtung blickt (dieser Systembruch ist in der Entwicklung der lateinischen Minuskelschrift vermehrt festzustellen, vor allem bei d, g und q). Im Falle des epsilon entsteht der Halbkreisbogen ganz natürlich aus einem schreibökonomischen kursivschriftlichen Programm: die obere und untere Coda verbinden sich in einem Zug mit der Vertikalhasta zu einem Halbkreis (so auch bei lat. kursivschriftlichen Entwicklungen). Ablesbar an dieser Handschrift ist auch eine Tendenz zum Verlassen des strengen Zweilinienschemas, vgl. z. B. das

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

, das deutlich seine Ober- und Unterlänge zeigt; ähnliches gilt für

und

hinsichtlich

ihrer Unterlängen. Bis in das frühe Mittelalter hinein zeigt die griechische Buchschrift keine wesentlichen strukturell-morphologischen Veränderungen; einzelne Buchstaben erleiden eine Substitutionsreform, z. B. erscheint das klassische als

(doppeltes omikron ), das erscheint als hier liegt eine Vereinfachung des kinemischen Programms vor: Glättung der eckigen Züge zu einem Bogen. (Für Einzelheiten vgl. Thompson 1894, Kap. 8 und 9). Die relative morphologische Konstanz des griechischen buchschriftlichen Alphabets zeigen die folgenden Abbildungen 12.7 und 12.8 (siehe nächste Seite). Traditionell wurde die griechische Kursivschrift in drei Epochen unterteilt: die ptolemäische (bis Ende 1. Jahrhundert v. Chr.), die römische (bis zum Ende des 3. Jahrhunderts n. Chr. und die byzantinische (ab dem 4. Jahrhundert n. Chr.). Nach den hier angenommenen relativ abstrakten schriftmorphologischen Kriterien muß die Tragfähigkeit der traditionellen politisch-kulturellen Epochenunterteilung bezweifelt werden. Jedenfalls las-

Abb. 12.6: Griechisches Schulbuch, ca. 250/27 5 v. Chr. (aus Guéraud & Jouguet 1938, Tafel III, Z. 118—124; eigene Aufnahme).

12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung

183

grundsätzlich; speziell die Form des alpha (z. B. im ersten Wort der Urkunde von 233 n. Chr. „strategos“) hat sich jedoch von der zweizügigen Form in der Handschrift von

Abb. 12.7: Bankes Homer, 2. Jahrhundert n. Chr. (aus Thompson 1894, 127)

Abb. 12.8: Dioscorides, frühes 6. Jahrhundert n. Chr., eine sorgfältig ausgeführte sog. Unzialschrift (aus Thompson 1894, 153)

sen sich bis in die frühe byzantinische Zeit eher morphologische Kontinuitäten als eindeutige Brüche feststellen. Unterscheidungen lassen sich jedoch treffen nach Graden der Kursivität, der Buchstabenligaturenhäufigkeit, bzw. Buchstabenamalgamierung und der Funktionalstilebene (z. B. Offizialschrift). Die folgenden Beispiele (Abb. 12.9 und 12.10) sollen diese Unterscheidungen verdeutlichen.

Abb. 12.9: Testament des Demetrius, 237 v. Chr. (aus Thompson 1894, 133)

Abb. 12.10: Urkunde, 233 n. Chr. (aus Thompson 1894, 141)

Obwohl diese beiden Urkundenhandschriften ca. 500 Jahre auseinanderliegen, unterscheidet sich die Morphologie der Buchstaben der zugrundeliegenden Alphabete nicht

237 v. Chr. zur einzügigen Form weiterentwickelt. Damit ist jegliche phanemisch noch wahrnehmbare Hasta + Coda-Struktur aufgelöst; die spätere, moderne kursivschriftliche Form ist damit vorbereitet. Morphologisch-strukturell ist diese Entwicklung folgendermaßen zu verstehen: der erste untere Rechtsbogen von entspricht der früheren linken Initialhasta von , der Aufwärtsbogen dem alten Querstrich und der aus der oberen Schleife nach rechts unten führende kinemische Finalbogen der alten rechten Hasta. Das kinemische Programm der modernen Form verläuft dagegen so: der obere Ansatz geht in dem alten Querstrich über, der Bogen nach links oben entspricht der alten Linkshasta und der finale Bogen nach rechts unten der alten Rechtshasta. (Die in byzantinischer Zeit bis in die Neuzeit verbreitete „lateinische“ Form wird bei der Beschreibung der lateinischen Minuskelschrift diskutiert.) Diese knappe Analyse griechischer alpha -Formen möge beispielhaft für andere kursivschriftlich bzw. schreibökonomisch bedingte Formveränderungen, die hier aus Raumgründen nicht einzeln diskutiert werden können, stehen; methodisch wichtig ist dabei zu erkennen und nachzuweisen, daß und wie historisch-morphologisch zugrundeliegende Strukturen (vor allem die sich aus dem Hasta + Coda-Prinzip ergebenden) durch schreibmotorisch-ökonomische Parameter zwar überformt, jedoch grundsätzlich nicht ausgelöscht werden. (Für Einzelheiten byzantinischer Entwicklungen vgl. Thompson 1894, Kap. X und XI). Die weitere Entwicklung der griechischen Kursivschrift — sei es in kurrenten oder sorgfältiger ausgeführten buchschriftlichen Funktionalstilen — verlief nicht einheitlich; neben weiteren schreibmotorisch-ökonomisch induzierten Vereinfachungen und Buchstabenamalgamierungen bzw. -ligaturen, wurden auch immer wieder ältere „Versalienformen“ in die Kursivschrift aufgenommen (z. B. zu Beginn der Neuzeit die Form des heutigen ). Im Vergleich zu der spätestens in karolingischer Zeit erfolgten Festlegung der Oberund Unterlängen in der lateinischen Entwicklungslinie war in der griechischen Linie zwar

184

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

im Mittelalter ein Dreilinienschema grundsätzlich gegeben, jedoch bei einzelnen Buchspäter ) war die Oberstabenformen (z. B. bzw. Unterlängencharakteristik noch nicht definitiv entschieden. Die folgende Abbildung 12.11 — ein von dem kretischen Kalligraphen Johannes Rhosos 147 9 in Italien geschriebener Homer — zeigt vom Gesamtduktus der Schrift her zwar schon eine gute Annäherung an die moderne griechische Minuskel, bei einzelnen Formen (z. B. dem nü und gamma zu Beginn der zweiten Zeile oder dem hochgezogenen Abstrich des alpha in der vierten Zeile und der H-Form des eta in der zweiten Zeile) schlagen jedoch noch ältere Formen durch.

Abb. 12.11: Homer 1479 (aus Thompson 1894, 177)

Die endgültige kanonische Festlegung der Morphologie des griechischen Minuskelalphabets erfolgte erst successive in den folgenden Jahrhunderten.

4.

Lateinische Buchstabenformen von der archaischen bis zur klassischen Lapidarschrift

Die heutige Forschungslage läßt keinen Zweifel daran, daß die frühen Römer (Latiner) ihr Alphabet von den Etruskern, die ihrerseits um ca. 7 00 v. Chr. ein im wesentlichen westgriechisches Alphabet adaptiert hatten, übernommen haben (vgl. das Abcedarium von Marsiliana, Abb. 12.3, Nr. 12). Von den 26 Buchstaben des Marsiliana-Alphabets enthält das altlateinische Alphabet zunächst nur 21. Etwas typisiert und entsprechend der archaischen Schriftrichtung sinistrograd/sinistral ausgerichtet, bietet es folgende Formen:

Für graphophonemische Entsprechungen wird auf Wächter 1987 a, §§ 10.—13. verwiesen. In seiner Buchstabenabfolge erfuhr das lateinische Alphabet nur wenige Änderungen;

hier seien nur die bis heute „erfolgreichen“ genannt; für andere Versuche, die sich nicht durchsetzen konnten vgl. Jensen 1969, 514 ff. Die wesentlichste Veränderung fand an Platz 7 statt; hier wurde durch Substitutionsreform, und zwar wohl durch den Zensor Appius Claudius Caecus im Jahre 317 v. Chr., der Buchstabe ( zeta ) durch G, das sich aus C unter Zusatz eines diakritischen Striches differenzierte, ersetzt. In seiner hellenistischen Form Z wurde dieser Buchstabe, wie auch das Y im 1. Jahrhundert v. Chr. wieder aus dem griechischen Alphabet importiert, dann jedoch konsequent ans Ende des Alphabets gestellt. Weitere Veränderungen wie die Differenzierung von V in V und U und die Bildung von W aus VV fallen in spätere, mittelalterliche Zeiten. Im folgenden werden zunächst nur wenige Steininschriften aus dem Zeitraum von ca. 600 v. Chr. bis ca. 200 n. Chr. diskutiert, um dann ausführlicher auf buch- und kursivschriftliche Entwicklungen einzugehen. Als älteste erhaltene lateinische Inschrift (ca. 600 v. Chr. oder später) darf der fragmentarische Text auf dem lapis niger (1899 auf dem Forum Romanum entdeckt) gelten (vgl. Wachter 1987 a, § 25 zu Literaturangaben und einer linguistischen Analyse). Der Text wurde vermutlich ohne Vorzeichnung durch einen ordinator furchenwendig in den Stein gemeißelt; für diese Annahme sprechen die unregelmäßigen archaischen Buchstabenformen, die in der Zeile nicht „Linie halten“ und die von Wachter (1987 a, 68 f) sehr einleuchtend erklärten Fehler des Steinmetzen bei der Orientierung einiger Zeilen (Verletzung der boustrophedon- Regel, kopfstehende Zeilen). Aus dem in Abb. 12.12 gezeigten Ausschnitt des Textes (Zeilen 12—15) lassen sich

Abb. 12.12: Ausschnitt aus der lapis nigerInschrift, ca. 600 v. Chr. (aus Lange 1945, 17)

12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung

folgende morphologische Eigenschaften der verwendeten Schrift ablesen: Wie bei den ungefähr zeitgleichen archaisch-griechischen Inschriften (vgl. Abb. 12.2 und 12.3) zeigt auch die älteste lateinische Inschrift, daß der Prozeß der Rektangularisierung (etwa bei E und L) und der vertikalaxialen Symmetrisierung (z. B. bei A, M und V) noch nicht begonnen hatte. Zwar zeigt der erste Buchstabe der ersten sinistrograden Zeile (M) insoweit eine Tendenz zur Symmetrisierung, als die Codafiguration, eine vierlinige Zackenbildung, auf die Basislinie der Zeile heruntergezogen ist; „störend“ ist jedoch noch der letzte Aufstrich der Coda, d. h. die Fünflinigkeit der archaischen phönizisch-griechischen Form — Initialhasta plus vier Codazackenlinien — wurde noch beibehalten. In der zweiten Zeile (dextrograd) ist ein vertikalaxial symmetrisches Y zu erkennen; diese Form des /u/ scheint um 600 v. Chr. noch in freier Variation zur V-Form gestanden zu haben. Das phanemische Hasta + Coda-Prinzip ist im letzten Buchstaben der zweiten Zeile (A) und im ersten der dritten Zeile (V) noch sehr deutlich realisiert; d. h. die vertikalaxiale Symmetrisierung war noch nicht bindend vollzogen. Wie zu erwarten ist, findet sich die westgriechische Variante des delta (D) in den Zeilen 3 und 4. Ebenfalls erscheint in Zeile 4 das S als gebogener und nicht mehr als geknickter Linienzug. Für eine vollständige Abbildung mit diplomatischer Umschrift, Transkription und älteren Literaturangaben vgl. Steffens (1903—1906, 1). Aufgrund der kulturellen Überlegenheit der Griechen und ihres fortwährenden Einflusses in Süditalien darf man davon aus-

185

gehen, daß die weitere Entwicklung der lateinischen Lapidarschrift, vor allem hinsichtlich der Symmetrisierung und Rektangularisierung einzelner Buchstabenformen, den entsprechenden griechischen Entwicklungen folgte. Im 4. Jahrhundert v. Chr. hatte die lateinische Schrift — zur griechischen Entwicklung wohl leicht zeitversetzt — das Stadium der Rechtsläufigkeit, der Symmetrisierung und Rektangularisierung der entsprechenden Buchstabenformen grundsätzlich erreicht. Parallel zur griechischen Entwicklung zeigt die Juno Lucina-Inschrift (Abb. 12.13) noch keine Serifierung; als kleinen archaischen Rest zeigt sie jedoch — wie andere lateinische Inschriften aus dem 4./3. Jahrhundert v. Chr. — eine schwach spitzwinklige Form des L (erste und zweite Zeile); vgl. im übrigen Wachter (1987 , §§ 40 ff) zu paläographischen und sprachlichen Besonderheiten von Bronzeinschriften der nacharchaischen Zeit (4. bis 2. Jahrhundert v. Chr.). Der nicht-monumentale und nicht-lapidare Charakter dieser Inschriften läßt einige Rückschlüsse auf zeitlich parallele gebrauchsschriftliche Entwicklungen zu. Als Beispiel für eine Bronzeinschrift kann die folgende Abbildung 12.14 dienen. Auffällig sind die Formen des A; hier deutet sich eine Ablösung von alten kanonischen Formen an: der Querstrich ist zu einem Anhängsel der rechten Finalhasta verkümmert, damit ist die vertikalaxiale Symmetrie der Form zerstört. Spätere — oder nur später belegte — Kapitalisformen des A (z. B. oder

scheinen damit vorbereitet (vgl. Mal-

Abb. 12.13: Weihinschrift für die Juno Lucina in Norba, 4. Jahrhundert v. Chr., (aus Földes-Papp 1987, 178)

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

186

Abb. 12.14: Ausschnitt aus Ciste CIL 568, ca. 3. Jahrhundert v. Chr. (aus Wächter 1987, 161).

lon 1952, 32 und 84). Weiter bemerkenswert sind die Formen des P und R; diese Buchstaben dürften sich in noch archaisch-lateinischer Zeit ausdifferenziert haben. Der Codabogen des P ist — getreu seiner Herkunft aus dem klassisch-griechischen — nicht geschlossen, was sich auch noch an sorgfältig ausgeführten späteren monumentalen Lapidarinschriften (z. B. der Inschrift der Trajanssäule 113 n. Chr.) zeigt; der Codabogen des R ist — entgegen seiner Herkunft aus geschlossenen griechischen rho -Formen — nicht geschlossen (hier liegt die prekäre Quasi-Homographie der offenen P-Form und der eigentlich geschlossenen P (= R)-Form noch zutage). Der finale Abstrich des Codabogens, der auch schon in altgriechischer Zeit erscheint, darf — wie beim Verhältnis von C zu G — als graphisches Diakritikum interpretiert werden. In ihren offenen Codaführungen bereiteten diese R-Formen kursivschriftliche Formen wie z. B.

vor (vgl. Mallon 1952,

67). Den Höhepunkt in formaler und ästhetischer Hinsicht, und damit — wie zu zeigen sein wird — auch ihren Endpunkt, erreicht die lateinische Lapidarschrift als capitalis quadrata in der mittleren Kaiserzeit. Gemeinhin wird die Schriftausprägung, wie sie sich auf der Trajanssäule (113 n. Chr.) findet, als die Repräsentantin dieser Schrift angesehen (Abb. 12.15). Ihre morphologischen Charakteristika sind die folgenden: 1. Deutliche Ausprägung des Symmetrieprinzips (meist vertikalaxial) bei A, M, O, T, V, X; 2. definitive Festlegung des Hasta + CodaPrinzips in Verbindung mit Rektangularität

und der damit implizierten Vektorialität in Schreibrichtung (dextral + dextrograd) bei B, D, E, F, L, P, R; bei C und G wurde schon früh die rektangulare Form zugunsten des großen Linksbogens aufgegeben (gleichwohl „blicken“ diese Buchstaben nach rechts); 3. bis auf Q, das seine vertikalaxiale Symmetrie früh verloren hat, herrscht das Zweilinienschema, das als ein definitorisches Kennzeichen der sog. Majuskelschrift gelten kann; die maximale vertikale Erstreckung aller Buchstabenformen ist gleich; 4. die Strichstärken der Buchstaben sind, abhängig vom Ansatzwinkel der Feder oder des Pinsels des ordinator, verschieden, d. h. bei einem Schreibwinkel von 40—60° erscheinen die nach rechts unten gerichteten Diagonalzüge als die stärksten und die Linksdiagonalen am schwächsten; 5. die Schrift weist an den Ansatz- und/ oder Endpunkten der Hasten oder geraden Codastrichen Serifen auf (wohl aus hellenistischer Zeit stammend). Diese Serifen können schreibfunktional erklärt werden (vgl. ähnliche Phänomene bei Duktustypen der chinesischen Schrift, z. B. der sog. Knochenstrich; → Art. 26), auch dienten sie den Steinmetzen zu einem meißeltechnisch befriedigenden Abschluß der entsprechenden Linienzüge (vgl. dazu ausführlich Catich 1968). Festzuhalten bleibt, daß — entgegen manchen meist älteren paläographischen Auffassungen — die römische capitalis quadrata als ein End- und Höhepunkt in der Entwicklung unseres Alphabets aufzufassen ist, d. h., daß diese Schriftausprägung in ihrer Grundstruktur nicht Ausgangspunkt für die Entwicklung späterer Schriftvarietäten gewesen ist (vgl. die überzeugende Argumentation in Mallon 1952, §§ 88 f, §§ 228 ff). Vielmehr diente sie in späteren Jahrhunderten bis heute als sog. Auszeichnungsschrift, sei es als sog. Versalienschrift, als initialer Großbuchstabe oder im hierarchischen Zusammenhang mit anderen kanonischen Schriftausprägungen (z. B. sog. Rustica, Unziale) als die an oberster Stelle rangierende. Basis für spätere Entwicklungen bzw. Ausdifferenzierungen des lateinischen Alphabets insbesondere in Richtung der sog. Minuskelschrift waren dagegen grundsätzlich kursiv- und/oder buchschriftliche Ausprägungen (siehe folgenden Abschnitt). Die klassische römische capitalis quadrata war zwar die monumentale lapidare Schrift, sozusagen die offizielle Staatsschrift für entsprechend wichtige Anlässe. Unterhalb

12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung

187

Abb. 12.15: Die klassische römische capitalis der Trajanssäule, 114 n. Chr. (aus Morison 1972, 33)

dieser Ebene finden sich aber eigentlich zu allen Zeiten Steininschriften oder Inschriften auf anderen harten oder weichen Materialien („à pointe sèche“), die je nach amtlicher oder ökonomischer Position des Auftragsgebers fast die ganze jeweils übliche Bandbreite buch- und kursivschriftlicher Ausprägungen widerspiegeln. Als ein Beispiel dafür mag die in Abb. 12.16 wiedergegebene, paläographisch wichtige Grabinschrift aus dem ausgehenden 1. Jahrhundert n. Chr. stehen (vgl. die epochemachende Diskussion in Mallon 1945). In seinem 2. Kapitel (§§ 99—122) macht Mallon (1952) überdeutlich, welch große Bedeutung solche „Inschriften“ für paläographische Fragestellungen haben. Als logische Schlußfolgerung ergibt sich daraus eigentlich, daß eine Trennung zwischen Epigraphik und Paläographie nur forschungshistorisch bedingt, sachlich jedoch ungerechtfertigt ist.

5.

Abb. 12.16: Grabinschrift aus Morón (Spanien), CIL II, 5411, 1. Jahrhundert n. Chr. (aus Mallon 1945, Pl. I).

Entwicklungen der lateinischen Schrift vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr.

In der folgenden Darstellung besteht das Datenmaterial grundsätzlich aus auf Papyrus oder Pergament ge s ch r i e b e n e n Texten,

188

d. h. außer Betracht bleiben Luxuscodices wie z. B. Vergils Georgica (Ende 4. Jahrhundert n. Chr.); die Buchstaben dieser berühmten, und spätestens seit Mallons Kritik paläographisch berüchtigten Schrift sind nicht geschrieben, sondern einzeln ge m a l t . Ihr Vorbild war zweifellos eine lapidare capitalis quadrata ; ihr kann jedoch im Rahmen einer seriösen Darstellung der Entwicklungen der lateinischen Schrift kein Platz eingeräumt werden (vgl. die detaillierte Kritik in Mallon 1952, §§ 228—240). Damit wird eine pointierte Kontraposition zur traditionellen lateinischen Paläographie eingenommen, in deren Tafelwerken und Gesamtdarstellungen der genannten Vergilkalligraphie schriftevolutionär fälschlicherweise der Vorrang eingeräumt wurde (so noch bei Stiennon 1973, 61). Damit im Zusammenhang stehen weiterreichende Probleme der Terminologie, die hier nur knapp angesprochen werden können. Die weiteren Ausführungen folgen grundsätzlich nicht der traditionellen paläographischen diachronischen Terminologiesequenz capitalis rustica / actuaria, Unziale, Halbunziale, Viertelunziale, Praecarolina und ähnlichen weiteren Benennungen. Statt dessen werden im wesentlichen die von Mallon (1952, § 86 et passim) geprägten Termini mit ihren jeweiligen definitorischen Kriterien übernommen und teilweise weiter entwickelt. Mallons empirisch gewonnene Kriterien stammen wesentlich aus den Ausführungsbedingungen des Schreibaktes, sind also insoweit graphisch-kinemischer Natur. Er nimmt an, daß auf der Basis von 7 Faktoren (Buchstabenform, Schreibwinkel, Duktus, Breiten- und Höhenverhältnissen, „Gewicht“, Beschreibmaterial und Textbezug) die von einem Schreiber jeweils verwendete Schrift klassifiziert werden kann. Bezüglich der Terminologie der Schriftarten der römischen Epoche wird Mallons Vorschlägen hier insoweit gefolgt, als der traditionelle Terminus capitalis rustica (besser wäre eigentlich c. urbana gewesen) ersetzt wird durch Kapitalis (vgl. Abb. 12.17 ). Funktional ist diese Schrift, deren morphologische Charakteristika anschließend diskutiert werden, im wesentlichen an die Textsorten Dokument oder sonstige amtliche Texte und an literarische Texte gebunden. Auf das Problem der Abgrenzung späterer Entwicklungen von Kapitalisschriften untereinander (sog. Unzialschriften) wird unten genauer eingegangen. Von der Kapitalis unterscheidet Mallon (1952, Kap. IV) die „écriture commune classique“, die hier klassische Kommunschrift ge-

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

nannt werden soll. Sie entspricht in der Terminologie der traditionellen Paläographie grundsätzlich der sog. älteren römischen Kursive. Diese beiden Schriftarten sind jedoch morphologisch (und auch in ihrer textsortenfunktionalen Verwendung) keinesfalls als völlig disjunkt voneinander zu sehen. Dasselbe gilt für die neue Kommunschrift („écriture commune nouvelle“), traditionell „jüngere römische Kursive“, die in einem deutlichen Bruch in der Morphologie einiger Buchstaben zur klassischen Kommunschrift im 3. Jahrhundert n. Chr. erscheint. Beide Kommunschriften (von Tjäder (197 4) auch „Bedarfsschriften“ genannt) liegen mit Kapitalisentwicklungen in einem skalierten Kontinuum, beide zeigen in einzelnen Manifestationen stärkere oder geringe Grade an Kursivität bzw. kurrentschriftliche Charakteristika. Mallon (1952, § 17 2) motiviert seine Terminologie übrigens historisch: in einem kaiserlichen Edikt von 367 n. Chr., erlassen in Trier, wurde die Differenz zwischen den litterae coelestes (= Schrift der kaiserlichen Kanzlei und Fortentwicklung der klassischen Kommunschrift) und den litterae communes, mit denen alle anderen Dokumente geschrieben werden sollten, terminologisch und funktionalstilistisch festgeschrieben. Die traditionelle Paläographie hat zwischen der klassischen Kommunschrift, die auch Majuskel- oder Kapitalkursive genannt wurde (Mallon 1952, § 158) und der neuen Kommunschrift, auch Minuskelkursive genannt, eine kontinuierliche Entwicklung — der Übergang wäre etwa im 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. gewesen — angenommen. Mallon (1952, §§ 162 ff) zeigt, daß diese Annahme falsch ist. Die veränderten, ja teilweise entgegengesetzten Duktusverläufe machen es offenkundig, daß es von der klassischen Kommunschrift („ältere römische Kursive“) zur neuen Kommunschrift keine durchgängige kontinuierliche Entwicklung gegeben haben kann. Zumindest einzelne Buchstabenformen wurden in der neuen Kommunschrift nach gänzlich anderen kinemischen Programmen (Duktus) ausgeführt, vgl. die folgenden Beispiele:

In einem Gesuch des Flavius Abinneus von 345 n. Chr. (vgl. Abb. 12.19), dessen Schrift zweifelsfrei der neuen Kommunschrift zuzurechnen ist, erscheint das A wie in (1) (Ligaturvarianten werden nicht berücksichtigt).

12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung

Das kinemische Programm besteht aus einem Zug (2). Das typische A der klassischen Kommunform sah dagegen aus wie (3). Ihr kinemisches Programm bestand ersichtlich aus zwei Zügen (und einem „Luftzug“, punktiert angedeutet). Es ist klar, daß die vektorielle Orientierung der Programme für das alte und das neue A nicht miteinander verträglich sind; das eine konnte nicht irgendwie graduell in das andere übergehen. Gleichwohl zeigen beide Formen — wenn auch verdeckt — ihre Herkunft aus einer archaischen Kapitalis; das A der klassischen Kommunschrift zeigt den alten Duktus: die abwärts geführte Initialhasta und die allerdings vertikalaxial leicht asymmetrisch geführte Finalhasta (der Querstrich fehlt wie bei fast allen geschriebenen Kapitalisschriften). Im A der neuen Kommunschrift wird die Initialhasta nach einem Anlaufbogen aufwärts geführt, die Finalhasta erscheint als abwärts führender Rechtsbogen (beide Bögen sind natürlich für eine luftlinienfreie, verbundene Kurrentschrift wichtig). Damit ist auch gleich die Entstehung und Struktur der heute zentralen Schreibschriftvariante des Minuskelgeklärt: sie ist in ihrem Duktus jene der neuen Kommunschrift, phanemisch verändert durch Anschluß des linken Ansatzbogens an an den finalen Abstrich in frühmittelalterlicher Zeit. (Die heutige Antiqua-Druckschriftform geht über „unziale“ Zwischenstationen auf die archaische griechisch-lateinische Basisform zurück). Noch komplizierter liegt der Fall des B (vgl. die schier endlosen Diskussionen in Mallon 1945, 1952; Tjäder 197 3, 197 4 und die dort angegebene weitere Literatur). Mallon (1952 § 17 passim) zeigt als Duktus für das Kapitalis-B folgende Schreibzugsequenz

189

Kommunschrift seine ursprüngliche Hasta + Coda-Struktur zumindest in der phanemischen Dimension verloren. Die neue Kommunschrift (aus dem Papyrusfragment von 345 n. Chr. vgl. Abb. 12.19 zeigt dagegen folgende Form

Die Duktusverschiedenheit zum B der klassischen Kommunschrift ist offensichtlich; die neue Form kehrt partiell zum kinemischen Programm der Kapitalis zurück, insofern sie deren Hasta + Coda-Struktur übernimmt (Hasta = 1, Coda = 2 in der neuen Form). Die alte Doppel-Coda (Bogen 3 und 4 des Kapitalis-B) „degeneriert“ zu einer einfachen Bogen-Coda, die den neuen „Körper“ des b bildet. Ein wahrscheinlicher Grund für dieses Zurückgehen auf den Kapitalis-Duktus kann in der Quasi-Homomorphie der -Form mit der klassisch-kommunschriftlichen Form des D (= ) gesehen werden; die phanemisch wünschenswerte Heterogenität zwischen den Buchstabenformen einer Schrift wäre bzw. war gefährdet. Mit dem Duktus der neuen Form ist das Minuskel-b bis heute festgelegt. Im übrigen verlief die Entwicklung der frühen D-Form strukturell ähnlich wie beim B:

Die Züge 1 und 2 vereinigten sich in der klassischen Kommunschrift zu einem Initialbogen (alte Hasta plus unterer Codaansatz) der Zug 3, Teil der alten Coda, erscheint — bedingt durch die Verkürzung der alten Initialhasta zu einem Bogen, dem neuen „Körper“ der -Form — als Oberlänge:

Die klassische Kommunschrift zeigt typischerweise folgende Form

Das kinemische Programm gegenüber jenem des Kapitalis-B hat sich nur insofern geändert, als die Züge 1 und 2 zu einem nach links unten hängenden Bogen („Hängebauch“) zusammengeflossen sind und die Züge 3 und 4 in den neuen Zug 2 übergingen. Damit hat der Buchstabe B in der klassischen

Damit war die ursprüngliche Hasta + Coda-Struktur zerstört. Durch Vergrößerung des Schreibwinkels (vgl. Mallon 1952 §§ 131), wie er sich z. B. in der berühmten Epitome Livii -Handschrift (2./3. Jahrhundert n. Chr.; s. u. Abb. 12.23) im Vergleich zu der womöglich noch berühmteren de bellis macedonicisHandschrift (Ende 1. Jahrhundert n. Chr.; s. u. Abb. 12.22) deutlich manifestiert, trat eine Vertikalisierung des schrägen Zuges 2 ein:

190

Damit war auch in der neuen Kommunschrift die bis heute gültige Minuskelform d erreicht, die eine neue „verkehrte“ Hasta + Coda-Struktur aufweist (die Coda „blickt“ nach links!). Mallon (1952, § 162) zeigt noch an den Formen von E, N und P der klassischen und neuen Kommunschrift, daß erstere nicht die Ableitungsbasis für Formen der letzteren sein kann. Generell stellt er fest, daß die neue Kommunschrift in wesentlichen Teilen keine Kontinuität mit der klassischen Kommunschrift aufweist, daß erstere vielmehr als eine kurrentschriftliche Umsetzung einer Schrift vom Typus Epitome Livii anzusehen ist. Anders gesagt, die Verjüngung der lateinischen Kommunschrift erfolgte im 3. Jahrhundert n. Chr. über eine weiterentwickelte Form der Kapitalis, die ihrerseits schon wesentliche Minuskelformenanteile enthielt. Die neue Kommunschrift erscheint im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. im gesamten weströmischen Bereich als Schrift der Akten und Dokumente, sei es auf Papyrus/Pergament geschrieben oder in Bleitafeln geritzt; sie erscheint auch als Schrift von Schultexten (Grammatiken, Klassiker) und als Glossenschrift (vgl. Mallon 1952, § 184). Zu Recht stellt Mallon (1952, §§ 185 ff) fest, daß es im wesentlichen die neue Kommunschrift und ihre „mütterliche“ Verwandte, die Buchschrift des Epitome Livii , waren, die — mit minimalen Besonderheiten — die morphologische Basis für praktisch alle westeuropäischen Schriftvarianten der folgenden Jahrhunderte bis hin zur sogenannten karolingischen Minuskel bildeten. Bei all den sogenannten Nationalschriften des 7 . bis 9. Jahrhunderts n. Chr. (westgotisch, irisch-britisch (insular), italienisch, rhätisch etc.) handelt es sich letztlich nur um Variationen über die morphologischen Themakonstanten, wie sie in der Epitome -Schrift und der neuen Kommunschrift vorgegeben waren. Auf das weitere Schicksal der klassischen Kommunschrift — ihre Verwendung als kaiserliche Kanzleischrift ( litterae coelestes ) und später als merowingische Urkundenschrift mit ihren jeweils paläographisch berüchtigten Ligaturen — wird hier nicht eingegangen (vgl. Mallon 1952 §§ 67—183). Im weiteren sollen zunächst zwei Beispiele für die Kapitalis aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. und dem 1. Jahrhundert n. Chr. betrachtet werden (Abb. 12.17 und 12.18).

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 12.17: Kopie eines Briefs, 1. Jahrhundert v. Chr. (aus Mallon 1952, Pl. III, 2)

Abb. 12.18: Kopie einer Bestandsaufnahme, Mitte 1. Jahrhundert n. Chr. (aus Mallon 1952, Pl. V, 2)

In beiden Fällen liegt jeweils eine Varietät der Kapitalis vor. Das Fragment eines Briefs aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. macht zwar im Vergleich zu der „Bestandsaufnahme“ (Mitte 1. Jahrhundert n. Chr.) insgesamt einen flüchtigeren Eindruck, es wurde zweifellos auch mit einem stumpfen calamus geschrieben, jedoch handelt es sich vor allem wegen der praktisch identischen Duktuseigenschaften der Buchstabenformen und auch wegen der ligaturfreien Schreibart in beiden Fällen

12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung

um eine Manifestation der Kapitalis. Die Unterschiede in der Ausführung einzelner Buchstabenformen sind minimal: in Abb. 12.16 zeigen die R-Formen im letzten Wort der zweiten Zeile ( pervenero ) eine über die Basislinie hinunter reichende Hasta, der Codabogen ist mit seinem Fuß in einem Zug verschmolzen; das S zeigt die langgestreckte Form der Kommunschrift (z. B. in esto, 4. Zeile); das B in der Wortform benevolentiam (5. Zeile) zeigt in seinem Aufbau ebenfalls eine Verwandtschaft mit dem kommunschriftlichen B, bildet jedoch eine geschlossene Gestalt mit demselben Duktus des B in der „Bestandsaufnahme“ (drittletzte Zeile); das A in benevolentiam unterscheidet sich vom A in donatos (1. Zeile der „Bestandsaufnahme“) durch seine abgeknickte Finalhasta und die fehlende Serife an der Initialhasta und nähert sich insoweit dem A der klassischen Kommunschrift; das F in filio (4. Zeile) zeigt eine deutliche Unterlänge. Die Schriften beider Beispiele sind jedoch — trotz des Überschießens einiger Hastastriche (vgl. die I, A und L mit „Oberlängen“ in der 1. Zeile der „Bestandsaufnahme“) — als ZweilinienschemaKapitalisschriften zu klassifizieren. Die kinemischen Charakteristika der Schrift der „Bestandsaufnahme“ sind von Mallon (1952, §§ 12—39) sehr detailliert dargestellt und diskutiert worden. Hervorzuheben sind folgende Punkte: der Federansatzwinkel beträgt ca. 30°, daraus ergibt sich zwangsläufig die folgende Verteilung von Haar- und Schattenstrichen: die senkrechten und die von links unten nach rechts oben verlaufenden Züge sind schwach ausgeprägt, die waagrechten und von links oben nach rechts unten verlaufenden Züge sind stärker ausgeprägt, insgesamt erscheinen die Buchstaben dieser Schriftart im Vergleich zu jenen gleichaltriger monumentaler Lapidarinschriften lateral komprimiert (man könnte darin einen Faktor sehen, der zum ökonomischen Umgang mit dem jeweiligen Beschreibstoff führt bzw. durch letzteren induziert wurde); im Unterschied zu den Buchstabenformen der Schrift des „Briefes“ (1. Jahrhundert v. Chr.) sind die „freien“, an der Basislinie nicht weiter verbundenen Initialhastastriche mit Serifen („Füßchen“) versehen (z. B. ). Es folgt nun jeweils ein Beispiel für die klassische bzw. neue Kommunschrift, auf deren Unterschied bzw. partielle Diskontinuität

191

oben im Falle der nicht von einander ableit-

Abb. 12.19: Petition aus dem Jahr 247 n. Chr. (aus Mallon 1952, Pl. XV, 1)

baren Formen des A und des B schon hingewiesen wurde. Bei der Petition von 247 n. Chr. (Abb. 12.19) handelt es sich zweifelsfrei um eine Manifestation der klassischen Kommunschrift. Bei einigen Formen erscheint das Zweilinienschema — in vergleichbarem Ausmaß zur früheren und zeitgleichen Kapitalis — konsequent durchbrochen (z. B. bei allen -Formen (3. Zeile domine des ...), bei der Anfangshasta des A (2. Zeile in ...aureliae ... et passim). Die Form des E wird in einem Zug realisiert: (z. B. 1. Zeile ... v alerio ...); die Formen von R und P sind kaum unterscheidbar (vgl. 1. Zeile ... valerio ... mit 6. Zeile ... philippo ...), auffällig ist auch die gewaltige Ober- und Unterlänge des H, das schon eine minuskuläre Form zeigt, im zuletzt zitierten Wort. Beide Arten der Kommunschrift weisen zahlreiche Buchstabenligaturen auf, die hier aus Raumgründen jedoch nicht diskutiert werden können (vgl. Mallon 1952, §§ 162 ff). Die Schrift der Petition von 345 n. Chr. (Abb. 12.20) wird in der paläographischen Literatur einhellig als Beispiel für die „jüngere römische Kursive“ bzw. für die neue Kommunschrift angesehen (vgl. Mallon 1952, § 161). Es wurde oben schon kurz dargelegt, daß die neue Kommunschrift nicht in toto als einfache Weiterentwicklung der klassischen

192

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 12.20: Petition des Flavius Abbinneus aus dem Jahr 345 n. Chr. (aus Mallon 1952, Pl. XXII, 3)

Kommunschrift angesehen werden kann. Mallon (1952, §§ 162 f) zeigt an einigen weiteren Beispielen phanemische und/oder kinemische Differenzen zwischen den beiden Kommunschriften, die gegen die hergebrachte These von einer inneren Entwicklungskontinuität zwischen beiden sprechen: E:

(z. B. in pietatis, 2. Zeile)

P:

N oder (letztere Form z. B. in constantinopolim , 2. Zeile) (z. B. in constantinopolim, 2. Zeile)

D: M:

d (z. B. in producere, 4. Zeile) (z. B. in comitatum, 5. Zeile)

N:

R:

(z. B. in uestrum, 5. Zeile)

Bei den Buchstabenformen n, p, d, m der Petition von 345 n. Chr. sieht es nun so aus, als ob die neue Kommunschrift definitiv das Zweilinienschema der Kapitalis in Richtung auf ein Vierlinienschema durchbrochen hätte; dies sowohl was die von ihrer phanemischen Form her „minuskulären“ Mittellängenbuchstaben n und m, als auch was die mit Unterbzw. Oberlänge versehenen Formen von p und d anlangt. Um diese Frage zu klären, scheint es angebracht, eine grundsätzliche Diskussion der traditionellen Termini Majuskel- vs. Minuskelschrift, deren wörtliche Bedeutung fachsprachlich längst obsolet geworden ist, zu füh-

12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung

ren — und dies auch im Zusammenhang mit weiteren Entwicklungen der Kapitalis in Richtung auf die sog. Unzialschrift. Von besonderer Bedeutung erscheint eine solche Diskussion im Hinblick auf die Tatsache, daß spätestens ab dem Ende des weströmischen Reichs die europäische Normalschrift, ihre unmarkierte Form, jene des sog. Minuskelalphabets ist; markierte Formen in ihrer Funktion als sog. Auszeichnungsschriften erscheinen gemeinhin als Varietäten der sog. Majuskelschrift. Mallon (1952, § 155 f) betrachtet das von Reusens (1899) und nach diesem von Prou & Boüard (1924, 29) vorgeschlagene Kriterium der Unterscheidung zwischen Majuskel- und Minuskelschrift, ob nämlich eine Schrift dem Zweilinien- oder dem Vierlinienschema gehorcht, als ganz unzureichend („caractéristiques calligraphiques tout à fait extérieures et accessoires“). Dem muß entgegengehalten werden, daß schon in frühesten belegten Beispielen für die klassische Kommunschrift (vgl. z. B. Abb. 12.19) eine durchgängige Differenzierung der vertikalen Erstreckung einiger Formen feststellbar ist (z. B. ). In dem Entwicklungsstadium einer Schrift, in dem eine regelmäßige, gar kanonisierte Überschreitung des Zweilinienschemas vorliegt, sollte dieses Faktum auch für deren Beschreibung und Klassifikation herangezogen werden. Dies um so mehr, als das Vorhandensein einer Ober- und/oder Unterlänge einer Buchstabenform sich im Einzelfall (z. B. ) ganz deutlich auf ihre interne morphologische Charakteristik auswirkt, ja auswirken muß. Man sollte also eher von einer Interaktion zwischen den Faktoren Form, Duktus und Vertikalerstreckung eines Buchstabens ausgehen. Mallon kann jedoch insoweit Recht gegeben werden, als bestimmte Formen schon von ihrem Duktus her als majuskulär oder minuskulär interpretiert werden können; z. B. N vs. M: > (hier liegt eine Duktusänderung vor!) > (hier liegt keine Duktusänderung vor). N ist ja der Kapitalbuchstabe, der sich bis in die karolingische Minuskel hin am hartnäckigsten einer Minuskulisierung widersetzt hat. Bei anderen Formen liegt das Problem jedoch nicht so einfach:

193

Hier müssen weitere Kriterien zur Erklärung von Veränderungen gefunden werden, z. B. Rekti- vs. Kurvilinearität; die Manifestation des letzteren Kriteriums ergibt sich schreibmotorisch fast zwangsläufig aus schnellerem kurrenterem Schreiben. Damit einhergehen kann die Vermeidung von „Luftzügen“, d. h. die Feder wird beim Herstellen einer Buchstabenform, aber auch bei deren Verbindung mit anderen, nicht mehr von der Schreibfläche abgehoben (dies läßt sich an der neuen Kommunschrift deutlich ablesen, vgl. Abb. 12.20). Aus den beiden genannten Kriterien kann — selbst bei gleichbleibendem oder nur schwach verändertem kinemischem Programm (= Duktus) der Verlust der ursprünglichen phanemischen Hasta + CodaStruktur resultieren (deutlichstes Beispiel D > , das Ergebnis dieser Veränderung zeigt sich sowohl in Kapitalisschriften des ausgehenden 1. Jahrhunderts n. Chr. (z. B. in de bellis, Abb. 12.23) als auch in der klassischen Kommunschrift (vgl. Abb. 12.19). Um der Unterscheidung zwischen einer sog. Majuskelschrift und einer sog. Minuskelschrift die notwendige definitorische Präzision geben zu können, sei zunächst einmal die Kapitalisschrift (vgl. Abb. 12.18) hinsichtlich eines globalen phanemischen Kriteriums, nämlich der vertikalen und horizontalen Ausbildung der Gestalt eines Buchstabens betrachtet. Dabei zeigt sich, daß bis auf eine Ausnahme (das I besteht aus einer bloßen Hasta), alle Kapitalisbuchstaben eine gedachte rechteckige Fläche in einem Zweilinienschema „bestreichen“. Gemeint ist damit, daß manche Kapitalisformen eine rechteckige Fläche tatsächlich optisch ausfüllen; es sind dies B, C, D, E, G, H, K, M, N, O, Q, R, S, X, Z; oder eine solche rechteckige Fläche in einer vertikalen Projektion ihrer maximalen horizontalen Erstreckung virtuell abdecken; es sind dies A, F, L, P, T, V, Y. Im letzteren Fall sähe dies dann so aus:

Das Kriterium der virtuellen Projektionsfläche (gestrichelt) liefert auf der Basis der Kapitalisformen einen ersten Anhaltspunkt für weitere Entwicklungen dieser Buchstaben in Richtung ihrer späteren Minuskelformen. Wie zu zeigen ist, reicht dieses Kriterium jedoch nicht aus, um die Entstehung aller Minuskelformen restfrei zu erklären; im Falle von F, L, P und Y erscheint es genügend, in

194

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

den Fällen A, T und V jedoch nicht. Das entscheidende Kriterium, das dieses „schwache“ Kriterium einschließt, ist die Existenz einer primär vorhandenen — wie bei F, L, P und Y — oder einer sekundär entwickelten — wie bei b, d, g, h, k, q (r) — phanemisch initialen oder finalen „freien“ Hasta, wie sie sich in der weiteren Entwicklung der Kapitalisformen über die de bellis -Schrift (Abb. 12.23) und die klassische Kommunschrift (Abb. 12.19) hin zur Epitome -Schrift (Abb. 12.24) zeigt. Unter „freier Hasta“ ist derjenige Bestandteil einer Buchstabenform zu verstehen, der nicht in seiner ganzen Längenerstreckung von Codateilen umschlossen bzw. begrenzt ist; z. B. F, L, P. Diese Formen mit einer historisch primären freien Hasta bilden ihre jeweilige Hasta im Mittellängen- und Ober- bzw. Unterlängenbereich einer per definitionem vierlinigen Minuskelschrift ab. Die Entscheidung, ob die freie Hasta im Ober- oder im Unterlängenbereich erscheint, hängt von der Position der Coda an der Hasta ab: liegt sie oben, ergibt sich eine Hasta mit Unterlänge, liegt sie unten, führt dies zu einer Hasta mit Oberlänge. So bekommt z. B. P als Minuskel eine Unterlänge: p; L eine Oberlänge: 1. Dieselben Kriterien gelten für Buchstabenformen, die erst sekundär eine freie vertikale Hasta entwickeln: B > b, D > d, G >

,

H > h, Q > q. Die Verteilung der Ober- bzw. Unterlängen der Hasten hängt ihrerseits an dem Kriterium, daß der Ober- und Unterlängenbereich grundsätzlich von Codaelementen frei gehalten wird, d. h. die Codaelemente der Minuskelformen müssen den Mittellängenbereich ausfüllen; sie bilden sozusagen ihren „Körper“. Diese Codaelemente sind also in ihrer Minuskelerstreckung den Buchstabenformen, die nicht vom Kriterium der „freien Vertikalhasta“ erfaßt sind (z. B. A > ,E> etc.), gleichgestellt. Dies impliziert, daß der Körper der zuletzt genannten Buchstabenformen sich ausschließlich im Mittellängenfeld abbildet. Die optische Informationsdichte einer Buchstabenform konzentriert sich also im Mittellängenfeld (vgl. Coueignoux 1981), das insoweit dem alten Zweilinienfeld der Kapitalis entspricht; dabei ist der optische Diskriminierungswert der Ober- und Unterlängen gleichwohl nicht zu vernachlässigen (vgl. etwa d vs. q). Daraus folgt auch trivialerweise, daß die vertikale Erstreckung der Buchstaben einer

Minuskelschrift in deren Vierlinienschema anders als im Zweilinienschema der Kapitalis variiert:

Nach lesepsychologischen Erkenntnissen (z. B. Broadbent 197 7 ) ist eine solche Verteilung von Buchstabenformen in sequentia offenbar für die schnelle Verarbeitung phanemischer Information positiv einzuschätzen. Eine detaillierte Überprüfung der hier vorgeschlagenen Minuskulisierungshypothese folgt unten im Zusammenhang mit den Abb. 12.22—12.25. Wie schon gezeigt wurde (vgl. Abb. 12.19), weisen Buchstabengestalten in Varietäten der klassischen Kommunschrift einigermaßen regellos „Überlängen“ auf, ohne den Kriterien der hier formulierten Hypothese zu genügen. Diese nach oben und unten „ausschweifenden“ Schreibzüge erklären sich aus mehr oder weniger idiosynkratischen, stark dynamisierten Schreibbewegungen, die keiner genauen Norm folgen. Einer Beseitigung dieser Regellosigkeit im Interesse einer besseren Lesbarkeit standen — angesichts des auch in Kapitalisvarietäten schon im 1. Jahrhundert v. Chr. (vgl. Abb. 12.17 ) in Auflösung begriffenen Zweilinienschemas — eigentlich nur zwei Alternativen offen: 1. Rückkehr zu einer Art Zweilinienschema in dem die mittlerweile in ihrer Höhenentwicklung differenzierten Buchstabenformen (z. B. die de bellis -Formen ) zwischen zwei Begrenzungslinien „eingezwängt“

werden.

Fiktives

Beispiel:

oder 2. den Wildwuchs der Vertikalentwicklung normieren, d. h. die „Überlängen“ in einem Vierlinienschema als Ober- und Unterlängen zu kanonisieren. Die erste Alternative findet sich näherungsweise in der sog. Unzialschrift, verwirklicht, die — wie Mallon 1939/1982, [41] gezeigt hat — keine Weiterentwicklung der Kapitalis, sondern eine artifiziell-kalligraphische Entwicklung auf der Basis der de bellis -Schrift darstellt. In der sogenannten Unzialis zeigen sich zwar — ähnlich wie in der de bellis -Schrift — prekäre, sozusagen halbherzige Ober- und Unterlängen, jedoch erscheint die Tendenz zu einem Zweilinienschema vorherrschend (vgl. Abb. 12.21, die eine sehr späte Prachtunziale zeigt).

12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung

Abb. 12.21: Unziale, Markusevangelium, Kap. 9, 8. Jahrhundert n. Chr. (Ö. N. B., Cod. 15216, f. 2) (aus Hunger et al. 1961, Abb. 29)

Die zweite, „siegreiche“ Alternative ist in der Epitome -Schrift verwirklicht: Hier erscheinen die „geschlossenen“ Buchstabenformen bzw. die neuen minuskulären Codafiguren als Buchstaben„körper“ im Mittellängenbereich, der insoweit dem klassischen Zweilinienfeld entspricht; die Ober- und Unterlängen bekommen nach den genannten Kriterien jeweils eigene, im Verlaufe der Entwicklung kanonisierte Bereiche zugewiesen. Die vorgeschlagene Hypothese soll zeigen, daß dieser Prozeß nicht von zufälligen Festlegungen, sondern von Kriterien gesteuert war. Es bedürfte allerdings weiterer detaillierter Untersuchungen darüber, ob es sich um eine Kette von den Schreibern bewußten, sozusagen schreib- und schrift-theoretisch reflektierten Entscheidungen gehandelt hat, oder ob ein Konventionalisierungsprozeß anzunehmen ist. Intuitiv gesehen dürfte letzteres wahrscheinlicher sein. Die folgenden Beispiele (Abb. 12.22— 12.25), die in zeitlich aufsteigender Reihenfolge Schriftvarietäten vom 1. bis zum frühen 6. Jahrhundert n. Chr. repräsentieren und damit gleichzeitig einen Überblick über Entwicklungen von majuskulären bis zu minuskulären Schriften geben, dienen im folgenden als Belegmaterial, an dem die obige Hypothese über die Entstehungsbedingungen der Minuskelschrift überprüft werden kann.

Abb. 12.22: Kapitalis, 1. Jahrhundert n. Chr. (nachgeschrieben) (aus Delitsch 1928, Abb. 6)

Abb. 12.23: Papyrusfragment de bellis macedonicis, 1./2. Jahrhundert n. Chr. (aus Carlo 1983, Abb. 20)

Abb. 12.24: Papyrusfragment Epitome Livii, 2./3. Jahrhundert n. Chr. (aus Mallon 1952, Pl. XVII, 1 + 3)

195

196

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 12.25: Alphabete aus Briefe des Hl. Cyprian , ca. 350 n. Chr. (Malilon 1952, Pl. XXX, 5) und aus einem Hilarius -MS, ca. 530 n. Chr. (CLA 1 b) (beide aus Mallon 1952, 93)

A: Das Kapitalis- und das de bellis- Alphabet zeigen die klassische offene Form, im Epitome- Alphabet hat sich die Form durch Realisierung eines „Luftzugs“ zwischen den beiden Schenkeln geschlossen; damit ist grosso modo wieder die archaische Form (vgl. Abb. 12.11) erreicht. Diese Form kann nach den Kriterien unserer Hypothese keine Oberlänge entwickeln (keine freie vertikale Hasta!), sie bleibt die kanonische minuskuläre Form über die Carolina bis heute. In der Kurrentschrift hat sie die aus der neuen Kommunschrift stammende Form , die in vorkarolingischer und karolingischer Zeit als cc-Form erscheint, als Parallele. B: Die Form mit der Doppelbogen-Coda muß auch in der de bellis -Schrift existiert haben. Das B wurde erst minuskelfähig, als es über das b der neuen Kommunschrift und der Epitome- Schrift die heute noch gültige Form mit der einfachen Bogencoda an der Hastabasis erreicht hatte: die initiale Vertikalhasta war „frei“ und konnte sich deshalb als Oberlänge entwickeln, die Bogencoda füllte als Körper den Mittellängenbereich aus. Die später belegten B-Formen des Cyprianund Hilariusalphabets zeigen die klassische Kapitalisform (die erste mit einer Quasi-Oberlänge, die zweite wurde auf Mittellänge reduziert). Diese beiden Alphabete, die traditionell zu den sog. (Halb)Unzialschriften gerechnet werden, stellen, wie die capitalis quadrata bzw. elegans, Endpunkte von Schriftenentwicklungsphasen dar (vgl. zur ausgedehnten Unzialis-Diskussion Mallon 1952, §§ 151 ff und Tjäder 197 4). Aus der „Unzialis“ ergeben sich keine weiteren Entwicklungslinien; ein indirekter Beweis dafür kann auch in der Tatsache gesehen werden, daß die sog. Unzial-

schrift in der Hierarchie der Auszeichnungsschriften in karolingischen Codices nach der capitalis quadrata und der Kapitalis („Rustica“) an dritter Stelle der Rangfolge erscheint. C: Nach den genannten Kriterien mußte diese Form, die in ihrer Morphologie genau der majuskulären Kapitalis entspricht, als minuskulärer Mittellängenbuchstabe in einem Vierlinienschema erscheinen; sie blieb in der Folge bis heute unverändert. D: Durch die oben beschriebenen und erklärten Strukturveränderungen entwickelte sich die -Form des de bellis- Alphabets, die auch für alle „unzialen“ Ausprägungen der Kapitalis kennzeichnend ist; sie weist schon in de bellis eine Oberlänge auf. Regelrecht, d. h. nach den oben genannten Kriterien, erscheint das d als minuskuläre Form in der Epitome -Schrift, nachdem die neue rechte Hasta d vertikalisiert worden war. E: Diese Form kann sich, nach den Kriterien nur zu einem minuskulären Mittellängenbuchstaben entwickeln. F: Erscheint schon in de bellis, einer Kapitalisvarietät, die sich evolutionär noch zwischen einem Zwei- und Vierlinienschema befindet, „wegen“ ihrer freien Hasta als Buchstabe mit Unterlänge, behält diese Unterlänge auch noch in der Carolina-Schrift (vgl. Abb. 12.26) und verliert sie definitiv erst in der littera antiqua formata -Schrift der italienischen Humanisten (14./15. Jahrhundert n. Chr.), die damit von dem — auch theoretisch begründbaren — Kanon der karolingischen Minuskel abweichen; F behält die Unterlänge jedoch — zusammen mit einer Oberlänge — bis heute in kursiven Druckantiqua-

12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung

und Kurrentschriften. Die humanistische Vertikalentwicklung dieses Buchstabens stellt jedoch — ob mit oder ohne Unterlänge — im Vergleich zu anderen Oberlängenbuchstaben eine Ausnahme dar: die Oberlänge weist ihrerseits einen Codastrich auf; d. h. die Codae fügen sich nicht entsprechend den Kriterien in das Mittellängenfeld ein, sondern bilden sich teilweise im Oberlängenfeld ab. Der Grund dafür mag darin liegen, daß die Codafigur — anders als z. B. bei p und q — offen ist und daß durch den kurzen, meist nach rechts umgebogenen oberen Codastrich das Oberlängenfeld phanemisch wenig belastet erscheint. Im übrigen ist die „regelrechte“ Unterbringung des F-Körpers im Mittel- und Unterlängenfeld in irischen (Hand)Schriften des 7 ./8. Jahrhunderts n. Chr. bis heute durchaus die Norm. G: Nach den Kriterien ist, ausgehend von der Form dieses Buchstabens in der Kapitalis, eine Unterlängenentwicklung eigentlich nicht zu erwarten; wie C — von dem es abgeleitet ist — hätte sich G zu einer Mittellängenform entwickeln müssen. Dagegen spricht jedoch die mangelnde phanemische Unterscheidbarkeit der C-G-Mittellängenformen. In Kapitalisschriften des 3. Jahrhunderts n. Chr. und in der neuen Kommunschrift entwickelte sich das Diakritikum des Kapitalis-G zu einem abwärts gerichteten Hastaansatz (vgl. das Epitome- Alphabet und Abb. 12.24). Die weitere Entwicklung hin zur Carolina, die im Detail noch zu klären wäre, wurde von kommunschriftlichen Formen diktiert: von offenen Formen wie entwickelte sich die Carolina-Form mit einer geschlossenen Coda und einer geschwungenen Finalhasta. Damit erweist sich das g bis heute als der einzige Minuskelbuchstabe mit einer nach links eingebogenen Unterlänge und verletzt damit — wie f — das Kriterium geradlinig endender Hastastriche. Erklärbar ist diese Entwicklung jedoch durch die notwendige Vermeidung der Homographie von g und q (Heterogenisierung!). H: Seine vertikalaxial symmetrische Kapitalisform verlor dieser Buchstabe, wohl aus Gründen der Duktusvereinfachung, schon in der klassischen Kommunschrift ( > > ); die Kapitalis von de bellis zeigt eine im Gegensatz zu ihren anderen eleganten Formen eine seltsam ungelenke h-Form. Damit hatte sich eine freie Initialhasta ergeben, die sich als Mittel- plus Oberlänge in allen späteren

197

Schriften manifestieren mußte; die unten offene Bogencoda bildete sich als Mittellänge ab. I: Zwar kommen kapitalis- und kommunschriftlich „lange“ I-Formen vor (so noch in de bellis ), wegen seiner Basisstruktur (bloße Hasta) konnte diese Form keinen Kö rper entwickeln. Die Hasta wurde sozusagen hilfsweise auf Mittellängenmaß gestutzt. Der iPunkt bzw. -strich erscheint aus Gründen der leichteren phanemischen Unterscheidbarkeit erst im 14./15. Jahrhundert n. Chr. K: Ist dem lateinischen Alphabet eigentlich fremd; morphologisch paßt er jedoch sowohl in ein Zweilinien- als auch in ein Vierlinienschema. Entsprechend den Kriterien weist er eine freie Hasta auf, die winklig angeordneten Codastriche bilden sich minuskelschriftlich regelgerecht im Mittellängenfeld ab. L: War sowohl kapitalis- wie auch kommunschriftlich schon früh als „langer“ Buchstabe ausgeprägt; seine Coda erscheint regelgerecht als Basisstrich im Mittellängenfeld. M: Die vertikalaxial symmetrische Form ist nach der archaischen Phase des griechischlateinischen Alphabets zu keiner Zeit „bedroht“ gewesen; sie wurde deshalb als Ganzes — wenn auch mit einer kleinen initialen Duktusveränderung — in den minuskulären Mittellängenbereich übernommen. Grundsätzlich hätte sich initial (wegen der freien Hasta) eine Oberlänge entwickeln können: oder wie in der späten griechischen Minuskel eine Unterlänge: . Im lateinischen Alphabet ist dies wohl deshalb nicht geschehen, weil sonst zweideutige Buchstaben bzw. Buchstabenverbindungen — oder — entstanden wären. N: Diese Form verhielt sich in ihrer Entwicklung analog zum M, nur daß — wohl beeinflußt vom Duktus des m — die Kapitalisform N erst in der Carolina aufgegeben wurde. Ansätze zu einer Unterlängeninitialhasta lassen sich in der Kapitalis (vgl. Epitome- Schrift) wie auch kommunschriftlich gleichwohl nachweisen. O: Diese Form war schriftgeschichtlich immer der geschlossene Körper par excellence und konnte minuskulär nur als Mittellängenform erscheinen. P: Hat wegen seiner freien Hasta und seiner oben angesetzten Bogencoda folgerichtig eine Unterlänge entwickelt; der Codabogen erscheint als Körper im minuskulären Mittellängenbereich.

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Q: Der rechte Bogen der O-Form wurde in der de bellis- Schrift mit der Mini-Coda zu einer Finalhasta verbunden; daraus mußte sich — vor allem nach der Vertikalisierung dieses Zugs in der Epitome -Schrift — eine minuskuläre Unterlängenfinalhasta entwicklen. R: Diese Form zeigt sowohl in der Kapitalis (vgl. de bellis- Alphabet) als auch kommunschriftlich in Übereinstimmung mit dem Kriterium der freien Vertikalhasta eine Unterlänge. Nach dem Zusammenfließen der Bogencoda (vgl. Epitome- Alphabet) mit dem zweiten geraden Codaelement zu einem offenen Rechtsschwung blieb die Unterlänge bis in späte Carolinavarietäten erhalten. Definitiv wurde die Unterlänge — wohl wegen der schwächer werdenden morphologischen Ausprägung der Coda ( ) — in späten CarolinaPhasen beseitigt (jedoch nicht in insularen Schriften, die — wie im Falle des — konsequent und konservativ bleiben). S: Die kapitalisschriftliche Variante dieses Buchstabens verblieb als hinreichend geschlossene Form im minuskulären Mittellängenbereich. Die kommunschriftliche langgezogene Variante erscheint als „langes s“ in der Carolina als Mittel- plus halber Oberlängenbuchstabe; in späteren kommun- bzw. kursivschriftlichen Varietäten erstreckt sich die Form — wie auch das f — über die ganze Höhe des Vierlinienschemas. Die orthographische Differenzierung in rundes Schlußund Fugen-s und sonst langes s erfolgte erst in der Humanistenzeit. T: Wohl wegen seiner leicht gestörten vertikalaxialen Symmetrie (vgl. Abb. 12.23) verblieb diese Form zunächst im Mittellängenbereich; erst in „gotischen“ Entwicklungsphasen verlor der Buchstabe seine Begrenzung im Mittellängenfeld, die Hasta „übertrat“ den Querstrich (zuerst sicher zufällig) und bekam dadurch eine prekäre halbe Oberlänge (dies gilt auch noch für viele Antiqua-Druckschriften). In der irischen Minuskel wurde die Carolinaform als Mittellänge bis heute beibehalten. U/V: Diese Formvarianten schwanken zwischen vertikalaxialer Symmetrie und vertikalaxialer Asymmetrie (mit vertikaler Finalhasta). Für das Verbleiben im minuskulären Mittellängenbereich muß letztlich die Symmetrieeigenschaft — und damit das Fehlen

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

einer freien Vertikalhasta — verantwortlich gemacht werden, die sich sowohl in der v- als

Abb. 12.26: Evangeliar aus dem Kloster Weißenburg (heute Wissembourg), 1. Hälfte des 9. Jahrhunderts n. Chr. (aus Hartmann & Scheffler 1986)

Abb. 12.27: Sacramentarium aus dem Kloster Lorsch, zwischen 978 und 993 n. Chr. (aus Ehrle & Liebaert 1912, 33)

auch in der u-Variante durchgesetzt hat (vgl. oben das zur Entwicklung von M Gesagte). X: Diese Form „mußte“ mangels einer freien vertikalen Hasta zu einer minuskulären Mittellängenform werden. Y: Dieser unlateinische Buchstabe konnte aufgrund seiner halben vertikalen Hasta und dem nach oben offenen winkligen Körper eine Unterlänge entwickeln, die allerdings aus Gründen der Duktusvereinfachung mit dem zweiten Zug zu einer schrägen Unterlänge (y) zusammenfloß. Z: Diese an sich unlateinische Form konnte nach den Kriterien nur als Mittellängenbuchstabe weiterexistieren (vgl. jedoch die völlig aus dem Rahmen fallende Form in Abb. 12.27 ; für den Schreiber gehörte sie offen-

12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung

sichtlich nicht zu den kanonisierten Formen der Carolina). Die vorhergehende Überprüfung der Hypothese, derzufolge die in dem definierten Sinne „geschlossenen“ Formen der Kapitalisbuchstaben sich in einer Minuskelschrift als Mittellängenbuchstaben abbilden, es sei denn, daß sie eine primäre oder sekundär erworbene „freie“ Vertikalhasta aufweisen, ergab insgesamt eine gute Bestätigung. Die Ausnahmen — etwa f, g und r — lassen sich jedoch ebenfalls durch plausible Zusatzbedingungen erklären. Damit ist der für die Entwicklungsgeschichte des lateinischen Alphabets entscheidend wichtige Übergang von der Kapitalisbzw. Majuskelschrift zur Minuskelschrift empirisch fundiert beschrieben und auch theoretisch erklärt. Der Übergang von einer frühen Minuskelschrift, wie sie sich im EpitomeFragment dokumentiert, zur „modernen“ karolingischen Minuskel beinhaltet keine wesentlichen morphologischen Veränderungen mehr; die Tatsache, daß z. B. im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. kalligraphische Prachtcodices in einer nachempfundenen capitalis elegans oder in einer sog. Unzialschrift geschaffen wurden, ist schriftentwicklungsgeschichtlich irrelevant. Dasselbe gilt — aus anderen Gründen — für die vielerlei Varietäten von sog. Nationalschriften und kommunschriftlichen Fortsetzungen. Ziel dieser Darlegungen ist es, auf einem theoretisch definierten Beschreibungs- und Erklärungsniveau die schriftentwicklungsgeschichtlich relevanten kategorial-morphologischen Zustände und ihre Veränderungsparameter großflächig zu erfassen.

6.

Von der karolingischen zur „gotischen“ Minuskelschrift. Humanistischer Rückgriff auf die Karolinger Minuskel

Den unbestrittenen Höhepunkt — auch in ästhetischer Hinsicht — der minuskelschriftlichen Entwicklung bildet die karolingische Minuskelschrift (Carolina; → Art. 14). Die Forschung geht heute davon aus, daß diese Schrift zwar auf der Basis vorgängiger Minuskelschriften steht, daß sie jedoch ihre letzte Vollendung kalligraphischen Intentionen verdankt, die im Zusammenhang mit den unter Pippin dem Kurzen (7 51—7 68 n. Chr.) begonnenen und unter Karl dem Großen 7 89 n. Chr. zu Ende geführten Liturgiereformen zu sehen

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sind; vgl. Stiennon (197 3, 94 ff) zu weiteren Details, insbesondere auch zu Fragen des regionalen Ursprungs und der Ausbreitung der Carolina. Die Schrift des Evangeliars aus Weißenburg (Abb. 12.26, vgl. auch Abb. 14.5) repräsentiert die Carolina in ihrer formalen und ästhetischen Vollendung (dies gilt generell für die Erzeugnisse der ostfränkischen Skriptorien). Die Verteilung der Ober- und Unterlängen ist bei b, d, h, l und bei g, p, q eindeutig geregelt; bei f und , die ja keine nach oben gerade auslaufenden Hasten aufweisen (vgl. die obige Diskussion zu f) hat sich der Schreiber für eine „halbe“ Oberlänge entschieden. Dies heißt, daß für frühe kanonische Carolina-Varietäten die oben aufgestellten Kriterien für die Verteilung von Mittel-, Ober- und Unterlängen in strengerer Form gültig sind als bei späteren minuskelschriftlichen Ausprägungen, in denen f und ihre volle Oberlänge zugewiesen bekamen (vgl. Abb. 12.27 , Sacramentarium aus dem späten 10. Jahrhundert n. Chr.). Anders sieht es bei den Ligaturen und aus; hier wurde der Ligaturbogen über die ganze Oberlänge gezogen (diese Ligaturen, wie auch ft und ff, haben sich übrigens in Druckantiquaschriften bis in die Moderne erhalten). Das t beschränkt sich ansonsten eindeutig auf die Mittellänge (vgl. obige Diskussion); das x übernimmt die eigentlich irreguläre Unterlänge des zweiten Zuges aus früheren kommunschriftlichen Vorbildern. Die Carolina war bis zum ausgehenden 12. Jahrhundert n. Chr. in kalligraphischer Vollendung die Schrift der Codices, in etwas kurrenterer Form — oft mit zusätzlichen Ligaturen und Abkürzungen versehen — auch die Schrift für Dokumente und Randglossen von Texten (vgl. Stiennons (197 3, 98 f) Diskussion abweichender Meinungen). Ihre Renaissance erlebte die Carolina im frühesten 15. Jahrhundert n. Chr. in den litterae antiquae (formatae) italienischer Schreiberhumanisten, vor allem durch Salutati und Poggio. Spätestens während des 12. Jahrhunderts n. Chr. begannen Varietäten der sog. gotischen Schrift zu erscheinen. Die hier vorgeschlagene Generalthese ist: gegenüber der Carolina handelt es sich bei dieser hochmittelalterlichen Schrift hinsichtlich des Duktus eigentlich um keine neue Schrift; es fand insoweit kein Bruch statt. Boussard (1951) hat sehr deutlich zu machen gewußt, daß der entscheidende Unterschied zwischen diesen beiden Schriftvarietäten in der Verwendung ver-

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schieden geschnittener Gänsefedern bestand; die Carolina wurde mit einer am Ende gerade geschnittenen Feder, die „gotische“ Schrift mit einer nach links abgeschrägten Feder geschrieben. An der folgenden Abbildung (12.28) kann dieser Wechsel im Schreibinstrument an den haarfeinen diagonalen Aufstrichen deutlich abgelesen werden. Boussard macht plausibel, daß dieser von der kontinentalen Gewohnheit abweichende Federschnitt aus Skriptorien der britischen Inseln nach 1066 n. Chr. in französischen Skriptorien eindrang und sich rasch auf dem Kontinent ausbreitete (vgl. etwa als Beispiel für den irisch-insularen Federschnitt die um 850 n. Chr. in irischer Minuskel geschriebene Priscian-Grammatik (Stiftsbibliothek St. Gallen); Abbildungen in Bieler 1961, 51). Weiterreichende Vermutungen, daß die „gotische“ Schrift in einer quasi-synästhetischen Beziehung zur Spitzbogenarchitektur stehe, lassen sich weder empirisch noch theoretisch hinreichend stützen. Das vielfach als schriftmorphologisches Kriterium für die „gotische“ Schrift angeführte Merkmal der „Brechung“ von Linienzügen innerhalb eines Buchstabens (wie sie in der nichtgotischen beneventanischen Schrift des 10. Jahrhunderts n. Chr. tatsächlich vorliegt, vgl. Lowe 1914) beruht letztlich auf einer Art optischer Täuschung; der schräge Federschnitt führt bei Buchstabenformen mit Ober- und Mittellängenhasten zu einem Haarlinienansatz, der nicht kurvilinear, sondern spitzwinklig endet bzw. so in die Hasta übergeht (vgl. Abb. 12.28); dies gilt grundsätzlich für alle „gotischen“ Schriften, ob geradestehend oder kursiv, bis zum Erscheinen der sog. Textura im 13./14. Jahrhundert n. Chr. (vgl. Stiennon 197 3, 112 ff zu „gotischen“ Varianten im hohen und späten Mittelalter und die methodologischen Diskussionen und detaillierten schriftmorphologischen Analysen in Gumbert 1974). Dieser Typ „gotischer“ Buchschrift ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet: „Brechungen“ im Übergang vom schrägen Hastaansatz zur Vertikalen und im Abstrich; die Mittellängenformen erscheinen „hochbeinig“, d. h. die Mittellängenhöhe (modern: xHöhe) dominiert gegenüber der Ober- und Unterlängenhöhe beträchtlich; Buchstabenformen können unter entsprechenden Bedingungen untereinander verschmelzen (vgl. z. B. in Abb. 12.29 oben do in dominus ). Damit ist

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Gutenbergs Textura in seiner 42zeiligen Bibel (1450—1455) vorbereitet → Tafel XVI).

Abb. 12.28: Pergamentkodex mit der Vorrede des Rufinus zu seiner Bibelübersetzung (Dombibliothek Trier, Codex 133), aus dem Jahr 1191 n. Chr. (aus Coellen 1922, Abb. 16)

Abb. 12.29: „Gotische“ Textura des 15. Jahrhunderts n. Chr. (aus Stiennon 1973, 112)

Über den Wechsel zu den neuen litterae antiquae gibt es als Information aus erster Hand den berühmten Brief Petrarcas an seinen Freund Boccaccio aus dem Jahre 1366; er beklagt sich über die augenschädigende schlechte Lesbarkeit der „gotischen“ Schrift seiner Zeit: Non vaga quidem ac luxurianti litera — qualis est scriptorum — seu verius pictorum nostri temporis, longe oculos mulcens, prope autem afficiens et fatigans, quasi ad aliud quam ad legendum sit inventa sed alia quadam castigata et clara seque ultro oculis ingerente, in qua nichil orthographum, nichil omnino grammatice artis omissum dicas. (Zitiert nach Stiennon 1973, 121).

Petrarca könnte dabei etwa die 1353 in litterae bononienses (Bologna) geschriebene Novella super decretalibus des Johannes Andrea vor Augen gehabt haben (Abb. 12.30). Die scriptura castigata et clara, die sich Petrarca zum Vorbild nahm, war keine andere als die karolingische Minuskel. Es war Petrarcas Zeitgenosse Coluccio Salutati, der

12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung

Abb. 12.30: Novella super decretalibus , 1353 (aus Ehrle & Liebaert 1927, Abb. 43)

ihr den Namen antiqua littera gab und es war Giovanni Francesco Poggio Bracciolini (1380—1459), der in den Handschriften (9.—12. Jh.) aus Salutatis Bibliothek die Vorbilder für die von ihm kultivierte und verbreitete humanistische Schrift erblickte (vgl. Stiennon 197 3, 122 ff für weitere Details und im allgemeinen Ullman 1960). Für die littera antiqua formata , die wenige Jahrzehnte später das Vorbild für die ersten Druckantiquaschriften (vgl. dazu Brekle, 1993 b) werden sollte, liefert die folgende Abbildung ein Beispiel aus Poggios reifer Schaf-

Abb. 12.31: Poggio, Livius, 1425—26 (aus Ullman 1960, Nr. 25)

201

fensperiode. Für ihn lag es nahe, die für Hervorhebungszwecke zu verwendenden Majuskeln aus kaiserlich-römischen Inschriften seiner römischen Umgebung zu nehmen (vgl. Ullman 1960, 54 ff). Unter den zahlreichen Humanistenschreibern des 15. Jahrhunderts verdient Niccolò Niccoli deshalb besonders hervorgehoben zu werden, weil er es war, der eine mit jener seines Freundes Poggio rivalisierende humanistische Schrift zur Blüte gebracht hat; wohl auf der Basis von kurrenteren karolingischen Glossenvarietäten entwickelte er die littera antiqua cursiva (Abb. 12.32 und 12.33), die in ihrer Vollendung durch Antonio Sinibaldi zum Vorbild für die von Aldus Manutius 1499 verwendete kursive Druckantiqua werden sollte (→ Art. 13). Zur Darstellung späterer humanistenschriftlicher Entwicklungen vgl. Wardrop (1963); zur neuesten terminologischen Diskussion zur Klassifikation von Humanistenschriften vgl. Gumbert (1988); einen knappen Überblick über kurrentschriftliche Entwicklungen vom 16.—19. Jahrhundert, auf die hier

202

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 12.32: Niccoli, Lukretius , 1418—29 (?) (aus Ullman 1960, Nr. 33)

Abb. 12.33: Sinibaldi, 1481, Bartolomeo Scala, Apologi centum (aus Ullman 1960, Nr. 66)

aus Raumgründen nicht eingegangen werden kann, gibt Sturm (1961, 128—133). Mit der Vereinigung zweier 800 Jahre auseinanderliegender Endpunkte der Entwicklung der lateinischen Schrift — der Kapitalis und der Carolina — haben italienische Schreiberhumanisten den heute noch gültigen Standard für handschriftlich-kalligraphische und typographische Antiquaschriftmanifestationen gesetzt.

7.

Literatur

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II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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Herbert E. Brekle, Regensburg (Deutschland)

13. Typographie 1. 2.

3. 4. 5. 6.

1.

Begriffsklärung Materiell-technische Voraussetzungen und Entwicklungen der Typographie: vom Bleisatz zum digital-elektronischen Satz Typographische Maßsysteme Historisch-systematische Darstellung der Druckschriften seit Gutenberg Typographie als Gestaltungsprozeß Literatur

Begriffsklärung

Beim Terminus Typographie gilt es zunächst, einige Begriffsklärungen herbeizuführen. Im Bereich der Schriftrepräsentation ist Typographie zunächst als physikalisch bestimmbares Abbildungsprinzip zu verstehen. Innerhalb des Variationsraums, der das Bild eines Schriftzeichens konstituierenden Linien- und/oder Flächenkonfigurationen wird ein bestimmter Typus als angemessen oder korrekt definiert. Dieser Typus wird materiell realisiert, um — ggfs. über verschiedene Zwischenstufen (siehe

z. B. unten 1.1.1.) — beliebig viele Instantiierungen („Abdrucke“) auf einem Druckträger zu ermöglichen. Des weiteren ist unter Typographie jedoch auch das jeweilige Techniksystem zu verstehen, das solche Instantiierungen von Schriftzeichentypen im Prozeß der Satzherstellung und des Druckens zu realisieren imstande ist (siehe z. B. unten 2.1.1.—2.1.3.). Schließlich wird der Terminus Typographie in einem eingeschränkten Sinne auch verwendet, um den Gestaltungsprozeß und dessen Ergebnis zu bezeichnen, das sich aus Anwendungen des Techniksystems ergibt; m. a. W. es geht hier um die Auswahl von Schriftarten und -größen und der Anordnung damit gesetzter Zeilen in einem bestimmten Papierformat (Umbruch/ Layout) (siehe Kapitel 3 und 4). Grundsätzlich nicht berücksichtigt wird hier — wenn auch in der Realität graphischen Schaffens sich manchmal mit der lesefunktional bestimmten Typographie überschneidend — die graphisch-ästhetische Verwendung von Buchstabenformen als Typo-Kunst.

13.  Typographie

2.

Materiell-technische Voraussetzungen und Entwicklungen der Typographie: vom Bleisatz zum digital-elektronischen Satz

Ziel dieses Abschnitts ist es, die jeweiligen technologischen Voraussetzungen für die Herstellung druckschriftlicher Texte zu beschreiben; dabei liegt der Schwerpunkt hier auf den verschiedenen Arten der Herstellung „typographischer“ Druckvorlagen und weniger auf einer detaillierten Darstellung der verschiedenen Druckverfahren. Das jedem typographischen Prozeß zugrundeliegende Prinzip ist, von jedem Element eines Schriftzeicheninventars einer bestimmten Ausprägung einen „Typus“ — in welcher materiellen Manifestation auch immer — samt evtl. Hilfszeichen herzustellen, der es, je nach angewandter Technik, gestattet, (ggfs. über verschiedene Zwischenstufen) zu physikalisch notwendig immer gleichen Instantiierungen dieses Typus auf einem Druckträger (z. B. Papier) zu gelangen. Aus einer Serialisierung (nach den orthographischen und morphosyntaktischen Regeln einer Sprache) von so instantiierten verschiedenen Buchstaben- (oder Silben- oder Logogramm-) typen ergeben sich Zeilen, Zeilenmengen bzw. Textrepräsentationen. Die jeweils verwendete Drucktechnik ist grundsätzlich abhängig von der Art der Materialisierung der Buchstabentypen; z. B. sind Bleilettersequenzen als direkter Input für ein Laserdruckverfahren notwendigerweise ungeeignet. Umgekehrt gilt dasselbe für den Einsatz digital-elektronischer Impulsmengen in traditionellen Druckverfahren (Hoch-, Flachund Tiefdruck). Kompatibilität zwischen verschiedenen — zunächst miteinander unverträglichen — Satz- und Druckverfahren läßt sich jedoch über fotochemische bzw. optoelektronische zwischengeschaltete Schnittstellen erreichen (z. B. fotochemische Übertragung von Bleisatzabdrucken oder Laserausdrucken auf Offsetdruckplatten). 2.1. Zur historischen Entwicklung der typographischen Technik Der berühmte altkretische Diskos von Phaistos (18./17 . Jh. v. Chr.), der — bisher unentziffert — eine vermutlich logographische Schrift zeigt, darf als eine sehr frühe Anwendung des typographischen Prinzips verstanden werden: Zeichen„typen“ wurden in spi-

205

raliger Anordnung in den weichen Ton gedrückt. Nach Haarmann (1990, 168) finden sich auf den beiden Seiten des Diskos 241 logographische „tokens“, die Instantiierungen von 45 verschiedenen „types“ darstellen. Die ungefähr gleichzeitig oder früher zu datierenden keilschriftlichen Tontäfelchen aus dem Zweistromland (mit Ausstrahlungen nach Norden und Westen) zeigen einen Sonderfall der Anwendung des typographischen Prinzips: Syllabogramme wurden nicht mittels materiell kompakter Typen in den weichen Ton gedrückt, sie wurden vielmehr im Verlaufe des „Schreibens“ durch das Eindrükken eines keilförmigen Stempels erst zusammen„gesetzt“. Die graphische Minimalfigur des (oder der) Keil(e) findet in der lautsprachlichen Repräsentation eines Syllabogramms keine Entsprechung; der „Keil“ ist also eine autarke minimale Einheit des Schriftsystems. Um die Mitte des 11. Jahrhunderts stellte der chinesische Schmied Pi Sheng aus Ton Typen einzelner Schriftzeichen her; nach dem Brennen konnten sie so zusammengesetzt werden, daß eine druckfähige „Form“ entstand. Um eine präzise Positionierung der einzelnen Tonlettern in der Druckform zu gewährleisten, wurde die Unterseite des Satzes mit einer Mischung aus Wachs, Harz und Kalk bestrichen, die den Satz zu einer stabilen Druckplatte verfestigte. Die Oberseite wurde eingefärbt, ein Blatt Papier darauf gelegt und dieses mit geeigneten Werkzeugen (Bürste o. ä.) auf die Lettern gedrückt oder gerieben. Im Gegensatz zur späteren Druckpressentechnik stellte das Abreibeverfahren hinsichtlich einer völlig planen Letterdruckfläche wesentlich geringere Ansprüche. Das Ergebnis war ein „Reiberdruck“ oder Bürstenabzug; diese primitive Hochdrucktechnik war auch in Europa für die Erstellung von Probe- oder Korrekturabzügen bis weit ins 20. Jahrhundert noch üblich. Technisch problematisch dürften an Shengs Satz- und Drucktechnik folgende Punkte gewesen sein: 1. die druckenden Linienzüge der Tonlettern brachen an ihren Enden beim Druckvorgang wohl leicht ab; 2. wegen ihrer festen Einbettung in die Kittmasse erscheint die häufige Wiederverwendung für neue Satzformen eher fraglich, d. h. das Prinzip der sogenannten „beweglichen Lettern“, die immer wieder zu neuen Druckformen zusammengesetzt werden können, war noch nicht voll verwirklicht; 3. die relativ rauhe Oberfläche der Lettern aus gebranntem Ton dürfte — im Vergleich zur vollendet kalligraphischen Pinselhandschrift —

206

nur zu ziemlich unscharfen, mit Quetschrändern versehenen Abdrucken geführt haben. Gleichwohl handelt es sich bei diesem ersten bisher bekannt gewordenen Versuch um ein Letternherstellungs- und Satzverfahren, das den minimalen definitorischen Merkmalen des Begriffs Typographie genügt (vgl. zum frühen Buchdruck in China und Korea, Giesecke 1991, 76 f, 127 ff und Sohn 1993). Aus dem Jahre 1119 datiert die Weiheinschrift der Klosterkirche von Prüfening, einem westlichen Stadtteil von Regensburg (Abb. 13.1). Ihre Besonderheit besteht darin, daß ihre 17 Versal-Zeilen gleicher Breite (Blocksatz!) durch das Eindrücken von einzelnen, also „beweglichen“ Holzlettern in eine Tontafel „gesetzt“ wurden. Damit war das typographische Prinzip auf der Basis einer Alphabetschrift, d. h. im Sinne Gutenbergs, vollständig realisiert. Die Druckauflage des Textes belief sich auf genau ein Exemplar (für Details vgl. Brekle, 1993 b). Im Jahre 1392 soll ein General Pi den Metalltypendruck in Korea eingeführt haben; damit wären die Nachteile des Shengschen Satzund Druckverfahrens beseitigt gewesen. Einer

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

der Nachfolger des Generals, der König Thai Tzong, nennt explizit die Vorzüge des Zusammensetzens wiederverwendbarer Metalltypen gegenüber massiven Holzplatten, auf denen Schriftzeichen in Sequenz eingeschnitzt sind (dieses Verfahren entspricht den sog. Blockbüchern im europäischen Hochmittelalter): Holzplattendruckformen würden sich bei wiederholten Druckvorgängen schnell abnützen und es sei schwer, die Mengen von Schriftzeichen aller Bücher in Holzplatten zu schneiden. Der koreanische Herrscher hatte die technischen und ökonomischen Vorzüge der typographischen Technologie genau erkannt. (Cf. die Angaben in der Zeittafel von Wolf 1981, 386 f). Die typographische Technik muß übrigens in Korea schon im 13. Jahrhundert bekannt und eingesetzt worden sein: die Bibliothèque Nationale in Paris besitzt Drucke von zu Seiten zusammengesetzten chinesischen Metallettern aus den Jahren 127 4— 1366, cf. Hong (1963, 193). Aus dem Jahre 1465 wird berichtet, daß in Korea 300 000 metallische Einzellettern hergestellt wurden (Wolf 1981, 389); 1544 soll ein koreanischer Herrscher den Guß von Kupferlettern befohlen haben (ob für die ca. 100 Jahre zuvor

Abb. 13.1: Weiheinschrift des Klosters Prüfening von 1119 (Ausschnitt, eigene Aufnahme)

13.  Typographie

erfundene koreanische Alphabetschrift ist nicht bekannt). In Europa war es Johann Gensfleisch zum Gutenberg, der in den 30er und 40er Jahren des 15. Jahrhunderts in Straßburg und Mainz ein komplettes System der typographischen Technik entwickelt, erprobt und mit dem Druck seiner 42zeiligen Bibel (ca. 1455) auch auf einen satz- und drucktechnischen Höhepunkt geführt hatte. Gutenbergs typographisches System setzte sich aus folgenden Komponenten zusammen: 2.1.1. Herstellung von sogenannten „beweglichen“, d. h. einzelnen Lettern Um eine möglichst große Menge jeweils typidentischer Lettern, die alle Buchstaben des Alphabets (plus Ligaturen und Hilfszeichen) repräsentieren, zu erhalten, wendete Gutenberg das Abgußprinzip an. Die einzelnen Herstellungsschritte sind folgende: a) Herstellung von Stahlstempeln (Patrizen), auf denen erhaben seitenverkehrte Formen der Buchstaben eingraviert sind; b) diese Stahlstempel werden gehärtet und in Kupferblöcke eingeschlagen, so daß ein seitenrichtiges, vertieftes Buchstabenbild entsteht; die Oberfläche der so entstandenen Matrizen wird plan justiert; c) eine solche Matrize wird in das sogenannte Handgießinstrument eingepaßt und ergibt durch Ausgießen mit einer Bleilegierung eine Bleiletter, die wiederum ein seitenverkehrtes, erhabenes Abbild des betreffenden Buchstabens darstellt. Durch Abdruck auf Papier erhält man ein seitenrichtiges Abbild des Buchstabens (s. Abb. 13.2.). Die Entwicklung des Handgießinstruments stellt den Dreh- und Angelpunkt einer praxisfähigen und ökonomisch erfolgreichen typographischen Technik dar; es erlaubt die Herstellung beliebig vieler typidentischer Bleilettern — in der handwerklichen Phase dieses Instruments waren es ca. 1500 Lettern pro Tag, Instrument und Mann. Damit konnte ein genügend großer Fundus an Bleilettern zur Satzherstellung auch für umfangreiche Werke gewonnen werden. Voraussetzung war allerdings eine hohe feinmechanische Präzision; um proportionalschriftliche Lettern (solche mit wechselnder „Dickte“ (s. u. Abb. 13.5) zu gewinnen, mußte eine Justierung der Gußform über der Matrize mit einer Toleranz von ca. 0,1 bis 0,05 mm möglich sein (abhängig von der Schriftgröße); die Letternrohlinge mußten außerdem mit demselben Präzisions-

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Abb. 13.2: (aus Aicher 2 1989, 240) Patrize — Matrize — Letter

grad auf exakt dieselbe vertikale Höhe gebracht werden, nur so ließ sich eine völlig plane Druckoberfläche einer aus einzelnen Lettern zusammengesetzten Druckform einer Buchseite erreichen. Dieser typographietechnisch zentrale Bereich der Letternherstellung war der erste Schritt zur Realisierung des Prinzips der modernen Massenproduktion. Erst im 19. Jahrhundert wurden im Zuge der allgemeinen Industrialisierung Letterngießmaschinen konstruiert, um dem gewaltig wachsenden Bedarf an Letternsatzmaterial nachkommen zu können. 2.1.2. Die Satzherstellung Die in einen Setzkasten sortierten (s. Abb. 13.3) Lettern einer Schriftart und Schriftgröße werden vom Setzer je einzeln ergriffen und in einem sogenannten Winkelhaken (s. Abb. 13.4 a) zu Wörtern zusammengefügt; unter Verwendung von nichtdruckendem Blindmaterial variabler Breite werden Wörtersequenzen auf eine bestimmte Zeilenbreite gebracht (Blocksatz). Ein guter Setzer erreichte bei einem fortlaufenden Text („glatter Satz“) eine Stundenleistung von 1500 bis 1600 Buchstaben. Nach Füllung des Winkelhakens werden die in sich instabilen Letternzeilen unter Zuhilfenahme einer „Setzlatte“ ausgehoben und auf das Setzschiff (s. Abb. 13.4 b) gebracht. Dort wird der Letterntext weiter verarbeitet: mittels Blindmaterial („Regletten“) werden geeignete Zeilenzwischenräume erzeugt und ggfs. Überschriften, Seitenzahlen, Kolumnentitel, Randtexte (Marginalien), Fußnoten etc. eingefügt. Die fertige Letternseite wird zunächst „ausgebunden“ (mit einer Schnur fest umlegt), um mit weiteren „Seiten“ zu einer Druckform (bzw. zwei Druckformen je für „Schön- und Widerdruck“ (Vorder- und Rückseiten)) mit je zwei (Folio), vier (Quart), acht (Oktav) etc. Seiten in geeigneter Anord-

208

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 13.3: (aus Dußler & Kolling 2 1971, 13) Setzkastenschema für manuellen Bleisatz. Gezeigt wird die Anordnung und Belegung der 125 Fächer eines Setzkastens nach DIN 16 502.

Abb. 13.4 a: (aus Dußler & Kolling 2 1971, 15) Winkelhaken (die Zeilenbreite ist variabel einstellbar).

nung („Ausschießen“) vereinigt zu werden. Nach Beendigung des Druckvorgangs werden die einzelnen Lettern wieder in die jeweiligen Fächer des oder der Setzkästen verteilt, das nichtdruckende Blindmaterial wandert zurück in die Reglettenregale. Dieser Prozeß des „Ablegens“ schließt den Kreis der Satzvorgänge. 2.1.3. Der Druckvorgang Die frühesten Druckpressen waren nach dem Vorbild der Ölfrucht- und Traubenpressen gebaut: die Druckplatte wird mittels einer Gewindespindel auf die mit Druckfarbe versehene und mit einem Papierbogen exakt belegte Druckform heruntergedreht. Natürlich waren schon bei dieser frühesten Pressenkon-

Abb. 13.4 b: (aus Dußler & Kolling 2 1971, 15) Setzschiff (links Bleisatzzeilen; darüber „Setzlatte“, Schnur zum Ausbinden der fertigen Seite; rechts Pinzette und Ahle zum Herausnehmen einzelner Lettern aus der Bleiseite).

13.  Typographie

struktion hohe Präzisionsanforderungen hinsichtlich gleichmäßiger Druckverteilung zu erfüllen. Zur Erzielung eines randscharfen Abdrucks war die richtige Konsistenz der Druckfarbe ein entscheidendes Kriterium; sie bestand vorwiegend aus einem aus Leinöl gesottenen und mit Kienruß vermischten zähen Firnis. Buntfarben wurden auf der Basis von Erd- und Pflanzenfarben — z. B. Ocker, Zinnober und Krapprot — hergestellt. (Für historische und weitere technische Details zur Herstellung und zum Auftragen von Druckfarben auf die Druckform cf. Wolf 1981, 121—135). Die weitere technische Entwicklung der Druckpresse über sogenannte Kniehebelpressen, Zylinderdruckpressen bis hin zu modernen Rotationsdruckmaschinenkomplexen sowie die Entwicklung und genaue Wirkungsweise verschiedener Druckverfahren — Hoch-, Tief- und Flachdruck — kann hier nicht im einzelnen beschrieben werden (cf. dazu insgesamt Wolf 1981). 2.2. Maschineller Bleisatz Über 400 Jahre lang blieb Gutenbergs handwerkliche Technik der Lettern- und manuellen Satzherstellung in ihren Grundzügen erhalten. 1862 erfanden Johnson und Stains in England die sogenannte Komplettgießmaschine; sie erlaubte es, Bleilettern im industriellen Maßstab herzustellen. Die so gegossenen Lettern mußten jedoch nach wie vor von Hand gesetzt werden. Im Zuge der beginnenden Industrialisierung, die insgesamt eine Beschleunigung der Satz- und Druckvorgänge verlangte, wurde zunächst versucht, den Handsatzprozeß maschinell zu imitieren; das Ergebnis war die Typensetzmaschine, bei der die üblichen Handsatzlettern verarbeitet wurden: sie wurden durch Tastenanschlag auf einer Klaviatur aus ihren Vorratskanälen in einer Rinne gesammelt, mußten jedoch von einer zweiten Bedienungsperson entnommen und von Hand auf gleiche Zeilenlänge „ausgeschlossen“ werden. Eine Verbesserung dieses Systems gelang dem dänischen Schriftsetzer Christian Sörensen 1855 mit einer Tacheotypmaschine; die einzelnen Lettern besaßen jeweils verschiedene „Signaturen“ (Einkerbungen am Schaft der Letter) und konnten deshalb von einer automatisch arbeitenden Ablegevorrichtung wieder in die richtigen Kanäle einsortiert werden. Die Zeilen mußten jedoch immer noch von Hand ausgeschlossen werden. Die Automatisierung dieses Arbeitsschritts gelang

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187 2 dem Amerikaner James Paige. Damit war die Automatisierung sämtlicher primärer Handsatzvorgänge im System einer Typensetzmaschine erreicht. Einen anderen Weg schlug der Schwabe Ottmar Mergenthaler ein. Nach vielen Versuchen gelang ihm die Konstruktion einer Setzmaschine, bei der nicht einzelne Lettern, sondern Matrizen zu Zeilen zusammengesetzt, mittels in ihrer Breite variablen Ausschlußkeilen automatisch auf eine bestimmte Breite ausgeschlossen und dann ebenfalls maschinell zu starren Bleizeilen ( lines of types = Linotype, der Name des Systems) gegossen wurden. Sofort nach dem Gußvorgang wurden die mit gezähnten Signaturen versehenen Matrizen automatisch wieder in die jeweiligen Kanäle des Matrizenmagazins einsortiert. Die Vorzüge dieses Setzmaschinentyps liegen auf der Hand; jede Zeile wird neu gegossen und die starren Bleizeilen lassen sich im Umbruch leicht weiterverarbeiten (für technische Einzelheiten cf. Dußler & Kolling 197 1, 100— 108). Mergenthalers „Linotype“-Matrizensetzund Gießmaschine war ein voller Erfolg; sie breitete sich vor allem im Zeitungs- und Werkdruck (= Druck von Büchern) rasch aus. Dieses System ermöglichte eine beträchtliche Produktivitätssteigerung: durchschnittlich 6000 Buchstaben/Stunde. Ein etwas anderes Setzmaschinensystem wurde 1897 von dem Amerikaner Tolbert Lanston entwickelt: die Monotype-Einzelbuchstaben-Setz- und Gießmaschine. Sie erbrachte eine weitere Steigerung der Satzleistung auf 8000—12 000 Buchstaben/Stunde. Die Monotype-Maschine bestand aus zwei Aggregaten: dem Taster und der Gießmaschine. Auf dem Taster wird ein Lochband erzeugt, das sowohl Lochkombinationen für die getippten Buchstaben als auch Informationen über die automatisch „ausgerechneten“ Wortzwischenräme für eine bestimmte Zeilenlänge speichert. Das Lochband wird in die Gießmaschine eingeführt, die Einzellettern in sequentia mit den richtigen Wortzwischenräumen gießt. Der so entstandene Satz kann wie Handsatz weiterverarbeitet werden. Das Monotype-System eignet sich besonders für kompliziertere wissenschaftliche Texte. Sowohl die Linotype- wie die Monotypemaschinen beherrschten bis in die 7 0er Jahre unseres Jahrhunderts die Satzherstellung; mit ihnen war in mehr als 500 Jahren der Bleisatz zur Perfektion entwickelt worden; gleichzeitig waren aber auch die Grenzen der Leistungs-

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fähigkeit des hardware- Satzes erreicht: es mußten große und schwere Materialmengen verarbeitet und gelagert werden, die mechanischen Prozesse ließen sich nicht mehr weiter beschleunigen. 2.3. Opto-mechanische und opto-elektronische Setzverfahren Ein weiterer Grund für das Abgehen vom Bleisatz lag in der raschen qualitativen Entwicklung der Offset-Drucktechnik, die Bleisatz nur indirekt über hochwertige Papierund/oder Filmkopien verarbeiten konnte. Diese Drucktechnik gehört in die Familie der Flachdruckverfahren (Lithographie, Lichtdruck); hier liegen — im Gegensatz zur Hochdruck- und Tiefdrucktechnik — die druckenden und nichtdruckenden Flächen auf einer Ebene. Ihre Trennung wird durch feuchte (nichtdruckende) bzw. farbtragende Teile einer Kunststoff-Folie erreicht. Zur Schonung vor mechanischem Abrieb werden die Druckfarbe tragenden Flächen dieser Folie auf einen mit Gummihaut bezogenen Zylinder übertragen und von diesem auf das zu bedruckende Papier abgegeben („set off“). Es lag nahe, den komplizierten und kostenaufwendigen Weg der Herstellung von primär für die Hochdrucktechnik geeigneten Druckformen (Bleisatz, Strichätzungen, Halbtonklischees) einzusparen. Dieses Ziel wurde dadurch erreicht, daß man den Prozeß der Satzherstellung in einen photographischen Apparat verlegte. In einer opto-mechanischen Fotosetzmaschine werden auf einer Scheibe angeordnete negative Buchstabenbilder über eine Tastatur angesteuert; Buchstabe für Buchstabe wird auf einen Film belichtet, der nach seiner Entwicklung als Positivfilm und nach seiner weiteren Verarbeitung im Umbruch (Layout) auf eine Offsetfolie kopiert wird. Die weitere Entwicklung der Fotosetztechnik wurde wesentlich durch die raschen Fortschritte der Mikroelektronik bestimmt. Immer leistungsfähigere und preisgünstigere Mikroprozessoren brachten enorm vergrößerte Speicherkapazitäten und höhere Verarbeitungsgeschwindigkeiten auf kleinstem Raum mit sich. Nach kurzer Zeit war die optomechanische Fotosetztechnik überholt. Die Digitalisierung von Druckschriften wurde zum ersten Mal 1964 durch Rudolf Hell mit einer Prototypversion seiner DigisetMaschine verwirklicht. Buchstabenformen werden zunächst elektronisch in Rasterlinien oder Rasterpunkten codiert und digital ge-

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

speichert, dann mit einer vom Speicher angesteuerten Kathodenstrahlröhre in vertikalen Linien aufgebaut und schließlich über ein optisches System auf fotografisches Material projiziert. Eine Weiterentwicklung der elektronischoptischen Technologie stellt der Laserbelichter dar; er setzt sich zusammen aus einem Rasterbildprozessor (RIP), der auf der Basis der eingegebenen Informationen jeweils ein vollständiges Bild einer Seite berechnet, und einer Aufzeichnungseinheit, die durch den RIP gesteuert und gefüttert wird. Der Laserbelichter arbeitet mit einem Laserstrahl, der mittels eines vom RIP gesteuerten Modulators in geeigneter Weise unterbrochen wird und der über einen Polygonspiegel das jeweilige Zeichen positioniert und schließlich das Bild auf fotografischem Material erzeugt. Aufgrund seiner Rechenkapazität ist der RIP befähigt, eine Druckseite als Mosaik von Schwarz-Weiß-Informationen mit einer Dichte von ca. 1000 × 1000 Punkten/cm 2 aufzubauen; damit ist auch bei kleinen Schriften oder feinstufigen Hell-Dunkel-Verteilungen eine genügende Randschärfe bzw. graduelle Hell-Dunkel-Differenzierung gewährleistet. Dies heißt auch, daß im RIP nicht nur die dort gespeicherten Textinformationen in einem bestimmten Schrifttyp, -grad und -stärke aufgerufen werden können, sondern auch alle Elemente einer Text- und Bilddarstellung (Graphik und gerasterte Halbtonbilder). Damit ist auch der Schritt der Umbruchbzw. Layouterstellung in e i n e n Verfahrensschritt integriert. Im Prinzip kann damit auch im PC-Bereich eine hohe technische und typographische Qualität bei der Satzherstellung erreicht werden (→ Art. 9); dies allerdings unter der Voraussetzung, daß die Auflösungsqualität der Laserdrucker ausreichend hoch ist und — was angesichts der vielen miserablen Produkte aus dem Desktop-Publishing-Bereich (DTP) noch viel wichtiger ist — daß die Hersteller solcher Produkte sich an die lesefunktional begründeten, altetablierten Regeln der gestaltenden Typographie (s. u. 4.) halten.

3.

Typographische Maßsysteme

Das von Gutenberg entwickelte Handgießinstrument garantierte bei der Letternherstellung die nötige Präzision, brachte es aber auch mit sich, daß für verschiedene Schriftgrade die Maße entsprechender Kegelstärken (s. Abb. 13.5) festzulegen waren. Bis ins 18.

13.  Typographie

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Jahrhundert hinein gab es weder national und schon gar nicht international gültige typographische Maßeinheiten; die Frühdrucker entwarfen und gossen jeweils ihre eigenen Schriften, wobei berühmte Druckwerkstätten (z. B. Aldus Manutius in Venedig um 1500) und Schriftschneider (z. B. Claude Garamond in Frankreich um 1540) sicherlich Vorbilder lieferten (cf. Steinberg 1961, 185—197 für einen historischen Abriß der Schriftgießereien in Europa). Während des 17 . Jahrhunderts begann sich vor allem der Bereich der Letternherstellung handwerklich zu verselbständigen; daraus ergab sich die Notwendigkeit, die bis dahin noch druckereibezogenen verschiedenen Maßsysteme zu vereinheitlichen. 17 37 gelang es dem Pariser Schriftgießer Fournier ein typographisches Maßsystem zu entwikkeln, das später von Firmin Didot auf der Basis des französischen Fußes verbessert wurde. Mit der Ausnahme Englands und seiner Kolonien fand das Didotsche System weithin Anerkennung. Es handelte sich um ein Duodezimal-System: 1 frz. Fuß = 12 Zoll 1 Zoll = 12 Linien 1 Linie = 12 Punkte 2 Punkte = 1 typographischer Punkt. Nach der Einführung des metrischen Systems im Zuge der französischen Revolution hatte Didot noch selbst vorgeschlagen, das Punktesystem zugunsten des Millimetersystems aufzugeben. Die beträchtlichen Kosten verhinderten jedoch eine abrupte Umstellung. Erst 187 9 konnte Hermann Berthold, der Begründer einer deutschen Schriftgießerdynastie, eine Angleichung des alten typographischen Systems an das metrische System vornehmen. Dabei gelten folgende Festlegungen (vgl. Abb. 13.6): 1 m = 2660 Punkte (bei 20° C) 1 frz. Fuß = 30 cm = 1 Typometer = 798 Punkte = 66 1 / 2 Cicero = 133 Nonpareille 1 mm = 2,66 Punkte 1 Punkt = 0,376065 mm 1 Cicero = 4,513 mm Dieses Bertholdsche System ist heute noch Bestandteil der DIN 16507 „Typographische Maße“. Allerdings ist dieses System mit dem auf dem angelsächsischen Zollsystem beruhenden inkompatibel; dort ist der PicaSchriftgrad, der ungefähr dem kontinentalen Cicerograd entspricht, durch 1 / 6 Inch (= 4,217 mm) definiert. Abb. 13.5: (nach Dußler & Kolling 1971, 12) Letter

212

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 13.6: (aus Aicher 2 1989, 231) Die gängigen Schriftgrade

Nach der Ablösung des Bleisatzes durch den Fotosatz erschien eine international gültige Vereinheitlichung des typographischen Maßsystems auf metrischer Basis noch dringlicher. Definiert man die Einheit Cicero/ Pica = 4,50 mm, dann ergibt sich folgende übersichtliche, leichter handhabbare Einteilung: 12 p = 4,50 mm 10 p = 3,75 mm

8 p = 3,00 mm 6 p = 2,25 mm 4 p = 1,50 mm 2 p = 0,75 mm 1 p = 0,375 mm Es liegt nun nahe, die 3 / 4 mm-Schritte der obigen Skala von Schriftgraden im Interesse einer feineren Differenzierung weiter zu unterteilen, z. B. auf Viertelmillimeterschritte (= 1 quart = q). Dieser Schritt wurde in der

13.  Typographie

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Abb. 13.7: (aus Aicher 2 1989, 232) Demonstration der Schriftgröße in p und q

neuen, elektronisch-optisch basierten Typographie vollzogen; das alte Punktsystem ist damit zugunsten des q-Systems aufgegeben. In der Gegenüberstellung sieht das Ergebnis wie in Abb. 13.7 aus. Gleichwohl ist es richtig (wie Aicher 2 1989, 332 vorschlägt), für die häufig verwendeten Schriftgrade der Lese- oder sog. Brotschriften (mit denen der frühere Setzer sein täglich Brot verdiente), die herkömmlichen, bzw. funktional angemessenen Namen zu verwenden. Nach Aicher hieße dies 7 9 10 11 12 13 14 15 18

qPerlschrift qNonpareille qTabellenschrift qLegendenschrift qPetit qkleine qgroße qKorpus qCicero

(Fußnotenschrift)

(Zeitungsschrift) Buchschrift Buchschrift (Foliantenschrift) (Titelschrift)

Im Zusammenhang mit einer feineren Differenzierung der Schriftgrade erhebt sich konsequenterweise auch die Frage, was denn genau mit einer Angabe wie 12 q (= 8 p) gemeint sein kann. Bezieht sich eine solche Angabe auf die Höhe des gesamten Schriftbilds (also Unter- + Mittel- + Oberlänge) oder ist dabei auch noch ein minimaler Durchschuß gemeint? Er wird benötigt, um das direkte Zusammenstoßen von Ober- und Unterlän-

genbuchstaben in zwei vertikal benachbarten Zeilen (= kompresser Satz) zu vermeiden. In der klassischen Bleisatztechnik war genau letzteres gemeint: Schriftgrad = Kegelstärke. Damit waren jedoch sowohl die jeweiligen vertikalen Abmessungen der Mittel-, Ober- und Unterlängen als auch die oberen und unteren „Achselflächen“ (= „eingebauter“ Durchschuß, Abb. 13.5) unbestimmt gelassen. Besonders hinsichtlich der Verteilung der Buchstabenbilder auf das Mittel-, Oberund Unterlängenfeld zeigen unsere historisch gewachsenen Schriftarten eine beträchtliche Variationsbreite. Eine genauere Betrachtung verschiedener Schriftarten zeigt, daß — statt eines herkömmlich für ausreichend gehaltenen Vierliniensystems — von einem Sechsliniensystem auszugehen ist (Abb. 13.8). Innerhalb eines solchen Sechsliniensystems können die Kenngrößen einer Schrift nach ihrem vertikalen Aufbau exakt bestimmt werden (Abb. 13.9). Ähnliches gilt für die horizontale Erstrekkung von Buchstabenformen, deren Kenngrößen die jeweilige maximale Bildbreite und die eingebauten Abstände zum vorhergehenden bzw. nachfolgenden Buchstaben sind. Daraus lassen sich Charakteristika wie „breit“ oder „schmal“ laufende Schrift oder „lichte“ bzw. komprimierte Schrift auf einer Skala festlegen. Mit diesen Kriterien lassen sich in der zeitgenössischen Typographie digitalisierte

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II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 13.8: (aus Aicher 2 1989, 237) Sechslinienschema

Abb. 13.9: (Dair 1967, 9) Kenngrößen einer Schrift nach ihrem vertikalen Aufbau

Schriften präziser entwerfen und realisieren und für den Setz- und weiteren Verarbeitungsprozeß genau kalkulierbar machen.

4.

Historisch-systematische Darstellung der Druckschriften seit Gutenberg

4.1. Gotische und Frakturschriften Gutenbergs Vorbild für den Schrifttyp seiner 42zeiligen Bibel (s. Abb. 13.10 sowie Abb. 14.7 auf Tafel XVI) war zweifellos die Schriftsorte, wie sie in hoch- und spätmittelalterlichen, meist religiös inspirierten Handschriften (z. B. in Missalen, Stundenbüchern u. ä.) bevorzugt verwendet wurde (s. Abb. 13.11 sowie Abb. 14.8 auf Tafel XVII). Diese klerikale Monumentalschrift zeichnet sich aus durch überbetonte Mittellängen, kräftige vertikale Strichstärken und die quasi „gebrochenen“ Übergänge der schrägen in vertikale Züge; daraus ergibt sich das gitterartige Aussehen einer mit dieser Schrift, Textura genannt, ge-

druckten Seite. Neben diesem Schrifttyp verwendete Gutenberg auch die in wesentlich kleinerem Schriftgrad gehaltene sogenannte Catholicon- Type (s. Abb. 13.12), die in ihrem Schnitt eine weniger sorgfältige Ausführung zeigt und textsortenfunktional eher als säkulare Gebrauchsschrift zu werten ist (das Catholicon ist eine volkstümliche Enzyklopädie des Johannes Balbus aus dem 13. Jahrhundert). Die Buchstabenformen zeigen Rundungen, die Schrift nähert sich dadurch der sogenannten Rundgotisch an. Dieser Schrifttyp findet sich in stilistisch ausgeprägter Form etwa in den Erzeugnissen des Augsburger Frühdruckers Günther Zainer (s. Abb. 13.13). Während diese Schriftarten in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in praktisch allen europäischen Druckorten zu finden waren, zeigten sich im 16. Jahrhundert im deutschsprachigen Bereich Sonderentwicklungen: aus einer Mischung zwischen rundgotischen und Texturamerkmalen entstand die sogenannte Schwabacher Schrift (s. Abb. 13.14) und aus dieser wiederum die typisch deutsche Frak-

13.  Typographie

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216

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 13.12: (aus Steinberg 1965, 21) Catholicon. Mainz 1460, Gutenberg

turschrift (s. Abb. 13.15), die bis 1941 die für den Druck deutschsprachiger Texte meist offiziell geförderte und kennzeichnende Schriftart war, cf. Johnson (197 0, 1—17 ) für eine kritische Diskussion verschiedener Klassifikationsversuche „gotischer“ bzw. von Frakturschriften. 4.2. Antiquaschriften Neben der Textura — der „Mönchsfraktur“ — und ihrer eher säkularen Schwester der Rundgotisch nahmen sich die Frühdrucker die litterae antiquae der Humanistenschreiber (die von diesen wiederum der karolingischen Minuskelschrift des frühen Mittelalters entnommen wurden, (→ Art. 12) des späten 14. und frühen 15. Jahrhunderts (z. B. Poggio, Sinibaldi u. a.) zum Vorbild für ihre ersten Versuche Antiqua-Druckschriften zu schaffen. Die erste Antiqua-Druckschrift findet sich bei dem Straßburger Drucker Adolf Rusch (spätestens 1467 ), nach ihm haben Johann von Speyer (de Spira) 1469, Christo-

Abb. 13.13: (aus Steinberg 1965, Tafel I) Jacobus de Voragine. Legenda aurea. Augsburg 1472, Günther Zainer

13.  Typographie

Abb. 13.14: (aus Steinberg 1965, 115) Gebetbuch Kaiser Maximilian. Augsburg 1514, Schönsperger

pherus Valdarfer 147 0 und vor allem Nicolas Jenson ab 147 0 in Venedig (die von ihm geschaffene Schrift wurde zum Vorbild für viele spätere Antiquaschnitte) Marksteine gesetzt (s. Abb. 13.16—13.17 ). (Zur neuesten Diskussion der Klassifikations- und Prioritätsproblematik frühester Druck-Antiquaschriften cf. Brekle 1993 a). Prototypisch war der Antiquaschrift die Textsorte antike Klassiker und dann die Werke der Humanisten zugeordnet. Letzteres zeigt sich besonders deutlich bei dem venezianischen Drucker und Verleger Aldus Manutius, der in Francesco Griffo aus Bologna einen erstklassigen Schriftentwerfer und Patrizenschneider zur Verfügung hatte. Griffos herausragende und auch später nicht mehr überholte Leistung zeigt sich am schönsten im Druck von Pietro Bembos De Aetna (1495) (s. Abb. 13.18 u. 13.18 a) oder in einem

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Abb. 13.15: (aus Steinberg 1965, 130) Rüxner, Turnierbuch. Frankfurt am Main 1566, Feyerabend

leicht veränderten Schnitt der Bembo-Type in Hypnerotomachia Poliphili (1499); beide Schriften dienten späteren Typographen bis ins 20. Jahrhundert (z. B. Stanley Morison) immer wieder als Quelle der Inspiration. Eine weitere epochemachende Leistung Griffos bestand in der Adaptation kursiver Handschriften der italienischen Humanistenschreiber an die technischen Erfordernisse einer kursiven Antiqua-Druckschrift (s. Abb. 13.19). Der ökonomische Vorteil dieser Schrift bestand in ihrem gedrängten Duktus („schmallaufend“), der es erlaubte, den Satzspiegel besonders wirtschaftlich auszunutzen. Zunächst wurde die Kursiv-Antiqua als Buchschrift für kostengünstige Klassikerausgaben verwendet; ihre Funktion als Auszeichnungsschrift übernahm sie konsequent erst ab dem 17 . Jahrhundert. (Zur Geschichte der Ent-

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II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 13.16: (aus Brekle 1993 b) Adolf Rusch (Type 103, spätestens 1467). Petrarca. De vita solitaria. Bl. 2. v., Straßburg (nicht nach 1473)

Abb. 13.17: (aus Brekle 1993 b) Nicolaus Jenson (Type 115 R). Eusebius, De praeparatione evangelica, Venedig 1470

13.  Typographie

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Abb. 13.18: (aus Mazal 1984, Abb. 123) Aldus Manutius. Petrus Bembus, De Aetna dialogus. Venedig 1495

Abb. 13.18 a: Nachdruck Verona 1970

wicklung der kursiven Druck-Antiquaschrift cf. z. B. Osley 1965 und Balsamo & Tinto 1967). Mit Aldus Manutius’ Erfolgen als Drucker und Verleger war die Verbreitung von Antiqua-Druckschriften — mit der Ausnahme deutschsprachiger Länder — in den folgenden Jahrhunderten gesichert. Für das Auge des Nichtfachmannes zeigen die Antiquaschriften (im engeren Sinne) der zurückliegenden vier Jahrhunderte nur wenige Veränderungen; her-

vorzuheben ist jedoch die Entscheidung, die Bodoni und Didot um die Mitte des 18. Jahrhunderts getroffen haben, indem sie nach dem Vorbild der mit besonders feinen Haarstrichen versehenen Antiquavarianten der Kupferstecher — diese Tiefdrucktechnik machte ganz feine Linienführungen möglich — die sogenannte jüngere oder klassizistische Antiqua-Druckschrift schufen. Diese Antiquaart zeichnet sich durch betonte Unterschiede zwischen Haar- und Schattenstrichen und durch die haarfeinen horizontal angesetzten Serifen aus (s. Abb. 13.20). Otl Aichers engagiert geschriebenes Typographie-Handbuch bietet eine knappe Übersicht über die wichtigsten Spielarten der Antiqua-Druckschriften der letzten vier Jahrhunderte (s. Abb. 13.21). Im Zuge der beginnenden Industrialisierung entstanden in England in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts serifenlose Antiquaschriften (im weiteren Sinne), die den bisherigen Kanon der klassischen und klassizistischen Antiquaschriften verlassen. Diese neue — oft nur Sans (serif), oder merkwürdigerweise auch Grotesk genannte — Schrift nimmt hinsichtlich ihrer Merkmale Serifenlosigkeit und gleiche Strichstärken die Merkmale der archaischen und klassischen griechi-

220

Abb. 13.19: (aus Steinberg 1961, 109) Aldus Manutius. Vergil, Aeneis, Venedig 1521

Abb. 13.20: (aus Steinberg 1961, Tafel IX) Pierre Didot. Horaz, Paris 1799

schen Monumentalschrift (6. bis 4. Jh. v.

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Chr.) wieder auf (→ Art. 12). Für England charakteristisch sind die Entwürfe von Eric Gill und Edward Johnston. Unter den kontinentalen Schöpfern von sogenannten Groteskschriften verdienen Paul Renner (1928) und Adrian Frutiger (1957 ) besondere Beachtung. Die Auswahl von Groteskschriften auf Abb. 13.22 stammt aus Aicher 2 1989, 169. Hervorhebenswert ist Aichers eigener Versuch, mit seiner Rotis, die er selbst als SemiAntiqua klassifiziert, eine Verschmelzung von klassischer Antiqua und Groteskschrift hinsichtlich des Merkmals wechselnder Strichstärken zu erreichen. Auf einen weiteren Schriftmischungstyp zwischen Antiqua und Grotesk sei noch hingewiesen: die sogenannte Egyptienne. Ihr Kennzeichen in reiner Ausprägung ist grundsätzlich gleiche Strichstärken plus Serifen (Abb. 13.23). Daneben gibt es unterschiedliche Mischungsverhältnisse zwischen klassischen, klassizistischen und Groteskschriften, ihr Zweck liegt hauptsächlich in der guten Lesbarkeit und guten drucktechnischen Verarbeitbarkeit. Prototyp ist z. B. die ClarendonSchrift aus der Mitte des 19. Jahrhunderts (Abb. 13.24). Ein Beispiel für eine Dekorationsschrift auf Egyptiennebasis sei hier vorgestellt; diese Italienne genannte Schrift ist „gekennzeichnet durch eine Überbetonung sekundärer, ornamentaler Merkmale“ (Nerdinger 1954, 112), d. h. die rechteckig angesetzten fetten Serifen und die überschlanken Buchstabenkörper zeigen rein dekorative Absichten (Abb. 13.25; man assoziiert sofort US-amerikanische Etablissements). Es kann nicht Aufgabe dieses Übersichtsartikels sein, die fast nicht mehr übersehbare, geschweige denn vernünftig klassifizierbare Vielfalt von mehr oder weniger künstlerischen Auszeichnungs-, Titel- oder Dekorationsschriften, die meist in kurzlebige Zeitstile eingebunden sind, einigermaßen detailliert darzustellen bzw. zu diskutieren. Statt dessen wird auf einschlägige Schriftmusterbücher verwiesen (z. B. Nerdinger 1954, Tschichold 2 1965, Gottschall 1989 und — was neueste Schriftentwicklungen anlangt — auf den typographischen Jahreskalender, der seit einigen Jahren von SchumacherGebler, München herausgebracht wird).

13.  Typographie

221

Abb. 13.21: (aus Aicher 2 1989, 177) Repräsentative Druckantiqua-Schnitte der letzten vier Jahrhunderte

5.

Typographie als Gestaltungsprozeß

Ziel dieses Abschnitts ist es, zuerst einige allgemeine Bedingungen und Kriterien für typographische Gestaltungsprozesse und der kognitiven Verarbeitung deren Ergebnisse vorzustellen. Im weiteren werden daraus Minimalstandards für die Typographie des Buches als dem kulturgeschichtlich wichtigsten Typus der Repräsentation von Texten abgeleitet. Auf die Darstellung der typographischen und werbepsychologischen Bedingungen und Möglichkeiten von sogenannten Akzidenzdrucksachen (Anzeigen, Prospekte etc.) wird hier bewußt verzichtet. „typographie [als Verarbeitungsprozeß von

Schrift und dessen Ergebnis] ist ein optimierungsvorgang, sowohl was die schriftqualität an sich als auch was die anordnung von schriften, ihre darbietung, betrifft.“ (Aicher 2 1989, 133) Aicher betont hier, wie an vielen anderen Stellen seines opus magnum , die Forderung, daß Schriftqualität und die Anordnung von Schriftzeilen auf einer Seite funktional von der Aufnahme- und Verarbeitungskapazität des gesamten visuellen Wahrnehmungssystems des Menschen — und das heißt auch dessen Ökonomie — abhängig zu sehen ist. Bei der Schriftqualität kommt es nicht so sehr auf die formale Schönheit einzelner Buchstabenformen an (z. B. die Versalformen einer klassischen Antiqua) als vielmehr auf die Lesequalität einer Schrift, die sich in der

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II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 13.22: (aus Aicher 2 1989, 169) Repräsentative Grotesk-Schnitte des 20. Jahrhunderts

Abb. 13.23: (aus Gottschall 1989, 98) 1974/ITC Lubalin Graph von Herb Lubalin, USA/ITC

anstrengungsfreien Wahrnehmung und weiteren kognitiven Verarbeitung von Buchstaben- und Wortfolgen zeigt. Ihre Gebrauchsqualität müssen Druckschriften vor allem in den „Brotschriftgraden“ (7 Punkt bis max. 12 Punkt) beweisen. Dem menschlichen Auge

Abb. 13.24: Moderner Schnitt einer Schrift vom Clarendon-Typ

macht es bekanntlich Mühe, in kleineren Schriftgraden gedruckte Texte (6 Punkt oder noch kleiner) zu lesen — das berüchtigte Kleingedruckte wird ungern gelesen (soll es ja eigentlich auch nicht); Texte in größeren Schriftgraden (12—14 Punkt und darüber)

13.  Typographie

Abb. 13.25: (aus Nerdinger 1954, 112) Italienne

verhindern den schnellen Lesefluß. Dasselbe gilt auch für Schriften, die keine hinreichend differenzierte Textur, d. h. günstige Verteilung von Mittel-, Ober- und Unterlängen und Dicktenproportionen aufweisen; eine in dieser Hinsicht zu homogene Schrift (z. B. Versalienzeilen) wird nur mühselig gelesen, eigentlich muß sie Buchstabe für Buchstabe entziffert werden. Seit der Spätantike haben sich folgende lesefunktional begründete orthographische bzw. typographische Konventionen bzw. Funktionseinheiten herausgebildet, die seit der Erfindung Gutenbergs auch gedruckte Texte lesefreundlich gliedern: — Einzelbuchstabe als minimale differente Funktionseinheit — Wortform, von den umgebenden Wortformen durch Zwischenräume („blanks“) getrennt, dadurch optisch isoliert — Satzteil, je nach orthographischer Konvention durch Interpunktionszeichen (Komma, Semicolon, Colon) markiert — Satz, durch Punkt vom nächsten Satz getrennt — Absatz/Paragraph, inhaltlich geschlossener Textteil; durch auslaufende Zeile und eingezogene erste Zeile des nächsten Absatzes markiert — Kapitel, größere Texteinheit; durch eigene Überschrift gekennzeichnet. Aus der im westlichen Kulturraum geltenden Lese- und Schreibrichtung (von links nach rechts = dextrograd) ergibt sich als typographische Minimalregel: — die Zeilen eines Textes sollen grundsätzlich linksbündig angeordnet sein; das lesende Auge braucht je Zeile denselben Anfangspunkt. Nach rechts laufen handschriftliche Zeilen

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natürlicherweise frei aus (wie auf der klassischen Schreibmaschine). Für den sich daraus ergebenden gezackten rechten Rand eines Textes hat sich der Terminus Flattersatz eingebürgert. Neuerdings spricht man auch von Rauhsatz, wenn durch geschickte Wahl von Worttrennungen der gezackte rechte Auslauf von Zeilen minimiert wird. Schon die Frühdrucker — inklusive Gutenberg — strebten jedoch links- u n d rechtsbündig abgeschlossene Zeilen an; dies war erreichbar durch die Verwendung von Abkürzungsformen von Wörtern, durch variable „Orthographien“ von Wörtern (wie im 16. Jahrhundert, cf. Brekle 1964) und/oder durch variable Wortzwischenräume; letzteres ist heute die Regel. Die Kunst des Handsetzers bestand früher darin, das Verfahren der variablen Wortzwischenräume quasi unmerklich anzuwenden, d. h. optisch sollten die Wortzwischenräume auf einer Druckseite als gleich erscheinen. Es durften keine störenden weißen Flecken oder gar vertikal über Zeilen hinweg weiße „Gießbächlein“ auftreten. Das Ideal war Homogenität; dem lesenden Auge sollte ein gleichmäßiger Informationsfluß — von ihm allerdings in Sakkaden verarbeitet (→ Art. 81) — dargeboten werden (cf. Aicher 2 1989, 140 ff). 5.1. Schriftart, Schriftgröße, Durchschuß, Zeilenlänge, Satzspiegel Für die gute Lesbarkeit eines Textes grundlegend wichtig ist es, diese fünf interdependenten Faktoren in ein optisch richtiges Gleichgewicht zueinander zu bringen. Am einfachsten erscheint heute die Wahl der Schriftart; dies deshalb, weil wir die Versuche und Erfahrungen einer gut 400jährigen Geschichte der Entwicklung von Druckschriften vor Augen haben. Für die Schrift eines Buches kommt heute eigentlich nur eine klassische oder klassizistische Antiqua oder eine der vielen — mehr oder weniger geglückten — Mischungen aus beiden infrage (s. o. unter 4.). Die Wahl der Schriftgröße ist abhängig vom Seitenformat und Satzspiegel; bei normalen Formaten (ca. DIN A 5) wird der Schriftgrad zwischen 8 p und 10 p liegen. Die Entscheidung darüber hängt meist von ökonomischen Kriterien ab, d. h. auf einem großen Satzspiegel (= schmale weiße Ränder auf dem Seitenformat) und mit einer 8 p-Schrift läßt sich mehr Text unterbringen (Typus Taschenbuch) als im gegenteiligen Fall. Schon

224

die spätgotischen Schreiber beschäftigte das Problem des „Formatmachens“; sie wollten ideale, ästhetisch befriedigende Proportionen für Seitenformat und Satzspiegel ermitteln (cf. Dußler & Kolling 197 1, 45 f). Einer der bekannteren Typographen aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, Jan Tschichold, der der Bauhaus-Bewegung angehörte, rekonstruierte einen Kanon der spätgotischen Buchseiteneinteilung. Bei einer Seitenproportion von 2:3 ist die Höhe des Schriftfeldes gleich der Seitenbreite; daraus ergibt sich eine Proportionsgleichheit von Papierseite und Satzspiegel und ein Randverhältnis von 2:3:4:6 (s. Abb. 13.26). Für den heutigen Verleger erscheint ein solches Verhältnis von Papierformat und Satzspiegel als (zu) großzügig; meist bewegen sich in anspruchsvolleren Büchern die Randverhältnisse im Bereich von 2:3:4:5 (von innen im (Gegen)Uhrzeigersinn nach unten) oder darunter (cf. auch Renner 1948, 45 ff). Entspricht das Seitenformat eines Buches nicht der Proportion des Goldenen Schnittes

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

(dadurch definiert sich die A-Reihe der DINFormate) oder wird — wie häufig im Falle von Zeitschriften — ein großes Format gewählt (ca. DIN A 4 oder größer), dann tritt grundsätzlich das Problem der zu langen Zeilen auf. „Zu lang“ heißt, daß der Leser Gefahr läuft, den Anschluß an die nächste Zeile zu verpassen. Die Lösung besteht seit alters her (cf. z. B. die zweispaltig gesetzte 42zeilige Bibel Gutenbergs) darin, daß der massive Textblock einer Seite in zwei oder mehr Spalten aufgeteilt wird. Konkret heißt dies, daß die lesefreundliche Zeilenlänge 8—10 cm nicht überschreiten sollte; die Spaltenbreite wiederum sollte 4—5 cm nicht unterschreiten. (Cf. die feinsinnigen Ausführungen über „Zeilen und Spalten“ in Aicher 2 1989, 149—151). Die Frage der Durchschußhöhe (Zeilenzwischenraum) regelt sich wiederum nach Kriterien der Lesefreundlichkeit. Die einzelne Zeile muß in ihrem Verlauf ohne störende Interferenzen nach oben oder unten im Fokus des Sehstrahls liegen. Ist der Durchschuß zu gering (oder gleich Null) drängen die obere

Abb. 13.26: (Dußler & Kolling 1971, 45) Spätmittelalterlicher Buchseitenkanon (rekonstruiert von Jan Tschichold)

13.  Typographie

und untere Zeile ins Blickfeld; ist er zu groß, hat das Auge Schwierigkeiten, die nächste Zeile schnell und sicher zu erkennen. Als Regel kann gelten: bei 8p sollte 1—2p Durchschuß gegeben werden, bei 9 oder 10p sollten es 2—3p sein. Ein optisches Kriterium ist, daß bei unscharfem Hinsehen eine Druckseite einen homogenen mittelgrauen Eindruck machen sollte; weiße Flecken oder horizontale weiße Streifen zwischen den Zeilen sollten nicht auftreten. Damit ist auch die Frage angeschnitten, ob Absätze in einem Text durch eine oder eine halbe Leerzeile voneinander getrennt werden sollten. Die Antwort der klassischen und modernen Typographie ist: Nein! Die Gründe dafür liegen in dem gestörten optischen Erscheinungsbild einer Seite bzw. in dem gestörten Lesefluß; dazu kommt bei der Wahl einer halben Leerzeile, daß dadurch der Grundraster einer Seite zerstört würde. Anders gesagt, die Zeilen auf der Vorder- und Rückseite würden nicht mehr „Register halten“ (sich nicht mehr genau decken); ein Fehler, der heute mehr und mehr um sich greift. Die typographisch korrekte Art, Absätze im Text zu kennzeichnen, besteht darin, daß man die erste Zeile eines neuen Absatzes mit einem „Einzug“ (1—2 Gevierte) beginnen läßt. Eine andere Sachlage ist beim Beginn eines neuen Kapitels bzw. Unterkapitels mit eigener Überschrift gegeben. Hier wählt man zur Kennzeichnung normalerweise im Falle eines Kapitelbeginns eine neue Seite, im Falle eines Unterkapitels eine oder zwei Leerzeilen. Das Auge bzw. der Leser kann sich so auf die jeweils neue Materie einstellen bzw. die Lektüre unterbrechen. Für ein inhaltlich stärker strukturiertes Werk erscheint ein weiteres Gliederungsmittel oft angebracht: der Seiten- oder Kolumnentitel. Seine Aufgabe besteht darin, den Leser auf jeder Seite darüber zu informieren, in welchen Kapitel oder Unterkapitel er sich gerade befindet. Damit ist auch schon gesagt, daß eigentlich nur sogenannte „lebende“ Kolumnentitel lesefunktional sinnvoll sind; „tote“ Kolumnentitel würden nur die Seitenzahlen zeigen. Satztechnisch gesehen werden Kolumnentitel am zweckmäßigsten am Kopf der Seite mittig oder im Wechsel, je nach linker oder rechter Seite, links- oder rechtsbündig neben der Seitenzahl, durch eine Leerzeile vom Text getrennt, untergebracht. Für weitere satztechnische Feinheiten bei der typographischen Gestaltung eines Buches wird auf eines der klassischen Handbücher,

225

z. B. Renner (1948, 45—97 ) oder auf Luidl (1984), Siemoneit (1989) verwiesen. Bei Renner findet sich auch ein reichhaltiges Verzeichnis der typographischen Fachterminologie (221—274). 5.2. Typographie des Buchtitels Wie früher bei Manuskriptcodices übernahm anfänglich mit wenigen Ausnahmen (cf. Steinberg ( 2 1961, 165 ff), wo auch die Geschichte der Paginierung von Büchern skizziert wird) das Kolophon (letzte Druckseite eines frühen Buches) oder teilweise auch das Incipit (Anfang des Buchtexts) die Funktion der heutigen Titelseite. Neben einer Angabe zum Inhalt und Autor des Werkes (nicht immer) finden sich im Kolophon normalerweise Angaben über den Drucker, der Druckort und das Datum der Vollendung des Drucks. Wie Steinberg ( 2 1961, 169) vermutet, hatten die frühen Titelseiten wohl eher die Funktion des heutigen sogenannten Schmutztitels; d. h. der eigentliche Textbeginn eines Buches sollte — bevor die bedruckten Bogen eines Buches zum Buchbinder gelangten — so vor dem Verschmutzen bewahrt werden. (Cf. Giesecke 1991, 323 ff und 420 ff zur weiteren Funktion der Titelei). Ab ca. 1500 erscheinen regelmäßig echte Titelseiten — oft mit Bordüren, Bildschmuck und Drucker-/Verlegersignet — die manchmal den Titeltext in abnehmenden Schriftgrößen und in verschiedenen geometrischen Umrissen (Kegel, Rhombus, Kreis etc.) anordnen. Im 17 . Jahrhundert erscheinen häufiger in Kupfer gestochene Titelseiten, bei denen der Text hinter oft reichen, neoklassischen oder barocken Darstellungen zurücktritt. Im 18. Jahrhundert werden Titelseiten wieder mehr und mehr mit rein typographischen Mitteln eher zurückhaltend gestaltet; Vorbilder sind hier Didot und Bodoni. Im 19. Jahrhundert sind die Titelseiten oft mit Text überladen (Motto, Inhaltsangaben etc.). Im ausgehenden 19. und weit ins 20. Jahrhundert hinein bilden sich vor allem epigonale (z. B. William Morris in England) oder neue Stilrichtungen (vor allem Jugendstil, art deco und Bauhaus) im Erscheinungsbild von Titelseiten ab. (Für Details zur typographischen Geschichte der Titelseite cf. de Vinne 197 2, Johnson 197 0, 288—297 ; Steinberg 2 1961, 165— 175.) Für die Typographie der Titelseite heute stellen sich folgende Fragen: (a) Anordnung der wenigen Titelzeilen auf Mittelachse oder asymmetrische Anordnung (linksoder

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

226

rechtsbündig)? (b) Welche Schriftart bzw. welche Schriftgröße und Auszeichnungsqualität einer Schrift soll gewählt werden? Die klassische Antwort auf die erste Frage lautete vom 16. bis weit ins 20. Jahrhundert hinein: Mittelachse, d. h. ein Buch wurde als Monument verstanden, deshalb konnte die Architektur der Titelseite nur monumentalgeometrisch sein. Die Monumentalitätsauffassung bildete sich oft auch noch in der Antwort auf die zweite Frage ab: man wählte für die Haupttitelzeile einen möglichst großen Schriftgrad, und zwar in Versalien. Ein bedeutender Typograph unserer Zeit kritisiert dieses Streben nach Monumentalität mit harschen Worten: wer nach der römischen kapitalis, wer nach mittelachse und versalien greift, enthüllt, daß er ein demonstrationsbedürfnis zu befriedigen hat, um ein inneres vakuum zu verdecken ... symmetrie ist zur struktur der macht geworden [z. B. in der Architektur, in der Schlachtordnung, im Altaraufbau etc.] (Aicher 2 1989, 91).

Die alternative Antwort auf beide Fragen lautet heute bei einflußreichen Verlagen zunehmend: linksbündige, also vertikalaxial asymmetrische, Verteilung der Zeilen einer Titelseite. Bis auf den Haupttitel des Werkes, der normalerweise in einem größeren Schriftgrad (jedoch nicht in Versalien) erscheint, wird der Brotschriftgrad des Buchtextes verwendet (am stärksten nimmt sich die Titelseitentypographie (eine „tipografia povera“) der dtv-Taschenbücher zurück). Die Titelseite eines benutzerfreundlichen Buches sollte folgende Informationen in dieser Reihenfolge enthalten: — vollständiger Name des Autors/Autoren — Titel des Werks (gegebenenfalls Untertitel) — gegebenenfalls Verlagssignet — Publikationsjahr — Verlag und Publikationsort Die gesamte Titelei (= „front matter“ im Gegensatz zu „back matter“ (Bibliographie, Register)) besteht aus folgenden Teilen: — Schmutztitel (abgekürzte Fassung des Haupttitels — Haupttitel — Copyrightangaben (im Falle einer Übersetzung mit Originaltitel und Name des Übersetzers, Impressum; auf Rückseite des Haupttitels) — Widmung — Inhaltsverzeichnis — Vorwort Bis

auf

die

Copyrightangaben

erscheint

jede Seite der Titelei als rechte Seite. Früher noch mehr als heute war die Titelseite eines Buches — von der Gestaltung des Einbandes oder Schutzumschlages, die meist aus werbepsychologischen Gesichtspunkten erfolgt, einmal ganz abgesehen — der Tummelplatz für typographische Spielereien oder aber auch der Raum für ernsthafte künstlerische Bemühungen. Heute unterscheidet man jedoch mehr und mehr Typographie als einen lesefunktional gesteuerten Optimierungsprozeß des Umgehens mit Textzeilen im weißen Raum einer Seite von der sogenannten Typokunst, in der Buchstabenformen nur noch „als graphisches material, als formaler steinbruch für zeichen und strukturen in schwarz und weiß“ (Aicher 2 1989, 118) verwendet werden. Typographisches und künstlerisches Bestreben im strengen Sinne schließen sich gegenseitig eigentlich aus. Kunst dient der ästhetischen Sinnvermittlung; Typographie soll Texte gut lesbar und verständlich erscheinen lassen.

6.

Literatur

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13.  Typographie

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Herbert E. Brekle, Regensburg (Deutschland)

228

14. 1. 2. 3. 4. 5.

1.

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Kalligraphie Einleitung Europäische Kalligraphie Arabische Kalligraphie Fernöstliche Kalligraphie Literatur

Einleitung

Die Schrift ist eine der großartigsten Erfindungen des Menschen. Sie ist kein Geschenk der Götter, keine geheimnisvolle, mystische Schöpfung, auch keine Erfindung des Menschen im Bereich des Sakralen oder Kultischen, sondern eine ganz praktische Erfindung im Alltag der Wirtschaft und Verwaltung. Mit der Schrift hat sich der Mensch ein visuelles Hilfsmittel geschaffen, um Gedanken und Sprache zu fixieren und um diese später an einem anderen Ort für andere Personen verfügbar zu machen. Schrift ist ein Kommunikationsmittel, das über Raum und Zeit wirksam ist. Aber Schrift wird nicht nur gelesen; kein Buchstabe, kein Wort, keine Zeile wird neutral gestaltet. Jede Form bewirkt im Leser auch Emotionen. Jede Mitteilung des Menschen mit Hilfe der Schrift, ob mit der Hand geschrieben oder von der Maschine gedruckt, vermittelt an den Leser auch einen ästhetischen Eindruck. Albert Kapr konstatiert: „Gegenstand einer Ästhetik der Schriftkunst sind diejenigen Prozesse, Erscheinungen und Wirkungsweisen, unter denen das kommunikative Medium Schrift in Einheit mit seiner semantischen Aufgabe auch eine ästhetische Funktion übernimmt. Schrift wird zur Schriftkunst, wenn sie in meisterlicher Form Lesbarkeit, Schönheit und Ausdruckskraft vereint. Ästhetisches Interesse verdienen darüber hinaus alle Ausdrucksformen der Schrift, da sie sämtliche — auch wenn vom Schreiber oder Schriftenhersteller nicht geplant — ästhetische Gefühle evozieren. Es ist die Hauptaufgabe der Ästhetik, die grundlegenden Methoden einer Aneignung der Welt nach den Gesetzen der Schönheit zu untersuchen, zu definieren und für die weitere ästhetische Veränderung der Wirklichkeit zu nutzen. Dies gilt ebenso für die Schriftkunst“ (Kapr 1977, 9). Dem ästhetischen Aspekt der Schrift ist von seiten der Wissenschaften bisher wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht worden.

Der große Schriftkenner Jan Tschichold bedauert zu Recht: „Eine Weltgeschichte der Kunst der letzten beiden Jahrtausende, die der schönen Schrift den Rang einer Kunst einräumt, ist noch ungeschrieben.“ (Tschichold 1949, 5). Die Paläographie, die Lehre von den Schriftarten der Antike und des Mittelalters, gilt lediglich als Hilfswissenschaft der Geschichtsforschung. Für die Paläographen sind die alten Schriften nur historische Dokumente, die zu entziffern, zu datieren und zu lokalisieren sind. Bernhard Bischoff, der feinsinnige und kluge Vertreter seiner Zunft, gesteht: „Wie der Trieb zur Kalligraphie, das schöpferische Prinzip, harmonische Schrift hervorzubringen, tätig wurde, wenn das Ziel erkannt war, davon wissen wir noch sehr wenig; aber wir können die Ergebnisse, die großen Stilformen, eine Luxeuil-Minuskel oder eine northumbrische Halbunziale nur bewundern.“ (Bischoff 1981, 9). Bischoff war auf der Spur, in das Wesen der Schreibkunst einzudringen. In der Schriftkunde unterscheidet man schon sehr früh zwischen einer bewußt schön geschriebenen Buchschrift, einer stilisierten Urkundenschrift und einer schnell und flüchtig hingesetzten Geschäftsschrift. In sehr vielen Schriftkulturen bemühten sich die Menschen seit langer Zeit schon um eine künstlerische Gestaltung der Schrift. Bereits in Keilschrift gibt es Steininschriften aus dem 3. Jahrtausend, die eine sorgfältige Gestaltung aufweisen und eines ästhetischen Reizes nicht entbehren (→ Art. 18, 35). Die Schrift der alten Ägypter fasziniert die Menschen bis heute (→ Art. 19, 34). Seit Jahrtausenden ist der Mensch bemüht, mit Hilfe einer ausgesuchten Schriftform dem Inhalt des Geschriebenen ein besonderes Gesicht zu verleihen. Inmitten unseres technischen Zeitalters läßt doch noch manche Stadt bei außergewöhnlichen Anlässen Urkunden von einem Kalligraphen schreiben, und die Bundesregierung in Bonn beschäftigt einen Bundeskalligraphen. „Schrift ist also nicht nur eine Hülle für das Bedeutete, für den Text, den man schreibt oder liest. Sie ist ebenso Form und Zeichen mit einer eigenen ästhetischen Aussage, und diese bildhafte Aussage ästhetisch zu organisieren, dies ist das Wesen der Kalligraphie“ (Kapr 1988, 7 f). Dem Begriff Kalligraphie zugrunde liegt das Griechische kallos graphein „schön schrei-

14.  Kalligraphie

ben“. „Die Schönheit der Schrift ist kein absoluter Wert, sondern subjektiv und veränderlich. Nicht jede Schriftform gilt allgemein und dauernd als schön. Das ist ganz natürlich, denn auch die Kriterien sind subjektiv und von den Wandlungen des Stilgefühls oder Zeitgeschmacks abhängig. Nichtsdestoweniger gibt es viele Schriftarten, deren überpersönliche und überzeitliche Schönheit nicht angezweifelt werden kann, auch wenn es sich um Formen handelt, deren Ursprung zeitlich oder geographisch in weiter Ferne liegt. Einen hohen ästhetischen Genuß vermitteln uns beispielsweise nach wie vor gewisse altrömische Schriften, aber wir können von der Schönheit der Schriften so mancher uns völlig fremder Kulturbereiche ebenso stark beeindruckt sein. Wir zögern nicht, verschiedene orientalische Schriften, die die meisten von uns gar nicht lesen können, als schön zu bezeichnen. Das ist eine sehr bedeutsame Tatsache, denn aus ihr geht hervor, daß eigentlich nur die Form und kein anderer Aspekt der Schrift von diesem Blickpunkt her für uns entscheidend ist. Und da es sich hierbei um einen visuellen, sinnlichen Genuß handelt, ist es demnach das Künstlerische dieser Form, sind es ihre spezifischen bildkünstlerischen Werte, die wir an der Schrift so schätzen. Daß eine Wertung der Schrift nach solchen künstlerischen Maßstäben durchaus berechtigt ist, kann auch mit der engen Beziehung der Schrift und Schriftkunst zu den bildenden Künsten begründet werden.“ (Muzika 1965, Bd. 1, S. 19). Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Kalligraphie richtet sich also auf die künstlerische Qualität der Schriftzeichen. Hervorragende Beispiele schöner und künstlerisch guter Schriftwerke können in vielen Schriftkulturen beobachtet werden. Es gibt aber drei große Kulturkreise, in denen die Schrift außergewöhnliche Formen der künstlerischen Gestaltung erfahren hat. Da ist an erster Stelle China zu nennen; noch heute muß jedes japanische Schulkind bis zur 9. Klasse 2000 chinesische Schriftzeichen lernen und ebenso das künstlerische Schreiben mit dem Pinsel. In Ostasien gilt heute noch die Schriftkunst als die Königin der Künste. Dann ist da die arabische Schrift, die in dem weiten Raum von Spanien und Marokko bis nach Indien in eine islamische Schriftkunst von märchenhafter Schönheit verwandelt wurde. Der dritte Kreis ist der unserer westlichen, europäischen Schreibkunst, die von der griechischen Antike bis heute ein phantastisches Szenarium der Kalligraphie ge-

229

schaffen hat. Wenn daher in diesem Beitrag der Schwerpunkt auf eine historisch orientierte Kennzeichnung der Entwicklung in Europa gelegt wird (Zf. 2.), so soll aber keineswegs der Eindruck entstehen, daß die europäische Kalligraphie höherwertiger eingeschätzt wird als die arabische und fernöstliche.

2.

Europäische Kalligraphie

2.1. Griechische und lateinische Kalligraphie der Antike Das griechische Alphabet ist die Mutter aller europäischen Schriften. Die Griechen hatten im 9., vielleicht schon im 10. Jahrhundert v. Chr. von den Phöniziern das nordwestsemitische Konsonantenalphabet übernommen (→ Art. 12, 25). Aus diesen fremden Schriftzeichen entwickelten sie das erste europäische Alphabet mit 24 Lautzeichen (Konsonanten und Vokale). Die Kunst des Schreibens wurde von den Griechen sicherlich schon in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts gepflegt. Papyrus- und Lederrollen mit griechischer Schrift sind uns aus den frühen Jahrhunderten leider nicht überliefert. Wie gern wüßten wir, wie die Handschrift mit Homers Odyssee aussah, oder in welcher Schriftform die athenische Staatshandschrift mit den Tragödien von Aischylos und Sophokles geschrieben war? Die ästhetische Entwicklung der griechischen Schrift können wir in der Frühzeit nur anhand von Schriftspuren auf Ton und in Stein verfolgen. Die Inschrift auf der Dipylonkanne aus Athen des 8. Jahrhunderts v. Chr. ist in rohen Formen in den gebrannten Ton geritzt. Die Schrift läuft noch von rechts nach links und mancher Buchstabe erinnert an das Phönizische. Im alten Töpferviertel von Korinth wurde die Scherbe eines großen Tongefäßes aus dem späten 8. Jahrhundert gefunden, deren Inschrift ein herausragendes Dokument für die griechische Schriftgeschichte darstellt. Die großen Buchstaben stehen sorgfältig eingeritzt einer nach dem anderen zwischen zwei Linien. Diese fast gleichmäßig aufgereihten hellen Buchstaben auf dunklem Grund bildeten sicherlich ein reizvolles Schriftdekor auf dem Gefäß. Seider spricht geradezu von einer „Schönschrift“, von „Scherben mit der schönen Buchschrift“ (Seider 1990, Bd. III, 1, S. 38). In Korinth hatte die griechische Schreibkunst bereits äußerst früh eine erstaunliche Höhe erreicht. Man kann nur ver-

230

muten, daß auch korinthische Bücher des frühen 7 . Jahrhunderts, also Leder- oder Papyrusrollen, zuweilen in bewußt kalligraphischer Form geschrieben wurden. In den schönen, buchschriftartigen Nameninschriften auf den Tonscherben sieht Seider (1990, Bd. III, 1, S. 108) schon „die Anfänge einer eigenständigen, typisch korinthischen Schreiberschule“. Für die archaische Frühzeit Griechenlands ist das ein herausragend ästhetisches Phänomen. Auch als Steininschriften sind uns einige schöne frühe Arbeiten griechischer Schriftkunst überliefert. Aus dem späten 6. Jahrhundert v. Chr. stammt ein Steinblock mit dem Opferkalender aus dem Delphinion von Milet. Mit Hilfe waagrecht eingeritzter Zeilenlinien wurde eine gleichmäßige Buchstabenhöhe erreicht. In gut abgewogenen Abständen stehen die streng geometrisch gezeichneten Buchstabenbilder des griechischen Alphabets (Seider, 1990, Bd. III, 1, S. 59). Die unbeherrschten, wild überzeichneten Schriftformen des archaischen 8. Jahrhunderts sind jetzt gebändigt, von einem Bestreben nach Gleichmäßigkeit der Buchstaben und Ausgewogenheit der Zeile geprägt. Ein Höchstmaß an Schönheit griechischer Schriftdenkmäler ziert in Athen die Marmorplatte mit dem Volksbeschluß für Oiniades aus Palaiskiathos vom Jahre 408/7 v. Chr. (Seider 1990, Bd. III, 1, S. 61). Eine so regelmäßige Anordnung aller Buchstaben auf der Marmorfläche erzielte man damit, daß zuerst ein Schachbrettmuster aufgezeichnet wurde. Damit erhielten die Buchstaben in absolut gleichem Abstand horizontal und vertikal ihren Raum zugewiesen. Ein doppelliniges Schachbrettmuster war die Hilfskonstruktion für eine gleichmäßige Buchstabenhöhe und für die gleichen Zwischenräume zwischen den Buchstaben. Waagrecht und senkrecht stehen die Buchstaben streng auf Linie ausgerichtet und bilden ein Schriftbild von geometrischer Brillanz. Diese Ästhetik ist Ausdruck griechischen Denkens von mathematischer Klarheit und technischer Prägnanz. In Attika wurden Buchstabenformen nach geometrischen Gesetzen geschaffen, ihre Elemente sind senkrechte, waagrechte und diagonale Linien, rechtwinkelig im Aufbau, weiterhin reine Kreisbögen und die Gleichseitigkeit des Dreiecks (→ Art. 12). Apollonius aus Messeme berichtet über die alten Buchstaben, daß er gehört habe, Pythagoras habe sich um die Schönheit der Schrift bemüht, indem er die Buchstaben gemäß den Figuren der Geometrie zusammengesetzt

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

habe aus Winkeln, geraden und runden Linien (Dionysios Thrax, 1901, 183 f). Jenes systematisch mathematische Denken der Griechen, das die erste reine Lautschrift entwikkelte, freute sich an der sichtbaren Mathematik der Ausformung der einzelnen Buchstaben des Alphabets wie an der Gestaltung von Schriftkunstwerken auf Ton, in Stein, auf Leder und Papyrus. Bei Betrachtung der Schriftgeschichte sieht man einen Bogen gespannt vom griechischen Formenprinzip der Schriftgestaltung bis zu den Schöpfungen von Druckschriften im 20. Jahrhundert: Das konstruktive Prinzip dominiert in Schriften wie Futura, Kabel, Univers. Erst aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. sind uns die ältesten griechischen Handschriften auf Papyrus überliefert. Die handgeschriebenen Buchrollen früherer Jahrhunderte zeigten wahrscheinlich ähnliche ästhetische Formen wie die zeitgleichen Schriftdenkmäler des Inschriftenstils auf Ton und auf Stein. Die griechische Schrift war eine reine Majuskelschrift. In den literarischen Papyrusrollen waren sicherlich Qualitätsunterschiede zu erkennen. Die sorgfältig geschriebene Prachtschrift war bestimmt selten neben der gängigen Buchschrift. Auch die schnell und ohne Sorgfalt geschriebene Geschäftsoder Urkundenschrift bestand bis ins 4. Jahrhundert aus Majuskeln. Im Laufe der ptolemäischen Jahrhunderte entwickelten sich immer größere Unterschiede zwischen der Buchschrift und der kursiven Geschäftsschrift. Erstere kennt grundsätzlich keine Ligaturen, jeder Buchstabe steht einzeln für sich, die Majuskeln stehen zwischen zwei Zeilen. Dagegen werden in der Alltagsschrift Kürzungen verwendet, mehrere Buchstaben werden miteinander verbunden, das Zweizeilensystem wird durch Ober- und Unterlängen gesprengt und in byzantischer Zeit dann kalligraphisch bis ins Phantastische gesteigert. Mit der byzantischen Kursive haben wir in Europa die erste reine Vierzeilenschrift und damit die Ausgangslage für eine Kalligraphie, in der durch die Dynamik der Linie ein Schriftkunstwerk von hohem graphischen Reiz entstehen kann. In der Kanzlei der byzantischen Kaiser wurden später Urkunden geschrieben, in denen einzelne Buchstaben besonders überhöht und andere mit weit ausholenden Linien geschmückt sind. Die griechische Kursive verwilderte im 13. Jahrhundert mit zunehmender Unregelmäßigkeit der Buchstabengrößen, ausgefallenen Li-

14.  Kalligraphie

gaturen und unbeherrschten Schnörkeln, die den Schriftspiegel sprengen. Ein strenger Schriftstil feierte in der Spätantike noch einmal Triumphe. In Konstantinopel oder zumindest im byzantinischen Reich wurden im 6. Jahrhundert einige Purpurhandschriften geschaffen; diese Bibeln sind auf den neuen Beschreibstoff Pergament, das mit Purpur gefärbt ist, mit Silbertinte geschrieben, die Namen Gottes und Christi in Gold. Die Farbe Purpur war dem Kaiser vorbehalten. Die ausgesuchte Qualität des Pergamentes, die Farbe des Kaisers und die hohe kalligraphische Kunstfertigkeit der Schreiber standen im Dienste der heiligen Bücher der Christen. Es sind reine Majuskelhandschriften im strengen Zweizeilensystem, in dem die einzelnen Buchstaben Stück für Stück mehr gemalt als geschrieben sind. Am bekanntesten ist der Codex Purpureus Petropolitanus , der im Mittelalter auseinandergenommen wurde; heute befinden sich 182 Blätter in Leningrad, 33 in Patmos, 6 in der Bibliothek des Vatikans, 4 im British Museum, 2 in Wien und eins in Genua. Aber schon im 4. und 5. Jahrhundert entstanden einige Bibelhandschriften, die in ihrer Monumentalschrift zum Schönsten und Großartigsten spätantiker, frühchristlicher Schreibkunst gehören. Im Schriftbild der Großbuchstaben dominierten bisher Senkrechte, Waagrechte und Diagonale, jetzt kam der Rundbogen dazu. Diese neue Buchschrift der Spätantike, bevorzugt benutzt von den christlichen Schreibern, ist die Unziale. Dieser Name für den Bibelstil dieser frühen Prachtbibeln stammt jedoch aus neuerer Zeit. Neu war auch die Kodexform, in der die Bibeln geschrieben wurden. Die berühmtesten Bibelkodizes in griechischer Unziale sind der Codex Sinaiticus , der Codex Vaticanus graecus und der Codex Alexandrinus . Vom Codex Sinaiticus sind noch 347 Blätter erhalten, die im 19. Jahrhundert im Katherinenkloster auf der Halbinsel Sinai entdeckt wurden und heute in London in einer Vitrine des British Museum betrachtet werden können; ein kleiner Teil liegt in der Universitätsbibliothek Leipzig. Vermutlich wurde er im 4. Jahrhundert n. Chr. in Ägypten geschrieben (s. Abb. 14.1). Vier Kolumnen Text stehen auf einer Pergamentseite des Codex Sinaiticus. Nach absolut regelmäßigem Zeilenanfang stehen in ausgewogenen Abständen die Majuskeln auf Linie, und keine Worttrennung unterbricht das in sich geschlossene Buchstabengefüge einer Kolumne. Die Buchstaben sind nach

231

alter Tradition alle gleich groß und in ihrer Form nach von möglichst gleichem Gewicht. Jeder Buchstabe ist ein Individium, dem ein fast quadratischer Raum zugeteilt ist. Der aufgeschlagene Codex Sinaiticus mit seinen acht sorgfältig geschriebenen Buchstabenkolumnen auf der Doppelseite ist durch seine geometrisch geprägte Einzelform der Buchstaben und die ausgewogene Regelmäßigkeit der Zeilen und Kolumnen von kristallinischer Strenge und Klarheit. Diese frühen Bibelhandschriften in griechischer Majuskelschrift waren ganz auf Repräsentation und sakrale Würde hin angelegt; sie waren ein wichtiger Bestandteil des christlichen Kultes und gehörten zum Kirchenschatz. Die Schreiber dieser Bibeln dienten mit dem bewußt gewählten traditionsreichen kalligraphischen Stil dem ewig gültigen Wort Gottes. Diesen kostbaren Bibelhandschriften des christlichen Ostens wurden im Westen in heidnischen, konservativ römischen Kreisen einige literarische Prachthandschriften entgegengesetzt, die zum Schönsten antiker Kalligraphie Italiens zählen. An erster Stelle ist da eine Vergilhandschrift aus dem 4. Jahrhundert zu nennen: Der Codex Vergilius Augusteus . Von dem Pergamentfolianten (42 × 34,5 cm), der einst aus mindestens 657 Seiten bestand, existieren heute noch sieben Blätter in der Staatsbibliothek Berlin (Codex Lat. fol. 416) und in Rom (Codex Vaticanus lat. 3256). Die Pergamenthandschrift ist in einer außergewöhnlich monumentalen Capitalis Quadrata geschrieben (s. Abb. 14.2). Die geometrisch streng geschriebene Majuskelschrift im Zweizeilensystem hat die Paläographen des 19. Jahrhunderts anfangs so beeindruckt, daß man glaubte, hier eine Originalhandschrift aus der Zeit des Kaisers Augustus vor sich zu haben. Heute datiert man sie dagegen jünger bis in den Anfang des 6. Jahrhunderts. Die Klarheit und Eleganz der großen Buchstaben verleihen dieser Handschrift ihren majestätischen Glanz. Jede Seite beginnt mit einer Initiale, die sechsmal größer ist als eine Schriftzeile. So erhielt jede Seite einen besonderen künstlerischen Akzent, mit dem die Vielzahl der einzelnen Buchstaben, eingebunden in das System von streng parallel laufenden Zeilen, noch einmal ausdrucksvoll überhöht wird. Die ornamentlosen Zierbuchstaben am Anfang der Seite betonen den geometrischen Duktus der Handschrift. Die Capitalis Quadrata in dieser Form erscheint nur selten als Buchschrift. Ihr nahe sind die Schriftformen, die in Stein gehauen wurden; so vermutet man

232

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 14.1: Codex Sinaiticus. Griechische Bibelhandschrift geschrieben um die Mitte des 4. Jahrhunderts. Schrift: Griechische Unziale

in dem Schreiber der Vergilhandschrift einen Kalligraphen, der es nicht nur verstand mit der Rohrfeder, sondern auch mit dem Meißel zu arbeiten. Ein solcher Künstler war in Rom in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts Furius Dionysius Philocalus. Vielleicht entstand die Vergilhandschrift in seiner Werkstatt. Die Stiftsbibliothek von St. Gallen besitzt eine andere Vergilhandschrift, Codex Sangallensis (Cod. 1394), dessen Capitalis Quadrata

dem Codex Augusteus recht nahe steht. Noch ein dritter Vergilkodex in dieser selten geschriebenen Capitalis quadrata ist überliefert, heute im Museum altägyptischer Altertümer in Kairo. Seider (197 8, 84) vermutet, daß der Kalligraph Furius Dionysius Philocalus diese majestätische Form der Capitalis quadrata als Buchschrift einführte: „Unter dem heidnisch gebliebenen römischen Adel begannen sich seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts bis

14.  Kalligraphie

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Abb. 14.2: Codex Augusteus. Spätrömische Vergilhandschrift aus dem 4. Jahrhundert (Ausschnitt). Schrift: Capitalis Quadrata.

in die Zeit des Ostgotenkönigs Theoderich († 526) Kräfte zu regen, die dem Christentum und der aufblühenden christlichen Literatur das alte römische Geisteserbe entgegenzustellen suchten.“ Und hier waren es besonders die Werke Vergils, die eine wichtige Rolle in der Pflege römischen Geistes spielten. So ist es verständlich, daß für diese Handschriften, die vom konservativen, wohlhabenden Stadtadel in Auftrag gegeben wurden, in einer Schriftform aufgezeichnet wurden, die an den Glanz der frühen Kaiserzeit erinnert, als in Rom die schönsten Inschriften in Stein gehauen wurden. Die römische Capitalis Quadrata entwickelte sich als Lapidarschrift unter dem Einfluß des griechischen Formenkanons. Ihre klassische Form erreichte sie in der Regierungszeit von Kaiser Augustus, Nerva und Trajan. Nach einer Entwicklungszeit von gut siebenhundert Jahren hatten die Römer für ihr Majuskelalphabet Formen und Proportionen gefunden, die bis heute für Europa Vorbild und Maßstab sind. Der Formenkanon des römischen Alphabets der frühen Kaiserzeit ist die Grundlage unserer Schrift (→ Art. 12).

„Die römische Kapitale ist vor allem Staatsschrift,“ konstatiert Fichtenau (1946, 87 ), „so wie die großen Bauten Staatsbauten sind. Der geometrische Gehalt ist nicht mehr reines Maß und absolute Form wie in Griechenland, sondern zweckhaft und gewinnt dadurch eine neuartige imposante Größe.“ So belebt die römische Capitalis ein anderer Geist als die griechische Monumentalis. Die prachtvollen Großbuchstaben verwendeten die Römer an öffentlichen Gebäuden, an Triumphbögen, Siegessäulen und Grabdenkmälern, also für besondere Zwecke im Bereich des Staates und des Kultus. Fichtenau (1946, 87 ) meint ja, „auch die Kapitale, wie wir sie zu sehen gewöhnt sind, muß damals sakralen Wert und Charakter besessen haben.“ Für viele gilt die Inschrift auf dem Sockel der Trajanssäule in Rom aus dem Jahre 113 n. Chr. als das schönste römische Schriftkunstwerk (→ Abb. 12.14). Seit der Renaissance faszinierten diese römischen Steininschriften immer wieder Künstler, Architekten, Ingenieure und Mathematiker, und es reizte sie, mit Hilfe der Geometrie und Proportionslehre die Gesetze der Schönheit dieser Buchstaben aufzuspüren. Im Jahre 1463 entstand

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die erste bekannte Schriftkonstruktion in Verona von der Hand des dreißigjährigen Kalligraphen und Humanisten Felice Feliciano. Die reizvolle Handschrift, heute in der Bibliothek des Vatikans, erschien jetzt in einer guten Faksimileausgabe (Feliciano, 1985). Auch Albrecht Dürer (1525) und der berühmte Kalligraph Wolfgang Fugger (1553) veröffentlichten ihre Konstruktionen der römischen Capitalis (s. u. Abb. 14.10). Noch im 20. Jahrhundert erschienen solche Konstruktionen in Deutschland, in der Schweiz, in England und Bulgarien (s. u. Abb. 14.11). In einer kritischen Studie über das römische Alphabet setzt sich der Offenbacher Ingenieur Johannes Muess (1989) mit all diesen Publikationen vom 15. Jahrhundert bis heute auseinander. Der römische Kalligraph als Buchschreiber schrieb die Capitalis, um dem Gehalt des Tex-

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

tes Würde und Feierlichkeit zu verleihen. Natürlich gab es daneben eine römische Kursive, wobei die flott mit dem Pinsel geschriebenen Geschäftsanzeigen, Bekanntmachungen und Wahlparolen auf Wänden und Mauern lebendige Zeugnisse des römischen Alltags sind und auch hier noch das sichere Formempfinden dieser Schreiber vorführen. Seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. beobachtet man auch eine jüngere römische Kursive mit Kleinbuchstaben (= Minuskelkursive) (→ Art. 12). Die Kanzlei der römischen Kaiser pflegte die ältere Majuskelkursive. Im 3., noch mehr im 4. Jahrhundert bevorzugten die Schreiber in den Pergamentkodizes eine neue Buchschrift: die Unziale. Diese neue Schriftform der Spätantike hatte im griechischsprachigen Ostteil des römischen Reiches ihre schönste Ausformung in den großen Bibelhandschriften er-

Abb. 14.3: Codex Vindobonensis. Karolingisches Sakramentar. Um 860 in Nordfrankreich geschrieben. Schrift: Unziale, in Goldtinte geschrieben

14.  Kalligraphie

lebt. Auch im Westen scheinen es die christlichen Kalligraphen gewesen sein, die mit Vorliebe ihre heiligen Schriften auf Pergament in der Unzialis schrieben. Bis zum Ende des 8. Jahrhunderts war die Unziale die bevorzugte Schrift für die Evangelien (Abb. 14.3). Noch in karolingischer Zeit wurde sie nicht nur als Auszeichnungsschrift herangezogen, sondern auch noch als Textschrift für liturgische Handschriften benutzt. Die Tendenz zur Rundung in den unzialen Leitbuchstaben A, D, E, G, H, M, Q und U harmoniert bestens mit der karolingischen Minuskel. Viel ist gerätselt und geschrieben worden über die Ursprünge dieser neuen Schrift, die in der Spätantike in die Bücher einzieht. Fichtenau (1946, 91) meint, daß die Unziale „die Schöpfung eines neuen Kunstwollens“ sei, dieser neuen Schrift liegt „eine neue geistige Haltung“ zu Grunde und charakterisiert sie so: „Die Unziale war neu, traditionslos, provinziell im Gegensatz zur Schrift des ewigen Rom mit seinem verehrungswürdigen Gehalt an altem Erbgut. Das Neue mußte schon eine tiefe Wandlung des Menschen in dieser Zeit bedeuten, wenn man das ehrwürdige Alte ihm zuliebe so kurzerhand verließ“. Mehrere hundert umfangreiche Pergamentkodizes aus der Zeit der Spätantike und des frühen Mittelalters sind uns bekannt, die alle in der zur christlichen Kultschrift avancierten Unziale geschrieben sind. 2.2. Das Mittelalter 2.2.1. Die karolingische Minuskel Mit dem Untergang des Imperium Romanum zog sich die Kunst des Schreibens in die Stille der christlichen Klöster zurück. Inmitten des Chaos der Auflösung des Römischen Weltreiches und der Völkerwanderung hatte der feinsinnige und gebildete Römer Cassiodor das Kloster Vivarium in Kalabrien gegründet. Für seine Mönche war das Abschreiben der Bibel, theologischer und profaner Autoren eine wichtige Aufgabe. Schreiben war dem Gebet und dem Gottesdienst gleichgestellt. Schreiben im Dienste des religiösen Wortes wurde später vom Benediktinerorden weitergepflegt. Die schönsten Handschriften des frühchristlichen Abendlandes wurden in Irland und England geschrieben. Im 4. Jahrhundert bereits kam das Christentum auf die keltische Inselwelt im Nordmeer, wo die Menschen schon von alters her ein starkes Bedürfnis hatten, Gebrauchsgegenstände zu verzieren. So ist es nicht verwunderlich, daß nun

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die großen Pergamenthandschriften mit den heiligen Worten der Evangelisten zu prachtvollen Büchern gestaltet wurden. Im angelsächsisch-irischen Raum wurde die insulare Halbunziale geschrieben, die sich die Mönche in kräftiger, gedrungener Form von der römischen Halbunziale angeeignet hatten. Die Oberlängen der Buchstaben b, d, h, l werden niedrig gehalten und nach oben hin spachtelförmig ausgebreitet. Wie breite, starke Glieder einer Kette reihen sich die Buchstaben bei strenger Zeilenführung auf. Mit Flechtwerk und Spiralen werden Initialen oder ganze Schmuckseiten in einem betörenden Farbenund Formenreichtum gestaltet. Das British Museum zeigt in einer Vitrine als eine große Kostbarkeit früher europäischer Buchkunst das „Evangeliar von Lindisfarne“ aus dem späten 8. Jahrhundert. Noch kostbarer, noch prachtvoller ist das „Book of Kells“ aus der Zeit um 800 n. Chr. Das Hauptwerk der irischen Buch- und Schriftkunst wird heute im „Trinity College“ von Dublin als Irlands Staatsschatz aufbewahrt. Diese Handschrift irischer Mönche ist ein Buch von magischer Schönheit. Der strenge Formenkanon der insularen Halbunziale und aller ornamentaler Buchschmuck stehen hier im Dienste des Kultus des frühen Christentums, das Buch und Schrift aufs höchste gesteigert hatte (s. Abb. 14.4 auf Tafel XIV). Der praktische Zerfall Roms hatte Sonderentwicklungen in den Provinzen zur Folge. Franken, Westgoten, Ostgoten, Vandalen gründeten ihre eigenen Reiche. In dem politischen Wirrwarr verwilderte vollends das Schreiben der römischen Schrift. In den Schreibstuben der Klöster und in den Kanzleien der staatlichen und kirchlichen Verwaltung wurden die unterschiedlichsten Buchstabenformen geschrieben. Nicht nur im Merowingerreich wurden Königsurkunden geschrieben, die wohl schwer zu lesen waren, aber in ihrem hohen kalligraphischen Reiz eine imponierende Wirkung auf den Betrachter hatten. Schon der spätantike Herrscherkult hatte seine kalligraphische Ausdrucksform in einer außergewöhnlichen Kaiserkursive gefunden. Es sind also keineswegs nur Arbeiten in einer kultivierten Buchschrift nennenswerte Werke der Kalligraphie, sondern manch ein Schreiber in der Kanzlei eines Herrschers hat aus dem Bestreben nach Repräsentation Meisterwerke der Schreibkunst auf Pergament oder Papier gebracht. Königliche Diplome der Merowingerzeit sind mit großem Temperament der Kalligraphen ge-

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schrieben, um das Gewicht des Dokumentes zu versinnbildlichen. Wie beherrscht mußten dagegen die Mönche ihre Bücher schreiben. Mönchische Lebenszucht mit dem Ideal der Askese reglementierte auch die Hände der Kalligraphen in den Skriptorien der Klöster. Die Disziplin nach der Klosterregel formte die Haltung des ganzen Menschen und zeitigte eine straffe Durchformung der sakralen Buchschrift. Als zu Weihnachten im Jahre 800 Karl, König der Franken aus dem Geschlecht der Karolinger, in Rom vom Papst zum Römischen Kaiser gekrönt wurde, war nördlich der Alpen ein neues politisches Kraftzentrum entstanden, das in der Residenzstadt Aachen auch einen kulturellen Mittelpunkt hatte. Zahlreiche Gelehrte wurden am Hofe Karls des Großen

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

zusammengezogen, die als Theologen aber gleichzeitig gute Kenner der Antike waren. Die Regierungszeit Karls des Großen war für die Entwicklung der lateinischen Schrift von entscheidender Bedeutung. Der Kaiser soll im hohen Alter noch selbst schreiben gelernt haben. Mit der karolingischen Minuskel wurde in dieser Zeit eine Schrift geformt, die nicht nur gut dreihundert Jahre ihre Gültigkeit hatte, sondern noch heute in unseren Kleinbuchstaben zur Anwendung kommt. Die karolingische Minuskel war eine gut lesbare, ganz diszipliniert geschriebene Kleinbuchstabenschrift im Vierzeilensystem mit Ober- und Unterlängen. Großbuchstaben kennzeichnen den Anfang eines Satzes (Abb. 14.5). Mit klaren Abständen zwischen den Worten, frei von Abbreviaturen und Ligatu-

Abb. 14.5: Benedictionale des hl. Athelwold aus dem 10. Jahrhundert. Schrift: Karolingische Minuskel. Als Auszeichnungsschrift: 1. Zeile: Unziale, 2. Zeile: Capitalis Quadrata

14.  Kalligraphie

ren lassen sich die Texte angenehm und schnell lesen, leichter als die abstandslosen Buchstabenreihen in den großen Handschriften früherer Jahrhunderte. Ein recht einheitliches Schriftbild hatte die karolingische Minuskel im ganzen Frankenreich bekommen. Die kirchlich-lateinischsprachige Kultur des Mittelalters gründete fest in der mönchischen Disziplin der Klöster. Vom 9. bis zum 12. Jahrundert war die karolingische Minuskel die Schrift des christlichen Mittelalters. „Erstmals seit dem Ende der Antike wurde mit der karolingischen Minuskel eine Schrift politisch als Mittel zur Vereinheitlichung des Lebens in allen Reichsteilen eingesetzt. Hatten bis dahin die Klöster und Kanzleien die Schrift eigenständig entwickelt, so wurde unter Pippin, Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen die Frage der Schriftkultur ebenso mit der Politik verknüpft, wie die Religion als staatstragende und vom Staat getragene Ideologie wiederentdeckt wurde. Die schnörkellose Klarheit der karolingischen Minuskel, der jede folkloristische Verspieltheit abgeht, machte sie zu einem universalen Kommunikationsmittel im fränkischen „Vielvölkerstaat“. Ihr schlichter und dabei reiner Duktus verkörpert den imperialen Geist der karolingischen Renaissance: die Wiedergeburt des römischen Reichsgedankens.“ (R. Kunze, 1992, 80 f). Im 9. und 10. Jahrhundert wurde die karolingische Minuskel in ihrer reinsten Form geschrieben. Wenn wir heute die klaren und regelmäßig geschriebenen Handschriften sehen, bedenken wir meistens nicht, unter wie strenger Klosterzucht diese Bücher entstanden. Askese bestimmte die innere und äußere Haltung der Klostergemeinde, so auch die Hand der Schreiber. Kalligraphischer Individualität wurde hier kein Freiraum gewährt. Manch einem künstlerisch begabten Mönch wird es nicht immer leicht gefallen sein, sich der Norm zu fügen. In der lex christiana gründete alles Denken und Tun des mittelalterlichen Menschen. Glanzvoller Höhepunkt mittelalterlicher Buchkunst sind die Prachthandschriften aus der Zeit der ottonischen Kaiser; neben den Arbeiten aus Fulda, Köln, Corvey, Trier, St. Gallen sind hier besonders die Bücher von der Reichenau zu nennen, die ein reicher ornamentaler Buchschmuck auszeichnet. Initialornamentik schmückte Buchanfänge oder die erste Seite der einzelnen Evangelien. Einige wenige Seiten werden nur mit Schrift und einer künstlerisch ausgestalteten Initiale in bildmäßiger Form hervorgehoben (s. Abb.

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14.6 auf Tafel XV). Ausgesuchte Stellen der Handschrift erhielten damit ein festliches Gepräge. Hans Jantzen (1947 , 109 f), Kenner der ottonischen Kunst, schreibt: „Das „Wort“ als Mitteilung hatte im frühen Mittelalter ein anderes Gewicht als in unserer wortreichen Zeit. Es besaß volleren Klang, war inhaltsgesättigt und fähig, letzte Wahrheiten in sich zu bergen. Dieses spezifische Gewicht des Wortes gelangt im Schriftbild zum Ausdruck, das nicht allein von der bloßen Lesbarkeit und übersichtlichen Gliederung des Textes her geformt wird, sondern das etwas von der Bedeutung der Mitteilung veranschaulichen soll.“ Mayr-Harting (1991, 67 ) sieht die Kalligraphie in ottonischer Zeit geradezu im Banne der Buchstabenmagie und verweist auf Hrabanus Maurus, Abt des Klosters in Fulda, der sich schon in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts für die Überlegenheit der Schrift gegenüber dem figürlichen Bild einsetzte. Kalligraphie in unserem Sinne von heute als ästhetische Kategorie des schönen Schreibens kannte man im Mittelalter nicht. Denn „im Mittelalter war die Kategorie des Kunstschönen nicht von der Kategorie des Nützlichen unterschieden, sie war vielmehr durch diese bedingt. ... Man versuchte, eine Anschaubarkeit zu verwirklichen, die nicht Selbstzweck, sondern integrierender Bestandteil der Funktion ist, welcher der Gegenstand zu dienen hat. ... Die Kunst des Schreibens bestand im Herstellen von Gegenständen, die zu gleicher Zeit funktionell und anschaubar waren. Ihre Anschaubarkeit mußte auch ihre Funktion sichtbar und den Sinn des Textes unabhängig von seiner Lektüre wahrnehmbar machen. Die materielle Darstellung der Buchstaben, Worte und Seiten reihte sich als objektive Anschaubarkeit des Geschriebenen an die Schönheit der anderen materiellen Dinge der Welt an. ... Diese objektiv-materialistische Auffassung der Schönheit erstreckte sich im Mittelalter in einem Ausmaß, das uns paradox erscheinen kann, auch auf das Gebiet der Schreibkunst. In gleicher Weise, wie die Anschaubarkeit von Werken der Malerei und Plastik Anschaubarkeit einer Materie war, die ein Abbild enthielt, das nicht unabhängig von ihr bestehen konnte, waren auch die geschriebenen Worte ein materieller und als solcher anschaubarer Gegenstand. In seiner Anschaubarkeit war ein Gedanke enthalten, der ohne ihn nicht denkbar war.“ Mit diesen Sätzen aus der „Theorie des Schönen im Mittelalter“ von Rosario Assunto (1963, 28 f) wird

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deutlich, wie gefährlich ist es, den Begriff der Kalligraphie auf Schriftkunstwerke des Mittelalters anzuwenden. Erst Hugo von St. Viktor, 1141 in Paris gestorben, unterscheidet zwischen der Farbe und Darstellung der Schriftfiguren und ihrem Sinn und ihrer Bedeutung. Eruditiones didascalicae VII, IV: ... velut si in una eademque Scriptura alter colorem seu formationem figurarum commendet; alter vero laudet sensum et significationem [... in ein und derselben Handschrift achtet einer auf die Farben oder auf die Darstellung der Figuren, während ein anderer den Sinn und die Bedeutung lobt]. (Assunto 1963, 158). 2.2.2. Die gotische Schrift Im 12. Jahrhundert verändert sich die Schriftform. Schon im 11. Jahrhundert kann man beobachten, daß die Buchstaben nicht mehr so breit geschrieben wurden, sondern schmaler und höher. Die Buchstaben rücken näher zusammen. Im 12. Jahrhundert werden die runden Formen mehr und mehr eckig geschrieben. Das Prinzip der Schriftkunst hieß jetzt im 12. und 13. Jahrhundert Brechung. Aus der Bogenarkade wurde die Winkelarkade. Viel ist über den Grund der Brechung nachgedacht worden. Ähnliche spitze Formen sah man vergleichend in der Baukunst der Gotik; beide Kunstbereiche haben aber nichts miteinander zu tun. Das mathematische Wunder gotischer Baukunst und „die vergitterte Fläche einer gotischen Buchseite“ (Fichtenau 1946, 193) haben sicherlich eine gemeinsame geistige Voraussetzung, aus der diese völlige Umwertung der romanischen Formen zu erklären ist. Die in vielen kleinen Winkeln geschriebene Schrift löste sich praktisch in Einzelstriche auf, der fließend geschriebene Bogen spaltet sich in zwei Teile, kurzer, dünner Aufstrich und kräftiger, mit Druck geschriebener Abstrich. Zwei lineare Grundelemente bestimmen das Wesen der gotischen Minuskel und Textura. Zu einem konstruktiv technischem Lineament hatte sich die Schrift gewandelt: „Der Buchstabe selbst ist ‘zerlegbar’ und in strengste Maße und Normen gefaßt“ (Fichtenau 1946, 191). Die Schrift hatte ihre kalligraphische Einheit verloren, ein additiver Geist beherrschte den Duktus. Die Schönheit eines gotischen Schriftkunstwerkes liegt im filigranartigen Gesamtgefüge einer Schriftseite, nicht in einer phantastischen oder eleganten Form des Einzelbuchstaben. Die große feierliche Schrift der Gotik als Ausdruck des monumentalisierten, dem Bau-

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

kanon angenäherten Kunstwollens ist die Textura. „Alle Folgeerscheinungen der technisch-konstruktiven Durchbildung, vor allem Brechung, Regelmäßigkeit und strenge Sonderung der Schriftelemente, werden hier zur letzten Konsequenz gesteigert“ (Fichtenau 1946, 195 f). Noch in der Mitte des 15. Jahrhunderts hat die Textura ihre volle Wertschätzung genossen, denn als Gutenberg in Mainz die erste Bibel mit Metallbuchstaben und einer Buchdruckpresse herstellte, formte er seine Lettern nach dieser Schrift. Ästhetisch betrachtet ist die von Gutenberg gedruckte Bibel das Faksimile einer Handschrift. Auf den Abb. 14.7 und 14.8 auf Tafel XVI und XVII wird eine Seite aus Gutenbergs 42zeiliger Bibel und einer Textura-Handschrift gegenübergestellt. Seit Gutenberg gibt es nun das sich gegenseitig befruchtende Phänomen der geschriebenen und der gedruckten Schrift. Viele Druckschriften der Inkunabelzeit zeichnet noch ein kalligraphischer Zug aus. Und so stand im 15. und auch im 16. Jahrhundert das kalligraphische Buch neben dem typographischen. Nur langsam fand die Typographie zu ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit und zu der ihr gemäßen Schrift und Gestaltungsform (→ Art. 13). Noch im 20. Jahrhundert sind zahlreiche Bleisatzschriften aus dem Duktus der Handschrift entwickelt worden. Geistige und soziale Umwälzungen bewegten das 13. Jahrhundert; neben den geistlichen Schriften für den sakral liturgischen Bereich entwickelt sich eine gotische Kursive für den Alltag, besonders für die Rechtssphäre. Hier beginnt wieder ganz vorsichtig eine Quelle der individuellen Schrift zu sprudeln, ohne aber so formlos zu werden wie die private Kursive der Spätantike. „Auch in der weltlich-bürgerlichen rein privaten Sphäre bleibt die Schrift Kunst, wenn schon handwerkliche Gebrauchskunst“ (Fichtenau 1946, 199). Zwischen der rein sakralen Anmutung der Textura und der gotischen Kursive der Notare und Kaufleute erreichte im 15. Jahrhundert die Bastarda höfisches Ansehen. Kunze (1992, 7 8) spricht von „einer Kalligraphisierung höfischer, kursiver (Kanzlei-) Gebrauchsschriften, die unter der Bezeichnung (gotische) Bastarda zusammengefaßt werden. Dieser Name deutet schon daraufhin, daß diese Schrift zunächst als illegitimer Ableger der vorwiegend sakralen gotischen Buchschrift verstanden wurde. Jedoch ist auch in diesem Fall aus einer Kursiven eine durchaus eigenständige kalligraphische Gattung erwachsen.“ Be-

14.  Kalligraphie

rühmt wurden die schönen Stundenbücher aus Burgund und Flandern für den europäischen Hochadel, deren Texte im 15. Jahrhundert in der Bastarda geschrieben wurden (s. Abb. 14.9 auf Tafel XVIII). Zwischen den Jahren 1504 und 1516 wurde von Hans Ried, Zöllner am Eisack in Tirol, für Kaiser Maximilian das „Ambraser Heldenbuch“ geschrieben. Diese große Pergamenthandschrift von 486 Seiten ist gleichmäßig vom Anfang bis zum Ende in einer eleganten Kanzleikursiven geschrieben, die nicht so schräg liegt, wie es bei der Bastarda üblich war und die auch nicht die auffallend dicken, langen Buchstaben f und s hat, die für die Bastarda charakteristisch sind. Hat Hans Ried für seinen kaiserlichen Auftraggeber wahrscheinlich bewußt feiner, leichter, disziplinierter die Kursive geschrieben, die er von der Kanzlei her kannte? Weit ausholende Schwünge bei den Großbuchstaben der Satzanfänge verraten das Temperament des Schreibers und die Freude an seiner kalligraphischen Arbeit. Bei der ersten Zeile einer Kolumne tanzt die Feder in großem Bogen in den freien Raum hinaus und schmückt die Kopfleiste einer Seite mit heiterem Linienspiel. Die Kursivschriften eines deutschen Zollbeamten war ebenso hoffähig wie die Bastarda an den Höfen Frankreichs. Die Kunst des Schreibens hatte sich emanzipiert. Sie war herausgetreten aus der kleinen, streng behüteten Welt der Klöster, in denen allein jahrhundertelang, von der Spätantike bis ins Hochmittelalter, das künstlerische Schreiben gepflegt wurde. Seit dem Spätmittelalter wurde mehr und schneller geschrieben; dies veränderte den Duktus der Schrift. Dem größeren Schreibbedürfnis kam nun auch noch ein neuer Beschreibstoff entgegen, das Papier. Die vielen großen Handschriften des Mittelalters hatten die Mönche alle auf das teure Pergament geschrieben. Auch Gutenberg druckte einen Teil seiner Bibeln auf den kostbaren, traditionsreichen Schriftträger Pergament. Lange nach Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg gab es noch im 16. Jahrhundert Büchersammler, die kein gedrucktes Buch in ihre Bibliothek stellten, sondern nur handgeschriebene. Denn einem Buch, von dem es viele, völlig gleiche Exemplare gibt, konnte manch ein Bibliophile keinen Wert beimessen. Unter den Fürsten Europas war es Kaiser Maximilian I. (1459—1519), der nicht nur Auftraggeber vieler Handschriften war, sondern der auch den Buchdruck ganz gezielt für

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seine dynastischen und bibliophilen Interessen einsetzte. Auf seine Initiative hin entstanden am Anfang des 16. Jahrhunderts einige Werke der Buchkunst erlesenster Art. Johann Schönsperger d. Ältere in Augsburg wurde 1508 zum kaiserlichen Hofbuchdrucker ernannt. Im Jahre 1512/13 druckte er im Auftrag des Kaisers ein Gebetbuch, — einige Exemplare auf Pergament. 1517 kam der „Teuerdank“ aus der Buchdruckpresse, in dem der Kaiser in der Form eines mittelalterlichen Abenteuerromans seine Brautwerbung zu Maria von Burgund verherrlicht hatte. Beide Bücher wurden in einer neuen, besonders schönen Schrift gedruckt, die die Frühform der Fraktur ist. Im Kreise der kaiserlichen Kalligraphen ist diese Schrift entstanden. Viel ist gerätselt worden über den Schöpfer der Fraktur; sogar Albrecht Dürer ist in diesem Zusammenhang genannt worden. H. Fichtenau (1961) widmet dieser Schrift, die in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert wirksam bleibt, seine monographische Abhandlung: „Die Lehrbücher Maximilians I. und die Anfänge der Frakturschrift“, und fragt nach „der Persönlichkeit, die den entscheidenden Beitrag zur Ausbildung der Fraktur lieferte, ... Wichtiger ist es, über den Schreibmeister Bescheid zu wissen, dem wir die Übersetzung der Kanzleibräuche zur Zeit Friedrichs III. aus den Urkunden in eine Prunkschrift habsburgischer Bücher verdanken.“ Der Schreiber ist der Wiener Neustädter Bürger Wolfgang Spitzweg, der seit 1442 in der Reichkanzlei tätig war. Fichtenau (1961, 39) kann nach eingehenden Analysen Wiener Handschriften verkünden: „Wolfgang Spitzwegs Leistung ist und bleibt die Anwendung strengster kalligraphischer Maßstäbe auf die Auszeichnungsschriften und ihre Überführung in den Bereich einer monumentalen Buchschrift.“ So können wir an der Wiege einer der lebenskräftigsten und geschichtsträchtigsten Schriften Deutschlands erkennen, wie ihre Wurzeln in die Kalligraphie eines Kanzleibeamten reichen. In der Schriftgeschichte ist es immer wieder die Dynamik der Kursivschriften, die den Nährboden von etwas Neuem bilden. Kunst im Dienste der Politik hatte Kaiser Maximilian zu immer neuen Vorhaben angespornt. Seine bibliophilen Interessen für Buch und Schrift prägten ein erstaunliches Programm. „Dem Leser sollte, sobald er die Werke aufschlug und in ihnen las, schon durch die Schriftzeichen sinnfällig werden, daß er kaiserliche Bücher vor sich hatte. Ihre Typen waren gleichsam Programmschriften,

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die mit der Person des Herrschers, mit seiner politischen Ideenwelt, seinen literarischen und bibliophilen Ambitionen und Aufträgen und mit den Schriftformen seiner Kanzlei und der von ihm beschäftigten Hofkalligraphen auf engste verknüpft waren“ (Wehmer 1963, 12). Hier hatte wieder ein Kaiser Sinn für die Gestalt und Aussagekraft von Schriftzeichen; ihm war klar, daß Schrift nicht nur durch ihren Inhalt etwas mitteilt, sondern auch schon durch ihre Form. Diesem kunstsinnigen Kaiser ist von einem Augsburger Mönch am Anfang des 16. Jahrhunderts ein bemerkenswertes Buch der Kalligraphie gewidmet worden. Wahrscheinlich 1517 beendete der Benediktiner Leonhard Wirstlin, auch Wagner genannt, im Augsburger Kloster Sankt Ulrich und Afra seine Handschrift mit dem Titel: Proba Centum scripturarum diversarum / una manu exaratarum/fratris Leonhardi ·W· Darunter in Deutsch: „Hundert schriften von ainer hand / der kaine ist wie die ander, etcetera.“ Mit dieser Handschrift hat Leonhard Wagner in der Zeit des Umbruchs vom Mittelalter zur Neuzeit ein reichhaltiges Musterbuch mit hundert Schriften angelegt. Jeder Schrift ist eine Seite gewidmet, in der ein kurzer Text geschrieben ist. Am Fuße der Seite wird der Name der Schrift aufgeführt. Mit Sammeleifer, historischer Kennerschaft und großem kalligraphischen Können hat Wagner ein Sammelwerk der Schriftkunst erarbeitet, das alte und neue, deutsche und italienische Schriften, Buchschriften, Urkundenschriften und Buchkursiven in meisterhaft geschriebenen Beispielen vorführt. Ein kalligraphisches Sammelalbum von hohem künstlerischen Wert, zur Freude des kaiserlichen Betrachters bestimmt. Mehrere Generationen nach Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks noch einmal ein Hymnus der Kalligraphie, aus der Stille der klösterlichen Schreibstube an den Kaiser gerichtet. Vielleicht schrieb der Mönch Leonhard Wagner dieses, sein letztes Buch mit der Melancholie des Schwanengesanges auf eine Kunst, die sich von einer neuen Technik der Vervielfältigung von Schrift bedroht sah. Wagner zeigte jedenfalls noch einmal, was die Kunst der Feder vermag. 2.3. Schriftkultur in den Städten Die Erfindung des Buchdrucks hatte keineswegs gleich das Ende des Schreibens zur Folge. In den aufstrebenden Städten der frühen Neuzeit mit einem wohlhabenden Bürgertum tat sich Schreiblehrern ein neues Tä-

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

tigkeitsfeld auf. Eine entscheidende Macht der Bürger in den Städten gegen den Feudaladel war die steigende Verbreitung der Kunst des Lesens und Schreibens. Aufgrund der Entwicklung von Handel und Gewerbe entstanden zuerst in italienischen Städten bürgerliche Schreibschulen. Im Italien des 14. und 15. Jahrhunderts waren es die Humanisten, die sich wieder auf die Werke antiker Kunst und Philosophie zurückbesannen. Römische Steininschriften hatte man an vielen Orten noch vor Augen. Die Schönheit der Capitalis Monumentalis aus augusteischer Zeit wurde wieder gesehen und den krausen Formen der nordischen Gotik entgegengesetzt. In ihrer Begeisterung für die klassischen Autoren der römischen Antike suchte man nach ihren Handschriften; was man fand, waren die Abschriften aus karolingischer Zeit in den Klosterbibliotheken. Da man die alten Pergamenthandschriften für römisch hielt, glaubte man auch in der karolingischen Minuskel die römische Schrift vor sich zu haben. Text und Schrift wurden in Verehrung des Alten fein säuberlich kopiert. Lettera antiqua nannten die Humanisten ihre Schrift, die sie nun schrieben; das heißt ganz einfach „die alte Schrift“ (kurz: Antiqua). Mit den Kleinbuchstaben der karolingischen Schrift und den Großbuchstaben der römischen Kaiserzeit wurde in Italien die Schrift der Neuzeit geschaffen, die bis heute in Europa in der Antiqua die vorherrschende Form ist (→ Art. 12). In Deutschland entwickelte man aus dem Erbe der Gotik die Fraktur, mit der bis weit ins 20. Jahrhundert hinein der größte Teil der deutschsprachigen Bücher gedruckt wurde. Erst ein Erlaß Adolf Hitlers im Januar 1941 verkündete als Normalschrift die Antiqua und zwang die Druckereien, von Fraktur auf Antiqua umzustellen (vgl. Rück 1993). Für den Schrifthistoriker Albert Kapr ist die Renaissance die interessanteste und fruchtbarste Epoche in der Entwicklung unserer Schrift und „in der Renaissance wurzelt die Schriftspaltung, die dem deutschen Schriftschaffen der folgenden Jahrhunderte das Gepräge gibt“. Im Schnittpunkt der großen Handelsstraßen Deutschlands lag Nürnberg, das eine der reichsten Städte wurde. Hier wurde 1497 Johann Neudörffer geboren, der als Schreibund Rechenmeister seine Vaterstadt zum Zentrum einer neuen Schreibkunst machte. Er unterhielt eine Schreibschule in Nürnberg, aus der zahlreiche Schüler später als Lehrer in anderen Städten wirkten; drei Schüler Neu-

14.  Kalligraphie

dörffers wurden kaiserliche Sekretäre. Bereits 1519 ließ er im Holzschnittverfahren ein kleines Musterbuch seiner Schriftformen drukken. „Fundament“ nannte er es im Titel, „seinen schülern zu einer unterweysung gemacht.“ Grundlage war nicht die Antiqua der italienischen Humanisten, sondern die Fraktur, die mit Neudörffers Hilfe in Nürnberg ihre klassische Form als Druckschrift erreichte. In dieser Schrift erschien 1525 in Nürnberg Albrecht Dürers theoretisches Werk: „Unterweisung der Messung mit dem Zirkel und Richtscheit“. Dürer widmet im dritten Teil 28 Seiten der geometrischen Konstruktion der Antiqua-Majuskel mittels Lineal und Zirkel; ein geometrisches Schema legte er auch der Textur zugrunde (Abb. 14.10). Solche Buchstabenkonstruktionen waren in Italien seit der Renaissance sehr beliebt; auch in moderner Kalligraphie finden wir Beispiele (Abb. 14.11). Luca Paciolis Methode hatte Dürer wahrscheinlich in Venedig kennengelernt. Man versuchte, die Schönheit der römischen Schrift wissenschaftlich, rational zu erfassen. Es ist nun nicht leicht verständlich, daß der Rechenmeister und Mathemathiker Johann Neudörffer, Vertreter der geometrischen Konstruktionskunst, auch der Begründer eines neuen kalligraphischen Schreibstiles wird, dessen Formen in steigendem Maße irratio-

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nalen Gesetzen unterliegen. Hier begegnen sich in einem Kopf neue, wissenschaftliche Ideen des humanistischen Süden mit von vitaler Phantasie inspirierter Kunst linearer Bewegungsdynamik des Nordländers, der noch aus der Welt der Gotik seine Kräfte holte. Man darf nicht vergessen, daß es auch von der Hand Neudörffers ein Manuskript von 46 Pergamentseiten gibt, auf denen er seine Antiquakonstruktionen angefertigt und begründet hat. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war er aber Deutschlands einflußreichster Lehrer einer neuen, bürgerlichen Schreibkultur, die dann in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts sich zur kalligraphischen Virtuosität steigerte. Die Schreibmeister des 16. und 17 . Jahrhunderts drängten förmlich nach immer komplizierteren Formen ihrer Kunst, die Jahrhunderte lang ein Privileg des geistlichen Standes war. Ihr ganzes Können mit der Feder breitete sich in einer abstrakten Linienkunst der Großbuchstaben und Initialen aus (Abb. 14.12). Der Bibliograph und Kenner der deutschen Schreibmeisterbücher, Werner Doede, schreibt (1958, 8): „Die Ursache für Neudörffers im ganzen deutschen Sprachgebiet unwidersprochene Wirkung beruht außer auf der Ordnung eines überkommenen Reichtums von Formen, die er kanonisiert hat, ganz wesentlich auf der künstlerischen Disposition, die er dem Schreibunter-

Abb. 14.10: Albrecht Dürer. Konstruktion des Buchstaben „K“. Aus: „Unterweisung der Messung mit dem Zirkel und Richtscheit“. Nürnberg 1525. Buch im Klingspor-Museum, Offenbach

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II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 14.11: Werner Bunz. Konstruktion des Buchstabens „U“. Hamburg, 1965. Klingspor-Museum, Offenbach

richt gegeben hat. Daß der deutsche Schreibunterricht als bildnerische Werklehre eingeführt wurde — das Schönschreiben vor dem richtigen Schreiben rangierte — als Selbstzweck, nicht wie in den Lateinschulen als Mittel zu dem Zweck des Erwerbens klassischer Bildung, dafür hat Neudörffer alle Voraussetzungen geschaffen.“ Der Begriff „Kalligraphie“ als ästhetische Form des Schönschreibens taucht zum erstenmal in einer Schulordnung von Braunschweig im Jahre 1621 auf: „... die orthographia et kalligraphia oder Zierligkeit im schreiben“ (Koldewey 1896, 17 7 ). In der Schulsprache des 17 . Jahrhunderts unterschied man also zwischen richtig und schön schreiben. Die Kalligraphen des 16. bis 18. Jahrhunderts steigerten das Schreibenkönnen zu einer virtuosen Kunst des Schönschreibens. Mit zwei Unterrichtsstunden „Schönschreiben“ rettete sich ein Rest dieser alten Kunst bis weit ins 20. Jahrhundert. Mit der staatlich verordneten Schulpflicht im 18. und 19. Jahrhundert wandelte sich das Schreibenkönnen in ein

Schreibenmüssen. Die Devise der neuesten Zeit heißt: Schnell schreiben ist wichtiger als schön schreiben. Mit dem Kugelschreiber verwildert heute die Handschrift ganzer Schülergenerationen. Wie wichtig war es früher, die Vogelfeder richtig und gut schneiden zu können. 1544 gab Johann Neudörffer eine „Anweisung und eigentlichen Bericht, wie man einen jeden Kiel zum Schreiben erwählen, bereiten, teilen, schneiden und temperieren soll.“ Das richtige Schreibwerkzeug und die korrekte Armhaltung waren grundlegend für das Feuerwerk einer abstrakten Linienkunst des Barockzeitalters. Aus der Sicht des Klassizismus Winckelmanns verurteilte man die Arbeiten dieser Schreibmeister des 16., 17 . und 18. Jahrhunderts als sinnlose, barocke Schnörkelei. Erst die tiefgreifenden Studien und ausgewählt gut illustrierten Publikationen von Werner Doede deckten wieder den künstlerischen Wert dieser irrationalen Formen barocker Schriftkunst auf. Ihm war klar geworden, die Buchstaben der barocken Schreibmeister sollten nicht nur etwas „be-

14.  Kalligraphie

Abb. 14.12: Initiale S in dem Namen „Sebaldt“ aus dem Geschlechterbuch der Familie Tucher, Nürnberg 1589. (Aus Doede 1988)

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deuten“, sie sollten auch etwas „sein“. Doede machte uns wieder aufmerksam darauf, daß die kunstvollen Formen der Initialen nicht nur ihre Funktion als lesbares Lautzeichen haben, sondern auch einen visuellen Selbstwert mit eigener formaler Aussagekraft. „Die Funktion der Mitteilung ist bedenkenlos geopfert derjenigen, ein Kraftfeld mit komprimierten Linienströmen zu überfüllen, ...“ (Doede 1958, 15). Am Anfang des 17 . Jahrhunderts verwikkelten sich die Schreibmeister und Kunstpädagogen Anton Neudörffer, Paul Franck und Christoph Fabius Brechtel in ein handfestes Streitgespräch, das in ihren Publikationen ausgetragen wurde. Im Kern dieses Disputes wirkte immer noch die Sehnsucht nach dem Renaissanceprinzip geometrischer Maßverhältnisse auch in der Schriftkunst. Alle drei Schreiber waren sich eigentlich einig, daß es kein rational faßbares, erlernbares System der geometrischen Messung für die deutschen Buchstaben (Fraktur) gibt, wie es überall in Europa auch in Deutschland, für die lateinischen Buchstaben (Antiqua) durchexerziert wurde — so auch von Albrecht Dürer in seinem Buch von 1525. Schon Neudörffer d. Ä. empfiehlt ein gutes Augenmaß, und im 17 . Jahrhundert häufen sich die Warnungen vor dem geometrischen Messen. Entscheidend war jetzt die Dynamik der abstrakten Linienführung. Lag der Antiqua eine anthropomorphe Form zu Grunde, so verfremdet sich diese in der Fraktur zu einem „Kraftfeld von inkommensurablen Bewegungskurven, die sich den Gesetzen der klassischen Geometrie entziehen; ... der frische und originelle, der wagnisfreudige Wurf, in dem die Erfindung des Verstandes und die Geschicklichkeit der geübten Hand zur Ehre der Kunst vereinigt sein müssen“, war im Barock gefragt (Doede 1958, 16). Bemerkenswert ist Brechtels Theorie der Hauptstriche und Beistriche; der Hauptstrich markiert die Grundstruktur des Buchstabens, „bekleidet“ wird er dann von den Beistrichen. Brechtl läßt aber jedem Schreiber seine individuelle Freiheit bei der Gestaltung der deutschen Großbuchstaben und appelliert nur an sein Augenmaß. Hundert Jahre später betritt der Schreibmeister Michael Baurenfeind mit zwei Publikationen (17 16 und 17 36) die Kalligraphieszene Nürnbergs. Auch er hat grundlegend über das Verfertigen der deutschen Buchstaben nachgedacht und vertritt seine neue Praxis, wie man auf sicherem Wege eine Harmonie der Linien erreicht. In der „Grazie“

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

seiner virtuosen Linienführung unterscheidet er bei den Strichen zwischen Haupt-, Kontra-, Zier-Zügen und Superficies. „Michael Baurenfeind, Zeitgenosse Johann Sebastian Bachs, gibt bei der Analyse der Bestandteile der Initialkomposition Funktionsbezeichnungen, welche an die des musikalischen Kontrapunktes erinnern.“ (Doede 1988, 7 ). Aber wie die Musik J. S. Bachs lange Zeit ungehört bleibt, so war man fast zwei Jahrhunderte blind für die Polyphonie der Linien in der Kalligraphie des Barock. Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Kalligraphie als Kunst unter dem Diktat rationalistischer Formkritik völlig ihr Ansehen verloren. Am Anfang des 19. Jahrhunderts verdrängte die englische Schreibfeder aus Metall die elastische Vogelfeder; der seelenlose Strich des neuen Massenproduktes Metallfeder ließ die Handschrift erstarren. Die neue ästhetische Maxime lautete: Schreiben wie gedruckt. Die gedruckte Buchschrift wurde zum Vorbild für die Schreibübungen der Schüler und zum Regulativ der individuellen Handschrift der Erwachsenen. Die preußische Schulmeisterschrift Sütterlins tötete im Kasernenhofexerzierstil eines monotonen „Auf — ab!“, „auf — ab!“ jeglichen Sinn für ästhetisch angenehme Formen des Schreibens. 2.4. Neuzeit Im November 1814 wurde die Tageszeitung „Times“ in London zum erstenmal mit einer Schnellpresse gedruckt. Damit begann der revolutionäre Siegeszug der mechanischen Vervielfältigung von Schrift und Bild. Mit Telephon und Schreibmaschine waren die ersten großen Widersacher der Handschrift erfunden. In dieser Euphorie des modernen Industriezeitalters gerieten die ästhetischen Fragen von Schrift und Buchgestaltung unter die Räder. Da setzte am Ende des 19. Jahrhunderts in England eine Gegenbewegung ein, deren Anstoßkraft bis heute wirksam ist. Der Engländer William Morris war besessen von der Idee des schönen Buches. Im Jahre 1891 gründete er in Hammersmith bei London seine Privatpresse, die Kelmscott Press; auf dieser seiner Handpresse druckte er nun mit neuen, von ihm entworfenen Schriften Bücher, alle mit der Hand gesetzt. In den Bibliotheken von London und Oxford hatte er die alten Handschriften studiert, und mit der Kiel- und Rohrfeder schrieb er illuminierte Handschriften. Der englische Pressendrucker Thomas James Cobden-Sanderson publizierte im Jahre 1900 seinen grundlegenden Essay The Ideal

14.  Kalligraphie

Book or Book Beautiful und wies darauf hin, daß die Wurzeln des schönen Buches in der Kalligraphie liegen. In der Kalligraphie früherer Jahrhunderte entdeckte er den Ausdruck einer elementaren Freude an Ordnung und Schönheit. In diesen Kreis um William Morris kam der Medizinstudent Edward Johnston, für den die Begegnung mit der mittelalterlichen Handschrift eine Lebenswende brachte. Mit Rohr- und Vogelfedern begann er zu schreiben. Sein Wunsch war, die alten Buchstaben in ihrer Schönheit wieder aufleben zu lassen. Mit der Pflege der Handschrift wollte er die Kreativität der Menschen wekken, um ihnen inmitten des Maschinenzeitalters eine neue Quelle der Lebensfreude zu erschließen. Im September 1899 begann Edward Johnston mit Schriftkursen an der Londoner Central School for Arts and Crafts. 1902 wurde er Schriftlehrer am Royal College of Arts. 1906 erschien sein grundlegendes Lehrbuch Writing and Illuminating and Lettering , das in vielen Auflagen bis heute seine Wirkung hat. Eine der besten Schülerinnen von Johnston, die Deutsche Anna Simons, übersetzte das Buch ins Deutsche, das 1910 unter dem Titel: „Schreibschrift, Zierschrift und angewandte Schrift“ erschien; bis heute ist es ein Standardwerk für den Schriftunterricht. Zum Schluß des 15. Kapitels, das „Das römische Alphabet und seine Abzweige“ vorstellt, werden nur wenige Sätze der „Gotik oder Fraktur“ gewidmet. Für den praktischen Verkehr hält er sie für ungeeignet wegen ihrer verhältnismäßig starken Unlesbarkeit. Welche Bedeutung hat dagegen die Fraktur in Deutschland noch im 20. Jahrhundert! Anna Simons hatte, nach erfolgreichem Studium bei Johnston in London, 1905 einen Ruf nach Düsseldorf erhalten. An der dortigen Kunstgewerbeschule sollte sie Schriftunterricht erteilen. Der damalige Direktor in Düsseldorf war der junge, engagierte Architekt Peter Behrens. Er hatte seit 1901 einige neue, zeitgemäße Schriften für den Buchdruck entworfen, die alle von der aufstrebenden Schriftgießerei der Brüder Karl und Wilhelm Klingspor in Offenbach gegossen wurden. Behrens hatte auch den 25jährigen Fritz Helmut Ehmcke von der Steglitzer Werkstatt in Berlin nach Düsseldorf geholt. Mit Behrens, Ehmcke und Simons waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts drei formbewußte Schriftkünstler in Düsseldorf tätig. Man hatte erkannt, daß eine Wiederbelebung des Schriftwesens in einer Rückkehr zum Schreiben selbst gründen

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muß. Man besann sich wieder der alten, ursprünglichen Schreibwerkzeuge, die einen lebendigen, ausdrucksstärkeren Strich ermöglichen. Im Jahre 1911 veröffentlichte der junge Eugen Diderichs Verlag Ehmckes Buch: „Ziele des Schriftunterrichts. Ein Beitrag zur modernen Schriftbewegung.“ Ehmcke nutzte die Schrift als dekoratives Element, ohne aber ihre Lesbarkeit einschränken zu wollen. Überall im Alltag sah er die Forderung nach einer besseren Schriftgestaltung, so die Schrift am Bau, Schrift auf dem Friedhof, Schrift auf dem Plakat usw. Ehmcke betonte auch den erzieherischen Wert des Schriftgedankens; im Schriftunterricht sah er die Grundprobleme allen künstlerischen Schaffens angesprochen. Ehmcke schreibt (1911, 6): „Es ist nun meine Überzeugung, daß gerade mit einer durchgreifenden Reform des elementaren Schreibunterrichts bis hinunter in die Volksschule eine ganz vorzügliche Handhabe für die Heranbildung der Jugend zu höherem Verständnis künstlerischer Bestrebungen geboten ist.“ Im Schriftunterricht von Anna Simons wurde die Methode Johnstons auch in Düsseldorf praktiziert, die auf einem sehr eingehenden Studium der historischen Entwicklung künstlerischen Schreibens beruhte. Ab 1908 holte Henry van de Velde alljährlich Anna Simons zu Schriftkursen an die Kunstgewerbeschule in Weimar. Ganz im Stil von Johnston unterrichtete sie auch in Hamburg, Halle, Frankfurt, Nürnberg und Zürich. Ab 1914 lebte Anna Simons in München, wo sie die Bücher der Bremer Presse mit kalligraphisch gestalteten Titelblättern und Initialen schmückte. Anna Simons wurde zum Ehrenmitglied der Londoner „Society of Scribes and Illuminators“ ernannt. Diese 1921 gegründete Gesellschaft versammelte ehemalige Schüler von Johnston; heute hat sie über 2000 Mitglieder, gibt eine Zeitschrift zur Kalligraphie heraus, veranstaltet große Jahrestreffen in London, organisiert Schriftkurse und Ausstellungen. Im gleichen Jahr, 1902, als in London Edward Johnston an die Königliche Hochschule für den Schriftunterricht berufen wurde, erhielt in Wien der kaiserliche Kanzleibeamte Rudolf von Larisch seine Dozentur an der dortigen Kunstgewerbeschule. 1905 veröffentlichte er bereits seinen „Unterricht in ornamentaler Schrift“. Der Engländer und der Österreicher hatten verschiedene Lehrmethoden. Johnston ging von historischen Schriftformen aus und ließ erst einmal einzelne Buchstaben üben. Erst wer die Buchstaben

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verschiedener Alphabete beherrschte, durfte sich an das Schreiben kleiner Bücher wagen. Bei Larisch in Wien war das Schreiben einzelner Buchstaben und Alphabete verpönt. Für Larisch war die rhythmische Folge der Buchstaben und Worte in einem zusammenhängenden Text von Wichtigkeit. In der Larisch-Schule war der dekorative Gesamteindruck des kalligraphischen Kunstwerkes entscheidend, weniger die gute Lesbarkeit des einzelnen Wortes. Aus dem Unterricht von Ehmcke in Düsseldorf ging der fast schon legendäre Schriftkünstler Ernst Schneidler (1882—1956) hervor, der seit 1920 an der Kunstgewerbeschule Stuttgart unterrichtete. Schneidler war das Herz der „Stuttgarter Schule“. Mit hoher Sensibilität für Farben und Formen entstand in mühsamer Nachtarbeit ein umfangreiches, fast unbekanntes Lebenswerk der modernen Kalligraphie. In verschiedenen Farben stehen da Verse auf dem Papier, oft nur einzelne Worte in immer wieder neuen Varianten der Buchstabenformen, nicht zum Lesen sondern zum Betrachten (s. Abb. 14.13 auf Tafel XIX). Auch Schneidlers Schüler Rudo Spemann (1905—1947 ) war ein Kalligraph, der die Feder in höchster Meisterschaft zu führen wußte. Obwohl er bereits mit 42 Jahren in russischer Gefangenschaft starb, hinterließ er ein kalligraphisches Lebenswerk von etwa 500 Handschriften und Schriftblättern. Ganz anders sind die Arbeiten von Eva Aschoff (1900—1969), die nach ihrem Studium bei Schneidler als Buchbinderin ihr Brot verdiente. In ihren letzten Lebensjahren kalligraphierte sie in ihre wunderschönen farbigen Papiere. Zwischen 1960 und 1969 hat sie so ein Stück moderner Kalligraphie unseres Jahrhunderts geschaffen, das in seiner Technik und feinen, poetischen Aussagekraft einzigartig ist. In Offenbach in der Schriftgießerei der Brüder Klingspor wirkte seit 1906 Rudolf Koch (187 6—1934); 28 verschiedene Schriften hat er für die Firma entworfen, die heute noch zum Teil als Photosatzschriften genutzt werden. Ab 1908 war er auch gleichzeitig Lehrer für Schriftschreiben an der Offenbacher Werkkunstschule. Über hundert Handschriften hat er geschrieben, Schrift in Holz geschnitten, Schrift in Stahl geschnitten und Schrift für große Wandteppiche entworfen. Sein ganzes Schaffen in Offenbach war der Schrift gewidmet. Rudolf Koch war ein leidenschaftlicher Schreiber, der fast ein mystisches Verhältnis zum Schreiben hatte. Die En-

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

cyclopaedia Britannica (Bd. 4, 1964) rühmt in ihrem Kalligraphie-Artikel Rudolf Koch als den begabtesten Kalligraphen Deutschlands im 20. Jahrhundert und stellt ihn, eine Schule bildend, gleich neben Edward Johnston in London. 1921 hatte R. Koch sein Unterrichtswerk „Das Schreiben als Kunstfertigkeit. Eine ausführliche Anleitung zur Erlernung der für den Beruf des Schreibers notwendigen Schriftarten“ publiziert. Koch beginnt seinen Unterricht mit der Schwabacher; dann folgt die gotische Schrift, die Frakturschrift (Abb. 14.14). Den lateinischen Schriften widmet er eine (!) Seite. In England dagegen wird die HumanistenKursive so intensiv gepflegt, daß man 1954 in London eine „Society for Italic Handwriting“ gründet. Der amerikanische Kalligraph und Schriftfachmann Paul Standard beschrieb 1947 Auf- und Niedergang der Kalligraphie mit einem besonderen Blick auf die Wiederbelebung der Kalligraphie in England und USA in der Neuzeit. Zur Bibel der Kalligraphen kürte er das frühe italienische Schreibmeisterbuch Operina von Ludovico de Henricis Degli Arrighi, genannt Vicentino, das 1522 in Rom erschienen war und in Standards Augen das beste Handbuch für die Humanistenkursive ist. 197 9 veröffentlichte Paul Standard dieses Schreibmeisterbuch in einer umfangreich kommentierten Faksimileausgabe. All dieses Schönschreiben im 20. Jahrhundert reizte progressive Denker und Künstler zu heftiger Kritik an der Kalligraphie. Paul Renner (1931, 7 ), Schöpfer einer der markantesten Schriften unseres Jahrhunderts, der Futura, meint: „Der Kunstschreiber fristet in seiner Pseudomittelalterlichkeit ein künstliches Dasein wie der letzte Elch im Naturschutzpark.“ Renner verurteilt nicht das Handschreiben als veraltet, sondern „die romantische Vorliebe für die geschichtlichen Formen“ (Renner 1931, 52). Im konservativen England meldete sich 197 1 eine engagierte Stimme; Nicolete Gray rechnete kompromißlos mit der historisierenden Johnston-Schule ab in ihrem Buch „Lettering as Drawing“. Als Versäumnis der Johnston-Tradition prangert sie an, daß die Kalligraphen des 20. Jahrhunderts nicht auf die Veränderungen und Entwicklungen in den anderen zeitgenössischen Künsten reagiert haben und sich weiterhin an die Formen einer geborgten Schönheit längst vergangener Jahrhunderte klammerten. Die Schriftkunst seit Rudolf Koch steckt in einem Dilemma, meint N. Gray

14.  Kalligraphie

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Abb. 14.14.: Matthäus-Evangelium. Handschrift von Rudolf Koch, geschrieben 1921 in Offenbach/Main (Ausschnitt)

(197 1, 7 8). Aus der Johnston-Schule seien wohl eine Reihe geschickter und guter Schreiber hervorgegangen, die sehenswerte Arbeit leisteten, „yet it seems dead, it does not connect up with life and consciousness today, it is somehow completely on the surface, smooth, protected from live, disconcerting contacts; in fact a tradition which is no longer a vehicle of expression.“ Bei der Eröffnung der epochemachenden Ausstellung „Schrift und Bild“, 1963 in Amsterdam und Baden-Baden gezeigt, sagte bei der Eröffnung Werner Doede (1980, 13): „Das Schönschreiben, die Kalligraphie rettete sich in eine unzeitgemäße Festtagswürde, erstarrte in historisierender Ornamentik, wurde mühsam erdachte und befolgte Vorschrift und geriet damit in jenen schlechten Ruf, der bis heute andauert.“ Dietrich Mahlow erarbeitete zu dieser Ausstellung ein gewichtiges Katalogbuch „Schrift und Bild“ (1963). Mit Beiträgen verschiedener Autoren wurde hier zum erstenmal in aller Breite aufgezeigt, wie Künstler in Europa, Amerika und Ostasien im 20. Jahrhundert mit den Bildwerten der Schrift experimentieren. Bei der Schrift interessiert sich der moderne Künstler für ihre graphischen Strukturen, für die Rhythmen der Linien und Striche; man sprengt die li-

neare Anordnung von Schrift. Die Schrift verwendet man unter dem Aspekt der Form, entgegen der Forderung nach Funktionalität der Schrift in der heutigen Typographie. Ja, es geht soweit, daß Schrift von ihrer Funktion, sprachliche Inhalte zu transportieren, völlig befreit wird, der Künstler verfremdet die Schrift in abstrakte, skripturale Formen. Imre Reiner nennt viele seiner Bilder „Stilleben in Schriftnähe“ und meint, Schrift ist nicht nur zum Lesen da, sondern auch zum Anschauen. Schon Ernst Schneidler komponierte in den 20er Jahren mit Buchstaben und Worten Schriftbilder. Paul Klee malte Schriftbilder und schrieb Zeilen in einer imaginären Schrift, die nicht lesbar ist. Max Ernst druckte in seinem Buch „Maximiliana“ (1964) ganze Seiten in einer unlesbaren Schrift. Die Surrealisten in Paris um André Breton prägten 1925 das Schlagwort „écriture automatique“. Der Rhythmus der Linie als Ausdruck innerer Impulse war geschätzt. Bereits 1918 hat die russische Künstlerin Varvara Stepanova in Moskau mit Pinsel und Farben Gedichte als visuelle Poesie auf Zeitungspapier geschrieben, bewußt anti-klassisch, anti-akademisch, anti-bürgerlich, Ausdruck ihrer revolutionären Haltung im neuen Russland (Lavrentiev 1988, 18 f). Werner Doede (1980, 19) würde

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dazu sagen: „Das ist die Verachtung der Schulregel, das Unakademische, die individuelle Selbstbehauptung, mit einem Wort: der Mut ins sozusagen Unreine zu schreiben und in der scheinbaren Gestaltungslosigkeit eine neue Gestaltung zu suchen. ... ledig standesgebundener Konventionen sind sie von aktuellen Energien getragen, stillos, aber stilträchtig.“ Das Individium rebelliert mit allen Mitteln gegen Normierung und Mechanisierung des Maschinenzeitalters. Im individuellen Rhythmus der Schrift, im abstrakten Duktus des Schreibvorganges suchen Künstler die ihr gemäße Ausdrucksweise. Georges Mathieu in Paris sieht in der Malerei einen Zweig der Schreibkunst. Jean Dubuffets im Juni 1944 auf Zeitungspapier geschriebene „Messages“ stehen in Kontrast zur Kunst der Kalligraphie (Messer 1990, 31). Ein ganz großer Meister avandgardistischer Schreibkunst ist Picasso. Die Manuskripte seiner Gedichte, Tagebücher, Prosa und Theaterstücke gestaltete er zu graphischen Kunstwerken von hohem ästhetischen Reiz (1989). Ein leidenschaftlicher Schreiber ist der Hamburger Künstler Horst Janssen; in seinen Zeichnungen, Radierungen, Plakaten, Postkarten ist die Handschrift ein voll ins Bild integrierter Bestandteil seiner künstlerischen Gestaltungsmittel. Der schöpferische Gedanke und die bewegte Hand vereinigen sich in einem Impuls, hier bei Janssen wie auch bei Picasso. Der Berliner Kalligraph Hans-Joachim Burgert (1989, 106 A) schreibt: „Eine neue Kalligraphie hat die Freiheit, ganz und gar in Form denken zu dürfen. Sie hat Formen darzustellen, die an ihre «Inhalte», an ihre Bedeutungen nur erinnern: Erinnerungsformen ... Das Denken in Schrift-Form versetzt den Gestaltenden in die Lage, die Freiheit der graphischen Form für die Kalligraphie zu nutzen. Damit könnte es geschichtlich einen neuen Weg für die Kalligraphie eröffnen. ... Die Emotion, der persönliche Rhythmus und das Temperament des Schreibenden müssen eine eigene Kursivschrift Gestalt werden lassen.“ Christine Hartmann in Offenbach ging den harten Weg von der formvollendeten Antiqua zu einer individuell geprägten Expressivität der Linie, mit der sie um 1990 Texte von Lorca, Camus, Kafka, Heine zu einzigartigen Schriftbildern gestaltete (Abb. 14.15 auf Tafel XX). „Im Kubismus, Futurismus, Dadaismus, in der abstrakten Kunst und dem Werk Marcel Duchamps werden im zweiten Jahrzehnt die Grundlagen dafür geschaffen, daß sich Literatur und bildende Kunst nähern, die

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Grenzen zwischen Bild und Sprache verwischen“ (Faust 197 7 , 29). Diese Bewegung der Literatur zum Visuellen hin bezeichnet Faust (1977, 10) als „Ikonisierung der Sprache.“ So gibt es im 20. Jahrhundert sowohl die Pflege der Kalligraphie mit dem klassischen Formenkanon der Capitalis Quadrata, der Unziale, der Fraktur und Humanistenschrift als auch das informelle, aber ausdrucksstarke Experimentierfeld einer avantgardistischen Schriftkunst. Die einen halten an schönen, alten Formen fest, während die anderen den schöpferischen Mut aufbringen, zu neuen, unbekannten Ufern aufzubrechen. Paul Klees „Pädagogisches Skizzenbuch“ (1925, Bauhausbücher 2) und Wassily Kandinskys Buch „Punkt und Linie zu Fläche“ (1926, Bauhausbücher 9) sind die grundlegenden Schreibmeisterbücher unseres Jahrhunderts.

3.

Arabische Kalligraphie

Die arabische Schrift ist der jüngste Zweig der semitischen Buchstabenschriften, die, wie das Griechische, im Phönizischen ihre Wurzeln haben (→ Art. 20). Die arabische Schrift entwickelte sich in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten. Das Schönschreiben in arabischer Schrift ist dann eine hoch angesehene Kunst des Islam. Die arabische Sprache wurde die Sprache des Koran und mit ihr die Schrift, in der das Arabische geschrieben wird (→ Art. 39). Sprache und Schrift sind für den Mohammedaner untrennbar mit der göttlichen Offenbarung verbunden. Die Kreativität der Kalligraphie im Islam wurzelt in dem Bestreben, das verborgene Antlitz Allahs zu verherrlichen. Die Stimme Allahs hat durch die Stimme des Propheten Mohammed gesprochen, und der Koran hat diese heilige Botschaft in arabischer Schrift offenbart. „Das Wort Allahs ist eine artikulierte Stimme, und das menschliche Bestreben besteht darin, es in Schrift umzusetzen und zu lesen“ (Khatibi & Sijelmassi 197 7 , 47 ). Die beiden marokkanischen Wissenschaftler haben in ihrem Buch die ganze Formen- und Farbenpracht der islamischen Kalligraphie vor unseren Augen ausgebreitet. Als Mohammedaner verwenden sie das Wort „Kalligraphie“, um eine allumfassende kulturelle Manifestation zu bezeichnen, die an ihren äußersten und zuweilen ekstatischen Grenzen der Metaphysik einer bestimmten Sprache Gestalt verleiht. Kalligraphie, ursprünglich nur für Koranabschriften angewendet, kam unter dem Mäzenat der abbassidischen Kalife auch bei Ab-

14.  Kalligraphie

schriften beliebter wissenschaftlicher und seltener literarischer Werke zum Einsatz, je nachdem, wie das Interesse des Auftraggebers war. Kalligraphen fertigten dann auch Vorlageblätter für Handwerker in allen Bereichen; so findet man Schrift in künstlerischer Gestaltung nicht nur in Handschriften, sondern auch auf Bucheinbänden, in Holz geschnitzt an Türen, Lesepulten und Sarkophagen, auf Bronzekesseln, Eisenhelmen, Schwertklingen, in Seide gewebt und in Teppichen geknüpft, auf Keramik und Fayencen, in Elfenbein geschnitzt, in Stein und Marmor gehauen und in farbige Relieffliesen gebrannt, womit ganze Wände von Moscheen geschmückt sind. Die Bildhaftigkeit der islamischen Kalligraphie gab dem Kunsthandwerk ein schier unerschöpfliches Formenarsenal zur Verzierung an die Hand; hier aber liegt mit ein Grund, daß die Schriftkunst zum sinnentleerten, dekorativen Ornament verflachte; dies besonders in unserer säkularisierten Moderne. Das abbassidische Kalifat war eine Epoche der kulturellen und wissenschaftlichen Blüte des Islam. Kalif al Ma’mun (813—833) hatte die neue Reichshauptstadt Bagdad gegründet; in den wichtigsten Städten des Reiches, Kufa, Damaskus, Samarqand, Kairo, Kairuan, Cordoba entstanden kulturelle Zentren mit Hochschulen, die Künstler und Wissenschaftler anzogen, prachtvolle Paläste und Moscheen wurden gebaut. Fürsten und wohlhabende Bürger gaben kostbare Koranhandschriften bei Kalligraphen in Auftrag, die sie den Moscheen stifteten. Von 886 bis 940 lebte der legendäre Kalligraph Ibn Muqla, der Prophet im Felde des Schreibens, wie man ihn einst nannte. Er war der erste, der sich wissenschaftlich mit den ästhetischen Problemen der Schrift auseinandersetzte. Er hat für die Kursivschriften einen Formenkanon aufgestellt, der für die islamische Kalligraphie bindend wurde für alle Zukunft. Die Hand von Ibn Muqla hat für die Kursivschrift Nasḫī einen Schönheitskodex erarbeitet, so daß jetzt auch in dieser Schrift prachtvolle Koranabschriften entstanden. Die eckige Monumentalschrift Kufi hatte nun eine in eleganten Linien schwingende Schwester erhalten. Grundlage von Ibn Muqlas Überlegungen war Euklids Geometrie und dessen Definitionen von Punkt und Linie. Ibn Muqlas Proportionslehre der Buchstaben liegt die Größe des ersten Buchstabens im Alphabet, dem Alif, zugrunde. Das Alif hat die Höhe von sieben Punkten. Der Punkt wird durch die

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schräg abgeschnittene Kante der Rohrfeder als ein kleiner Rombus geschrieben; die Größe des Punktes ergibt sich aus der Breite der Schnittfläche der Rohrfeder (der Kalligraph besitzt immer eine Vielzahl unterschiedlich großer Rohrfedern). Sieben Punkte, die Höhe des Alif, ist der Durchmesser des Kreises, in dem alle anderen Buchstaben mit Rundformen eingepaßt sind. Der grundlegende Modul aller Buchstabengrößen und Abstände zwischen ihnen und den Worten ist also der Punkt, den die Breite des Schreibrohrs bestimmt. Um die ideale Form eines jeden Buchstabens aufzuführen, nimmt Ibn Muqla die geometrischen Figuren Linie, Kreis, rechtwinkliges und gleichschenkliges Dreieck zu Hilfe, die bei den einzelnen Buchstaben dann eine festgelegte Größe durch die Anzahl der Punkte erhalten (→ Art. 39, Abb. 39.7 ). Die Kursivschrift soll natürlich zügig geschrieben werden, denn der lebendige Duktus bestimmt die Qualität einer Kalligraphie: Für den gläubigen Mohammedaner ist Kalligraphie der fließende Gesang des Göttlichen. So versteht es sich, daß die Proportionslehre Ibn Muqlas wohl von allen studiert wurde, beim Schreiben verließ man sich aber auf das eigene Gefühl und das Augenmaß für Proportionen. Als allgemeine Prinzipien für den Kalligraphen fordert Ibn Muqla: „man führe das Schriftzeichen in seiner Gesamtgestalt wohlgeformt aus; man beachte genau die Gesetze der Proportion; man unterscheide sorgfältig die geometrischen Formen nach ihrer waagrechten, senkrechten, schrägen und gekrümmten Bewegung; man beachte sorgfältig die Stärke und Feinheit der Linie; man halte die Feder entspannt, doch zugleich fest in der Hand, so daß sie nicht zittern und die Schrift unregelmäßig machen kann.“ (Khatibi & Sijelmassi 197 7 , 134). Harmonie war die Forderung an die Kalligraphen und ihre Kunst mit dem Schreibrohr. Mohammed soll schon gesagt haben, eine schöne Schrift verleiht der Wahrheit Nachdruck. Bereits im 7 . Jahrhundert kommt der Islam nach Persien und damit auch die arabische Schrift. Berühmt sollten später die persischen Kalligraphen werden, die den arabischen Kursiven durch Zierlichkeit ein eigenes Gepräge gaben. Es gibt persische Handschriften, bei denen die feinen, schrägen Schriftzeilen förmlich in der Luft schweben. In dem weiten, die halbe Erde umspannenden Reich des Islams von Marokko und Spanien bis Ostasien, in den Moghuldynastien Indiens und im osmanischen Großreich der Türken entwickelten

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sich zahlreiche regionale Formen von Kursivschriften. Neben der archaischen, eckigen Kufi gibt es sechs klassische Kursivschriften (Abb. 14.16): Nasḫī Nasḫī ist eine der frühesten Kursivstile der arabischen Schrift und wurde in der gesamten islamischen Welt geschrieben. Diese Kursive wurde ohne feste Regeln sehr individuell geschrieben, bis im 9. Jahrhundert Ibn Muqla sie mit einem strengen Formenkanon normierte und sie zu einem kalligraphischen Schreibstil erhöhte. Der Kalligraph Ibn alBawwab in Bagdad schrieb diesen Stil in so großer ästhetischer Vollkommenheit, daß auch seit dem 10. Jahrhundert n. Chr. in dieser Form der Koran geschrieben werden durfte. Zwei Kalligraphen hatten somit im 9. Jahrhundert eine alltägliche Verkehrsschrift reif gemacht für sakrale Handschriften. Tulut Der außergewöhnlichen Größe der Buchstaben wegen hat diese Kursive den Charakter einer Monumentalschrift; man bevorzugt sie für Überschriften in Büchern und zur Dekoration von Gegenständen. Ähnlich dem Kufi hat Tulut die Aufgabe einer hieratischen Schrift. Alle Hasten im Tulut werden mit einem rechts ansetzenden Häkchen geschrieben (s. a. Abb. 39.9). Muhaqqaq Dies ist ein feiner, eleganter Schreibstil der arabischen Schrift. In der Abbassidenzeit wird dieser Schriftstil merklich runder geschrieben, was ein flüssiges Schreiben ermöglicht. Die vertikalen Hasten sind betont hoch, die nach links ausholenden Bogen reichen tief in die Unterlinie. Bei den Kalligraphen in der staatlichen Verwaltung war diese Schrift sehr beliebt. Durch die Schriftreform Ibn Muqlas erhielt auch die Kursivschrift ihre für die Zukunft gültige, repräsentative Form. Die Muhaqqaq-Schrift erlebte unter den Ilhaniden in Persien und unter den Mamluken in Ägypten eine Hochblüte; hier wurden in diesem Stil große Prunkkorane geschrieben, die man in Moscheen aufstellte (s. a. Abb. 39.8 auf Tafel VII). Riqa’ Der Riqa’-Stil wird recht eng geschrieben, die einzelnen Wörter werden durch geschwungene Linien miteinander verbunden. Es entsteht somit ein geschlossenes, lückenloses Schriftbild. Besonders die Hofkalligraphen unter den Osmanen in der Türkei (14. bis 18.

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Jahrhundert) pflegten in diesem Stil eine hochwertige Kunstschrift. Später verflachte dieser Stil zur gewöhnlichen Handschrift der arabisch schreibenden Bevölkerung. Tawqi’ Tawqi’ (= Unterschrift) ist ein Stil, der sich von den Unterschriften der Abbassidenkalife herleitet. Die Hasten sind kräftig und wirken schwer. Im Gegensatz zum Riqa’ werden die Wörter klar auseinandergehalten, die Rundungen nicht so betont geschrieben. Merkmale des Tulut sind in den Tawqi’-Stil integriert. Rihani (oder Rayhani) Dieser Schreibstil entstand im 9. Jahrhundert. Die Bogen der Unterlinien sind stark ausgeprägt und reichen oft weit nach links zum nächsten Wort. Die Kennzeichnung der Vokale ist meistens in anderer Tintenfarbe ausgeführt. Mit dem Tulut gemeinsam hat dieser Stil die hohen, gerade stehenden Vertikalen. In diesem oft zierlich und elegant wirkenden Schreibstil sind schöne, dekorative Koranhandschriften entstanden. Im Westen des Islam, d. h. im Norden Afrikas von Tripolis bis Marokko und im islamischen Spanien hat sich aus dem schlanken Zierkufi ein besonderer Schreibduktus herausgebildet, den man „Maghribi“ bezeichnet. Das älteste Kulturzentrum des Westens war das heutige tunesische Kairuan; arabische Wissenschaftler bezeichnen den westlichen Schreibstil auch mit „Qairuâni“. Auch in Sevilla und Valencia fand dieser Stil seine Pflegestätten und sogar in Sizilien, wo die Normannen die arabische Kunsttätigkeit weiterhin förderten (s. Abb. 39.10). Maurische Missionare brachten das Maghribi bis ins innere Afrikas nach Timbuktu, wo es aber in einer gröberen sudanesischen Abart geschrieben wurde. In Sizilien war es besonders der Stauferkaiser Friedrich II., der sich intensiv für die arabische Kultur interessierte. Im 14. und 15. Jahrhundert wetteiferten die Kalligraphen in Nordafrika mit denen in Granada und Cordoba, die schönsten und prachtvollsten Korane zu schreiben, geschmückt mit Arabesken, Blütenmotiven, Medaillons und Kartuschen. Kühnel (1986) unterscheidet in seinem Buch Islamische Schriftkunst vier unterschiedliche Schreibstile: Neben den westlichen Duktus Maghribi stellt er den steifen Duktus Kufi, den runden Duktus Naskhi und den schrägen Duktus Talik, der im 12. Jahrhundert in

14.  Kalligraphie

Abb. 14.16: Der erste Satz der Charta der Menschenrechte: Alle Menschen sind von Geburt her frei und gleich. Geschrieben in verschiedenen Stilen der islamischen Kalligraphie: 1. Naskhi 2. Tulut 3. Naskhi (modern) 4. Riqa 5. Diwani 6. Talik (persischer Stil) 7. Kufi (alt) 8. Ijaza 9. Maghrebinische Schrift (Magribi) 10. Jeli Diwani 11. Kufi (Aus: Massoudy 1981)

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Persien von den Kalligraphen durch eine veränderte Schreibrohrführung entwickelt wurde (s. Abb. 39.11). Dieser kalligraphische Schreibstil wurde sowohl von den Türken wie von den Schönschreibern der Moghulkaiser im mohammedanischen Indien übernommen. Islamische Kalligraphie stand hier in Indien bei Hofe in hohem Ansehen. Khatibi (197 7 , 242) sagt: „Ihrem eigentlichen Wesen nach ist die kalligraphische Kunst aristokratisch: sie erhebt sich über den Gemeinen und über das Gemeine, über den alltäglichen Lauf der Dinge; sie steht zwischen Himmel und Erde, im Anblick Allahs.“

4.

Fernöstliche Kalligraphie

In China und Japan ist die Schriftkunst die Königin der Künste. Noch heute lernen die japanischen Schulkinder ab der dritten Klasse das künstlerische Schreiben mit dem Pinsel; fast 2000 Kanji (= chinesische Schriftzeichen) müssen sie bis zur 9. Klasse lernen. Der Schreibunterricht beginnt immer mit einer Konzentrationsübung; mehrere Minuten sitzen die Schüler in absoluter Stille an ihrem Platz. Schon hier erkennt man als europäischer Besucher: Das Schreiben in Ostasien ist eine besondere Kunst. Liegt in Japan ein Gästebuch aus bei Veranstaltungen, so ist es ein Zeichen der inneren Kultur, sich mit dem Pinsel dort einzuschreiben. In China gehörte es bis ins 20. Jahrundert zur Staatsprüfung von Beamten, ein schönes Schriftstück mit dem Pinsel anzufertigen. Mit den chinesischen Schriftzeichen werden heute in China und Japan die ältesten Schriftzeichen auf unserer Erde geschrieben. Zugrunde liegt ihnen die uralte Bilderschrift Chinas, deren älteste Formen, in Knochen und Schildkrötenpanzern geritzt, ins 2. Jahrtausend v. Chr. datiert werden (→ Art. 26; Abb. 26.1 auf Tafel XI). Und wie lebendig die Bild- und Symbolkraft dieser alten Schriftzeichen für den Künstler von heute sind, erkennt man, wenn man von dem heute in China wirkenden Schreibkünstler Gu Gan (1987 , 89) liest: „Die chinesischen Schriftzeichen haben sich aus einer bildlichen Wiedergabe von Gegenständen, aus den Erkenntnissen unserer Vorfahren über die Natur und die frühe menschliche Gesellschaft entwickelt. Sie sind Verbildlichungen der Urkraft des Menschen. Die Piktographie hat die wesentliche Struktur der heutigen Kalligraphie festgelegt. Sie bildet den Rahmen, den der Künstler mit seinem Gefühl erkennen muß, um sie zu

einem künstlerischen Werk werden zu lassen. Damit deutet der Künstler das Universum an ...“. Seit der griechischen Antike schreibt der Europäer völlig abstrakte Lautzeichen; mit nur sechsundzwanzig Buchstaben schreiben wir die tiefsinnigsten Gedankengänge auf. Durch Synthese der Buchstaben bilden wir Worte, die nichts mehr sind als graphische Zeichen für die gesprochene Sprache. Das traditionelle Schriftzeichen in Ostasien deutet nichts über seine Lautung an; hierfür hat man in Japan zusätzlich verschiedene Silbenschriftsysteme entwickelt (→ Art. 27). Da man in Ostasien für jeden Gegenstand und für jede abstrakte Sache, also für jedes Wort, ein Schriftzeichen hat, stehen dem Schriftkünstler dort viele tausend Zeichen zur Verfügung, die in der alten Bilderschrift wurzeln. Der tiefe Sinngehalt der Piktogramme lebt wieder auf durch die Kreativität des Künstlers. Die komplexe Bedeutung der Schriftzeichen auszuloten und dieses innere Erlebnis mit Pinsel und schwarzer Tusche auf der weißen Fläche des Papiers zum Ausdruck zu bringen, ist ein wesentliches Anliegen der Schreibmeister in Ostasien (s. Abb. 14.7 auf Tafel XIII). Gu Gan (1987 , 90) bekennt: „Die Kunst der Kalligraphie ist die Resonanz der Seele des Menschen auf die Natur.“ Hier merkt man, das ist etwas anderes als die Kalligraphie in Europa. Es wird von Fachleuten auch immer wieder davor gewarnt, das japanische Wort Sho (= Schrift, schreiben; Shodo = Weg der Schrift) mit „Kalligraphie“ zu übersetzen. Durch die völlig unterschiedlichen Schriftsysteme in Ostasien und Europa haben die Künstler in Ost und West einen grundverschiedenen Formenvorrat als Ausdrucksträger und Gestaltungselement. Entscheidend für die Entwicklung des Schreibens zur höchsten Kunst in Ostasien war die Erfindung des Pinsels. Wahrscheinlich gab es Pinsel schon in der Shang-Dynastie (2. Jahrtausend v. Chr.). Der älteste überlieferte Pinsel stammt aus dem 5. oder 4. Jahrhundert v. Chr. Die archaischen, linearen Schriftzeichen, einst in Knochen geritzt, erhielten durch den Pinselduktus Dynamik, die Linie wurde lebendig. Im Laufe der Jahrhunderte bildeten sich die klassischen Schreibstile heraus (→ ausführlich Art. 26, Zf. 2): Siegelschrift Kanzleischrift Regelschrift Halbkursive Konzeptschrift

Chinesisch Zhuanshu Lishu Kaishu Xingshu Caoshu

Japanisch Tensho Reisho Kaisho Gyôsho Sôsho

14.  Kalligraphie

253

Abb. 14.18: Ausschnitt aus einem japanischen Vorlagenbuch für die Schreibausbildung. Jeweils das gleiche Schriftzeichen wird in drei verschiedenen Stilen nebeneinander vorgeführt. Reihe 1: Regelschrift (Kaisho), Reihe 2: Halbkursive (Gyosho), Reihe 3: Kursivschrift (Sosho)

Wang Hsi-Chih, der im 4. Jahrhundert n. Chr. lebte, gilt als der Ahnherr der chinesischen Kalligraphie. Vermutlich ist kein Original seiner Schreibkunst erhalten, sondern nur Kopien. Seine Werke setzten Maßstäbe und sind Vorbild bis heute. Mit sicherer Hand führte er den Pinsel und schrieb die unterschiedlichsten Stile bis hin zur flüssigen Eleganz der Kursivschrift Caoshu, bei der mehrere Schriftzeichen in kunstvoller Linienführung miteinander verbunden werden, während bei der Kanzlei- und Regelschrift jedes Schriftzeichen streng für sich steht, gut ausbalanciert im Raum eines unsichtbaren Quadrates. „Auf jeden Fall setzte diese Schrift den absoluten Standard für Schönheit und Eleganz in der gesamten weiteren Entwicklung der chinesischen Schriftkunst. In vielleicht etwas grober Verallgemeinerung kann man den geschichtlichen Ablauf der chinesischen Kalligraphie seit dem 4. Jahrhundert als wellenförmigen Wechsel zwischen traditionellem Festhalten an der von Wang Hsi-Chih geprägten orthodoxen Eleganz einerseits und der mehr oder minder heftigen Reaktion dagegen andererseits sehen“ (Goepper 1972, 606 f). Zu den „Vier Schätzen eines Künstlerate-

liers“ gehören in China und Japan seit alters: Pinsel : Jeder Schreibmeister besitzt eine Vielzahl von Pinseln verschiedenster Größe. Die Qualität des Pinsels wird von der Feinheit und Geschmeidigkeit des Pinselhaares bestimmt. Tusche : Die Tusche wird in Ostasien als schmaler, rechteckiger Tuscheriegel gehandelt. Der Künstler stellt sich seine flüssige Schreibtusche selbst her, indem er den Tuscheriegel auf einem Reibstein in kreisender Bewegung abreibt und mit etwas Wasser vermischt. Das Mischungsverhältnis von Tusche und Wasser bestimmt die Farbintensität der Schreibtusche vom hellen Grau bis zum tiefsten Schwarz. Der schwarze Farbstoff der Tusche ist Ruß verbrannter, harzhaltiger Kiefernhölzer, mit tierischem Leim dann vermischt, geformt und getrocknet. Reibstein : Die besten Reibsteine kommen heute noch aus China; in der Regel ist es schwarzer Schiefer mit einer Reibfläche, die an einem Ende vertieft ist für das Wasser. Reibsteine gibt es in unterschiedlichsten Formen; gute Reibsteine sind teuer und begehrte Sammlungsstücke. Papier : Papier ist eine chinesische Erfindung. Der Rohstoff sind Pflanzenfasern. Die chi-

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

254

nesischen und japanischen Papiere sind sehr saugfähig. Die schwarze Tusche dringt beim Schreiben sofort tief ins Papier; ein Korrigieren des Striches ist nicht möglich. Jede noch so feine Regung des Schreibens macht der mit Tusche getränkte Pinsel auf dem weißen Papier sichtbar. „Der Pinsel ist für uns, die wir Sho schreiben, keineswegs darauf beschränkt, nur ein Gerät zu sein. Wir sind mit dem Pinsel beschenkt als dem Ort, wo wir die Freiheit finden, den wahren Menschen, das eigentliche Selbst verwirklichen zu können. ... Die durch den Pinsel sichtbar werdende Form, das Sho, kann folglich nichts anderes sein als die Form der Lebensweise des Menschen im Pinsel.“ (Shiryu Morita 197 0, 10). Diese Sätze des japanischen Schreibmeisters Morita, 1912 geboren und heute in Kyoto tätig, stammen aus seinem Essay „Was ist der Pinsel. — Ein Instrument als Ort zur Freiheit“ (Morita 197 0, 5 ff). Hier kommt zum Ausdruck, wie in Ostasien die Kunst des Schreibens vom Ästhetischen hinüberwechselt zum Philosophischen, mit tiefen Wurzeln im Zen-Buddhismus. Der Künstler, der ein Schriftkunstwerk (Sho) schreibt, entscheidet den Schriftstil, er bestimmt den Schwärzegrad der Tusche, wählt den richtigen Pinsel, sucht das Papier aus und schreibt in höchster Konzentration. Jede Bewegung, jede Veränderung des Druckes auf den Pinsel wird sichtbar in der Tuschespur auf dem Papier. Das Herz, der Charakter, das Temperament, das innerste Wesen des Künstlers bestimmt das Leben, die Bewegung, die Spannung, den Rhythmus, die Eleganz, die Qualität der schwarzen Linie im weißen Raum des Papiers. Sho ist die Kunst der schwarzen Linie im weißen Raum. Das Prinzip, das dieser Kunst zugrunde liegt, heißt: Mit einfachsten Mitteln etwas Komplexes ausdrücken.

5.

Literatur

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14.  Kalligraphie

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255

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Christian Scheffler, Offenbach (Deutschland)

256

III. Schriftgeschichte History of Writing

15. Theorie der Schriftgeschichte 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

1.

Einleitung Ursprung der Schrift Abgrenzung der Schrift von anderen visuellen Zeichen Sprachbezug Entwicklung Rückblick und Ausblick Literatur

Einleitung

Die Geschichte der Schrift wird von den meisten Autoren, die solche umfassenden Versuche unternommen haben, als Abfolge zivilisatorischer Innovationen und systematischer Stufen bzw. Abstraktionsniveaus präsentiert. Derartige Darstellungen beruhen gewöhnlich auf evolutionistischen Annahmen, die jedoch nicht immer explizit gemacht oder gerechtfertigt werden. Die Detailfragen, um die es dabei geht, werden in anderen Artikeln dieses Kapitels zum Teil ausführlich behandelt. Dieser Artikel dient dazu, die wichtigsten Punkte aufzuzeigen, an denen Schriftgeschichte theorieabhängig ist, und auf theoretisch kontroverse Positionen hinzuweisen. Sie betreffen vier Grundprobleme: das des U rsprungs, das der Abgrenzung, das des Sprachbezugs und das der Entwicklung von Schrift.

2.

Ursprung der Schrift

Der U rsprung der Schrift bzw. einzelner Schriftsysteme ist auf der empirischen Ebene ein Problem archäologischer Evidenz. Die Aufgabe der empirischen Geschichtsschreibung besteht darin, eine historische Schrift zu ihren frühesten Formen und Vorläufern zurückzuverfolgen. Für manche, im übrigen gut erforschten Schriften ist diese Aufgabe noch nicht gelöst. Der U rsprung der chinesischen Schrift etwa liegt im Dunkeln, da die frühesten Inschriften auf den Bronzen der ShangZeit (1200—1050 v. u. Z.) ihrem Typ nach be-

reits dem vollausgebildeten Schriftsystem angehören (Boltz 1986; → Art. 26). Ob emblematische Zeichen auf Tongefäßen der Ta wen k’ou -Kultur einer wesentlich früheren Periode (etwa 4800—2000) mit den Zeichen der Shang -Bronzen in Beziehung stehen, ist ungeklärt. Nur weitere archäologische Funde können diese Lücke schließen. Ähnlich werden Hypothesen über das Verhältnis der Zeichen der alteuropäischen Vinča -Kultur des Donautals (5. und 4. Jahrtausend) zu anderen Schriften des östlichen Mittelmeerraums nur mit Hilfe weiterer Funde überprüft werden können (→ Art. 17). Aber auch da, wo scheinbar lückenlose archäologische Evidenz gegeben ist, sprechen die Dokumente nicht für sich. Sie bedürfen einer theoretisch fundierten Interpretation im Rahmen einer systematischen Geschichte der Schrift. Nur eine solche ermöglicht auch die Bewertung neuer Funde, indem sie von einer explizierten Definition von Schrift ausgeht. Rein deskriptive Darstellungen erwecken leicht den Anschein, als ginge es lediglich um die richtige Chronologie der Fakten; aber auch die beruhen gewöhnlich auf weitreichenden theoretischen Annahmen. Diringer etwa, der keine theoretischen Ambitionen hat, erklärt: „Zu schreiben begann der Mensch mit einer Bilderschrift“ (1968, 5). Gelb hingegen, dessen Buch A Study of Writing das bisher theoretisch anspruchsvollste und einflußreichste ist, machte das Bild zum einzigen und notwendigen Vorläufer der Schrift in einer evolutionistischen Hierarchie (Gelb 1963, 11). Diese Festlegung auf den bildhaften U rsprung aller Schrift ließ Gelb die Verwendung von Gegenständen zum Zwecke visueller Kommunikation — manchmal Sachschrift genannt — nicht als Schrift oder deren Vorläufer anerkennen. Die wichtigen, vor allem von Schmandt-Besserat (1979, 1981) interpretierten Funde von Zähl-Steinen, die mehrere Jahrtausende vor den ersten sumerischen

15.  Theorie der Schriftgeschichte

Schriftdokumenten datiert werden (→ Art. 16), zwangen Gelb zur Aufgabe seiner Position; denn einige der frühesten sumerischen Zeichen konnten zweifelsfrei mit den nichtbildhaften Abdrücken dieser Zählsteine identifiziert werden. In einer späteren Arbeit hat Gelb dem durch eine revidierte Definition von Schrift Rechnung getragen, die Formen und Farben von Gegenständen einschließt (Gelb 1980, 21 f). Die Annahme, das sumerische Schriftsystem als solches sei von den Zählsteinen abgeleitet, verwirft er dennoch. Sie muß als weiterhin kontrovers gelten, da nur einige Keilschriftzeichen auf Zählsteine zurückgeführt werden können. Neben der Form der frühesten Zeichen wird in der äußeren Motivation der Verwendung visueller Kommunikationsmittel eine Erklärung des U rsprungs der Schrift gesucht. Zweck und Leistung der Schrift werden darauf befragt, weshalb sie entstand. Die inhaltliche Deutung der Schriftdokumente und die Erklärung ihrer gesellschaftlichen Funktionen greifen dabei ineinander. Im mesopotamischen Kontext, aber auch in Ägypten und China verweisen die frühesten Inschriften auf den Bereich der Wirtschaft. In verschiedenen Arbeiten haben Nissen, Damerow & Englund (1990) eine umfassende theoretische Einschätzung der archäologischen Funde vorgelegt, nach der die Frühformen der Schriftlichkeit in Vorderasien von den Zählsteinen über die Rollsiegel bis zu den Tontafeln aus U ruk einheitlich als Kontrollmittel der Wirtschaft erklärt werden. Die Tatsache, daß sich keine schlüssige konsekutive Entwicklung von ersteren zu letzteren nachzeichnen läßt, das sumerische Schriftsystem (ebenso wie das ägyptische und chinesische) vielmehr relativ plötzlich auftritt, findet damit ebenfalls eine theoretische Erklärung: Die Notwendigkeit eines visuellen Aufzeichnungsmittels zur Steuerung wirtschaftlicher Prozesse war lange bekannt. Die Bedeutung der Idee, aus sprachunabhängigen Zeichen zum Festhalten von Mengen ein sprachbezogenes System visueller Informationsaufzeichnung zu machen, wurde deshalb unmittelbar erkannt, so daß der Ausbau der Schrift zu einem allgemein anwendbaren System in kurzer Zeit erfolgte (Nissen et al. 1990, 55). Damit rückt der Zahlbegriff ins Zentrum des theoretischen Interesses. Einerseits geht es dabei um den Übergang von der einfachen Aufzählung mittels Zählsymbolen („tokens“), deren Gesamtheit in einer Eins-zu-eins-Ent-

257

sprechung zu den gezählten Objekten die fragliche Menge repräsentiert, zu einem Zahlensystem, in dem verschiedene Zeichen verschiedene Zahlbedeutungen haben. Andererseits bedürfen die Zahlzeichen auf den frühesten Inschriften der Deutung. In einer detaillierten Analyse aller U ruk-Texte haben Nissen et al. (1990, 61 ff) die grundlegende Bedeutung der Zahlendarstellung für die Schriftgeschichte erneut erhärtet, indem sie den Übergang von der einfachen protoarithmetischen Summierung durch Zeichenwiederholung über komplexe protoarithmetische Summierung mit Ersetzungsoperationen zu arithmetischen Rechenoperationen dokumentierten. Sie konnten außerdem die seit langem bekannte, aber wenig beachtete arithmetische Mehrdeutigkeit der archaischen Zahlzeichen dadurch erklären, daß sie verschiedenen Zahlensystemen, u. a. dem Sexagesimalsystem und dem Bisexagesimalsystem angehören, die an strikt voneinander abgegrenzte Verwendungsbereiche gebunden sind, z. B. Viehhaltung, Hohlmaße, Stückgut, Kalender. Aus rein theoretischen Gründen kommt Harris (1986) zu der Auffassung, daß der U rsprung der Schrift in der Darstellung von Zahlen zu suchen ist, und zwar in ihrer nichtiterativen Darstellung. Eine wesentliche Bedingung ist die in vielen Frühkulturen anzutreffende Beziehung zwischen Zählen und schriftlicher Aufzeichnung. Sie setzt ein utilitaristisches d. h. nicht-magisches Verhältnis zu Zahlen voraus. Die entscheidende Abstraktion ist der Sprung von iterativen Zählsymbolen (fünf Zählsteine für fünf Kühe und fünf andersgeformte Zählsteine für fünf Schafe) zu einer emblematischen Stellennotierung (ein Zeichen für „Kuh“ gefolgt von einem Zeichen für 5). Diese auch von Ehlich (1983) betonte begriffliche Leistung kann nicht als allmählicher Übergang von ikonischen Bildern zu konventionellen Schriftzeichen erklärt werden. Harris (1986, 122 ff) sieht deshalb eine gewisse Berechtigung darin, die Schrift als Erfindung zu betrachten, eine Auffassung, die von Gelb kategorisch abgelehnt wurde. Die Frage nach dem U rsprung der Schrift betrifft für Harris weniger das historische Auftreten des einen oder anderen Schriftsystems, sondern ist vielmehr ein konzeptuelles Problem, dessen Lösung deshalb nicht primär dem Archäologen oder Philologen obliegt. Ein Zahlensystem und rudimentäre Rechenfähigkeit gehen nach seiner Auffassung der Schrift notwendig voraus.

III. Schriftgeschichte

258

3.

Abgrenzung der Schrift von anderen visuellen Zeichen

Wo beginnt dann Schrift? Auch das ist eine theoretische Frage, auf die verschiedene Antworten gegeben wurden. Auf die eine oder andere Weise unterscheiden die meisten Autoren zwischen Vorformen der Schrift und Schrift im eigentlichen Sinne. Mnemotechnische Hilfsmittel diverser Art, und zwar sowohl solche, die numerische Information festhalten — Kerbhölzer, Knotenschnüre, bemalte Kieselsteine — als auch solche, die propositionale Inhalte darstellen — Petroglyphen, Piktogramme, Zeichnungen — werden zu den Vorläufern der Schrift gezählt, wobei sie freilich meist nur negativ als „nicht Schrift“ identifiziert werden, ohne daß unbedingt deutlich wird, was sie zu deren Vorläufern macht. Als Vorläufer der Schrift können im weiteren Sinne alle Arten von Zeichen der visuellen Informationsaufzeichnung betrachtet werden. Im engeren Sinne sind dazu jedoch nur solche Mittel zu rechnen, die zu Schrift führten. Hierzu gehören vor allem die vorderasiatischen Zählsteine, deren Form und Funktion im sumerischen Schriftsystem eine Fortsetzung erfuhr. Im Falle anderer Techniken der Aufzeichnung von Mengen oder kalendarischen Einheiten wie z. B. den peruanischen Knotenschnüren ( Quippu ) besteht kein erkennbarer Zusammenhang mit einem Schriftsystem, so daß es eine terminologische Frage ist, ob sie sinnvollerweise als Vorläufer von Schrift zu klassifizieren sind. Ein in der Literatur häufig angeführtes Beispiel ist die sog. „Ideenschrift“ der nordsibirischen Jukagiren, von der wiederholt behauptet wurde, sie tauge dazu, gedankliche Inhalte graphisch darzustellen. Aufgrund einer detaillierten Rekonstruktion der Forschungsgeschichte, in deren Verlauf eine im 19. Jahrhundert gegebene Erklärung des vermeintlich rein semasiographischen Systems unkritisch von einer Darstellung der Schriftgeschichte in die nächste übernommen wurde, wird diese Auffassung von DeFrancis (1989, 24—35) verworfen. Sein Hauptargument weist in die Richtung begründeter Abgrenzungskriterien: Der vielzitierte jukagirische „Liebesbrief“ kann nicht ge l e s e n werden. Vielmehr stellt er das Produkt eines semiritualisierten Gesellschaftsspiels dar, dessen Regeln es in einem thematisch eng begrenzten Bereich erlauben, ihm eine Deutung zu geben. DeFrancis Kriterium der Lesbarkeit hilft,

die Abgrenzungsproblematik begrifflich zu präzisieren. Der jukagirische „Liebesbrief“ kann weder als Semasiographie noch als rudimentäre oder Vorstufe der Schrift gelten, weil er nicht lesbar ist, es niemals war oder sein wird. Demgegenüber weisen andere Zeichen Eigenschaften auf, die die Vermutung nahelegen, daß sie lesbar waren und es wieder sein könnten. Ob solche Zeichen Schrift oder ein vorschriftliches Notationssystem darstellen, liegt dann auch im Auge des Betrachters. Der Diskos von Phaistos wird gemeinhin für ein Schriftzeugnis gehalten, obwohl er nicht gelesen werden kann und bisher trotz zahlreicher „Lösungen“ kein überzeugender Nachweis vorliegt, daß er entzifferbar ist. Die mittelamerikanischen Schriften, insbesondere die der Mayas und Azteken (→ Art. 28), wurden lange als unvollständige Systeme und in diesem Sinne Vorläufer der Schrift betrachtet, weil man sie nicht lesen konnte. Auf der Basis unterschiedlicher theoretischer Positionen bezüglich der Definition und Abgrenzung von Schrift werden die alteuropäischen Zeichen aus dem Donautal von Masson (1984) als Vorläufer der Schrift, von Haarmann (1989) aber als Schrift klassifiziert, obwohl beide Autoren von derselben Beleglage ausgehen (→ Art. 17). U m solche U nsicherheiten zu minimieren, muß das funktionale Kriterium der Lesbarkeit um ein systematisches Kriterium ergänzt werden, das unter den Eigenschaften graphischer Zeichen diejenigen identifiziert, die Lesbarkeit gewährleisten. Jede gelungene Entzifferung hat zum Verständnis dieser Eigenschaften beigetragen und damit zugleich den Begriff von Schrift geschärft (→ Art. 29). Freilich wird das Problem der Abgrenzung durch das Kriterium der Lesbarkeit auf eine andere theoretische Frage verschoben, nämlich: Was ist Lesen? Daß Zeichen lesbar sind, impliziert, darüber herrscht Einvernehmen, daß sie einen Sprachbezug haben. Diese allgemeine Bestimmung läßt allerdings durchaus Raum für theoretische Kontroverse. Die Gefahr, die der Ausnutzung dieses Kriteriums für eine Wesensbestimmung von Schrift und ihre Abgrenzung von vor-schriftlichen Systemen birgt, ist, daß es inhaltlich von unserem heutigen Verständnis des Leseprozesses speziell alphabetisch geschriebener Texte geprägt ist. Was Lesen in archaischer Zeit beinhaltete, ist uns jedoch ebenso wenig bekannt, wie wir wissen, ob die Lesbarkeit schriftlicher Zeichen ihren frühen Benutzern schlagartig klar

15.  Theorie der Schriftgeschichte

wurde oder sich langsam herausstellte. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Bewertung von Piktogrammen zu. Viele Zeichen der sumerischen, ägyptischen, chinesischen und mittelamerikanischen Systeme haben Bildcharakter. Können sie sich aus sprachlich polyvalenten Zeichen für Gegenstände und Ideen im Laufe eines langwierigen Prozesses, an dessen Ende ein komplettes Schriftsystem stand, allmählich zu Zeichen mit eindeutigem Sprachbezug entwickelt haben, so daß sie u. U . über lange Zeit für einige Benutzer Bildsymbole und für andere bereits Schriftzeichen, d. h. Zeichen mit sprachlichen Denotaten waren? So lautet die gängigste Erklärung der Herausbildung von Schriftsystemen, obgleich der Übergang von Proto-Schrift zu Schrift unterschiedlich lokalisiert wird. Sprachbezug allein ist ein zu breites Definitionskriterium, um alle theoretischen Kontroversen über die Abgrenzung von anderen Zeichensystemen auszuräumen. Manchen, z. B. ikonographischen, Zeichensystemen läßt sich insofern ein Sprachbezug zuschreiben, als es konventionalisierte Instruktionen für die Verbalisierung des bildlich dargestellten Inhalts gibt. Diese Art von Sprachbezug ist es jedoch nicht, was Theoretiker der Schriftgeschichte gewöhnlich vor Augen haben. Vielmehr geht es um einen Bezug, der identifizierbare sprachliche Struktureinheiten betrifft. Für Gelb liegt dementsprechend die Wasserscheide zwischen Semasiographie, ProtoSchrift und Phonographie, Schrift im eigentlichen Sinne. Das Entstehen von Schrift ist für ihn identisch mit dem, was er Phonetisierung nennt. Die Piktogramme protoschriftlicher Systeme können nur zu Schrift werden, wenn dem einzelnen Zeichen ein phonetischer Wert zugeordnet wird, der unabhängig von der Bedeutung ist, die es als Wort(zeichen) hat (Gelb 1963, 193 f). Die Assoziation der Zeichen mit Lautwerten stellt auch DeFrancis (1989) als wesentlichen Schritt dar, was deshalb von besonderem Interesse ist, weil seine Expertise als Sinologe vor allem auf dem Gebiet einer Schrift liegt, die gewöhnlich als ideographisch bezeichnet wird und deren Lautbezug in vielen Arbeiten als sekundär dargestellt worden ist. In einer älteren, aber sehr einflußreichen Studie hat auch Cohen (1958) die Position vertreten, daß Phonetisierung den entscheidenden Punkt in der Schriftgeschichte markiert. Er identifiziert den Beginn der Schrift jedoch noch enger als Gelb

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nicht nur allgemein mit dem gewonnenen Lautbezug der Zeichen, sondern mit dem Rebusprinzip, nach dem das piktographische Zeichen für ein Wort auch für die Darstellung eines anderen, gleich oder ähnlich lautenden verwendet wird. Dieses Prinzip der lautlichen Abstraktion hat in drei Schriftsystemen, deren Entstehung für unabhängig gehalten wird, eine wichtige Rolle gespielt: im sumerischen (um 3000 v. u. Z.), dann im chinesischen (um 1500 v. u. Z.) und schließlich in dem der Mayas (um die Zeitenwende), → Art. 18, 26, 28. Die daraus von Cohen abgeleitete theoretische Bewertung der Bedeutung des Rebusprinzips für die Schriftgeschichte blieb allerdings nicht unwidersprochen. Harris (1986, 68) erkennt in ihm „nicht den Beginn der Phonographie, sondern die Sackgasse der Logographie.“ Aus der Perspektive voll ausgebildeter Schriftsysteme erscheint der konventionelle Sprachbezug als das kritische Kriterium für die Abgrenzung proto-schriftlicher Notationen von Schrift. Darüber, wie dieser Sprachbezug erreicht wurde und ob aus seinem Gegebensein in allen vollentwickelten Schriftsystemen folgt, daß Schrift als Mittel zur Abbildung von Sprache entstand, herrscht jedoch keine Einigkeit. Manche Autoren, insbesondere Gelb (1963), betonen die Notwendigkeit des Sprachlautbezugs, während andere ihn für kontingent halten und die Aspekte der Schriftgeschichte hervorheben, die auf die U nabhängigkeit des Mediums der Schrift von Sprache hinweisen. Diese Position wird am dezidiertesten von Harris (1986) vertreten und auch von Feldbusch (1985).

4.

Sprachbezug

Nach einer groben Scheidung fallen die Theoretiker, die sich grundsätzlich zur Bedeutung des Sprachbezugs von Schrift für deren Entwicklung geäußert haben, in zwei Gruppen: Surrogationalisten und Autonomisten. Erstere vertreten die verbreitete Meinung, daß Schrift ein notwendigerweise an Sprache gebundenes sekundäres Zeichensystem ist. Bloomfields (1933, 21) Feststellung, die Schrift sei nichts weiter als ein Mittel zur Aufzeichnung der Rede mit sichtbaren Zeichen, repräsentiert diesen Standpunkt. Die Annahme einer relativ autonomen, von Sprache unabhängigen Entwicklung der Schrift stellt die Minderheitenposition dar. Innerhalb der Sprachwissenschaft wurde sie am deutlichsten von Vertretern der Prager Schule ar-

260

tikuliert, insbesondere von Vachek (1973), dessen theoretisches Konzept zwei Normen, die der gesprochenen und die der geschriebenen Sprache, beinhaltet, die wegen der unterschiedlichen funktionalen Bedingungen mündlicher und schriftlicher Kommunikation relativ unabhängig voneinander sind. Das Maß der Abhängigkeit der Schrift von der Lautsprache ist Gegenstand unüberbrückbarer Differenzen. Aus theoretischen Gründen wird völlige Autonomie auf der einen Seite behauptet und völlige Abhängigkeit auf der anderen, während die Beurteilung einzelner historischer Schriftsysteme meist zu abgestufteren Positionen führt. Auch Autonomisten bestreiten nicht, daß Schriftdokumente lautsprachlich interpretiert werden können. Sie sehen jedoch die Abbildungsrelation nicht als unidirektional an. Weder hinsichtlich ihres U rsprungs, noch hinsichtlich ihrer Geschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart sollte Schrift nach dieser Auffassung konzeptuell auf ein Surrogat der Rede reduziert werden. Ohne den Sprachbezug schriftlichen Ausdrucks zu leugnen, betrachten Autonomisten Schrift als eigenständigen Faktor der Sprachgeschichte. Daß Sprachbezug für Schrift konstitutiv ist, impliziert noch kein klares Verständnis davon, was Schriftsysteme abbilden (→ Art. 3). Begründete Antworten auf diese Frage sind vielmehr in starkem Maße theorieabhängig. Die Geschichte der Entzifferung archaischer Schriften (→ Art. 29) ist auch die Geschichte der Überwindung konzeptueller Mißverständnisse. Die Beschäftigung europäischer Gelehrter im 17. Jahrhundert mit den ägyptischen Hieroglyphen etwa beruhte zum Teil auf der Faszination, die diese Schrift als ein vermeintlich universelles, d. h. einzelsprachunabhängiges Medium visueller Kommunikation ausübte. Hieroglypen, die sich später als Zeichen einzelner Laute erwiesen, betrachtete Athanasius Kirchner noch als Abbildungen ganzer Sinnzusammenhänge, was ihn und seine Zeitgenossen daran hinderte, zu erkennen, wie die ägyptische Schrift funktioniert. Auch die westliche Vorstellung von der chinesischen Schrift wurde nachhaltig durch die Beschäftigung mit dem Problem einer universellen Notation geprägt, obwohl hier nicht die Notwendigkeit der Entzifferung bestand. Leibniz glaubte in den lexikographischen Ordnungsprinzipien der chinesischen Schriftzeichen Eigenschaften einer solchen characteristica universalis entdecken zu können.

III. Schriftgeschichte

Der auch heute gebräuchliche Begriff Ideographie zeugt noch immer von den theoretischen Schwierigkeiten, die es bereitete, die Denotate der Einheiten verschiedener Schriftsysteme zu bestimmen. In der Verwendung vieler Orientalisten ist dieser Terminus gleichbedeutend mit Logographie. Von den Zeichen so klassifizierter Schriftsysteme wird gemäß der Aristotelischen Vorstellung, nach der Schriftzeichen für gesprochene Wörter stehen, die ihrerseits für Ideen stehen, angenommen, daß sie Wörter abbildeten. Ideographie wird jedoch auch in dem Sinne verwendet, den der Terminus nahelegt. So beschreibt Jensen die chinesische Schrift in seinem einflußreichen Buch (1969, 158) als eine „Begriffsschrift“, womit er dem Sinologen Creel folgt, der argumentierte, daß die relative phonetische Armut des Chinesischen die chinesische Schrift zu einem im Kern piktographisch-symbolischen und ideographischen System werden ließ, das Bedeutungen ohne Lautvermittlung darstellen kann. Andere Autoren haben dagegen behauptet, daß der Lautbezug in der chinesischen Schrift schon früh dominant war. DeFrancis (1984) resümiert diese Kontroverse und schlägt sich auf die Seite derer, die die chinesische Schrift für eine Lautschrift halten, wenn auch eine sehr unvollkommene. Der Bedeutungsgehalt chinesischer Zeichen ist aus seiner Sicht sekundären Charakters: Er kompensiert die U nvollkommenheit der Lautdarstellung. Diese Auffassung steht im Gegensatz zu herkömmlichen Darstellungen, nach denen chinesische Schriftzeichen primär Mittel der Bedeutungsrepräsentation sind, die durch den Lautgehalt der Zeichen sprachlich vereindeutigt wird. Wie im Fall der chinesischen Schrift bestehen auch bei anderen Systemen Probleme bei der Klassifikation der dargestellten bzw. abgebildeten Einheiten. Die ägyptischen Hieroglyphen etwa werden gewöhnlich in drei Klassen eingeteilt (Lurker 1980, 62 f). (1) Ideogramme sind Zeichen, die durch nicht lautlich vermittelten Bedeutungsbezug Wörter darstellen. (2) Phonogramme bezeichnen einzelne Konsonanten oder Folgen von zwei oder drei Konsonanten. Daß Vokale nicht dargestellt werden, erlaubt die mehrfache Verwendung eines Phonogramms. Mit dem Phonogramm wr , das für „Schwalbe“ steht, kann somit auch das Wort für „groß“ wr , geschrieben werden. (3) Determinative haben keinen Lautwert, sondern werden ans Wortende gesetzt, um dessen semantische Kategorie anzugeben. So beinhalten Städtenamen das

15.  Theorie der Schriftgeschichte

Ideogramm für „Stadt“. Die Schwäche dieser scheinbar klaren Einteilung ist, daß sie zur Mehrfachklassifizierung vieler Zeichen zwingt. Schwierigkeiten bereitet weiterhin die Detailinterpretation des Rebusprinzips, wie es in dem Beispiel zur Anwendung kommt. Ist wr ein polyvalentes Ideogramm, das zwei (oder mehr) Wörter bezeichnet, oder ist es ein monovalentes Phonogramm? Nur die zweite Möglichkeit macht es verständlich, daß von der ägyptischen Schrift behauptet wird, sie habe an der Schwelle zur Alphabetschrift gestanden. Diese Frage betrifft auch die Beurteilung der Leistung des Rebusprinzips. Stellt die Verwendung eines Wortzeichens für die Darstellung eines Homonyms schon den Schritt zur Lautschrift dar, oder erwirbt das Zeichen dadurch lediglich ein weiteres Wort als Denotat? Daß der Lautbezug an die Stelle des Bedeutungsbezugs tritt, kann mit Sicherheit nur behauptet werden, wo Wortzeichen für die Darstellung homonymer, an sich bedeutungsloser Wortteile verwendet werden. Das ägyptische Wort msdr „Ohr“ wurde als Zusammensetzung der Ideogramme ms „Fächer“ und dr „Korb“ dargestellt. Nur dieser analytische Gebrauch zeigt, daß mit den Hieroglyphen Laute geschrieben wurden. U m was für Lauteinheiten aber handelte es sich? Wie ist die ägyptische Schrift genau zu klassifizieren? Von Ägyptologen wird sie als Konsonantenschrift mit Ideogrammen und Determinativen beschrieben. Gelb hat sie demgegenüber als eine Wort-Silben-Schrift gekennzeichnet und bestritten, daß sie ein Konsonantenalphabet beinhaltet. Die nichtsemantischen Zeichen bzeichnen nach seiner Auffassung nicht Konsonanten, sondern Silben. Seine Begründung ist, daß „eine Entwicklung von einer logographischen zu einer Konsonantenschrift [...] in der Geschichte der Schrift undenkbar ist“ (Gelb 1963, 78). Die synchronische Analyse der ägyptischen Schriftzeugnisse erlaubt beide Deutungen. Die von Gelb vertretene Position ist in seiner Theorie der Schriftentwicklung begründet. Wo die Grundzeichen eines Schriftsystems keinen Bedeutungsbezug aufweisen, wie es beim griechischen Alphabet der Fall ist, das alle in der phönizischen Schrift vielleicht noch vorhandenen symbolischen Qualitäten der einzelnen Zeichen abgestreift hat, läßt sich die Frage, was die Zeichen abbilden, scheinbar leichter beantworten. Aber auch die begrifflich klare Identifikation der sprachlichen Ein-

261

heiten, die von Alphabetschriften bezeichnet werden, bereitet große Schwierigkeiten. Das allgemeine Problem ist, einen U nterschied zwischen intrinsischen Eigenschaften sprachlicher Äußerungen und solchen ihrer grammatischen Darstellung zu machen. Die als Kritik linguistischer Analyse formulierte Behauptung, das wissenschaftliche Verständnis von Sprache sei in starkem Maße durch den Filter der Schrift gerastert (Linell 1988), verdient, ernst genommen zu werden. Bezüglich des Alphabets geht es um das vieldiskutierte Problem des Phonem-Graphem-Bezugs. Gegenüber der vortheoretischen Annahme, die Buchstaben des Alphabets stellten lautliche Grundeinheiten der (griechischen) Sprache dar, die lediglich in theoretischer Präzisierung als Phoneme bezeichnet werden, ist die Auffassung vertreten worden, daß die Segmentierung des sprachlichen Lautkontinuums in Phoneme ein Epiphänomen der Alphabetschrift sei (Lüdtke 1969; Faber 1990). Wenn das Phonem, wie diese Auffassung nahelegt, aber keine vor der Alphabetschrift und unabhängig von ihr gegebene Einheit der Sprache ist, was waren dann die Denotate alphabetischer Buchstaben, als die Alphabetschrift entstand? Es ist ersichtlich die surrogationalistische Position, die zur Beantwortung dieser Frage zwingt, wohingegen Autonomisten durch sie nicht in Verlegenheit gebracht werden. Wer davon ausgeht, daß Schrift Sprache abbildet, muß zeigen können, wie sprachliche Einheiten mit solchen einzelner Schriftsysteme korrelieren und wie sich die Werte von Schriftzeichen verändern, wenn Schriftsysteme über lange Zeit in Gebrauch sind.

5.

Entwicklung

Das führt zu der Frage, ob oder in welchem Sinne die Alphabetschrift den Endpunkt einer Entwicklung darstellt. Dieser weitverbreiteten Überzeugung hat wiederum am explizitesten Gelb (1963) auf der Grundlage einer von ihm „Grammatologie“ genannten Theorie Ausdruck gegeben. Obwohl zwischen dem Auftreten von Schrift im fruchtbaren Halbmond, in China und in Mittelamerika kein Zusammenhang nachgewiesen ist, konzipiert er eine umfassende Geschichte der Schrift, die von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist. Diese teleologische Sicht ist für ihn vor allem in der Ähnlichkeit begründet, die er beim Wirksamwerden des Rebusprinzips für die Phonetisierung der sumerischen, ägyptischen und chinesischen Schrift konstatiert.

262

Die der Schriftgeschichte zugrunde liegende treibende Kraft ist nach Gelb (1963, 69) das Prinzip der Ökonomie, das darauf zielt, sprachliche Formen mit der kleinstmöglichen Zahl von Schriftzeichen darzustellen. Das einzige Kriterium für die Beurteilung der relativen Ökonomie eines Schriftsystems ist somit das Inventar der Grundzeichen, das in der Evolution der Schrift nach Reduktion strebt. Da Wörter in allen Sprachen zahlreicher sind als Silben und letztere wiederum zahlreicher als Phoneme, geht die Entwicklung zwangsläufig und unumkehrbar von der Wortschrift über die Silbenschrift zur Alphabetschrift: „Schrift entwickelte sich in einer bestimmten Richtung“ (Gelb 1963, 201). Ideographische bzw. logographische Systeme erfordern mehrere hundert Zeichen, Silbenschriften zwischen 50 und 120 und Alphabetschriften zwischen 20 und 40. Aufgrund dieser rein numerischen Eigenschaften können Schriftsysteme Systemtypen zugeordnet werden. Diese Typen müßten folgerichtig als Evolutionsstufen dargestellt werden. Dies wird von Gelb emphatisch bejaht, von anderen Theoretikern jedoch in Frage gestellt. Ein besonderes Problem in diesem Zusammenhang stellen die westsemitischen Schriften mit ihrer Betonung von Konsonanten dar (→ Art. 20) und, wie schon erwähnt, die ägyptische Schrift (→ Art. 19). Nach Anzahl und Abstraktheitsniveau gehören Konsonantenzeichen Alphabetschriften an. Diese sind jedoch nach Gelbs Auffassung von der ägyptischen Schrift abgeleitet. Seine evolutionistische Theorie zwingt ihn dazu, die ägyptische Schrift als Wort-Silben-Schrift und die Zeichen der westsemitischen Schriften als syllabisch mit unbestimmter Vokalqualität zu klassifizieren. Dies steht im Widerspruch zu der Behauptung, die ägyptische Schrift habe schon auf der frühesten Stufe Monokonsonantenzeichen enthalten (Ray 1986, 314). Gelbs Theorie wird nicht allgemein akzeptiert. Problematisch ist insbesondere, daß sie der Anzahl der Grundzeichen und den sprachlichen Einheiten, mit denen sie gemäß ihres Typs korrelieren, zu viel Gewicht beimißt und deren Funktionsweise innerhalb des Systems, zu dem sie gehören, zu wenig. DeFrancis (1989) Beschreibung der chinesischen Schrift als eines tendenziell syllabischen Systems, dessen schwache Laut-Zeichen-Korrelation durch semantische Determinative ausgeglichen werden muß, läßt sich mit Gelbs evolutionistischer Sicht nicht vereinbaren. Ähn-

III. Schriftgeschichte

lich kann die Klassifikation von Alphabetschriften nicht nur auf der Grundlage der Größe des Inventars der Grundzeichen erfolgen. „Tiefe“ alphabetische Schriftsysteme wie das englische machen extensiv von etymologischen Schreibungen Gebrauch; d. h. sie operieren auch auf der morphologischen oder lexikalischen Ebene der Sprachrepräsentation. Auch das läuft der von Gelb angenommenen U nidirektionalität der Entwicklung zuwider, wenn nicht nur ein unterstellter kanonischer Wert der Schriftzeichen außerhalb jedes Verwendungskontexts in Betracht gezogen wird. Auch wenn Gelbs Grammatologie einige allgemeine Entwicklungstendenzen deutlich werden läßt, ist sein Vorhaben, alle wichtigen Erscheinungen in der Geschichte der Schrift auf die Neigung zur Vereinfachung und Ökonomisierung zurückzuführen, zu ehrgeizig. Eine theoretische Begründung dafür, daß die Speicherung und Verarbeitung einer so großen Anzahl von Zeichen, wie sie für ein logographisches System notwendig sind, für den menschlichen Organismus ein prinzipiell anderes Problem darstellt als die Speicherung und Verarbeitung lautsprachlicher Wörter, bleibt er schuldig. Dies ist eine Schwäche seiner Theorie, da die unterstellte quasi-natürliche Neigung zur Verringerung des Zeicheninventars auf dieser Annahme beruht. Ein weiterer Kritikpunkt, der sich gegen Gelbs Theorie richtet, ist der von Harris (1986) erhobene Vorwurf, sie reflektiere in zu starkem Maß die durch die Alphabetschrift vorgegebene Perspektive, die es verhindere, die geschichtliche Entwicklung graphischer Kommunikation sui generis zu sehen, da durch sie die Aufmerksamkeit allein auf den Lautbezug schriftlicher Zeichen gelenkt werde. Harris treibt seine Forderung nach einer nicht durch die alphabetische Brille gefärbten Geschichte der Schrift freilich für die meisten Theoretiker unakzeptabel weit, wenn er, seinerseits teleologisch argumentierend, andeutet, daß die Entwicklung auf die Befreiung vom Bezug zur Lautsprache ziele. Auf andere Weise als in Gelbs Theorie wird der Sprachbezug schriftlicher Zeichen als wesentlicher Faktor der Schriftgeschichte dargestellt, wo die Bedeutung der Übertragung von Schriftsystemen auf andere Sprachen hervorgehoben wird (z. B. Coulmas 1989). Trotz mehrtausendjähriger Verwendung änderten das ägyptische und das chinesische Schriftsystem ihren Typ nicht. Mit ihnen wurde stets dieselbe Sprache dargestellt. Anders das su-

15.  Theorie der Schriftgeschichte

merische System, von dem angenommen wird, daß es die Stufe umfassender Phonetisierung erst erreichte, als es zur Wiedergabe einer anders strukturierten Sprache herangezogen wurde, nämlich dem im Gegensatz zum agglutinierenden Sumerisch flektierenden Akkadisch (Damerow, Englund & Nissen 1988). Nichts deutet daraufhin, daß Vereinfachungstendenzen die Entwicklung der inneren Systematik der ägyptischen und chinesischen Schrift beeinflußten. Im Gegenteil, im Laufe der Zeit nahm die Komplexität dieser Systeme durch die Proliferation von Determinativen und die Ausdehnung des Zeichenbestands zu. Eine reine Silbenschrift entstand aus der chinesischen Schrift erst, als sie für die Darstellung einer typologisch und strukturell sehr andersartigen Sprache verwendet wurde: die japanischen Kana. Chinesisch gehört dem isolierenden Typ an, Japanisch dem agglutinierenden. Auch der Schritt zur vollen Alphabetschrift zeugt nicht von Gelbs Ökonomieprinzip. Die Wiedergabe des Griechischen mittels der phönizischen Schrift resultierte in einer Schrift mit systematischerer Vokaldarstellung, nicht, wie oft zu lesen ist, in Vokalschreibung überhaupt. Die semitischen Schriften hatten verschiedene Möglichkeiten der Vokaldarstellung, die freilich oft nicht angewandt wurden. Da im Griechischen, anders als in den semitischen Sprachen, nicht allein Konsonanten semantische Wurzeln verkörpern, war die systematische Wiedergabe von Vokalen dringlicher. Dieser Prozeß ist jedoch kaum als Vereinfachung oder Ökonomisierung zu charakterisieren, da sich der Zeichenbestand dadurch nicht verringert, sondern geringfügig vergrößert hat. Was sich hier zeigt, ist vielmehr die Abhängigkeit der Schriftentwicklung von einzelsprachlichen Struktureigenschaften. Vereinfachungstendenzen sind in der Schriftgeschichte gewiß vielfach zu beobachten; aber Gelbs evolutionistische Theorie mißt der Größe des Zeichenbestands der Schriftsysteme zu viel Bedeutung bei. Die Funktionen, denen die Systeme dienen, ignoriert er demgegenüber weitgehend. Wenn die Geschichte der Schriften in ihren jeweiligen Funktionszusammenhängen untersucht wird, treten Tendenzen in den Vordergrund, die der von Gelb unterstellten U nidirektionalität der Entwicklung widersprechen. Durch das Ökonomieprinzip können allenfalls partielle Entwicklungen einzelner Schriftsysteme erklärt werden, nicht aber die Geschichte der Schrift als solche.

263

6.

Rückblick und Ausblick

Angesichts der Vielfalt der im Laufe der Geschichte entstandenen Schriftsysteme fällt es schwer, ihre komplexen Entwicklungen auf ein einziges Prinzip, das der Ökonomisierung des Zeichenbestands, zu reduzieren und Gelbs Auffassung zu folgen, nach der die Entwicklung zwangsläufig auf das einfachste und zugleich universelle Schriftsystem zustrebte. Wie alle Schriftsysteme weist auch das Alphabet Spuren der Anpassung an die Sprachen auf, für deren Wiedergabe es entstand, und seine Verwendung für die Darstellung mancher Sprachen hat zu höchst komplexen Systemen geführt. Aus diesem Grund ist Harris Forderung nach einer Geschichte der Schrift, die gänzlich vom Lautsprachbezug absieht, nicht weniger schwer zu akzeptieren. Der Sprachbezug muß ein zentraler Aspekt jeder Darstellung der Schriftgeschichte sein. Statt völlige Autonomie oder völlige U nabhängigkeit zu unterstellen und alle Phänomene in den vorgegebenen Rahmen einer unidirektionalen Entwicklung zu integrieren, muß die Geschichte der Schrift die Art des Sprachbezugs analytisch präsizieren, um die unterschiedlich großen Anteile von Laut- und Bedeutungsbezug am Funktionieren der verschiedenen Schriftsysteme zu erklären sowie Verschiebungen zwischen beiden im Laufe ihrer Entwicklung.

7.

Literatur

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III. Schriftgeschichte

264

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Florian Coulmas, Tokio (Japan)

16. Forerunners of Writing 1. 2. 3. 4. 5.

Tallies Tokens Sumerian Pictographic Tablets Conclusion References

In prehistory, as now, the economy determined the development of systems of data storage and communication. That observation becomes clear in tracing the forerunners of writing. Archaeological evidence recovered in the Middle East suggests that, in that region, from approximately 15,000 to 3,000 B. C., record-keeping devices developed in three major stages, which correspond to three different forms of economy and three distinct modes of counting. Hunters-gatherers used tallies for counting in one-to-one correspondence (about 15,000 to 8,000 B. C.); as the agricultural economy developed, farmers invented a system of clay counters for accounting (about 8,000 to 3,100 B. C.). These counters suited an archaic system of computing, tying numbers of the commodities counted. As cities and states began to appear, abstract

numbers were invented and recorded on clay tablets with pictographic writing (about 3,100 to 3,000 B. C.).

1.

Tallies

The earliest artifacts considered as possibly related to counting in the Middle East are bone awls, engraved with a series of strokes (cf. fig. 16.1 on plate I). The earliest notched bones of that kind were discovered in two Lebanese Paleolithic sites (Tixier 1976, Copeland & Hours 1977) dated ca. 15,000—12,000. Those objects continued to be used in the Fertile Crescent through the Mesolithic period and beyond. It is possible that such bone artifacts are tallies, counting devices with each stroke standing for one unit of whatever was being counted. As the simplest mnemonic device, one stroke on a bone probably represented one unit of an item, two strokes stood for two units, three strokes for three units, etc. Which is to say that accounting was handled in a

16.  Forerunners of Writing

manner of one-to-one correspondence. This in turn may suggest that at that time, as seems common in simple societies, people probably did not have a concept for numbers, but understood collections as a series of disconnected entities (“one” and “one” and “one”) instead of as coherent sets (cardinal numbers “1”, “2”, “3”) (Schmandt-Besserat 1987). The Vedda of Sri Lanka is a modern example of a culture that “counted,” but without any idea of cumulative amounts and had no words to express numbers. For example, they counted coconuts by matching each coconut with a twig. As they added each twig to the pile, they would say “and one more” until their collection of coconuts was exhausted. Then they would point to the pile of twigs and say “that many.” (Menninger 1977, 33). The function of the Paleolithic notched bones will never be known. Alexander Marshack (1972) theorized that the incised markings represented lunar notations. Although his theory has been met by criticism (D’Errico 1989), it is a reasonable supposition because calendrical data would have made it possible for groups of hunters and gatherers to meet at certain times and places for ritual and exchange of women and goods. Thus, the bone artifacts may suggest that some of the earliest record-keeping was related to time reckoning. If indeed these are tallies, the incised bones represent a first landmark in the evolution of data processing for they demonstrate that during the Paleolithic period, humans knew how to abstract data in three ways in order to store, manipulate and communicate information. The tallies translated concrete information into abstract marks (one sighting of the moon was shown by one incision); removed the data from its context (the same incisions were used to show one sighting of the moon whether the night was clear or rainy); and the tallies separated, for the first time, the knowledge from the knower (instead of the spoken word, data was presented in a static, visual form with unprecedented objectivity). The tallies had major inadequacies. The incisions on the bones did not indicate which item was being counted and did not allow for counting more than one item at a time. Each account called for a new tally. During that same period, humans probably also used such objects as pebbles, twigs or shells to keep count of things they considered important. And although they were more easily manip-

265

ulated, those objects shared the same unspecificity as the bone tallies. These rudimentary techniques of counting and record-keeping demonstrate the limited need that these early societies had for data processing because they did not accumulate large numbers of goods and, perhaps more importantly, individuals of egalitarian societies have equal access to the common resources.

2.

Tokens

A system of clay counters — tokens — represents the first unequivocal archaeological evidence for accounting in the prehistoric Middle East (Schmandt-Besserat 1990). Tokens were small clay artifacts, about 1—3 cm across, modeled into various geometric or naturalistic shapes, such as cones, spheres, disks, tetrahedrons, cylinders, triangles, vessels, animals, etc. Some of the counters were marked with incised lines or punctations (cf. fig. 16.2 on plate I). Tokens, dated from about 8,000 B. C. to about 3,000 B. C., have been found at archaeological sites from Syria to Iran, and from Turkey to Palestine. The earliest appearance of these objects coincided with the beginning of the domestication of cereals in the Middle East, two developments which seem directly related (Schmandt-Besserat 1991). It is logical to assume that agriculture marks the time when accounting became a matter of survival, as livelihood came to rely on the hoarding of large amounts of foods, and of putting aside quantities of seeds for the next crops. The first farmers had to develop a system of record-keeping to determine how much they could use to make their produce last until the next harvest and how many seeds needed to be put aside for the next planting. More significantly, agriculturalists are held to have initiated an economy of redistribution. It can be hypothesized, therefore, that the role of the tokens was controlling the communal goods. On the one hand, they were used to keep track of the input of individuals into the common granaries, and on the other hand, to record the redistribution of these goods by the leadership of the community. The tokens introduced an entirely new concept of data storage and communication, for each token shape (cone, sphere, etc.) was endowed with a particular meaning. For example, a cone stood for a small measure of

III. Schriftgeschichte

266

grain; a sphere stood for a large measure of grain; and a cylinder represented an animal. Even more importantly, the new accounting device was a system , an extensive organization of related counters. Then it became possible to manipulate different categories of items simultaneously. This development allowed for a high degree of complexity in data processing and permitted the system to grow by adding new token shapes as needed (Schmandt-Besserat 1988). The token system was the first code, the first system of signs used to convey information. The token system accomodated an archaic way of computing, which we call “concrete counting”, that predated the invention of abstract numbers. At this stage, the idea of the number is combined with that of the item being counted, using specific numerations to count different items. This method of reckoning is known in both the New and Old Worlds in such societies as the Tzeltals of Mexico (Berlin 1968, 20) or the Gilyaks on the River Amur. The Gilyaks used as many as 24 classes of numbers. They expressed “two” by different numerical codes in each of the following examples: 2 spears = “mex”; 2 arrows = “mik”; 2 houses = “meqr”; 2 hands = “merax”; 2 boards = “met”; 2 boots = “min”; 2 sledges = “mir”; etc. (Diakonoff 1983, 88). Thus, concrete counting explains the tokens of many different shapes. And, in turn, the token system illustrates that before the invention of abstract numbers, record-keeping required a multiplicity of special counters corresponding to a multiplicity of numerations to count goods. The token system, which coincided with agriculture, the storage of goods and an economy of redistribution, suggests that such innovations brought pressure on accounting. The counters of many shapes point out that the first farmers mastered the notion of cardinality, but counted concretely. In other words, they had no conception of numbers existing independently of grain and animals that could be applied to either without reference to the other. This invention of clay symbols was the first means of supplementing language by a code and was the direct precursor of writing.

3.

Sumerian Pictographic Tablets

The first state emerged in Sumer (present-day Iraq) in about 3,300 B. C. That new political

entity required citizens to contribute to the temple, where the goods were stored and later redistributed. The volume of accounting involved in keeping track of the income and outgo of the temple warehouses became so great that the archaic token system collapsed and was replaced by writing. And the clay tablets, the writing vehicle, also showed the first sign of abstract counting. The transition from the three-dimensional token system to two-dimensional writing on tablets can be documented step by step (Schmandt-Besserat 1980). Starting about 3,300 B. C., envelopes (hollow clay balls, 5 to 10 cm in diameter) were invented and used to contain the small clay tokens of a particular transaction (cf. fig. 16.3 on plate I). Some of the envelopes had signs impressed on the outside which corresponded to the shapes of the tokens within (cf. fig. 16.4 on plate I). These markings made it possible to check at all times the number and types of tokens held in the envelopes. Once the system of signs was generally understood, it made the presence of the tokens in the envelopes unnecessary. Thus, the invention of the envelopes ushered in a totally new system: the envelopes were flattened into clay tablets and the token symbols were impressed, w r i t t e n , on them (cf. fig. 16.5 on plate I). Styluses were subsequently used to trace the signs with more precision (cf. fig. 16.6 on plate I). The first signs of writing on the tablets were in the shapes of the tokens. Other important features that the pictographic tablets inherited from the tokens were: (1) Semanticity: Each pictograph was meaningful and communicated information; (2) Discreteness: the information conveyed was specific and each pictograph, as well as each token, conveyed a unique meaning. For example, the incised oval, like the former ovoid token, represented a unit of oil; (3) Systematization: each token and each pictograph were repeated systematically so that they carried the same meaning each time they were used (as incised oval always meant the same measure of oil); (4) Codification: The token system and the first repertory of written signs had many interrelated elements. While the impression of a cone stood for a small measure of grain, the impression of spheres represented a larger measure of grain, and the incised sketch of an ovoid stood for a jar of oil, etc. Thus, writing could also deal simultaneously with information about different items; (5) Openness: the system of written

16.  Forerunners of Writing

signs, like that of tokens, could be expanded as needed by creating new shapes. The signs could also be combined to form sets, which made it possible to store unlimited amounts of information about any number of items; (6) Independence of phonetics: just as tokens were word signs representing units of goods, written signs were also independent of spoken language and phonetics. Thus, they could be understood by many people speaking different languages; (7) Syntax: written signs were arranged in lines of the same kind with the largest units at the right. It is presumable that tokens were manipulated according to the same rules; (8) Economic contents: tokens, like the earliest written texts, dealt only with information about real goods. It was not until about 2,900 B. C. that writing began being used to record historical events and religious hymns. Writing eliminated most of the inadequacies of the token system by bringing about accounting innovations. First, writing ended the one-to-one correspondence by introducing special signs to express abstract numbers for “one, two, three ...” As a result, 60 jars of oil was no longer represented by 60 symbols, but by a sign for “60”, and a sign for “jar of oil.” The sign for “1” came from the cone, and was indicated by short wedge. The sign for “10” was a circular sign depicting a sphere. The sign for a “60” was a large wedge deriving from a large cone. U nlike the units of concrete counting, which were different for each product, the abstract numerals were used to count any item. Secondly, pictography consisted of sequences of signs fixed permanently on the face of the tablet instead of loose counters, more cumbersome to store and transport. Typically, the pictographic texts indicated the kinds of goods transacted, the number of units, and the name of the sponsor/recipient. So, information was recorded as “10 sheep (received from/delivered to) X” The names of individuals were recorded phonetically, leading to the development of a syllabary (→ art. 18). The third stage in the evolution of recordkeeping was ushered in with the formation of states. Especially, the economy of redistribution, which required the Sumerians to deliver surplus produce to the temple, caused the end of the token system. The pictographic tablets indicate the emergence of modern accounting with abstract numbers and phonetic writing.

267

4.

Conclusion

Before the invention of agriculture, huntersgatherers had little use for reckoning. Recordkeeping was probably limited to keeping track of time by tallying bones and was done by the method of one-to-one correspondence. Data processing became important with the first domestication of cereals and the establishment of an economy of redistribution. Thus, the neolithic farmers invented a token system to keep track of staple goods, suitable to the mode of concrete counting. With the rise of cities, industrial developments increased the need for data storage and accounting, and stretched the capacity of the token system. As states developed, pressure on the accounting systems rose and the token system collapsed with the invention of abstract numbers. Pictographic writing evolved then from the previous system. The forerunners of writing: tallies and especially tokens, give a new perspective on the evolution of communication in prehistory. They point out that, when writing began in Mesapotamia, it was not a sudden, spontaneous invention, as previously thought, but the outgrowth of many thousands of years’ worth of experience at manipulating signs. The earliest script inherited from tallies a method of abstracting data and from tokens fundamental aspects in form, content and structure. Furthermore, the forerunners of writing give new insights into the nature of writing. They establish that, in the Near East, writing emerged from a counting device and that, in fact, writing was the by-product of abstract counting. When the concepts of numbers and that of items counted were abstracted, the pictographs were no longer confined to indicating numbers of units of goods in one-to-one correspondence. With the invention of numerals, pictography was no longer restricted to accounting, but could open to other fields of human endeavor. From then on, writing could become phonetic and develop into the versatile tool that it is today, able to store and convey any possible idea. The invention of abstract numerals was the beginning of mathematics, it was also the beginning of writing. Lastly, tallies and tokens also raise new questions concerning the essence of writing. Was the first script of the Near East unique in deriving from a counting device? Or is literacy universally tied to numeracy? Is numeracy a prerequisite for literacy?

III. Schriftgeschichte

268

5.

References

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Denise Schmandt-Besserat, Austin, Texas (USA)

Der alteuropäisch-altmediterrane Schriftenkreis Alteuropäische Zivilisation und Schrift Das Problem alteuropäischer Kontinuität in der ägäischen Schriftkultur Die Anfänge der griechischen Schriftkultur (Linear B) Die Linearschriften Altzyperns Einflüsse ägäischer Schriftsysteme auf den Entstehungsprozeß des Alphabets Literatur

Alteuropäische Zivilisation und Schrift

Die Begriffe ‘Alteuropa’ und ‘alteuropäisch’ stammen aus der Archäologie, wo sie von M. Gimbutas (1974) eingeführt worden sind. Damit werden die neolithischen und chalkolithischen Kulturen im Donauraum bezeichnet, die bereits im 6. Jahrtausend v. Chr. einen zivilisatorischen Entwicklungsstand erreichten, wie er für Mesopotamien erst im 4. Jahrtausend v. Chr. typisch ist. Aus einer gemeinsamen europäisch-anatolischen Kulturschicht des Neolithikums vollzog sich in Alteuropa — schneller als in Kleinasien — der Wandel zu einer frühen Zivilisation. Die Zivilisation Alteuropas wurde von einer seßhaften, Akkerbau treibenden und Metall verarbeitenden Bevölkerung getragen, die in einer matrifo-

kalen Gesellschaft mit fortgeschrittener Arbeitsteilung, urbaner Siedlungsweise und religiösen Zentren organisiert war. Die Alteuropäer waren nichtindogermanischer Herkunft. Im Mittelpunkt ihres religiösen Lebens stand die Verehrung der ‘Großen Göttin’, einer Naturgöttin mit vielfältigen Funktionen. In Alteuropa wurden Regenkulte, Vegetationsriten und ein ausgeprägter Ahnenkult praktiziert. Die Chronologie alteuropäischer Fundschichten war lange unsicher, und das Abstecken eines zeitlichen Rahmens gelang erst durch die Kalibrierung älterer, unzuverlässiger Radiokarbondaten durch Kontrollwerte der Dendrochronologie (Baumringaltersbestimmung) in den siebziger Jahren. Die erste vollständige Chronologie Alteuropas wurde von Gimbutas (1989, 332 mit einer Detailübersicht) erarbeitet. Zu den Errungenschaften des Chalkolithikums (Stein-Kupfer-Zeit) in Südosteuropa gehört der Gebrauch einer Linearschrift, deren Anfänge auf die Zeit um 5300 v. Chr. zurückgehen. Beschriftete Objekte, von denen die meisten im zentralen Kulturareal des Vinča-Komplexes (benannt nach dem Hauptfundort südlich von Belgrad) gefunden worden sind, sind bereits seit dem vergangenen Jahrhundert bekannt. Ihre historische Einordnung war aber solange nicht

17.  Der alteuropäisch-altmediterrane Schriftenkreis

möglich, wie eine gesicherte Datierung ihres Kulturmilieus fehlte. Das sensationell hohe Alter der alteuropäischen Schriftdokumente ist unabhängig voneinander von Winn (1981), Masson (1984) und Haarmann (1989) bestätigt worden. Vom ausgehenden 6. Jahrtausend bis zur Mitte des 4. Jahrtausends v. Chr. wurde die alteuropäische Linearschrift verwendet (s. eine allgemeine Einführung in Haarmann 1990 a, 70 ff). Die meisten der bisher bekannten Dokumente sind aus der Zeit vor und nach 4000 v. Chr. überliefert. Es handelt sich dabei insbesondere um beschriftete weibliche Tonfiguren (Idole), Figuren von Opfertieren (z. B. Widder), Tonware (Kultschalen, Libationsgefäße, Votivgaben), Spinnwirtel, Webgewichte und Siegel (s. Abb. 17.1; weitere Illustrationen bei Haarmann 1990 a, 74 ff, Typologie bei Haarmann 1994, Kap. 1). Die meisten Inschriften sind kurz und bestehen nur aus ein, zwei oder drei Zeichen. Es gibt allerdings auch längere Sequenzen mit mehr als zehn Einzelzeichen (Beispiele bei Winn 1981, 139 ff). Es besteht kein Zweifel, daß es sich hierbei um Schriftzeichen handelt, denn das relativ beschränkte Symbolinventar der alteuropäischen dekorativen Kunst unterscheidet sich von der Schrift deutlich durch die rigide Stilisierung seiner Grundmotive und eine klare Tendenz zu ornamentaler Symmetrie. Bisher sind knapp über 230 Einzelzeichen der alteuropäischen Schrift identifiziert worden (Gesamtinventar bei Haarmann 1994, Tabelle 32). Rund ein Drittel des Symbolrepertoires besteht aus Zeichen mit piktographischideographischem Charakter, in anderen Zeichen kann man eine hochgradige Stilisierung ursprünglich wohl naturalistischer Symbole erkennen. Bei der Mehrzahl der Schriftzeichen handelt es sich um abstrakte Symbole (z. B. V- und Winkelzeichen, Kreuz, Dreieck, Kreis und Halbkreis, Quadrat). Nach der Chronologie der Inschriften ist der Gebrauch piktographisch-ideographischer Zeichen typisch für die älteste Periode, obwohl auch in der Spätphase motivierte Symbole vorkommen. Dagegen werden arbiträre Symbole, die bereits von Anbeginn vertreten sind, in der Spätphase häufiger (Winn 1981, 101 ff). Der archäologische Befund erlaubt allerdings nicht die Annahme einer internen U mstrukturierung der alteuropäischen Schrift von einer Variante der Logographie mit überwiegend piktographischen Symbolen zu einer Variante der Phonographie mit abstrakten Symbolen wie im Fall des Wandels

269

von der altsumerischen Piktographie zur sumerischen Silbenschrift. Ein Vergleich der Schriften des Altertums offenbart nur ein System, das nach der äußeren Struktur seiner Zeichen, nach den Proportionen von motivierten und abstrakten Symbolen sowie nach der Kürze der Inschriften den alteuropäischen Verhältnissen ähnelt. Dies ist die Indus-Schrift des 3. Jahrtausends v. Chr. (Parpola 1986). Es sind dies typologische Ähnlichkeiten, ohne daß von einer historischen Abhängigkeit der einen von der anderen Schriftkultur auszugehen wäre. Ein Charakteristikum sowohl der alteuropäischen als auch der Indus-Schrift ist die Anwendung der „diakritischen“ Technik zur Variation von Grundzeichen (und zwar mittels Punkten oder Strichen). Diese Technik ist ein wichtiges organisatorisches Instrumentarium für die Strukturierung des alteuropäischen Schriftsystems. Es lassen sich zahlreiche Zeichengruppen klassifizieren, die aus einem Grundzeichen, dessen einfachen oder komplexen Variationen sowie Zusammensetzungen bestehen. Die Art der beschrifteten Objekte, die kulturelle Einbettung der Fundstücke sowie deren vorwiegende Verbreitung an Kultstätten lassen auf einen sakral-rituellen Charakter der alteuropäischen Schrift schließen. Der archäologische Befund weist dieser Schrift keine nennenswerten praktisch-wirtschaftlichen Funktionen zu. Eine Ausnahme sind Gewichte, in deren Beschriftung Ansätze einer praktischen Verwendung zu erkennen sind. Die Anbringung der Zeichensequenzen auf Kultgegenständen lassen Weihinschriften oder Beschwörungsformeln vermuten. In engem Zusammenhang damit sind Inschriften auf Tongefäßen zu sehen, die man an Siedlungsplätzen gefunden hat. Deren Inhalt dürfte dem magischer Formeln zur erhofften Langlebigkeit des Gefäßes sowie zur Segnung seines Gebrauchs entsprechen (Winn 1981, 237). Magische Formeln finden sich wohl auch auf Webgewichten und durchbohrten Anhängern, die sich in ihrer Größe von den beschrifteten Gewichten unterscheiden und die man unschwer als Amulette deuten kann. Die Schrifttradition in Alteuropa hat keine erkennbaren Vorläufer gehabt. Dies bedeutet einerseits, daß in den Donaukulturen keine Spuren eines vorschriftlichen Gebrauchs von Symbolen festzustellen ist, ähnlich etwa dem System der Zählsteine ( calculi ) in Mesopotamien, die das Vorstadium zum Schriftbesitz markieren (→ Art. 16). Zum anderen muß

III. Schriftgeschichte

270

Abb. 17.1: Beschriftete Objekte der Vinča-Kultur (aus Haarmann 1990: 73—76)

17.  Der alteuropäisch-altmediterrane Schriftenkreis

man wegen des hohen Alters der beschrifteten Objekte davon ausgehen, daß die alteuropäische Schrift eine autochthone Entwicklung ist, also kein Kulturimport von außerhalb Europas sein kann. Ein Vergleich mit den zeitlich späteren Schrifttraditionen des Alten Orients und Ägyptens zeigt außerdem weder hinsichtlich des ikonischen Materials noch bezüglich der Organisationsprinzipien nennenswerte Parallelismen. In Alteuropa waren auch vor der Schriftverwendung keine Töpferzeichen in Gebrauch. Diese Verhältnisse ähneln denen in Mesopotamien, wo auch keine Töpferzeichen aus der Zeit vor U ruk IV bekannt sind. Es kann vermutet werden, daß einige der alteuropäischen Zeichen, die sich auf dem Boden von Tongefäßen finden, Töpfermarken sind. Dies aber war mit Sicherheit eine Nebenfunktion, denn die meisten Schriftzeichen sind am oberen Rand und auf dem Bauch der Tongefäße eingeritzt, also an Stellen, die für Töpfermarken nicht in Betracht kommen. Töpferzeichen werden in Europa erst in der frühen Bronzezeit (3. Jahrtausend v. Chr.) häufiger (s. u.). Sucht man nach Ähnlichkeiten für diese sakral-rituellen Funktionen der alteuropäischen Schriftkultur, so findet man sie im Schriftgebrauch Altchinas. Dort diente die Schrift ebenfalls rituellen Zwecken. Sämtliche Inschriften der späten Shang-Zeit, deren älteste aus der Zeit vom Ende des 13. Jahrhunderts v. Chr. stammen (Keightley 1978), finden sich auf Gegenständen, die im Dienst divinatorischer Praktiken standen (auf Hirschknochen und Schildkrötenpanzern). Die Schrift diente der Kommunikation zwischen Menschen und göttlichen Wesen, wozu in Altchina Gottheiten wie auch gottgleiche Ahnen gerechnet wurden. Als deren Vermittler fungierte in China wie in den Donaukulturen eine mächtige Priesterkaste. Der sakrale Charakter der Schriftverwendung erklärt auch, weshalb sich der Zeichenbestand über lange Zeiträume hinweg stabil und wenig verändert erhalten hat. Dies gilt für das Zeichenrepertoire der Shang-Zeit ebenso wie für die Linear-Schrift in Alteuropa. In den östlichen Randzonen des alteuropäischen Kulturareals (Moldawien und Westukraine) war es schon vor 4000 v. Chr. zu Kontakten mit den indogermanischen Viehzüchternomaden, den Trägern der KurganKultur, gekommen. Im 4. Jahrtausend v. Chr. drangen indogermanische Reiterhorden aus den Gebieten nördlich des Schwarzen Meeres

271

in mehreren Wellen immer weiter nach Westen und Südwesten vor und eroberten die Zentren der alteuropäischen Zivilisation. Die vorindogermanische Bevölkerung wurde vertrieben oder paßte sich den neuen Machtverhältnissen an. Für die Zeit um 3500 v. Chr. zeigt der archäologische Befund den endgültigen Abbruch der alteuropäischen Kulturtraditonen im einstigen Kernland. Auch die Schrift wird danach nicht mehr verwendet.

2.

Das Problem alteuropäischer Kontinuität in der ägäischen Schriftkultur

Das unvermittelte Aufblühen der Kykladenkultur um 3200 v. Chr., deren Kulturmuster direkt an die alteuropäischen Traditionen anknüpfen, läßt nur einen Schluß zu, daß nämlich die indogermanische Invasion des Festlandes eine Flüchtlingsbewegung beachtlichen Ausmaßes an die Küsten der Ägäis und in den Inselarchipel ausgelöst hat. Im 3. Jahrtausend v. Chr. setzt auch der Schriftgebrauch wieder ein, und zwar mit den Siegeln aus Lerna (Peloponnes) und der beschrifteten Tonware aus Phylakopi (Melos; Renfrew 1972, 183 ff). Die Zeichen stammen aus dem alteuropäischen Repertoire, darunter ist auch das Hakenkreuz (Haarmann 1994, Kap. 3). Töpferzeichen aus der frühen Bronzezeit sind ebenfalls an verschiedenen Siedlungsplätzen in Südgriechenland und auf den Kykladeninseln gefunden worden. Am stärksten war der Einfluß der alteuropäischen Migranten auf die Entwicklung der minoischen Zivilisation Altkretas. Der Zustrom von Siedlern vom griechischen Festland im Verlauf der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. läßt sich archäologisch nachweisen. In jene Zeit, d. h. in die Vorpalastperiode, fällt auch der Gebrauch der ältesten linearen Zeichen auf Kreta, unter anderem des Doppelaxtzeichens (Rutkowski 1986). Die kretische Hieroglyphenschrift ist etwas später, nämlich mit den Siegelinschriften vom Ende des 3. Jahrtausends v. Chr., dokumentiert; also reicht die Entwicklung des linearen Schriftsystem weiter zurück. Dies entspricht auch den Bedingungen der kulturellen Kontinuität von Alteuropa bis Altkreta. Erst vor kurzem hat eine Gesamtinventarisierung der Parallelismen im Zeichenbestand der alteuropäischen Schrift und von Linear A die engen historischen Bindungen zwischen beiden Systemen offenbart (Haarmann 1989, figure

III. Schriftgeschichte

272

2, mit Ergänzungen in Haarmann 1994, Tab. 99). In über 60 Einzelzeichen (entsprechend etwa 50%) des Inventars von Linear A manifestiert sich deutlich deren alteuropäische Herkunft. Diese Proportionen ähneln denen im Vergleich zwischen Linear A und Linear B (s. u.). Die Parallelen erschöpfen sich nicht im graphischen Repertoire, sondern betreffen auch die Organisationsprinzipien der Schriftsysteme. Hierzu gehört der lineare Charakter der Zeichen, die Anwendung der diakritischen Technik zur Variation von Basiszeichen sowie die Gewohnheit, Schriftzeichen in Ligaturen zu schreiben, eine Tradition, die für Linear B nicht mehr typisch ist. Der lineare Schriftgebrauch Altkretas folgt der Tradition Alteuropas auch darin, daß Linear A überwiegend sakral-rituelle Funktionen übernimmt. Die Beschriftung von weiblichen Tonfiguren und Nachbildungen von Opfertieren auf Kreta zählt ebenfalls zum alteuropäischen Kulturerbe. Zu den kretischen Innovationen der Schriftkultur gehören praktische Verwendungen, wie sie etwa im Fall beschrifteter Tonplomben zur Versiegelung von Gefäßen nachgewiesen sind (Haarmann 1994, Kap. 4). Die Hieroglyphen sind ebenfalls eine kretische Innovation. Entgegen früheren Annahmen, wonach die Linearschrift eine Ableitung aus diesem System sei (Raison & Pope 1971), sprechen die chronologischen Verhältnisse der Kulturkontinuität dagegen (s. o.). Vielmehr ist davon auszugehen, daß die Hieroglyphenschrift eine Parallelentwicklung zur Linearschrift ist, wobei der ältere lineare Zeichenschatz selektiv integriert wurde. Die kretischen Hieroglyphen fungierten vorrangig als Zeremonialschrift, ähnlich den ägyptischen Hieroglyphen. Exemplarisch kann man dies am Schriftgebrauch des Diskos von Phaistos erkennen, dessen ritueller Spiraltext im Zusammenhang mit dem Ahnenkult stand (s. Haarmann 1990 b, 216 ff). Die Hieroglyphenschrift und Linear A stehen zwar entwicklungsmäßig in einer chronologischen Abhängigkeit zueinander, nicht aber hinsichtlich ihrer regionalen Verwendung (Brice 1990). Vielmehr ist für verschiedene Orte (z. B. für Phaistos oder Hagia Triada) eine literarische Diglossie anzunehmen, wobei die Hieroglyphenschrift als H-Variante zeremonielle Funktionen erfüllte, während Linear A als L-Variante anderen Zwecken diente (z. B. der Inventarisierung von Opfergaben für religiöse Feste).

3.

Die Anfänge der griechischen Schriftkultur (Linear B)

Griechische Siedler gelangten erst um 2000 v. Chr. in ihre bronzezeitlichen Wohnsitze auf dem Festland. Als ein äußeres Zeichen dafür, daß sie Nachzügler der frühen Völkerwanderung in Südosteuropa waren, kann der U mstand interpretiert werden, daß das Wort für ‘Meer’ im Griechischen ( thalassa ) sowie andere nautische Termini aus der Sprache der vorgriechischen (= nichtindogermanischen) Bevölkerung entlehnt wurden. Hunderte von vorgriechischen Lehnwörtern im Griechischen sowie zahlreiche nichtgriechische Ortsund Gewässernamen legen Zeugnis von den Spuren der vorindogermanischen Besiedlung Griechenlands und der Ägäis ab (Katičić 1976, 55 ff). Von Anbeginn stand die Kulturentwicklung der frühen Griechen unter kretisch-minoischem Einfluß. Als Ergebnis des Fusionsprozesses von einheimischem und minoischem Kulturerbe entfaltete sich die Hochkultur der mykenischen Griechen im 16. Jahrhundert v. Chr. Zwar war den Mykenern die kretische Linearschrift bereits auf dem Festland bekannt, für ihre Muttersprache adaptierten sie Linear A aber erst nach der Besetzung des nördlichen Kreta. Bald nach 1500 v. Chr. war Linear B vollständig ausgebildet (Hooker 1979). Die ältesten griechischen Texte in dieser Schriftvariante stammen aus der Zeit um 1450 v. Chr., und zwar aus den Palastarchiven von Knossos. Linear B mit seinen etwas mehr als achtzig Silbenzeichen und seinem Bestand an Ideogrammzeichen ist eine vereinfachte Version des älteren Systems Linear A, das mehr als 120 Einzelzeichen umfaßte. Ob es sich auch bei letzterem um eine Silbenschrift handelt, ist trotz der Studien von Best (1972, 1988) unsicher. Die meisten Dokumente in Linear B sind Tontafeln, die ursprünglich ungebrannt waren, und ihr Inhalt war daher nicht dazu bestimmt, für eine längere Zeit aufbewahrt zu werden. Deshalb enthalten die Tafeln, die man in den Archiven von Knossos, Khania, Mykene, Tiryns, Pylos und in anderen mykenischen Zentren gefunden hat, auch größtenteils Texte (Inventarlisten der Palastbürokratie), die historisch belanglos sind (Hooker 1980, Appendix). Die Tafeln sind durch einen günstigen Zufall erhalten: sie wurden im Feuer der zerstörten Paläste gebrannt. Interessanter sind Weihinschriften und Eigentums-

17.  Der alteuropäisch-altmediterrane Schriftenkreis

vermerke in Linear B, die auf mykenische Vasen gemalt wurden. Hier kommt der eigentlich kursive Charakter dieses Schriftsystems zum Tragen.

4.

Die Linearschriften Altzyperns

Kretische Kulturgüter fanden ihren Weg auch ins östliche Mittelmeer, nach Zypern und in die Küstenstädte Syriens. U garit (das heutige Ras Schamra) war der wichtigste west-östliche U mschlagplatz. Die kulturelle Institution Schrift war den Bewohnern Zyperns bereits im ausgehenden 3. Jahrtausend v. Chr. bekannt, ein einheimisches Schriftsystem war aber erst nach 1600 v. Chr. voll ausgebildet. Die kypro-minoische Schrift reflektiert in erster Linie den Einfluß von Linear A, zusätzlich auch der kretischen Hieroglyphen. Daneben gibt es auch einige alteuropäisch-zyprische Parallelismen ohne Beteiligung von Linear A. Die ältesten Dokumente in KyproMinoisch stammen aus Enkomi. Diese Texte sind in einer nicht näher bekannten Sprache (Eteokyprisch) aufgezeichnet, die weder indogermanischer noch semitischer Herkunft war. Es werden zwei Varianten des KyproMinoischen unterschieden, eine ältere (Kypro-Minoisch I) und eine jüngere (KyproMinoisch II) mit reduziertem Zeichenbestand (Masson 1987). Eine regionale Variante des Kypro-Minoischen ist das in Texten aus U garit dokumentierte Levanto-Minoisch. Das Kypro-Minoische repräsentiert eine fortgeschrittenere Stufe der Schriftentwicklung als Linear A oder Linear B, weil es ausschließlich aus Silbenzeichen besteht, d. h. keine Ideogrammzeichen verwendet. Dies trifft auch auf das jüngste zyprische Schriftsystem zu: Kyprisch-Syllabisch. Dieses System ist seit Mitte des 11. Jahrhunderts v. Chr. dokumentiert. Damit wurden Eteokyprisch und Griechisch, die Sprache der aus Arkadien eingewanderten Siedler, geschrieben. Diese Schriftart lehnt sich an das Kypro-Minoische und an die ältere kretische Linearschrift an. Es gibt auch bemerkenswerte Reminiszenzen in der Organisationsstruktur zum alteuropäischen Zeichensatz (Haarmann 1994, Kap. 5). Linear B spielte keine dominierende Rolle für die Entwicklung des Kyprisch-Syllabischen, wie früher angenommen wurde. Texte in kyprisch-syllabischer Schrift werden erst im 6. Jahrhundert v. Chr. häufiger. Im Verlauf des 4. Jahrhundert v. Chr. rivalisieren das einheimische Kyprisch-Syllabische und das Alpha-

273

bet in Zypern zur Schreibung des Griechischen. Im 3. Jahrhundert v. Chr. schließlich kommt die kyprisch-syllabische Schrift außer Gebrauch. Damit endet die jahrtausendealte Tradition autochthoner linearer Schriftsysteme in Europa.

5.

Einflüsse ägäischer Schriftsysteme auf den Entstehungsprozeß des Alphabets

Angesichts der Variationsbreite linearer Schriftsysteme in der Ägäis und auf Zypern während der Bronzezeit kann es nicht verwundern, daß sich Nachklänge dieser Schriftkultur sowohl im ägäischen Raum als auch außerhalb, nämlich in Kleinasien und im Nahen Osten finden. Beschriftete Objekte aus dem ägäischen Raum gelangten schon um die Wende vom 3. zum 2. Jahrtausend v. Chr. in den Nahen Osten (Buchholz 1969). Der lineare Zeichenbestand der Byblos-Schrift wie auch diejenigen Buchstaben des phönizischen Alphabets, für die keine semitischen Namen überliefert sind, weisen auf Parallelen zum alteuropäisch-ägäischen Zeichenschatz (→ Art. 25). Die Entstehung des semitischen „U ralphabets“ ist insofern das Ergebnis eines Fusionsprozesses, in dem sich ägyptischer, syrisch-palestinischer und ägäischer Kultureinfluß spiegeln. Fusionsprozesse ähnlicher Art sind auch später bei der Adaption des phönizischen Alphabets für das Griechische zu beobachten. Die nichtphönizischen Zusatzzeichen des griechischen Alphabets (phi, khi, psi), das im Milieu der griechisch-minoischen Kultursymbiose auf Kreta entstanden ist, rekrutieren sich aus dem ägäischen linearen Zeichenbestand. Mehr als ein Drittel der Buchstaben des karischen Alphabets des 6. Jahrhunderts v. Chr. sind phonetisch umgedeutete zyprische Silbenzeichen (Haarmann 1990 a, 430). Adaptionen von ägäisch-zyprischen Linearzeichen zur Ergänzung von Buchstaben für im Griechischen fehlende Laute ist auch für andere regionale Schriftarten in Kleinasien charakteristisch (z. B. Lydisch, Lykisch). Zum ägäischen Kulturerbe der ProtoEtrusker gehören auch Anklänge an die älteren Linearschriften. Zwar wurde das Alphabet in einer westgriechischen Variante übernommen, ein Sonderzeichen (für [f]) und die Zahlzeichen aber sind ein Relikt aus den Zeiten ägäischer Schriftkultur (Haarmann 1994, Kap. 8). Über etruskische Vermittlung

III. Schriftgeschichte

274

sind die meisten dieser Zahlzeichen in den Kanon der lateinischen Schreibkonvention übergegangen.

6.

Literatur

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Harald Haarmann, Helsinki (Finnland)

18. Die sumerisch-akkadische Keilschrift 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

1.

Allgemeines Keilschriftsprachen System und Umschrift Schriftträger, Schreibtechnik, Textgestaltung Aspekte antiker Keilschriftphilologie Ursprung und Geschichte Schriften im Umkreis der Keilschrift Literatur

Allgemeines

Die Keilschrift (im folgenden KS) ist ein in

Südmesopotamien beheimatetes Schriftsystem, das von der späten U ruk-Zeit (ca. 3200 v. Chr.) bis zum Beginn der christlichen Ära in Gebrauch war. Die modernen Bezeichnungen (Edzard 1976—80, § 1) beziehen sich auf die charakteristischen, „keil“- oder „nagel“-förmigen Zeichenelemente, die schon früh ältere Ritzlinien ersetzten. Voraussetzung für die Entzifferung (Friedrich 1966, 44—57) der sum.-akk. KS war die auf der Deutung von Titeln und Namen beruhende 274

18.  Die sumerisch-akkadische Keilschrift

Entzifferung der altpersischen KS (s. u. Zf. 7.8.; → Art. 29)) durch G. Grotefend zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Das daraus gewonnene Textverständnis wurde auf die elamischen und babylonischen Versionen achämenidischer Inschriften angewandt. Entscheidend für die weiteren Fortschritte (H. Rawlinson, E. Hincks, E. Botta, J. Oppert u. a.) war die Erkenntnis, daß das Babylonisch-Assyrische eine semitische Sprache ist (I. Löwenstern), zu deren Deutung man bekannte Sprachen wie Hebräisch, Aramäisch und Arabisch heranziehen konnte. Die KS diente, soweit erkennbar, zunächst zur Wiedergabe des Sumerischen, erfuhr ihre systematische Vervollkommnung in der Anpassung an das typologisch wie phonologisch sehr verschiedene Akkadische und wurde dann auf weitere Sprachen übertragen. Das vollständig ausgeprägte KS-System ist eine Kombination aus Wort- und Silbenschrift. Wichtige wissenschaftliche Darstellungen aus neuerer Zeit bieten Gelb 1963 und Edzard 1976—80 (beide mit ausführlicher Bibliographie).

2.

Keilschriftsprachen

2.1.—2.  Die Hauptsprachen der KS-Kultur sind das Sumerische und das Akkadische. Das Sumerische (Thomsen 1991), eine genealogisch nicht sicher anknüpfbare, agglutinierende Ergativsprache, erlosch etwa zu Beginn des 2. Jahrtausends, wurde aber als logographische Komponente des Schriftsystems sowie als Literatur- und Kultsprache bis zum Ende der KS-Kultur weitertradiert. Das Akkadische ist die nach dem Reich von Akkade (24.—22. Jh.) benannte semitische Sprache Mesopotamiens (dialektübergreifende Grammatik: von Soden 1969); die Sprachstufe der mesopotamischen Schriftdenkmäler des 3. Jahrtausends (Gelb 1961) wird zusammenfassend als „Altakkadisch“ bezeichnet; engstens verwandt (und hier im Terminus „Akkadisch“ inbegriffen) ist das Semitische der etwa ins 24. Jahrhundert datierenden KS-Texte aus dem syrischen Tell Mardīḫ — Ebla (Fronzaroli 1982). Vom Beginn des 2. Jahrtausends an unterscheidet man die Hauptdialekte (Alt/ Mittel/Neu-)Babylonisch und (Alt/Mittel/ Neu-)Assyrisch. 2.3.  Für das in der Gegend von Susa gesprochene, vielleicht mit den Drawida-Sprachen verwandte Elamische (Grillot-Susini 1987) bestand seit altakk. Zeit eine einheimische KS-

275

Tradition, die sich überwiegend in Bau- und Weihinschriften manifestiert. 2.4.  Hauptsprache der an Gattungen reichen Schriftkultur des kleinasiatischen Hethiterreiches (16.—13. Jh.) ist das indoeuropäische Hethitische (Kammenhuber 1969 a). Eingebettet ins hethitische Schrifttum sind Texte in den verwandten Sprachen Luwisch und Palaisch sowie in (Proto-)Hattisch (Kammenhuber 1969 b), einer älteren Sprache unbekannter Zugehörigkeit, und in Hurritisch (2.5.). 2.5.  Das mit dem U rartäischen (2.6.) verwandte und weiter vielleicht zum Nordostkaukasischen gehörige Hurritische (Friedrich 1969; Diakonoff 1971; Diakonoff & Starostin 1986; Wilhelm 1989) ist seit dem Beginn des 2. Jahrtausends in verschiedenen eigenständigen Schreibtraditionen faßbar; spätere (15.—13. Jh.) Zentren sind das hurritische Mittani-Reich selbst, von dessen Archiven ein in El-Amarna (Ägypten) gefundener Königsbrief zeugt, Emar, Ugarit und Boğazköy. 2.6.  Die Sprache des um den Van-See gelegenen Reiches U rartu (Friedrich 1969; Diakonoff 1971; Diakonoff & Starostin 1986; Wilhelm 1986) ist in Bau- und Weihinschriften aus dem 8.—7. Jahrhundert überliefert. 2.7.  Das U garitische, meist in einem eigenen Alphabet (7.4.) geschrieben, ist keilschriftlich durch lexikalische Texte, Glossen und ein literarisches Fragment dokumentiert (Huehnergard 1987). 2.8.  Das normalerweise alphabetisch geschriebene Aramäische (7.4.) ist keilschriftlich durch eine Beschwörungstafel aus dem seleukidischen U ruk vertreten (Dupont-Sommer 1942—44). 2.9.  Innerhalb der mesopotamischen Beschwörungsliteratur begegnen fremdsprachliche — soweit erkenntlich: elamische und hurritische — Passagen (van Dijk, Goetze & Hussey 1985, 3 f). 2.10.  Lexikalische Texte (Cavigneaux 1980— 83) tradieren neben Sumerisch und Akkadisch auch andere Sprachen: Kassitisch, Hethitisch, Hurritisch, Ugaritisch, Ägyptisch. 2.11.  Akk. Texte aus anderssprachigem Milieu (nordwestsemitisch, hurritisch, ägyptisch)

III. Schriftgeschichte

276

enthalten fremde Wörter, die oft durch „Glossenkeil“ (3.4.6.) markiert sind. Das Akkadische selbst zeigt in solchen Gebieten fremde Einflüsse in Lexikon, Morphologie und Syntax. Zur keilschriftlichen Überlieferung nordwestsemitischer Sprachen s. Sivan 1984; zu hurritischen Substratwirkungen im Akkadischen von Nuzi vgl. Wilhelm 1970; eine neuere Zusammenfassung des keilschriftlich überlieferten ägyptischen Materials (zuletzt Ranke 1910) fehlt; stellvertretend für zahlreiche Einzelbeiträge vgl. Edel 1980 mit Lit. 2.12.  Die keilschriftliche Überlieferung vieler Sprachen beschränkt sich auf Eigennamen; sie bilden z. B. die Hauptquelle für das Amurritische, die Sprache(n) der im 3. und 2. Jahrtausend nach Mesopotamien eindringenden semitischen Nomaden (Knudsen 1991 mit Lit.).

3.

System und Umschrift

Charakteristisch für das voll entwickelte KSSystem sind Multifunktionalität und Polyvalenz der Zeichen: Ein Zeichen kann als Wortzeichen (Logogramm) oder Lautzeichen (Phonogramm) verwendet werden; statt eines einzigen Zeichens treten in diesen Funktionen auch Zeichengruppen auf. Ferner können bestimmte Logogramme als semantische Klassifikatoren (Determinative) dienen. Die meisten Zeichen haben mehrere Wort- und Silbenwerte. 3.1. Umschrift Die für die KS entwickelten U mschrift-Konventionen ergeben sich aus den besonderen Überlieferungs- und Sprachverhältnissen. Sie weichen teilweise deutlich von den sonst in diesem Handbuch üblichen Auszeichnungsverfahren ab. Die wissenschaftliche Transliteration der KS ist so konzipiert, daß sie einerseits interpretiert, d. h. jedem Zeichen gemäß Kontext Funktion und Wert zuweist, andererseits aber die Identität des Zeichens erkennen läßt. Die für die Transliteration verbindlichen Zeichenwerte sind in modernen Zeichenlisten (s. 6.4.) zusammengestellt; Zeichen unbekannter Lesung (vorwiegend aus frühen Schriftepochen) werden durch ihre Nummern in einschlägigen Zeichenlisten identifiziert. 3.1.1.  Als moderne Zeichennamen benutzt man die gebräuchlichste(n) Lesung(en) eines

Zeichens. 3.1.2.  Homophone Werte verschiedener Zeichen werden durch Indizes unterschieden, die das jeweilige Zeichen identifizieren; der Index 1 wird nicht ausgedrückt, anstelle der Indizes 2 und 3 werden meist Akut bzw. Gravis gesetzt; U 1 = U, U 2 = Ú, U 3 = Ù, U 4 , U 5 sind also 5 verschiedene Zeichen mit Lesung /U/. 3.1.3.  Transliteration in Kleinbuchstaben deutet an, daß ein Zeichenwert konkret-lautlich gemeint ist und gegebenenfalls der Sprache des betreffenden Textes angehört. Ansonsten benutzt man Großbuchstaben: z. B. für Zeichennamen oder logographische Werte, die nicht der Sprache des betreffenden Textes angehören. Sumerisch wird im Druck üblicherweise gesperrt gesetzt, andere Sprachen kursiv. Kleingeschriebene, lautliche Konstituenten eines Wortes werden gewöhnlich durch Bindestrich, Bestandteile von Logogrammen durch Punkt miteinander verbunden. 3.1.4.  Hochgestellt werden gewöhnlich Determinative, phonetische Komplemente und Glossen (3.4.5.). 3.1.5.  Zur Beschreibung der Struktur zusammengesetzter Zeichen benutzt man + und ×. Das Pluszeichen symbolisiert enges Zusammentreten oder Ligatur zweier Zeichen, das Multiplikationszeichen besagt, daß das zweite Zeichen in das erste eingeschrieben ist. 3.1.6.  Neben der Zeichen-für-Zeichen-Transliteration wird — besonders für das phonologisch und morphologisch am besten rekonstruierbare Akkadische — auch eine zusammenhängende U mschrift verwendet (vgl. von Soden 1969, 8 f). Sie wird hier zur U nterscheidung von transliterierten Zeichen zwischen Schrägstriche gesetzt. 3.2. Anzahl der Zeichen Der gebräuchliche Zeichenbestand variiert nach Zeit, Region, Sprache und Textgattung. Die Summe aller je belegten selbständigen Zeichen (die Grenze zwischen aus einzelnen Zeichen bestehenden Logogrammen und zusammengesetzten Zeichen ist bisweilen unscharf) dürfte auf etwa 900 zu veranschlagen sein. Das voll entwickelte System des 2. und 1. Jahrtausends umfaßt ca. 600 selbständige Zeichen, doch kommen die meisten Texte mit viel weniger aus: z. B. werden für die syllabi-

18.  Die sumerisch-akkadische Keilschrift

sche Wiedergabe des Akkadischen in altbabylonischer Graphie nur etwa 110 Zeichen gebraucht. 3.3. Zeichenfunktionen 3.3.1. Logogramme Zeichen oder Zeichengruppen, die ein Wort repräsentieren, ohne dieses (primär) lautlich wiederzugeben, werden Wortzeichen oder Logogramme genannt. So steht etwa G U D , das Bild eines Rinderkopfes, für sum. /gud/ oder (mit Abfall des auslautenden Verschlußlautes) /gu/ „Rind“, transliteriert g u d bzw. g u 4 . In nicht-sum. Texten steht das Zeichen für das jeweilige Äquivalent des sum. Wortes, also z. B. für akk. /alpum/ und dessen Flexionsformen. Sum. Wortwerte in nicht-sum. Kontext werden als „Sumerogramme“ bezeichnet; sie werden meist ergänzt durch die tatsächliche Lesung (in gebundener U mschrift), also z. B. alpum ( G U 4 ) oder G U 4 ( alpum ) im Nominativ Singular, alpim ( G U 4 ) oder G U 4 ( alpim ) im Genitiv. Sehr viele Zeichen haben mehrere Wortwerte: z. B. steht das Zeichen K A für k a „Mund“, z ú „Zahn“, g ù „Stimme“ i n i m „Wort“ d u g 4 / d u 11 „sprechen“ und deren Äquivalente. Neben einfachen gibt es verschiedene Typen zusammengesetzter Logogramme. So steht eine Kombination aus U D „Tag“, „Sonne“ und D U „gehen“ für è „herauskommen“ (akk. /waṣûm/); solche Kombinationen heißen nach dem Beginn einer einschlägigen lexikalischen Liste ( S I . A = d i r i ) „Diri-Komposita“. Einige Komposita enthalten ursprüngliche Lautindikatoren, d. h. Elemente, die die Lesung andeuteten, wie G I Š und T Ú G in G I Š . P I . T Ú G = G È ŠT U G „Ohr“. Andere sind sogar gänzlich phonetisch strukturiert: meist handelt es sich um alte Rebus-Schreibungen ins Sumerische entlehnter akk. Wörter: M A . NA = akk. / manûm/ „Mine“; M A Š . E N. GAG = akk. /muškênum/ (älter /muška' 'inum/) „Angehöriger einer Gesellschaftsklasse“, das auf eine Rebus-Schreibung m a š - ga g - e n zurückgeht. Sumerogramme sind oft grammatisch strukturiert. So besteht E 2 . GA L , das Logogramm für akk. /ēkallum/ „Palast“ (sum. Lehnwort), aus E 2 „Haus“ und GA L „groß“, die auch als selbständige Logogramme gebraucht werden. Wenn das Zeichen K A als Logogramm D U G 4 für akk. /qabûm/ „sprechen“ (sum. d u g 4 / d u 11 ) intendiert ist, wird dies oft durch Zusatz von GA ( D U G 4 . GA oder D U 11 .GA; phonetisches Komplement, s. 3.4.5.) verdeutlicht, was andere Wortwerte

277

wie k a „Mund“ etc. ausschließt. Als sum. Form ist /duga/ ein mit Morphem -/a/ gebildetes „Partizip“ von /dug/. In der ältesten akk. Orthographie können auch syllabisch geschriebene akk. Wörter wie Sumerogramme behandelt und zum Ausdruck des Plurals verdoppelt werden. Das hethitische Schriftsystem verwendet als Wortzeichen neben Sumerogrammen auch Akkadogramme (syllabisch dargestellte akk. Wörter). 3.3.2. Zahlzeichen Es gibt allgemeine und spezielle Zahlzeichen; letztere drücken zugleich ein bestimmtes Maß aus. Die sprachliche Realisierung von Ausdrücken aus Zahl, Maß und Gemessenem bleibt wegen der formelhaft-logographischen Notation oft unsicher. 3.3.3. Determinative Ein Determinativ ist ein lautsprachlich nicht realisiertes Logogramm, das ein logographisch oder syllabisch dargestelltes Wort einer semantischen Klasse zuweist. Die Determinativsetzung wurde wohl zur U nterscheidung verschiedener Bedeutungen eines Logogramms konzipiert. Determinative bestehen aus einem einzigen Zeichen und repräsentieren substantivische Begriffe: Personen (Gott, Mann, Frau); Tiere (Vogel, Fisch, Boviden, Equiden); Pflanzen (Baum, Rohr, Kraut, Gras); unbelebte Materie (Stein, Metall); geographische Begriffe (Ort, Land, Fluß). Determiniert werden untergeordnete Begriffe der einzelnen Gattungen und — gegebenenfalls — aus dem entsprechenden Material verfertigte Gegenstände: so steht ĝ i š „Baum/Holz“ vor Baumnamen und vor Bezeichnungen aus Holz verfertigter Gegenstände. 3.3.4. Syllabogramme Als Phonogramme verwendete KS-Zeichen heißen „Syllabogramme“, da die so dargestellten Sprachsegmente Silben sind. Das Akkadische als semitische Sprache mit einem gut rekonstruierbaren Phonembestand spielte eine entscheidende Rolle für den Ansatz der Lautwerte. Laut- und Silbenstrukturen anderer KS-Sprachen sind zunächst nur „durch die Brille“ des Akkadischen erkenntlich. Die meisten syllabisch verwendeten Zeichen haben verschiedene Lautwerte, doch sind nicht alle gleichzeitig und am selben Ort gebräuchlich. Die Silbenwerte eines Zeichens sind entweder phonetisch unabhängig ( U D = ud; tam ), oder phonetisch verwandt ( GA = ga,

III. Schriftgeschichte

278

kà, qá ; I G = ig, ik, iq, eg, ek, eq ; B I = bi, pi, bé, pé ; P I = wa, wi, we, wu ; N I M = nim, num ). Primäre Quelle für Silbenwerte sind sum. Lexeme: ga < sum. ga „Milch“, ig < sum. i g „Tür“. Seit altakk. Zeit werden auch Silbenwerte aus akk. Lexemen abstrahiert: sum. a 2 = akk. /idum/ „Arm“ > id ; sum. s i k i l = akk. /ellum/ „rein“ > el ; sum. k u r = akk. /mātum/ „Land“ > mat ; sum. n í ĝ „Sache“ = akk. /ša/ (Determinativ-, Relativpronomen) > šá . Die meisten Syllabogramme wurden von Anfang an für Gruppen phonetisch verwendeter Silben gebraucht, deren differenzierende Transliteration meist auf moderner linguistischer Interpretation, nicht aber auf der Existenz kontrastierender Syllabogramme beruht, s. unten (4) und (5). Später wurden neue Silbenwerte auch durch stärkere lautliche Differenzierung aus bestehenden gewonnen, wie z. B. lat, nat aus mat . Die wichtigsten Eigenschaften der Syllabogramme sind folgende: (1) Strukturtypen sind (C = Konsonant, v = Vokal): v, Cv, vC, CvC, spät (besonders neuassyrisch) auch (C)vCv. (2) v(C)-Syllabogramme vertreten altakk. und in Ebla noch bestimmte Anlautkonsonanten: z. B. i = /yi/, /hi/, /ḥi/; ì = /’i/, /‛i/; il = /’il/; il 2 = /yil/. Im späteren Akkadisch fallen ’, ‛, ḥ, h, ġ, z. T. auch w und y, in ’ zusammen, das seinerseits nur bedingten Phonemcharakter hat und z. T. schwindet; die gebundene U mschrift berücksichtigt ’ im Wortlaut nicht. (3) Im Sumerischen werden z. T. die dem Akkadischen fremden Phoneme ĝ (etwa ŋ ) und „dr“ (Affinitäten zu d und r, meist bloß r transliteriert) von g bzw. r unterschieden: z. B. ĝ á versus ga ; r á ( D U ) versus r a . (4) Ältere akk. Syllabare unterscheiden noch ṯ und (Ebla) ḏ, die später mit š bzw. z zusammenfallen: z. B. ŠA = /ṯa/, /ḏa/; SA = /ša/. (5) Ältere Syllabare (Ebla, altakk., altassyrisch) unterscheiden bei Verschluß- und Zischlauten nicht zwischen stimmhaftem, stimmlosem und emphatischem Vertreter einer Reihe: z. B. GA = /ga/, /ka/, /qa/; Z A = / za/, /sa/, /ṣa/. Später werden Differenzierungen für fast alle Cv(C)-Werte geschaffen ( GA = /ga/, K A = /ka/, Q A = /qa/), jedoch nicht konsequent genutzt; undifferenzierbar blieben z. B. /da/ und /ṭa/, /za/ und /ṣa/. (6) Für silbenauslautende Konsonanten gab es nie entsprechende Differenzierungen: I G = /ig/, /ik/, /iq/, A Z = /az/, /as/, /aṣ/ etc. (7) An Vokalqualitäten werden durchgehend /a/, /i/ und /u/ (manche CvC-Werte schwanken auch hier), bedingt /i/ und /e/ (im Ak-

kadischen kein primäres Phonem) unterschieden. Die altsum. Lagaš-Texte differenzieren z. B. zwischen ì ( N I ) und e, b í ( N E ) und b é ( B I ). Im akk. Syllabar existiert für /Ci(C)/ und /Ce(C)/ meist nur ein Zeichen (RI = ri, re ; I R = ir, er ; Š I M = šim, šem); verschiedene Zeichen haben i und e, bi und be, m i und m e, ni und ne, ši und še, ti und te . Für /o/, dessen Rolle im Sumerischen und Akkadischen noch weiterer Klärung bedarf, gab es keine allgemeingültige Ausdrucksmöglichkeit. Einige altbabylonische Texte aus Nippur zeigen differenzierende Plene-Schreibungen: Cu- u/u 4 = /Cō/, Cu-ú = /Cū/) (Westenholz 1991). Differenzierung von /i/ und /e/, /u/ und /o/ findet sich ferner in hurritischem Milieu, wo z. T. K I = /ki/ und G I = /ke/, Ḫ I = /ḫi/ und Ḫ E = /ḫe/, G U = /ku/ und K U = /ko/, Ú = /u/ und U = /o/ unterschieden werden. (8) Vokalquantitäten wurden nicht durch verschiedene Syllabogramme differenziert. 3.3.5. Zur Unterscheidung von Logogrammen und Syllabogrammen Die Grenzen zwischen logographischer und syllabischer Funktion sind bisweilen, besonders in der sum. Graphie, fließend. U m sporadische auf Homophonie beruhende RebusSchreibungen von systematischer Lautschrift zu unterscheiden, sollte der Begriff „Syllabogramm“ die Existenz eines frei verwendbaren Syllabars voraussetzen. Z. B. wird sum. t i (l) „leben“ regelmäßig mit dem Zeichen für t i „Pfeil“ geschrieben. Im Kontext der sum. Normalgraphie wird man t i (l) „leben“ jedoch als Logogramm zu bewerten haben, da dort Wortbasen primär logographisch dargestellt werden und t i (l) in der älteren sum. Graphie nicht Teil eines frei verwendeten Syllabars ist. 3.3.6. Interpunktionszeichen Ein allgemeingültiges Interpunktionssystem hat die KS nicht ausgebildet. Frühe lexikalische Texte beginnen die einzelnen Fächer mit einem dem Zahlzeichen 1 entsprechenden Griffeleindruck. Dasselbe Phänomen ist auch in einigen frühen literarischen Texten zu beobachten. Ein Worttrenner kommt altassyrisch in Gestalt eines kleinen, senkrechten Keils vor. In späterer Zeit werden verschiedene Markierungszeichen (meist einfache oder doppelte, kleine, schräge Keile) verwendet: z. B. um Glossen zu markieren („Glossenkeil“), sich wiederholende Passagen abzu-

18.  Die sumerisch-akkadische Keilschrift

kürzen, die Versionen zweisprachiger Texte zu trennen. Das Zahlzeichen 2 dient allein ( M I N ) oder in Ligatur mit KI „Ort“ ( K I M I N ) als Wiederholungszeichen (auch unseren „Gänsefüßchen“ entsprechend). 3.4. Zeichen im Kontext Die konkrete Anwendung der Möglichkeiten des KS-Systems variiert nach Sprache, Zeit, Ort, und Textgattung. Innerhalb so definierter Bereiche herrscht jedoch weitgehende Regelmäßigkeit. 3.4.1. Logographische Schreibweise Ausschließlich oder vorwiegend logographisch ist das Schriftsystem der ältesten Schriftzeugnisse. Logogramme können hier alle möglichen grammatischen Formen eines Lexems repräsentieren. Die sum. Normalgraphie basiert auf dem logographischen Prinzip; indem hier aber syllabisch ausgedrückte grammatische Elemente obligatorisch zu den Logogrammen treten, wird deren Funktion auf den Ausdruck der Wortbasis eingeengt. Logographische Schreibweise dominiert auch in den ältesten akk. Sprachdenkmälern. In der späteren, vorwiegend syllabischen Graphie des Akkadischen spielen Logogramme eine wechselnde Rolle. Ihr Gebrauch nimmt in späterer Zeit wieder zu, insbesondere in wissenschaftlichen Texten (Mathematik, Astronomie, Mantik, Medizin), aber auch bei der Schreibung mehrgliedriger einheimischer Personennamen. Zuweilen bringen Abstraktion und Analogie künstliche „Sumerogramme“ hervor, die keine genuinen sum. Wörter oder Formen mehr darstellen. Logogramme können modifiziert werden: (1) Reduplikation einer Wortbasis ist im Sumerischen ein grammatisches Mittel der Pluralbildung. In frühen akk. Texten deutet Reduplikation (selten Dreifachsetzung) den (durch Flexionsendungen gebildeten) nominalen Plural an. Durch Reduplikation verbaler Logogramme werden im Sumerischen teils eigene „Pluralverben“ dargestellt, teils tatsächlich reduplizierte Verbformen, die — je nach Verbum — eine Art Verlaufsform („marû“) oder aber verbale Pluralität ausdrücken. Im Akkadischen können auf diese Weise Stammesmodifikationen des Verbums (D-Stamm, der u. a. Pluralität des Objekts anzeigt; reziproke Stämme) logographisch dargestellt werden. (2) Zu Sumerogrammen nominaler Bedeutung können die Pluralisatoren M E / M E Š , Ḫ I . A und D I D L I treten; die korrekte Verteilung — M E Š für Personen und Ḫ I . A für

279

Sachen — wird oft nicht eingehalten. M E / M E Š , gehen auf sum. -/meš/ „sie (Personen) sind“ zurück; ḪI.A bedeutet eigentlich „vermischte“, D I D L I „einzelne“. Der Gebrauch von M E Š wurde auch auf Verben ausgedehnt. (3) Logogramme können phonetisch komplementiert werden: s. 3.4.4. 3.4.2. Schreibung von Zahlen und Maßen Zahl- und Maßausdrücke werden seit Ende des 3. Jahrtausends nach einem Stellenwertsystem gebildet, das allerdings keine Null kennt. Gewöhnliche Zahlen werden durch Kombination dezimaler und hexagesimaler „Ziffern“ dargestellt, z. B. 83 = (1 × 60) + (2 × 10) + (3 × 1). Sie können mit - À M , - B I (Kardinalzahlen; sum. „... sind es“ bzw. „... von diesen“) und - K A M (Ordinalzahlen; sum. Genitivmorphem + Kopula) erweitert werden (Verteilung oft unkorrekt). Zur Darstellung von Zahlen und mathematischen Operationen s. Friberg 1987—90; zu den Maßsystemen und ihrer Notierung s. Powell 1987—90 und, für die ältesten Systeme, Damerow & Englund in Green & Nissen 1987, 117—166. 3.4.3. Determinativgebrauch Anzahl und Gebrauch von Determinativen nehmen im großen und ganzen zu. Ihre Stellung — vor oder nach dem determinierten Wort — ist fest. Die häufigsten voranstehende Determinative sind: d i ĝ i r „Gott(heit)“ (meist als ‚d‘ transliteriert), der „Personenkeil“ (entspricht dem Zahlzeichen 1; vor männlichen Personennamen; meist als ‚m‘ transliteriert), g i „(Schilf-)Rohr“, ĝ i š „Baum“, „Holz“, í d „Fluß“, „Kanal“, k u r „Land“, l ú „Mensch“ (vor männlichen Personenbezeichnungen) m u n u s „Frau“ (vor Frauennamen und weiblichen Personenbezeichnungen; oft als m í oder s a l transliteriert), na 4 „Stein“, ú „Gras/ Pflanze“, u r u d u „Kupfer/Metall“. Nachgestellt werden: k i „Ort“ (nach Ortsnamen), ku 6 „Fisch“, m u š e n „Vogel“, s a r „Kraut“. Determinative können Pluralisatoren (3.4.1.) annehmen. 3.4.4. Syllabische Graphie Die syllabische Schreibweise wurde erst zur Wiedergabe des Akkadischen voll ausgebildet. In der akk. Graphie und den Graphien späterer KS-Sprachen ist das syllabische Prinzip nicht mehr, wie in der sum. Normalgraphie, komplementär zum logographischen, sondern uneingeschränkt anwendbar. Die wichtigsten Charakteristika syllabischer Gra-

III. Schriftgeschichte

280

phie sind folgende: (1) Die Wörter werden den Syllabogrammtypen (3.4.2.) entsprechend segmentiert und durch entsprechende Syllabogramme (so vorhanden) dargestellt: akk. mu-tum /mutum/ „Mann“. (2) /CvC/ kann durch Cv-vC ausgedrückt werden: akk. ip-ruus /iprus/ „er entschied“. Dies ist bereits in Ebla und altakk. üblich; als zweites Glied stehen dort vC-Werte, die auch für /’vC/ benutzt werden (vgl. 3.3.4.). (3) In Ebla wird für /CvC/ auch Cv (vor allem Diphtonge, /Cvm/, /Cvn/) und Cv-Cv geschrieben: a-(wa-)mu /yawmū/ „Tage“, sa-ma-nu / šamnu(m)/ „Öl“. (4) Der Ausdruck geminierter Konsonanten ist nicht obligatorisch: akk. da-(an-)na-tum , dan-na-tum /dannatum/ „Not“. Im Hethitischen und Hurritischen drückt graphische Konsonantengemination wohl (auch) andere phonologische Merkmale (Stimmlosigkeit, Aspiration?) aus. (4) Die dem Akkadischen entsprechende Lautstruktur der Syllabogramme läßt die Wiedergabe von Mehrfachkonsonanz im Silbenan- und auslaut nicht zu. Im Hethitischen, wo sie vorkommt, behalf man sich mit „gebrochenen“ Schreibungen oder vokallos benutzten CvCWerten: li-in-ik-ta, li-in-kat-ta /linkta/ „er schwor“. (5) Langvokale können (nach-altakk.) durch Zusatz eines entsprechenden Vokalzeichens („Plene-Schreibung“) angedeutet werden: akk. ša-(a-)rum /šārum/ „Wind“. Plene-Schreibung dient aber auch anderen Zwecken. Wo sie im Akk. für morphologisch kurze Vokale auftritt, weist sie (neben möglicher sekundärer Dehnung) auf besondere Intonation oder Akzentuierung der entsprechenden Silbe hin. Ferner kann sie den Vokal des vorausgehenden Syllabogramms präzisieren, wenn dieses in Hinblick auf /i/ oder /e/, /u/ oder /o/ ambivalent ist (vgl. 3.3.4.). (6) Das verwendete Syllabar variiert nach Sprache, Zeit, und Region (vgl. von Soden & Röllig 1991 und die in 6.4. genannten Zeichenlisten). Innerhalb eines gegebenen graphischen Systems können Lautwerte auch an bestimmte Kontexte gebunden sein. So sind z. B. die altakk. Silbenwerte ì und lí des Zeichens N I später auf wenige Wörter beschränkt (z. B. ì-lí /ilī/ „mein Gott“). 3.4.5. Phonetische Komplementierung Logogramme und Syllabogramme können verschiedentlich syllabisch ergänzt oder erklärt werden (Krecher/Souček 1957—71): (1) Manche zusammengesetzten Zeichen und Logogramme enthalten Lautindikatoren (3.1.1. und 6.2.). (2) In der sum. Normalgraphie werden Logogramme regelmäßig mit syllabisch

ausgedrückten Präfixen und Endungen versehen. In der Transliteration werden diese Elemente als gleichrangig mit den Logogrammen behandelt, also nicht hochgestellt: m u n a - a n - s u m - m u - u š „sie haben (-/n/-...-/uš/ [< /eš/]) ihm (-/na/-) gegeben“ von s u m „geben“. Vokalisch anlautende Endungen werden meist — wie hier — durch Syllabogramme dargestellt, die mit dem Auslautkonsonanten der Basis anlauten. Daneben gibt es „gebrochene“ Schreibungen wie l u ga l -e (Agentiv von l u ga l „König“). Bei den meisten Wörtern ist entweder die eine oder die andere Schreibung üblich; welche phonetische Realität ihnen zugrundeliegt, bedarf noch weiterer Klärung. (3) In der akk. Graphie ist die phonetische Komplementierung von Logogrammen nicht obligatorisch. Gegebenfalls wird meist das Wortende, entweder die letzte Silbe oder der letzte Konsonant mit vorangehendem Vokal, syllabisch dargestellt: LU GA L rum für /šarrum/ „König“, D Ù uš für /īpuš/ „er machte“. (4) Neben diesen orthographisch systematisierten Komplementierungen kommen meta-orthographische Ganzoder Teilglossen zu (mehrdeutigen oder seltenen) Logogrammen und Syllabogrammen vor, die sich oft äußerlich (Plazierung, kleinere Schrift, Glossenkeil) abheben. 3.5. U D . GA L . N U N -Orthographie Manche sum. literarischen Texte des 3. Jahrtausends aus Fāra und Tell Abū Ṣalābīḫ weisen ein allographisches System auf, das nach einer häufigen Zeichengruppe (sie entspricht dem Götternamen d En- l íl) als „UD. GA L . N U N -Orthographie“ bezeichnet wird: Bestimmte Zeichen in beliebiger Funktion werden dort durch andere ersetzt; z. B. tritt U D für A N ein, ob dieses nun a n „Himmel“ oder d i ĝ i r „Gott“ meint oder als Gottesdeterminativ fungiert. Normal- und U D . GA L . NU N-Schreibungen wechseln innerhalb eines Textes, oft auch innerhalb eines Wortes. Die Beziehungen zwischen Normalzeichen und U D . GA L . N U N -Äquivalenten sind, soweit durchschaubar, verschiedener (graphischer, inhaltlicher und lautlicher) Art. U rsprung und Zweck des Systems sind unklar. Eine Liste identifizierbarer U D . GA L . N U N-Zeichen findet sich bei Krebernik 1984, 267— 286. 3.6. Abkürzungen Abkürzungen durch Anlautschreibung sind sehr selten: me für akk. me-at „100“, li für akk. li-im „1000“; d GIŠ für d G I Š . B I L - ga -

18.  Die sumerisch-akkadische Keilschrift

mes, d G I Š - à ga - m a š „Gilgameš“. Die „Logogramme“ der häufigsten akk. Präpositionen, syllabisch i-na bzw. a-na geschrieben, sind wohl Kurzformen der Anfangszeichen I bzw. A.

4.

Schriftträger, Schreibtechnik, Textgestaltung

4.1.  Primärer Schriftträger ist die Tontafel, die in verschiedenen, für Zeit, Ort und Textgattung typischen Formen auftritt; aus Ton sind auch weitere primäre Schriftträger wie Etiketten, Zylinder, Prismen, Kegel, Tonnägel. Der Ton wurde in feuchtem, weichem Zustand beschrieben; für gewöhnliche Tontafeln wurde der durch Trocknen an der Luft sich einstellende Härtegrad als ausreichend empfunden; kostbare Dokumente wurden gebrannt. Selten und nur für wichtige Zwecke wurden als primäre Schriftträger auch Steinund Metalltafeln verwendet. Spätestens seit Ende des 2. Jahrtausends gab es auch wachsbeschichtete Tafeln aus Holz und Elfenbein. Als sekundäre Schriftträger kommen Objekte verschiedenster Art und Bestimmung vor: Statuen, Tierfiguren, Weihplatten, Reliefs, Wandgemälde, Ziegel, Gefäße, Waffen, Grenzsteine, Schmuck, Tür- und Krugverschlüsse, Tobullen, Siegel. 4.2.  Grundlegend für die Schreibtechnik und vorbildhaft für die Beschriftung anderer Materialien war das Schreiben auf weichen Ton (zu Tafelhaltung und Schriftrichtung s. 4.3.). Die Zeichen wurden anfangs durch Eindrükken des Griffels (auch stumpfer Griffelenden verschiedener Stärke) und durch Ziehen von Linien gestaltet, Ritzlinien und runde bzw. halbkreisförmige Eindrücke jedoch bis zum Ende des 3. Jahrtausends durch gerade, „keil“-förmige Eindrücke eines einzigen, kantigen Griffels ersetzt (vgl. Abb. 18.1—3 auf Tafel II—III). Zur Beschriftung von Ziegeln wurden auch Stempel verwendet. 4.3.  KS-Texte sind anfangs in Fächer, später in Zeilen gegliedert. Darüber hinaus kann der Text in Kolumnen eingeteilt sein. Zeichenfolge sowie gegebenenfalls Kolumnenfolge (auf der Tafelvorderseite) sind rechtsläufig. Beim Übergang zur Rückseite wird die Tafel nach oben umgewendet. Bei mehrkolumnigen Tafeln befindet sich somit die erste Kolumne der Rückseite ganz rechts, weitere Kolumnen schließen nach links an. Die geschilderte Per-

281

spektive ist gegenüber der ursprünglichen um 90° nach links gedreht. In älteren Texten ist die Zeichenfolge innerhalb eines Faches zunächst frei, dann vertikal, die Fächerfolge linksläufig; den Kolumnen entsprechen horizontale Bänder. Die ursprüngliche Perspektive galt länger für das Lesen (1. Hälfte des 2. Jahrtausends) als für das Schreiben (etwa altakk. Zeit). Voraussetzung für den Wandel war die Schräglage der Tafel in der Hand des Schreibenden (vgl. die photographisch dokumentierten Rekonstruktionsversuche bei Powell 1981).

5.

Aspekte antiker Keilschriftphilologie

Für die Schrift zuständige Gottheiten waren Nisaba (Getreidegöttin) und später Nabium/ Nabû, dessen Emblem der Griffel ist. Nach dem sum. Epos „Enmerkar und der Herr von Aratta“ erfand Enmerkar, ein mythischer König von U ruk, die Schrift (um eine Botschaft auf eine Tontafel zu schreiben). Zur Vermittlung der KS dienten lexikalische Texte: Zeichen-, Silben-, Wort- und Namenslisten. Eine verbindliche Reihenfolge der Zeichen gab es nicht. Bestimmte Listen bilden Gruppen gleichanlautender Syllabogramme und ordnen diese nach ihren Vokalen in der Folge Cu — Ca — Ci („Tu-ta-ti-Listen“). Die Zeichen hatten Namen, die in lexikalischen Texten überliefert sind; sie sind gewöhnlich von den sum. Werten einfacherer Zeichen abgeleitet und haben beschreibend-differenzierende Zusätze. Aus späterer Zeit sind akrostichische Verwendung von KS-Zeichen (Lambert 1960, 63; 67) und „Kreuzworträtsel“ (Cavigneaux 1979, 124 f) belegt. Aus der Polyvalenz der Zeichen resultierte eine zur Etymologie auf sprachlicher Ebene analoge, spekulative „Zeichenetymologie“, nach der z. B. Götternamen gedeutet wurden (Bottéro 1977).

6.

Ursprung und Geschichte

6.1. Zeit, Ort und Kontext der Entstehung Bereits lange vor dem Auftreten der KS gab es im Alten Orient verschiedene Systeme der Informationsspeicherung. Vom Neolithikum an wurde ein System benutzt, das tönerne Zählmarken zum Festhalten von Zahlen (Mengen) bestimmter Objekte verwendete. Das Abdrücken von Siegeln gestattete die Fixierung von Informationen über Personen, Symbolsysteme in Wand- Gefäß- (und sicher

III. Schriftgeschichte

282

auch Körper-)Bemalung sind noch nicht entschlüsselt. In der 2. Hälfte des 4. Jahrtausends kamen Systeme auf, die gestatteten, jeweils mehr als nur eine Informationsart zu speichern: eine um eine bestimmte Anzahl von Tonmarken geformte und mit Siegelabdrükken versehene Kugel erlaubte das Festhalten von Informationen über Zahlen und Personen (→ Art. 16; Tafel I). Gleiches leisteten sicherlich den späteren Schriftträgern ähnliche Tontafeln, die zusätzlich zu Zahleindrücken Siegelabdrücke aufweisen. Solche Erweiterungen waren vermutlich die Antwort auf gestiegene Anforderungen des Wirtschaftsgeschehens nach umfassenderen Kontrollmitteln. In dieser Entwicklungslinie gesehen ist die gegen Ende des 4. Jahrtausends auftretende ProtoKS nichts anderes als ein universell anwendbares System der Informationsspeicherung: Alles der Speicherung für wert Befundene konnte nun festgehalten werden. Anregungen für die Ausformung der KS wurden sicher aus allen genannten Systemen bezogen. Nach einer von D. Schmandt-Besserat in zahlreichen Arbeiten (zuletzt Schmandt-Besserat 1992) vertretenen These spielten die Zählmarken („tokens“) eine entscheidende Rolle; einige KS-Zeichen sind vielleicht Abbilder von Zählmarken. Daß die ältesten ProtoKStexte vom Ende der sog. Späturuk-Zeit („Schriftstufe IV“) nur aus U ruk bekannt sind, stimmt zwar mit dem Mythos überein (s. 5.), mag aber Zufall sein, da sich Tontafeln der anschließenden Entwicklungsstufe III bereits an verschiedenen Orten ganz Babyloniens finden. 6.2. Struktur und Bildinhalt der Keilschriftzeichen Nur für einen Teil der Zeichen ist der Bildinhalt erkennbar. Schon in der ältesten Schriftphase ist die Darstellungsweise ziemlich abstrakt. An einfachen Zeichen lassen sich unterscheiden: (1) Bilder natürlicher Objekte; (2) evt. Bilder von Tonmarken (vgl. 6.1.); (3) abstrakte Symbole wie Zahlzeichen, zwei parallele Striche, Kreuz, Kreis. Abgeleitete Zeichen entstehen durch Modifikation und Zusammensetzung. Häufig werden Teile einfacher Zeichen durch kleine Striche/Keile (antiker Fachterminus: gunû, zu sum. /guna/ „bunt“) hervorgehoben: durch Markierung der Mundpartie in SAG „Kopf“ entsteht K A „Mund“, durch Markierung der Armpartie wird Á „Arm“ von DA „Arm, Seite“ differenziert (Abb., Nr. 6—9). Zu verschiedenen Typen zusammengesetzter Zeichen s. 6.3.

6.3. Zeichen und Bedeutung Von der Analyse des Bildinhalts der Zeichen zu trennen ist die Analyse der Beziehungen zwischen Bildinhalt und repräsentierten Begriffen. Die meisten Zeichen vereinen verschiedene Darstellungsweisen. Im einzelnen lassen sich folgende unterscheiden (vgl. Abb. 18.4): (1) Das Zeichen stellt den gemeinten Begriff konkret dar: so stehen die Bilder eines Pfluges, eines Fisches, der Geschlechtsteile für die entsprechenden Termini ( a p i n , k u 6 , ĝèš , ga l 4 ). (2) Der Begriff ist in einem charakteristischen Ensemble abgebildet: ein in den Bogen gespannter Pfeil steht für t i „Pfeil“; drei Sterne für m u l „Stern“. (3) Der Begriff wird durch das Bild eines Teiles oder Ausschnittes desselben dargestellt: ein Rinderkopf steht für g u d „Rind“, ein Kanalabschnitt für a „Wasser“, drei Berge für k u r „Gebirge“, die Geschlechtsteile für n i t a „Mann“ bzw. m u n u s „Frau“. (4) Der Begriff wird abstrakt dargestellt: zwei parallele Linien stehen für tab „aneinanderlegen“, „verdoppeln“; ein „Kreuz“ (durch Querstrich halbierte Linie) für m a š „Hälfte“; ein Kreis für n í ĝ i n „umkreisen“. (5) Der Begriff wird durch das Bild eines assoziierten Begriffes dargestellt (hier könnten verschiedene Assoziationstypen unterschieden werden): ein Stern steht für a n „Himmel(sgott)“ und d i ĝ i r „Gott“; ein Pflug für e n ga r „Bauer“ und u r u 4 „pflügen“; ein Fuß für d u / ĝ e n „gehen“, spezifische Gefäße für ga „Milch“, k a š „Bier“ und wohl auch n i n d a „Brot“ (Gefäß für Gersterationen), ein kultisches Emblem („Schilfringbündel“) für die Göttin Inanna. In diese Kategorie gehören auch Abbildungen von Tonmarken, die einigen Zeichen wie U D U „Schaf“ oder N I „Öl“ zugrundeliegen dürften. (6) Der Begriff wird durch das Zeichen eines (annähernd) homophonen Begriffs dargestellt: a „Wasser“ steht auch für „Vater“; s a r „Kraut“ auch für „schreiben“; t i „Pfeil“ auch für „leben“. (7) Der Begriff wird durch ein zusammengesetztes Zeichen dargestellt, dessen Komponenten ihn semantisch definieren: „Kopf/Mund“ + „Brot“ steht für k ú „essen“, „Kopf/Mund“ + „Wasser“ für n a g „trinken“, ein Vogel mit Ei für m u d „hervorbringen“. (8) Der Begriff wird durch ein zusammengesetztes Zeichen dargestellt, das eine semantische und eine lautliche Komponente enthält. Mögliche Beispiele aus dem ältesten Zeichenbestand sind (vgl. Abb., Nr. 11—12) M E N „Tiara“, bestehend aus GÁ (Bildinhalt unklar) * E N (später M E . E N ), und A M A „Mutter“, bestehend

18.  Die sumerisch-akkadische Keilschrift

283

aus einem später mit GÁ zusammenfallenden Zeichen * A N (= am 6 ). (9) Das Zusammenwachsen der Zeichen LÚ „Mensch“ und GAL „groß“ zu einem Zeichen LU GA L „König“ spiegelt den sprachlichen Prozeß der U niverbierung (/lu/ /gal/ „Großer“ > /lugal/ „König“) wider. 6.4. Paläographie Die Formen der KS-Zeichen waren im Laufe der Zeit starken Veränderungen unterworfen. Entscheidend für die paläographische Entwicklung und exemplarisch für andere Schriftträger, deren Material paläographische Eigenheiten bedingen kann, ist das Schreiben auf Ton(tafeln). Die Entwicklung im 3. Jahrtausend ist einerseits durch schreibtechnische Vereinfachungen (s. 4.2.), andererseits durch eine Verringerung des Zeichenbestandes gekennzeichnet: viele, namentlich kompliziertere Zeichen kommen außer Gebrauch, ähnliche fallen zusammen (Abb. 18.4, Nr. 2—3). Am Ende des 3. Jahrtausends bieten die Zeichen noch ein ziemlich differenziertes Bild (Abb., Spalte 2): die Elemente sind oft von unterschiedlicher Größenordnung und Ausrichtung sowie variabler Anzahl. Die Zeichenformen dieser Zeit bleiben Vorbild für den archaisierenden Duktus späterer offizieller Inschriften, der nun erreichte Zeichenbestand unterliegt keinen großen Veränderungen mehr. Die weitere Entwicklung ist charakterisiert durch die Herausbildung kursiver Schriften und stärkere regionale Differenzierung (in Mesopotamien selbst zwischen babylonischer und assyrischer Schrift; ausgeprägte Sonderentwicklungen zeigt auch die elamische KS). Generell werden die Zeichen weiter vereinfacht, komplizierte gern als Addition einfacherer gestaltet, mit denen sie genetisch nichts zu tun haben. Am konsequentesten hat sich die assyrische KS in diese Richtung entwickelt: ihre Zeichenformen bestehen aus nur wenigen, normierten und abgezählten Elementen, weshalb man sie auch der Zeichenanordnung moderner Listen zugrundelegte. Eine umfassende KS-Paläographie ist ein Desiderat. Wichtige Zeichenlisten sind Labat 1976 und Borger 1978, 1981 (allgemein); Green & Nissen 1987, Deimel 1922, Schneider 1935 (frühe Schriftphasen); Rüster & Neu 1989 (hethitische KS); Stève 1992 (elamische KS). 6.5. Hauptstadien des Keilschriftsystems 6.5.1. Frühstadium Die

früheste

Entwicklungsstufe

der

KS

(Green 1981; Nissen et al. 1990) repräsentieren Texte aus U ruk und Ǧemdet Naṣr. 80 Prozent von fast 5000 bekannten Tontafeln und Fragmenten aus U ruk und fast alle Ǧemdet Naṣr-Texte (ca. 250) sind Aufzeichnungen der Wirtschaftsverwaltung. Dabei geht es wohl vor allem um die Kontrolle der Warenbewegungen innerhalb großer Speicher-, Verwertungs- und Veredelungsanlagen, weniger um Warenverkehr zwischen diesen Anlagen und einliefernden oder empfangenden Individuen. Der Rest der Tafeln gehört der Gattung der „lexikalischen Listen“ an: In ihnen werden Begriffe aufgezählt, die jeweils einer Bedeutungsklasse angehören, wie Rinder-, Vogel-, Fisch- oder Baumnamen, Gefäß- oder Metallnamen, Städte- oder sonstige geographische Namen. Die für die Erforschung der gesellschaftlichen Verhältnisse dieser Zeit wichtigste Liste besteht in einer hierarchisch geordneten Aufzählung von Funktionärstiteln und Berufsbezeichnungen. Diese bereits in der ältesten Stufe vorhandenen Listen sind vielleicht ein Versuch, die gesamte Lebenswelt zu erfassen. Ihr praktischer Nutzen lag vermutlich darin, daß sie eine Rolle bei der Ausbildung von Schreibern spielten. Dafür spricht, daß die meisten dieser Listen über 600 Jahre hinweg unverändert abgeschrieben wurden. Die Struktur beider Textgattungen ist listenartig, d. h. eine geordnete Folge von Stichworten, die auch in den Verwaltungstexten weder durch Verben noch durch sonstige Glieder miteinander verbunden sind. Es ist davon auszugehen, daß nur geschrieben wurde, was nicht allgemein bekannt war, was also zusammen mit dem allgemeinen Hintergrundwissen nötig war, um einen Vorgang zu rekonstruieren. Die tabellenartige Schriftebene eines frühen Verwaltungstextes ist noch keine umkehrbar eindeutige Abbildung eines zusammenhängenden Textes einer bestimmten Sprache; sie ist vielmehr weitgehend sprachunabhängig deutbar, wobei das Formular selbst als eine Art metasprachlicher Syntax fungiert (vgl. Green 1981). Indizien, die auf eine Sprache schließen lassen, sind schwer zu finden. Es kommen in erster Linie Homophonschreibungen und (darauf beruhende) Lautindikatoren (mögliche Beispiele sind die Zeichen AMA und MEN, s. 6.3.) in Betracht. Eine besondere Rolle dürfte die Analyse der bislang noch unzugänglichen Personennamen spielen. Schwierigkeiten bereitet nicht zuletzt die Tatsache, daß die Zeichenanordnung innerhalb einzelner Fächer nicht fest ist. Die Annahme, daß hinter den ältesten Texten das Sumerische steht, ist bislang nicht bewiesen.

284

Abb. 18.4: Entwicklung einiger Keilschriftzeichen (vgl. 6.2—4)

III. Schriftgeschichte

18.  Die sumerisch-akkadische Keilschrift

6.5.2. Die Herausbildung des syllabischen Prinzips Die bedeutendsten Textfunde der folgenden Entwicklungsphase stammen aus dem archaischen U r, aus Fāra (Šuruppak), Tell Abū Ṣalabīḫ und dem Stadtstaat Lagaš. Sie sind gekennzeichnet durch die fortschreitende Konkretisierung und Präzisierung der Beziehungen zwischen Sprach- und Schriftebene. Diese Entwicklung manifestiert sich in der Herausbildung der syllabischen Komponente des Schriftsystems. Konsequenterweise stellt sich am Ende dieser Periode eine feste, den dargestellten Sprachsegmenten analoge Zeichenfolge ein. Der erste, wohl schon in der ältesten Schriftphase vollzogene Schritt auf dem Wege von der Wort- zur Lautschrift ist die Darstellung homophoner oder ähnlich klingender Wörter durch dasselbe Logogramm. Diese Methode wurde in der Folge auf nicht-bedeutungstragende Silben (silbische Bestandteile eines Lexems, morphemübergreifende Silben) ausgedehnt. Einen entscheidenden Impuls gab wohl das Bedürfnis, fremde Namen und Fremdwörter sowie syntaktisch zusammenhängende Texte aufzuzeichnen, was eine Präzisierung logographischer Schreibungen erfordert. Die frühesten (ca. 2600) sum. literarischen Texte größeren U mfangs stammen aus Fāra. Die Fāra-Texte enthalten auch schon zahlreiche Rebus-Schreibungen akk. Fremdwörter (z. B. d a m - g à r „Händler“, n a - ga d a „Hirt“) und Personennamen. U nter den nicht sehr viel späteren Texten aus Tell Abū Ṣalābīḫ ist der früheste, fast gänzlich logographisch notierte, literarische Text in akk. Sprache. Bereits in den Fāra-Texten hebt sich ein beschränktes Inventar syllabisch verwendeter Zeichen ab. Z. B. wird ga , das logographisch für „Milch“ steht, benutzt, um den Auslaut einer Form /duga/ von /du(g)/ „sagen“ darzustellen: d u g 4 - ga ; ähnlich verwendet man m u , das logographisch „Name“ bedeutet, um ein gleichlautendes, häufig in Verbalformen auftretendes Morphem mit der ungefähren Bedeutung „her“ (z. B. m u - ĝ e n „er kam“) zu schreiben. Später häufige Syllabogramme wie z. B. k a fehlen jedoch noch: é- d i ĝ i r kann z. B. für é - d i ĝ i r - r a - k a „im (Lokativ -/a/) Haus (é) des (Genitiv -/ak/) Gottes ( d i ĝ i r )“ stehen; letztere Schreibweise veranschaulicht die am Ende dieser Periode herausgebildete sum. Normalgraphie: Wortbasen werden gewöhnlich logographisch dargestellt, grammatische Elemente und logographisch nicht darstellbare Wörter mittels eines beschränk-

285

ten Syllabogramminventars. Dieses System stimmt zur Struktur des Sumerischen als einer agglutinierende Sprache mit im wesentlichen unveränderlichen, gewöhnlich ein- oder zweisilbigen lexikalischen Morphemen, die mit einer beschränkten Anzahl oft silbischer, grammatischer Morpheme modifiziert werden; da zahlreiche homophone (durch Ton unterschiedene?) Lexeme existieren, die lautschriftlich nicht oder kaum unterscheidbar wären, kommt der logographischen Schreibweise besondere praktische Bedeutung zu. Diese stand indes der Ausbildung eines strukturell vollständigen, den phonologischen Gegebenheiten des Sumerischen angemessenen Syllabars im Wege. 6.5.3. Die Emanzipation des syllabischen Prinzips Seine Vollendung erfuhr das KS-System durch die volle Entfaltung der syllabischen Graphie. Sie resultierte aus der Übertragung der KS auf das Akkadische, eine semitische Sprache, deren Lexeme im Gegensatz zum Sumerischen durch innere Flexion extrem veränderlich sind: zu /parāsum/ „entscheiden“ gehören z. B. Formen wie /iprus/, /purus/, /taparras/, /aptaras/, /naprusum/ etc. Diese Entwicklung wirkte auch auf die sum. Graphie zurück: deren syllabische Komponente wurde verfeinert, hauptsächlich zu didaktischen Zwecken wurden sum. Wörter und Texte auch völlig syllabisch wiedergegeben. Marksteine der Entwicklung bilden die altakk. Texte aus Mesopotamien selbst und die Archive von Ebla. Beide Textkorpora zeigen ein (bis auf die in 3.3.4. erwähnten phonologische U nschärfen) voll ausgeprägtes Syllabar an Cv-Werten. In beiden Systemen kann /CvC/ durch Cv-vC ausgedrückt werden; allerdings sind in Ebla nicht alle vC-Werte vorhanden, und für /CvC/ wird dort auch noch Cv und Cv-Cv geschrieben (3.4.4.). Das System der vC-Werte wurde offenbar durch sargonische Schreiber vervollständigt: u. a. erscheint in sargonischen Inschriften zum ersten Mal das in Ebla unbekannte, von akk. /idum/ abgeleitete Syllabogramm id . Die Zweisprachigkeit ist nicht nur für die Herausbildung dieser Entwicklungsstufe entscheidend, sondern prägt auch immanent das so entstandene System aus Logogrammen sumerischen U rsprungs, deren Gebrauch nun kanonisiert wird, und aus Syllabogrammen, deren Werte aus sum. und zunehmend auch aus akkadischen Wörtern abstrahiert werden. Das nun entstandene System bleibt bis zum Erlöschen

III. Schriftgeschichte

286

der KS gültig, ungeachtet paläographischer Veränderungen oder variierender Syllabare (die jedoch alle einen gemeinsamen Bestand besitzen). 6.5.4. Ausdehnung auf andere Sprachen Als vierte Phase in der Geschichte der KS kann man die schon in altakk. Zeit beginnende Ausdehnung des sum.-akk. Systems auf weitere Sprachen ansehen. Die verschiedenen Adaptationen führen jedoch nicht zu tiefgreifenden Veränderungen. Eine systematische Erweiterung stellt die immanente Dreisprachigkeit der hethitischen Graphie dar: Neben syllabischem Hethitisch gibt es sum. und akk. Logogramme. Die Beziehungen zwischen logographischer Schrift- und hethitischer Sprachebene erreichen zuweilen die Komplexität zweisprachiger Textversionen, wenn etwa dem Akkadogramm A-NA , einer Präposition, im Hethitischen der durch Deklinationsendung gekennzeichnete Dativ entspricht. Syllabare und syllabische Orthographie werden nur in beschränktem U mfang den fremden Lautsystemen angepaßt. So schufen hethitische Schreiber, um der Vieldeutigkeit von P I = wa, we, wi, wu abzuhelfen, durch Kombination von P I mit Vokalzeichen eindeutige Syllabogramme für diese Silben. Zur U nterscheidung von /e/ und /i/, /u/ und /o/ in hurritischem Milieu s. 3.3.4., zur Darstellung von silbenan- und auslautender Mehrfachkonsonanz im Hethitischen s. 3.4.4.

7.

Schriften im Umkreis der Keilschrift

Abschließend seien — im Hinblick auf mögliche genetische Zusammenhänge und auf Interferenzen mit der KS (Bilinguen, Transliterationen) — die wichtigsten Schriften in ihrem Umkreis aufgezählt: 7.1. Die ägyptische Hieroglyphenschrift Frühgeschichtliche Beziehungen zwischen Mesopotamien und Ägypten sind archäologisch bezeugt. Falls die frühesten mesopotamischen Schriftzeugnisse — wie gemeinhin angenommen — etwas früher zu datieren sind als die ägyptischen, könnten Anregungen aus Mesopotamien bei der Schöpfung der ägyptischen Schrift eine Rolle gespielt haben (so z. B. Gelb 1963, 214 f). Die Frage bedarf noch weiterer Untersuchung. 7.2. Die proto-elamische Schrift

Wohl ebenfalls wenig später als die KS in Mesopotamien, und wahrscheinlich von dort angeregt, tritt in Elam die proto-elamische Schrift auf (Meriggi 1971—74; Damerow & Englund 1989). Es handelt sich wohl um ein logographisches System. Einzelne Zeichen weisen Ähnlichkeit mit KS-Zeichen auf. Die in wenigen Zeugnissen aus altakk. Zeit überlieferte elamische Strichschrift ist wohl eine aus der protoelamischen Schrift entwickelte Silbenschrift (Hinz 1962). 7.3. Die Indus-Schrift Für das 3. und 2. Jahrtausend nachweisbare Handelsbeziehungen zwischen Mesopotamien und dem Industal lassen mesopotamische Impulse bei der Schöpfung der bisher nicht überzeugend gedeuteten, auf zahlreichen Siegeln erhaltenen Indusschrift als möglich erscheinen. 7.4. Semitische Alphabete Die Erfindung des Alphabets dürfte vom ägyptischen Schriftsystem angeregt worden sein. 7.4.1.  Eine Sonderform, das im 14. und 13. Jahrhundert hauptsächlich in U garit und für das U garitische verwendete „Keilalphabet“ (Dietrich & Loretz 1988; → Art. 20), verdankt der mesopotamischem KS die Ausgestaltung der gewöhnlich auf Ton geschriebenen Zeichen. Die Zeichenformen selbst fußen meist auf alphabetischen Vorbildern, zumindest  und  jedoch auf keilschriftlichen (I bzw. Ú). Die Schrift umfaßt in ihrer gewöhnlichen Form („Langalphabet“) 30 Zeichen und einen Worttrenner. Die meisten Zeichen drücken einen Konsonanten aus, syllabisch sind:  = /’a/;  = /’i/, /’e/;  = /’u/, /’o/; und vielleicht  = /su/. 7.4.2. Im 1. Jahrtausend gewinnt in Mesopotamien das alphabetisch geschriebene Aramäische an Bedeutung, wird parallel zum Akkadischen gebraucht und löst dieses schließlich ab. Häufig tragen in der Spätzeit KSTafeln aramäische Beischriften. 7.5. Ägäische Schriften Die in Kreta, Zypern und Griechenland verbreiteten ägäischen Schriften (kretische Hieroglyphen, Linear A, Linear B, kyprominoische Schriften) sind im wesentlichen Silbenschriften und ähneln darin der akk. KS; sie kennen nur Syllabogramme der Typen Cv

18.  Die sumerisch-akkadische Keilschrift

und v. Geographische Berührungen mit der KS sind z. B. durch Funde kyprominoischer Schriftzeugnisse in U garit dokumentiert. Für die ägäischen Schriften wurden ägyptische, aber auch keilschriftliche Vorbilder geltend gemacht (Best & Woudhuizen 1989, 4 ff). 7.6. Die luwische Hieroglyphenschrift Die um die Mitte des 2. Jahrtausends im hethitischen Reich aufkommende, zur Wiedergabe des Luwischen (vgl. 2.4.) dienende Hieroglyphenschrift (zuletzt Marazzi 1990 mit Lit.; eine Gesamtedition bereitet Hawkins vor) ist wie die KS eine Kombination aus Wort- und Silbenschrift und dürfte Anregungen von der KS empfangen haben. Best (Best & Wouldhuizen 1989, 30 ff) versucht Zugehörigkeit zum ägäischen Schriftenkreis (Diskos von Phaistos) nachzuweisen. 7.7. Die Altbyblische Schrift Die Schrift einiger in Byblos gefundener Schriftdenkmäler (Dunand 1945) ist bislang nicht überzeugend gedeutet. Es handelt sich wohl um eine Silbenschrift. Duktus und Formen gemahnen eher an ägyptische und ägäische als an keilschriftliche Vorbilder. 7.8. Die altpersische Keilschrift Wahrscheinlich unter Dareios I. (521—486) wurde für das Altpersische (Kent 1953; Schmitt 1989) eine Schrift geschaffen, deren Zeichen äußerlich nach Art der KS-Zeichen gestaltet sind. Obwohl typologisch der sum.akk. KS verwandt und sicherlich auch von ihr angeregt, weist das syllabische System doch Eigenheiten auf, die sich aus diesem Vorbild allein nicht erklären lassen (zur Entstehung: Mayrhofer 1989 mit Lit.). Die Schrift umfaßt 33 Syllabogramme des Typs Cv, 3 Vokalzeichen, 7 Logogramme sowie einen Worttrenner; die Cv-Werten repräsentieren Ca (22), Cu (7) und Ci (4); Ca-Werte stehen auch für vokallose Konsonanten; für nicht vorhandene Cv-Werte tritt Ca-v ein. 7.9. Das griechische Alphabet Aus seleukidischer Zeit stammen einige griechische Transliterationen keilschriftlicher Texte (Maul 1991 mit Lit.).

8.

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19.  Die ägyptische Hieroglyphenschrift und ihre Weiterentwicklungen

289

19. Die ägyptische Hieroglyphenschrift und ihre Weiterentwicklungen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

1.

Übersicht Innere Form, dargestellt an der klassischen Bilderschrift Äußere Form: Bilderschrift und daraus abgeleitete Kursivschriften Entstehung Einzelentwicklungen: Zeichenvorrat, Verhältnis Notation zu Kennzeichnung, Silbenschrift Abhängigkeit anderer Schriften von der ägyptischen Aussterben Literatur

Übersicht

Die ägyptische Hieroglyphenschrift ist die Schrift des pharaonischen, vorchristlichen Ägyptens (zum Belegzeitraum siehe unter 4. und 7.). Als Zeichensystem ist sie vor allem durch zweierlei charakterisiert: Sie ist erstens eine teils semographische, teils phonographische Schrift. Sie zeigt zweitens ein komplexes Zusammenspiel zwischen der Notation sprachlicher Einheiten und der zusätzlichen Kennzeichnung dieser Notation (siehe unter 2.). Was die äußere Form angeht, bewegt sie sich zwischen den Polen einer — vorzugsweise monumentalen — Bilderschrift und Kursivschriften, denen in mehr oder minder hohem Grad die Bildhaftigkeit abgeht und in denen die Bedeutung der Einzelzeichen weit mehr als in der Bilderschrift hinter die der gesamthaften Zeichengruppen zurücktritt (siehe unter 3.). — Bei der Schrift-Entstehung sind Anstöße aus Sumer (Keilschrift) und/oder Elam nicht auszuschließen, die Schriftansätze entwickeln sich jedoch in Ägypten bereits sehr früh in anderer Weise als im zeitgleichen Vorderasien (siehe unter 4.). Die weitere Entwicklung des Schriftsystems ist gekennzeichnet durch Reduktion bzw. Ausbau des Zeichenvorrats, durch Neuordnung des Verhältnisses von Notation zu Kennzeichnung, eine Tendenz — namentlich in den Kursiven — zur „Gruppenschreibung“ und durch Ansätze zur Schreibung der ursprünglich (und auch später im allgemeinen) nicht geschriebenen Vokale (siehe unter 5., zur Gruppenschreibung unter 3.). — Die Hieroglyphenschrift stand Pate bei der Entwicklung der westsemitischen Konsonantenschrift (proto-sinaitische bzw. proto-kanaanäische Schrift), sie lieferte die äußere Form der meroitischen Hieroglyphen- und Kursivschrift und einzelne Alphabetzeichen des griechisch-koptischen Alphabets der christlichen Ägypter (siehe unter

6.); die Frage eines möglichen Einflusses auf die Entwicklung von Silbenschriften vom Typ des Devanagari kann nicht abschließend entschieden werden, ist aber eher zu verneinen (siehe unter 5.3.).

2.

Innere Form, dargestellt an der klassischen Bilderschrift

2.1. Grundprinzipien Ihrer Funktion nach sind die hieroglyphischen Schriftzeichen(gruppen) in der Hauptsache entweder (1) Phonogramme oder (2) Semogramme. Beispiele: (1) Die Eule dient zur Notation des konsonantischen Phonems m, z. B. in der Schreibung der Präposition m „in“; der Korb zur Notation der Konsonantenfolge nb (ohne Berücksichtigung eines etwa zwischen n und b stehenden Vokals), z. B. in der Schreibung des Quantors nb „jeder“ (Genaueres unter 2.2.1.). (2) Der HausGrundriß dient zur Notation des Wortes pr.w „Haus“ oder zur zusätzlichen Kennzeichnung der Notation von Bezeichnungen von Gebäuden und ihrer Teile, z. B. des Wortes ‛ .(w)t „Kammer“, geschrieben etwa (Phonogramm ‛ + Phonogramm t + Semogramm „Haus“ (Genaueres unter 2.2.2.). Neben Phonogrammen und Semogrammen gibt es (3) Schriftzeichen, denen innerhalb von Zeichengruppen nicht die Bedeutung zukommt, die sie als Einzelzeichen etwa hätten, oder die als Einzelzeichen keine Bedeutung haben, und (4) einzelne Schriftzeichen(gruppen), die der kalligraphischen Gestaltung der Hieroglyphenzeichen-Folgen oder als Interpunktion dienen. — Da Phonogramme — im allgemeinen nach dem Rebusprinzip — aus Semogrammen gewonnen sind, kann ein und dasselbe Hieroglyphenzeichen in beiderlei Funktion auftreten. Beispiel: ist Semogramm „Haus“ und Phonogramm pr (aus pr.w „Haus“). Grundsätzlich können sprachliche Einheiten wie Morpheme, Wörter, Wortformen mit Semogramm oder mit Phonogramm(folgen) notiert werden. Beispiele: die Präposition m „in“, geschrieben mit dem Phonogramm m; das Wort rn „Name“, geschrieben mit der Phonogrammfolge r + n; das Wort r‛w „Sonne, Tag“, geschrieben mit dem Semogramm „Sonne“. Solche Schreibungen sind

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jedoch nur bei bestimmten Morphemen und Wörtern oder in bestimmten Wortverwendungen üblich. Im allgemeinen werden einem Teil oder allen der Notation dienenden Hieroglyphenzeichen andere Hieroglyphenzeichen der genannten Arten als Kennzeichnungen zugefügt: (1) Hieroglyphenzeichen(gruppen), die für eine Konsonantenfolge stehen, können durch Zufügung von Phonogrammen für eine initiale und/oder finale Teilkonsonantenfolge gekennzeichnet werden; Beispiele: pr + r für die Phonogrammfolge pr, „śḫm -Szepter“ + m für das Wort śḫm „mächtig sein“. (2) Hieroglyphenzeichen(folgen), die für eine bedeutungstragende sprachliche Einheit, ein Morphem, ein Wort, eine Wortform stehen, können durch Zufügung von Semogrammen, die für alle oder einen Teil der semantischen Merkmale stehen, gekennzeichnet werden; Beispiele: r + ‛ + „Sonne“ + „Verehrungswürdiger“ für das Wort r‛(w) „(Sonnengott) Re“, „Sonne“ + „Verehrungswürdiger“ für das Wort r‛(w) „(Sonnengott) Re“. — Hieroglyphenzeichen(gruppen), die Phoneme notieren, werden üblicherweise schlicht als „Phonogramme“ bezeichnet, Hieroglyphenzeichen(gruppen), die bedeutungstragende Einheiten notieren, als „Logogramme“ oder „Ideogramme“. Hieroglyphenzeichen(gruppen), die phonographisch kennzeichnen, werden üblicherweise als phonetische (besser wäre: phonographische) Komplemente oder kurz als Komplemente bezeichnet, Kennzeichnungen nach (2) als Determinative. 2.2. Funktionen der Hieroglyphenzeichen im einzelnen 2.2.1.  Phonogramme gibt es für alle konsonantischen Phoneme der ägyptischen Sprache (Einkonsonantenzeichen) und für eine größere Anzahl von Folgen von zwei konsonantischen Phonemen (Zweikonsonantenzeichen). Beispiele: die Eule für m; der Korb für nb. Inwieweit es Phonogramme für längere Folgen konsonantischer Phoneme gibt, ist nicht leicht zu entscheiden (es gibt zu wenige Anwendungsfälle; zu derartigen Problemfällen siehe unter 2.2.3.). — Ob man die Phonogramme als Konsonantenzeichen versteht oder — mit Gelb 1963 — als Silbenzeichen, ist eine Frage der Theoriebildung. Folgt man Gelb, so ist zu beachten, daß es sich bei den Schreibsilben nur teilweise um Sprachsilben handelt, generell also um eine Art Buchstabiersilben.

III. Schriftgeschichte

2.2.2.  Semogramme sind in der Hauptsache Darstellungen eines semantisch mehr oder minder eng mit dem sprachlich Bezeichneten zusammenhängenden Objekts. Die Skala reicht von — nach den Darstellungsprinzipien der ägyptischen Kunst — einigermaßen vollständigen Darstellungen des sprachlich Bezeichneten (Piktogramme, Champollions figurative Zeichen) über die Darstellung von dem sprachlich Bezeichneten nahestehenden Objekten bis hin zu rein konventionellen Symbolen (Champollions tropische Zeichen). Beispiele: Es stehen das Einzelobjekt Sonne, (Sonnenscheibe mit distingierendem Punkt), für r‛w „Sonne, Sonnengott Re“, der (zur Zeit der Erfindung dieses Schriftzeichens typische) , für pr.w Hausgrundriß (Einraumhaus), „Haus“, das (in ältester Zeit übliche) Schreibgerät, , für sẖ . w „Schreiber“, die Beine, , für ἰ w „kommen“; die hockende (männliche) Person, , für die grammatische Kategorie 1. Person, die (grammatische) Person par excellence; zwei Striche, , für śnw.wἰ „zwei“ oder die grammatische Kategorie Dual, drei Striche, , für ḫmt.w „drei“ oder die Pluralität (grammatische Pluralität, Kollektivbegriffe, nicht Abzählbares). — Bei der Zuordnung zwischen Sprache und Schrift kommt dem Bedeutungsumfang der sprachlichen Elemente und dem paradigmatischen (meist auch etymologischen) Zusammenhang eine bedeutende Rolle zu. Z. B. steht das Einzelobjekt Sonne, , nicht nur für das Wort r‛w im Sinne von „Sonne, Sonnengott Re“, sondern auch für eben dieses Wort im Sinne von „Tag“, oder es steht das Paarhuferbein, , nicht nur in der Schreibung des Wortes wḥm(.t) „Paarhufer“, sondern — weitaus häufiger — in der Schreibung des diesem als Etymon zugrundeliegenden Verbums wḥm „wiederholen“. 2.2.3.  Es gibt Hieroglyphenzeichen, die im Einzelfall oder generell in einer Grauzone zwischen Semogramm und Phonogramm stehen. Beispiele: Der Neumond *pśn o. ä., mit dem man außer einer Ableitung von diesem Wort kaum mehr etwas anderes als das Wort pś(.t) „(Götter-)Neunheit“ notiert; die Notation des Adjektivs (der sog. Nisba) n’.t „zur Stadt gehörig“ mit zwei Stadtzeichen, , d. h. als der gleich oder ähnlich klingende Dual n’.t „beide Städte“. In solchen Fällen ist das Prinzip am Werk, dem Phonogramme in der Regel ihre Entstehung verdanken, das Rebusprinzip: die Verwendung des mit einem Semogramm gekoppelten Lautwerts für die Notation der gleichen oder ähnlichen Konsonan-

19.  Die ägyptische Hieroglyphenschrift und ihre Weiterentwicklungen

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tenfolge in beliebigen Zusammenhängen. Während echte Phonogramme viele solche Anwendungen gefunden haben, blieben solche wie die genannten auf einzelne Anwendungsfälle beschränkt, stellen also eine Art Quasi-Semogramme dar. — Solche Quasi-Semogramme sind ferner Abkürzungen wie ś für śnb.w „er sei gesund“ im formelhaften Ausdruck ‛nḫ.w w . w śnb.w „er lebe, sei heil und gesund“ und traditionelle Schreibungen, die aus dem zeitgenössischen orthographischen System nicht mehr (voll) verstanden werden können, wie die Schreibung des Wortes für „König (von Oberägypten)“, , was zeitgemäß kaum anders denn als św(.)t gelesen werden kann, in Wirklichkeit aber — als orthographische Lösung aus der Frühzeit der Schriftentwicklung — für nsw steht.

„Pyramide“ für das Wort mr „Pyramide“ (daneben die logographische Schreibweise wie z. B. „Pyramide“ für das Wort mr „Pyramide“); (2) für allgemeines Determinativ: „Gebäude“ in ‛ + t + „Gebäude“ für

2.2.4.  Komplemente bzw. Komplementfolgen, die bis zur Mitte der Konsonantenfolge des zu komplementierenden Phonogramms bzw. Semogramms stehen, werden im Standardfall vor das betreffende Phonogramm bzw. Semogramm gesetzt. Komplemente bzw. Komplementfolgen, die ab der Mitte der Konsonantenfolge des zu komplementierenden Phonogramms bzw. Semogramms stehen, werden hinter das betreffende Phonogramm bzw. Semogramm gesetzt. Beispiele mit zweikonsonantiger Phonemfolge: t + tm ,

2.2.6.  Die Graphie ist nicht genormt, aber auch wiederum keineswegs beliebig. Es herrscht eine Vorliebe für phonographische Notation plus semographische Kennzeichnung (Determinierung). Die semographische Notation (Logogramm, Ideogramm) ist nur eingeschränkt möglich, es gibt nur für eine beschränkte Anzahl von Wörtern (schätzungsweise um die tausend, in ständigem Gebrauch davon mehrere hundert) entsprechende Hieroglyphenzeichen, und auch in diesen Fällen wird die phonographische Notation vielfach alternativ angewandt. Semographische Kennzeichnung ist üblich, sie unterbleibt bei einigen kurzen, häufig gebrauchten Wörtern, so z. B. bei der Präposition m „in“ (aber auch merkwürdigerweise bei dem Wort rn „Name“), und nach Morphemen wie z. B. den Personalsuffixen der 2. und 3. Person Singular. Die Schreibkonventionen folgen bei unterschiedlichen Teilwortschätzen unterschiedlichen (unterschiedlich alten) Regeln. So werden z. B. Beamtentitel gerne „archaisch“-knapp geschrieben. — Die Wahl unter alternativen Schreibweisen ist von diversen Faktoren abhängig, so vom Ko-Text, vom Beschreibmaterial, von kalligraphischen Rücksichten. Beispiel: w‛,w „einer“ kann kotext-abhängig evtl. mit dem „hockenden Mann“, , als gewöhnlicher Sterblicher oder mit dem „hockenden Mann mit Bart“, , als „Verehrungswürdiger“ (Gott, König oder dgl.) gekennzeichnet werden.

p + ,

 + n + n. Die Wahl des Komple-

mentierungstyps ist in Grenzen frei, sie hängt von kalligraphischen Erwägungen, von der unter 3. behandelten Schriftart oder von zeitspezifischen Vorlieben ab (Weiteres hierzu unter 5.2.). 2.2.5.  Determinative stehen hinter der Notation der zu kennzeichnenden Einheit. Beispiel: [ ḫ(.t) „Horizont“ + t für das Wort  ḫ.t „Lichtland, Horizont“] + „Gebäude“ + tw + „Verehrungswürdiger“ + „Plural“ für die Wortform ḫ.tw „Horizontische (Götter)“. Es gibt spezielle Determinative, die die Bedeutung bestimmter Morpheme, Wörter oder Wortformen (und der davon abgeleiteten) angeben, und allgemeine (generelle, generische) Determinative, die ein semantisches Merkmal angeben, das mehr als einem Morphem, einem Wort oder einer Wortform (und der davon abgeleiteten) zukommt. Zeichen ersterer Art sind in der Regel auch als semographische Notationen (Logogramme/Ideogramme) in Gebrauch. Beispiele: (1) für spezielles Determinativ: „Pyramide“ in m r + m + r (nach Inversion aus kalligraphischem Grund statt * m + mr + r ) +

‛ .(w)t „Kammer“,  ḫ(.t) „Lichtland, Horizont“ + t + „Gebäude“ für  ḫ.t „Lichtland, Horizont“ und viele andere Gebäude(teil)bezeichnungen. — Die allgemeinen Determinative bilden eine Art semantisches Klassifikationssystem. Es gibt „(männliche) Personen“ (hockender Mann ), „Frauen“ (hockende Frau ), „Gebäude“ (Haus ), „Fremdländer“ (Bergland ), „schlechte Dinge“ (Sperling ), „Abstraktes“ (Buchrolle ) und vieles mehr.

3.

Äußere Form: Bilderschrift und daraus abgeleitete Kursivschriften

3.1.  Die Hieroglyphenschrift, ursprünglich eine „Bilderschrift“, hat auf Dauer ihre Bildhaftigkeit bewahrt (→ Abb. 34.1 auf Tafel

III. Schriftgeschichte

292

IV). Daneben entwickelte sich früh eine Kursivschrift, das sog. Hieratische. Auch wenn dessen Zeichenformen oft nicht mehr die ursprünglichen Bilder erkennen lassen, blieben den Ägyptern die Entsprechungen auf Dauer weitgehend geläufig. Eine Etappe in der Auseinandersetzung der Bilderschrift und der Kursivschrift wird im 7. Jahrhundert v. Chr. mit der sog. Demotischen Schrift und der ephemeren sog. Abnormal-Hieratischen Schrift erreicht, Schriften, bei denen es nicht mehr ohne weiteres und oft gar nicht mehr möglich ist, kursive Schreibungen in Bilderschriftzeichen zurückzuübersetzen. — Eine Rückentwicklung des Hieratischen in Richtung auf die Bilderschrift stellen die sog. Kursiv-Hieroglyphen dar, eine Kursive, deren Zeichenformen den hieroglyphischen wieder stärker angenähert sind (diese Schriftart wird auch, da in Totenbuchhandschriften angewandt, als Totenbuch-Hieroglyphen bezeichnet; → Abb. 34.2). 3.2.  Die Grund-Schreibrichtung der Bilderschrift ist diejenige von rechts nach links (angewandt hier in Abb. 19.1). Die entgegengesetzte Schreibrichtung, von links nach rechts, ist sehr gebräuchlich, bedarf aber in aller Regel einer besonderen Motivierung (hier, wie in modernen Druckwerken üblich, im laufenden Text angewandt). Die Kursivschriften (ausgenommen die Kursiv-Hieroglyphen) besitzen nur die Standard-Schreibrichtung der Bilderschrift, diejenige also von rechts nach links. — Bilderschrift-Texte werden zu allen Zeiten entweder in (vertikalen) Kolumnen oder in (horizontalen) Zeilen geschrieben, wobei in älterer Zeit die Kolumnenschreibweise vorherrscht, in jüngerer Zeit — archaisierende Tendenzen außer acht gelassen — die Zeilenschreibweise. Hieratisch wird früh in Kolumnen, später und zunehmend in Zeilen geschrieben, Demotisch und Abnormal-Hieratisch standardmäßig nur noch in Zeilen.

Abb. 19.1: Schreibung des Götternamens Amun in (2) hieratischer Schrift und (1) Re-Transkription in Bilderschrift (von rechts nach links bzw. von oben nach unten:  + mn + n + „Gott“; in echter Bilderschrift würde man nicht das angegebene Determinativ gebrauchen) sowie (3) in demotischer Verkürzung.

3.3.  In der Bilderschrift können die Schriftzeichen infolge ihrer Bildhaftigkeit über ihre

Zeichenfunktion hinaus Bildfunktion haben. Das äußert sich vor allem in der Ausgestaltung der Bildzeichen selbst (Variation und Neuschaffung von Zeichenformen) und in der Ko- und Kontext-Sensibilität (Wahl und Kombination der Schriftrichtungen und der Blickrichtung der einzelnen Hieroglyphen; siehe Fischer (1977 a; 1986). 3.4.  In den Kursiven verlieren die Zeichenformen an Selbständigkeit. Zeichenfolgen werden zu Ligaturen verbunden (→ Abb. 34.3). Der fallweise eintretenden Verunklärung der Einzelzeichen wird entgegengewirkt durch eine reichere und stärker standardisierte Orthographie. Wichtiger als das Einzelzeichen wird die Zeichengruppe („Schematogramm“: Morphem-, Wort-, WortformSchreibung), zumal in den spätesten Kursiven des Demotischen und des ephemeren Abnormal-Hieratischen. Dabei verlieren auch die Determinative an Individual-Wert. Auf der anderen Seite hilft man sich im Demotischen dort, wo Wortschreibungen nicht tradiert sind, mit der Notation des zeitgenössischen Lautstands, ohne sich mit den älteren Komplementierungsusancen zu belasten, unter vorzugsweiser Verwendung von Einkonsonantenzeichen. Es vermehren sich auch rebusartige Ersatzschreibungen vom Typ n’.t (siehe unter 2.2.3.). 3.5.  In Einzelfällen werden Kursivzeichen (in stilisierter Form) in die Bilderschrift übernommen. Beispiel: w (die kursive Form des Bilderschriftzeichens w ).

4.

Entstehung

Die frühesten Schriftzeugnisse, die sich relativ-chronologisch sicher datieren lassen und deren Charakter als Schriftzeichen sich mit Bestimmtheit behaupten läßt, stammen aus der abydenischen Königsnekropole. Sie sind mit Königen der „prädynastischen“ 0. Dynastie verbunden, und zwar bis zur fünften Generation vor die sog. Reichseinigung zurück, mit der die traditionelle Dynastiezählung einsetzt (Kaiser 1990). Absolut-chronologisch ist dieser Zeitpunkt nur approximativ festzulegen. Da die „Reichseinigung“ grob geschätzt um 3000 v. Chr. anzusetzen ist, reichen die Schriftzeugen sicher in das ausgehende 4. Jahrtausend zurück. Ob damit bereits die ersten Anfänge der Schrift in Ägyp-

19.  Die ägyptische Hieroglyphenschrift und ihre Weiterentwicklungen

ten gefaßt sind, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Grundsätzlich ist damit zu rechnen, daß damals — wie später — auf vergängliche, nicht erhalten gebliebene Materialien geschrieben wurde, nicht gerade auf Papyrus (der seit der 1. Dynastie — unbeschriftet — belegt ist), sondern etwa auf Baumblätter, die in späteren Ritualszenen als Schriftträger eine Rolle spielen. — Die frühesten Schriftzeugen sind schrift-systematisch meist schwer zu beurteilen, weil ihre Lesung unsicher oder unmöglich ist. Erst im Laufe der 1. Dynastie werden die Zusammenhänge mit der uns hier beschäftigenden Hieroglyphenschrift deutlicher: Es nehmen die Schriftzeichen zu, die man mit späteren Hieroglyphenzeichen identifizieren, d. h. lesen, kann, und im Gegenzug die Schriftzeichen ab, die im späteren Schriftzeicheninventar nicht mehr vorkommen, für uns daher im allgemeinen bislang unlesbar geblieben sind. Es lassen sich ferner, je später desto besser, die unter 2. behandelten Schriftprinzipien erkennen, die der späteren Hieroglyphenschrift zugrundeliegen (neben der — elementaren — semographischen (logographischen) Komponente die phonographische; neben der — elementaren — Notation auch die Kennzeichnung). Eine genauere schriftgeschichtliche Analyse der frühen Schriftzeugnisse findet sich bei Kahl 1994. Wolfgang Helck hat neuerdings die Frage aufgeworfen, ob es neben und vor der hier in Rede stehenden Hieroglyphenschrift in Ägypten noch bzw. schon eine andere Schrift gegeben habe, deren Heimatgebiet U nterägypten sei, eine Schrift, die er nach dem prädynastischen Zentralort Buto als „butische Schrift“ bezeichnet (Helck 1985; 1987). Er führt hier vor allem die zahlreichen Schriftzeichen der ältesten — oberägyptischen — Schrift ins Feld, die auf der Basis der späteren Hieroglyphenschrift nicht gelesen werden können. Da jedoch auch eine „butische“ Lesung nach einem „butischen“ Schriftsystem (evtl. als Verschriftlichung einer anderen als der ägyptischen Sprache) kaum über die eine oder andere Vermutung hinaus kommt, muß die Frage unentschieden bleiben. Ein anderes Indiz liegt möglicherweise in den durch die Annalen überlieferten Namen prädynastischer unterägyptischer Könige vor, die zwar mit Zeichen geschrieben sind, die der Form nach solche der späteren Hieroglyphenschrift sein könnten, die aber samt und sonders nicht ägyptisch gelesen werden können (was allerdings allein daran liegen könnte, daß die Na-

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men keine ägyptischen wären). Schließlich werden Topfmarken, vor allem aus der frühen dynastischen Zeit, angeführt (Helck 1990), die auf Beigabegefäßen sowohl in Oberägypten als auch in U nterägypten bezeugt sind, die nach der Art ihrer Kombinierbarkeit den Eindruck von Schrift erwecken, deren Zeichenformen aber so wenig mit der späteren Hieroglyphenschrift zu tun haben, daß diese, wenn es sich in der Tat um Schrift handelt, eine andere als die spätere Hieroglyphenschrift sein muß. Da diese Art von Topfmarken jedoch erst zu einer Zeit geläufig ist, als es die Hieroglyphenschrift bereits gab, könnte es sich um Schrift-Imitate handeln, mit denen unterägyptische Töpfer ihren Produkten einen höheren Prestige- und damit Verkaufswert zu geben suchten. Für diese Interpretation spricht nicht zuletzt die Diskrepanz zwischen der hohen keramischen Qualität und der unsicheren Formgebung bei den Topfmarken. Die vielberufenen Querverbindungen nach Sumer (oder Elam) lassen sich unter derzeitigen Gegebenheiten schwer beurteilen. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß die Schriftentwicklung hier und dort nicht unabhängig voneinander geschah. Die genaueren Zusammenhänge lassen sich jedoch noch kaum definitiv bestimmen. Sicher ist, daß sich die sumerische Keilschrift und die ägyptische Hieroglyphenschrift asynchron entwickelt haben. Wenn etwa die sumerische Keilschrift tatsächlich, wie die jeweils ältesten überlieferten Anfänge bzw. Vorgänger anzunehmen gestatten, der ägyptischen Hieroglyphenschrift voranging, so wurde sie in der frühen dynastischen Zeit in der Entwicklung der zukunftsträchtigen phonographischen Komponente überholt, die in Ägypten früher systematisch ausgebaut wurde als in Sumer (Schenkel 1983, 54—57).

5.

Einzelentwicklungen: Zeichenvorrat, Verhältnis Notation zu Kennzeichnung, Silbenschrift

5.1.  Der Zeichenvorrat der Hieroglyphenschrift ist in ständiger Veränderung begriffen. Dramatisch zu nennen sind diese Veränderungen jedoch nur in der Frühzeit und in den späten, ptolemäisch-römischen Tempelinschriften. In der frühen Zeit kommen viele Schriftzeichen außer Gebrauch, andere werden neu eingeführt. Der U mschichtungsprozeß führt zu einem Zeichenvorrat, der seit dem Mittleren Reich (Anfang 2. Jahrtausend

294

v. Chr.) einen Maximal-U mfang von mehr als 1000, aber weniger als 2000 Zeichen hat, von denen deutlich weniger als 1000 im allgemeinen Gebrauch stehen (die Standardzeichenliste bei Gardiner 1927 enthält weniger als 800). In den späten Tempelinschriften wächst die Zahl auf viele Tausende an. — Bei der Erweiterung des Inventars spielt die Bildhaftigkeit der Schrift eine entscheidende Rolle: Die Möglichkeit, neue Semogramme zu schaffen, steht von daher stets offen. Aus Semogrammen können generell — nach dem Rebusprinzip — Phonogramme abgeleitet werden. Extensiv nutzen diese Möglichkeit die Tempelinschriften der griechisch-römischen Zeit. Daneben wird gelegentlich, besonders im spätesten der großen Tempel, dem von Isnā, das Prinzip der Akrophonie (maßgebend ist der wortanlautende Konsonant) zur Gewinnung von Phonogrammen herangezogen (Sauneron 1982), ein Prinzip, das in älterer Zeit bereits für kryptographische Zwecke genutzt wurde. 5.2.  Im Verhältnis Notation — Kennzeichnung sind Verschiebungen zu beobachten. Während man in der frühen Zeit des Schriftgebrauchs oft die Notation als das Zentrum betrachtet, um das herum Kennzeichnungen angeordnet werden können (Reihenfolge: Kennzeichnung(en) — Notation — Kennzeichnung(en)), bevorzugt man später eine unidirektionale Abfolge der beiden Arten von Zeichen (Reihenfolge: Notation — Kennzeichnung(en)). Seit der Schriftreform des Mittleren Reiches (ca. 2000 v. Chr.) kann als Standard-Verfahren der Morphem-, Wortund Wortformschreibung die Reihenfolge Phonographische Notation(en) — allgemeinsemographische Kennzeichnung(en) gelten. Es werden jedoch — aus diversen Gründen — viele ältere orthographische Einzellösungen nach anderen Prinzipien weiter benutzt. Bei den Semogrammen tritt jetzt eine Konzentration auf allgemeine Determinative ein, es wird eine Art semantisches Klassifikationssystem (siehe 2.2.5.) entwickelt. — Verwässert wird nach und nach das Prinzip Notation und Kennzeichnung in den Kursiven, so besonders ausgeprägt im Demotischen, wo die Funktion der Einzelzeichen hinter den gesamthaften Morphem- oder Wortbildern zurücktritt. 5.3. Silbenschrift Im Neuen Reich (18.—20. Dynastie, ca. 15.— 12. Jahrhundert v. Chr.) steht, vorzugsweise für die Schreibung vorderasiatischer (semitischer, genauer: alt-kanaanäischer) Fremdwörter, aber auch fallweise für die Schreibung

III. Schriftgeschichte

ägyptischer Wörter eine rudimentäre Silbenschrift in Gebrauch, die aus der StandardHieroglyphenschrift hervorgegangen ist und mit dieser zusammen benutzt wird (zuletzt Schenkel 1986, Helck 1989, Schneider 1992, Zeidler 1993). Der U nterschied zur StandardHieroglyphenschrift besteht darin, daß die Silbenschrift — bis zu einem gewissen Grade — explizit die Vokale schreibt, die in der Standard-Hieroglyphenschrift ungeschrieben bleiben. Rudimentär ist diese Silbenschrift insofern, als nicht alle Vokale der ägyptischen (oder auch der alt-kanaanäischen) Sprache eindeutig geschrieben werden. U nterschieden werden i/e (fallweise auch Sonderschreibung für e ) u/o (fallweise auch Sonderschreibung für o) und die restlichen Vokale, worunter a, Schwa mobile (ǝ) und Schwa quiescens (∅) fallen. — Die Silbenschreibung folgt — über das Standard-Hieroglyphenschrift-Prinzip hinaus, das nach Gelb (1963) ebenfalls als Silbenschrift zu interpretieren ist — zwei Prinzipien, dem „Keilschrift-Prinzip“ und dem „Devanagari-Prinzip“. Silbenzeichen nach dem Keilschrift-Prinzip stellen eine Silbe en bloc dar. Vielfach handelt es sich um Schreibungen für ägyptische Wörter mit entsprechender Lautform, die nach dem Rebus-Prinzip für beliebige gleich oder ähnlich lautende Silben eingesetzt werden. Beispiele: ḫu (eine Schreibung für das Wort *ḫǒ < *ḫǎ  „tausend“), bi (eine Schreibung für *bi < *bi „Ba (eine Personenkonstituente)“). Silbenzeichen nach dem Devanagari-Prinzip bestehen aus einer oder zwei Komponenten, entweder einer Komponente, die den silbenanlautenden Konsonanten bezeichnet, gefolgt von einer zweiten Komponente, die einen der Vokale i/ e (evtl. e ), u/o (evtl. o) bezeichnet, oder aus der den silbenanlautenden Konsonanten bezeichnenden Komponente allein, in welchem Falle der folgende Vokal als a, ǝ oder ∅ anzunehmen ist. Beispiele: h + ∅ für ha, h + i (ursprünglich  ) für hi, h + u (ursprünglich w ) für hu . — Die Silbenzeichen nach dem Devanagari-Prinzip bezeichnen stets offene Silben, stellen mithin — nach der Silbenstruktur des Ägyptischen — Buchstabiersilben dar. Die Anfänge dieser Schreibweise gehen mindestens bis ins Mittlere Reich (Anfang 2. Jahrtausend v. Chr.) zurück. Sie basiert — ähnlich wie die Plene-Schreibungen semitischer Schriften — auf Neuinterpretation von Schreibungen im Anschluß an lautliche Veränderungen des damit Geschriebenen. So ist fallweise deutlich, daß Schreibun-

19.  Die ägyptische Hieroglyphenschrift und ihre Weiterentwicklungen

gen für Silben mit u auf Schreibungen für geschlossene Silben mit schließendem Konsonanten w zurückgehen. Versteht man die Schreibung der Konsonanten nach dem Standard-Hieroglyphenschrift-Prinzip als Silbenschreibung, so handelt es sich im übrigen bei der Silbenschrift nach dem Devanagari-Prinzip um eine Variante des Standard-Prinzips Notation + Kennzeichnung — Notation einer Silbe unter fallweise expliziter Kennzeichnung bezüglich der vokalischen Komponente. — Bei der Ausgestaltung der Silbenschrift im Neuen Reich dürfte wohl die zeitgenössische Keilschrift Pate gestanden haben, in der die internationale Korrespondenz geführt wurde, selbst in Ägypten. — Im Laufe der 20. Dynastie (12. Jahrhundert v. Chr.) beginnt die Silbenschrift zu verwildern, möglicherweise als Folge gravierender Lautentwicklungen bei den Vokalen, die die Verbindung zu den geltenden Schreibungen zerstörten. Eine ähnliche Silbenschreibung läßt sich in der späten Zeit, namentlich in der Ptolemäerund Römerzeit, beobachten, vor allem in den Transkriptionen griechischer Namen. Hier werden sehr häufig explizit die Vokale u/o und i/e geschrieben, oft, aber deutlich weniger häufig, der Vokal a. Für das ptolemäische Demotisch liegt eine eingehende U ntersuchung von Willy Clarysse vor (Clarysse & Van der Veken 1983). Ihre Resultate lassen sich — nach Einschätzung Heinz-Josef Thissens — auf das Demotische insgesamt verallgemeinern und darüber hinaus — nach eigener Einschätzung — auch auf das Hieroglyphisch-Ägyptische übertragen. (Die Beobachtung findet sich bereits bei Schwartze (1843), der die Hälfte seines verschrobenen 2000-Seiten-Werkes der Frage widmet, ob die Hieroglyphenschrift eine Silbenschrift sei und dabei richtig bemerkt, daß unter den Vokalen, die im Prinzip alle geschrieben werden können, i, o und u bevorzugt geschrieben werden, siehe etwa 489.) Auch wenn die Vokalschreibung Ähnlichkeit mit der Silbenschreibung des Neuen Reiches hat, fragt es sich dennoch, ob hier überhaupt ein Zusammenhang besteht, ob nicht vielmehr — ein Vorschlag Klaus Beyers — die zeitgenössische aramäische Schrift Pate stand, deren Vokalschreibung, über die hier nicht im einzelnen referiert werden kann, mit der späteren ägyptischen durchaus vergleichbar ist (→ Art. 20). Die Frage muß im übrigen im weiteren Rahmen gesehen werden, im Rahmen nämlich der Schriften, die in den letzten vorchristlichen

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Jahrhunderten das Devanagari-Prinzip anwenden. Einzubeziehen wären hier namentlich die persische Keilschrift und die meroitische Schrift mit ihren besonderen Beziehungen zur ägyptischen Hieroglyphenschrift (zu letzterer Weiteres unter 6.). 5.4. Versuche in phonographischer Alphabetschrift In der Saitenzeit (6./7. Jahrhundert v. Chr.), zu einer Zeit, in der sich die Kontakte zwischen Ägyptern und Griechen auf ägyptischem Boden intensivierten, finden sich Texte, die zu Notationen mit Einkonsonantenzeichen und ohne Determinative tendieren. Auch wenn man ähnliche Schreibweisen in Texten aus dem Alten Reich anführen kann und obwohl gerade die Saitenzeit ein Faible für alte Texte hat, sprechen die auf diesem Wege erzielten Orthographien bei genauerer Betrachtung eher für Beeinflussung durch die griechische Alphabetschrift als für innerägyptischen Archaismus (siehe Gunn 1943, 55—56).

6.

Abhängigkeit anderer Schriften von der ägyptischen

Bei der Entwicklung der westsemitischen Alphabetschrift(en) (proto-sinaitisch, proto-kanaanäisch) hat offensichtlich, was das Prinzip angeht, die ägyptische Hieroglyphenschrift (Standard-Prinzip) Pate gestanden. Hier wie dort gibt die Schrift über Konsonanten Auskunft, nicht aber über Vokale, wogegen die andere Schrift, die als Vorbild in Betracht gekommen wäre, die Keilschrift, von den Vokalen nicht absieht. Dagegen ist die Herleitung der Zeichenformen aus ägyptischen Kursiv-Zeichen, die bereits im 19. Jahrhundert beliebt war und durch die Entdeckung der proto-sinaitischen Inschriften — das geographische m issing link — im 20. Jahrhundert noch einmal Oberwasser erhielt, problematisch (→ Art. 20, 29). Die früheren Versuche leiden darunter, daß sie ihre Vergleichsobjekte aus viel zu späten Zeiten wählen (Sass 1988, 135—168; 1991, 4—27). Die Zeichenformen könnten auch originale Erfindungen nach dem Rebusprinzip darstellen (hierzu auch Beyer 1984, 72—76). U mgekehrt liegen die Dinge bei der meroitischen Schrift, die spätestens im ausgehenden 3. Jahrhundert v. Chr. entstanden ist. Dieser, die in einer Kursivschrift und in einer „Hieroglyphenschrift“ vorliegt, liegen ägyptische Zeichenformen zugrunde, die sich im

III. Schriftgeschichte

296

Falle der Kursive in der Hauptsache auf den frühdemotischen Schriftduktus (ca. 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr.) zurückführen lassen (Priese 1973). Dagegen ist sie ihrem Prinzip nach eine Silbenschrift des DevanagariTyps, die anders als die ägyptische Silbenschrift des Neuen Reiches nur a durch Nichtschreibung wiedergibt, dagegen Schwa mobile (in meroitistischer Transkription e ) und Schwa quiescens (∅), wenn auch — wie etwa die äthiopische Schrift — mit dem gleichen Zeichen, explizit schreibt (Hintze 1973, 1987). Ein genetischer Zusammenhang mit der ägyptischen Silbenschrift ist derzeit zwar nicht definitiv auszuschließen, jedoch nicht sehr wahrscheinlich. Plausibler ist ein Zusammenhang mit anderen zeitgenössischen Schriften, zumal der aramäischen oder der keilschriftlich-persischen, zu denen dann auch die späte Silbenschrift in Ägypten in Beziehung zu setzen wäre (vgl. unter 5.4.). Ägyptische Zeichenformen wurden im Rahmen der Wiedergabe des Ägyptischen in griechischer Alphabetschrift (für die Wiedergabe vor allem solcher Laute, für die das Griechische kein geeignetes Äquivalent besitzt) benutzt (siehe etwa Osing 1976, 6—7), auf Dauer in Gestalt der sog. Zusatzbuchstaben des koptischen — im Kern griechischen — Alphabets (siehe etwa Gardiner 1927, 5—6).

7.

Aussterben

Die Fähigkeit, Texte in Hieroglyphenschrift zu schreiben, läßt im 2. Jahrhundert n. Chr. deutlich nach, zu einer Zeit, als die demotische Kursive noch beherrscht wird. Die letzte datierbare hieroglyphische Inschrift stammt von 394 n. Chr., die letzte datierbare demotische von 452 n. Chr. Beide befinden sich in Philae, dem südlichen Rückzugsgebiet des ägyptischen Kultes, wo dieser noch bis 535 n. Chr. vom Verbot paganer Kulte praktisch ausgenommen war. Im nördlichen Alexandria könnte es zum mindesten bis 391 n. Chr. noch Personen gegeben haben, die Hieroglyphen lesen konnten.

8.

Literatur

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20.  Die nordwestsemitischen Schriften

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Wolfgang Schenkel, Tübingen (Deutschland)

20. Die nordwestsemitischen Schriften 1. 2. 3. 4. 5. 6.

1.

Einführung Frühe semitische Alphabete Die klassische Periode Die jüngeren Ausformungen der aramäischen Schrift Zusammenfassung Literatur

Einführung

Die Erfindung der westsemitischen Konsonantenschrift fällt in das frühe 2. Jahrtausend v. Chr. Zu jener Zeit waren in Mesopotamien und in Ägypten etablierte komplexe Schriftsysteme in Gebrauch, die aus einer Vielzahl von Wort- und Silbenzeichen bestanden. Ansätze zu einfacheren Schriftsystemen stammen aus anderen Kulturräumen und dürften dort von Anfang an von merkantilen Motiven getragen worden sein. Sie wurden ermöglicht durch eine Konzentration auf die lautliche Seite der Sprache. Zwei verschiedene Ansätze sind nachweisbar: 1. Die Entwicklung von einfachen Silbenschriften, bestehend aus einer überschaubaren Zahl von Zeichen für ausschließlich offene Silben (Konsonant + Vokal). 2. Die Entwicklung einer Konsonantenschrift. Einfache Silbenschriften (1.), die teilweise noch nicht entziffert werden konnten, sind im ägäischen (Kreta, Zypern) und im syrischjordanischen Raum (Byblos, Balu‛ah und Deir ‛Alla) bezeugt. Die Erfindung der Konsonantenschrift (2.) ist im palästinisch-sinai-

tischen Raum zu lokalisieren. Während die genannten Silbenschriften bald aufgegeben wurden, hat die semitische Konsonantenschrift im Laufe der Geschichte weit über den semitischen Kulturkreis hinaus eine äußerst reiche Entfaltung erfahren. Die einzelnen Zeichen der semitischen Konsonantenschrift haben sich typologisch nicht aus Silbenzeichen, sondern aus bildhaften Wortzeichen entwickelt. Dabei wurde die bildhafte Form der Wortzeichen anfangs beibehalten und erst allmählich abstrahiert. Der Lautwert der einzelnen Zeichen wurde bei diesem Verfahren unter Anwendung des akrophonischen Prinzips vom Anfangslaut der entsprechenden Wortzeichen hergeleitet. Da alle hamitosemitischen Wörter konsonantisch anlauten, war das Ergebnis dieses Verfahrens notgedrungen eine reine Konsonantenschrift, wobei die Zeichenzahl der Zahl der konsonantischen Phoneme der Sprache des/r Schrifterfinder(s) entsprach. Die vokalischen Phoneme blieben folglich in der Graphie unberücksichtigt. Dieses vokallose Schriftsystem ist noch heute in den meisten semitischen Kulturen in Gebrauch. Das auch im semitischen Bereich vorhandene Bedürfnis nach Notierung der Vokale (vornehmlich der Langvokale) führte hier im wesentlichen lediglich zur Entwicklung von Hilfslösungen, indem bestimmte Konsonantenzeichen gleichzeitig auch als Vokalzeichen verwendet wurden („Plene-Schreibungen“). Erst die Griechen entwickelten nach ihrer Übernahme der semitischen Konsonantenschrift ein Schriftsystem, in dem Konsonanten und Vokale gleichermaßen notiert werden konnten. Dabei

III. Schriftgeschichte

298

gingen sie schlicht so vor, daß sie jene semitischen Schriftzeichen, für die sie keine konsonantische Verwendung hatten, zu Vokalzeichen umfunktionierten (→ Art. 25).

2.

Frühe semitische Alphabete

Das Vorbild für die Entwicklung des semitischen Alphabetes stellt mit großer Wahrscheinlichkeit die ägyptische Monumentalschrift (Hieroglyphen) dar (siehe Sass 1988, 161; → Art. 19). Dafür spricht a) die geographische Verteilung der ältesten Alphabetinschriften, b) die Bildhaftigkeit der Zeichen in beiden Schriftsystemen und c) die Tatsache, daß in beiden Schriftsystemen Vokale unberücksichtigt bleiben. Die sumero-akkadische Keilschrift, die im wesentlichen syllabischer Natur ist, hat dagegen keinen unmittelbaren Einfluß auf die Alphabetentwicklung ausgeübt. Die ersten alphabetischen Zeichen wurden entweder auf Schreibmaterialien mit fester Oberfläche wie Papyrus, Ostraka, Stein oder Metall gepinselt bzw. geritzt oder aber mittels eines Griffels in weichen Ton eingedrückt. Das Produkt des ersteren Verfahrens nennt man lineare Alphabetschrift, das des letzteren Keilalphabetschrift. Die beiden Verfahren führten zu unterschiedlichen Entwicklungen der Zeichenformen. 2.1. Lineare Alphabetschriften Die ältesten Inschriften in linearer Alphabetschrift stammen aus Sinai und Syrien-Palästina und werden deshalb protosinaitisch und protokanaanäisch genannt. Die betreffende U nterscheidung hat rein geographische, nicht aber schriftgeschichtliche oder gar linguistische Gründe. Die ältesten protokanaanäischen Inschriften werden übereinstimmend ins 17.—18. Jahrhundert v. Chr., die frühesten protosinaitischen Inschriften traditionell etwa zeitgleich bzw. etwas später, neuerdings von Sass (1988, 135—144; 1991, 26—27) jedoch bereits ins 19.—18. Jahrhundert v. Chr. datiert. Auf jeden Fall sind lineare Alphabetschriften damit früher nachweisbar als Keilalphabetschriften. Sollte sich die Frühdatierung der protosinaitischen Inschriften durchsetzen, dann liegt die Vermutung nahe, daß das bereits weitgehend alphabetische Schriftsystem, das die Ägypter im Mittleren Reich zum Zwecke der Transkription semitischer Eigennamen herausgebildet hatten, den Semiten den unmittelbaren Anstoß zur Entwicklung

einer eigenen Alphabetschrift gegeben hat (siehe Sass 1991, 4—27). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können trotz der Versuche Albrights (1966) weder die protosinaitischen noch die frühen protokanaanäischen Inschriften als entziffert gelten. Nach Sass (1988, 161) sind nur 13 protosinaitische Zeichen mit Sicherheit zu identifizieren (siehe Abb. 20.1). Bezüglich der Gesamtzahl der protosinaitischen Schriftzeichen ist nur soviel sicher, daß sie höher als 22 gewesen sein muß, da für die Phoneme /ḥ/ und /ḫ/ und möglicherweise auch für /š/ und /ṯ/ , die im späteren Kurzalphabet nur durch jeweils e i n Zeichen realisiert wurden, unterschiedliche Zeichen zur Verfügung standen. Traditionell wird im Anschluß an Albright (bes. Albright 1966) und mit Hinweis auf den Zeichenbestand des ugaritischen Langalphabetes (→ 2.2.) angenommen, daß das semitische Proto-Alphabet ein Inventar von 27 Zeichen besaß. Sicher ist, daß die linearen Alphabete ab dem 13./12. Jahrhundert v. Chr. in Übereinstimmung mit dem phönizischen Alphabet (→ 3.1.) nur noch 22 Zeichen umfaßten. Die Abfolge der Konsonanten in den frühen linearen Alphabeten läßt sich nur mittelbar gemäß den Befunden der keilalphabetischen Tradition einerseits (→ 2.2.1. und 2.2.3.) und gemäß den von der protokanaanäischen Schrift abgeleiteten jüngeren Schriften andererseits rekonstruieren. Demnach existierten bereits in der 2. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. nebeneinander a) die sogenannte nordwestsemitische Tradition mit der Konsonantenfolge ’ -b-g etc. (= Aleph-BētTradition; von daher der Begriff „Alphabet“) und b) die sogenannte südsemitische Tradition mit der Konsonantenfolge h-l-ḥ etc. Nach welchen Kriterien diese beiden Konsonantenfolgen festgelegt wurden, entzieht sich unserer Kenntnis. Man darf vermuten, daß entweder memnotechnische Kriterien (einprägsame lautliche Abfolge von Zeichennamen) oder formale Ähnlichkeiten von Zeichen eine Rolle bei der Festlegung der Konsonantenfolge gespielt haben. Einmal etabliert, wurden die genannten Konsonantenfolgen jedenfalls über die Jahrhunderte hinweg im wesentlichen unverändert beibehalten. Die Schreibrichtung ist in der protokanaanäischen Epoche noch nicht endgültig festgelegt: sie kann horizontal (linksläufig, rechtsläufig oder boustrophedon, d. h. abwechselnd rechts-links und linksrechts) oder vertikal (von oben nach unten) verlaufen. Es ist aufgrund neuerer Erkenntnisse wahrscheinlich, daß bereits diese frühen linearen

20.  Die nordwestsemitischen Schriften

Alphabetsysteme die Grundlage für die Entwicklung a) der altsüdarabischen Schrift (→ 2.2.3.; → Art. 21), b) der archaischen aramäischen Schrift von Tell Fecherije (→ 3.3) und c) der griechischen Schrift (→ 3.1.) darstellen. Während die altsüdarabische Schrift auf einem (wohl älteren) linearen Langalphabet beruht, basieren die archaisch-aramäische und die griechische Schrift auf einem (wohl jüngeren) linearen Kurzalphabet (22 Zeichen). Die altsüdarabische Tradition übernahm ein Alphabet mit der Konsonantenfolge h-l-ḥ, die griechische (und wohl auch die archaisch-aramäische) Tradition dagegen ein Alphabet mit der Konsonantenfolge ’ -b-g. 2.2. Keilalphabetschriften U nter dem Einfluß der mesopotamischen Schreibtradition kam es im syrisch-palästinischen Raum auch zu Versuchen, die semitische Alphabetschrift auf Ton zu realisieren (dazu Dietrich & Loretz 1988). Es sind drei unterschiedliche Keilalphabetsysteme bekannt: 2.2.1.  In der antiken nordsyrischen Hafenstadt U garit und in der unmittelbaren U mgebung war vom 14. bis zum 12. Jahrhundert v. Chr. eine Alphabetschrift von 30 Zeichen in Gebrauch, bestehend aus 27 Stamm- und 3 Zusatzzeichen (siehe Abb. 20.2). Das auffälligste Merkmal dieses Alphabetes besteht darin, daß es drei unterschiedliche Zeichen für die Schreibung des glottalen Verschlußlautes /’/ enthält, deren Wahl im wesentlichen von der Qualität des folgenden Vokals abhängig ist (U mschrift: , ,  ). Dieses Phänomen wird von einigen Autoren als früher Ansatz zu einer allgemeinen Vokalnotierung gedeutet, dürfte jedoch eher ein Hinweis auf die Verhaftung des betreffenden Systems in der damals dominierenden syllabischen Schrifttradition sein. Die Schreibrichtung ist durchgehend rechtsläufig. Aufgrund gefundener Abecedarien läßt sich mit Sicherheit feststellen, daß die Reihenfolge des betreffenden (Lang-)Alphabetes der Reihenfolge des nordwestsemitischen Kurzalphabetes ( ’-b-g etc.) entspricht, ungeachtet der unterschiedlich großen Zeichenzahl der beiden Systeme (vgl. Abb. 20.2 und 20.3). Dieser Befund kann entweder so gedeutet werden, daß das Kurzalphabet (22 Zeichen) eine reduzierte Form eines älteren Langalphabetes von 27 Zeichen darstellt (= Reduktionstheorie), oder daß Abb. 20.1: Das protosinaitische Alphabet (Zeichenauswahl) nach Sass (1988, Taf. 5)

299

III. Schriftgeschichte

300

umgekehrt das ugaritische Langalphabet eine erweiterte Fassung eines älteren 22 Zeichen umfassenden Kurzalphabetes ist (so Dietrich & Loretz 1988, bes. 141—43 [= Aufstokkungstheorie]). Da das semitische Protoalphabet mit Sicherheit mehr als 22 Zeichen umfaßte, hat die erstere These mehr Wahrscheinlichkeit für sich.

Es läßt sich im übrigen nicht immer sicher entscheiden, ob eine Inschrift die lange oder die kurze Keilalphabettradition repräsentiert: U mstritten bezüglich der Zuordnung sind etwa die linksläufigen Inschriften von Hala Sultan Tekke (Zypern) und Tell Nebī Mend am Orontes (dazu Dietrich & Loretz 1988, 273 f).

2.2.2.  In mehreren Orten Syrien-Palästinas einschließlich U garits wurden Inschriften gefunden, die in einem keilschriftlichen Kurzalphabet abgefaßt sind (siehe dazu Dietrich & Loretz 1988, 145—275). Die Schreibrichtung der betreffenden Texte ist in U garit linksläufig, anderswo entweder links- oder rechtsläufig. Der Zeichenbestand dieses Alphabets ist umstritten: Nach herkömmlicher Auffassung umfaßt es in Übereinstimmung mit dem linearen Kurzalphabet 22 Zeichen, laut Dietrich & Loretz (1988, 271) jedoch nur 21 Zeichen (nur ein Zeichen für /s/ und /ṣ/ ). Das Nebeneinander von Lang- und Kurzalphabet in der keilschriftlichen Tradition kann nur im Zusammenhang mit dem vergleichbaren Phänomen in der linearen Tradition verstanden und erklärt werden: Das keilschriftliche Langalphabet dürfte auf einem (alten) linearen Langalphabet von mutmaßlich 27 Zeichen, das keilschriftliche Kurzalphabet hingegen auf dem (erst ab dem 13. Jahrhundert bezeugten, in seinem Zeichenbestand reduzierten) linearen Kurzalphabet von 22 Zeichen beruhen. Die keilschriftliche Tradition spiegelt somit unmittelbar die Entwicklungen der linearen Tradition wider und ist von dieser beeinflußt (siehe Puech 1986, 211—13).

2.2.3.  Aus Bēt Šemeš (westlich von Jerusalem) stammt eine Tontafel, die nach neueren Erkenntnissen (Loundine 1987) ein Abecedar enthält, dessen Zeichenfolge mit jener der südsemitischen Tradition übereinstimmt ( h-lḥ etc.). Da die Tafel erheblich beschädigt ist, bleibt jedoch umstritten, wie viele Konsonanten das betreffende Alphabet umfaßt: Loundine (1987) geht von 23, Sass (1991) von 21— 24, Dietrich & Loretz (1988, 285—96) gehen dagegen von 28 Konsonanten aus. U mstritten sind ferner die Schreibrichtung und die genaue Datierung der Tafel (zwischen 14. und 12. Jahrhundert). Trotz vieler offener Fragen dürfte soviel sicher sein: 1) Die für die südsemitischen Alphabete charakteristische Reihenfolge ist keine südsemitische Erfindung, sondern war bereits im 2. Jahrtausend v. Chr. in Syrien-Palästina bekannt, wo sie Seite an Seite mit der nordwestsemitischen Reihenfolge existierte. 2) Das Alphabet von Bēt Šemeš umfaßt entgegen dem altsüdarabischen Alphabet mit Sicherheit nicht 29 Konsonanten, sondern ist (deutlich) kürzer als dieses.

3.

Die klassische Periode

Im 1. Jahrtausend v. Chr. waren in SyrienPalästina drei alphabetische Schriften in Ge-

Abb. 20.2: Das ugaritische Langalphabet in der bezeugten Konsonantenfolge (Positionen, die im nordwestsemitischen Kurzalphabet nicht besetzt sind, sind durch Fettdruck markiert): -b-g- ḫ -d-h-w-z-ḥ-ṭ-y-k-š-l m- ḏ -n-ẓ-s-‛-p-ṣ-q-r-ṯ ġ -t — -  -ś

20.  Die nordwestsemitischen Schriften

301

brauch, deren gemeinsamer Vorläufer die protokanaanäische Linearschrift darstellt: die phönizische, die hebräische und die aramäische Schrift. Abb. 20.3 bietet eine vergleichende Liste der Schriftzeichen. 3.1. Die phönizische Schrift Die phönizische Schrift entwickelte sich etwa in der Mitte des 11. Jahrhundert v. Chr. direkt aus der protokanaanäischen Schrift. Ihre wichtigsten Charakteristika sind a) die Aufgabe der piktographischen Form der Zeichen, b) eine deutliche Konsolidierung der Zeichenformen und c) die Fixierung der Schreibrichtung als linksläufig (Abb. 20.4 auf Tafel V). Die älteste Periode der phönizischen Schrift wird repräsentiert durch die Monumentalinschriften der Könige von Byblos (etwa 1000— 900 v. Chr.). Mit der Ausbreitung der phönizischen Sprache außerhalb des phönizischen Kernlandes infolge von Handel und Kolonisierung wurde auch die phönizische Schrift nach Nordsyrien/Kilikien, Zypern, Nordafrika (Karthago) und mehr oder weniger in die gesamte Mittelmeerwelt exportiert und dort weiter gepflegt. Die Schrift, die als Monumental- und Kursivschrift tradiert wurde, erfuhr dabei im Laufe der Zeit Veränderungen mit gewissen lokalen U nterschieden. Im wesentlichen verlief diese Entwicklung kontinuierlich, ohne besondere Zäsuren (siehe Naveh 1982, 57). Die letzten Denkmäler der phönizischen Schrift stammen aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. Nach traditioneller Auffassung übernahmen die Griechen im 8. Jahrhundert v. Chr. von den Phöniziern deren Alphabet (so etwa Driver 1976, 176). Neuere epigraphische Studien (Naveh 1973; Cross 1980, 17 u. a.) sprechen jedoch zugunsten einer früheren Übernahme um etwa 1100. Vorbild des griechischen Alphabetes wäre dann nicht das phönizische, sondern das protokanaanäische Alphabet gewesen. 3.2. Die hebräische Schrift Die ersten Inschriften aus Palästina (10. Jahrhundert) weisen einen Schriftduktus auf, der mit dem phönizischen praktisch identisch ist. Beginnend mit der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts nimmt die in Palästina bezeugte Schrift eine eigene Entwicklung, so daß man fortan von einer „hebräischen“ Schrift sprechen kann. Sie ist bereits sehr früh geprägt durch betont kursive Stilelemente, die sich besonders in Form stark gekrümmter Zeichenschäfte niederschlagen. Die frühesten Ansätze

Abb. 20.3: Die klassischen nordwestsemitischen Schriften

III. Schriftgeschichte

302

des betreffenden Schriftduktus sind Naveh (1982, 65 f) zufolge in den moabitischen Königsinschriften (um 850) zu finden. Diese und weitere Zeugnisse aus dem antiken Moab und Edom weisen darauf hin, daß die „hebräische“ Schrift im 9. und 8. Jahrhundert v. Chr. auch in Transjordanien in Gebrauch war. Sie wurde dort jedoch bereits ab dem 8. Jahrhundert von spezifisch aramäischen Merkmalen beeinflußt und etwa ab dem 6. Jahrhundert weitgehend von der aramäischen Schrift verdrängt (siehe Naveh 1982, 100— 12). In Palästina konnte sich die hebräische Schrift bis in die erste Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. als alleinige Schrift behaupten und entwickelte sich bis dahin nur langsam und unwesentlich weiter. Beginnend mit dem ausgehenden 3. Jahrhundert v. Chr. setzte sich in Judäa mehr und mehr die sogenannte jüdische Schrift (→ 4.1.2.) durch. Die letzten Zeugnisse der hebräischen Schrift in Judäa stammen aus 132—135 n. Chr. Demgegenüber setzten die Samaritaner die hebräische Schrifttradition bis heute fort. 3.3. Die aramäische Schrift Die altaramäischen Inschriften Syriens des 10.—8. Jahrhunderts v. Chr. verwenden die phönizische Schrift. Dieser Befund hat zur Annahme geführt, daß die Aramäer etwa um 1050—1000 v. Chr. von den Phöniziern deren Schrift übernommen hätten und vor dieser Zeit schriftlos gewesen wären. Die letztere Behauptung wurde jedoch durch einen neuen Textfund eindeutig widerlegt: In Tell Fecherije (nördl. Mesopotamien) wurde 1979 eine aramäisch-assyrische Bilingue gefunden (Datierung umstritten), deren aramäischer Part in einer archaischen Alphabetschrift (22 Zeichen) abgefaßt ist, die nicht von der phönizischen, sondern vielmehr bereits von der protokanaanäischen Schrift abgeleitet ist (Naveh 1982, 108—110). Die betreffende Schrift wurde jedoch weder in Mesopotamien noch in Syrien weitertradiert. Stattdessen übernahmen die in Syrien beheimateten Aramäer — wie erwähnt — direkt von den Phöniziern deren Schrift, so daß die gesamte spätere aramäische Schrifttradition auf dieser beruht. Auf die Übernahme der phönizischen Schrift folgte eine Periode, in der sich die Schrift im aramäischen Kulturraum nur unwesentlich weiterentwickelte. Erst ab etwa 750 lassen sich die ersten spezifisch aramäischen Merkmale feststellen. Fortan entwickelte sich vor allem die aramäische Kursivschrift, die

im Zuge der Avancierung der aramäischen Sprache zur internationalen Verkehrssprache des Alten Orients ab dem 7. Jahrhundert v. Chr. äußerst weite Verbreitung fand, rapide weiter und beeinflußte zunehmend die (eher spärlich bezeugte) Monumentalschrift. Dank der politischen Bedeutung des Aramäischen als internationaler Verkehrssprache verlief diese Entwicklung im gesamten Alten Orient bis zum Beginn der hellenistischen Zeit im wesentlichen einheitlich. In den vorangegangenen Abschnitten wurden die unterschiedlichen Entwicklungen der Zeichenformen in der phönizischen, hebräischen und aramäischen Schrifttradition erörtert. Es bestehen jedoch darüber hinaus auch hinsichtlich der Graphie erhebliche U nterschiede zwischen den betreffenden Schriftsystemen: Die klassische phönizische Graphie ist rein defektiv, d. h. sie verwendet keine Konsonantenzeichen zur Notierung von Vokalen (zum Phänomen siehe Zf. 1). Demgegenüber werden in der hebräischen und aramäischen Schrift Langvokale im Auslaut praktisch von Anfang an und im Laufe der Zeit auch zunehmend Langvokale im Inlaut konsonantisch mittels sogenannter m atres lectionis notiert. Als m atres lecitionis fungieren die Konsonantenzeichen für w, y und h (später auch ’).

4.

Die jüngeren Ausformungen der aramäischen Schrift

Mit dem Beginn der Hellenisierung des Orients (ab ca. 300 v. Chr.) wurde das Aramäische als internationale Verkehrs- und Verwaltungssprache vom Griechischen verdrängt. Als Folge davon entwickelten sich die aramäischen Dialekte mit zunehmender Geschwindigkeit auseinander, und die bis dahin im wesentlichen einheitliche aramäische Schrift verzweigte sich in unterschiedliche Richtungen. Während sich im Westen mit dem Nabatäischen und Jüdischen nur zwei Schriftzweige etablierten, entwickelten sich im Osten eine ganze Reihe von Schriften, die sich in drei Gruppen zusammenfassen lassen: a) die südmesopotamische, b) die nordmesopotamische und c) die palmyrenisch-syrische Gruppe. Die betreffenden Entwicklungen könnten im Anschluß an Naveh (1982, 151— 53) historisch wie folgt zu erklären sein: Die genannten westlichen Schriftzweige sind als direkte Fortsetzung der bis dahin einheitlichen reichsaramäischen Schrift zu betrachten. Die östlichen Schriftzweige gehen — da sie

20.  Die nordwestsemitischen Schriften

gewisse markante Merkmale gemeinsam haben — dagegen auf eine proto-ostaramäische Schrift (ca. 3. Jahrhundert v. Chr.) zurück, die in zwei Stilrichtungen vorlag, nämlich einem formalen und einem kursiven Schrifttyp. Während die mesopotamischen Schriften dem formalen Stil gefolgt sind, hat der palmyrenisch-syrische Schriftzweig den kursiven Stil weiterentwickelt. Nur im letzteren Schriftzweig bildeten sich bei gewissen Zeichen unterschiedliche Mittel- und Endformen heraus. Abb. 20.5 bietet eine vergleichende Tabelle der verschiedenen Schriftzeichen. Daß die aramäische Schrift nach dem Zusammenbruch des achämenidischen Perserreiches nicht nur in Syrien und Mesopotamien, sondern auch in der gesamten ehemaligen Osthälfte des Perserreiches (Iran, Afghanistan, Nordwestindien, Armenien, Kaukasus) weitertradiert wurde — sei es, daß sie damit eine Form des Reichsaramäischen oder ihre eigenen (nichtsemitischen) Sprachen verschrifteten — kann hier nur am Rande erwähnt werden. Die Perser verwendeten die aramäische Schrift sogar bis in die islamische Zeit (7. Jh. n. Chr.). 4.1. Die westlichen Schriftzweige 4.1.1. Die nabatäische Schrift Die Nabatäer sind ein arabischer Stamm, der am Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. südlich des Toten Meeres seßhaft geworden war und seit der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. ein selbständiges Königreich mit Zentrum Petra errichtete, das 106 n. Chr. von den Römern zerstört wurde. Die Nabatäer übernahmen das Aramäische als Schriftsprache sowie die reichsaramäische Schrift, und zwar im wesentlichen deren kursive Ausformung. Die nabatäischen Inschriften (siehe dazu Cantineau 1930/32) lassen sich zwei Perioden zuordnen: Die erste Periode umfaßt den Zeitraum zwischen der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. und 106 n. Chr., die zweite Periode den Zeitraum nach 106 bis ins 4. Jahrhundert n. Chr. Die Inschriften der ersten Periode stammen aus dem Gebiet des nabatäischen Reiches sowie aus Nordarabien, Syrien, Ägypten und sogar Italien, die der zweiten Periode nur noch aus Sinai (in Form von tausenden von Felsengraffiti, den sogenannten sinaitischen Inschriften) und aus Nordarabien. Die letzte nabatäische Inschrift ist in das Jahr 356 n. Chr. zu datieren. Ansätze eines spezifisch nabatäischen Schriftduktus lassen sich ab

303

etwa 100 v. Chr. beobachten. Es existierten nebeneinander ein formaler und — vornehmlich ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. — ein ausgeprägt kursiver Schrifttyp mit unterschiedlichen Mittel- und Endformen bei einer Reihe von Zeichen. Ausgehend von der nabatäischen Kursivschrift (und nicht etwa von der syrischen Kursivschrift [damit gegen Starcky 1964]) wurde ab dem 5./6. Jahrhundert n. Chr. die arabische Schrift entwickelt (→ Art. 22). 4.1.2. Die jüdische Schrift Während des achämenidischen Reiches war die aramäische Sprache und Schrift auch in Judäa weit verbreitet. Ausgehend von der reichsaramäischen Formalschrift entwickelten die Juden in der hellenistischen Zeit eine eigene jüdische Schrift, die ihrer Gestalt nach auch „Quadratschrift“, ihrer Herkunft nach als „assyrische Schrift“ bezeichnet wird. Die ältesten Zeugnisse dieser Schrift stellen die Schriftrollen von Qumran dar, deren älteste um 250 v. Chr. anzusetzen sind (→ Abb. 36.1 auf Tafel V). Die frühe jüdische Schriftperiode läßt sich nach Cross (1955) im einzelnen in drei Phasen unterteilen: a) Protojüdisch (250—150 v. Chr.), b) Hasmonäisch (150—30 v. Chr.) und c) Herodianisch (30 v.—70 n. Chr.). Die jüdische Schrift wurde (in ihrer formalen Ausprägung) auch nach Ende des judäischen Staatsgebildes weiter bewahrt und stellt heute die offizielle Schrift des Staates Israel dar. In der jüdischen Schrift existierten von Anfang an nebeneinander eine formale und eine kursive Tradition. In beiden Traditionen weisen fünf Zeichen (k, m , n, p, s) unterschiedliche Mittel- und Endformen auf. Während sich der formale Schriftduktus über die Jahrtausende hinweg kaum verändert hat, weist die Kursivschrift keine kontinuierliche Tradition auf: Es kam im Laufe der Zeit und an unterschiedlichen Orten vielmehr immer wieder zu neuen Ansätzen einer Kursivschrift. 4.2. Die östlichen Schriftzweige 4.2.1. Der palmyrenisch-syrische Zweig Der palmyrenisch-syrische Schriftzweig ist engstens verbunden mit zwei wichtigen antiken Zentren, der Handelsstadt Palmyra, einer Oase in der syrischen Wüste, sowie Edessa (dem heutigen U rfa in der Südtürkei, nahe der syrischen Grenze), dem alten Zentrum der syrischen Christen. Das antike Palmyra gehörte zum römischen Reich, das antike Edessa zum Partherreich. Palmyrenische In-

304

Abb. 20.5: Die jüngeren Ausformungen der aramäischen Schrift

III. Schriftgeschichte

20.  Die nordwestsemitischen Schriften

schriften stammen aus der Zeit zwischen 44 v. Chr. und ca. 272 n. Chr., dem Datum der Zerstörung Palmyras. Sie sind nicht nur in Palmyra selbst, sondern in beinahe allen Provinzen des römischen Reiches bezeugt. Die palmyrenische Schrift existierte in zwei Varianten, einer (gut bezeugten) Monumentalund einer (weniger gut bezeugten) Kursivschrift. Die frühesten syrischen Inschriften stammen aus den Jahren 6 v. Chr. und 73 n. Chr. (dazu Drijvers 1972). Die Blütezeit der syrischen Literatur begann im 3. und reichte bis ins 7. Jahrhundert n. Chr. Durch die arabische Eroberung im 8. Jahrhundert wurde das Syrische als Volkssprache erheblich zurückgedrängt. Eine Reihe von Dialekten hat sich aber in gewissen Gebieten bis heute gehalten. Infolge christologischer Streitigkeiten im 5. Jahrhundert kam es zu einer dauerhaften Trennung zwischen Westsyrern (Jakobiten) und Ostsyrern (Nestorianern), die eine je unterschiedliche Sprach- und Schriftentwicklung nach sich zog. Die bekanntesten syrischen Schriftarten sind: a) Esṭrangelo („runde Schrift“), eine altertümliche, betont formale Schrift, b) Serṭo („lineare Schrift“), eine ausgeprägte Kursivschrift, c) Nestorianisch, eine halbformale Schrift. Die palmyrenische und die syrische Schrift weisen markante Gemeinsamkeiten auf. Sie gehen wahrscheinlich auf eine gemeinsame Vorstufe zurück, die man in den sogenannten archaisch-palmyrenischen Inschriften von Dura Europos sowie in einigen anderen frühen Inschriften mit scheinbarer Mischung von palmyrenischen und syrischen Zeichenformen noch fassen kann (siehe Pirenne 1963, 101— 105 und Naveh 1982, 149). 4.2.2. Der nordmesopotamische Zweig Der nordmesopotamische Zweig ist hauptsächlich durch Inschriften aus der antiken Handelsstadt Hatra bezeugt, die aus der Zeit zwischen 97—8 und ca. 240 n. Chr. stammen. Inschriften eines vergleichbaren Schrifttyps wurden auch in Dura Europos, Assur, im Ṭur-‛Abdin-Gebiet (Sari und Hassan-Kef) und sogar in Armenien (Garni) und Georgien (Armazi) gefunden. Auch sie stammen aus dem 2. und frühen 3. Jahrhundert n. Chr. Der nordmesopotamische Schriftzweig starb bald nach der Zerstörung von Hatra durch die Sassaniden (Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr.) endgültig aus.

305

4.2.3. Der südmesopotamische Zweig Der südmesopotamische Schriftzweig ist im Gebiet des heutigen Khuzistan beheimatet, einer Provinz an der iraqisch-iranischen Grenze, nahe dem persischen Golf. Er wird repräsentiert durch elymäische Inschriften (2. Jh. n. Chr.), durch beschriftete Münzen der Könige von Characene (3. Jh. n. Chr.) und vor allem durch die reiche Schrifttradition der Mandäer (Inschriften ab 5./6. Jh. n. Chr.; Handschriften ab dem Mittelalter), einer gnostischen Sekte, die (in Resten) bis heute überlebt hat. Nach älterer Auffassung sind die Mandäer zu einem frühen Zeitpunkt von Palästina aus nach Khuzistan eingewandert und haben von dort eine von der nabatäischen Schrift abgeleitete Schrift mitgebracht, die dann von den dort ansässigen Elymäern übernommen worden wäre (so Macuch 1965, 146). Da jedoch die elymäische Schrift typologisch eindeutig älter ist als die mandäische (siehe Naveh 1982, 136), ist diese Auffassung nicht mehr zu halten. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß die mandäische Schrift ihrerseits auf der (älteren) elymäisch-characenischen Schrifttradition basiert.

5.

Zusammenfassung

Eine schematische Übersicht über die Entwicklungslinien der nordwestsemitischen Schriften bietet Abb. 20.6.

6.

Literatur

Albright, William F. 1966. The Proto-Sinaitic inscriptions and their decipherment. Cambridge (Mass.). Cantineau, Jean. 1930/32. Le Nabatéen, I—II. Paris. Cross, Frank M. 1955. The oldest manuscript from Qumran. Journal of Biblical literature 74, 147—172. —. 1980. Newly found inscriptions in Old Canaanite and early Phoenician script. Bulletin of the American schools of oriental research 238, 1—20. Dietrich, Manfried & Loretz, Oswald. 1988. Die Keilalphabete. Die phönizischkanaanäischen und altarabischen Alphabete in Ugarit. Münster. Drijvers, Hendrik J. W. 1972. Old Syriac (Edessean) inscriptions. Leiden. Driver, Godfrey R. 1976. Semitic writing from pictograph to alphabet. London [newly revised edition; edited by S. A. Hopkins]. Loundine, A. G. 1987. L’abécédaire de Beth Shemesh. Le Muséon 100, 243—250.

306

III. Schriftgeschichte

Abb. 20.6: Stammbaumdiagramm zur Verdeutlichung der wichtigsten Entwicklungslinien der nordwestsemitischen Schriften Macuch, Rudolf. 1965. Anfänge der Mandäer. In: Altheim, Franz & Stiehl, Ruth (ed.), Die Araber in der Alten Welt, II. Berlin, 76—190. Naveh, Joseph. 1973. Some Semitic epigraphical considerations on the antiquity of the Greek alphabet. American Journal of Antiquity 77, 1—8. —. 1982. Early history of the alphabet. An introduction to West Semitic epigraphy and palaeography. Jerusalem/Leiden. Pirenne, Jacqueline. 1963. Aux origines de la graphie syriaque. Syria 40, 101—137. Puech, Emile. 1986. Origine de l’alphabet. Documents en alphabet linéaire et cunéiforme du II e millénaire. Revue Biblique 93, 161—213.

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Josef Tropper, Berlin (Deutschland)

21.  Die altsüdarabische Schrift

21. 1. 2. 3. 4.

1.

307

Die altsüdarabische Schrift Die altsüdarabische Monumentalschrift Verbreitung, Entzifferung, Chronologie Minuskelschrift Literatur

frühen paläographischen Stufen zuzuordnenden Buchstabenformen die sich auch in alten

Die altsüdarabische Monumentalschrift

Die Schrift, in welcher die epigraphischen Denkmäler des antiken Südarabien abgefaßt wurden, wird herkömmlich als altsüdarabische Monumentalschrift bezeichnet. Das Altsüdarabische bildet einen eigenen Zweig des Südsemitischen und zerfällt seinerseits wiederum in vier Hauptsprachen, nämlich in das Sabäische, Minäische, Qatabanische und Hadramitische, die nach den vier wichtigsten Reichen des antiken Südarabien benannt wurden. Inschriftenträger sind vorwiegend gut zugehauene Steinplatten und Quadersteine verschiedener Größen, andere steinerne Objekte oder geglättete Felswände, aber auch Bronzetafeln, ikonographische Dokumente, wie Reliefs, Statuen, Statuetten und dergleichen, sowie Amulette, Siegel und Münzen. Ihrem Inhalt nach handelt es sich im wesentlichen um Votivschriften, welche bisweilen Berichte über Feldzüge oder andere Ereignisse enthalten, Bauinschriften, Bewässerungsregelungen, Grenzbestimmungen, Gesetzestexte, Verträge, U rkunden, Arbeitsprotokolle, Sühne-, Grab- und Gedenkinschriften. Die meisten der mittlerweile etwa zehntausend Nummern umfassenden Inschriften, von denen freilich sehr viele nur fragmentarisch auf uns gekommen sind, stammen von den Sabäern. Die Schriftzeichen der altsabäischen Periode, die wahrscheinlich im 8. Jahrhundert v. Chr. einsetzt, sind sorgfältig ausgeführte Buchstaben, deren Höhe zur Breite in genau festgelegten Proportionen steht. In der frühen Zeit weisen von den das konsonantische Phoneminventar des Altsüdarabischen wiedergebenden 29 Buchstaben 21 symmetrische Formen auf, von denen wiederum 11 doppelt symmetrisch sind (Abb. 21.1). Diese Monumentalschrift mit ihrem konstanten und an Architektur erinnernden Formentypus gehört mit zum Schönsten und Elegantesten, was in der semitischen Epigraphik hervorgebracht wurde. Ein besonderes Charakteristikum der altsabäischen Inschriften ist neben den den

Abb. 21.1: Die Buchstaben der altsüdarabischen Monumentalschrift in ihrer frühesten paläographischen Stufe (nach H. von Wissmann)

griechischen Sprachdenkmälern findende Boustrophedon-Schreibweise (Abb. 21.2), welche durch die bisweilen mehrere Meter messende Länge der einzelnen Schriftzeilen bedingt wurde; später hat sich die einheitliche linksläufige Schreibrichtung durchgesetzt. Ornamentale Schönheit zeigt sich auch in der etwa die Zeit vom 2. Jahrhundert v. Chr. bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. umfassenden mittelsabäischen Periode, als die Enden der Buchstaben verbreitert, gerade Linien eingebogen, Kreise zu Ellipsen gestreckt, spitze Winkel vorherrschend wurden und sich noch andere Veränderungen an den Schriftzeichen beobachten lassen, die ihnen eine weniger wuchtiger wirkende Gestalt verliehen. Vor allem durch die große Zahl der aus dem 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. erhaltenen, zum Teil langen Votivinschriften ist das Mittelsabäische die epigraphisch am besten bezeugte Periode. Die Buchstaben wurden in den geglätteten Stein eingemeißelt; in der späteren Zeit allerdings, als sich eine mehr barocke, zu Verzierungen neigende Schreibweise durchsetzte, wurden die Inschriften in versenkten Reliefbuchstaben aus dem Stein herausgehauen. Eine Besonderheit des Spätsabäischen ist die Vorliebe für Monogramme, d. h. das Zusammenfügen der einen Namen bildenden Buchstaben zu einer nach Möglichkeit symmetrischen Gruppierung, deren unterer Teil ein auf zwei senkrechten Schenkeln stehendes Schriftzeichen bildete, so daß der Eindruck eines von Säulen getragenen Gerüstes entstand.

III. Schriftgeschichte

308

Abb. 21.2: Ausschnitt aus der altsabäischen Boustrophedon-Inschrift RES 3945 des Königs Karib’il Watar aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. (Photo Deutsches Archäologisches Institut)

Diese spätsabäische Periode umfaßt die Zeit vom 4. bis zum 6. Jahrhundert, als das geeinte sabäo-himjarische Reich seine größte Ausdehnung erreichte und mithin auch die epigraphischen Denkmäler sich bis weit nach Zentralarabien hinein erstreckten. Die Entwicklung der altsüdarabischen Monumentalschrift, deren früheste und späteste sabäische Inschriften weit über ein Jahrtausend auseinanderliegen, ermöglicht es immerhin, die Texte innerhalb der einzelnen Perioden in ihren paläographischen Stufen ungefähr zeitlich einzuordnen, auch wenn in den Inschriften kein Herrscher genannt wird oder in der späteren Zeit keine Datierung nach der himjarischen Ära angegeben ist.

2.

Verbreitung, Entzifferung, Chronologie

Die altsüdarabische Schrift ist nicht nur im Jemen und in kolonialen Niederlassungen der Südaraber verwendet worden, wie etwa in der nordwestarabischen Oase von Dedan, dem heutigen al-‛U lā, an der alten Weihrauchstraße, woher zahlreiche als nordminäisch klassifizierte Inschriften stammen. Für den frühnordarabischen Dialekt des Qahtanischen, der durch Texte aus dem zentralarabischen Qaryat al-Faw, der Hauptstadt des vorislamischen Kindareiches bezeugt ist, wurde sie ebenfalls benutzt, desgleichen mit einigen wenigen paläographischen Eigentüm-

21.  Die altsüdarabische Schrift

lichkeiten für die hasaitischen Grabinschriften aus der nordostarabischen Region am Persischen Golf. Auch in Oman sind bei Ausgrabungen Gefäße mit altsüdarabischen Schriftzeichen und Monogrammen zum Vorschein gekommen. Schließlich sind einige Alphabete, in denen auf der Arabischen Halbinsel Inschriften geschrieben und Tausende von Graffiti in Stein eingeritzt wurden, entweder aus der altsüdarabischen Schrift oder aus einer früheren Stufe dieses Alphabets abgeleitet. Es sind dies das einen großen Formenreichtum aufweisende Thamudische im westlichen und zentralen Nordarabien bis in den südlichen Hidschaz, das Lihjanische und Dedanische in der gleichnamigen Oase, das die offenkundigsten Gemeinsamkeiten mit der altsüdarabischen Schrift erkennen läßt, und schließlich als nördlichster Ausläufer das Safaitische im Ostjordanland und in den angrenzenden Wüstenzonen Arabiens. Die im heutigen Nordostäthiopien gefundenen äthiosabäischen Inschriften der voraksumitischen Periode legen Zeugnis davon ab, daß seit der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends Abessinien den Einflüssen des an der gegenüberliegenden Küste des Roten Meeres angrenzenden Saba ausgesetzt war. So ist auch die in Äthiopien bis zum heutigen Tag für die dortigen semitischen Literatursprachen verwendete Schrift ein Abkömmling des sabäischen Alphabets (→ Art. 23). Die an den meisten Buchstaben sich noch zeigende offenkundige Verwandtschaft hatte schließlich entscheidend dazu beigetragen, daß, nachdem die ersten sabäischen Inschriften in Europa bekanntgeworden waren, ihre Schrift durch die Bemühungen zweier Professoren aus Halle, nämlich des Hebraisten Wilhelm Gesenius und seines Schülers Emil Rödiger, 1841 und 1842, von wenigen U nsicherheiten und falschen Zuordnungen abgesehen, im wesentlichen richtig entziffert werden konnte. Auch die in jemenitisch-arabischen Handschriften überlieferten Zeichen der altsüdarabischen Schrift mit ihren arabischen Entsprechungen konnten trotz mancher Entstellungen durch Kopisten noch einige hilfreiche Fingerzeige geben. Der in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts schreibende jemenitische Gelehrte al-Hamdānī bringt im achten Band seines Werkes AlIklīl ein Kapitel über die Musnad-Schrift mit Bemerkungen und Beobachtungen zur (Ortho)graphie, aus denen man schließen kann, daß er die Inschriften noch zu lesen, wenn auch weitgehend nicht mehr zu verstehen vermochte. Der Terminus Musnad wird in der

309

frühen arabisch-islamischen Überlieferung als Bezeichnung für die vorislamische südarabische Schrift verwendet. Im Altsüdarabischen findet sich das Nomen mśnd in der Bedeutung von einer im Tempel aufgestellten, meist auf einer Bronzetafel angebrachten Widmungsinschrift, später auch von einer Felsinschrift. Das Wort mśnd, Musnad, hat M. Lidzbarski auf die Form der Charaktere mit ihren Säulen und Stützen zurückführen und nach dem arabischen Verb sanada „stützen“ als „Stützung, Stützenwerk, Stützschrift“ erklären wollen. Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatten Gelehrte die von ihnen für die frühest gehaltenen altsüdarabischen Inschriften bis in das 13. Jahrhundert v. Chr. zurückdatiert und somit für das antike Südarabien eine „lange Chronologie“ kreiert. Man muß ihnen freilich zugute halten, daß sie sich oft nur auf zum Teil mangelhafte Kopien epigraphischer Denkmäler stützen konnten und daß damals schriftgeschichtliche Erwägungen kaum eine Rolle spielten. In das andere Extrem verfiel Jacqueline Pirenne, die in den fünfziger Jahren den verdienstvollen Versuch unternahm, die altsüdarabischen Inschriften in paläographische Perioden zu gruppieren und dabei im Rahmen ihrer U ntersuchungen eine „kurze Chronologie“ aufstellte, nach welcher die frühesten monumentalen sabäischen Schriftdenkmäler vom klassischen griechischen Schrifttyp beeinflußt worden seien und somit nicht vor dem 5. Jahrhundert v. Chr. entstanden sein könnten. Diese kaum überzeugende Ansicht hat sich jedoch mittlerweile als unhaltbar erwiesen. Durch einige Funde in Südarabien, aber auch in Nordarabien und Nordostäthiopien, weiß man inzwischen, daß das südsemitische Alphabet eine vom nordsemitischen verschiedene Buchstabenanordnung hatte. Während das nördliche Alphabet die ’BGD-Reihenfolge der Schriftzeichen hat (z. B. im Hebräischen, griechisch Alphabet, arabisch Abǧad noch bei der Verwendung der Zahlzeichen als Buchstaben, unser ABC), beginnt das südliche mit der Reihenfolge HLHM (woraus vielleicht das bisher unerklärte lateinische elementa „Buchstaben, Alphabet“ abzuleiten ist). Diese Buchstabenanordnung HLHM findet sich auch auf einer, in einer spätbronzezeitlichen Schicht des 14./13. Jahrhunderts im biblischen Beth Schemesch, westlich von Jerusalem entdeckten keilalphabetischen Tontafel (KTBŠ 5.1). Der Fund von Beth Schemesch zeigt, daß die Reihenfolge der Schriftzeichen des südsemitischen Alphabets bereits

III. Schriftgeschichte

310

zur damaligen Zeit im syrisch-palästinischen Raum bekannt war (→ Art. 20). Der südliche Zweig der semitischen Schrift hat sich etwa im 13./12. Jahrhundert von der sogenannten protokanaanäischen Schrift abgespalten und dürfte nicht viel später auf die Arabische Halbinsel gelangt sein. Dadurch wird die These ausgeschlossen, daß wie das griechische Alphabet auch die südsemitischen Schriften erst aus dem phönizischen Alphabet entstanden seien, was graphisch kaum zu erklären ist, oder daß gar die altsüdarabische Monumentalschrift von der griechischen Schrift beeinflußt worden sei. Die südsemitischen Schriften sind vielmehr aus einer der frühen Stufen der protokanaanäischen Schrift abzuleiten, was an einigen Buchstabenformen noch deutlich zu erkennen ist; das Alphabet, aus dem die südsemitischen Schriften entstanden sind, dürfte jedenfalls dem der protosinaitischen Inschriften sehr ähnlich gewesen sein. Es herrscht heute weitgehend Übereinstimmung darüber, daß trotz des Mangels an Querverbindungen zu datierbaren Ereignissen außerhalb Südarabiens die frühesten altsüdarabischen Schriftdenkmäler in Monumentalschrift, die somit bereits eine schriftgeschichtliche Entwicklung durchlaufen hatte, im 8. Jahrhundert v. Chr. einsetzen. Dieser chronologische Ansatz wird inzwischen auch durch C 14-Analysen epigraphischer Funde in einer frühen sabäischen Siedlung im östlichen Khaulān bestätigt.

3.

Minuskelschrift

Im Jahre 1972 wurden aus dem Jemen zwei mit jeweils 14 Zeilen beschriebene Holzstäbchen bekannt (Abb. 21.3), deren Schrift mit keiner der bisher aus dem Vorderen Orient bekannten Schriften in Verbindung gebracht werden konnte. Bei dem Bemühen, die einzelnen Schriftzeichen zu isolieren, fand Mahmud al-Ghul, daß die Texte etwa dreißig verschiedene Buchstaben enthielten, was schließlich das Ergebnis erbrachte, daß hier zum ersten Mal altsüdarabische Texte in einer bislang unbekannten Schreibschrift vorlagen. Die Berücksichtigung der Häufigkeit der Grapheme sowie die unverkennbare Ähnlichkeit mancher Buchstaben mit denen der Monumentalschrift führte schließlich zu einer Entzifferung, die nicht zuletzt dadurch erleichtert wurde, daß auch bei dieser Schrift die einzelnen Wörter durch einen senkrechten Strich voneinander getrennt sind. Es stellte sich heraus, daß es sich bei den beschrifteten Stäb-

chen um zwei Briefe handelt, womit zum ersten Mal aus dem antiken Südarabien jene bis dahin unbezeugte literarische Gattung mit dem im Alten Orient üblichen Briefformular belegt ist. Seit den achtziger Jahren kamen im Jemen zahlreiche weitere beschriebene Holzstäbchen zum Vorschein, so daß die U ntersuchungen dieser neugefundenen Schriftdokumente auf eine breitere Basis gestellt werden konnten. J. Ryckmans (1986) hat vorgeschlagen, die neuentdeckte Schrift als Minuskelschrift zu bezeichnen und nicht als Kursivschrift, da dieser Terminus gelegentlich schon für Graffiti aus der späteren sabäischen Zeit verwendet wurde, deren Duktus noch deutlich an die Monumentalbuchstaben erinnert. Diese Minuskelschrift wurde mit spitzen Schreibgriffeln in das noch frische und weiche Holz oder in Palmblattrippen eingraviert. Bedingt durch die starke, zum Verwechseln führende Ähnlichkeit mancher Buchstaben untereinander, durch individuelle Schreibgewohnheiten und nicht zuletzt durch den mitunter schlechten Erhaltungszustand der Hölzer und der eingravierten Schrift ist es oft schwierig, auf Grund einer gesicherten Lesung einen einigermaßen zuverlässigen Text herzustellen. Das Verständnis der neugefundenen Schriftdokumente wird zusätzlich erschwert durch darin vorkommende bisher unbekannte Wörter und noch nicht belegte Wortformen sowie durch den Stil bislang unbezeugter Textgattungen. In den Inschriften mehrfach bezeugte Eponymatsdatierungen erlauben es, den Großteil der neuen Dokumente, die vorwiegend aus der antiken Stadt Našān, der heutigen Ruinenstätte as-Saudā’ im jemenitischen Dschauf stammen, ungefähr in die Zeit zwischen dem 1. Jahrhundert v. Chr. und dem 3. Jahrhundert n. Chr. zu datieren; auch aus den Texten gewonnene Kriterien bestätigen, daß sie ihrer Sprache nach der mittelsabäischen Periode zuzuordnen sind. Die Minuskelschrift ist jedenfalls zeitlich erheblich später als die ältere Monumentalschrift anzusetzen, aus welcher sie sich als Schreibschrift erst entwikkelt hat. Dies ist an einigen beschrifteten Stäbchen, die wohl als die frühesten gelten dürfen, noch klar erkennbar. Soweit es der bisher gewonnene Überblick gestattet, handelt es sich bei dem neuentdeckten epigraphischen Material um persönliche Korrespondenz oder sonstige, durch Boten überbrachte Mitteilungen sowie um Personenverzeichnisse, in der Mehrzahl jedoch um Texte, die man unter die Bezeichnung Dokumente zum Rechts- und Wirtschaftsleben zusammenfas-

21.  Die altsüdarabische Schrift

311

Abb. 21.3: Nachzeichnung eines 14-zeiligen Briefes in sabäischer Minuskelschrift auf einem Holzstäbchen (nach J. Ryckmans)

sen kann, wie sie uns von Papyri aus Ägypten und von Tontafeln aus dem übrigen Alten Orient bekannt sind. In den erhaltenen Werken des jemenitischen Gelehrten al-Hamdānī begegnet einige Male ein Verbum zabara und davon abgeleitete Formen in der Bedeutung „schreiben“ sowie ein Nomen zabūr mit dem Plural zubur „Schrift, Geschriebenes“, die immer im Zusammenhang mit den Himjaren der vorislamischen Zeit verwendet werden. So wird z. B. berichtet, daß in den Schatzkammern der Himjaren Dokumente aufbewahrt wurden, aus denen man sich über ihre Genealogien informieren konnte, daß Schriftstücke in U rkundenbehältern gefunden wurden, daß die Inschrift eines Grabsteins auf einen Palmzweig geschrieben wurde, oder es ist von Männern die Rede, die neben den antiken Musnad-Inschriften auch die Zabūr-Schrift der Himjaren lesen konnten. Zu den aus den beschrifteten Stäbchen gewonnenen neuen, bisher nicht bezeugten sabäischen Wörtern gehört auch das Verbum zbr, mit dem gelegentlich am Ende einer Vertragsurkunde der namentlich genannte Schreiber durch seine U nterschrift bekundet, daß er dies geschrieben hat. Damit kann

als erwiesen gelten, daß mit der in arabischen Werken aus dem Jemen erwähnten Zabūr-Schrift die neuentdeckte altsüdarabische Schreibschrift gemeint ist. Wenn vereinzelt ein altarabischer Dichter, wie etwa Imra’alqais in seinem Diwan, schreibt, daß ihm die verwehten Spuren eines verlassenen Lagerplatzes, auf die er beim Ritt durch die Wüste stieß, an Striche der jemenitischen Zabūr-Schrift auf einem Palmstengel erinnern, so darf man auch dabei einen Vergleich mit der von uns Minuskelschrift genannten sabäischen Schrift sehen, mit welcher in der Antike auf Holzstäbchen geschrieben wurde.

4.

Literatur

Beeston, Alfred F. L. 1989. Mahmoud ‛Ali Ghul and the Sabaean Cursive Script. In: Arabian Studies in Honour of Mahmoud Ghul. Symposium at Yarmouk U niversity December 8—11, 1984 (Yarmouk U niversity Publications. Institute of Archaeology and Anthropology Series Vol. 2) Wiesbaden 15—19. Gesenius, Wilhelm. 1841. Himjaritische Sprache und Schrift, und Entzifferung der letzteren. Allge-

III. Schriftgeschichte

312

meine Literatur-Zeitung. Nr. 123—126. Halle und Leipzig, 369—399. Irvine, Arthur K. & Beeston, Alfred F. L. 1988. New evidence on the Qatabanian letter order. Proceedings of the Seminar for Arabian Studies 18, 35—38. Knauf, Ernst Axel. 1989. The Migration of the Script, and the Formation of the State in South Arabia. Proceedings of the Seminar for Arabian Studies 19, 79—91. Lidzbarski, Mark. 1902. Der U rsprung der nordund südsemitischen Schrift. In: Ephemeris für semitische Epigraphik. Erster Band. Giessen, 109—136. Loundine, Abram G. 1987. L’abécédaire de Beth Shemesh. Le Muséon 100, 243—250. Macdonald, Michael C. A. 1986. ABCs and letter order in Ancient North Arabian. Proceedings of the Seminar for Arabian Studies 16, 101—168. Pirenne, Jacqueline. 1956. Paléographie des inscriptions sud-arabes. Contribution à la chronologie et à l’histoire de l’Arabie du Sud antique. Tome I. Des origines jusqu’à l’époque himyarite (Verhandelingen van de Koninklijke Vlaamse Academie voor Wetenschappen, Letteren en Schone Kunsten van België, Klasse der Letteren, Nr. 26). Brussel. Rödiger, Emil. 1842. Excurs über die von Lieut. Wellsted bekannt gemachten himjaritischen In-

schriften. In: J. R. Wellsted’s Reisen in Arabien. Deutsche Bearbeitung. Zweiter Band. Halle, 352—411. Ryckmans, Jacques. 1985. L’ordre alphabetique sud-sémitique et ses origines. In: Mélanges linguistiques offerts à Maxime Rodinson par ses élèves, ses collègues et ses amis. Édités par Christian Robin (Comptes rendus du Groupe Linguistique d’études chamito-sémitiques. Supplément 12). Paris. —. 1986. U ne écriture minuscule sud-arabe antique récemment découverte. In: Scripta signa vocis. Studies about Scripts, Scriptures and Languages in the Near East presented to J. H. Hospers, by his pupils, colleagues and friends. Ed. by H. L. J. Vanstiphout u. a. Groningen, 185—199. —. 1988. Données nouvelles sur l’histoire ancienne de l’alphabet. Bulletin des Séances de l’Académie royale des Sciences d’Outre-Mer 34, 219—231. —, Müller, Walter W. & Abdallah, Yusuf M. 1994. Textes du Yémen de l’Institut Orientaliste de Louvain, 43). Louvain-la-Neuve. Wissmann, Hermann von. 1982. Die Geschichte von Saba’ II. Das Großreich der Sabäer bis zu seinem Ende im frühen 4. Jahrhundert v. Chr. Hrsg. von Walter W. Müller (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte, 402. Band). Wien.

Walter W. Müller, Marburg (Deutschland)

22. Die arabische Schrift 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

1.

Allgemeines Herkunft der arabischen Schrift Die arabische Schrift in frühislamischer Zeit Der Kūfī-Duktus Der Nasḫī-Duktus Die diakritischen Zeichen Die orthographischen Hilfszeichen Literatur

Allgemeines

Der Schrift kommt im Islam als Trägerin der göttlichen Offenbarung zentrale Bedeutung zu. Die arabische Schrift, in der der Koran aufgezeichnet wurde, wurde bald zum geheiligten Symbol des Islam. Mit seiner Ausbreitung wurde die arabische Schrift auch zur Schreibung anderer Sprachen wie Persisch, U rdu, der Berbersprachen, Malaisch, Hausa, Swahili und Türkisch (bis zu den türkischen Schriftreformen der 20er Jahre) übernommen.

Ihr Verbreitungsgebiet erstreckte sich von Zentralasien bis Zentralafrika und vom Fernen Osten bis an den Atlantik. Auch heute noch gehört die arabische Schrift zu den am weitesten verbreiteten Schriften der Erde. Die arabische Schrift ist eine linksläufige Alphabetschrift mit einem Grundbestand von 18 Graphen. 13 Graphe sind durch jeweils ein, zwei oder drei diakritische Zeichen (vgl. 5.) differenziert, so daß die 28 konsonantischen Phoneme des Arabischen durch je ein Schriftzeichen repräsentiert sind. Die Zeichen 〈’〉, 〈y〉 und 〈w〉 sind mehrdeutig. 〈y〉 und 〈w〉 korrespondieren mit den entsprechenden konsonantischen Phonemen; ferner sind 〈’〉, 〈y〉 und 〈w〉 Repräsentanten der Langvokale ā, ī, ū und des Glottisverschlußlauts /’/ (hamza) . Die Kurzvokale a, i, u, die Vokallosigkeit und die Verdopplung eines Konsonanten werden nicht im Schriftzug ausgedrückt (außer bei hamza vor Langvokalen, dann dient ein Kurzvokal als „ hamza -Trä-

22.  Die arabische Schrift

ger“), können jedoch durch orthographische Hilfszeichen (vgl. 6.) bezeichnet werden. Das arabische Schriftsystem wurde zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert entwickelt, danach blieb es im wesentlichen unverändert. Kalligraphisch wurden verschiedene Schrifttypen ausgebildet, von denen Kūfī (vgl. 3.) und Nasḫī (vgl. 4.) die wichtigsten sind. Die Tabelle zeigt die isolierten Formen der Grapheme:

313

(bei Akaba), die Grohmann (1971, 15) auf die

Abb. 22.1: Vorislamische Inschriften von Harrān (568 n. Chr.) und Umm iǧ-Ǧimāl II (6. Jh. n. Chr.) (aus Grohmann 1971)

2.

Herkunft der arabischen Schrift

Nach dem Fall des persischen Reiches (330 v. Chr.) zerfiel die einheitlich normierte Schrift des Reichsaramäischen in verschiedene lokale Varianten. Im nabatäischen Königreich von Petra (169 v.—106 n. Chr.) im südlichen Syrien und nördlichen Arabien bedienten sich die Araber des Nabatäisch-Aramäischen als Schriftsprache. Diese blieb auch nach der Eroberung durch die Römer noch bis ins 4. Jahrhundert n. Chr. in Gebrauch. Aus ihrer jüngeren kursiven Form, die durch häufigere Buchstabenverbindungen und unterschiedliche Final- und Initialformen einzelner Buchstaben gekennzeichnet ist, entwikkelte sich später die arabische Schrift. Da Zeugnisse aus vorislamischer Zeit spärlich sind, kann die Entwicklung von der nabatäischen zur arabischen Schrift nur bruchstückhaft nachgezeichnet werden. Als späteste nabatäische Zeugnisse gelten die Inschrift von an-Namāra (bei Damaskus) aus dem Jahr 328 n. Chr., Papyri in Kursivschrift aus Engeddi und drei arabische Graffiti aus der Phase des Übergangs von der nabatäischen zur vorislamisch arabischen Schrift vom Ǧabal Ramm

Zeit 328—350 n. Chr. datiert. Erst zwei Jahrhunderte später findet sich in der griechischsyrisch-arabischen Trilinguis von Zebed (bei Aleppo) die erste arabische Inschrift, die auf 512 n. Chr. datiert ist. Weitere Zeugnisse der arabischen Schrift in vorislamischer Zeit sind die Inschrift vom Ǧabal U says (bei Damaskus) des Jahres 528 n. Chr., die Bilinguis von Harrān (568 n. Chr.) und eine undatierte Inschrift des 6. Jahrhunderts aus U mm al-Ǧimāl (bei Bosra) (Abb. 22.1). Der graphische Charakter dieser Schriftzeugnisse ist nicht einheitlich, letztere Inschrift zeigt gegenüber den vier übrigen ein runderes Schriftbild. Trotzdem ist der enge Zusammenhang zwischen beiden Schrifttypen aus einigen Buchstabenformen ersichtlich, so daß die U nterschiede nicht getrennten Schriftformen zugerechnet werden können, aus denen sich eventuell sogar die Schriftstile islamischer Zeit ableiten ließen. Alle erhaltenen Inschriften stammen aus dem südlichen Syrien, wo sich die arabische Schrift in dem Zeitraum zwischen 328 und 512 n. Chr. ausgebildet haben muß, ohne daß Zeugnisse überliefert sind. Deshalb muß der Weg der nabatäisch-arabischen Schrift in den Ḥiǧāz nach Mekka offen bleiben. Wahrscheinlich breitete sich die Kenntnis der arabischen Schrift auf den Handelsstraßen nach Südarabien in Mekka und Yaṯrib (heute Medina) aus, wo sie ab ca. 610 n. Chr. zur Aufzeichnung der islamischen Offenbarung verwendet wurde. Gleichzeitig wurde die arabische Schrift auch in Al-Anbār und al-Ḥīra im Irak bekannt und dort von christlichen

III. Schriftgeschichte

314

Arabern gepflegt. Die in der muslimischen Tradition vertretene Auffassung, die arabische Schrift habe sich dort aus dem syrischen, nicht dem nabatäischen Zweig der aramäischen Schrift entwickelt, ist nicht haltbar. Dagegen sprechen die finalen Varianten von 〈q〉, 〈1〉, 〈n〉 und die nur der nabatäischen und arabischen Schrift gemeinsame Ligatur 〈l’〉. Im Zuge fortschreitender Buchstabenverbindungen sind die Graphe 〈g〉, 〈ḥ〉 und 〈ḫ〉 sowie 〈b〉 mit 〈t〉 und 〈r〉 mit 〈z〉 zusammengefallen. In Initital- und Medialstellung haben 〈b〉, 〈t〉, 〈n〉 und 〈y〉 sowie 〈f〉 und 〈q〉 dieselbe Form erhalten. Außerdem ist das aramäische 〈s〉 (semkat) fortgefallen, die entsprechenden arabischen Wörter werden mit 〈s〉 (sīn) geschrieben. Das Inventar von 22 Graphemen der aramäischen Schrift ist auf 18 der frühen arabischen Schrift reduziert; damit liegen die Basisgrapheme der arabischen Schrift vollständig vor. In der Folgezeit werden sie kalligraphisch weiterentwickelt und durch diakritische Zeichen differenziert, aber nicht mehr grundlegend verändert.

3.

Die arabische Schrift in frühislamischer Zeit

Da die Fragmente der ältesten Korancodices nicht datiert sind, können nur wenige Papyri, Münzen und Inschriften, die ab 642/22 datiert sind, Anhaltspunkte über die Entwicklung der arabischen Schrift im 7./1. Jahrhundert bis zur Arabisierung des Münz- und Kanzleiwesens unter Abdalmalik 697/78 geben. Die beiden ersten erhaltenen Papyri stammen aus dem Jahr 642/22, weitere aus den Jahren 645/ 25, 650/30, 677/57 und den folgenden Jahrzehnten. Sie belegen die älteste Entwicklung der Kursivschrift, die auf der Basis des überlieferten Grapheminventars noch recht uneinheitliche und unausgeglichene Formen zeigt. Aber schon in der zweiten Hälfte des 7./ 1. Jahrhunderts zeigen sich differenzierte Schriftstile für Protokolle und U rkunden. Die der ersteren ist größer und schwerer, jene der U rkunden feiner und kursiver. Bereits die

aus der Kanzlei des ägyptischen Statthalters Qurra ibn Šarīk der Jahre 708—714/90—96 erhaltenen Schriftstücke weisen reife, elegant gestaltete Vorformen zu den späteren Schriftstilen auf, wie sie in den folgenden Jahrhunderten von islamischen Gelehrten registriert und beschrieben wurden. Die Länge und Neigung der vertikalen Grundstriche in 〈’〉, 〈l〉, 〈ṭ〉, die Horizontalen in 〈d〉, 〈t〉, 〈k〉, die Schleifen in 〈ṣ〉, 〈ṭ〉 und die finalen Bögen in 〈r〉, 〈k〉, 〈n〉, 〈y〉 werden stärker aufeinander abgestimmt. Ziel der Schriftentwicklung ist die Balance zwischen den Linien, innerhalb der Linie und innerhalb eines Wortes. — Die arabischen Legenden auf Münzen sowie einigen Glasgewichten und Eichungsstempeln ab 640/20 sind zunächst recht knapp gehalten, gewähren jedoch aufgrund ihrer verschiedenartigen graphischen Ausführungen Einblicke in die Variationsbreite der frühen Schrift des 7./1. Jahrhunderts (Abb. 22.2). — Aus dem Jahr 643/22 stammen auch die ersten Belege der Lapidarschrift, deren 45 frühe Belege Grohmann (1971, 71 ff) eingehend untersucht hat. Dazu gehören eine Grabstele aus Ägypten von 652/31, eine Bauinschrift am Damm bei aṭ-Ṭā’if von 677/58, eine Inschrift im Wadi l-Abyaḍ von 684/64 und die Bauinschrift Abdalmaliks als Mosaikschriftband in der Kuppel des Felsendoms von 691/72. Die zugrundeliegende Kursive ist in den monumentalen Formen der Lapidarschrift stark stilisiert; die geometrischen Grundformen, die Horizontalen und die Vertikalen werden betont. Einzelne Zeichen, die durch Schreibwinkel und Größenverhältnisse voneinander unterschieden waren, verlieren dadurch ihre spezifischen Differenzen, so daß z. B. 〈ṣ〉/〈ḍ〉 von 〈ṭ〉/〈ẓ〉 und finales 〈d〉 von 〈k〉 kaum noch zu unterscheiden sind.

4.

Der Kūfī-Duktus

In einem aus der Lapidarschrift abgeleiteten Duktus begann man gegen Ende des 7./1. Jahrhunderts Korancodices zu verfassen. Ibn

Abb. 22.2: Siegel und Münzen aus der Umayyadenzeit (aus Grohmann 1971)

22.  Die arabische Schrift

an-Nadīm (gest. 990/380) hat eine Beschreibung der frühen Schrifttypen gegeben, die sich in zwei Gruppen gliedern. Der „mekkanisch-medinensische“ Typ ist durch die Rechtskrümmung des 〈’〉, die hohen Vertikalstriche von 〈’〉, 〈l〉, 〈ṭ〉, 〈k〉 und eine leichte Rechtsneigung gekennzeichnet. Einige frühe Koranfragmente weisen diesen Schriftstil auf, der auch im administrativen und kommerziellen Bereich Anwendung fand. Sehr bald setzte sich jedoch ein gedrungener, die geometrischen Formelemente und die Horizontale stark betonender Duktus durch, der als der Stil von Kūfa bekannt wurde, so daß Kūfī die hieratische Schrift schlechthin wurde. Später wurde Kūfī zur allgemeinen Bezeichnung aller geometrisch gestalteten Monumentalformen der älteren Schrift. — Die Korane der ersten Jahrhunderte sind aufgrund des gleichbleibend stereotypen Charakters der Schrift kaum zu datieren. Erst im 9./ 3. Jahrhundert ermöglicht eine freiere kalligraphische Gestaltung der Schrift eine chronologische Zuordnung. U nter den verschiedenen Dynastien prägen sich unterschiedliche Stilformen aus, z. B. das maghrebinische Kūfī und das Kūfī der Aghlabiden oder Ghaznawiden. Bisher fehlt jedoch eine umfassende Beschreibung und Analyse der unterschiedlichen Ausprägungen. Die allgemeine Entwicklung verläuft dahingehend, daß der U nausgeglichenheit des Schriftbildes durch die langen Hasten entgegengewirkt wird, indem zunächst die Hastenköpfe von 〈’〉, 〈l〉, 〈ṭ〉, 〈k〉 durch Palmetten verziert werden. Später breiten sich zwei- bis dreimal geteilte Blätter, die aus den Buchstaben sprießen, immer weiter aus. Im 10./4. Jahrhundert läßt sich der Übergang vom Blattkūfī über lilienförmige Dreiblattverzierung zum Blumenkūfī beobachten, bei dem der gesamte Schriftraum durch florale Ranken oder Arabesken gefüllt wird. Bis zum Ende des 13./7. Jahrhunderts entwickelt sich das Kūfī zu immer komplizierteren blätter- und blütenreichen, verknoteten Formen. Das Schriftbild wird zum Teil in zoomorphe und anthropomorphe Gestalt gefaßt. Es zeigt sich ein immer stärkeres Bestreben, die Schrift ihrer eigentlichen Bestimmung zu entziehen und rein dekorativ einzusetzen. Schließlich werden völlig sinnlose Inschriften in Flechtband-Kūfī auf Denkmälern angebracht oder kurze Wortteile als sich ständig wiederholendes Ornament verwendet. Solche Ornamentformen werden dann auch auf europäischen kunstgewerblichen Gegenständen der Zeit nachgeahmt (→ Art. 39).

315

5.

Der Nasḫī-Duktus

Der Nasḫī-Duktus ist die kalligraphische Ausbildung der Kursivschrift, wie sie sich ab 78/697 unter Abdalmalik als Kanzleischrift entwickelte. Durch die Kenntnis der Papierherstellung im 9./3. Jahrhundert, das den faserigen und rauhen Papyrus ersetzte, wurde die Verfeinerung der Kursive vorangetrieben. Korankopien werden nun immer häufiger im Nasḫī-Duktus geschrieben. Auf Münzen hat sich das Nasḫī im Osten bereits zum Ende des 9./3. Jahrhunderts durchgesetzt. Im 11./5. Jahrhundert beginnt es auch in der Epigraphik das Kūfī zu verdrängen. Besonders schöne Beispiele dieses Nasḫī begegnen in einer 1706 erbauten Seminar-Moschee in Isfahan und auf den Keramikfliesen der Türbe Šah-Zadas in Istanbul aus der ersten Hälfte des 16./10. Jahrhunderts. Im Laufe der Entwicklung wurde das Nasḫī ebenfalls durch florale Ranken verziert, verschiedene Stilrichtungen prägten sich aus. Neben dem Nasḫī waren über 20 verschiedene Kursivstile entwickelt worden, für deren Buchstabenproportionierung Ibn Muqla (gest. 939/328) ein Punktsystem einführte. Dieses System wurde von Ibn al-Bawwāb (gest. 1032/423) verfeinert. Von ihm sind einige Blätter, darunter ein Dubliner Koran in sehr eleganter Schrift mit weit ausschwingenden Endbögen erhalten. Der Schule Ibn al-Bawwābs entstammt der berühmteste Kalligraph der islamischen Welt, Yāqūt al-Musta‛ṣimī (gest. 1298/698). Bis heute ist Nasḫī die normale Buchschrift geblieben (→ Art. 39).

6.

Die diakritischen Zeichen

Die im Nabatäischen nicht vorhandenen konsonantischen Phoneme des Arabischen waren auch im ältesten, aus der nabatäischen Schrift entwickelten Grapheminventar nicht repräsentiert. So blieben die Phoneme /ḏ/, /ṯ/, /ḍ/, /ẓ/, /ġ/ und /ḫ/ bzw. die Opposition /ḥ/:/ḫ/ sowie die Opposition /s/:/š/ unausgedrückt. Im Laufe der Schriftentwicklung hatten einige Grapheme dieselbe Form erhalten, z. B. 〈b〉—〈t〉, 〈ǧ〉—〈ḥ〉. Diese Homographen mußten deshalb schon früh durch diakritische Zeichen differenziert werden. In den frühislamischen Papyri und Bauinschriften finden sich zum Teil Diakritika, die eventuell von der syrischen Schrift angeregt waren. U nter dem Kalifat Abdalmaliks wurden diese unterschiedlichen Zeichen zu einem bis heute gebräuchlichen System erweitert, so daß die 28

III. Schriftgeschichte

316

konsonantischen Phoneme des Arabischen durch 28 Grapheme repräsentiert sind. Zunächst variierte die Markierung noch hinsichtlich der Form; sie erfolgte durch Striche oder Punkte, und die aus zwei oder drei Elementen bestehenden Marken waren unterschiedlich angeordnet. Für die graphemische Opposition 〈f〉 : 〈q〉 wurde zunächst 〈q〉 durch einen Punkt infra oder supra bezeichnet, seit dem 6./2. Jahrhundert und im Maghreb bis in jüngste Zeit wurden beide durch je einen Punkt supra 〈q〉 bzw. infra 〈f〉 differenziert, während sich im Osten in der Kursive des 9./3. Jahrhunderts die bis heute übliche Markierung mit einem Punkt supra 〈f〉, zwei Punkte supra 〈q〉 durchsetzte. In der NasḫīKursive mußte finales 〈k〉 von 〈1〉 durch ein kleines, beigesetztes 〈k〉 unterschieden werden. Seit dem Ende des 8./2. Jahrhunderts wurde die mit 〈h〉 geschriebene Feminin-Singular-Endung -ah mit zwei von 〈t〉 entliehenen Punkten versehen. Die Schreibung mit 〈h〉 spiegelt die Pausalform -ah wider, während die Kontextform at-un lautet. Im Bereich der religiös-juristischen Wissenschaften werden seit dem 9./3. Jahrhundert, in der Lapidarschrift erst seit dem 12./6. Jahrhundert, die normalerweise unpunktierten Grapheme durch zusätzliche Zeichen, z. B. das Beisetzen einer Miniaturform desselben Buchstabens, markiert. Dagegen sind Papyri und Handschriften aus dem nicht-religiösen Bereich nur teilweise mit diakritischen Zeichen versehen. Mit der Übernahme der arabischen Schrift auch zur Schreibung anderer Sprachen wurden zur Bezeichnung der dem Arabischen fremden Phoneme weitere diakritische Zeichen entwickelt.

7.

Die orthographischen Hilfszeichen

Weder in den Vorläufern noch im arabischen Alphabet selbst werden Kurzvokale, vokalloser Silbenschluß und Konsonantenverdopplung angezeigt. Auch wenn die morphologische Struktur des Arabischen mit einiger Sicherheit vom graphischen Bild auf den Morphemtyp schließen läßt, so ergab sich doch schon früh, vor allem für den Koran als religiöser und gesetzlicher Grundlage der islamischen Gemeinde, das Bedürfnis, bedeutsame Wörter eindeutig zu kennzeichnen. Deshalb sind seit der Mitte des 8./2. Jahrhunderts Punkte zur Bezeichnung der Kurzvokale a, i, u verbreitet, die Kasusendungen des indeter-

minierten Nomens werden durch doppelte Punkte an denselben Positionen bezeichnet. Diese Punkte sind in einer anderen Farbe — meist rot — gehalten als der Schriftzug, um den Eindruck zu vermeiden, die hinzugefügten, arbiträren Hilfszeichen veränderten den geheiligten, nach der Offenbarung niedergeschriebenen Schriftzug des Korantextes. Gelbe oder grüne Punkte bezeichnen das Phonem /’/ (hamza), das im klassischen Arabisch, nicht aber im higāzenischen Dialekt erhalten ist und kein eigenes Schriftzeichen hat. In der frühen Abbasidenzeit bürgerte sich, zunächst in der Kursive der Papyri, die noch heute übliche Bezeichnung ein: kurze schräge Striche für a über, für i unter dem Konsonantenzeichen, ein kleines 〈w〉 supra für u. Gemination und Vokallosigkeit werden durch kleine supralineare Abbreviaturen angezeigt: 〈š〉 ohne diakritische Punkte für šadd ‘Verstärkung’, 〈m〉 für ǧazm ‘Abgeschnittenheit’. Zur Bezeichnung von /’/ wird ein kleines 〈’〉 zum Vokal- oder Gleitlaut gesetzt und zeigt an, daß dieser wie 〈‛〉 gesprochen werden soll. Am Wortende kann das Zeichen auf die Schreiblinie gesetzt werden. — In älterer Zeit werden diese orthographischen Hilfszeichen sparsam verwendet. Vom 10./4. Jahrhundert an findet man jedoch voll vokalisierte Koranund Ḥadīṯ-Handschriften. In säkularen Texten werden orthographische Hilfszeichen nur für schwierige Wörter, z. B. in der Poesie verwendet, während Sachprosa meist ganz unvokalisiert ist.

8.

Literatur

Abbott, Nabia. 1939. The Rise of the North Arabic Script and its Kur’anic Developement. Chicago. Diem, Werner. 1979 ff. U ntersuchungen zur frühen Geschichte der arabischen Orthographie I—IV. In: Orientalia 48, 1979, 207—257; 49, 1980, 67—106; 50, 1981, 332—383; 52, 1983, 357—404. Endress, Gerhard. 1982. Die arabische Schrift. In: Fischer, W. (ed.), 165—183. Fischer, Wolfdietrich (ed.) 1982. Grundriß der arabischen Philologie. Wiesbaden. Grohmann, Adolf. 1971. Arabische Paläographie, Teil 2. Wien. Schimmel, Annemarie. 1982. Die Schriftarten und ihr kalligraphischer Gebrauch. In: Fischer, W. (ed.), 198—209.

Veronika Wilbertz, Köln (Deutschland)

23.  Die äthiopische Schrift

317

23. Die äthiopische Schrift 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

1.

rabisch g. Andererseits weist die äthiopische Schrift ein Mehr von zwei Zeichen auf: das emphatische  und das einfache orale p (letzteres nur in Fremdwörtern).

Standort und Genesis Vokalisierung und Schriftrichtung Bestand Entwicklungsstadien Verbreitung Reformversuche Literatur

2.

Standort und Genesis

1.1.  Die äthiopische Schrift ist der graphische Ausdruck jener Sprache, deren erste überlieferten Denkmäler aus der 1. Hälfte des 4. Jahrhunderts stammen: des zum SüdWestsemitischen gehörenden Äthiopisch oder Ge‛ez. 1.2.  Die Quellenlage erlaubt über die Herkunft dieser Schrift nur die Aussage, daß sie ein Abkömmling der altsüdarabischen Konsonantenschrift ist (→ Art. 21). Über weitere Details besteht in der Forschung keine Einmütigkeit: Während man gewöhnlich die altsüdarabische Monumentalschrift als Ausgangspunkt der äthiopischen Schrift ansieht, hatte Grohmann (1918, 77—79) die Anicht vertreten, daß der U rsprung in der Kursivschrift der Graffiti, die auch den proto-arabischen Inschriften zugrundeliegt, zu suchen ist (mit „kursiv“ meinte Grohmann hier nur eine handlichere Gestaltung der Formen). Eine neuere These von Jacques Ryckmans und A. J. Drewes will die äthiopische Schrift auf eine der (in ganz Arabien verbreiteten) Formen der ṯamūdischen Schrift zurückführen (vgl. Rodinson 1963, 143; U llendorff 1990, 127). 1.3.  Natürlich kam es während dieser Entwicklung zu Veränderungen, die sich vor allem durch die Tendenz zur Rundung der Formen (so z. B. = b für altsüdarabisch ) und die Drehung einiger Schriftzeichen um 90 Grad (so z. B. südarabisch

= m für alt-

) ergaben; auch die ge-

änderte Schreibrichtung mag eine Rolle gespielt haben (vgl. Ullendorff 1951 a, 208). 1.4.  Die äthiopische Schrift hat einige Schriftzeichen weniger als die altsüdarabische. Im Bereich der Dentalen fehlen Zeichen für altsüdarabisch ḏ, ẓ, ś und ṯ; außerdem gibt es keine äthiopische Entsprechung für altsüda-

Vokalisierung und Schriftrichtung

2.1.  Wie die altsüdarabische Schrift war die äthiopische — dem semitischen Prinzip entsprechend — eine Konsonantenschrift, d. h., man schrieb nur die Konsonanten und ließ die Vokale weitgehend unbezeichnet; lediglich in einigen wenigen Fällen wurden die Halbvokale w und y als m atres lectionis zur Bezeichnung der ihnen zugeordneten Vokale verwandt. Ab dem 3. Jahrhundert ging man dazu über, auch die Vokale in das Schriftbild einzufügen (vgl. 3.2.). Über den Zeitpunkt dieser Innovation lassen sich keine gesicherten Aussagen machen. Beide Schreibweisen sind sehr wahrscheinlich schon vor der Bekehrung des Königs ‛Ēzānā (1. Hälfte des 4. Jahrhunderts) zum Christentum üblich, so daß ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung der vokalisierten Schrift und dem Erfordernis, eine solche für die Bibelübersetzung zur Verfügung zu haben, sehr unwahrscheinlich ist. U llendorff hat die einleuchtende Vermutung geäußert, daß die reine Konsonantenschrift als bewußte Archaisierung zu verstehen ist, zumal diese Schrift auch für ornamentale Zwecke besser geeignet erschienen sein mag (U llendorff 1951 a, 232). Für die Herkunft des äthiopischen Vokalisierungssystems gibt es keine verläßlichen Anhaltspunkte; der früher gelegentlich behauptete Zusammenhang mit der indischen Schrift ist eine sehr hypothetische Möglichkeit. Wahrscheinlich ist die Vokalisierung eine inneräthiopische Leistung (vgl. Grohmann 1918, 80—84). 2.2.  Gegenüber anderen semitischen Schriften kam es im Äthiopischen zu einer weiteren Veränderung: Hatte das Altsüdarabische die Boustrophedón-Schreibung, so schrieb man nun im Äthiopischen (wohl unter griechischem Einfluß) von links nach rechts.

3.

Bestand

3.1.  Wie sie uns heute entgegentritt, umfaßt die äthiopische Schrift 30 Grundzeichen; 26 davon können (entsprechend der Vokalisie-

318

rung: 3.2.) je sieben verschiedene Formen haben, vier (die sogenannten Labio-Velare: qw, ḫw, kw, gw) je fünf, so daß wir (26 × 7 und 4 × 5 =) 202 verschiedene Zeichen erhalten, vgl. Abb. 23.1. 3.2.  Die Aufnahme der Vokale erfolgte in der Form, daß man das Konsonantenzeichen je nach dem ihm folgenden Vokal etwas veränderte und damit eine Art Silbenschrift erhielt.

Abb. 23.1: Tabelle der äthiopischen Schrift

III. Schriftgeschichte

Die sieben Vokale sind: (1) a (auch mit ä transliteriert) (2) u, (3) i, (4) ā (auch mit a transliteriert), (5) ē (auch mit e transliteriert), (6) e (auch mit ǝ transliteriert) oder Vokallosigkeit, (7) o. Die sieben Vokale werden „Ordnungen“ genannt; so meint man z. B. mit einem b der 3. Ordnung ein „bi“. — Bei der Vokalisierung entschied man sich dafür, die rein konsonantische Form/Grundform für den Vokal der 1. Ordnung (a), ge‛ez genannt,

23.  Die äthiopische Schrift

zu verwenden. Die anderen Vokalordnungen werden durch für jeden Vokal möglichst gleiche Änderungen bezeichnet (was natürlich nicht bei allen Konsonantenzeichen möglich ist; die Abweichungen werden im folgenden nicht erwähnt). Die 2. Ordnung (u), kā‛eb genannt, wird durch ein Häkchen an der rechten Seite des Zeichens (in der Mitte oder in der unteren Hälfte) gebildet. Die 3. Ordnung (i), śāles genannt, wird durch ein Häkchen unten rechts oder an einem in der Mitte angebrachten Verlängerungsstrich gebildet. Die 4. Ordnung (ā), rābe‛ genannt, wird grundsätzlich durch eine Verkürzung des linken Teils des Zeichens gebildet; einfußige Zeichen haben eine Abschrägung des Fußes nach links. Die 5. Ordnung (ē), ḫāmes genannt, wird analog zur 3. Ordnung durch einen Kringel rechts bezeichnet. Die 6. Ordnung (e/∅), sādes genannt, wird auf recht unterschiedliche Weise gebildet: Knick einer geraden Linie; Häkchen links oben, an der linken oder an der rechten Seite; Abbiegen eines senkrechten Strichleins nach links; schräger, nach links geschwungener Strich; Kringel auf der linken Seite. Die Bildung der 7. Ordnung (o), sābe‛ genannt, erfolgt entweder durch einen Kringel rechts oder in der Mitte oben, durch Verkürzung des rechten Teils des Zeichens oder durch einen schrägen, aus der Mitte nach links geschwungenen Strich. Die Labio-Velare (vgl. 3.1) haben nur je fünf Ordnungen, die 2. und die 7. Ordnung existieren nicht (zum Ganzen vgl. Dillmann 1899, 19—29; Hartmann 1980, 52—59). Die 4. Ordnung der whaltigen Zeichen kann auch zu allen Grundzeichen mit Ausnahme von h, ḥ, ś, ’, w, ‛, y, , ḍ und p gebildet werden, also: lwā, mwā, rwā usw. 3.3.  Das Amharische, das sich ebenfalls der äthiopischen Schrift bedient (vgl. 5.), hat sieben zusätzliche Zeichen geschaffen, die den entsprechenden Grundzeichen zugeordnet sind: š, č, ñ, ḵ, ž, ǧ und  (vgl. U llendorff 1951 a, 214; 1955, 66—74, 129—149). Das ḵ (nur im Wortinnern und am Wortende) ist ein positionsbedingtes, velares Allophon zum laryngalen [h], das durch h, ḥ und ḫ dargestellt wird (vgl. Hartmann 1980, 49). Daneben gibt es noch einige sehr selten vorkommende Sonderformen. 3.4.  Die Zahlzeichen hat das Äthiopische aus dem Griechischen übernommen, die Formen jedoch der äthiopischen Schrift angeglichen. Da dieses System keinen Stellenwert der Zei-

319

chen kennt, ist es für mathematische Operationen ebenso unbrauchbar wie das römische. Heute werden zunehmend die arabischen Ziffern benutzt. 3.5.  Die hauptsächlichsten Interpunktionszeichen sind: naṭeb (zwei Punkte) als Worttrenner (aus dem altsüdarabischen Trennungsstrich zwischen zwei Wörtern entstanden), saraz (in drei Formen: zwei Punkte mit einem Strich darüber / mit einem Strich dazwischen / mit einem Strich darüber und darunter), als Komma oder Semikolon, naqweṭ oder mulu naṭeb (vier Punkte, quadratisch angeordnet), als Schlußpunkt (vgl. U llendorff 1951 a, 216; Hartmann 1980, 458). Sowohl in den äthiopischen Handschriften wie im modernen Gebrauch ist die Interpunktion recht willkürlich, so daß sie für das Verständnis eines Textes oft nicht sehr hilfreich ist, mitunter sogar in die Irre führen kann. Nur der Worttrenner (naṭeb) wird konsequent angewandt, schon auf den Schlußpunkt (naqueṭ/m ulu naṭeb) kann man sich nicht mehr in allen Fällen verlassen. In Zeitungen wird heute sogar der Worttrenner (naṭeb) weggelassen (der Zwischenraum bleibt natürlich bestehen). 3.6.  Über die Reihenfolge und die Namen der äthiopischen Schriftzeichen ist viel gerätselt worden. Über die Herkunft der traditionellen Reihenfolge der Schriftzeichen kann aber nichts Sicheres gesagt werden, und für deren Namen ( hoy, lāw, ḥawt, m āy usw.) gilt im großen ganzen immer noch die Annahme des äthiopischen Gelehrten Alaqā Tāyya, der Äthiopier, „der 1548 in Rom das Neue Testament habe drucken lassen, habe diese Namen nach den griechisch-hebräischen Vorbildern erfunden“ (Mittwoch 1926, 10). Das „Syllabarium“ in Johannes Potkens 1513 zu Rom erschienenen „Psalterium Chaldaicum“ kennt diese Namen ebenfalls nicht, sondern nennt die Zeichen einfach mit ihrem Lautwert: ha, hu, hi usw. — Nur jene Schriftzeichen, die heute einen identischen Laut darstellen (3.7.), werden mit einem Zusatz bezeichnet: h = ha hallētā, ḥ = ḥa ḥam ar, ḫ = ḫa bezuḫān; ś = śa neguś, s = sa esāt; ’ = ’a alēf, ‛ = ‛a ‛ayn; ṣ = ṣa ṣalot/ṣelmat/ṣedeq, ḍ = ḍa ḍaḥāy. 3.7.  Keine Darstellung eines Schriftsystems kann vom phonologischen Aspekt absehen. Für den äthiopischen Konsonantenbestand ist zu bemerken, daß einige Zeichen heute in der Aussprache zusammengefallen sind. So werden die Laryngale h, ḥ, ḫ und die velare

III. Schriftgeschichte

320

Variante ḵ wie [h] gesprochen, die Laryngale ’ und ‛ wie [’] (Stimmritzenverschlußlaut wie in „Verein“ [vǝr’ain]), die Dentale ś und s wie [s] und die Dentale s und d wie [ṣ]. Die U nterscheidung in der Schrift ist aber für das etymologische Verstehen unabdingbar, und ein gebildeter Äthiopier wird sich um die etymologisch „richtige“ Schreibung bemühen. Im Bereich der Vokale gilt, daß der Vokal der 1. Ordnung heute wie [ä] gesprochen wird, nur nach h, ḥ, h, ’ und ‛ bleibt das Mittelzungen-a erhalten. Dem ē geht gewöhnlich ein leichter Gleitlaut [y] voraus, der aber nach den Laryngalen h, ḥ und ḫ sowie den Palatalen č, ǧ, , š, ž, ñ und y ausfällt (Hartmann 1980, 51). — Wenn hier die 1. Ordnung mit a und die 4. mit ā transliteriert wird, soll damit kein Quantitätsunterschied behauptet werden. Es handelt sich nur um graphische Zeichen: U llendorff hat dargelegt, daß es sich bei den äthiopischen Vokalen nicht um quantitative, sondern um qualitative Merkmale handelt, d. h., jeder Vokal kann lang oder kurz sein, und der Vokal der 1. Ordnung unterscheidet sich von dem der 4. nicht durch seine Kürze, sondern durch seine Färbung (Ullendorff 1955, 159—163; 1990, 128). 3.8.  Mit ihrem Vokalisierungssystem ist die äthiopische Schrift dem Ideal einer semitischen Schrift sehr nahe, es bleiben nur zwei Schwierigkeiten: Erstens hat diese Schrift kein System zur Kennzeichnung der Längung oder Schärfung („Doppelung„/Gemination) eines Konsonanten entwickelt. Die Längung hat aber nicht selten sowohl wort- wie formunterscheidende Bedeutung und muß nun im Einzelfall entweder aus der grammatischen Kategorie erschlossen oder aus der Empirie gefunden werden (vgl. Mittwoch 1926, 17—20; U llendorff 1955, 216—222; Hartmann 1980, 70). Auch die Äthiopier selbst zeigen hier manche U nsicherheit. Eine Bezeichnung der Konsonantenlängung (durch ein arabisches Tašīd, ein Trema u. dgl.) findet sich fast nur in europäischen philologischen Arbeiten, analoge Versuche äthiopischer Gelehrter sind ohne Erfolg geblieben. In äthiopischen Handschriften findet sich nur ganz selten ein über dem betreffenden Schriftzeichen (nachträglich) eingetragenes ṭ (= aṭbeq = verstärke!). — Die zweite Schwierigkeit ergibt sich aus der Doppeldeutigkeit der 6. Ordnung: Sie kann sowohl ein e (einen dem hebräischen Schwa mobile vergleichbaren Mittelzungenvokal) wie die völlige Vokallosigkeit des betreffenden Konsonanten bedeuten. In einer ganzen Reihe von Fällen ist von

vornherein klar, welche von beiden Bedeutungen zutrifft; unter U mständen muß sie aber auch hier aus der Wortstruktur erschlossen werden.

4.

Entwicklungsstadien

4.1.  Die äthiopische Schrift hat sich im Lauf ihrer Geschichte niemals so stark verändert, daß die Zeichen ihre Identität verloren hätten. Gewechselt haben die Größe der Schriftzeichen, ihre Stärke, die Achse, die Schweifungen, die Form der Häkchen und die Art ihrer Anfügung usw. (Grohmann 1918, 85). 4.2.  Auf Grund eines repräsentativen Handschriftenmaterials hat nun U hlig acht Stilperioden der äthiopischen Schrift herausarbeiten können und eingehend dokumentiert (U hlig 1988; eine kürzere Fassung: U hlig 1990). Dabei wurde auch berücksichtigt, daß sich Periodenmerkmale allmählich entwickeln und eine Periodenzäsur erst dann angesetzt werden darf, wenn eine deutliche Veränderung der allgemeinen Merkmale wie zahlreicher Merkmale der einzelnen Schriftzeichen nachgewiesen werden kann (Uhlig 1988, 63 f).

5.

Verbreitung

Der äthiopischen Schrift bedienen sich nicht nur das klassische Äthiopisch (Altäthiopisch oder Ge‛ez ), sondern auch die neuen semitischen Sprachen Äthiopiens, allen voran das Amharische, das Tegreññā, das Tegrē und das Gurāgē (mit Ausnahme des Harari). Aber auch im Bereich der kuschitischen Sprachen wurde und wird die äthiopische Schrift verwandt, vornehmlich für das Galla (Oromo), dann auch für die verschiedenen Dialekte der Agaw (Belin/Bogos, Falāšā, Qemānt usw.) und in einigen Fällen für Sidāmāsprachen. Nicht selten war die Verwendung der äthiopischen Schrift mit der Wirksamkeit von Missionaren verbunden.

6.

Reformversuche

6.1.  Gelegentlich hat es auch Ideen für eine Reform der äthiopischen Schrift gegeben, keiner dieser Versuche hat sich aber durchsetzen können. Ein Vorschlag ging dahin, die Schriftzeichen der 1. Ordnung (also: Konsonant + a) für die vokallose Form des Konsonanten sowie die mit dem Mittelzungen-e

23.  Die äthiopische Schrift

der 6. Ordnung zu verwenden, als Vokalzeichen dann die Formen des ’ (mit Ausnahme von dessen 6. Ordnung). Die zum Teil sowieso schon langen amharischen Wörter würden dadurch aber mitunter um bis zu 100 Prozent länger werden; aus dem jetzigen: ḫwā-lā (= hinten, später, nachher) würde z. B.: h-w-ā-l-ā (vgl. Leslau 1953, 100 f; Hammerschmidt 1967, 158). 6.2.  Eher ein Kuriosum sind Bemühungen in neuester Zeit, lateinische Zierschriften (wie sie mehr in den U SA heimisch sind) nachzuahmen. Die äthiopische Schrift wird dabei mitunter in einer grotesken Weise denaturiert (vgl. U hlig 1980, 815). Die beiden folgenden Beispiele wollen jeweils die äthiopischen Schriftzeichen ḥ, m, ś und r wiedergeben:

6.3.  Die hohe Qualität des äthiopischen Schriftsystems hat es derartige Anschläge leicht überstehen lassen. Wenn der äthiopischen Schreibpraxis heute eine Gefahr droht, dann kommt diese eher von seiten des jeder Schreibkultur abträglichen Kugelschreibers.

7.

Literatur

Dillmann, August. 1899. Grammatik der äthiopischen Sprache. 2. Aufl. bearbeitet von Carl Bezold. Leipzig [Nachdruck: Graz 1959]. Grohmann, Adolf. 1918. Über den U rsprung und die Entwicklung der äthiopischen Schrift. Archiv für Schriftkunde 1, 57—87. Hammerschmidt, Ernst. 1967. Äthiopien. Christliches Reich zwischen Gestern und Morgen. Wies-

321

baden. Hartmann, Josef. 1980. Amharische Grammatik. Äthiopische Forschungen 3. Wiesbaden. Klingenheben, August. 1958. Die w- und y-haltigen Konsonanten abessinischer Semitensprachen mit besonderer Berücksichtigung des Amharischen. Rassegna di studi etiopici 14, 28—47. Leslau, Wolf 1953. La réforme de l’alphabet éthiopien. Rassegna di studi etiopici 12, 96—106. —. 1965. An Annotated Bibliography of the Semitic Languages of Ethiopia. Den Haag. —. 1978. Spirantization in the Ethiopian Languages. In: Atti del Secondo Congresso Internazionale di Linguistica Camito-Semitica, Firenze 1974, 175—199 [wiederabgedruckt in: Leslau, Wolf. 1988. Fifty Years of Research. Selection of articles on Semitic, Ethiopian Semitic and Cushitic, 177—201. Wiesbaden]. Mittwoch, Eugen. 1926. Die traditionelle Aussprache des Äthiopischen. Abessinische Studien I. Berlin/Leipzig. Rodinson, Maxime. 1963. Les Sémites et l’alphabet: Les écritures sud-arabiques et éthiopiennes. In: L’écriture et la psychologie des peuples. Centre international de Synthèse: XXII e Semaine de Synthèse, 3.—11. 5. 1960, 131—146. Paris. U hlig, Siegbert. 1988. Äthiopische Paläographie. Äthiopistische Forschungen 22. Stuttgart. —. 1990. Introduction to Ethiopian Palaeography. Äthiopistische Forschungen 28. Stuttgart. U llendorff, Edward. 1951 a. Studies in the Ethiopic syllabary. In: Africa 21, 207—217. (Wieder abgedruckt in Ullendorf 1977, 230—240). —. 1951 b. The obelisk of Matara. Journal of the Royal Asiatic Society 1951, 26—32. (Wieder abgedruckt in Ullendorf 1977, 223—229). —. 1955. The semitic languages of Ethiopia. A comparative phonology. London. —. 1977. Is biblical Hebrew a language? Wiesbaden. —. 1990. The Ethiopians. An Introduction to Country and People. Reprint of the 3rd Edition, Oxford, 1973. Stuttgart.

Ernst Hammerschmidt †, Wien (Österreich)

III. Schriftgeschichte

322

24. Evolution of the Indian Writing System 1. 2. A 3. 4. 5. 6. 7. 8.

1.

The Harappan script

see Rao (1982).

hiatus The Aśokan scripts Orality and literacy in ancient India Indian script descended from Brāhmī Brāhmī-based scripts outside South Asia Non-Indic scripts in South Asia References

The Harappan script

One of the world’s significant early scripts is that of the Indus Valley civilization — often called Harappan, after one of its main archaeological sites. The known inscriptions in this writing system date from around the first half of the 3rd millennium B. C., at a period when most scholars believe that Sanskrit speakers had not yet entered the Indus Valley. It is widely hypothesized that the language of the Harappan civilization belonged to the Dravidian family, for two reasons. First, although languages of that group are now concentrated in South India, they are known to have occupied a wider area in the past; and one Dravidian language, Brahui, is still spoken in Baluchistan, just west of the Indus Valley. Second, a significant number of Dravidian borrowings can be identified in the oldest Vedic texts, reflecting the earliest period of contact between Sanskrit speakers and the ancient Harappan population. However, the corpus of Harappan writing is limited primarily to very short texts — typically of five or six characters — found almost exclusively on about 2,500 stone seals, and in clay impressions of those seals. Since some of the impressions are found still attached to bales of trade goods, it is inferred that a major function of the writing was in labeling merchandise. No bilingual inscriptions have been found; and all attempts to decipher the Indus Valley script remain speculative. However, it appears to have been written from right to left, and there are indications that it was basically logographic, with some development in the direction of phonologically defined signs. For a sample of Harappan script, see Fig. 24.1. For general accounts of this script, and of attempts at its decipherment, see Dani (1963, 12—22), Zide & Zvelebil (1970), Bright (1991). For a recent major effort to interpret the Harappan language in terms of Sanskrit,

Fig. 24.1: Harappan seal with script. Reproduced from The roots of Ancient India, by Walter A. Fairservis Jr., 2nd ed. (Chicago: University of Chicago Press, 1975), p. 274.

2.

A hiatus

One of the most surprising things about the Harappan script is that it seems to have disappeared from use along with the decline of the Indus Valley Civilization; thereupon South Asia was left with no archaeological trace of a writing system for some 2,000 years. Finally, in the 3rd century B. C., two scripts, Brāhmī and Kharoṣṭhī, made their appearance in the stone-carved edicts by which the Emperor Aśoka Māurya propagated Buddhist principles throughout the Indian subcontinent. Many scholars have found it hard to believe that anything so valuable as a writing system could simply be discarded, and have looked for evidence that the Harappan script may have simply gone ‘underground’. On the one hand, they have pointed to the so-called ‘graffiti’ which are found on potsherds from all over South Asia during the post-Harappan period, and some of which bear geometrical resemblances to Harappan characters. But since these graffiti lack the patterned nature characteristic of writing systems, and since there is in any case no way to match them phonologically or semantically with Harappan characters, most scholars have regarded them as mere potters’ marks (Gupta & Ramachandran 1979, xxi). On the other hand, some writers have called attention to graphic similarities between Harappan signs and those used in the later Brahmī script; but again, in the absence of phonetic correspondences, these similarities cannot be taken seriously as anything but accidental coincidences of universal geometrical patterns.

24.  Evolution of the Indian Writing System

Another argument is that writing must have existed continuously in South Asia, but that it was on perishable materials, such as cloth or bark, which have not survived (cf. Pandey 1957, 16). On this hypothesis, the Aśokan texts are significant for the history of writing in South Asia only because they were the first of their type to be carved in stone, and therefore to endure. But the Harappans inscribed their characters not only in stone and clay, but also in other durable materials, such as ivory and copper; so it is hard to explain why the extensive archaeological research which has been carried out in South Asia has not turned up at least a few examples of pre-Aśokan writing. Such considerations have led scholars such as U pasak (1960), Dani (1963), and Verma (1971) to claim that pre-Māuryan India was essentially scriptless, and even to suggest that the Kharoṣṭhī and Brāhmī scripts were developed under direct orders from the Emperor Aśoka himself. This of course accords with a traditional Hindu view that Sanskrit literature, throughout the Vedic and Classic periods, was composed and transmitted in a purely oral medium. However, there is some non-archaeological evidence for pre-Aśokan writing; see sec. 4, below.

3.

The Aśokan scripts

The edicts of the Emperor Aśoka, dating from around 253—250 B. C., are found over a large part of South Asia, and in several writing systems. On the northwestern frontier, some inscriptions are in Greek and Aramaic — the principal languages of foreign contact in that area. Most other inscriptions are in the Prakrit dialect of Aśoka’s capital in Magadha (now part of Bihar state, in eastern India); but they are in two different writing systems. One of these, Kharoṣṭhí, was written from right to left, like Aramaic and other Semitic scripts; it was used only in the northwest, and subsequently died out. The other script, Brāhmī, was written mainly from left to right; it was used in the larger part of the subcontinent, and eventually developed into many major and minor scripts used down to the present time in India and southeast Asia. Both systems were phonologically based, and they introduced a novel method of transcribing both consonants and vowels in a systematic way. The new Indic scripts did not write both consonantal and vocalic phonemes as independent letters, as is done in Greek;

323

Fig: 24.2: Kharoṣṭhī and Brāhmī nor did they write the vowels only with occasional diacritics to consonant symbols, as is done in many Semitic writing systems. Rather, they adopted the strategy of writing each (C)V sequence — i. e. a vowel without preceding consonant, or more often a consonant + vowel — as a unit, called in Sanskrit an akṣara. Each initial vowel has its distinctive symbol; but to write typical CV sequences, the following two devices are used: (a) The short vowel a is considered inherent in each consonant symbol; thus a consonant symbol by itself stands for C + a . (b) All other vowels are written as obligatory diacritics, attached to the top, to the bottom, or to either side of the consonant. These devices are illustrated in Fig. 24.2 for initial vowels, and for sequences of k plus vowel. Note that the distinction of short vs. long vowels is ignored in Kharoṣṭhī, but is maintained in Brāhmī. Additional devices are required when a consonant is not followed by a vowel, typically when it occurs before another consonant. In that case, ‘conjunct consonants’ are used, in which one consonant symbol takes a reduced form. Thus the aksara does not correspond precisely to a syllable of the spoken language: the sequence arva would be pronounced as ar + va , but written with the two akṣaras a + rva . It is therefore inaccurate to refer to the Indic writing systems as syllabaries. Writing systems of this type, which indicate CV combinations by vowel diacritics obligatorily attached to consonants, have arisen only rarely in the world; the other best-known example is Ethiopic, which is known to have been derived from South Semitic sources around A. D. 350 (→ art. 23). Such systems create a problem for typologies of writing systems,

III. Schriftgeschichte

324

and for nomenclature. A system which writes consonants and vowels separately and independently, as in the Roman system, is an alphabet; a system with a unitary symbol for each (C)V combination, like Japanese kana or Sequoyah’s Cherokee script, is a syllabary. But we need a distinctive name for the Semitic type of system, where vowels are largely neglected; and we also need a name for the Indic and Ethiopic type of system, where consonantal and vocalic elements are combined. The term ‘alpha-syllabic’ has been proposed for the Indic type, suggesting links with both alphabetic and syllabic systems. The origins of the Kharoṣṭhī and Brāhmī scripts are disputed. As noted above, some writers have proposed that both scripts were new inventions within South Asia. Other scholars accept the likelihood that Kharosthī was an adaptation of the Aramaic script, considering the facts that they were used in the same northwestern area, that they were both written from right to left, and that a fair number of Kharosthī symbols show significant similarities in shape and pronunciation to the corresponding Aramaic symbols. However, some of these writers have denied that Brāhmī can have the same Aramaic inspiration; they point to the fact that it was written in the opposite direction, and that significant correspondences in shape and sound are harder to find. In this view, Brāhmī must represent either a survival of the Harappan writing system, or at any rate a separate invention. Finally, many Indologists still follow Bühler (1895, 1896) in believing that both Kharosthī and Brāhmī were derived from Semitic writing — with Brāhmī perhaps based on a Semitic script like the Phoenician, rather than on Aramaic. For comparisons of symbols from Semitic scripts with those of the two Indic scripts, see Fig. 24.3. To be sure, all scholars recognize important links between Kharosthī and Brāhmī. Not only do they represent the same type of alphasyllabic script; they also show the same systematic expansion in number of consonant symbols, for the purpose of conveying all the phonological contrasts of aspiration, retroflexion etc. which are characteristic of Sanskrit and of other South Asian languages to the present day. It is clear that these two scripts were elaborated by ancient pandits who were well versed in the science of phonetics — which we know to have been already developed in India before the Māuryan pe-

riod. However, the question remains: was Brāhmī script, or some predecessor of it, used in India during the 2,000 years that preceded Aśoka’s reign? Or was the Sanskrit literature of these millennia in fact a purely oral tradition? This has been a matter of controversy.

4.

Orality and literacy in ancient India

It has been widely believed that ancient Sanskrit-speaking culture was basically oral; however, the evidence is mixed. Although we find mention of writing in Classical Sanskrit texts, it is hard to determine the exact period from which a text dates, and even harder to rule out the possibility that references to writing are late interpolations. We have datable evidence, however, from Greek writers who visited India during and following the time of Alexander the Great (cf. Gopal 1977). Thus Nearchos, a general of Alexander’s army, is reported by Strabo as stating (around 326 B. C.) that ‘the Hindus wrote epistles on linen cloth’. However, Strabo also quotes Nearchos as saying of the ancient Indians that ‘their laws ... are unwritten.’ A possible interpretation is that, when Nearchos visited India, writing may have been used for personal or commercial purposes, but not for religious or legal texts. However, the Greek envoy Megasthenes, describing the Hindus some 25 years later, reported: ‘they have no knowledge of written letters, and regulate every single thing from memory.’ Early Buddhist texts, handed down in the Pali language from around 500 B. C., make some reference to writing, but suggest it was not preferred for sacred purposes; thus it is prescribed that the rules of a monastic order should be transmitted orally. As for Sanskrit texts, it is well known that oral transmission of both religious and secular literature has been practiced in India from ancient times to the present. In fact, the earliest record of written Sanskrit dates from only the 1st century B. C. — much later than the Prakrit inscriptions, at a time when Sanskrit can no longer have been widely spoken, but was cultivated as a literary language. Yet some earlier writings in Sanskrit must have been on perishable material, and so vanished. The Sanskrit grammar of Pāṇini, believed to have been composed in northwest India in the 4th century B. C., contains words for

24.  Evolution of the Indian Writing System

Fig: 24.3: Semitic scripts, Kharosthi, and Brāhmī (adapted from Jensen 1969, 365, 367).

325

III. Schriftgeschichte

326

‘book’ and ‘script’ — though the work itself is traditionally studied through recitation and memorization. Although Pāṇini knew that writing existed, it is possible that he was illiterate! The consensus of scholarly opinion suggests that writing was used in India for certain practical purposes from pre-Māuryan times onward, but that over many centuries it continued to be considered inappropriate for religious, literary, or scholarly works (see Kiparsky 1976, Bright 1988). It appears then, that a society may have knowledge of writing, and yet assign it to restricted functions — the usage of merchants, perhaps, as opposed to the purposes of religion or of literary art. A possible parallel comes from Minoan Greece: the Mycenaean civilization used the Linear A and B scripts for commercial records; but so far as we know, they did not use them for literature. Following the collapse of Minoan civilization, Greece apparently did without a writing system for some centuries, until the Phoenicianbased alphabet was introduced. During this period, of course, the Iliad and the Odyssey were in the oral tradition, taking the forms which we now know — just as in India, around the same time, the Hindus were apparently also producing and transmitting literature without the aid of writing.

5.

Indian scripts descended from Brāhmī

Scripts descended from Brāhmī eventually dominated the entire Indian subcontinent (for a summary of the palaeography, see Jensen 1969, 361—404). Brāhmī-based scripts also spread to Southeast Asia; see sec. 6. below. Some two hundred scripts of this family have been distinguished. Since the 18th century, ten scripts have been standardized, cast in type, and given official association with major Indo-Aryan and Dravidian languages. The most important of these is the Nāgarī or Devanāgarī script, the one most commonly used to write Sanskrit, Hindi, Marathi, and Nepali (see Lambert 1953; → art. 33, 122). Its characteristic features include the following: (a) Symbols for independent vowels, and for most consonants, have a horizontal line along their top; e. g. a, k(a), s(a). Several of the diacritic vowel symbols appear partially or entirely above this line, e. g. ki,

ke.

Fig. 24.4: Scripts used for Indo-Aryan languages (b) Many consonantal symbols include a vertical line. When such a symbol occurs first in a consonant cluster, a conjunct consonant can be created by omitting the vertical line; thus p(a) + t(a) combine as pt(a) . (c) Other consonant clusters are symbolized by less predictable conjuncts, e. g. t(a) +

r ( a) combine as

tr(a) , while

h(a)

+ y(a) combine as hy(a) . Conjuncts of more than two consonants can be formed by a combination of methods; e. g., s(a) +

t(a) + r(a) = str(a) . (d) An alternative way of writing a syllablefinal consonant, either in a cluster or in final position, is by adding the subscript diacritic virāma, indicating ‘zero vowel’, to the basic symbol; thus t(a) , but at . Related systems used for major Indo-Aryan languages are the Bengali script (also used for Assamese), the Oriya script, the Gujarati script, the Gurmukhī script (used by Sikhs to write Punjabi), and the Sinhalese script of Ceylon. It has been claimed that the differences between the more rectilinear and the more curvilinear scripts reflect the use of different types of palm leaf as a traditional surface for writing; leaves with smoother surfaces encourage a rounder line. Representative symbols from these scripts are shown in Fig. 24.4; see also Fig. 33.1. Of the four Dravidian languages of South India, each one has its own script; but the Tamil script stands apart from the others in two respects. First, it lacks symbols for voiced or aspirated stops, which are absent as contrastive units in conservative Tamil pronunciation; thus its inventory of symbols is much reduced. Second, consonant symbols are never combined in ligatures; syllable-final

24.  Evolution of the Indian Writing System

327

consonants are uniformly marked with a superscript dot, corresponding to the zerovowel symbol of Devanāgarī. For representative symbols from the Dravidian scripts, see Fig. 24.5. The traditional order of symbols in Devanāgarī and its sister scripts is based strictly on articulatory phonetics, as developed for Sanskrit by the ancient pandits. First come the simple vowels, paired as short and long: a ā i ī u ū . Then come the historical diphthongs: ai (= [e]) āi au (= [o]) āu. Then follow syllabic liquids:    (the non-occurring  is added for the sake of symmetry). Then come an element of nasalization (anusvāra, ṃ) and one of voiceless aspiration (visarga, ḥ ). There follow the consonants: first the oral and nasal stops, arranged by position of articulation, moving forward from the back of the mouth. Within each articulatory class, the order is voiceless unaspirated and aspirated, voiced unaspirated and aspirated, plus nasal: Velar: Palatal: Retroflex: Dental: Labial:

k c ṭ t P

kh ch ṭh th ph

g J ḍ d b

gh jh ḍh dh bh

Fig. 24.5: Scripts used for Dravidian languages

ṅ ñ ṇ n m

There follow, again arranged from the back of the mouth toward the front, the oral sonorants y r l v and the voiceless sibilants ś ṣ s. The list ends with the voiced aspiration h . In languages which have additional consonant sounds, not occurring in Sanskrit, symbols tend to be added to the end of the list — e. g., in Tamil, retroflex ṛ  and alveolar ṟṉ.

6.

always used in their full form, but the end of each syllable is marked by a raised dot; thus

Brāhmī-based scripts outside South Asia

Scripts derived from those of India are widely used, outside of South Asia proper, for languages of the Tibeto-Burman, Thai, AustroAsiatic, and Austronesian families. Referring only to those which have been cast in type and have received official recognition, we may list those of Tibetan, Burmese, Thai, Cambodian, and Javanese; sample symbols of these are found in Fig. 24.6. Some of these scripts have departed from the Indic practice of writing consonant clusters either as conjuncts or with a zero-vowel symbol. In Tibetan, consonant symbols are

Fig. 24.6: Brāhmī-based scripts outside India 〈k(a) · y(a)〉 would correspond to kaya , but 〈k(a)y(a)〉 with no dot would correspond to kya . In Thai, no distinction is made between a consonant with inherent vowel and a consonant followed by no vowel; thus both kra and ka ra would be written as 〈k(a)r(a)〉 (see Haas 1956). Another innovation in some of the Southeast Asian scripts is the addition of obligatory diacritics to represent contrastive pitch. I n Thai, for example, five tones are distinguished by the use of symbols written above the consonant-vowel combinations.

7.

Non-Indic scripts in South Asia

The most important historical impact on the use of Brāhmī-derived scripts in South Asia, from A. D. 1000 onward, namely the introduction of Islam, resulted in the introduction of the Arabic script. This script was introduced in the form which had been previously adapted to the phonology of Persian, with new symbols for g, č, and p; other new inven-

III. Schriftgeschichte

328

tions were developed to represent distinctively South Asian phonemes such as the retroflex and aspirated stops. In general, those South Asian languages which are used mainly by Muslim populations are written in adaptations of Arabic script: above all U rdu (cf. Bright & Khan 1958), but also Pashto, Baluchi, Kashmiri, and Sindhi. However, the Muslim people of Bangla Desh write the Bengali language in the same script used by Hindu speakers of Bengali in India. U rdu, as the national language of Pakistan as well as the language of many millions of people in India, is in fact defined in part by the use of U rdu script as its written medium. On the spoken colloquial level, there is little distinction between U rdu and Hindi; the term Hindustani has been used to cover both. However, in formal discourse, U rdu borrows large amounts of Arabic and Persian vocabulary, whereas Hindi draws on the Sanskrit lexicon. When written, Hindi of course uses the Devanāgarī script. Since the political partition of South Asia between Pakistan and India, differences between U rdu and Hindi have been more emphasized than previously. Arabic script as used for U rdu has proven exceptionally resistant to the technology of typesetting; in the 1980’s, the text of U rdu newspapers was still created by professional scribes, practicing their calligraphic art on lithographic stones. The Roman script was introduced to India by the Portuguese and the British, and has been adapted by missionaries to the languages of various Christian minorities. For example, Roman has been used for Konkani, an IndoAryan language spoken by Catholics in Goa, as well as for Tibeto-Burman languages such as Lushai, spoken by Protestant converts in the northeast. In some other areas, scripts based on locally used Indic systems (such as Devanāgarī) have been developed by missionaries for the use of minority populations. A Romanized form of U rdu has had some use in the Indian army; in general, however, proposals that the multiplicity of Indian scripts should be replaced by the Roman alphabet — or indeed by Devanāgarī, or any other uniform system — have met with minimal acceptance. Diversity of scripts, like diversity of languages and dialects, continues to be a conspicuous feature of the South Asian world.

8.

References

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Vennemann, Theo (ed.), On language: A Festschrift for Robert P. Stockwell, London, 22—38. Reprinted in Bright 1991 b, 130—147. —. 1991 a. How not to decipher the Indus Valley inscriptions. In: Bright 1991 b, 118—123. —. 1991 b. Language variation in South Asia. New York. Bright, William, & Khan, S. A. 1958. The U rdu writing system. New York. Bühler, Georg. 1895. On the origin of the Indian Brahma alphabet. (Indian studies, 3.) Wien. Reprinted, Varanasi: Chowkhamba Sanskrit series, 1963. —. 1896. Indische Palaeographie von circa 350 a. Chr. — circa 1300 p. Chr. (Grundriss der indoarischen Philologie und Altertumskunde, ed. by G. Bühler, 1:11.) Strassburg. Translated as ‘Indian palaeography’, Indian Antiquary, vol. 33, Appendix, 1904. Reprinted, Calcutta 1959. Dani, Ahmad Hasan. 1963. Indian paleography. Oxford. Gopal, Lallanji. 1977. Early Greek writers on writing in India. In: Gopal, L. (ed.), In commemoration of D. D. Kosambi. Varanasi, 41—54. Gupta, S. P. & Ramachandran, K. S. (ed.). 1979. The origin of Brahmi script. Delhi. Haas, Mary R. 1956. The Thai system of writing. Washington, D. C. Jensen, Hans. 1958. Die Schrift in Vergangenheit und Gegenwart. 3rd ed. Berlin. (Translation: Sign, symbol and script. London/New York.) Kiparsky, Paul. 1986. Oral poetry: Some linguistic and typological considerations. In: Stolz, Benjamin A. & Shannon, R. S. (ed.), Oral literature and the formula. Ann Arbor, Center for the coordination of Ancient and Modern Studies, U niversity of Michigan, 73—106. Lambert, Hester M. 1953. Introduction to the Devanagari script for students of Sanskrit, Hindi, Marathi, Gujarati and Bengali. London. Pandey, Raj Bali. 1957. Indian palaeography. 2nd edition. Varanasi. Rao, Shikarpur Ranganath. 1982. The decipherment of the Indus script. Bombay. U pasak, C. S. 1960. The history and palaeography of Mauryan Brahmi script. Nalanda, India: The author. Verma, Thakur Prasad. 1971. The palaeography of Brahmi script in North India from c. 236 BC to c. 200 AD. Varanasi. Zide, Arlene, & Zvelebil, Kamil. 1970. Review of Knorozov et al. Language 46, 952—968.

William Bright, Boulder, Colorado (USA)

25.  Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften

329

25. Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften 1. 2. 3. 4. 5. 6.

7. 8. 9.

1.

Allgemeine Voraussetzungen der Alphabetentwicklung Die ältesten lokalen Varianten einer Alphabetschrift im Nahen Osten Das phönizische Alphabet Die europäischen Affiliationen der phönizischen Schrift Die nahöstlichen Affiliationen der phönizischen Schrift Zur Rolle von Kultursprachen und Basisschriften für die Verbreitung des alphabetischen Prinzips Isolierte Alphabetschöpfungen in Europa und Asien Die Rolle von Alphabetschriften in der modernen Sprachplanung Literatur

Allgemeine Voraussetzungen der Alphabetentwicklung

In der Evolution der Schrifttypen markiert das Alphabet die vergleichsweise am stärksten spezialisierte Entwicklungsstufe, nicht nur der Phonographie, d. h. der lautorientierten Schreibweise, sondern des Schreibens überhaupt. Bezieht man die alteuropäische Schrift (→ Art. 17) und die numerische Notation in Mesopotamien vor der altsumerischen Piktographie mit ein, stellt sich heraus, daß die Menschen ungefähr ebenso lange ohne Alphabet ausgekommen sind, wie sie seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. mit diesem Schrifttyp geschrieben haben. Die Entwicklung der Schriftlichkeit seit den ersten Experimenten mit alphabetischen Systemen zeigt einen deutlichen Trend in Richtung auf eine Bevorzugung des Alphabets gegenüber anderen (d. h. nicht-alphabetischen) Systemen, was wiederum nicht bedeutet, daß das Alphabet ältere Schrifttypen überall verdrängt hätte. Bekanntlich schreibt rund ein Fünftel der Weltbevölkerung seit über dreitausend Jahren in einer Variante der Logographie, nämlich die Menschen im chinesischen Schriftkulturkreis. Die ältesten Zeugnisse der Alphabetschrift finden sich nicht zufällig in einem kulturellen Areal, das sich vom schriftarchäologischen Standpunkt als Kontaktzone dreier wichtiger Schriftkulturkreise darstellt. Der Nahe Osten, genauer gesagt eine Region, die von Syrien im Norden bis zur Sinaihalbinsel im Süden reichte und auch Westjordanien einschloß, war eine wichtige Kulturlandschaft, und zwar

nicht nur wegen des West-Ost- und NordSüd-Fernhandels, sondern auch wegen der Fernwirkung kultureller Trends aus dem Osten, dem Süden und aus dem Westen. Im Nahen Osten waren im 2. Jahrtausend v. Chr. die folgenden Schriftsysteme bekannt oder in Gebrauch: die logiko-syllabische Variante der babylonischen Keilschrift, die logiko-segmentalen Varianten der ägyptischen Schrift (hieroglyphisch, hieratisch) und die altägäischen syllabischen Schriftvarianten (logikosyllabisches Linear A, rein syllabisches Kypro-Minoisch und Levanto-Minoisch). Die erwähnten Schriftsysteme haben entweder direkt oder indirekt auf den Entstehungsprozeß der ältesten Alphabetschriften eingewirkt, während das zeitgenössische Hieroglyphenhethitische keinen nennenswerten Anteil daran hatte. Vom rein organisatorischen Standpunkt betrachtet, sind die wichtigsten Prinzipien, durch die sich das Alphabet von anderen Schrifttypen unterscheidet, in den älteren phonographischen Schreibweisen der Region angelegt. Die ägyptische Segmentalschrift kennt Einkonsonantenzeichen, für deren Kategorisierung sich die etwas saloppe Terminologie „ägyptisches Alphabet“ bis in die moderne wissenschaftliche Literatur gehalten hat. Die Einkonsonantenzeichen waren aber kein selbständiges System, sondern eingebunden in den Mechanismus der segmentalen Schreibweise, zu der außerdem die Zwei- und Mehrkonsonantenzeichen gehören (Davies 1990, 103 ff). Das Alphabet teilt verschiedene Organisationsprinzipien mit den historischen Schriften, die seine Entwicklung beeinflußt haben. Das organisatorische Prinzip der Eins-zuEins-Entsprechung von Laut und Schriftzeichen, das den Einkonsonantenzeichen zugrundeliegt und das zum entscheidenden Organisationsprinzip der Alphabetschriften wurde, ist in der ägyptischen Schreibweise schriftgeschichtlich zum ersten Mal systematisch durchgeführt worden. Allerdings ist dieses Prinzip auch aus der Keilschrift bekannt, und zwar in der Verwendung von Zeichen für vokalische Silbenstrukturen ohne Konsonanten. Die kypro-minoische Variante der altägäischen Schriften teilt mit dem Alphabet die Eigenschaft, daß sie rein phonographisch funktioniert, d. h. ohne die für die anderen zeitgenössischen Schriften typische logogra-

III. Schriftgeschichte

330

phische Komponente (Verwendung von Determinativen und Logogrammen). In der kulturhistorischen Rückblende stellt sich heraus, daß Alphabetschriften, d. h. Schriftsysteme, die nach dem alphabetischen Prinzip organisiert sind, sehr flexibel sind und sich der unterschiedlichsten Zeichenrepertoires bedienen. Die wichtigsten der im Altertum entstandenen Originalschriften wurden zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Geschichte auch als Alphabetschriften adaptiert. Das älteste dieser Experimente ist die Verwendung der Keilschrift in alphabetischer Funktion in U garit zwischen 1500 und 1400 v. Chr. (→ Art. 20). Ins 6. Jahrhundert v. Chr. datiert die Entstehung des karischen Alphabets, das sich zu einem Teil aus griechischen Buchstaben, zu einem anderen Teil aus Zeichen des ägäischen Syllabars (und zwar der kyprischen Varianten) zusammensetzt. Die altkyprischen Silbenzeichen übernehmen im karischen Schriftsystem alphabetische Funktion (Ray 1990). Im 2. Jahrhundert v. Chr. ist eine Auswahl ägyptischer Hieroglyphenzeichen im historischen Nubien, wo seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. die älteste der schwarzafrikanischen Hochkulturen aufblühte, zur alphabetischen Schreibung des einheimischen Meroitisch adaptiert worden (Haarmann 1990, 389 ff; → Art. 19). Aus der Zeit des Mittelalters stammen weitere Beispiele für Zeichenadaptionen, die außerhalb des Haupttrends liegen. Das Zeichenrepertoire der armenischen Schrift setzt sich wahrscheinlich teilweise aus Symbolen zusammen, die bereits vor der Einführung der Schrift als Klanzeichen oder animistische Symbole in Gebrauch waren. Ähnliches gilt für den Zeichenschatz des georgischen Alphabets, in dem Anklänge an kaukasische Identifikationssymbole zu erkennen sind. Die Zeichen des koreanischen Hangul-Alphabets sind nicht von einer der im Fernen Osten bekannten Alphabetschriften (mongolische Varianten) abgeleitet (→ Art. 27). Eine moderne Adaption nichtalphabetischer Schriftzeichen für alphabetische Zwecke ist das Experiment eines Alphabets zur Schreibung des Chinesischen, dessen Zeichen sich von chinesischen Ideogrammen ableiten (Jensen 1969, 173). Diese in den dreißiger Jahren propagierte Alphabetversion wurde von der kommunistischen Sprachplanung als „bourgeois“ abgelehnt und das Prinzip des Alphabets lediglich in Form der Transliteration chinesischer Wörter in Lateinschrift (Pinyin genannt) für wissenschaftliche Zwecke aufrechterhalten (→ Art. 26, 32).

2.

Die ältesten lokalen Varianten einer Alphabetschrift im Nahen Osten

In der Kulturlandschaft zwischen Syrien und dem Sinai fanden nicht nur wichtige Schriftadaptionen (z. B. ugaritische Schrift) statt, sondern es enstanden auch neue lokale Schriftsysteme wie die syllabische ByblosSchrift und das Alphabet. Die byblische Silbenschrift ist insofern von Interesse, als in ihrem Zeichenrepertoire Anlehnungen an die altägäischen Syllabare wie auch an die Zeichen der lokalen Alphabete zu erkennen sind (Haarmann 1994, tables 148, 150). Zudem ist die in Byblos-Schrift aufgezeichnete Sprache das Phönizische, dessen älteste Schreibweise somit syllabisch war. Was die Innovation des Alphabets betrifft, hat man bis heute keine einheitliche Basisvariante dieses Schrifttyps rekonstruieren können, wovon sich alle historischen Varianten ableiten ließen. Von einem semitischen *U ralphabet kann also nicht die Rede sein. Vielmehr wurde an verschiedenen Orten, entweder sukzessive oder gleichzeitig, mit dem alphabetischen Prinzip experimentiert. Von den lokalen Varianten setzten sich einige durch, andere wurden aufgegeben (Sass 1988). Wegen der Vielfalt der Varianten im Experimentalstadium ist es auch unmöglich, die Schöpfung der Alphabetschrift einer bestimmten Person zuzuschreiben. Als Schriftschöpfer ist Moses berühmt geworden. Diese auch neuerlich vertretene These ist aus verschiedenen Gründen unhaltbar (Hinz 1991). Erstens sind die ältesten Zeugnisse alphabetischer Inschriften (ca. 1700 v. Chr.) Hunderte von Jahren älter als die Periode, in die man die historische Persönlichkeit des Mose datiert (13. Jahrhundert v. Chr.), zum anderen findet sich in der Bibel keinerlei Hinweis auf Moses als schriftschaffenden Kulturheros der Juden. Mit Sicherheit wäre eine solche Leistung gebührend hervorgehoben worden. Sicher allerdings ist, daß die Personen, die mit der Alphabetschrift experimentierten, das Ägyptische und dessen Schreibweise kannten. Das akrophonische Prinzip, wonach die Buchstaben, gleichsam als Kürzel, für den Anfangslaut ganzer Wörter stehen, ist nur in der ägyptischen Schrift, nicht aber in der Keilschrift oder im ägäischen Schriftenkreis bekannt. Die ältesten Schriftfunde außerhalb Ägyptens, in denen sich das akrophonische und das Einkonsonanten-Prinzip nach ägypti-

25.  Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften

331

Tab. 25.1: Proto-sinaitisch-ägyptische Zeichenparallelen (nach Davies 1990, 131) schem Vorbild nachweisen lassen, stammen aus dem Sinai (→ Art. 20). Die frühesten dieser sogenannten proto-sinaitischen Schriftproben werden in die Zeit um 1700 v. Chr. datiert. Es handelt sich um Inschriften auf Objekten aus einem Türkisbergwerk bei Serabit al-Khadim, in denen eine begrenzte Anzahl von Zeichen verwendet wird (insgesamt 23). Die Sprachform ist ein altes Westsemitisch (Albright 1966). Das Zeichenrepertoire der proto-sinaitischen Schrift zeigt deutliche Parallelen zum ägyptischen Zeichenschatz (Tabelle 25.1). Andererseits sind etliche Zeichen isoliert und bleiben ohne Parallele.

Inschriftenfragmente mit ähnlichem Schriftduktus wurden auch in Palästina gefunden. In Sichern, Gezer und Lachisch. Auch deren Sprache ist eine Variante des Westsemitischen, das Proto-Kanaanäische. Der U mstand, daß die frühen alphabetischen Schriften außerhalb der großen damaligen Kulturzentren entstanden und daß mit ihnen anfangs kulturell bedeutungslose Sprachvarianten aufgezeichnet wurden, deutet auf die Entstehung in einer Zeit hin, als keine der traditionellen Kultursprachen mit ihren Schriftsystemen genug Ausstrahlungskraft mehr besaß, um den Initialprozeß der lokalen Schriftlichkeit im Sinai

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und in Palästina entscheidend zu überformen. Die Inschriften in alphabetischer Schreibweise geben lediglich die Konsonanten, nicht die Vokale in der Schreibung wieder. Dies gilt sowohl für die proto-sinaitischen und protokanaanäischen als auch für die ugaritischen Texte. Das Ergebnis der Adaption bereits bekannter Prinzipien der Schriftorganisation und ihre selektive Anwendung zum Zweck einer Schriftneuschöpfung war eine neue Technologie. Denn durch die Reduktion des Schriftsystems auf eine begrenzte Anzahl organisatorischer Prinzipien (Einzellautschreibung, Selektion einer begrenzten Anzahl von Schriftzeichen nach dem akrophonischen Prinzip) wurde das Schreiben erheblich vereinfacht, wenn man die Schreibweisen mit ägyptischen Hieroglyphen oder mit der Keilschrift vergleicht. Das Repertoire dieser Schriftsysteme beinhaltet wegen der enormen Anzahl von Logogrammen Hunderte von Zeichen. Die alphabetische Schreibweise war vom schriftökonomischen Standpunkt ebenso vielversprechend wie unter dem Gesichtspunkt ihrer praktischen Verwendung. Im Hinblick auf den Zeichenbestand der ältesten Alphabetversionen ist nicht geklärt, ob das akrophonische Prinzip das allein bestimmende für die Zeichenselektion war. Eindeutig ist dessen Wirken in einer Reihe von Fällen. Hier ist jeweils das Abbild eines konkreten Objekts durch Stilisierung vereinfacht worden zur späteren Buchstabenform, wobei dieses Zeichen den ersten Konsonanten des Wortes symbolisierte, das im Semitischen als Bezeichnung des Objektes diente. Bei der Zeichenselektion nach dem akrophonischen Prinzip verliert das Buchstabenzeichen seine ursprüngliche figurative Motivation. Die Reduktion auf den Lautwert ist gleichbedeutend mit einem Prozeß der Entmotivierung. Man kann aber nur einen Teil der Buchstaben in den alten Alphabetvarianten eindeutig nach dem akrophonischen Prinzip erklären (Tabelle 25.2). Für die meisten Zeichen ist keine eindeutige Ableitung möglich und auch kein Name bekannt. Dies deutet darauf hin, daß das akrophonische Prinzip nicht das einzige ist, nach dem das Zeichenrepertoire organisiert ist. Sehr wahrscheinlich stützte sich die Selektion der Zeichen auch willkürlich auf bestimmte Symbole, die regional bekannt waren und die den praktischen Zwecken einer einfachen Buchstabenschrift dienlich sein konnten. Insbesondere Symbole mit linearem Cha-

III. Schriftgeschichte

Tab. 25.2: Akrophonische Zeichen der proto-sinaitischen Schrift (nach Kealey 1990, 212)

rakter kamen dafür vorrangig in Frage. In einer alten Kulturlandschaft wie dem Nahen Osten waren im 2. Jahrtausend v. Chr. etliche Systeme mit linearen Zeichen bekannt, aus deren Repertoire die Übernahme von visuellen Strukturelementen für die neue Technologie des Alphabets möglich war. Die Schriftinnovatoren verwendeten das Potential an linearen Zeichen, die in ihrer Kulturlandschaft bekannt waren, wie einen Steinbruch für die Neustrukturierung des alphabetischen Zeichenrepertoires. Die Annahme einer auch nichtakrophonischen Zeichenselektion bietet die einzige Erklärung für die Parallelismen im Buchstabenbestand der ältesten Alphabete mit linearen Zeichen der Byblos-Schrift und der ägäischen Syllabare (Tabelle 25.3). Es ist davon auszugehen, daß bei der willkürlichen Selektion nach dem „Steinbruchprinzip“ nicht unbedingt die Lautbezeichnung eines Zeichens im älteren Schriftsystem entscheidend war, sondern distinktive Merkmale seiner graphischen Form, wodurch es sich von anderen Zeichen absetzte. Auf diese Weise gelangten wahrscheinlich auch solche Zeichen in den Bestand des Buchstabenreper-

25.  Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften

Tab. 25.3: Parallelen zwischen altägäischen, byblischen und altphöniziscen Schriftzeichen

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toires, die nicht motiviert waren, sich somit nicht mit semitischen Ausdrücken assoziieren ließen, und für die es daher auch keinen semitischen Namen gibt. Andererseits ist auch damit zu rechnen, daß bestimmte lineare Zeichenformen durch sekundäre Ausdeutung mit semitischen Appellativen in Verbindung gebracht wurden, was dann ihre phonetische Festlegung nach dem Prinzip der Akrophonie bedingte. Ein solcher Prozeß der Ausbeutung älterer Zeichenrepertoires für ein neu zu konstituierendes System entspricht auch der Zeichenselektion bei den Nubiern, die das System der Hieroglyphen und des Demotischen als Steinbruch für das meroitische Schriftsystem verwendeten. Direkt vergleichbar ist auch die selektive Adaption von Keilschriftzeichen zur Schreibung des Ugaritischen. Der U mstand, daß die Zeichenselektion für die ältesten Versionen des Alphabets nach verschiedenen Prinzipien organisiert war, und zwar nach dem der Akrophonie sowie nach dem „Steinbruchprinzip“ (bzw. von deren Kombination), ist nicht ungewöhnlich, wenn man bedenkt, daß das visuelle Zeichenrepertoire in keiner der Originalschriften der Welt nur auf einem einzigen Prinzip beruht. Im alteuropäischen Schriftsystem gab es von Anfang an piktographische (d. h. motivierte) und auch rein abstrakte (d. h. graphisch arbiträre) Zeichen. Ähnliches gilt für den Zeichenbestand der altsumerischen Schrift, der nur zu einem Teil ideographischen U rsprungs ist. Gerade im Fall der historischen Alphabetschriften zeigt sich immer wieder, daß sich das Zeichenrepertoire aus verschiedenen Quellen rekrutiert (z. B. die koptische Schrift mit griechischen und demotischen Zeichen, die kyrillische Schrift mit griechischen und hebräischen Zeichen sowie mit gnostisch-griechischen magischen Symbolen, das syrjänische Alphabet mit kyrillischen Zeichen und einheimischen Besitzerzeichen). Die sozialen Funktionen des Alphabetgebrauchs waren von Anbeginn vielfältig. Die ältesten proto-sinaitischen Inschriften finden sich auf Kultobjekten (z. B. Sandsteinsphinx). Wichtig ist die schriftliche Fixierung der Namen von Gottheiten und ihrer Attribute. Der Sinngehalt der längeren Inschriften aus dem Sinai bleibt trotz wörtlicher Entzifferung meist dunkel. Religiöse Bezüge scheinen aber vorzuherrschen. Dies glt auch für die Inhalte der proto-kanaanäischen Inschriften aus Palästina. Das Schrifttum im ugaritischen Keilschriftalphabet umfaßt mythische Literatur, Formeln ritueller Sprache und administrative

III. Schriftgeschichte

Tab. 25.4: Das ugaritische Keilschriftalphabet (nach Healey 1990, 215)

Dokumente. Es existierten zwei Varianten des ugaritischen Alphabets, eine ältere mit einem größeren Zeichenbestand und eine jüngere mit weniger Zeichen (Tabelle 25.4). Aufzeichnungen in diesem Alphabet, und zwar in beiden Varianten, findet man nicht nur in U garit selbst, sondern auch in Syrien (Tell Nebi Mend), im Libanon (Sarepta), in Palästina (Ta‛anach, Nahal Tavor, Bet Shemesh) und sogar auf Zypern (Hala Sultan Tekke), wohin rege Handelsbeziehungen bestanden. Vom ugaritischen Keilschriftalphabet sind auch zwei Abecedarien überliefert, die die Buchstabenzeichen in einer voneinander abweichenden Ordnung wiedergeben. In dem Abecedarium aus U garit mit seinen 27 Hauptzeichen findet sich die alte semitische Anord-

25.  Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften

nung der Konsonanten, wie sie später auch im phönizischen und hebräischen Alphabet erscheint (d. h. Aleph, b, g, d ...). Dagegen ist die Ordnung der Zeichen im Abecedarium von Bet Shemesh (mit 29 Hauptzeichen) die gleiche wie in den südarabischen Alphabeten (d. h. h, l, ḥ, m ...; Healey 1990, 217 f). Das ugaritische Alphabet ist das älteste vollständige Zeicheninventar dieses Schrifttyps, das bisher bekannt ist. Allerdings sind alphabetische Schreibweisen selbst älter, wie die Inschriften aus dem Sinai beweisen. Namen der Buchstaben im Alphabet aus U garit sind nicht überliefert. Die Buchstabenordnung im Abecedarium von Bet Shemesh weist den südarabischen Zweig der Alphabetschriften als ebenso alt aus wie die ugaritisch-palästinische Affiliation. Aus dem 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. stammende Texte aus Babylon und Elat am Golf von Akaba stellen — nach ihrem Schriftduktus zu schließen — ein Bindeglied zwischen den proto-kanaanäischen und südarabischen Schriftvarianten dar. Von den südarabischen Schriften sind die sabäische und die äthiopische die wichtigsten Vertreter (Haarmann 1990, 325 ff; → Art. 21, 23). Die Schriftrichtung ist in den ältesten Dokumenten noch nicht festgelegt. In den SinaiInschriften findet man links- und rechtsläufige sowie vertikale Schreibweisen. Texte aus U garit sind meist rechtsläufig (wie die klassischen griechischen Texte), einige auch linksläufig. In den ältesten südarabischen Texten (vielleicht aus der Zeit vor ca. 500 v. Chr.) findet sich eine Schreibweise, die aus der archaischen griechischen Schrifttradition als Boustrophedon (nach der Art eines Ochsen, der das Feld pflügt) bekannt ist (z. B. Zeile 1: von links nach rechts, Zeile 2: von rechts nach links, Zeile 3: von links nach rechts, usw.; oder Zeile 1: von rechts nach links, Zeile 2: von links nach rechts ...). Die konventionelle Festlegung der Schriftrichtung von rechts nach links erfolgt erst gegen Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. mit der Ausbildung des klassischen phönizischen Alphabets.

3.

Das phönizische Alphabet

Das Phönizische, eine der wichtigsten semitischen Kultursprachen des Altertums, ist im Frühstadium seiner Schriftlichkeit in drei verschiedenen Schriftsystemen aufgezeichnet worden: in der byblischen Silbenschrift, wobei die Zuordnung von Vokalen zu Konsonantzeichen schon teilweise willkürlich erfolgt, im

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ugaritischen Keilschriftalphabet (Text aus Sarepta im Libanon) und in der 22 Buchstabenzeichen umfassenden Variante des Alphabets, die als ‘phönizisch’ weltbekannt wurde. Auch das phönizische Alphabet wurde in seiner klassischen Form in der Hafenstadt Byblos ausgebildet. Insofern spielt diese Region für die damalige Konsolidierung und Verbreitung der Alphabetschrift eine entscheidende Rolle. Von den drei Schriftsystemen dieser Sprache ist nach 1200 v. Chr., nachdem U garit von den „Seevölkern“ zerstört worden war, die phönizische Alphabetversion die wichtigste der Küstenregion. Das Anfangsstadium in der Entwicklung der phönizischen Schrift läßt sich nur an wenigen Inschriften seit Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. verfolgen (Haarmann 1990, 269 f; → Abb. 20.4 auf Tafel V). In ihrem klassischen Duktus erscheint die Schrift bereits um 1050 v. Chr. in der Inschrift auf dem Sarkophag des Königs Ahiram aus Byblos. Der hier dokumentierte Entwicklungsstand war die Ausgangsbasis für zahlreiche Schriftadaptionen außerhalb des phönizischen Siedlungsgebiets (s. 4 und 5). Die Hebräer (d. h. die hebräisch-sprechenden Juden) und die Moabiter haben in einigen Schriftdenkmälern aus dem 9. Jahrhundert v. Chr. die phönizische Schrift und Sprache verwendet, so im Bauernkalender von Gezer und auf der Stele des moabitischen Königs Meša. Die phönizische Schrift hat interne Wandlungen erlebt und ihren Duktus variiert. Bezieht man den Schriftgebrauch in der phönizischen Kolonie von Karthago mit ein, wurde die phönizische Originalvariante des Alphabets rund eineinhalb Jahrtausende verwendet (Tabelle 25.5). Spätere Entwicklungen der phönizischen Schrift schließen auch kursive Varianten ein. Eine Tendenz zur Kursivierung läßt sich auch in den karthagischen Inschriften feststellen. Phönizische Inschriften hat man in einem weiten Gebiet gefunden, von Anatolien im Norden, Zypern und Kreta im Westen, Mesopotamien im Osten bis Palästina im Süden. Das westliche Mittelmeer gehörte zur karthagischen Interessensphäre. Die karthagische Variante der phönizischen Schrift ist in Inschriften aus Nordafrika, Südspanien, Südfrankreich, Sardinien, Sizilien und Malta dokumentiert. Allein die Geographie der Inschriftenfunde ist ein beredtes Zeugnis für das ausgedehnte Netz interkultureller Kontakte, das die Phönizier aufgebaut haben. Die Annahme der phönizischen Schrift durch die verschiedenen Völker in den Län-

III. Schriftgeschichte

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der Europäer seit dem 16. Jahrhundert nach Amerika, Asien und Afrika.

4.

Tab. 25.5: Varianten der phönizischen und punischen Schrift (Auszug aus Haarmann 1990, 273)

dern rings um das Mittelmeer war rein prestigemäßig motiviert, denn die Handelskontakte der Phönizier standen nicht im Zeichen einer Eroberungspolitik, als deren Folge mit der Zwangsadaption phönizischer Kulturmuster zu rechnen wäre. Insofern ist der Prozeß der frühen Alphabetadaption im Mittelmeerraum ein illustratives Beispiel für einen Kulturtransfer ohne machtpolitischen Hintergrund. Die damaligen interkulturellen Kontakte der Phönizier und ihr Schriftexport unterscheiden sich grundlegend von den späteren Trends der Alphabetverbreitung in den Provinzen des römischen Reiches oder von dem Zwangsexport der Lateinschrift im Rahmen der imperialistischen Expansionspolitik

Die europäischen Affiliationen der phönizischen Schrift

Die Handelskontakte der Phönizier im östlichen Mittelmeer sind nicht nur wegen der geographischen Nähe Zyperns, Kretas und der ägäischen Inselwelt die intensivsten, sondern auch deshalb, weil die phönizischen Kauffahrer die von den Minoern erschlossenen und von den Mykenern frequentierten Schiffsrouten befuhren und sich nach dem U ntergang von deren Seemacht das Handelsmonopol sicherten. Bereits im ausgehenden 2. Jahrtausend v. Chr. bestanden rege Kontakte mit Zypern und Kreta. Die Kenntnis der phönizischen Schrift auf Kreta geht mindestens auf das ausgehende 10. Jahrhundert v. Chr. zurück. In diese Zeit wird die älteste phönizische Inschrift der Insel datiert. Neuesten Schriftfunden zufolge bietet Kreta auch das Kulturmilieu, in dem wahrscheinlich die älteste Adaption der phönizischen Schrift in Europa stattfand. Traditionellerweise wird die Übernahme der phönizischen Schrift im ägäischen Raum als typisch griechische Kulturinnovation verstanden. Das Bild der damaligen interkulturellen Kontakte im östlichen Mittelmeer ist jedoch komplexer. Man muß sich mit Harris (1989, 45) fragen, wozu denn die Handel treibenden Griechen die Schrift brauchten, wo doch die Handelskontakte jahrhundertelang ohne nennenswerten Schriftgebrauch funktioniert hatten. Zudem sind die ältesten erhaltenen Schriftdokumente in griechischer Sprache alles andere als Kaufverträge, Inventarlisten oder sonstige Wirtschaftstexte, nämlich Grab- und Weiheinschriften und Fragmente poetisch-epischer Sprache. Insofern waren die ersten Griechen, die die phönizische Schrift den lautlichen Gegebenheiten ihrer Muttersprache anpaßten, keine Kaufleute oder Seefahrer. Aus den wirtschaftlichen Bedingungen der damaligen Handelskontakte erklärt sich die frühe Schriftadaption nicht. Einen schriftfreundlichen Kulturtrend gab es allerdings auf Kreta. Entgegen älteren Auffassungen, wonach die dorische Eroberung der Insel im 11. Jahrhundert v. Chr. die völlige Vernichtung der minoisch-mykenischen Restkultur zur Folge gehabt hätte, deuten die archäologischen Funde eher darauf, daß sich

25.  Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften

auf Kreta eine kulturelle Symbiose entfaltete, deren Träger die Eteokreter (späte Nachkommen der Minoer), mykenische Griechen und dorische Einwanderer waren. Alsop (1970, 279) spricht von einer ‘Greco-Minoan synthesis’. Die Erinnerung an die Schriftlichkeit (in Linear A und B) war auf Kreta noch lebendig, und von den Griechen in Zypern war bekannt, daß sie ihre Sprache in einem der zyprischen Syllabare aufzeichneten. Die Erneuerung der Schriftlichkeit auf der Basis der damals verfügbaren modernsten Technologie, dem phönizischen Alphabet, war daher in einem solchen Kulturmilieu naheliegend. An der Ausarbeitung der ältesten Alphabetversion auf Kreta, die für das 10., spätestens 9. Jahrhundert v. Chr. angesetzt werden kann, waren mit Sicherheit Eteokreter und Griechen beteiligt, denn zu den ältesten Inschriften in der neuen Schrift gehören solche in Eteokretisch, d. h. in einer nichtgriechischen Sprache. Das Verdienst, das erste vollständige Alphabet der Welt geschaffen zu haben, gebührt den Kulturvertretern jenes Kontaktmilieus auf Kreta, keineswegs ausschließlich den Griechen, die diesen Ruhm einseitig für sich in Anspruch nahmen. Auch auf anderen Inseln der Agäis haben Griechen mit der neuen phönizischen Schrifttechnologie experimentiert, der entscheidende Durchbruch dürfte aber auf Kreta erzielt worden sein. Hier finden sich jedenfalls die ältesten Zeugnisse einer vollständigen Alphabetschrift, in der auch die Vokale bezeichnet werden (s. Haarmann 1994, chapter 7). Außerdem ist hier eine archaische Schreibweise des phönizischen Jodh überliefert, die sich nirgendwo sonst in der griechischen Welt findet (Duhoux 1981). Annahmen, wonach die Alphabetschrift bereits vor 1400 v. Chr. in den ägäischen Raum ausgestrahlt haben soll (z. B. Bernal 1990), sind unwahrscheinlich. Die Erweiterung des phönizischen Konsonantenalphabets auf die Schreibung auch der vokalischen Laute bot sich als Alternativlösung im schwierigen Anpassungsprozeß einer Schrift für eine lautlich ganz anders strukturierte Sprache als die an, für die sie ursprünglich geschaffen worden war. Die Positionen im Alphabet, die für dem Eteokretischen und Griechischen fremde Laute des Phönizischen reserviert waren, wurden mit Vokalen besetzt. Auf diese Weise wurden ungriechische Konsonanten und Halbkonsonanten mit den griechischen Vokalen (d. h. Aleph = α, He = ε, Heta = η, Jodh = ι, Ajin = ο) assoziiert. Zu den Innovationen des eteokretisch-griechi-

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schen Alphabets gehörten auch die Zusatzzeichen Phi, Khi und Psi, für die es keine Vorbilder in der phönizischen Schrift (oder irgendeiner anderen Schriftvariante des Nahen Ostens) gibt. Diese Zeichen wurden nach dem „Steinbruchprinzip“ aus dem Inventar der alten kretischen Linearsysteme selektiert und somit in die Alphabetschrift übernommen. Der Weg der in Kreta initiierten Alphabetschrift ist als Kulturinnovation wegen ihrer Verwendung zur Aufzeichnung des Griechischen allgemein bekannt (Tabelle 25.6). Die eteokretische Schrifttradition blieb zeitlich wie räumlich begrenzt. Das Eteokretische stirbt schließlich als gesprochene Sprache aus. Die letzten Zeugnisse stammen aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., und zwar aus Ostkreta. Die ersten Nichtgriechen, die sich der neuen Schrifttechnologie bedienen, sind die Etrusker, die ihre Schriftversion wahrscheinlich über ihre regen Kontakte zum Handelszentrum Chalkis auf Euböa adaptierten. Über etruskische Vermittlung gelangte die Schriftlichkeit zu den Latinern, und zwar im bikulturellen Milieu der damaligen Provinzstadt Rom. Jahrhundertelang stand die spärliche Schriftlichkeit bei den Römern im Schatten ihrer etruskischen Lehrmeister, des ‘Volkes der Bücher’. Aus der Zeit vor dem 3. Jahrhundert v. Chr. sind nur neun lateinische Inschriften, dagegen Tausende von etruskischen Schriftzeugnissen überliefert (Bonfante 1990, 345). Über die direkten Kontakte der Phönizier und Karthager mit der vorrömischen Bevölkerung Spaniens gelangte der Schriftexport auch dorthin. Die iberische Schrift, die seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert v. Chr. in Inschriften bezeugt ist (U ntermann 1975, 1980), ist ein direkter Ableger des phönizischen Vorbilds, die Assoziation bestimmter Konsonantenzeichen mit vokalischen Lautwerten entspricht allerdings der für das griechische Alphabet typischen Verteilung. Eine Besonderheit der iberischen Schrift ist ihr Bestand an zusätzlichen Silbenzeichen. U ngeklärt ist, ob es sich bei dem Prinzip der Silbenzeichenverwendung im Iberischen, einer vorindoeuropäischen Sprache, um ein altes Substrat unbekannter Identität oder um eine strukturelle „Innovation“, gleichsam eine Regression vom rein alphabetischen zum teilweise syllabischen System, handelt. Mit der iberischen Schrift, die sich in eine südliche (bastuloturdetanische) und eine nördliche (iberische) Variante differenziert,

III. Schriftgeschichte

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Tab. 25.6: Frühe Varianten des griechischen Alphabets (8. und 7. J h . v. Chr.)

wurde nicht nur das Iberische selbst, sondern auch das Keltische, die iberisierte Sprachform der Keltiberer, geschrieben (Schmidt 1992). Die südlichen Inschriften sind linksläufig, wie das Phönizische und Punische, die nördlichen dagegen rechtsläufig, wie das Griechische seit dem 7. Jahrhundert v. Chr.

5.

Die nahöstlichen Affiliationen der phönizischen Schrift

Der Kulturtransfer der phönizischen Schrift verlief nicht nur über den Seeweg, sondern auch im Inland. Die semitischen Nachbarn der Phönizier, die Hebräer im Süden und die

25.  Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften

Aramäer im Osten, übernahmen die phönizische Schrift und adaptierten sie für ihre Sprachen (Haarmann 1990, 299 ff). Die althebräische Schrift herrschte bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. vor. Die meisten althebräischen Inschriften stammen aus dem 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. Dazu gehört auch die Siloah-Inschrift aus Jerusalem (um 700 v. Chr). In jener Zeit adaptierten die Samaritaner die althebräische Schrift für ihre Sprache. Auch später wurde die althebräische Schriftvariante noch vereinzelt gebraucht, so in Münzlegenden (2. Jh. v. Chr.; 1. und 2. Jh. n. Chr.). In den biblischen Texten aus Qumran findet sich ein isoliertes Beispiel für die archaische Verwendung der althebräischen Schrift, nämlich die Schreibung des Gottesnamens Jahwe. Während der babylonischen Gefangenschaft kamen die Hebräer in direkten Kontakt mit der aramäischen Sprache und Schrift. Als Folge der interkulturellen Beziehungen übernahmen die Hebräer das aramäische Alphabet und gestalteten dessen Zeichen zur Form der typisch hebräischen Quadratschrift aus. Obwohl Teile des Alten Testaments zunächst in althebräischer Schrift aufgezeichnet worden sind, wurde später ausschließlich die Quadratschrift verwendet. Die Vokalisierung der hebräischen Schrift durch Punkte und Striche erfolgt relativ spät, und zwar erst im 5. Jahrhundert, als das Hebräische für die meisten Juden nurmehr eine Fremdsprache ist. Im 8. Jahrhundert wurde die Quadratschrift zusammen mit dem Judaismus von den Chasaren, einem Turkvolk im nördlichen Kaukasusgebiet, übernommen. Bei den Karaimen, einem judaisierten Turkvolk, diente das hebräische Alphabet bis zum Zweiten Weltkrieg zur Schreibung ihrer Muttersprache. Die Schriftzeugnisse des Aramäischen sind wesentlich zahlreicher und thematisch verzweigter als die in althebräischer Schrift. Inschriften in aramäischer Schrift und Sprache finden sich an Gebäudefassaden, auf Grabstelen, längere Texte auf Papyrus und Leder. Ähnlich wie das Griechische im östlichen Mittelmeer spielte das Aramäische im Nahen Osten eine wichtige Rolle als interkulturelle Kontaktsprache. Außer von den Aramäern selbst, aus deren Königreich viele Inschriften überliefert sind, wurde Aramäisch von Assyrern und Ägyptern für ihre diplomatische Korrespondenz ebenso benutzt wie von den Perserkönigen als Amtssprache ihres Reiches. Anders als im Fall der konservativen Schriftvarianten des Phönizischen und Althebräi-

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schen entwickelte die aramäische Schrift einen von der historischen Originalversion deutlich abweichenden kursiven Schreibstil (Tabelle 25.7). Während man die aramäische Kursive in Palmyra und Nabatäa auch als Monumentalschrift verwendet, wird sie anderswo für Texte auf Papyrus und auf Leder bevorzugt. Die meisten und besterhaltenen Papyri (6. — 3. Jh. v. Chr.) stammen aus Ägypten (Hermopolis, Elephantine, Arsham-Dokumente). Die althebräische und aramäische Schrift haben einige Eigenheiten entwickelt, die in der phönizischen Schrift unbekannt sind. Verschiedentlich werden auch Vokale geschrieben. Im aramäischen Schriftgebrauch betrifft dies inlautende und auslautende Vokale, die Tendenz zur Vokalbezeichnung im Althebräischen zeigt sich bei der Schreibung von h, mit dem /o/, /a/ oder /e/ am Wortende geschrieben werden konnte. Der Buchstabe w diente zur Schreibung von /u/, mit y wurde der Vokal /i/ bezeichnet. Weder im Althebräischen noch im Aramäischen ist die Vokalisierung der Buchstabenschrift konsequent durchgeführt worden. Insofern unterscheiden sich beide Systeme von der griechischen Alphabetschrift mit ihrer konsequenten Vokalbezeichnung. Andererseits zeigt die gleichgerichtete Tendenz im Schriftgebrauch des Nahen Ostens, daß die Vokalbezeichnung als wünschenswerte Erweiterung der Schreibkonventionen empfunden wurde.

6.

Zur Rolle von Kultursprachen und Basisschriften für die Verbreitung des alphabetischen Prinzips

Kontinuität und Ausbreitungsdynamik waren von Anbeginn wichtige Faktoren für die Tradierung von Schrift. Die Kulturgeschichte kennt viele Beispiele dafür, daß einzelne Schriftsysteme in enger Assoziation mit bestimmten Kultursprachen besondere Impulse für die Verbreitung der Schriftlichkeit vermittelten. Die babylonische Keilschrift als visueller Ausdruck des Akkadischen in Assoziation mit dieser Kultursprache war eine solche Kombination, und diese Kulturträger strahlten in viele Regionen des Alten Orients aus. Die zahlreichen Affiliationen der Keilschrift, die elamische, churritische, hethitische, urartäische und altpersische Variante, leiten sich von der akkadischen Basisschrift ab. In dieser Verwendung ist „Basisschrift“ eine kulturhistorische Kategorie. Andere, nichtalphabetische Basisschriften des Alter-

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III. Schriftgeschichte

Tab. 25.7: Affiliationen der phönizischen Schrift im Nahen Osten (nach Healey 1990, 223)

25.  Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften

tums waren Linear A auf Kreta, wovon sich die zyprischen Silbensysteme und Linear B ableiten, die ägyptische Schrift, aus der die meroitische Schrift entwickelt wurde, und das System der chinesischen Logogramme, aus dessen Zeichenvariation die japanischen Syllabare, das vietnamesische Nom-System und die koreanische Hanja-Schreibweise abgeleitet worden sind (→ Art. 27). Ebenfalls auf der Kombinatorik von Basisschrift und Kultursprache beruht die Dynamik der schrifttypologischen Affiliation und geographischen Ausbreitung von Alphabetschriften. Von den regionalen Schriftaffiliationen der phönizischen Basisschrift entwickelten sich ihrerseits etliche zu Kulturträgern mit Eigenprestige, die griechische, etruskische und lateinische Schrift in Europa, die althebräische und aramäische im Nahen Osten, zeitlich später die klassisch-arabische Variante des Alphabets (Al Samman 1988). Basisschriften entwickeln jeweils eine spezifische Ausstrahlungsdynamik. Diese kann minimal sein wie im Fall der althebräischen Schrift, von der es nur die samaritanische Abzweigung gibt, andererseits hochgradig wie beispielsweise bei der griechischen Schrift, von der sich Dutzende von Schriftsystemen direkt oder indirekt ableiten. Eine Basisschrift definiert sich daher als solche aufgrund ihrer Affiliationen, nicht aufgrund ihrer schrifttypologischen Originalität oder Eigenverbreitung (Tabelle 25.8). Die Lateinschrift ist weder eine Originalschrift (wie etwa die phönizische), noch war sie ursprünglich weit verbreitet. Im Anfang war sie auf die historische Landschaft Latium beschränkt. Heutzutage jedoch ist sie, gemessen an den Hunderten von lokalen Adaptionen in fünf Kontinenten, die erfolgreichste Basisschrift aller Zeiten. Ebenfalls hinsichtlich ihrer Stilvarianten ist die lateinische Schrift die produktivste der Geschichte (Tabelle 25.9). Die Assoziation eines Schriftsystems mit einer bestimmten Kultursprache, als deren Kulturträger sie fungiert, ist zwar eine entscheidende Voraussetzung dafür, daß sich Schriftaffiliationen ausbilden können, der konkrete Prozeß der Abzweigung neuer Schriftvarianten von einer Basisschrift ist damit aber nicht von vornherein festgelegt. Sprachökologische Faktoren bestimmen jeweils die Gerichtetheit der Schriftvariation. Charakteristisch für die klassische Periode der von der phönizischen Schrift initiierten di-

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rekten und indirekten Alphabetvariationen (ca. 1000 — ca. 500 v. Chr.) ist der natürliche Prestigedruck des Alphabets als moderner Schreibtechnologie. Im wesentlichen frei von machtpolitischen Verstrickungen erfolgt die Ausbreitung der Alphabetschrift in jener Zeit, über griechische und etruskische Vermittlung, bis nach Italien, über aramäische Vermittlung bis nach Persien und Indien (s. Haarmann 1990, 521 ff zur Ausgliederung der indischen Schriftsysteme). Es gab später immer wieder ähnlich wirksame Prozesse, wo der Prestigedruck einer Basisschrift maßgebend war für deren Ausbreitungsdynamik. Die zahlreichen lokalen Affiliationen der Lateinschrift im mittelalterlichen Europa, die regionalen Adaptionen der kyrillischen Schrift bei den Süd- und Ostslawen, die Ausgliederung der aramäischen Schrift in Mittelasien, die zahlreichen Affiliationen der indischen Brahmi-Schrift innerhalb Indiens (→ Art. 24) und in Südostasien sowie die Adaption der arabischen Schrift bei den islamisierten Turkvölkern Osteuropas und Westasiens sind Beispiele dafür. Auch die Latinisierungskampagne der sowjetischen Sprachplanung (Isaev 1979, 59 ff), die in den zwanziger Jahren noch im Zeichen einer Demokratisierung stand, ist nicht wie die spätere Kyrillisierung der nichtrussischen Sprachen machtpolitisch motiviert, sondern beruht auf dem leninistischen Ideal, wonach die Einführung der Lateinschrift die Revolution im Kulturleben des Ostens bedeutet (→ Art. 66). Machtpolitische Interessen herrschten dagegen vor im Prozeß der Verbreitung der Lateinschrift im römischen Reich sowie später während der Zeit der europäischen Expansionspolitik seit dem 16. Jahrhundert. Ein eklatanter Fall von Zwangsexport der Lateinschrift ist deren Einführung in Mittelamerika als Folge des kulturellen Genocids der spanischen Konquistadoren. Die Kolonialpolitik der Europäer in Afrika und Asien praktizierte das ältere Prinzip cuius regio, eius religio und adaptierte es für die Kulturpolitik als cuius regio, eius lingua et litterae et scriptura . Die Lateinschrift verwurzelte in den ehemaligen Kolonialgebieten so stark, daß sie dort heutzutage unverzichtbar ist. Vietnam ist ein Beispiel für diese Situation. Trotz einer vehementen antikolonialistischen Politik und Sprachplanung ist das lateinische Alphabet zur Schreibung des Vietnamesischen ein Kristallisationspunkt der nationalen Identität aller Vietnamesen (Haarmann 1990, 118 ff).

Tab. 25.8: Historische Affiliationen von Alphabetschriften (mit Korrekturen nach Stiebner & Leonhard 1985, 12/13)

342 III. Schriftgeschichte

25.  Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften

Tab. 25.9: Schreibstile des lateinischen Alphabets (nach Stiebner & Leonhard 1985, 28)

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III. Schriftgeschichte

344

7.

Isolierte Alphabetschöpfungen in Europa und Asien

Zu den interessantesten Experimenten mit dem alphabetischen Prinzip gehören die Schriftschöpfungen in verschiedenen Regionen Europas und Asiens. Hierbei handelt es sich jeweils um Originalalphabete ohne den Charakter von Basisschriften. Diese Charakteristik gilt für die irische Ogham-Schrift, für die armenische und georgische Schrift im Kaukasus, für die älteste Schrift der Slawen, die Glagolica, für die altsyrjänische Schrift im Nordosten Europas und für das koreanische Hangul-System. Diese Schriftschöpfungen entwickelten sich unter besonderen kulturellen Bedingungen, die lokal begrenzt blieben, und zwar räumlich sowie zeitlich unabhängig voneinander. Im Kaukasus allerdings gab es in der Frühphase der Christianisierung rege Kontakte zwischen Armeniern und Georgiern. Die in einigen Hundert (ca. 360) Steininschriften aus Irland, Wales, Schottland und von der Insel Man überlieferte Ogham-Schrift wurde auf der Basis des alphabetischen Prinzips und wahrscheinlich in Anlehnung an die Lateinschrift als ein System von Strichzeichen (für die Konsonanten) und Punktzeichen (für die Vokale) in vorchristlicher Zeit ausgebildet. Einige der frühen Schriftzeugnisse in archaischem Irisch lassen sich ins 3. Jahrhundert n. Chr. datieren. Vielleicht ursprünglich von Druiden als Geheimschrift konzipiert, entwikkelte sich das Ogham-Alphabet zum bevorzugten Medium für Grabinschriften in Stein. Die Ogham-Schrift wurde den Bedürfnissen der christlichen Schriftlichkeit angepaßt und war bis ins 7. Jahrhundert neben der Lateinschrift in Gebrauch (Haarmann 1993 b). Im Zuge der von Syrien aus betriebenen Christianisierung des Kaukasus entwickelten sich in Armenien (seit Anfang des 5. Jahrhunderts) und in Georgien (seit Mitte des 5. Jahrhunderts) regionale Schriftkulturen. Die Schriftschöpfung des armenischen Alphabets (mit 38 Buchstaben) geht auf Mesrop zurück, den ersten Bischof des Landes und Initiator der altarmenischen religiösen Literatur. Nach armenischer und georgischer Überlieferung soll Mesrop auch die georgische Schrift geschaffen haben. Dies betrifft die ältere der beiden georgischen Alphabetvarianten, die Hutsuri-Schrift („Schrift der Priester“) mit 38 Buchstaben. Die Mḫedruli-Schrift („Schrift der Krieger“) ist eine jüngere Entwicklung, die erst seit dem 13. Jahrhundert verwendet

wird. Zwar erkennt man im georgischen Alphabet eine Beziehung zum Organisationsprinzip der griechischen Schrift (z. B. Reihenfolge der Buchstaben und deren Zahlenwerte), die Zeichen sind allerdings nicht griechischer Herkunft. Ebenso wie im Fall der armenischen Schrift gilt auch für das georgische Alphabet, daß dessen Buchstaben teilweise frei erfunden sind, teilweise ältere lokale Besitzerzeichen nachahmen. Die älteste Schrift der Slawen, das glagolitische Alphabet, wurde von dem griechischen Missionar Konstantinos (später Kyrillos genannt, 827—869) geschaffen. Bis heute besteht U neinigkeit darüber, ob die griechische Minuskelschrift des 9. Jahrhunderts das Vorbild für die Glagolica war, oder ob diese Schriftart eine freie Erfindung des Kyrill ist. Die Zeichen lassen sich nach ihrer äußeren Erscheinungsform nur schwer mit griechischen Buchstaben in Verbindung bringen. Die glagolitische Schrift wurde zur Aufzeichnung des ältesten Übersetzungsschrifttums in altslawischer Sprache (Altkirchenslawisch makedonischer Prägung) in Mähren und Kroatien verwendet. Nur in Kroatien konnte sich die Glagolica im liturgischen Schrifttum bis in die Neuzeit behaupten. Im 15. Jahrhundert entstanden auch Druckwerke in glagolitischer Schrift. Die Glagolica ist die einzige von Kyrill geschaffene Schriftvariante. Das Zeichensystem der kyrillischen Schrift, obwohl nach ihm benannt, wurde von einem Schüler des Methodios, Kliment von Ohrid, ausgearbeitet. Eine wenig bekannte Schriftschöpfung ist das altsyrjänische Alphabet, das von dem russischen Missionar Stefan von Perm zur Schreibung des Syrjänischen, einer finnischugrischen Sprache, ausgearbeitet wurde. Zu einer Zeit, als die russisch-orthodoxe Kirche noch gar kein Programm zur Missionierung nichtrussischer Völker entwickelt hatte, missionierte Stefan zwischen 1373 und 1395 im Siedlungsgebiet der Syrjänen im Nordosten Europas. U m 1375 schuf er eine Schrift, Abur-Schrift genannt, die sich einerseits an das griechische und kyrillische Alphabet anlehnt, in deren Zeichenbestand andererseits Eigentumsmarken (Tamga) der Syrjänen aufgenommen worden sind. In der Abur-Schrift zeichnete Stefan von ihm übersetzte religiöse Texte ins Syrjänische auf (Haarmann 1993 a, 204 f). Bis ins 17. Jahrhundert blieb die alte Schrift bei den Syrjänen in Gebrauch. Erst hundert Jahre nach der Missionierung durch

25.  Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften

Stefan wurde das Gebiet der Syrjänen dem Moskowiterstaat einverleibt. Vielleicht die eigenwilligste aller Alphabetschöpfungen ist die koreanische HangulSchrift, die in den vierziger Jahren des 15. Jahrhunderts entstand. Da die ältere Schreibweise des agglutinierenden Koreanischen mit chinesischen Schriftzeichen (Ido-System) unbefriedigend geblieben war, wurde von König Sejong eine radikale Schriftform durchgeführt. Ein Gelehrtengremium unter seiner Leitung arbeitete die Grundlagen einer Hunmin Chong’um („volkstümliche Schrift“) genannten alphabetischen Schriftvariante aus, die in einer königlichen Verlautbarung im Jahre 1446 der Öffentlichkeit vorgestellt

345

wurde. Das alphabetische Prinzip war im damaligen Korea von den mongolischen Schriftvarianten bekannt. Die Zeichen der Hunmin Chong’um, die später in Hangul („erhabene Schrift“) umbenannt wurde, sind keinem Alphabet entlehnt, sie sind aber auch keine willkürlichen Erfindungen. Vielmehr hat man bei der Schreibung der Laute experimentalphonetische Beobachtungen eingebracht, wobei die Artikulationsbasis einzelner Laute in der Strichkomposition des visuellen Zeichens zu erkennen ist (Tabelle 25.10). Zudem wurden bei der Zeichenselektion Elemente der chinesischen Kosmologie berücksichtigt. Die dreigliedrige Differenzierung der Vokalzeichen beispielsweise entspricht der Dreiteilung von

Tab. 25.10: Die Komponenten des koreanischen Hangul-Alphabets (nach dem McCune-Reischauer-System); (nach Anders 1988, 362/63)

Vokalzeichen

III. Schriftgeschichte

346

Himmel (kugelförmiges Zeichen), Erde (waagerechter Strich) und Mensch (senkrechter Strich); Haarmann 1993 c; → Art. 27 Zf. 2.3.

8.

Die Rolle von Alphabetschriften in der modernen Sprachplanung

Die Festschreibung und Fortschreibung von Standardsprachen auf der Basis einer alphabetischen Schreibweise ist das wichtigste Instrumentarium in der Sprachplanung des 20. Jahrhunderts. Die historische Entwicklung hat es mit sich gebracht, daß in weiten Teilen der Welt gar keine Alternative zum Alphabet existiert. Die Dynamik der Schriftreform im historischen Experiment der sowjetischen Sprachplanung war zunächst auf die Durchsetzung der Lateinschrift ausgerichtet, in den dreißiger Jahren dagegen erfolgte die U mstellung auf die Kyrillica, in der über siebzig Schriftsprachen in der ehemaligen Sowjetunion geschrieben wurden (→ Art. 66). In Indien, wo heutzutage rund ein Drittel (ca. 300 Mill.) der Landesbevölkerung lesen und schreiben kann, sind insgesamt vierzehn Amtssprachen und neunzehn alphabetische Schriftvarianten offiziell anerkannt. Kampagnen zur Alphabetisierung und Intensivierung der Schulausbildung in den Regionalsprachen, von denen insgesamt 67 im U nterricht verwendet werden, gehören seit Jahrzehnten zum ständigen Aufgabenbereich der indischen Sprachplanung (Srivastava, 1984; → Art. 33). Das lateinische Alphabet hat sich in der Moderne als äußerst flexibles System bewährt. Ergänzt durch diakritische Zusatzzeichen ist es sogar effektiv, um eine Tonsprache wie das Vietnamesische zu schreiben. Gleichwohl gibt es für keine Sprache eine hundertprozentige Eins-zu-Eins-Entsprechung von Laut und Schriftzeichen. Die finnische Schriftvariante kommt allerdings dem Ideal recht nahe. Die Zahl der Schriftzeichen in den lokalen Systemen differiert teilweise erheblich. In der Adaption lateinischer Buchstaben spiegelt sich das Prinzip der kulturellen Relativität. Zur Schreibung des Maori auf Neuseeland reichen beispielsweise 13 Buchstaben aus. Die Beschränktheit des Zeicheninventars beruht hier auf der Einfachheit des Lautsystems. Andererseits ist das Inventar von nur 18 Buchstaben zur Wiedergabe von etwa 60 Phonemen im Fall des Irischen ein Spiegel der Reduktion des lateinischen Zeichenbestandes in historischer Zeit. Planvoll ist das lateinische Alphabet zur Verschriftung von autochthonen Sprachen in Amerika und Afrika eingesetzt worden (vgl. Kloss &

McConnell 1978 zu Amerika; Heine, Schadeberg & Wolff 1981, 513 ff zu Afrika). Seit 1979 läuft ein umfassendes Projekt des International African Institute zur Reform aller Schriftsysteme afrikanischer Sprachen.

9.

Literatur

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26.  Die chinesische Schrift

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Harald Haarmann, Helsinki (Finnland)

26. Die chinesische Schrift 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Vorbemerkung Allgemeines Entwicklung der Schriftzeichen und ihrer Formen Der Aufbau der chinesischen Schriftzeichen Arten von chinesischen Schriftzeichen Die Anordnung der chinesischen Schriftzeichen Schluß Literatur

Die chin. Schriftzeichen sind grundsätzlich in den bis heute in Táiwān verwendeten Formen ( fántǐ-zì „Vollformen“, „Langzeichen“) als den Normalformen gegeben. Bei bibliographischen Angaben von Werken aus der Volksrepublik China (Abk.: VRC) werden die dortigen Kurzformen ( jiǎntǐ-zì „Kurzformen“, „Kurzzeichen“) verwendet. Die Transkription hält sich an die auf der 5. Sitzung des 1. Nationalen Volkskongresses der VRC am 11. 2. 1958 verabschiedete pīnyīn -U mschrift des Chinesischen. Bei älteren Sprachstadien findet die Lautschrift der Association Phonétique Internationale Anwendung, da das pīnyīn nur für die Sprache der Gegenwart gilt. Für die Sprachen werden allgemein die gängigen Abkürzungen chin., jap., kor., viet. usw. verwendet. Stehen 2 chin. Aussprachen zwischen einem der beiden Zeichen < oder >, so weist die der Spitze abgekehrte Seite des Zeichens auf die archaisch-

chin. Aussprache hin, die zusammen mit der etymologischen Zeichenerklärung Morohashi 1982 entnommen ist. Herrn Prof. Dr. Alfred Hoffmann (Bochum) bin ich für die mit vielen Ratschlägen verbundene Durchsicht des Manuskripts und die Zurverfügungstellung von Material außerordentlich zu Dank verbunden.

1.

Allgemeines

Entstehung und Entwicklung der frühen Hochkulturen sind eng mit den Flußläufen der großen Ströme verbunden, und so stand auch die Wiege der chin. Kultur in der Nähe der großen Ströme, insbesondere des Huánghé, des Gelben Flusses. Mit Ausnahme der chinesischen wird aber keine der Schriften dieser Kulturen mehr verwendet, und gerade diese Tatsache, daß die chin. Schrift bis heute auf das stolze Alter von mindestens 4000 Jahren, die letzten beiden Jahrtausende davon in unveränderter Gestalt, zurückblicken kann, dürfte mit ein Grund für die Faszination sein, die auch heute noch von ihr ausgeht und die denjenigen nicht mehr losläßt, der sich einmal in ihre Fänge begeben hat. Für eine monosyllabisch-isolierende Tonsprache geschaffen, stand die chin. Schrift von Anfang an vor zwei Hauptproblemen: (a) die ungeheure Zahl von Homophonen und (b) das Fehlen von Flexionsendungen, grund-

348

sätzlich bis heute, insbesondere aber in der klassischen Schriftsprache. Frühere Sprachstufen des Chinesischen bis hin zum Mittelund Frühneuhoch-Chinesischen verfügten und heutige südchin. Dialekte verfügen noch über ein größeres Phoneminventar als die Sprache von Běijīng (Peking) und Nordchina, in der es unter Außerachtlassung der 4 Töne nur 415 lautlich differenzierte Phonemabfolgen (Wörter = Silben), mit Beachtung der (nicht bei allen Wörtern realisierten) Töne nur 1266 unterscheidbare Lautkomplexe gibt (Xīnhuá zìdiǎn 1972). Dort sind 81 Zeichen mit der Lesung li , davon 1 im 1. (lī), 20 im 2. (lí), 15 im 3. (lǐ), 42 im 4. (lì) und 3 im neutralen Ton (li) angegeben (alle Zahlen sind eigene Zählung). Hier muß jede Buchstaben- und damit auch jede Lautschrift versagen, da es ihr an den visuellen U nterscheidungsmöglichkeiten für ein Wiedererkennen fehlt. Auch die Verwendung von Indices, wie sie bei der Transkription des Sumerischen angewendet wird, muß aus demselben Grund scheitern, da es unmöglich ist, ein lì 11 von einem lì 42 zu unterscheiden. Zur genialen Lösung, die die chin. Schrift für dieses Problem gefunden hat, s. u. 3.1.4. — Das Fehlen von Flexionsendungen war nicht ganz so von vitalem Interesse, denn was eine Sprache nicht hat, braucht sie auch nicht zu schreiben; sie schafft ihre syntaktischen Beziehungen auf andere Art und Weise. Trotzdem sind ab und zu Elemente notwendig, die mit den Mitteln einer Bilderschrift nicht darzustellen sind (vgl. auch hierzu u. 3.2.2.). Die chin. Schriftzeichen sind piktographisch-ideographisch-rebusartige Logogramme biǎoyǔ-wénzì mit einer unauflöslichen Einheit aus — Graphem als geschriebenes Schriftzeichen; — Semanten als ihm innewohnende, manchmal sehr entwicklungsfähige Bedeutung; — Phonem als ihm anhaftende, in engen Grenzen abwandelbare Lautung und Aussprache; — Tonem als ihm inhärenter, ebenfalls nur in engen Grenzen wandlungsfähiger Tonverlauf. Das heutige Schriftzeichen shān (Tonverlauf: hoher ebener Ton 55 ) heißt „Berg(e)“, ist aus einem notwendigerweise etwas abstrahierten Gebirge mit höherem Mittelgipfel entstanden und gibt als Bild nicht den geringsten Hinweis auf die Aussprache. Wer sie nicht gelernt hat, kann vermutlich erkennen, daß es sich um ‘Berge’ handeln soll, für die er

III. Schriftgeschichte

dann als Lesung theoretisch den Begriff seiner jeweiligen Muttersprache einsetzen kann, wie es im Japanischen (yama), Koreanischen (me) und Vietnamesischen ( núi ) dann ja auch tatsächlich geschehen ist. Die chin. Zeichen werden in China selbst mit dem Wort zì bezeichnet, das auf ein dz‛ǝg 3 zurückgeht; dies ist aber weiter nichts als ein denominales Verb des Substantivs zǐ < tsǝg 2 ‘Kind’ und hat also die Bedeutung ‘gebären’. Geschrieben wird das Wort mit dem Zeichen , dessen älteste Form ist, was erkennbar ein ‘Kind’ > unter einem ‘überdachten Raum’ > und somit die bei einer Geburt aus Tabu-Gründen eigens neben dem eigentlichen Haus errichtete Geburtshütte darstellt (Zhōngwén dàcídiǎn, Zeichen Nr. 7083-1). Das Zeichen erscheint bereits auf den Bronze-Inschriften der Yīn- (oder Shäng-)Zeit (17.—11. Jh. v. Chr.). Zwischen dieser vermutlich ursprünglichen Bedeutung ‘Geburtshütte’ und der späteren ‘Schriftzeichen’ besteht kein innerer Zusammenhang, denn trotz aller krampfhaften Versuche, über eine Bedeutungserweiterung ‘vermehren’ von einer ‘Geburtshütte’ zu einem ‘Schriftzeichen’ zu gelangen, kommt man nicht darum herum zuzugeben, daß das wenig gebrauchte Wort ‘Geburtshütte’ für den bisher noch nicht schreibbaren Begriff ‘Schriftzeichen’ entlehnt worden ist. Wann dies zum ersten Mal geschah, ist nicht mehr festzustellen, in dem 100 n. Chr. erschienenen Wörterbuch Shuōwén-jiězì ist er aber bereits etabliert und seitdem in ständigem Gebrauch. — U m chin. Schriftzeichen von anderen zu unterscheiden, kam später der Ausdruck Hàn-zì ‘Schriftzeichen Chinas’ auf. Hàn bezeichnet dabei die von 206 v. Chr. bis 220 n. Chr. herrschende Dynastie, deren Name schon früh im Ausland stellvertretend für ganz China verwendet worden war. Während der Ausdruck Hàn-zì in China selbst erstmalig erst in den 1369/70 redigierten Yuán-shǐ (Annalen der Yuan-Dynastie) in Gegenüberstellung zur mongolischen Schrift erscheint, wurde er in Japan bereits in der von Minamoto no Akikane (1160—1215) zwischen September 1212 und Februar 1215 abgefaßten Sammlung von 460 volkstümlichen Erzählungen Kojidan (‘Erzählungen alter Begebenheiten’) als Gegenstück zu den jap. Kana-Syllabaren verwendet. So bezeichnen denn diejenigen Sprachen, zu deren schriftlicher Darstellung chin. Zeichen verwendet werden bzw. im Viet. bis 1910 worden sind,

26.  Die chinesische Schrift

diese Zeichen auch heute noch als / kanji, / hanja und / chũ· hán. U m die heutige eckige Druckform gegenüber runderen Formen abzugrenzen, ist noch der Ausdruck fānġkuài-zì „Quadratschrift“ in Gebrauch. Die Schreibrichtung der chin. Schrift leitet sich aus dem Material ab, auf das geschrieben worden war. Die länglich-ovale Form des Schildkrötenpanzers und die langgestreckten Formen der Schulterblattknochen von Großtieren, die beide im Altertum als Beschreibstoffe dienten, waren bereits eine gewisse Vorgabe dafür, die einzelnen Zeichen u n t e r e i n a n d e r zu setzen, so daß die Bronze-Inschriften gar keine andere Schreibrichtung kennen. Die Zeilenabfolge war dagegen nicht von Anfang an auf die Richtung von rechts nach links festgelegt. Holz in der Form von langen, schmalen Brettchen ist schon sehr früh (11./10. Jh. v. Chr.?) als Beschreibstoff verwendet worden, und leicht spaltbarer Bambus war reichlich vorhanden. Ein so hergestelltes Brettchen, von oben nach unten voll geschrieben, wurde rechterhand abgelegt, das nächste beschrieben und links neben dem ersten abgelegt usw., bis die Aufzeichnung zu Ende war, so daß sich die Zeilenabfolge von rechts nach links wie von selbst ergab. Die einzelnen Brettchen wurden dann mit Fäden zusammengebunden, was das Zeichen > cè „Heft, Buch“ ergab. Bis zum Ende des II. Weltkriegs schrieben China, Korea und Japan einheitlich in dieser Weise. Dieses Prinzip war aber davor in Japan bereits kräftig durchlöchert worden, wenn es sich um naturwissenschaftliche Werke mit vielen Formeln oder Grammatiken von in Buchstabenschriften geschriebenen Sprachen u. ä. handelte, so daß auch die Zeichenabfolge von links nach rechts und die Zeilenabfolge von oben nach unten durchaus nicht unbekannt waren. Überschriften und Bildunterschriften in Zeitungen und Zeitschriften können in Taiwan, Hongkong und Singapur waagrecht genauso von rechts nach links laufen wie Aufschriften auf der rechten Lkw-Seite in Japan. Die Nachkriegszeit hat hier nur in der Volksrepublik China (VRC) und in Nordkorea eine feste Regelung gebracht, indem Nordkorea seit Juni 1949 und die VRC seit 1. 1. 1956 offiziell die Waagrechtschreibung eingeführt haben, während die anderen Länder im belletristischen Bereich unter Einschluß von Zeitungen und Zeitschriften bei der Senkrechtschreibung geblieben sind, in wissenschaftlichen Veröffentlichungen dagegen der Waagrechtschreibung den Vorzug geben. Die zu-

349

nehmende Verwendung von handlichen Textverarbeitungsgeräten auch im privaten Bereich wird das Pendel über kurz oder lang aber wohl in Richtung auf eine allgemeine Waagrechtschreibung hin ausschlagen lassen. Vor der Erfindung des Papiers zhǐ — bei Ausgrabungen eines Grabes der Früheren HànQián Hàn-zeit (206 v.—7 n. Chr.) in Bàqiáo (Prov. Shǎnxī) sind Papierstücke aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. gefunden worden (Tsien 2 1963, 135) — dienten Materialien, die in irgendeiner Weise geritzt werden konnten (Knochen, Steine usw.), gußfähige Materialien (Bronzeguß) oder Textilien als Beschreibstoff, später dann in zunehmendem Maße eben das Papier, das 751 nach der Schlacht bei Talás am gleichnamigen Fluß Taлac ( Dūlài < tag 1 lâd 3 , arab. / ) (Republik Kirgisistan), in der das Tang-Heer von den Arabern vernichtet wurde, durch chin. Kriegsgefangene in den Westen gelangte. — Schreibgerät war, abgesehen von den Sticheln zum Einritzen und den Formen für den Bronzeguß seit den ältesten Knocheninschriften (ca. 1300—1100 v. Chr.) der Haarpinsel ( ) (máo)bǐ, der als Schriftzeichen = yù in der bis heute typischen Pinselhaltung — eine Hand hält den Pinsel senkrecht am oberen Teil des Schafts — bereits vertreten ist (der Zusatz < „Bambus“ ist erst Anfang des 3. Jahrhunderts v. Chr. bei der damaligen Schriftreform hinzugekommen). Geschrieben wurde mit Tusche mò, die damals aus dem Ruß von verbrannten Kiefernhölzern unter Zusatz von Glutinleim und Lack des Lacksumachs ( Toxicodéndron vernicíflua ) gewonnen und zu kürbiskernförmigen Scheibchen geformt wurde. Vor dem Schreiben wurden die Plättchen mit ein wenig Wasser auf einem Reibstein yàn zu Tusche angerieben, wie es bis heute noch der Fall ist, wenn man mit dem Pinsel schreibt. Mit diesen „Vier Kostbarkeiten des Arbeitszimmers“ wénfángsìbǎo Papier, Pinsel, Tusche und Reibstein ausgerüstet, konnte einem Chinesen dann nicht mehr viel passieren (→ Art. 14 Zf. 3).

2.

Entwicklung der Schriftzeichen und ihrer Formen

Die folgende Darstellung der Entwicklung der chinesischen Schriftzeichen und ihrer Formen ist neben den Abbildungen im Text illustriert durch Abb. 26.1, die Briefmarkenserien aus der VRC und Táiwān darstellt.

Abb. 26.1: Schriftgeschichte auf Briefmarken der VRC und Táiwāns: oben v. 1. n. r. Knocheninschriften/Bronzeinschriften/Kleine Siegelschrift/ Kurialschrift/Kleine Siegelschrift; unten v. 1. n. r. Große Siegelschrift/Kleine Siegelschrift/Kurialschrift/Normschrift/Handschrift/Konzeptschrift.

350 III. Schriftgeschichte

26.  Die chinesische Schrift

2.1. Als Vorstufen der Schrift bezeichnete Formen Die Legende berichtet, daß auch in China den Quipu der Inkas vergleichbare Knotenschnüre jiéshéng verwendet worden seien. Aus dem U rnebel des Mythos tauchen im Neolithikum greifbar Töpferkulturen auf, die mit Strichzeichnungen in einfachen Formen versehen sind. Die Yǎngsháo- (ca. 5000—3000 v. Chr.) und die LóngshānKultur (ca. 2800—2300 v. Chr.) haben eine große Anzahl von Töpferwaren hinterlassen, auf denen sich geometrische Figuren mannigfacher Gestalt wie z. B. usw. finden (Lĭ 1990, 53); bei und könnte man evtl. an der später völlig gleich geschriebenen Zahlen 1 bis 5 denken. Daß sich darunter auch Figuren befinden, die späteren „richtigen“ chin. Zeichen ähneln ( ), ist reiner Zufall und hat nichts mit ihnen zu tun. Hierher gehört auch eine 1961 in Língyánghé (in der Nähe von Jŭ Xiàn im SO-Teil der chin. Provinz Shandong) ausgegrabene, unten spitz zulaufende graue Tonvase (Höhe 57,5 cm, Ø 29,5 cm) aus der Spätzeit der Dàwènkǒu-Kultur (ca. 2600 v. Chr.); Okazaki 1986, 12, 46 f), auf der ein wahrscheinlich als Eigentumsmarke einzustufendes „Ornament“ eingeritzt ist, das die Phantasie der Schriftgelehrten sofort beflügelte, weil es eine frappante Ähnlichkeit mit 1000 Jahre jüngeren und echten ersten chin. Zeichen zu haben schien: = = Sonne, = / = Mond und = = Feuer. Damit war es aber auch schon erledigt, denn ein daraus zusammen[ ] existiert zubastelndes „Zeichen“ nicht und wäre auch bei der Kompliziertheit der Zusammensetzung nicht zu erwarten gewesen. Die traditionelle chin. Legende zählt auch acht aus je drei entweder durchgehenden oder unterbrochenen waagrechten Strichen bestehende Trigramme bāguà ‘Himmel’, ‘Erde’, ‘Donner’, ‘Wasser’, ‘Berg’, ‘Holz’, ‘Feuer’ und ‘See’ zu den Vorstufen der Schrift. Sie sollen von Fú Xī, einem der drei mythischen Kaiser des Altertums, „erfunden“ worden sein und von Dingen der Natur über Verwandtschaftsgrade bis hin zu Charaktereigenschaften alles mögliche symbolisieren. Je 2 zu 8 2 = 64 Kombinationen zusammengestellt, dienen sie auch heute noch als Grundlage für die Erstellung von Horoskopen, bei denen die

351

in Regeln gefaßte Abwandlung der Kombinationsmöglichkeiten zur Zukunftsvorhersage herhalten muß, wobei der durchgehende Strich — als ‘ja’ und der unterbrochene -als ‘nein’ gelten (Wilhelm 1923, Bd. I, IV; → Art. 55, Zf. 2). — In denselben mythischen Zusammenhang gehört auch die Angabe, die chin. Zeichen seien von einem Mann namens Cāng Jié um 2700 v. Chr. geschaffen worden, der Sekretär des Gelben Huáng Dì gewesen sein und Kaisers sich die Anregung dazu aus den Fährten von Tieren und Vögeln geholt haben soll. 2.2 Die Knocheninschriften Historisch gesicherten Boden betritt man zum ersten Mal mit den zahlreich erhaltenen Inschriften auf Bauchpanzern von Schildkröten (πλάστρον) oder Schulterblattknochen (scapula) von Großtieren. 1899 im heutigen Ānyáng (Provinz Hénán), dem Ort der alten Hauptstadt des Shāng-Reiches (bestand Anfang des 17. Jahrhunderts bis ca. 1050 v. Chr.) entdeckt, aber erst seit 1928 sukzessive ausgegraben, sind bis heute etwa 130 000 Inschriften mit ca. 5000 Einzelzeichen, von denen rund 1500 entziffert worden sind (Wáng 1982, 570), registriert. Sie wurden während der Zeit des Shāng-Reiches ausschließlich für plastro- oder skapulopyromantische Orakel verwendet, bei denen in Anwendung des Prinzips do ut des die (Geister der) Ahnen unter Darreichung von Opfern dazu bewogen werden sollten, Auskunft über das Schicksal der nächsten 10 Tage oder bei irgendwelchen staatlichen oder privaten U nternehmungen zu geben (s. Abb. 26.2 auf Tafel XI). Plastra und Scapulae wurden für das Orakel vorbereitet, indem zahlreiche Stellen auf ihnen ausgeschabt wurden, bis nur noch ein dünnes Häutchen übrigblieb. Von einem anderen Beteiligten wurden dann die Fragen eingeritzt, worauf ein erhitzter Stab in die Aushöhlungen gehalten wurde, so daß die übriggebliebenen dünnen Stellen sprangen. Diese Sprünge wurden meistens vom König selbst gedeutet. War das Ergebnis des Orakels ungünstig, wurde es mit neuen Opfern wiederholt. Manchmal kommt es auch vor, daß die Rückseite eine Aufzeichnung des Inhalts enthält, ob die Voraussage eingetroffen ist oder nicht (vgl. das kurze Beispiel weiter unten).

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Die Knocheninschriften werden heute normalerweise mit jiǎgǔ-wén(zì) „Schildkrötenpanzer- und Knochen-Schrift(zeichen)“ bezeichnet, während die Benennungen qìwén „Kerbschrift“ mehr auf die Aufzeichnungsweise, bǔcí „Orakeltexte“ auf den Zweck, guījiǎ-wénzì „Schildkrötenpanzer-Schulterblatt-Schriftzeichen“ auf das zur Aufzeichnung verwendete Material und Yīn-xū-wénzì auf den Fundort „Schriftzeichen aus den Ruinen von Yīn“ abstellen. Der Charakter der Schriftzeichen ist noch recht ursprünglich und läßt die Herkunft von Bildern noch gut erkennen (vgl. 3.1.1.); andererseits sind aber auch die anderen Konstruktionsprinzipien der chin. Zeichen wie symbolische (vgl. 3.1.2.) oder zusammengesetzte Bilder (vgl. 3.1.3.) und Entlehnungen (vgl. 3.2.2.) bereits zahlreich vertreten. Die bei komplizierteren Zeichen später unverrückbare Stellung der einzelnen Teile innerhalb des Zeichens schwankt noch häufig. Die äußere Form der Zeichen mit ihrer gewissen Wackeligkeit steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Schreibwerkzeug und Beschreibstoff, auf dem beim Einritzen der Zeichen Rundungen nur schwer zu gestalten waren. Das Einzelbeispiel am Anfang dieses Abschnitts stellt einen Wagen chē/jū dar, bei dem Radachse, Deichsel und Jochstange

III. Schriftgeschichte

in Aufsicht, die beiden Räder aber in die Horizontale geklappt wiedergegeben sind, da die Rekognoszierbarkeit ohne Darstellung des Charakteristikums ‘Räder’ nicht mehr gegeben wäre. Ein kurzes zusammenhängendes Beispiel (Keightley 1985 a , 88; Shima 1977, 51) beinhaltet den Erfolg mehrerer Versuche, herauszufinden, ob es ein U nheil geben wird oder nicht, mit der auf der Rückseite eingeritzen Feststellung (s. Tabelle 26.1). 2.3. Die Bronze- und Steininschriften Aus der Shāng- (oder Yīn-)Zeit (17. Jh.— ca. 1050 v. Chr.) und der daran sich anschließenden Zhōu-Zeit (1066—221 v. Chr.) sind Inschriften auf Bronzegefäßen bekannt, die, ursprünglich als reine Gebrauchsgefäße (Glocken, Koch-, Eß- und Trinkgefäße) verwendet, dem Eigentümer dann mit ins Grab gegeben wurden. Später wurden diese Gefäße dann fast ausschließlich bei Kulthandlungen zu sakralen Zwecken gebraucht (Abb. 26.3). Die Inschriften wurden entweder nach dem Guß der Gefäße eingeritzt oder häufiger als gesondert gearbeitete Schriftplatte vor dem Guß auf der Gußform befestigt; bei besonders begüterten Auftrag-

26.  Die chinesische Schrift

Abb. 26.3: Bronzeinschrift auf einer Schale aus dem 8. Jahrhundert v. Chr., in der von der erfolgreichen Durchführung eines Auftrags seitens des Herrschers, der Belohnung des Beauftragten durch ihn und dem Guß der Schale als ewige Erinnerung berichtet wird. (Aus „Shodō Zenshū I, S. 65, Tōkyō 1965).

gebern sind die nach dem Guß vertieft erscheinenden Zeichen mit Gold intarsiert. Die Texte der Inschriften reichen von ganz kurzen Angaben des Inhalts „dieses Gefäß hat X für Y zum ewigen Gebrauch gemacht“ bis zu sehr langen Darstellungen (500 Zeichen und mehr) über Kulthandlungen, Befehlsaufträge und deren Ausführung, Feldzüge, Verträge usw., so daß sie oft als historische Quelle von unschätzbarem Wert sind. Stehen die Zeichen insbesondere am Anfang der Zhōu-Zeit den

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Knocheninschriften formenmäßig noch nahe, so werden sie im Lauf der Zeit kompakter, und ihre Anordnung wird regelmäßiger. Selbstverständlich macht sich auch das Material insofern bemerkbar, als Rundungen nun besser gestaltet werden können. Andererseits sind aber auch bereits Ansätze zu der später überhand nehmenden Überladenheit der Zeichen zu erkennen, die dann zur Ausbildung der großen Siegelschrift (s. u. 2.4.2.) geführt hat. Die Zeichenanzahl der auf den Bronzeinschriften erscheinenden Zeichen beläuft sich auf etwas über 3000. Die Bronzeinschriften werden heute allgemein als jīn-wén „Metalltexte“ bezeichnet, wenn sie gemeinsam mit den sich zeitlich an sie anschließenden, im Duktus aber identischen Steininschriften genannt werden sollen, als jīn-shí-wén „Metall/SteinTexte“ bezeichnet. Wenn besonders hervorgehoben werden soll, daß es sich bei einem Inschriftenträger nicht um ein Sakralgefäß handelt, wird noch der Ausdruck zhōngdǐng-yíqì-kuǎnzhì verwendet, „versenkte“ ( kuǎn) bzw. „erhabene“ ( zhì) Schrift für „Glocken“ ( zhōng = Musikinstrumente), „Kochkessel“ ( dǐng), „Trinkgefäße“ ( yí) und „Eßgefäße“ ( qì ). Einer besonderen Erwähnung bedürfen noch an Zahl nicht gerade geringe Zeichen, die sich entweder alleine oder unter einem Text finden und die sich dadurch auszeichnen, daß deutbare Zeichen oder figürliche Darstellungen stets in einem quadratischen Rahmen mit ausgekehlten Ecken eingeschrieben sind, der dem chin. Zeichen yà entspricht. U rsprünglich ein Bild der unterirdischen Grabkammer mit Zugangsrampen auf den 4 Seiten, wurde die Bedeutung dieses Zeichens schon sehr früh auf denjenigen übertragen, der in Familie, Sippe oder Clan für ein Grab und die auszuführenden Riten zuständig war. Da es sich bei diesen Darstellungen, abgesehen von wenigen Ausnahmen, um Personennamen handelt, sind die Lesungen zu einem großen Teil unmöglich. Diese Zeichen werden als yàxíng-zì (älter: yàzì-wén „Muster in Form des Zeichens yà “) „Zeichen in Form des Zeichens yà“ bezeichnet (Shirakawa 1984, 3 f). — Das am Anfang des Abschnitts abgebildete Zeichen ist wiederum der „Wagen“, dessen Form bereits gleichmäßiger gestaltet und auch schon etwas mehr ausgestaltet ist, denn die Darstellung des Wagenkastens und der Zugpferde ergänzt das Zeichen der Knocheninschriften wesentlich.

III. Schriftgeschichte

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2.4. Die „Alte Schrift“ Am Ende der Zhōu-Zeit führten die instabilen politischen Verhältnisse im 8. Jahrhundert v. Chr. für die folgenden Jahrhunderte zu raschem Aufkommen und genauso schnellem U ntergang zahlreicher größerer und kleinerer Staaten auf chin. Boden. Diese Zersplitterung stand naturgemäß einer einheitlichen Schrift nicht nur im Wege, sondern förderte die Divergenzen geradezu, so daß es überall zu Sonderentwicklungen mit zahlreichen Zeichen für ein und denselben Begriff kam. Wie stark diese U nterschiede in verschiedenen, z. T. nahe beieinander liegenden Gebieten ausgeprägt waren, soll an einem Beispiel für das heutige Zeichen m ǎ < m ag 2 „Pferd“ kurz erläutert werden:

Zhòu-wén „Zhòu-Schrift“ bezeichnet wird. Zeitpunkt ihrer Entstehung dürfte Ende 9./Anfang 8. Jahrhundert v. Chr. gewesen sein, da König Xuān von 827—781 v. Chr. lebte. Bei dieser Schrift kommt eine Tendenz zum Vorschein, die später zum Verzicht auf sie führte, da sie wegen ihrer Kompliziertheit wenig praktikabel war. Sie wies zwar eine runde, gefällige Linienführung auf, war aber ungeheuer überladen. Die Schrift war bestrebt, mehr als das unbedingt Notwendige in ein Schriftbild mit aufzunehmen, vielleicht aus dem Gedanken heraus, Mißverständnisse beim Erkennen der Zeichen von vornherein auszuschließen. Das Zeichen am Anfang dieses Abschnitts stellt wiederum den „Wagen“ dar, wobei zu erkennen ist, daß realitätsfern 2 Wagenkästen mit 4 Rädern gezeichnet sind und sich die Zugpferde in 2 Hellebarden umgewandelt haben. Trotzdem wurde diese Schrift vom 8.—3. Jahrhundert v. Chr. normal verwendet. Aus der damaligen Zeit sind bis heute 9 von ursprünglich 10 Steintrommeln erhalten geblieben (heute im Palastmuseum von Běijīng (Peking)), auf denen 272 von ursprünglich über 700 Zeichen in dieser Schrift in einer Größe von 4 cm 2 eingraviert sind. Inhaltlich enthalten diese shígǔ-wén „Steintrommel-Texte“ Jagdgesänge in Gedichtform, die z. T. schwer verständlich sind. Man ist sich heute allgemein darüber einig, daß sie 481 v. Chr. angefertigt worden sind. 2.4.2. Die große Siegelschrift

Gelehrten- und Handelskreise dieser zahlreichen (Stadt)-staaten schufen so ein ansehnliches Schriftchaos, das nur die zusammenfassende Bezeichnung gǔ-wén „Alte Schrift“ gemeinsam hat. Was alles zu ihr gezählt wird, ist durchaus Ansichtssache, einig ist man sich im großen und ganzen nur darüber, daß die Schriftreform (s. u. 2.5.) Anfang des 3. Jahrhunderts v. Chr. einen Schlußpunkt gesetzt hat. 2.4.1. Die Zhòu-Schrift Eine Ausprägung der „Alten Schrift“ ist ein Duktus, der von dem ältesten Sohn Zhòu des Zhōu-Königs Xuān entwickelt worden sein soll und deshalb als

Aus dieser Zhòu-Schrift unmittelbar abgeleitet ist die dà-zhuàn „große Siegelschrift“, deren Bezeichnung aus ihrer Verwendung für amtliche oder private Siegel abgeleitet ist. Siegel werden in Ostasien seit ältester Zeit bis zum heutigen Tag so verwendet wie bei uns die eigenhändige U nterschrift. Noch heute kann in Japan am Bankschalter nur der Geld von seinem eigenen Konto abheben, der sein kleines persönliches Siegel mit dabei hat. Damals wie heute aber gab und gibt es Versuche, Siegel oder U nterschrift zu fälschen. U m dies zu verhindern, schmückt man in China, Japan und Korea die Schriftzeichen auf Siegeln besonders stark aus, preßt sie in kubische Formen und macht sie außerordentlich überladen, eben so, daß ein Fälscher die Zwecklosigkeit aller Mühen einsehen muß. Die Große Siegelschrift ist bis heute

26.  Die chinesische Schrift

für amtliche und private Siegel unverändert in Gebrauch, und die Stempel- und Siegelschneider haben sich im Laufe der Jahrhunderte Leitfäden geschaffen, wie die Zeichen aussehen sollen. Das Beispiel am Abschnittsanfang, wieder der „Wagen“, ist in einem der gebräuchlichsten Duktus geschrieben, bei dem die Anzahl der waagrechten Striche 9 sein muß; sind es normal weniger, werden so viele Ecken hinein gemogelt, bis die Zahl 9 erreicht ist, sind es normal mehr, werden so viele weggelassen, bis es 9 sind. Der Vorteil für die Siegelschneider liegt auf der Hand, denn sie brauchen nur gerade Linien, die sich in einem Winkel von 90° schneiden, auszuführen (s. Abb. 26.4 auf Tafel XII). 2.5. Die kleine Siegelschrift 221 v. Chr. wurde China nach jahrelangen Kämpfen von dem König Yìng Zhèng von Qín (259—210 v. Chr., reg. 221—210 v. Chr.) geeint, wonach er sich dann Qín Shǐ-Huángdì „Erster Kaiser von Qín“ nannte. Sollte die Reichseinigung Bestand haben, waren vereinheitlichende Maßnahmen auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, vor allem der Verwaltung, notwendig. Noch wichtiger als Maße und Gewichte sowie Achsabstand der Wagen war hier die Vereinheitlichung der Schrift, die ja bisher in allen Landesteilen stark auseinandergedriftet war und so einer Zentralverwaltung im Wege stand. Der Kaiser berief 214 v. Chr. daher einen seiner fähigsten Mitarbeiter, Lǐ Sī (?—208 v. Chr.), in das Amt des Kanzlers und beauftragte ihn damit, entsprechende Maßnahmen zu erarbeiten und durchzuführen. Eine effiziente Verwaltung kann sich kaum damit aufhalten, u. U . beim Schreiben für 1 Zeichen 1 Minute zu verschwenden. Lì Sī setzte hier den Hebel für eine umfassende Schriftreform an, indem er die Schriftzeichen auf das Wesentliche beschränkte, dabei ihre Rekognoszierbarkeit aber nicht beeinträchtigte. Wenn er so aus dem Zeichen chē/jū „Wagen“ machte, hatte er aus 22 Strichen 7 gemacht, und die Zeichen waren jetzt auch einfacher zu memorieren. Derselbe Vorgang wiederholte sich erst in den 50er bis 70er Jahren unseres Jahrhunderts, als die 2. große Schriftreform in China durchgeführt wurde. Da diese neue Schrift aus der großen Siegelschrift hergeleitet war, lag es nahe, sie

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xiǎo-zhuàn „kleine Siegelschrift“ zu nennen. Ihre ausgewogenen und ebenmäßigen Formen sind die Grundlage für die heutigen Druck- und Schreibformen der chin. Schrift überhaupt geworden. Das Jahr ihrer offiziellen Einführung in China ist zwar nicht mehr mit letzter Genauigkeit festzustellen, liegt aber zwischen der Ernennung von Lì Sī zum Kanzler und dem Tod des Kaisers, also zwischen 214 und 210 v. Chr. Die kleine Siegelschrift hat bis heute nichts von ihrer Popularität eingebüßt und wird noch immer nicht nur für Siegel aller Art (das Siegel des japanischen Kaisers und das große Staatssiegel Japans sind in kleiner Siegelschrift gehalten), sondern auch als Zierschrift verwendet. Ein Ableger der Kleinen Siegelschrift ist die niǎo-chóng-shū „Schrift der Vögel und Würmer“, bei der in der Qín-Zeit (221—206 v. Chr.) bei Aufschriften auf Waffen und Bannern sowie auch bei Siegeln an den Enden der Striche Verzierungen angebracht waren, die Fährten von Vögeln ( niǎo ) und Würmern ( chóng ) ähneln sollten. In diesem Zusammenhang bedarf auch die qí-zì „seltsame Schrift“ einer kurzen Erwähnung, da sie sich durch starke Kürzungen auszeichnet, wie sie die Zeichenformen aufweisen, die heute in der VRC verwendet werden wie z. B. cāng „Getreidespeicher“ anstelle des normalen Zeichens 2.6. Die Kurialschrift Das geeinte China der Qín-Dynastie besaß eine umfangreiche Verwaltung, die schnell sein mußte, wenn sie effizient sein wollte. So schön die kleine Siegelschrift auch war, es dauerte zu lang, bis ein Zeichen fertig gemalt war. Deshalb wurden li-rén „mit Dokumenten befaßte subalterne Beamte“ beauftragt, eine Hilfsschrift zu schaffen, mit der man schneller schreiben konnte. Bei dieser Schrift handelte es sich um eine gewisse Vereinfachung der aus der dà-zhuàn „großen Siegelschrift“ entstandenen xiǎozhuàn „kleinen Siegelschrift“, indem ihre Rundungen in gerade und eckige Formen umgestaltet wurden, was von einem Kalligraphen der Qín-Zeit (221—206 v. Chr.) namens Chéng Miǎo bewerkstelligt worden sein soll. Für den Schreibpinsel und die manchmal verwendete Rohrfeder bedeutete dies eine erhebliche Schreiberleichterung, da

III. Schriftgeschichte

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beide etwas gegen Rundungen eingestellt waren. Ihrer Abkunft wegen wurde die Kurialschrift damals zunächst als lì-zì „Schrift der subalternen Beamten“ oder aufgrund ihrer Hilfsfunktion für die schwierigere kleine Siegelschrift als zuǒshū „Hilfsschrift“ bezeichnet. In der Hàn-Zeit (206 v. Chr.—220 n. Chr.) erfuhr die Kurialschrift dann noch einige kleinere Veränderungen und Vereinfachungen, die zuerst von einem weiteren Kalligraphen der Qín-Zeit, Wáng Cìzhòng, vorgeschlagen worden sein sollen. Sein Duktus war noch ohne den späteren kleinen Aufstrich am Ende eines nach rechts unten auslaufenden Striches, der erst im 1./2. Jahrhundert n. Chr. aufkommt, so daß später die Bezeichnung bāfēn(shū) „80%-Schrift“ für diese Schrift auftaucht. Die Entstehung dieser Bezeichnung ist heute nicht mehr restlos aufzuklären; entweder soll sie daher kommen, daß diese Schrift zu 20% aus Kurial- und zu 80% aus Siegelschrift bestehe, oder daraus abgeleitet sein, daß die Zeichen in diesem Duktus so aussähen, als ob sie auseinanderfielen wie die Zeichen bā „acht“ und fēn „teilen“, oder weil die Kurialschrift aus 80% kleiner Siegelschrift bestünde, genauso wie die kleine Siegelschrift aus 80% großer Siegelschrift und die jetzige Kurialschrift aus 80% der früheren. U m die beiden letzteren unterscheiden zu können, wurde die Kurialschrift der Qín-Zeit als gǔ-lì „alte Kurialschrift“ und die der Hàn-Zeit als jīn-lì „jetzige Kurialschrift“ bezeichnet (Wáng 1982, 571 f). Sie bildete die Grundlage für die als kǎishū „Normschrift“ bekannte Form der heutigen Druckschrift sowie die Formen der handgeschriebenen Standardschrift. Das Schriftbeispiel am Abschnittsanfang („Wagen“) ist im Duktus dieser „jetzigen Kurialschrift“ gehalten. 2.7. Normschrift Durch endgültige Begradigung der noch etwas geschwungenen Linien der Hàn-zeitlichen Kurialschrift entstand Ende der Hàn-Zeit (Ende 2./Anfang 3. Jh. n. Chr.) ein Duktus, der schließlich bis heute die Normalform der chin. Zeichen ergeben hat. Die heutige Bezeichnung ka ä ishü ū “Normschrift”

ist erst um etwa 800 n. Chr. belegt, ist aber bis heute die Standardbenennung geblieben und hat andere Namen wie zhèngshū „richtige zhēnshū Schrift“, „wahre Schrift“ oder zhèngkǎi „richtige Norm(schrift)“ völlig verdrängt. Da die Formen der Normschrift gut zu schneiden waren, bildeten sie auch die Vorlage für die Blockdrucke ( diāobǎn, kèbāǎn ) als Vorläufer des Drucks mit beweglichen Lettern. Blockdrucke traten in China bereits im 7. Jahrhundert n. Chr. auf, und es dürfte die Arbeit der Matrizenschneider erleichtert haben, als am Ende der Míng-Zeit (Anfang 17. Jh.) bei den etwas runderen und gefälligeren Formen der Zhào Sōngxuě -Typen (benannt nach dem Dichter Zhào Mèngfǔ (1254—1322; Beiname: Sōngxuě)) die horizontalen Striche eines Zeichens zu Haarstrichen, die vertikalen dagegen verstärkt wurden. — Die einzelnen Epochen der chin. Geschichte haben danach keine Änderungen am grundlegenden Duktus mehr vorgenommen; trotzdem hat jede Zeit der Normschrift als der vorherrschenden Grundschrift den Namen der jeweiligen Dynastie gegeben, so daß in zeitlicher Abfolge an Bezeichnungen noch Sòng-tǐzì „Schriftzeichen der Sòng-Zeit“ (960—1279), Yuán-tǐ „Duktus der Yuán-Zeit“ (1206—1368) und Míng-chāotǐ „Duktus der Míng-Dynastie“ (1368—1644) zu nennen sind. Volkstümlich wird die Normschrift als lǎo/ gǔ-Sòng-zì bezeichnet, was halb liebevoll, halb verehrend „die alten Sòng-Zeichen“ bedeutet. Ein Charakteristikum der chin. Druckschrift war es immer gewesen, die Zeichen steil zu stellen, kursive Duktus im modernen Sinne hatten gefehlt. Erst 1916 gestalteten Dīng Fǔzhī und Dīng Shànzhī aus den von ihnen gesammelten Formen der Sòng-Blockdrucke einen etwas nach rechts oben geneigten Duktus fǎngSòng-tǐ „nachempfundener Sòng-Duktus“ (die Bezeichnung ist in modernen Kurzzeichen in diesem Duktus geschrieben), der in gewissem Sinne als Auszeichnungsschrift dient. Die Beispiele am Anfang des Abschnitts zeigen von oben nach unten den „Wagen“ in magerer Druckschrift, fetter Druckschrift und Standard-Schreibschrift.

26.  Die chinesische Schrift

357

ner besonderen Erwähnung, daß es auch in China eine xíngshū „Handschrift“ (manchmal auch „Halbkursive“ genannt) gibt. Sie ist zeitgleich mit der Normschrift entstanden und seit dieser Zeit bis heute unverändert in Gebrauch. Sie verdankt ihre Entstehung dem angesprochenen Zeitproblem, denn wer sich beim etwas schnelleren Schreiben nicht mehr die Zeit nimmt, den Pinsel bei jedem einzelnen Strich gut vom Beschreibstoff abzuheben, läuft Gefahr, daß der Pinsel die Spur vom Ende des einen bis zum Anfang des anderen Strichs sichtbar nachzeichnet. Bei der Handschrift sind also zwar Form und Strichfolge der Normschrift beibehalten worden, die einzelnen Striche eines Zeichens werden aber, ab und zu unter Einfügung von kleinen, verbindenden Kreischen, untereinander verbunden. Da sich auch Kürzungen im großen und ganzen im Rahmen halten, ist die Lesbarkeit kaum beeinträchtigt. Als Kurrentschrift ist sie die Schrift des täglichen Lebens. Im Gegensatz zur Konzeptschrift (s. 2.9.) werden mehrere Zeichen nur selten untereinander verbunden. Enthält die Handschrift mehr Norm- als Konzeptschriftelelemente, nähert sie sich also der Normschrift, bezeichnet man sie als xíngkǎi „Norm- (mit) Hand(schriftelementen)“, besteht sie mehr aus Konzept- als aus Normschriftelementen, nennt man sie xíngcǎo „Konzept- (mit) Hand(schriftelementen)“. Am Anfang des Abschnitts steht wiederum der „Wagen“ als Beispiel, vgl. auch Abb. 26.5. 2.9. Konzeptschrift Abb. 26.5: Das Schriftzeichen chì „Kaiserliches Edikt“, geschrieben vom Táng-Kaiser Tài Zōng (599—649, reg. 626—649). (Aus „Shodō Zenshū I, Bd. 5, S. 104, Tōkyō 1930).

2.8. Handschrift Schön geschriebene kǎishū „Normschrift“ braucht zum Geschriebensein ihre Zeit, verbunden mit sehr hoher geistiger Konzentration, denn ein flüchtig hingeworfenes Schriftzeichen hat schon nicht mehr ganz die Proportionen, die der strenge Kanon fordert. Auch früher hat nicht jeder die Muße dazu gehabt. U nd so bedarf es eigentlich kei-

Selbst die Handschrift war von Anfang an für manche noch nicht schnell genug, so daß bereits Anfang der HànZeit (3./2. Jh. v. Chr.) unmittelbar aus der xiǎo-zhuàn „kleinen Siegelschrift“ über das Zwischenstadium der cǎolì „verkürzten Kurialschrift“ eine bequeme und schnelle Schrift entstand, die den Erfordernissen des täglichen Lebens in etwa entsprach. Sie wird bis heute ununterbrochen nicht nur für Notizen flüchtiger Natur und als integraler Bestandteil der xingshū „Handschrift“ für kompliziertere Zeichen, sondern auch als Schrift künstlerischen Wertes in der Kalligraphie verwendet. Die Konzeptschrift

III. Schriftgeschichte

358

ist gekennzeichnet durch außerordentlich starke Verkürzungen und Verschleifungen der einzelnen Striche eines Zeichens, wozu noch sehr starke individuelle Abweichungen von der Normschrift kǎishū sowohl in Form als auch in Strichfolge hinzukommen. Die Möglichkeit, Zeichen untereinander zu verbinden, wird ausgiebig genutzt. Der Duktus der Konzeptschrift mußte so notwendigerweise zu einer immensen Anzahl von Homographen führen, die die Lesung z. T. erheblich erschweren bzw. manchmal sogar unmöglich machen, wenn etwa der Kontext unbekannt ist. Einige Formen der Konzeptschrift sind bei den Schriftreformen in Japan (16. 11. 1946) und der VRC (1952—1977) in die offizielle Schrift übernommen worden, wie z. B. yǔ „und, mit“ (Normschrift) > (Japan) > (VRC) < (Konzeptschrift). Die chin. Bezeichnung der Konzeptschrift cǎoshū hat bei der Wiedergabe dieses Begriffes in europäischen Sprachen fast noch bis heute für erhebliches Durcheinander gesorgt, weil das Zeichen cǎo u. a. auch „Gras“ bedeutet, und man im Zusammenhang mit der immer so gern apostrophierten ‘Blumigkeit’ der chin. Sprache der Vorstellung huldigte, die Konzeptschrift sei das Bild sich im Winde wiegender Gräser. Ihre europäische Benennung ‘Grasschrift’ leitet sich hieraus ab, muß aber in zweifacher Hinsicht einer Korrektur unterzogen werden. Einmal ist die ursprüngliche Bedeutung des Zeichens cǎo ‘U nkraut’, woraus eine Reihe von im Chin. normalen Bedeutungserweiterungen abgeleitet ist, und zwar über ‘beunkrautet’, ‘noch nicht vom U nkraut befreit’ zu ‘noch ungeordnet’ und von da direkt erweitert zu ‘(noch ungeordneter) Entwurf, Konzept, Manuskript’. Zum zweiten hat wohl noch nie ein Chinese auch nur einen Gedanken daran verschwendet, er schreibe eine „U nkrautschrift“, denn die Bedeutung ‘Konzept’ ist für cǎo fest etabliert. Gegen Ende der Hàn-Zeit (2. — Anfang 3. Jh. n. Chr.) war der verhältnismäßig einfach zu schreibende Duktus der Konzeptschrift weit verbreitet und sogar in Eingaben an den Kaiser zhāngzòu verwendet worden, so daß sie mit der Bezeichnung zhāngcǎo „Eingaben-Konzept(schrift)“ belegt wurde. Eine andere Meinung leitet die Bezeichnung daraus ab, daß Kaiser Zhāng der Hàn-Dynastie (reg. 76—88 n. Chr.) eine besondere Vorliebe für diese Art der Konzeptschrift gehabt habe. Der Duktus hatte noch wie vorher die kleinen Aufstriche

an den nach rechts unten auslaufenden Strichen, die Zeichen selbst sind aber noch nicht untereinander verbunden. — Eine Weiterentwicklung mit geringfügigen Veränderungen zeigt die jīncǎo „jetzige Konzeptschrift“, die in der Zeit der 6 Dynastien liùcháo (222—589) diese Bezeichnung zur U nterscheidung von der „Eingaben-Konzeptschrift“ erhielt. Sie soll bereits von dem Kalligraphen Zhäng Zhī (?—ca. 192 n. Chr.) verwendet worden sein (Wáng 1982, 573), hat keine Aufstriche mehr an den nach unten rechts auslaufenden Strichen und Verbindungen von 2 untereinander stehenden Zeichen sind häufig. Willkürlicher Ersatz von Radikalen und Phonetika durch andere beeinträchtigt die Lesbarkeit stark, so daß sie keine weite Verbreitung erlangte. — Die ungezügeltste Form der Konzeptschrift, kuángcǎo „exzentrische (wörtl.: verrückte) Konzeptschrift“, soll ebenfalls auf Zhäng Zhī zurückgehen, wurde aber wahrscheinlich von dem Kalligraphen Zhāng Xù der Táng-Zeit (618—907) gestaltet und erhielt ihren Namen von dem Kalligraphen Huái Sù (725?— 785?). Ihre Besonderheit liegt in der Verbindung und Verschleifung der einzelnen Striche untereinander, so daß die Zeichen fast alle in einem einzigen Pinselzug geschrieben werden und sogar Aufwärtsstriche in extremer Weise miteinander verbunden werden können. Die U nterscheidbarkeit der Zeichen litt dadurch so stark, daß die Lesbarkeit außerordentlich eingeschränkt bis unmöglich war und oft nur aus dem Kontext heraus sinngemäß zu erschließen ist. Trotzdem hat diese Ausprägung der Konzeptschrift eine sehr starke künstlerische Komponente, die sie dazu prädestinierte, eine der Hauptrichtungen der Kalligraphie zu werden. Was die Verbindung der Zeichen in der Zeile anlangt, so gehen große, kleine, schräge und gerade Zeichen ungezügelt durcheinander, fließen ineinander über und vermitteln den Eindruck, als ob ganze Sätze in einem Zug geschrieben worden wären. Es sollte dabei nicht außer Acht gelassen werden, daß diese exzentrische Konzeptschrift gar nicht langsam geschrieben werden kann, denn über den nächsten Strich erst nachzudenken, bringt den Schreiber der Konzeptschrift durchaus aus dem Konzept. 2.10. Varia An speziellen Schriftarten neben den bisher behandelten sind zu nennen: — Fette Schrift Als

Auszeichnungsschrift

wird

heute

in

26.  Die chinesische Schrift

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Druckerzeugnissen für Überschriften, Hervorhebungen usw. unter den Bezeichnungen hēitǐ-zì „Zeichen in schwarzem Duktus“, cūtǐ-zì „Zeichen in grobem Duktus“ oder fāngtóu-zì „Zeichen mit quadratischem Kopf“ eine Art Groteskschrift verwendet, bei der die Striche gleichmäßig dick, gewichtig, gut erkennbar, dabei aber auch ästhetisch sind. — Raster-Schrift

Pinselspitze erreicht wird. Bequem zu schreiben, ist ihre Wirkung kräftig, robust und auffällig, aber dabei auch lebendig, was sie zu einer gerne verwendeten Schriftart werden ließ. Sie eignet sich sehr gut für breite Überschriften, weshalb sie in jüngster Zeit ein bevorzugtes Darstellungsmittel für die Themen in den Wandzeitungen war, in denen sich die „Kulturrevolution“ ausgetobt hatte. Yán-Liǔ-Stil — Der

U m bei den Steininschriften einen Rahmen zur Erzielung eines ebenmäßigen Aussehens der Schrift zu gewährleisten, zeichnete man ein quadratisches Raster bòkē auf den zu beschreibenden Stein. Der Ausdruck wurde dann später allgemein auf große Zeichen überhaupt übertragen. — „Weiß flatternde“ Schrift

Hierbei handelt es sich um einen besonders kräftigen, von den beiden Kalligraphen der Tang-Zeit Yán Zhēnqīng (709— 785) und Liǔ Gōngquán (778— 865) entwickelten Stil, der auch als Yánzì oder Yán-tǐ bzw. Liǔ-zì oder Liǔ-tǐ „Yán-Zeichen/-duktus“ bzw. Liǔ-Zeichen/-duktus“, manchmal auch als Yán-jīn-Liǔ-gǔ „Fleisch (stammt von) Yán, die Knochen (von) Liǔ“ bezeichnet wird. Shòujīn-shū/ — Der Shòujīn-tǐ Shòujīn-Stil

Als Schöpfer dieses besonderen Duktus wird der Kalligraph Cài Yōng (132—192 n. Chr.) genannt, der auf dem Weg zum Kaiserpalast durch die Kaiserliche Bibliothek kam, die gerade renoviert wurde. Er sah den Arbeitern beim Kehren mit dem Besen zu und bemerkte, daß seine Borsten parallele Linien im Staub hinterließen, die sich seiner Ansicht nach gut für die Ausschmückung von Schriftzeichen verwenden ließen. Er besorgte sich einen richtig kratzbürstigen Pinsel und fing an, Zeichen zu schreiben, deren Striche bei kräftigem Aufdrücken des Pinsels breit und schwarz, bei leichtem Hingleiten aber so aussahen, als ob sie aus mehreren Parallelstrichen bestünden, deren Enden dann auch noch Verzierungen der verschiedensten Art aufzuweisen hatten. Ihre Bezeichnung fēibái(-shū) leitet sich daraus ab, daß ihre Striche wie „weiße“ (bái) Bänder aussehen, die im Winde „flattern“ (fēi). Sie war für plakative Aufschriften sehr beliebt und ist auch heute noch nicht aus dem kalligraphischen Repertoire geschwunden. — Der Inschriftenduktus der Wèi-Zeit Dieser eckige, steife, ungeschlachte und eigenwillige Duktus wurde insbesondere gerne für Steininschriften der Nördlichen Wèi-Dynastie (386—534) Běi-Wèi gebraucht, was auch Anlaß für die Benennung als Wèibēi „Steininschriften der Wèi(-Zeit)“ war. Xīn-Wèi— Die Neue Wèi-Schrift shū Aus diesem Inschriftenduktus der Nördlichen Wèi-Dynastie hat sich ein klobiger, fester, dabei aber zurückhaltender Schreibstil entwikkelt, der heute durch starken Druck auf die

Der als Kalligraph ebenso wie als Maler gleich berühmte Kaiser Huīzōng der Nördlichen Sòng Běi-Sòng-Dynastie (1082— 1135; reg. 1100—1125) nahm sich an dem ( ) Xuē Yào (Xuē Kalligraphen Jì) (649—713) ein Vorbild, gestaltete aber dessen Striche viel kräftiger, wie es sich eben für einen ordentlichen Kaiser gehört. Der Stil erhielt seinen Namen vom Kaiser selbst. 2.11. Zierschriften (

zhuàn)

Bei der Ausgestaltung von Schriften für Zwecke von Verzierungen im weitesten Sinne des Wortes sind der menschlichen Phantasie kaum irgendwelche Grenzen gesetzt. Die prachtvollen Handschriften des Mittelalters mit ihren Initialen, die kunstvollen Qur‛ānAbschriften von arabischer Hand oder ein hebräisches Altes Testament mit Buchstaben, in deren Strichen Tierfiguren hineingemalt sind, legen Zeugnis davon ab, daß man zu allen Zeiten und überall, wo überhaupt geschrieben wurde, bestrebt war, die Schrift auch als Zierde zu verwenden. Wieviel stärker muß dieser Impetus in einem Kulturkreis gewesen sein, dessen Schrift den Charakter der Bildhaftigkeit niemals aufgegeben hat und die deshalb geradezu dazu prädestiniert war, in allen nur erdenklichen Formen ausgeschmückt zu werden. Stary (1980, 3) spricht von 150 Zierschriften des Chinesischen, indem er Pfizmaier mit seiner Aufzählung von 100 namentlichen genannten Schriften zitiert.

360

III. Schriftgeschichte

Abb. 26.6: Das Schriftzeichen shòu „langes Leben“ in 100 verschiedenen Zierschriften. (Aus Yāng Zōngkui: Zhōng-yīng wénzìtǐ shèjì jìfǎ“, S. 149, Táiběi o. J.).

26.  Die chinesische Schrift

Abb. 26.7: Das Schriftzeichen fú „Glück“ in 100 verschiedenen Zierschriften. (Aus Yāng Zōngkuí: Zhōngyīng wénzìtǐ shèjì jìfă“, S. 148, Táiběi o. J.).

361

III. Schriftgeschichte

362

Ein 1881 in China publiziertes Werk von Sūn Zhīxiù, das 1984 in Japan nachgedruckt worden ist, enthält 130 Zierschriften mit einem Beispiel für jede einzelne. Früher für Banneraufschriften, Siegel und Halbsiegel, Waffeninschriften usw. verwendet, kommen sie heute zwar seltener vor, aber ganz ausgestorben sind sie nicht. Ihre allgemeine Bezeichnung zhuàn — eigentlich ja der Ausdruck für die Siegelschrift — leitet sich daraus ab, daß Zierschriften in großer Zahl in der Hàn-Zeit (206 v. Chr.—220 n. Chr.) aufgekommen waren, in der die Siegelschrift die täglich verwendete Gebrauchsschrift gewesen war. Als Ersatz für die hier unmögliche Darstellung aller 130 Zierschriften sei eine Abbildung vorgestellt, die die beiden Schriftzeichen fú ‘Glück’ und shòu ‘langes Leben’ in je 100 verschiedenen Zierschriften enthält (Yáng Zōngkuí o. J., 148 f) (vgl. Abb. 26.6 u. 26.7).

3.

Der Aufbau der chinesischen Schriftzeichen

Im Gegensatz zu den meisten anderen Schriften ist die Systematik der chinesischen Schriftzeichen nicht einfach zu beschreiben, denn schon die Menge der verschiedenen Schriftzeichen — 50 294 enthält das größte Zeichenlexikon (Morohashi 2 1984—86 und Suzuki 1986) — stand und steht einem einfachen Überblick im Wege. Ältere, den Bildern noch etwas näher stehende Schriftzeichenformen haben mit dazu beigetragen, daß die Erinnerung an diese Bilder nicht verloren ging und, was vielleicht genauso wichtig ist, daß das Memorieren eben durch die enge Verbindung zu einem Bild bis zu einem gewissen Grade erleichtert worden ist. In dem den Staatsaufbau des Zhōu-Reiches (11. Jh.—256 v. Chr.) schildernden Werk Zhōu-lǐ „Die Riten der Zhōu“, das wahrscheinlich während der sog. „Zeit der Streitenden Reiche“ Zhànguó (475—221 v. Chr.) kompiliert worden ist, wird in Bd. IV, S. 7 v, ein Ausdruck liù shū verwendet, was wörtlich die „6 Schriften“ i. S. v. die „6 Arten/Gruppen von Schriftzeichen“ bedeutet. Da diese Bezeichnung in der erhaltenen Literatur hier zum ersten Mal erscheint, darf man also die Zeit der Abfassung des Zhōu-lǐ als term inus a quo für die Etablierung des Ausdrucks ansehen. Durch das 100 n. Chr. erschienene Zeichenlexikon Shuōwén-jiězì (enthält 9353 Zeichen) von Xǔ Shèn (ca. 58—ca. 147) als Konstruktionsprinzip der chin. Zei-

chen allgemein anerkannt, verzichtet bis heute kein ostasiatisches Zeichenlexikon bei der Erläuterung der Zeichen auf diese Einteilung in 6 Gruppen. Gewiß mag es in einzelnen Fällen Auffassungssache sein, ein bestimmtes Zeichen einer bestimmten Gruppe zuzuordnen, das Prinzip als solches ist aber nie in Frage gestellt worden. Die 6 Gruppen von Schriftzeichen lassen sich in 2 U ntergruppen einteilen, die sich danach richten, ob das betreffende Zeichen mehr in seiner graphischen Zusammensetzung oder aber in seiner inhaltlichsemantischen Verwendung betrachtet wird. Selbstverständlich ist reichlich Raum für Überschneidungen. 3.1. Graphische Zusammensetzung der Zeichen ( gòuchéng) Im Vordergrund der Betrachtung steht die Komposition und der bildliche Aufbau eines Zeichens einschließlich etwaiger phonetischer Andeutungen oder Symbolik. 3.1.1. Ursprüngliche Bilder ( xiàngxíng ) In der chin. Schrift sind ursprüngliche Bilder nur am Beginn der Schriftentwicklung entstanden, als die Konturen der darzustellenden Gegenstände noch nicht dem Zwang zur Abstraktion unterworfen waren. Später neu geschaffene Zeichen gehorchten anderen Konstruktionsprinzipien, als sie die ursprünglichen Bilder verlangten. Der Bestand der chin. Schrift an ursprünglichen Bildern wird mit 608 angegeben (Gabelentz 1881, 47), woran sich auch bis heute nur wenig geändert haben dürfte. Als Beispiele mögen dienen: (1) > k‛âG 2 > kǒu „Mund“ (Konturen von Ober- und Unterlippe); (2) > śiǝG 2 > shǒu „Hand“ (Strichzeichnung einer Hand mit 5 Fingern); (3) > ńet 21 > rì „Sonne“ (Sonnenrund mit betonendem Punkt in der Mitte). 3.1.2. Symbolische Bilder (

zhǐshì )

Reine Symbole oder geringfügige graphische Veränderungen an ursprünglichen Bildern sowie auf den Kopf gestellte oder rechts-linksverkehrte Zeichen können Darstellungsmittel für Begriffe werden, deren konkludente Zeichnung Schwierigkeiten bereitet. Inhaltlich bestimmt werden sie durch eine durch Konvention festgelegte Interpretation, die wie bei den heutigen Verkehrszeichen sogar als Ge- oder Verbot rechtlichen Charakter an-

26.  Die chinesische Schrift

nehmen kann. Symbole dieser Art sind aber auch im privateren Bereich heutzutage durchaus nicht selten, wenn z. B. vor einer Zahl steht oder wenn man an die zahlreichen Symbole auf internationalen Flughäfen denkt. Die Anzahl der symbolischen Bilder ist in der chin. Schrift mit 107 (Gabelentz 1881, 47) verhältnismäßig gering. Es treten folgende Fälle auf: 3.1.2.1 Reine Symbole (kein chin . terminus technicus vorhanden)

Hierzu zählen vor allem die mit den Zahlwörtern identischen Ziffern (Menninger 2 1958 Bd. II, 275) von 1 bis 4 als Strichelemente allgemeiner Gültigkeit sowie einige andere Zeichen, z. B.: (4) > sǝm 1 > sān „drei“ (3 Striche als Symbol für die Zahl); (5) über > źâng 2 > shǎng/shàng „Oberseite“ (Punkt über einer Basis); (6) über > yag 2 > xià „Unterseite“ (Punkt unter einer Basis).

363

> t‛uǝt > tú „(Sturz)geburt“ (das Zeichen > tsǝg 2 > zǐ„Kind“ auf den Kopf gestellt, um die anormale Situation eines partus praecipitatus darzustellen); (11) > teG 2 > diǎo „abwickeln/auswickeln → herunterhängen“ (der abgewickelten Binden) (das Zeichen > leG 2 > liǎo „(mit Binden einwickeln → (ein Kind) fertig wickeln) → zu Ende führen/fertig sein auf den Kopf gestellt)“; (12) np > ná „tief herunterhängen“ (das Zeichen · æp > āo; wā „Vertiefung“ auf den Kopf gestellt, um den angegebenen Begriff zum Ausdruck zu bringen). (10)

3.1.2.4. Rechts-links verkehrte Zeichen (kein chin. terminus technicus vorhanden)

Der Ideen- und Gestaltungsreichtum der chin. Schrift hat manchmal einen einfachen Punkt dazu verwendet, um auf einen bestimmten Teil und damit einen beabsichtigten Sinninhalt eines Zeichens hinzuweisen: > mât > mò „Ende“ (Betonung (7) des oberen Teils eines Baumes: geht nicht mehr weiter, Schluß): (8) > md 3 > wèi „noch nicht“ (Betonung des mittleren Teils eines Baumes: die Spitze ist noch nicht erreicht); (9) > pǝn 2 > běn „Wurzel → Ursprung“ (Betonung des unteren Teils eines Baumes: Wurzeln und daraus unmittelbar abgeleitete Bedeutungserweiterungen).

In der chin. Schrift ist schließlich noch das Mittel verwendet worden, vorhandene Zeichen seitenverkehrt darzustellen, um einen gegenteiligen Begriff zum Ausdruck zu bringen. (13) > p‛uǝr 2 > pǒ „nicht können“ (das Zeichen > k‛âr > kě „können“ umgedreht, um das Gegenteil auszudrücken); (14) > yâG 2 > hòu „Beamter im Innendienst“ (das Zeichen > sǝg 1 > sī „Beamter im Außendienst“ umgedreht); (15) > śed 1 > shī „Leichnam“ (das Zeichen > nen 1 > rén „Mensch“ seitenverkehrt geschrieben) > pǝk > běi scheinen zwar beide Bei Komponenten im selben Zeichen nebeneinander zu stehen, aber hier sind 2 Rücken an Rücken stehende Menschen dargestellt (s. u. Beispiel 18).

3.1.2.3. Auf den Kopf gestellte Zeichen

3.1.3. Zusammengesetzte Bilder (

3.1.2.2 Graphische Veränderungen (kein chin. terminus technicus vorhanden)

(kein chin. terminus technicus vorhanden)

In einigen Fällen haben die chin. Zeichen zu dem Mittel gegriffen, die Zeichen auf den Kopf zu stellen, um besondere Gedankeninhalte zum Ausdruck zu bringen, die z. T. das Gegenteil von dem beinhalten können, was das nicht auf den Kopf gestellt Zeichen bedeutet(e). Naturgemäß mußte sich die Anzahl solcher Zeichen in Grenzen halten, und auch zu Neubildungen ist es nicht mehr gekommen. Aus dem Schriftbild des modernen Chinesisch sind sie gänzlich geschwunden.

huìyì )

Zusammensetzungen aus ursprünglichen und/ oder symbolischen Bildern zur Darstellung eines Sinninhalts sind verhältnismäßig häufig. U nabhängig von der Aussprache des darzustellenden Wortes sollen diese Zusammensetzungen Inhalte in der Art eines Bilderrätsels wiedergeben, wobei die Zusammenstellung der Bestandteile gleichzeitig aber auch Hinweise auf die Bedeutung des Zeichens im weitesten Rahmen des Wortes geben soll. In nicht wenigen Fällen kann ein Bestandteil zudem auch Andeutungen der Aussprache enthalten, so daß der Übergang zur nächsten Gruppe (s. u. 3.1.4.) manchmal fließend sein kann.

III. Schriftgeschichte

364

(16) (17) (18)

(19) (20) (21)

> (< + ) sen 3 > xìn „Vertrauen“ (‘Mensch’ + ‘Wort’ (ein Mann, ein Wort! )); > (< + ) mang 1 > míng „hell, klar“ (‘Sonne’ + ‘Mond’); > (< + ) pѷk > běi „sich abwenden“ , infolge späterer Ersetzung durch pǝg 3 > bèi frei geworden für die Bedeutung „Norden“ (2 sich den Rücken zukehrende Menschen); > > b‛âg 3 > bù „zu Fuß gehen“ (2 voreinander gesetzte, schreitende Füße); > t‛uѷn 2 > chuǎn „sich abwenden“ (2 voneinander abgewandte Füße); > γaN 1 > xiáng „heruntersteigen“ (2 nach unten gerichtete Füße).

Hierher gehören auch alle diejenigen Zeichen, die aus 2—8facher Wiederholung des Grundzeichens bestehen, worunter die 2- und 3fachWiederholungen weitaus im Vordergrund stehen. nen > rén „Mensch“; (22) dz‛âN 1 > cóng „folgen“ (2 Menschen hintereinander); ngǝm 1 > yín „Menschenansammlung“ (3 Menschen zusammen; heute als Abkürzung für iѷN > zhòng „viele, alle, die Massen“ verwendet; (23) nâg 2 > nǚ „Frau“; kεG 2 > jiǎo „schön“ (2 Frauen übereinander); nuan 1 > (2 Frauen nebeneinander); kan 1 > jiān „ungeordnetes Gedrängel“ → „(Stimmen) durcheinander → „moralisches Durcheinander“ → „Ehebruch“ (3 Frauen zusammen). Zu diesen Mehrfachzusammensetzungen gehört auch das mit 64 Strichen strichreichste Zeichen jié „geschwätzig sein“, das aus 4 lóng „Drachen“ zusammengesetzt ist, aber heute nicht mehr verwendet wird. — Schließlich gehören in diese Gruppe auch noch einige wenige Neubildungen, die aus verschiedenen Gründen notwendig geworden waren, wie die beiden um 1900 herum bei Bekanntwerden dieser Sportart aufgekommenen und heute als normal akzeptierten Zeichen pīng und pāng zur Darstellung des engl. Wortes pingpong „Tischtennis“. Ausgangspunkt war das

bīng „Waffe/Soldat“, das alleine Zeichen der Aussprache wegen für die barbarische Amputation herhalten mußte, bei der einem Soldaten einmal das rechte und dann das linke Bein ausgerissen wurde. — Schon vor den Versuchen, die Hochsprache von Běijīng (Peking) als Standardlautung in der VRC durchzusetzen, hat es einige Fälle gegeben, in denen Wörter eines Dialekts in Schriftzeichen umgesetzt werden mußten, obwohl sonst Dialekten die Gunst der Schreibbarkeit versagt worden war (s. u. 4.3.2.). Dem positiven Verb yǒu „vorhanden sein“ steht im nord-chin. Sprachbereich normalerweise die negative Entsprechung m éi yǒu „nicht vorhanden sein“ gegenüber. Die südchin. Dialekte haben daraus eine Allegroform mǎo gebildet, für die nun ein Schriftzeichen gefunden werden mußte, denn m éi yöu wird mit 2 Zeichen geschrieben und muß daher selbst in kantones. Aussprache mut 9 ju 5 zweisilbig gesprochen und gelesen werden. Der Ideenreichtum der Schreiber von Bilderschriften, die sich dieser Tatsache bewußt sind, scheint, gepaart mit einem gehörigen Schuß Spieltrieb, fast unerschöpflich gewesen zu sein. Wer auf den Gedanken kam, an dem Zeichen yǎu etwas wegzulassen, um zum Ausdruck zu bringen, daß etwas nicht vorhanden ist, ist heute nicht mǎo „nicht mehr festzustellen, das Zeichen vorhanden sein“ auf jeden Fall existiert und garantiert durch das Nichtvorhandensein der beiden kleinen Querstriche = das Nichtvorhandensein. — Mit 740 Zeichen ist diese Gruppe die zweitstärkste bei der Zeichenbildung der chin. Zeichen (Gabelentz 1881, 47). 3.1.4. Determinativphonetika ( xíngshēng oder xiéshēng ) Determinativphonetika sind die Zusammensetzungen aus einem auf den Sinninhalt/Gedankenbereich als Determinativum und einem auf die Aussprache (Lesung) als Phonetikum hinweisenden Bestandteil innerhalb ein und desselben Zeichens. Die Einsilbigkeit der chin. Sprache hatte zusammen mit der zunehmenden Tendenz zu lautlicher Vereinfachung (Beseitigung von Konsonantenclustern im Anlaut, Reduzierung der Medialvokale auf /-i-/ und/oder /-u-/ zur Palatalisierung und/oder Labialisierung sowie Abfall der Auslautkonsonanten im nord-chin. Bereich) bereits vor ca. 2000 Jahren zu einer weitgehenden Homophonisierung geführt, so daß es im schriftlichen Bereich zwangsläufig zu Mißverständnissen führen mußte, wenn ein und dasselbe Zeichen für mehrere voneinander abweichende Bedeutungen gebraucht wer-

26.  Die chinesische Schrift

den mußte, da Differenzierungsmöglichkeiten graphischer Art nicht vorhanden waren. Zwar entschied wohl der Kontext bis zu einem gewissen Grade über die konkrete Einzelbedeutung, doch mußte es zwangsläufig bei fortschreitender Nuancierung der Sprache zu U nzulänglichkeiten kommen, wenn z. B. das Zeichen uǝd 1 > zhuī „kurzschwänziger Vogel“ für die bislang schriftlich nicht fixierbaren Sinninhalte {denken/ja/dieser/ (zusammen) mit/nur/obwohl/wer?/Schnur/miteinander verbinden/Vorhang/verdecken/fragen/ machen/werden} verwendet werden mußte, deren Aussprache identisch oder fast identisch war, für die es aber noch keine adäquate schriftliche Darstellungsmöglichkeit gab. Hier bot es sich geradezu an, das vorhandene Bildmaterial derart einzusetzen, daß man das vorgegebene Wort einer durch ein solches Bild darstellbaren Gedankenkategorie zuordnete und beides so miteinander kombinierte, daß der Leser mit Hilfe des Aussprachebestandteils auf das gemeinte Wort in seiner lautlichen Gestalt und mit Hilfe des Gedankenkategoriebestandteils auf die beabsichtigte Eingrenzung des Sinninhalts hingewiesen werden konnte. Der für den Gedankenbereich verwendete Teil des Zeichens wird konventionell mit dem Ausdruck bùshǒu (wörtl.) „Klassenhaupt“ (ältere Bezeichnung), „Klassenzeichen“ oder „Radikal“ (heutige Benennungen) bezeichnet. Die Verwendung solcher Radikale in einem wortdifferenzierenden Sinn kam zwar vereinzelt bereits bei den Knocheninschriften vor, weitete sich aber erst in den 400 Jahren um die Zeitenwende herum zu dem Ausmaß aus, das das Wesen der chin. Schrift heute ausmacht. Dieses geniale Hilfsmittel hat der chin. Schrift einmal die Funktionalität gegeben, ohne die eine Gebrauchsschrift nicht existenzfähig ist, zum andern aber auch die Zeichenanzahl beschert, die jedem einen gelinden Schrecken einjagt, der zum ersten Mal von ihr hört. Ganz genau weiß es ja niemand, denn das bisher umfangreichste Zeichenlexikon (Morohashi 2 1984—86) hat mit seinen 50 294 Zeichen noch längst nicht alles erfaßt, was tatsächlich existiert; es fehlen vor allem die in die Tausende gehenden Varianten, die Sonderzeichen für die chin. Dialekte, die besonderen Zeichen für den chemisch-naturwissenschaftlichen Bereich, die viet. Zeichen und noch einige kleinere Gruppen. Die Gesamtzahl dürfte damit vermutlich über 70 000 liegen. Polysyllabische Sprachen brauchen aufgrund ihrer vielfachen differenzierenden Möglichkeiten wie Deklination, Konjugation,

365

Prä-, In- und Suffixen usw. keine U mwege dieser Art zu beschreiten, da Mißverständnisse praktisch ausgeschlossen sind. Wollte man mit einem deutschen Wort in der Weise zu spielen versuchen, müßte man zunächst einmal ohne Rücksicht auf die tatsächliche, bereits differenzierende Orthographie einen rein phonetisch geschriebenen Lautkomplex etwa der Form [ve:] heraussuchen und dann nach Möglichkeiten Ausschau halten, wie Bedeutungsunterschiede dargestellt werden können, z. B. : Gedankenbereich (die) Wehr „Waffen“; : Gedankenbereich ( das ) Wehr „Aufgestautes“; : Gedankenbereich wer ? “ Mensch “. In der chin. Schrift gibt es fast kein Simplex, das nicht mit einem Radikal zu einer Gruppe von Determinativphonetika zusammengesetzt worden wäre. Wieviele solcher Reihen es tatsächlich gibt, hängt z. T. von den Auffassungen der Lexikonkompilatoren ab, inwieweit sie Faktoren wie z. B. unterschiedliche Aussprache oder graphische Abweichungen für berücksichtigenswert halten oder nicht. Ein Lexikon (Callery 1841) listet 1040 auf, ein anderes (Fenn 5 1940) zählt 888. Wären alle 214 Radikale mit den erstgenannten 1040 Phonetika verbunden, ergäben sich 222 560 Möglichkeiten; für Neuschöpfungen ist also noch genügend Raum. Die als Phonetika verwendeten Zeichen haben selbstverständlich als Simplex eine bestimmte Bedeutung, die sie in der Zusammensetzung als Determinativphonetikum natürlich auf dem Altar der Lautung opfern mußten. Es scheint aber in einer Reihe von Fällen — U ntersuchungen darüber sind noch nicht angestellt worden — dennoch so zu sein, daß zum mindesten ein gewisser Teil der Grundbedeutung des Simplex in die Reihe der Determinativphonetika mit eingeflossen ist, die mit dem betreffenden Simplex als Phonetikum gebildet worden ist. Das Zeichen > ted 1 > dī stellt vermutlich einen auf dem Boden kauernden Menschen dar, der einen zu schleifenden Gegenstand auf einen Wetzstein drückt. Aus dieser Grundbedeutung leiten sich unmittelbar Gedankeninhalte ab wie ‘niederkauern’, ‘niedrig’, ‘(herunter)drücken’, ‘sich entgegenstemmen’ u. ä. In der folgenden Tabelle 26.2 eigener Zusammenstellung aus Morohashi 2 1984—86 sind alle Zeichen aufgeführt, in denen als Phonetikum vorlb/> kommt, selbst wenn die Aussprache vom Simplex abweicht. Bei der Bedeutung ist soweit

III. Schriftgeschichte

366

möglich eine Verbindung zur Grundbedeutung hergestellt und besonders hervorgehoben worden (die U nregelmäßigkeiten werden im Anschluß an die Tabelle erläutert, soweit sie für das Verständnis von grundlegender Bedeutung sind). Von den 68 Zeichen dieser Übersicht mit ihren 73 Lesungen (5 unterschiedliche Zweifachlesungen sind darunter) entsprechen 48 (= 65,75%) der Grundlesung . Für die abweichenden Lesungen können 2 Gründe verantwortlich gemacht werden: einmal der Zusammenfall ehemals differenzierter Strichanordnungen zu einer einzigen, jetzt daher homographen Darstellung, was jedoch überhaupt keinen Einfluß auf die Aussprache hatte; Schreibvarianten, Verwechslungen, Fehlschreibungen, hyperkorrekte Formen, geringfügige Aussprache- und Tonunterschiede trugen das ihre dazu bei, U nregelmäßigkeiten zu zementieren. Vor allem aber führte der Wortbildungsmechanismus des archaischen Chin. zu einer Vielfalt heute unterschiedlicher Aussprachen, da Silbenan- und -auslaut innerhalb ein und derselben Artikulationsgruppe sowie der Medialvokal zwischen /∅/, /i/ und /u/ gesetzmäßig wechseln konnten, um Bedeutungsunterschiede darzustellen. Das archaische Chinesisch hatte die Silbenstruktur A NLAUT — H AUPTVOKAL — A USLAUT mit folgenden Anlauten: Labiale Dentale Sibilanten palatalen Dentale palatalen Gutturale Gutturale

p t ts   k

p‛ b‛ m t‛ d d‛ n ts‛ dz‛ ‛ ‛ ń ‛ ńģ ‛ k‛ g‛ ng

ṃ s ś  x

l z ź j γ.

Die Anlautkonsonanten konnten rein in der Form dieser Tabelle auftreten, so wie es die Grundlesung der Übersicht zeigt. Sie konnten aber auch palatalisiert sein, was durch den Palatalisierungsbogen ̑ mit nachfolgendem /i/ kenntlich gemacht wird (Nr. 8017, 17 035, 17 037, 17 040, 22 093, 24 093, 25 000, 31 203, 36 720, 46 050, 46 806). Eine weitere Differenzierungsmöglichkeit bestand in der Labialisierung des Anlauts (durch /u/ unmittelbar hinter dem Anlaut gekennzeichnet, in der Übersicht aber nur bei der irregulären Lesung der Nr. 18 974; bei der Grundlesung nicht vertreten). Auch Palatalisierung und Labialisierung zusammen (/ ĩu/) kamen vor, sind aber in der Übersicht ebenfalls nicht vertreten. Hauptvokale konnten sein:

Vorderzungenvokale Mittelzungenvokale /a/-Laute

 ǝ â

ε

e ɐ æ a

ӛ  ä

Der Hauptvokal der Grundlesung in der Übersicht ist also der geschlossene Vorderzungenvokal /e/, der nur bei Nr. 29 041 zu dem Mittelzungenvokal /ǝ/ und bei Nr. 46 806 zu dem sehr offenen /a/-Laut /æ/ abgewandelt worden ist. Im Auslaut waren vertreten: Labiale Dentale Gutturale implosive Gutturale

p t k Q

b d g G

m n ng N

r

Bei ihnen war ein Austausch innerhalb derselben Reihe möglich. Die Grundlesung der Übersicht hat einen Dental zum Auslaut, so daß also noch /-t, -n/ und /-r/ zur Wortbildung herangezogen werden konnten (vgl. die Nr. 17 035, 17 037, 29 041, 46 806). Die übrigen Lesungen in der Übersicht sind als irregulär einzustufen und interessieren in diesem Zusammenhang nur am Rande. Nicht unerwähnt bleiben soll noch die Tatsache, daß das Proto-Chinesisch aller Wahrscheinlichkeit nach die Anlautkonsonantencluster *kl-, *gl-, *pl-, *bl-, *ml-, *dk- und *tg- hatte, die allerdings bereits im archaischen Chinesisch aufgespalten wurden, so daß trotz gleichen Phonetikums jeweils eine Reihe mit dem 1. und eine andere Reihe mit dem 2. Bestandteil des Clusters als neuem Anlaut entstand. Die genannten Austauschmöglichkeiten hätten theoretisch im Höchstfall 128 Kombinationen ergeben können, die aber nie ausgeschöpft worden sind. Sie sind der Grund für die weitgehenden Aussprachedivergenzen trotz gleichen Phonetikums sowohl im heutigen Chinesischen als auch im Sino-Japanischen, Sino-Koreanischen und Sino-Vietnamesischen. Determinativphonetika sind im Ansatz in den Knocheninschriften bereits vorhanden, wie z. B. das aus dem Radikal > „Frau“ und dem Phonetikum > mɐd 3 > wèi zusammengesetzte Zeichen > mǝd 3 > mèi „jüngere Schwester“ (Shima 1977, 141). In größerem U mfang treten sie aber erst ab der Zhōu-Zeit (11. Jh.—256 v. Chr.) auf, um schließlich heute mit 94,8% des gesamten Zeichenbestandes die wichtigste Gruppe der Zeichenbildung überhaupt auszumachen (Gabelentz 1881, 47). Neue Zeichen, deren Bildung manchmal notwendig ist

26.  Die chinesische Schrift

367

Tab. 26.2 Morohashi-Nr. 504

2918

Zeichen

chinesisch arch. mod. dī ted 1 ted 3



3438

ted 2



5001

ted 2



5880

6144

ted 1

ted 1





8017

d‛ed 1 t

chī

9262

ted 2



9751

ted 2



10069

ted 1



10468

ted 3



11921

ted 2



Bedeutung NIEDRIGER (= kleiner) Mensch → NIEDRIG Klippen NIEDRIGER machen (= Geländeunebenheiten ausgleichen) → einebnen (mit) NIEDRIGE(N) Worte(n) reden → schelten NIEDRIGER (werdender) Ort → Abhang; Erdrutsch großer, NIEDRIGER Teil (= Boden, Fundament) → groß (ein für einen weiblichen Volljährigkeitsnamen verwendetes Zeichen) (die NIEDRIGE (?) → die Kleine (?)) (Bezeichnung eines Berges) (der NIEDRIGE (?)) NIEDRIGER Teil eines Hauses → Fundament, Boden (Rot lackierter, mit Schnitzereien verzierter Schießbogen als Auszeichnung für Verdienste) mit NIEDRIGER Geschwindigkeit herumlaufen → einen Bummel machen in NIEDERgedrückter Stimmung sein ein Messer mit der Hand auf einen Wetzstein NIEDERdrücken → sich entgegenstemmen → Widerstand leisten

Moroha- Zei- chinesisch shi-Nr. chen arch. mod. 12246 dì ted 3 13068 dǐ ted 2

13164

ted 2



13854

ted 2



14640

ted 2



14988

ted 2



17035

d‛et tet ted 1

diè zhì dī

d‛et tet ·ǝn

diè zhì yìn

ted 3

zhì

17041

·ed 1



17042 17299

γεG 3 γâG 2 ted 3

xiào hào dì

18974 19988

γuen 1 xuán dǐ ted 2

17036 17037 17040

20069

ted 2



20352

ted 2



Bedeutung NIEDERschlagen mit Zweigen NIEDERhalten → verstecken, versteckt sein sich (wie unter Stockschlägen) NIEDERkauern (NIEDRIGstehende(?)) Sonne NIEDRIGER Teil des Baums → Wurzel NIEDRIGER Teil des Daches → Dachtraufe (sich) berühren herausziehen (falsch für Nr. 5880) } (identisch mit Nr. 17035) sich NIEDERlegen sich in Richtung auf ... hin bewegen NIEDERlegen, NIEDERgelegt sein falsch sein (ein Ortsname) auf eine(r) gleiche(n), NIEDRIGERE(N) Höhe bringen/ sein → nivellieren → ordnen/geordnet sein schwarz sein den Kopf NIEDRIG halten und mit den Hörnern aufeinander losgehen → (sich) berühren (identisch mit Nr. 19988) (Bezeichnung eines Hundes) (von NIEDRIGER Statur (?))

III. Schriftgeschichte

368

Tab. 26.2 (Fortsetzung) Morohashi-Nr. 21478

22093

Zeichen

chinesisch arch. mod. dì ted 3

ted 1

zhī

23241

ted 3



24093

ted 2 ed 2

dǐ zhǐ

24665

ed 1

zhī

25000

ed 1

zhī

27330

ted 1



28238

ted 1



28470

ted 1



29041

29395

30296

30399

en 2

ted

3

d‛eg 2

ted 3

zhěn



shì



Bedeutung größeres Keramikgefäß (Kanne) mit NIEDRIGEM (= tiefem) Boden zur Aufnahme von Flüssigkeiten Fußschwiele (an NIEDRIGER (= unterer) Stelle prüfend auf etwas NIEDERsehen auf einen Wetzstein NIEDERdrücken → wetzen, schleifen; Schleifstein sich vor übernatürlichen Wesen NIEDERwerfen → ehrerbietig sein Getreide, bei dem die Ähren sich NIEDERzusenken beginnen → Fruchtansatz beim Getreide (NIEDERgefallene) Fadenabfalle Hasenfangnetz (um den Hasen NIEDERzuhalten) Widder oder 3jähriges Schaf (Jungtier NIEDRIGEN Alters (?)) einer NIEDRIGEREN Stelle Weisungen erteilen → verkünden; in PROSKYNETISCHER Haltung zu)hören die GRUNDlegenden, beim Opfer wesentlichen Teile eines Tieres (Rükken, Rippenstück, Schulter, Oberund Unterschenkel lecken (falsch anstelle von ) (NIEDRIGES (?)) (Kriegs)schiff

Moroha- Zei- chinesisch shi-Nr. chen arch. mod. 30845 dǐ ted 2

31202

ted 2



31203

ed 1 d‛ed 1

zhī chī

32922

ted 3



34199

ted 1



34833

meg 1



35051

ted 2



35356

ted 2



36720

d‛ed 1

chí

37098

ted 1



37435 38238

ted 3 ted 2

dì dǐ

38385

ted 2



Bedeutung Adenóphora triphýlla (Thunb.) A. DC. var. japónica Hára (eine ostasiatische Schellenblume) (identisch mit Nr. 30845) ungeschnitten in Flüssigkeit NIEDERgedrücktes (= eingelegtes) Gemüse insektenförmig vom Himmel herNIEDERhängendes Gebilde → Regenbogen NIEDRIGES (= unteres) Kleid → Unterkleid Augenausdruck eines Kranken (NIEDERgeschlagen(?)) den Kopf NIEDRIG halten und mit den Hörnern aufeinander losgehen → (sich) berühren (mit) NIEDRIGE(n) Worte(n) reden → schelten auf gelbem Grund weiß gestreifte Muschel sich in Richtung auf ... hin bewegen NIEDERtreten an größeren Wagen hinten angebrachte Bremsstange zur ErNIEDRIgung (= Herabsetzung) der Geschwindigkeit an einem Abhang (identisch mit Nr. 38238)

26.  Die chinesische Schrift

369

Tab. 26.2 (Fortsetzung) Morohashi-Nr. 38794

Zeichen

chinesisch arch. mod. dǐ ted 2

39347

ted 2



39466

ted 2



39819

t‛ed 2



41592

ted 2



41991

k‛ed 1

chī

Bedeutung NIEDERgehalten sein → sich aus Ärger oder Trotz nicht vom Fleck bewegen NIEDERlassung → Wohnsitz, Residenz („gewöhnliches Zeichen“ für Nr. 39347) das, was sich von der Milch NIEDERgesetzt hat → reine Butter NIEDRIG(ER werdender) Ort → Abhang, Hügel Milvus mígrans (Schwarzmilan) oder Milvus mígrans lineátus (Schmarotzermilan) bzw. die Ordnung Strigifórmes (Eulenvögel); NIEDRIG einschätzen → geringschätzen

(s. u. 4.3.), werden mit verschwindend geringen Ausnahmen nach dem Prinzip der Determinativphonetika gebildet. 3.2. Verwendung der Schriftzeichen Den die graphische Zusammensetzung als äußeres Kriterium behandelnden vier Gruppen von Schriftzeichen stehen noch zwei mit dem inneren Kriterium der Verwendung gegenüber. 3.2.1. Bedeutungswandel (

zhuǎnzhù )

Bedeutungswandel ist die Verwendung ein und desselben Zeichens in einem von der ursprünglichen Bedeutung abgeleiteten Sinn, wobei fast immer auch ein gewisser Wandel der Aussprache mit einher geht. Bedeutungswandel (Bedeutungserweiterung oder -verengung, -verbesserung oder -verschlechterung) bleibt in keiner Sprache zu keiner Zeit aus, wobei im Einzelfall erhebliche Auffassungsunterschiede entstehen können, ob es sich bereits um einen Bedeutungswandel handelt

Morohashi-Nr. 42756

43417

44073

45155

46050

46805 46806

Zei- chinesisch Bedeutung chen arch. mod. NIEDRIGER ted 3 dì Teil aus Leder → Schuh(e), Sandale(n) den Kopf NIEDted 1 dī RIG machen → gesenkten Hauptes zu NIEDRIGEN ted 1 dī Kosten (oder kostenlos) essen → nassauern NIEDRIGER ted 2 dǐ Knochen → Steißbein Gádus macrocéphaed 1 zhī lus (Pazifikkabeljau) (identisch mit Nr. ‛ed 1 chī 41991) Gállus gállus ær 1 zhī fórma doméstica (Haushuhn)

oder nicht. Dies gilt auch für die Einordnung einzelner Zeichen in diese Gruppe, so daß die Angaben über die hierunter zu zählenden Zeichen stark variieren (einer Zählung zufolge (Gabelentz 1881, 47) sollen es 372 Zeichen sein). Bei weitestgehender Auslegung des Begriffs „Bedeutungswandel“ könnte man durchaus zu der Auffassung gelangen, daß kein chin. Schriftzeichen davon verschont geblieben ist. > *nglεQ „Quércus acu(24) tíssima Carruth. (eine Eichenart) mit Eicheln an den Zweigen“ ngεQ > {1} yuè „Eicheln der Quércus acutíssima Carruth. in Kastagnetten → Musik(instrument) vgl. mod. yīnyuè „Musik“ > {2} yào „gerne haben; (sich) wünschen“ vgl. mod. yuànyào „Bittgebet“

III. Schriftgeschichte

370

lεQ > {1} lè „sich freuen: ruhig sein“ vgl. mod. kuàilè „Freude“ > {2} luò „sporadisch“ vgl. mod. bàoluò „vereinzelte Blätter an einem Baum“ > {3} lào (nur in 2 Kreisnamen vorkommende Lesung, z. B. Làoting (Prov. Héběi). Eine weitere Nebenlesung liáo hat keine Anwendungsbeispiele)  lε G 3 liàojī > liào „heilen“ vgl. mod. „den Hunger stillen“ Das obige Beispiel zeigt auch die Aufspaltung eines proto-chin. Anlautkonsonantenclusters, der in 3.1.2. angesprochen worden war. Die fast verwirrende Vielfalt der Lesungen hatte noch Anfang dieses Jahrhunderts insofern Konsequenzen gehabt, als eine ganze Reihe von Zeichen neben der normalerweise verwendeten Aussprache noch eine von ihr abweichende sog. Leseaussprache gehabt hatte; diese Diskrepanzen wurden erst 1920 beseitigt (Martin 1982, 82), nachdem die literarische Revolution im Gefolge der sog. „Bewegung des 4. Mai“ wŭsì-yùndòng, die 1919 die Modernisierung Chinas auf ihre Fahnen geschrieben hatte, auch durchzusetzen vermochte, daß die bisherige Schriftsprache wényán durch den der U mgangssprache angenäherten Schreibstil báihuà als Medium auch der schriftlichen Kommunikation ersetzt wurde. 3.2.2. Entlehnungen (

jiǎjiè )

Der Reichtum an Homophonen hatte der chin. Schrift schon immer große Schwierigkeiten beschert, wenn es darum ging, Worte zu schreiben, für die aus irgendeinem Grund kein adäquates Zeichen zu finden war. Hier half man sich, indem man Zeichen in einer mit dem ursprünglichen Sinninhalt in keinerlei Zusammenhang stehenden Bedeutung verwendete, nur weil die Lautungen identisch waren. Entlehnungen in diesem Sinne waren im Frühstadium der Schriftentwicklung naturgemäß häufiger, da Ausbildung und insbesondere Verwendung der Determinative (= Radikale) noch nicht so verbreitet waren wie später. U nter denjenigen Wortkategorien, die sich gegen eine schriftliche Fixierung sträubten, waren vor allem Pronomina und Abstrakta, bei denen bild- oder rebusartige Darstellungsweisen versagen mußten. Dabei ist es durchaus nicht so, daß etwa nur ganz selten verwendete Zeichen für Entlehnungen prä-

destiniert gewesen wären, denn es kommen sehr wohl auch ganz ‘normale’ Zeichen vor. Die Grenze zum Bedeutungswandel ist manchmal fließend bzw. Auffassungssache, so daß die für diese Gruppe genannte Zahl von 598 Zeichen (Gabelentz 1881, 47) nur mit einem gewissen Vorbehalt angeführt werden kann. (25) d‛âG 3 > dòu ursprünglich: Bild eines bauchigen Opfergefäßes mit Fuß und Deckel (cantharus mit operculum); entlehnt für: Gesamtbezeichnung aller Leguminosen Zwar war es einerseits bestimmt so, daß man dieses Opfergefäß nicht ständig im Munde führte, so daß das Zeichen sozusagen zur Adoption freigegeben war, aber andererseits hatte man ja die so nützlichen Radikale, um einen Gedankenbereich abzustecken. Der Gedankenbereich Pflanzen wird durch den Radikal ‘Pflanzen’ dargestellt, also dòu für „Leguminosen“. Nun, das Zeichen existiert und bedeutet auch ganz artig ‘Leguminosen’, nur — es wird nicht verwendet und gilt als unorthodox. Da die ursprüngliche Bedeutung sowieso nur in einem archäologischkunsthistorischen Zusammenhang vorkommen kann, kann man es also bei dem Zeichen ohne Pflanzen-Radikal belassen, da Mißverständnisse nicht zu befürchten sind. (26) ǝg 1 > zhī ursprünglich: den Fuß ( ) über eine Startlinie ( ) setzen ( ) → voranschreiten → gehen entlehnt für: Demonstrativpronomen ‘dieser’; „Akkusativ“ des Personalpronomens der 3. Person ‘ihn, sie, es’; attributivische Verbindung zweier Satzteile Das Aufkommen neuer Wörter für ‘voranschreiten’ ( jìn) oder ‘gehen’ ( zǒu) gab das Zeichen dann schließlich für den Entlehnungsmechanismus frei. tsâQ > zú ursprünglich: Fuß, Bein; (27) treten entlehnt für: genügen, ausreichen; (auf)füllen Ein Begriff wie ‘genügen’ dürfte sich bildlichen Darstellungsversuchen völlig entziehen. U nd die sonst so hilfreichen Radikale? In welchem der doch recht anschaulichen Gedankenbereiche sollte man denn das recht unanschauliche ‘genügen’ einordnen? Da das Wort zú aber nun einmal existierte, blieb nichts anderes übrig, als ein gleichlautendes dafür einzusetzen, so daß dasselbe Zeichen bis heute sowohl für ‘Fuß’ als auch für ‘genügen’ verwendet wird, und der Leser aus

26.  Die chinesische Schrift

dem Zusammenhang erschließen muß, um was es sich handelt. Da beide Begriffe aber sehr weit auseinander liegen, dürften Interpretationsschwierigkeiten wohl kaum zu befürchten sein.

371

Alle anderen Kategorien werden unter dem Begriff Varianten zusammengefaßt. 4.2. Varianten ( 4.2.1. Alte Zeichen (

4.

Arten von chinesischen Schriftzeichen

Die ungeheure Vielfalt der chin. Schriftzeichen führte notwendigerweise über ihre lexikalische Anordnung hinaus auch zu Versuchen, die Zeichen nach Herkunft, Aufbau, Verwendung und graphischer Gestalt so zu durchleuchten, daß man insbesondere darüber Klarheit gewinnen konnte, welche Schriftzeichen denn nun als gültige Norm angesehen werden können und welche nicht. In China sind seit alters her alle Schriftzeichen gesammelt worden, die irgendwann irgendwo einmal aufgetaucht sind. Allein die U nmöglichkeit, in jeder Ecke des Landes anders zu schreiben, rief nach einer normativen Autorität, wofür das auf Anordnung von Kaiser Kāngxī (1654—1722, reg. 1662—1722) kompilierte und 1716 veröffentlichte Kāngxī-zìdiǎn ‘Kāngxī-Zeichenlexikon’ neben vorangegangenen Zusammenstellungen schließlich mit seinen 48 641 Zeichen den besten Rahmen abgeben konnte. Es enthält in erheblichem U mfang Wertungen dieser Art, an denen man trotz des inzwischen eingetretenen Fortschritts der Wissenschaft auch in diesem Bereich wegen seiner bis heute ungebrochenen Autorität nicht vorbeigehen kann. 4.1. Orthographisch richtige Zeichen ( zhèngzì) Als orthographisch richtig gelten alle Zeichen, die als Stichwort in das Kāngxī-zìdiǎn aufgenommen worden und durch keine zusätzliche Bemerkung als zu einer anderen Kategorie gehörend gekennzeichnet sind. Sie waren bis zum Ende des II. Weltkriegs unangefochtener Schreibstandard sowohl in China selbst als auch in Japan und Korea. Für die Wiedergabe klassischer Texte gilt dieser Standard auch heute noch. Moderne Texte erscheinen dagegen in der VRC und in Japan in der für das jeweilige Land gültigen, z. T. verkürzten Form, während Táiwān diese orthographisch richtigen Formen beibehalten hat und Südkorea keine offizielle Regelung kennt. (28) sæn 1 > shān „Berg“ (29) ( NICHT : ) ngïn 1 > yán „sagen“ (30) ( NICHT : ) ngän 1 > yán „polieren“

yìtǐzì) gǔzì)

Im Shuōwén-jiězì sind eine ganze Reihe von Zeichen enthalten, die mit dem Zusatz gǔwén „alte Schrift“ versehen sind. Hierbei handelt es sich um die U msetzung der ursprünglich in Kleiner Siegelschrift geschriebenen Zeichenformen in Normschrift. (31) > sǝg 2 > shǐ „Annalenschreiber“ → „Geschichte“ (32) > sed 3 > sì „vier“ (33) dz‛ѷg 3 > shì „Hand mit einer an einen Stab gebundenen Botschaft →  Übermittler einer solchen Botschaft an die Geisterwelt: Schamane; ② Übermittler einer solchen Botschaft an einen anderen: Gesandter → in politischem Auftrag entsandter Bote → die Aufgabe eines solchen Boten (ausführen) → Angelegenheit, Sache“ 4.2.2. Ursprüngliche Zeichen (

běnzì )

Diese Kategorie unterscheidet sich nicht wesentlich von den „alten Zeichen“; bei ihnen fehlt lediglich der Zusatz ‘alte Schrift’ im Shuōwén-jiězì, so daß es sich allgemein um die U msetzung der Kleinen Siegelschrift in Normschrift handelt. (34) > mâng 1 > wáng „nicht mehr sichtbar sein → nicht mehr (am Leben) sein“ (35) > lǝG 1 > liú „einen Wasserlauf () zwischen 2 Feldern (⊂ und ⊃) durch eine Barriere (̅) anhalten (später zusätzlich mit dem Determinativ ‘Feld’ ( ) versehen) → anhalten, stoppen“ (36) > b‛ed 3 > bí „Nase“ 4.2.3. Identische Zeichen (

tóngzì )

Vor der Reichseinigung von 221 v. Chr. existierten in den damaligen Staaten z. T. erheblich voneinander abweichende Zeichen für ein und denselben Begriff (s. o. 2.4.), die jedoch mit der Reichseinigung und der damit verbundenen Vereinheitlichung der Schrift nicht etwa untergegangen wären. Ganz im Gegenteil: von dem kostbaren Gut der Schrift sammelten die Chinesen, was sie nur erreichen konnten, über alle Zeitläufte hinweg in den großen enzyklopädischen Zeichenlexika. So konnte es nicht ausbleiben, daß es für manch

III. Schriftgeschichte

372

einen Begriff mehrere Schriftzeichen gab, die dann natürlich homophon waren. In einigen Fällen werden auch heute identische Zeichen gleichberechtigt nebeneinander verwendet, obwohl die meisten von ihnen nur noch ein Wörterbuchdasein fristen. (37) ↔ ↔ ↔ mïâg 1 > wú „nicht“ (als Negations- und Prohibitivadverb) (38) ↔ ↔ ↔ t′âr 1 > tā ursprünglich „ein (unbekannter) anderer Mensch → etwas anderes“, dann für das Personalpronomen der 3. P. sg. „er“ und schließlich in Nachahmung differenzierender Sprachen mit dem Radikal ‘Frau’ ( ) für „sie“ und mit dem Radikal ‘Rind’ ( ) für „es“ verwendet, obwohl selbstverständlich die Aussprache dieselbe geblieben ist und heute nur die Schrift unterscheidet (39) ↔ ↔ ↔ ·un 2 > yuán/yuàn „Garten“ 4.2.4. Ersatzzeichen ( tōng(yòng) zì) Zeichen, die aufgrund völliger Homophonie, weitgehender semantischer Identität und/oder graphischer (Teil)übereinstimmung leicht verwechselbar waren, sind damals wie heute gerne durcheinander geworfen worden, so daß Zeichen eigentlich anderer Bedeutung(en) für Inhalte benutzt worden sind, von denen der Schreiber annahm, sie seien richtig — denn wenn die Zeichenzahl in die Zehntausende geht, nimmt die Wahrscheinlichkeit, etwas falsch zu machen, rechnerisch eben zu. Obwohl die Radikale als Hinweis auf den Gedankenbereich eines chin. Zeichens eigentlich ja eindeutig sind, kommt es doch häufiger vor, als man denkt, daß sie ein Schreiber durcheinander wirft. Ein kleines Zeichenlexikon auf dem Schreibtisch ist auch heute noch oft ein rettender Engel beim mühsamen Geschäft des Schreibens. So kommt es zu den zahlreichen Fällen, in denen ein Zeichen mit einem anderen, ähnlichen verwechselt wird, der Schreiber „ersetzt“ es also irrigerweise; die klassischen Zeichenlexika geben solche Zeichen immer an. (40) nâg 2 > nǚ/rǔ „Frau“ ersetzt nâg 2 > rǔ (eigentlich ‘sanft fließendes Gewässer’) → „du“ (41) γâG 1 > hóu „Larynx (Kehle)“ ersetzt ·ӛn 1 / ·ӛt > yān/yè (kanton. jit 8 ) „Pharynx (Kehle)“

(42)

duǝd 1 > wéi „schnurstracks reden“ → (a) „ja“; (b) „nur“ ersetzt duǝd 1 > wéi „schnurstracks denken“ → „nur an eine einzige Sache denken“ → „nur“ → „dieser“; ersetzt duǝd 1 > wéi „schnurstracks miteinander verbinden“; ersetzt juǝd 1 > shui/shéi „schnurstracks fragen“ → „fragen“ → „wer?“

4.2.5. Unorthodoxe Zeichen (

súzì)

Sofern von menschlicher Hand geschrieben und nicht zu besonderen Zwecken bestimmt, wohnt jeder Schrift des alltäglichen Gebrauchs die Tendenz inne, auf vermeintlich U nnötiges verzichten zu können. Die chin. Zeichen geben dafür fast ein Paradebeispiel ab, denn ihr Reichtum an Strichen läßt unmerklich den Gedanken aufkeimen, den einen oder anderen davon einfach mal wegzulassen. Je mehr Striche ein Zeichen hat, desto größer ist die Redundanz. Bei mù „Auge“ kann man keinen der waagrechten Striche einsparen; läßt man einen weg, hat man sofort rì „Sonne“. Führt man aber bei lǔ „Kriegsgefangener“ den waagrechten Strich in der nicht über die rechte Mitte des Zeichens und linke Seite hinaus und schreibt , fällt . U nd das gar nicht weiter auf und ergibt läßt man dann auch noch das ganz weg, merkt man zwar, daß eigentlich etwas fehlt, trotzdem noch. So hat es aber lesbar ist denn zu allen Zeiten allgemein verwendete Zeichen gegeben, die in irgendeiner Beziehung wie z. B. Strichveränderungen, Zusätze, Weglassungen oder andere meist nur geringfügige Abwandlungen von der Norm der orthographisch richtigen Zeichen (s. o. 4.1.) abwichen. Das Zeichen sú in der chin. Bezeichnung dieser Kategorie hat bei der Übersetzung des Begriffs súzì in europäische Sprachen zu Mißverständnissen geführt. Seine ursprüngliche Bedeutung „Sitte, Brauchtum“ hat über „allgemein gebräuchlich“ → „populär, volkstümlich“ zu der Übersetzung „vulgär“ geführt, die zumindesten für das heutige Sprachgefühl nicht mehr adäquat sein dürfte, denn ‘gemein, gewöhnlich, unfein, ordinär’ (BrockhausWahrig, s. v. vulgär) sind diese Zeichen in keiner Weise. Deshalb soll die Bezeichnung „unorthodoxe Zeichen“ vorgeschlagen werden, um sie von dem odium vulgare zu befreien. (43) steht für tѷng 1 > dēng „Lampe„ (44) steht für d‛âng 1 > chǎng „Ort, Platz“ (45) / / steht für t‛uǝt > chū „herauskommen“

26.  Die chinesische Schrift

373

Hierzu zählen auch die zahlreichen Zeichen, bei denen lediglich die Richtung eines Striches (z. B. gerade ↔ schräg oder als Punkt geschrieben) geändert worden ist und die heute in dieser geänderten Form als Schreibstandard in der VRC gelten. (46) steht für γâg 2 > hù „einflügelige Halbtür“ (47) steht für · ân 1 > ān „beruhigt sein“ (48) steht für tǝN 1 > dōng „(Lebensmittelvorräte für den) Winter (einlagern)“ Die Abgrenzung dieser Gruppe von Schriftzeichen gegenüber den beiden nächsten (4.2.6./7.) ist oft schwierig und unterliegt starken individuellen Auffassungsunterschieden, da offizielle Unterscheidungskriterien fehlen. 4.2.6. Verkürzte Zeichen (

lüèzì)

Ein großer Teil der heute zum Schreibstandard der VRC gehörenden Zeichen weist gegenüber den orthographisch richtigen Zeichen Formen auf, die durch Weglassung bzw. Zusammenziehung einiger Striche bis zu einem gewissen Grade verkürzt worden sind. (49) steht für lâng 2 > liǎng „die beiden paarig am Balken angehängten Schalen einer Waage“ → „beide; zwei“ (50) steht für ·ag 3 > yǎ/yà „Grundriß der Grabkammer, an der die nachfolgende(n) Generation(en) die Riten für die Verstorbenen ausführt/en“ → „(nach)folgen(d)“ → „zweiter“ (51) steht für b‛äng 2 > bīng/bìng „nebeneinander stehen/stellen“ Die Abgrenzung dieser Gruppe gegenüber der vorhergehenden (4.2.5.) sowie gegenüber der nachfolgenden (4.2.7.) ist oft schwierig und unterliegt starken individuellen Auffassungsunterschieden. 4.2.7. Abgekürzte Zeichen (

shěngzì )

Durch Weglassung ganzer Zeichenteile hat es zwar schon immer Abkürzungen gegeben, zum Schreibstandard sind sie in der VRC aber erst durch die Schriftreform der Jahre 1952—77 erhoben worden. Zu einem großen Teil sind dabei graphisch komplizierte Phonetika durch einfachere ersetzt worden, wie z. B. jī durch jī und viele andere mehr. In einem Artikel der Rénmìn Rìbào ((Pekinger) Volkszeitung) vom 20. 12. 1977 waren noch weitergehende Vorschläge zur Abkürzung einer größeren Anzahl von Zeichen gemacht worden, die jedoch auf hef-

tigen Widerstand stießen, nach ein paar Wochen wieder zurückgezogen wurden und praktisch das Ende der Schriftreform bedeuteten. Am 9. 9. 1976 war Mao Zèdōng, der sich so für die Schriftreform eingesetzt hatte und die vereinfachten Zeichen selbst nie verwendete (Lindqvist 1990, 22), gestorben, und damit war dann auch wohl die Schriftreform endgültig beendet. (52) ked 1 > jī steht für ked 1 > jī „Maschine“ ( bedeutet eigentlich Tisch’ und wird in dieser Bedeutung in Japan, Südkorea und Taiwan auch heute noch verwendet) (53) steht für gâg 2 > yú/yǔ/yù („2 hochziehende E und 2 hochhebende 3 Hände greifen ineinander“) — > „ineinandergreifen“ → „geben“ → „(mit)helfen“ → „(zusammen) mit“ (54) steht für ngp > yè „(gezackte Holzzierleiste an einem Musikinstrument)“ → „schwierige Arbeit“ → „Unternehmen, Gewerbe, Arbeit“ I n einigen Fällen dienten auch Formen der Konzeptschrift als Vorlage für ein abgekürztes Zeichen, wie z. B. bei (55) steht für uan 1 > zhuān „(mit der Hand aufgewickeltes Garn)“ → „seine Aufmerksamkeit ganz einer Sache (wie dem Garnaufwickeln) widmen“ → „ganz, ausschließlich“ 4.2.8. Die Schriftzeichen der Kaiserin Wǔ ( Zètiān Wǔ-hòu zàozì ) Im Jahre 690 n. Chr. usurpierte die Witwe des Tang-Kaisers Gāozōng (628—83, reg. 649—83), Zètiān Wǔ (623—705), den Thron und hatte nichts eiligeres zu tun, als 17 neue Schriftzeichen einzuführen, die sich aber nicht durchzusetzen vermochten. Es dürfte wohl nicht mehr als eine eigenwillige Spielerei sein, wenn jap. Zeitungen aus irgendeinem Anlaß ab und zu einmal dazu aufrufen, heute so etwas als Spiel nachzuahmen und damit sogar Resonanz erzielen. sollte für ngut > yuè „Mond, (56) Monat“ (57) sollte für d‛ær 3 > dì „Erde“ oder (58) sollte für ǝng 3 > zhèng „Beweis“ stehen. 4.2.9. Falsche Zeichen (

ézì )

Mit dieser Bezeichnung versehene Schriftzeichen kommen in den Zeichenlexika vor, wo man doch eigentlich meinen sollte, daß das, was einmal als falsch erkannt worden ist,

III. Schriftgeschichte

374

nicht eigens notiert zu werden brauchte. Die im täglichen Leben so zahlreichen Fehlschreibungen, bei denen der an sich richtige Radikal durch einen vermeintlich richtigen, hier aber falschen, ersetzt wird, sowie die mehr oder weniger willkürlichen Hinzufügungen bzw. Weglassungen von Punkten oder einzelnen Strichen haben manchmal sogar die Matrizenschneider beim Entwurf ihrer Vorlage für den Letternguß aufs Glatteis geführt, so daß falsche Zeichen sogar im Druck vorkommen können. Insbesondere graphisch ähnliche Teile von Zeichen bieten sich geradezu für Verwechslungen an. (59) ist falsch anstelle von led 2 > lǐ „Ritus, Sitte(n)“. Der Radikal des Zeichens (abgekürztes Zeichen für ) ist durch geringfügige Schrägstellung des 1., 4. und 5. Strichs > geworden und würde somit den Gedankenbereich ‘Getreide’ anstatt ‘Sakrales’ zum Ausdruck bringen. (60) ist falsch anstelle von dz‛en 2 > jǐn/jìn „ein Gefäß mit einer Bürste in der Hand säubern → leer machen → ausschöpfen → erschöpfen“ (mit späterer Erweiterung durch ‘Mensch’) Da das abgekürzte Zeichen für existiert, kann man sehr schnell auf den Gedanken kommen, auch die Zusammensetzungen mit dieser Abkürzung zu schreiben, obwohl diese Zusammensetzungen offiziell mit dem nicht abgekürzten Bestandteil geschrieben werden müssen. Fälle dieser Art sind sehr häufig vorgekommen, insbesondere bei und nach der Schriftreform von 1952—77, wo fast niemand mehr wußte, was richtig war und was nicht. (61) ist falsch anstelle von en 2 > zhěn „Flecken am Körper eines Menschen → Masern“ , später zur Verdeutlichung durch das Krankheitsradidkal ergänzt. Falsch geschnittene Letter infolge Auslassung des Radikals ‘Mensch’. 4.2.10. Ligaturen (

hézì )

Bei den chin. Zeichen wurden vor allem aus Gründen der Zeitersparnis aus zwei oder mehreren Einzelzeichen bzw. deren charakteristischen Bestandteilen zusammengesetzte Zeichen gebildet, um immer wiederkehrende Begriffe einfacher schreiben zu können. Im äl-

teren Bereich handelt es sich häufig um Termini aus dem Buddhismus, die eine Vorliebe für vielstrichige Zeichen entwickelt hatten. shèngwén (62) gibt das Binomen „śrāvaka“ (Buddhaschüler) wieder, wobei der beiden Zeichen gleiche Bestandteil „Ohr“ in seiner Konzeptschriftform > doppelt übereinandergesetzt worden ist. Dabei konnten auch sehr verwechslungsfähige Zeichen entstehen, wie z. B. jīngāng (63) für das Binomen „vajra“ (Festigkeit, Beständigkeit) → „Diamant“, wobei der obere Bestandteil des Zeichens und der rechte Bestandteil des Zeichens kombiniert worden sind, aber genauso aussehen wie das orthographisch richtige Zeichen kad 3 > jiè „in einer Rüstung stekkender Mensch ( )“ → „dazwischenstecken → dazwischentreten → sich einmischen → vermitteln. Als Anfang dieses Jahrhunderts englische Maße und Gewichte in China eingeführt wurden, ist ein Zeichen für den Begriff ‘Seemeile’ geschaffen worden, das gerade auf der Grenze zwischen Ligatur und neuem Zeichen steht. hǎilǐ < dem linken Bestandteil (64) ‘Wasser’ des Zeichens hǎi ‘Meer’ und dem ganzen Zeichen lǐ ‘Meile’. Keine dieser Ligaturen konnte sich wirklich durchsetzen, so daß sie im heutigen Schriftbild nicht mehr erscheinen. Auch qiānwǎ „Kilowatt“ < qiān „1000“ (65) und wǎ für „Watt“ ist wieder verschwunden. Der Grund dafür ist wohl in der Tatsache zu suchen, daß diese Ligaturen zweisilbig gelesen werden müssen, was den Prinzipien der chin. Schrift zuwiderläuft. Die Wandzeitungen während der Wirren der „Kultur„revolution haben zahlreiche Ligaturen dieser Art hervorgebracht, bei denen bis zu 5 Zeichen zu einem zusammengefaßt worden sind, das aber dann auch 5-silbig gelesen werden mußte. Ein Beispiel für eine 4-Silben-Ligatur ist shèhuì-zhǔyì „Sozialismus“ < dem (66) Radikal des 1. Zeichens und dem ganzen 4. Zeichen des Ausdrucks Während des Koreakrieges (1950—53) wurde von chin. Seite das Zeichen

26.  Die chinesische Schrift

(67)

kàng-Měi yuán-Cháo „den USA Widerstand leisten und (Nord)korea unterstützen“ < dem Radikal des 1. und dem rechten Bestandteil des 4. Zeichens des Ausdrucks

verwendet. In der Handschrift kommen Ligaturen dieser Art immer wieder vor und sind auch nicht auf den politischen Bereich beschränkt. Früher gab es bereits solche Beispiele: lìshǐ „Geschichte" < dem Radikal (68) des 1. und dem ganzen 2. Zeichen des Binomens réngōngshi „Kunststein“ < Zusam(69) mensetzung der 3 Einzelzeichen ‘(von) Menschen’ ‘gearbeiteter’ ‘Stein’ zu einem einzigen Zeichen. Andererseits bestand aber in der neueren Zeit seit etwa 300 Jahren insbesondere für die schriftliche Fixierung der gesprochenen Sprache die Notwendigkeit, neue Darstellungsmittel für die Allegro-Formen zu schaffen, die sich ja in jeder Sprache laufend bilden. Sie sind durch Einsilbigkeit charakterisiert, so daß sie mit dem Prinzip der Schrift 1 Silbe = 1 Zeichen im Einklang stehen. Die auf diese Weise notwendig gewordenen Einzelzeichen sind sämtlich Ligaturen aus den Lento-Formen der Sprache, wie z. B. búzhèng „nicht (70) wāi „schief < gerade“ bùhǎo „nicht (71) nāo „schlecht“ < gut“ búyòng (72) béng „unnötig“ < „nicht nötig“ und viele andere gleichen Aufbaus. 4.3. Neu geschaffene Zeichen Neue Begriffe in ein etabliertes Schriftsystem aufzunehmen, bereitet in Buchstaben- oder Silbenschriften schon Schwierigkeiten, ist für die chin. Schrift aber noch viel schwieriger; sie läuft fast zwangsläufig darauf hinaus, neue Zeichen zu schaffen. Als der Buddhismus etwa ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. in China Fuß faßte, brachte er mit seiner von der chin. verschiedenen Gedankenwelt auch seine zahlreichen Fachtermini mit, von denen einige trotz der Bemühungen der in Indien ausgebildeten Chinesen und der nach China gekommenen Inder den Übersetzungsversuchen trotzten. Ein instrukives Beispiel dafür ist das Sanskrit-Wort saṃgha (damalige Aussprache etwa [ t sãgha], wörtlich: „Zusammenschluß“),

375

das die buddhistische Mönchsgemeinde bezeichnet, einer Übersetzung ins Chinesische aber heftigen Widerstand entgegensetzte und daher phonetisch transliteriert werden mußte. Welcher Art diese Widerstände waren, läßt sich unschwer daran ablesen, daß keine der ins Auge gefaßten chin. Entsprechungen für ‘Zusammenschluß, Vereinigung’, usw. eine Bedeutung zu suggerieren vermochte, die etwas mit einer Klerikervereinigung zu tun gehabt hätte. Die U msetzung der beiden Sanskrit-Silben ins Chin. ergab zwar verhältnismäßig einfach die Lautung [tsǝŋ 1 -kar 1 ], die Schreibung mit passenden Schriftzeichen bereitete aber etwas größere Schwierigkeiten, da sich bei Auswahl chin. Schriftzeichen stets ihr semantischer Hintergrund lautstark zu Wort meldet. Fiel die Wahl z. B. auf die beiden Zeichen , so wäre nicht auszuschließen gewesen, neben den wörtlichen Eigenbedeutungen „früher“ — „hinzufügen“ auch an einen Personennamen zu denken, da das erste Zeichen häufig als Familienname vorkommt. U m solchen etwaigen Mißverständnissen von vornherein vorzubeugen, wandte der „Erfinder“ einen im späteren Verlauf der Schriftgeschichte noch öfter verwendeten Trick an: er versah beide Zeichen mit dem graphischen Zusatz , der in sehr vielen Zeichen vorkommt und zum Ausdruck bringt, daß das betreffende Zeichen in den Gedankenbereich . Damit war ‘menschliche Wesen’ gehört: zweierlei erreicht: einmal eine Schreibung, die das Wort einigermaßen phonetisch adäquat wiederzugeben imstande war, und die zum anderen durch den Zusatz = ‘Mensch’ einen gewissen Anhaltspunkt liefern konnte, in welchen Zusammenhang der neue Begriff zu stellen war. Ein zusätzlicher positiver Nebeneffekt bestand noch darin, daß sich etwas völlig Neues, wie es diese beiden Zeichen waren, besser einprägt als Altbekanntes. In China werden noch heute neue Zeichen geschaffen, wenn die Notwendigkeit dazu besteht. U nd sie besteht z. B. in den Naturwissenschaften. 4.3.1. Neue Zeichen in den Naturwissenschaften Für die bekannten chemischen Elemente wie Kupfer, Gold, Silber, Eisen usw. haben in China seit jeher etablierte Bezeichnungen und daher auch Schriftzeichen existiert. Es versteht sich dabei von selbst, daß die Benennungen aus e i n e r Silbe bestanden und mit e i n e m Schriftzeichen geschrieben wurden und werden. An diesem Prinzip änderte sich

376

III. Schriftgeschichte

auch nichts, als immer neue Elemente und immer neue chemische Verbindungen benannt werden mußten. Die dafür notwendigen neuen Zeichen haben inzwischen einen U mfang erreicht, der es selbst dem interessierten Laien praktisch unmöglich macht, z. B. einen Zeitungsartikel mit chemischen Fachausdrükken zu verstehen. Die neuen Zeichen in diesem Bereich sind alle nach dem Prinzip der Determinativphonetika gebildet, bei denen ein Determinativum in der Regel angibt, ob es sich um Metall, Gas, Stein usw. handelt, während das Phonetikum die ungefähre englische Aussprache der ersten (falls diese bereits anderweitig besetzt ist, der zweiten) Silbe wiederzugeben versucht. Daß es dabei fast nie ohne größere Kompromisse abgeht, versteht sich von selbst. láo „ Law rencium“ (Lr) < Radikal (73) ‘Metall’ und Phonetikum láo zur Wiedergabe der 1. Silbe nǎi „Neon“ (Ne) < Radikal (74) ‘Gas(e)’ und Phonetikum nǎi mit [ai > ε] zur Wiedergabe der 1. Silbe (75) gǔ „ Ko balt“ (Co) < Radikal ‘ Metall’ und Phonetikum gǔ zur andeutungsweisen Wiedergabe der 1. Silbe

Bei Verbindungen usw. ist dasselbe Prinzip zur Anwendung gelangt und interessanterweise auch bei theoretischen Begriffen nicht außer Acht gelassen worden. tóng „Ke tone “ (R 1 — CO — R 2 ) < (79) Radikal als Indikator für eine Reihe von Stoffen, die weder Metall noch Gas oder Stein sind (Schwierigkeit der Zuordnung und zunehmender Aufbrauch eigentlich zuständiger Radikale!) und dem Phonetikum tóng zur Wiedergabe der 2. Silbe (80) běn „Ben zol“ (C 6 H 6 ) < Radikal > ‘Gräser’ aus demselben Grund wie in Beispiel (79) und dem Phonetikum běn zur Darstellung der 1. Silbe (81) hán „Enthalpie“ < Radikal ‘Wärme’ und dem Zeichen hán ‘enthalten sein’, da Enthalpie als die gesamte Wärme definiert ist, die in einem System enthalten ist shāng „Entropie“ < Radikal (82) ‘Wärme’ und dem Zeichen shāng ‘Quotient’, da Entropie als Quotient aus der reversiblen Wärme menge und der absoluten Temperatur eines Systems definiert ist.

Die neuen Zeichen beschränken sich jedoch nicht auf die Bezeichnung chemischer Elemente, sondern sind auch für andere chemische Termini von Verbindungen, funktioneilen Gruppen und sogar Begriffen der Theorie gebildet worden. piē „ P rotium“ ( ) < Radikal (76) ‘Gas(e)’ und dem Phonetikum piě zur Wiedergabe des Anlauts und gleichzeitig durch Verwendung eines Strichs zur Andeutung des Wasserstoffisotops mit der Massenzahl 1 dāo „Deuterium“ ( , D) < Radikal (77) Gas(e)’ und dem Phonetikum > dāo zur Wiedergabe des Anlauts und gleichzeitig durch Verwendung zweier Striche ǁ zur Andeutung des Wasserstoffisotops mit der Massenzahl 2 chuān „ T ritium“ ( , T) < Radikal (78) Gas(e)’ und dem Phonetikum chuān zur ganz schlechten Wiedergabe des Anlauts und durch Verwendung dreier Striche  zur Andeutung des Wasserstoffisotops mit der Massenzahl 3. Der Zwang des Systems hatte bei den Strichen zur Kennzeichnung der Massenzahl keine andere Wahl mehr gelassen, als auf chuān auszuweichen, obwohl sich Anlaute mit [t ~ t‛] durchaus hätten darstellen lassen.

Ein interessanter Systemzwang erschien ebenfalls auf naturwissenschaftlichem — diesmal zoologischem — Gebiet in den 60er Jahren dieses Jahrhunderts. Das erst 1901 in Äquatorialafrika entdeckte Okapi (Okapia johnstoni) wurde bis in die 50er/60er Jahre in der VRC und wird heute noch in Taiwan chin. huòjiāpí geschrieben, ohne daß auch nur eines der 3 Zeichen irgendeinen Hinweis darauf hätte, daß es sich um ein Tier handelt. Nun existieren aber 2 heute nicht mehr verwendete Zeichen jiā (eigentliche Bedeutung: „500jähriger Affe, der auf Menschenfang ausgeht“) und pi (eigentliche Bedeutung: „in die Höhe fliegen“), die aussprachemäßig die 2. und 3. Silbe des Wortes ‘Okapi’ wiederzugeben imstande sind und durch das Tier-Radikal darüber hinaus noch einen Anhaltspunkt geben können, in welchen Gedankenbereich das Wort gehört. Die Verlokkung, diese beiden Zeichen als phonetische Wiedergabe von ‘-kapi’ zu verwenden, muß so groß gewesen sein, daß man nun auch nicht mehr widerstehen konnte, das 1. Zeichen (eigentliche Bedeutung: „Schreckruf der Vö-

26.  Die chinesische Schrift

gel z. B. bei einem Gewitter“) mit dem TierRadikal zu versehen, um ein einheitliches äußeres Erscheinungsbild des ganzen Wortes zu erhalten. Dieses neue Zeichen ist weder in den Shànghǎier Ausgaben des chin. Standardwörterbuches Cíhǎi von 1936 (Erstausgabe) und 1948 noch in der Táiwān-Ausgabe von 1962 enthalten, sondern erscheint erst in den VRC-Ausgaben, und zwar interessanterweise 1965 in der Aussprache /ō/ zur Wiedergabe der 1. Silbe von ‘Okapi’ unter Außerachtlassung des Phonetikums /huò/, 1979 aber dann in der Aussprache /huò/, womit dem Prinzip der Determinativphonetika wieder voll Geltung verschafft worden ist. Die VRC schreibt heute ausnahmslos in der neuen Form huòjiāpí, während Taiwan es bei Formen beläßt, die keinen Bezug auf „Tier“ enthalten.

377

(88)

jɐp 7 „etwas, das naß geworden ist und wieder trocken werden muß, aber noch nicht wieder trocken ist“

4.4. Tabu-Zeichen ( jìngbì-zì oder

huì )

Nachdem die gesprochene Sprache seit Beginn dieses Jahrhunderts auch in literarischen Werken mehr und mehr Verwendung gefunden hat, ist es nur natürlich, daß darin auch manche Dialektausdrücke vorkommen, die für eine bestimmte Region charakteristisch sind, für die die Standardschrift aber keine Zeichen zur Verfügung hat. Einerseits waren sie in gewisser Beziehung verpönt, andererseits offiziell aber auch nicht gefördert, da die Standard(hoch)sprache aus der Sorge heraus, die Zementierung von Dialektunterschieden könne sich negativ auf die angestrebte Einheitlichkeit der Sprache und damit auch auf die politische Einheit auswirken, im Mittelpunkt des Interesses stand und steht. Trotzdem sind Dialektausdrücke überregionaler Bedeutung in Lexika der Standardsprache aufgenommen, und es gibt eine Reihe von Dialektwörterbüchern, die auch die eigens für solche Begriffe geschaffenen Zeichen aufführen. Aus den beiden großen Dialektgebieten Shànghǎi und Guǎngdōng (Kanton) seien einige Beispiele angeführt: 1. Dialektgebiet Shànghǎi (83) zɔ 13 „noch nicht ganz ausgewachsen“ (von Tieren) (84) li 31 „sie“ (Pers.-pron. 3. P. sg. f.) (85) tso? 5 (Lockruf für Hühner)

Vornamen zur Identifizierung einer Person waren früher immer mit einem gewissen Flair des Geheimnisses umgeben, da man annahm, Macht über die Person zu haben, wenn man ihren wirklichen Vornamen kannte. Nachdem ein Chinese bei der Geburt zunächst einen nǎimíng „Milchnamen“ und wenig später einen xiǎomíng „kleinen Namen“ erhalten hatte, bekam er im Knabenalter seinen richtigen „persönlichen Vornamen“ míng, der dann bei Erreichen der Volljährigkeit durch den als Rufname fungierenden „Anredenamen“ zi ersetzt wurde, wodurch der „persönliche Vorname“ für die Zukunft tabuisiert wurde. Bei den Vornamen berühmter Persönlichkeiten und den Prinzennamen nachmaliger Kaiser war es aus Gründen der Ehrerbietung schließlich U sus geworden, die in ihren Vornamen vorkommenden Zeichen in ihrer eigentlichen Form zu tabuisieren, indem die entsprechenden Zeichen so nicht mehr verwendet werden durften. Wer ein solches Zeichen in einem normalen Kontext in der Staatsprüfung schrieb, fiel unweigerlich durch (Hauer 1926, 25). Konfuzius ( Kǒng fū-zǐ) hatte den Vornamen Qiū, und insbesondere die Konfuzianisten wollten dieses Zeichen aus Ehrfurcht vor dem großen Philosophen nicht mehr gebrauchen. Seine ursprüngliche Bedeutung „sanfter Hügel“ kam aber durchaus in normalen Kontextzusammenhängen vor, ohne ersetzt werden zu können, und darüber hinaus gab es auch noch zahlreiche Schriftzeichen, in denen es als Phonetikum vorkam. Abhilfe schuf hier das Skalpell, indem man einen Strich des Zeichens wegnahm und fortan nur das verstümmelte Zeichen schrieb, bis wie bei den Kaisernamen Entwarnung gegeben werden konnte — bei ihrem Ableben. Bei Konfuzius sah das dann so aus: für das eigentliche qiū, (91) für das eigentliche qiū „Regen(92) wurm“

2. Dialektgebiet Guǎngdōng (Kanton) (86) lek 9 (Bezeichnung der Auslandschinesen für) Singapur (87) si 1 „vorbeizischen“

und viele weitere Zusammensetzungen. — Bei Kaiser Kāngxī war es mit seinem Vornamen Xuányè nicht anders, wo man den letzten Strich des Zeichens wegließ ( ), um der Ehrfurcht Genüge zu tun. Auch hier

4.3.2. Neue Zeichen für Dialektausdrücke

III. Schriftgeschichte

378

waren alle Zusammensetzungen gleichermaßen betroffen. (93) für das eigentliche xuàn „von etwas geblendet sein“ 4.5. Aussprachebezeichnung mit einer Lautschrift sui generis ( zhùyīn-zìmǔ bzw. zhùyīn- fúhào ) Während Japan mit den Kana-Syllabaren und Korea mit der Han’gǔl-Schrift schon verhältnismäßig früh Mittel und Wege gefunden hatten, die Aussprache der chin. Zeichen mehr oder minder genau darzustellen, stand China nie vor dem Problem, die Lesung seiner eigenen Zeichen für das eigene Volk noch gesondert anzugeben: wer lesen konnte, ko n n t e lesen, und zwar mit all den Fährnissen, die öfters damit verbunden waren. Wer nicht lesen konnte, brauchte auch keine besondere Aussprachebezeichnung. Erst die literarische Revolution von 1917 forderte im Zusammenhang mit der Propagierung der gesprochenen Sprache auch im geschriebenen Bereich eine allgemeine Verbreitung der Lesefähigkeit und damit verbunden selbstverständlich der richtigen Aussprache. Am 23. November 1918 gab daher das Erziehungsministerium eine Verfügung heraus, mit der unter der Bezeichnung zhùyīn-zìmǔ „Aussprache-Alphabet“, die am 29. April 1930 in zhùyīn-fúhào „Aussprache-Zeichen“ abgeändert wurde, ein System von Zeichen eingeführt wurde, durch das die Aussprache chin. Schriftzeichen in Anund Auslaut zerlegt wiedergegeben werden konnte. Den Aussprache-Zeichen liegen ältere Formen und Abweichungen normaler chin. Zeichen zugrunde, die heute nicht mehr verwendet werden und daher für andere Zwecke frei waren. Die Aussprache-Zeichen haben folgende Formen: An- und Einzellaute: Bilabiale: [] Labiodentale: [f] Apikodentale: [] Velare: [] Apikopalatale: [z  ] Retroflexe: [tʃ‛]

[p‛]

[m]

[v] [t‛]

[n]

[l]

[k‛]

[ŋ]

[h]

[t‛]

[]

[]

[tʃ‛]

[ʃ]

[ʒ]

Linguodentale: [] [ts‛] (Halb)vokale: [i][j] [u] [w] Einzelvokale: [] [ɔ] Auslaute: [ai] [an] [an] [ѷn] [ǝŋ] []

[s] [y] [ǝ, ] [ao] [ou]

[-ε] [εi]

Da die Zeichen [v], [ŋ-] und [] schon bald nicht mehr verwendet wurden, verschwanden sie genauso wie die in den 50er/ 60er Jahren für die in die Silbentafel neu aufgenommenen Zeichen für die silbisch ausgesprochenen Konsonanten [m], [n] und [ŋ] wieder aus den Aussprache-Zeichen (Kanegae 1960, 1150). Die Verwendung[rj] der Aussprache-Zeichen ist fast gänzlich auf Wörterbücher und Zeichenlexika beschränkt, obwohl man eigentlich hätte annehmen sollen, ein praktikables Mittel in der Hand gehabt zu haben, um zumindest fremde nom ina propria damit schreiben zu können. Sie sind aber im Gegensatz z. B. zur jap. Schrift nie dafür verwendet worden, wofür einer der Gründe vielleicht gewesen sein mag, daß das äußere Erscheinungsbild eines chin. Textes dadurch gestört worden wäre. Das nebenstehende Beispiel stammt aus der táiwānesischen Tageszeitung Guóyǔ-Rìbào vom 9. Februar 1993, wobei nicht verschwiegen werden darf, daß die Zeitung für Lernende (Kinder und Erwachsene, die sich mit den Standardlauten vertraut machen wollen) gedacht ist. Es ist eine Artikelüberschrift hāi, nǐ hǎo m a? „Hallo! Wie geht’s dir?“ Wie daraus ersichtlich ist, werden auch die Töne beim letzten Aussprache-Zeichen an dessen rechter oberer Ecke gekennzeichnet, wobei der 1. Ton allerdings unbezeichnet bleibt, 2. (′), 3. (ˇ) und 4. (‵) Ton wie in der normalen Transliteration in lateinische Buchstaben (pīnyīn), der dort unbezeichnete „neutrale Ton“ qīngshēng jedoch durch einen Punkt auf Mitte (·) vor dem tonlos zu lesenden Schriftzeichen besonderrs gekennzeichnet wird.

26.  Die chinesische Schrift

5.

Die Anordnung der chinesischen Schriftzeichen

Buchstabenschriften haben normalerweise keine besonderen Probleme mit der Anordnung des Vokabulars. Die Reihenfolge der Alphabete liegt fest, sieht man von Einzelfällen ab wie dem, daß der Duden ö als o + e, Meyers Enzyklopädisches Lexikon ö aber hinter o einordnet. Bei den chin. Zeichen schob besonders am Anfang der Schriftentwicklung die große Anzahl einer Ordnung irgendwelcher Art einen Riegel vor, denn wie sollte man eine komplexe Anordnung von Strichen ordnen? So waren es denn semantische Kriterien, von denen sich frühe Zusammenstellungen leiten ließen. Das älteste erhaltene chin. Werk dieser Art ist das im 2. Jahrhundert v. Chr. kompilierte Ěryǎ mit etwa 3300 Zeichen, die inhaltlich mit Hilfe von Synonymen erläutert werden. Sie sind zu einzelnen Gruppen zusammengefaßt, ohne daß die Zeichen graphisch geordnet sind. 100 n. Chr. erschien das Shuōwén-jiězì von Xǔ Shèn (58?—147?), das 9353 Zeichen enthält, die erstmals nach graphischen Gesichtspunkten angeordnet sind. Die Radikale als Determinative für einen bestimmten Gedankenbereich waren in der Schrift inzwischen zunehmend in Gebrauch gekommen, um die wachsende Anzahl von Zeichen bewältigen zu können, und boten sozusagen von Natur aus ein Ordnungsschema an. Gleiche graphische Elemente wurden zu einer Gruppe zusammengefaßt und konnten so das Gerippe einer Zeichenzusammenstellung bilden. Das Shuōwén-jiězì hat 540 solcher Gruppen, die später bù ‘Abteilung’ genannt wurden. Sie waren noch nicht nach der Anzahl der Striche in aufsteigender Reihenfolge geordnet. Danach ist aber kein Zeichenlexikon mehr von der Anordnung nach bù abgewichen, selbst wenn ihre Aufreihung und Anzahl selbst bis heute starken Schwankungen unterliegt. Das von Méi Yīngzuò (Hauptschaffensperiode 1570— 1615) kompilierte Zìhuì enthält 33 179 Zeichen, die erstmals nach 214 Radikalen in aufsteigender Anzahl der Striche angeordnet und damit Vorbild für alle späteren Zeichenlexika bis in die Zeit nach dem Ende des II. Weltkriegs geworden sind. Der Leitgedanke bei der Radikalanordnung war die Abstekkung eines Gedankenbereichs (= Radikal), der in den meisten Fällen durch ein Phonetikum ergänzt wird. Diese Determinativphonetika machen 94,8% des gesamten Zeichen-

379

bestands aus (Gabelentz 1881, 47). Die nach Beendigung des II. Weltkriegs am 16. November 1946 in Japan dekretierte und die in der VRC zwischen 1952 und 1977 durchgeführte Schriftreform hat hier den kleinen Riß im Damm der Radikale herbeigeführt, die ihn z. T. haben einstürzen lassen. Bei den in Japan und der VRC vorgenommenen Vereinfachungen der Schriftzeichen, die leider zu einem Teil nicht identisch sind, ist es vorgekommen, daß der alte Radikal dabei unversehens verschwand, wenn z. B. aus guī ‘zurückkeh‘Schritt’ war, in Japan ren’, dessen Radikal und in der VRC wurde. Für die Kompilatoren von Zeichenlexika ist dieser U mstand bis heute Anlaß zu Verwirrung, denn von den übriggebliebenen Bestandteilen ist aus semantischen Gründen keiner geeignet, eine Radikalfunktion zu übernehmen, weshalb dieses Zeichen entweder unter dem alten Radikal erscheint oder aber unter einem neu eingeführten Verlegenheitsradikal anzutreffen ist. Der letztere Ausweg wird heute in Japan und der VRC sehr häufig beschritten, ohne daß es bisher zu einer Normierung gekommen wäre. Einige Autoren sind dabei soweit gegangen und haben früher einheitliche Radikale getrennt ( und beide ‘Hand’) oder früher getrennte Radikale zu einem zusammengelegt ( ‘Mond’ und ‘Fleisch’), was die Verwirrung noch größer gemacht hat. Vereinfacht hat es die Sachlage nicht, denn man muß heute bei jedem neuen Zeichenlexikon erst die Betriebsanleitung genau studieren, ehe man es benutzen kann. Die VRC hat zudem versucht, vom System der Radikale ganz abzugehen und den 1. und 2. Strich eines Zeichens zum Ordnungsprinzip zu erheben (s. Abb. 26.8), was aber ebensowenig hilfreich war und wieder aufgegeben worden zu sein scheint. Der Lernende in Europa und Amerika ist von Anfang mit dem Aufsuchen von chin. Schriftzeichen in einem Zeichenlexikon konfrontiert, was zunächst einmal dazu geführt hat, die Radikale der Einfachheit halber durchzuzählen und sie bei ihrer Nummer zu nennen ( ist Radikal Nr. 75 ‘Baum’), nur sollte man dabei nicht vergessen, daß diese Nummern in ganz Ostasien unbekannt sind. Die Radikale haben in jeder Landessprache ihren eigenen Namen — alle 214, nur die versuchsweise neu eingeführten nicht. So ist das besagte Radikal 75 ‘Baum’ in China mùzìpáng ‘(mit dem) Zeichen ‘Baum’ an der Seite’, in Japan kihen ‘Radikal’ (-hen) ‘Baum’ (ki-) und in Korea

III. Schriftgeschichte

380

Abb. 26.8: Vorschlag zur Anordnung der chin. Schriftzeichen nach den ersten beiden Strichen.

nam u-m ok byǒn ‘Radikal’ (byǒn) ‘Baum’ (rein-kor. namu )-‘Baum’ (sino-kor. mok ). In Europa und Amerika haben sich Kompilatoren von für Lehrzwecke konzipierte Zeichenlexika aber etwas ausgedacht, dem Lernenden die Suche nach den Zeichen zu erleichtern, indem sie in vielen Fällen in Mißachtung (oder U nkenntnis?) der Beziehungen zwischen Radikal und Determinativphonetikum alteingesessene Radikale von ihrem Stammplatz verjagten und unter Möchtegernradikale einordneten. wén ‘hören’ steht traditionell unter ‘Ohr’, wèn ‘fragen’ unter dem Radikal ‘Mund’; das Tor drumherum hat mit einem Radikal überhaupt nichts zu tun, denn es ist in beiden Zeichen Phonetikum. Die augenblickliche Hilfe für den Lernenden schlägt rasch in Ärger um, sich nicht gleich das richtige Radikal eingeprägt zu haben, wenn man mit den Standardlexika arbeiten muß. Ein zweites Ordnungssystem geht zwar auch von der graphischen Gestalt der Schriftzeichen aus, berücksichtigt aber nicht die am Aufbau eines Zeichens beteiligten Komponenten, sondern nur die graphische Gestaltung der linken oberen, linken unteren, rechten oberen und rechten unteren Ecke eines Schriftzeichens. Je nach ihrem Aussehen bekommen diese Ecken Ziffern zwischen 0 und 9 zugeteilt und, wenn nötig noch eine differenzierende 5. Ziffer. So erhält z. B. das Zeichen duān ‘Ende, Rand’ aufgrund seiner Ecken die Ziffern 0212 in der Reihenfolge oben links/rechts und unten links/rechts sowie einen U nterscheidungsindex 7 , also 0212 7 . Praktisch läuft es darauf hinaus, sich die 5stelligen Zahlen zu merken, um ein Zeichen aufschlagen zu können. Da es dann auch noch wie bei der Nummer 4422 7 vorkommen kann, daß 42 Zeichen darunter eingeordnet sind, dürfte es auf der Hand liegen, daß die Radikale wohl der sicherste und damit auch der schnellere Weg sind, Zeichen aufzusuchen. Die mit dem chin. Begriff Sìjiǎo-hàom ǎ cházìfǎ ‘Methode zum Zeichenaufsuchen (nach den) 4 Ecken’ bezeichnete Methode hat sich letztlich auch nicht allgemein durchsetzen können.

Seit dem 11. Februar 1958 ist nun von der VRC ein mit lateinischen Buchstaben arbeitendes Transliterationssystem für die chin. Sprache eingeführt worden, das von der Ausspracheseite her in der Lage ist, eine Anordnung für Zeichenlexika zu bieten, die auch in der Reihenfolge des lateinischen Alphabets geschehen kann. Dieses pīnyīn ‘Laute zusammensetzen’ genannte System ist heute in der VRC offiziell als Hilfsschrift eingeführt und hat das insbesondere in Europa und Amerika bisher fast ausschließlich verwendete Transliterationssystem von Wade-Giles, das im wesentlichen auf der englischen Aussprache der Buchstaben basierte, schon fast verdrängt. Wie bei jedem System, so muß man auch bei dem pīnyīn- System einige Konzessionen an die Praktikabilität machen. So sind Sonderzeichen wie , ч, ŋ, ș, , die 1954 noch in der shízì zhèngyīn sānqiānwǔbǎi zì biǎo „Liste von 3500 Zeichen in richtiger Aussprache zum Lesen und Schreiben“ enthalten waren, wieder getilgt worden, da die internationalen Kommunikationsmittel nicht über diese Buchstaben verfügen. Die pīnyīn -Transliteration stellt sich heute in ihrer bis jetzt endgültigen Form folgendermaßen dar: /a/

[a]

im Normalfall der vordere tiefe ungerundete orale Vokal, sonst [ε] im Auslaut /-ian/ und in der Silbe /yan/ /b/ [] stimmlose unaspirierte labiale Tenuis /c/ [ts‛] stimmlose aspirierte dorsoalveolare Affrikata /ch/ [tʃ‛] stimmlose aspirierte dorsopalatalretroflexe Affrikata /d/ [] stimmlose unaspirierte alveolare Tenuis /e/ [ε, ɔ, , ǝ] je nach dem vorhergehenden Konsonanten /f/ [f] stimmlose labiodentale Frikativa /g/ [] stimmlose unaspirierte velare Tenuis /h/ [x] stimmlose velare Frikativa /i/ [i] im Normalfall der vordere hohe ungerundete orale Vokal

26.  Die chinesische Schrift

[] []

/j/

[t]

/k/ /l/ /m/ /n/ /ng/ /o/

[k‛] [l] [m] [n] [ŋ] [o]

/p/

[p‛]

/q/

[t‛]

/r/

[]

/s/

[s]

/sh/

[ș]

/u/

[u] [w] [y]

/ü/

[y]

/w/

[ω]

/x/ /y/

[] [j]

/z/

[]

/zh/

[tʃ]

dorsoalveolarer Vokal nach den Konsonanten /c/, /s/ und /z/ dorsopalataler Vokal nach den Konsonanten /ch/, /r/, /sh/ und /zh/ stimmlose unaspirierte alveolare Affrikata stimmlose aspirierte velare Tenuis stimmhafter alveolarer Lateral stimmhafter bilabialer Nasal stimmhafter alveolarer Nasal stimmhafter velarer Nasal hinterer mittehoher gerundeter oraler Vokal nach den Konsonanten /b/, /f/, /m/ und /p/ stimmlose aspirierte bilabiale Tenuis stimmlose aspirierte alveolare Affrikata stimmhafte dorsopalatal-retroflexe Frikativa stimmlose dorsoalveolare Frikativa stimmlose aspirierte alveolare Tenuis im absoluten Auslaut der hintere hohe gerundete orale Vokal Halbvokal vor /a/, /i/ und /o/ vorderer hoher gerundeter oraler Vokal nach den Konsonanten /j/, /q/, /x/ und /y/ nach anderen Konsonanten als /j/, /q/, /x/ und /y/ bilabialer Halbvokal im absoluten Anlaut stimmlose alveolare Frikativa stimmhafte palatale schwache Frikativa im absoluten Anlaut stimmlose unaspirierte dorsoalveolare Affrikata stimmlose unaspirierte dorsopalatal-retroflexe Affrikata

Die Bezeichnung der Töne wird über dem Hauptvokal mit ̄ für den 1. (Tonverlauf 55 ), ′ für den 2. ( 35 ), ˇ für den 3. ( 214 ) und ̀ für den 4. ( 51 ) Ton angegeben, der neutrale Ton bleibt unbezeichnet. Wenn beim Zusammentreffen mehrerer Vokale Mißverständnisse zu befürchten sind, welche Vokale zu welcher Silbe gehören, werden nicht zusammengehörende Vokale durch einen Apostroph getrennt, z. B. xī’ān, da /xian/ [jεn] lauten würde. Selbstverständlich bleiben die jeweiligen nationalen, an der Orthographie und Orthoepie ausgerichteten Transliterationssysteme

381

von dieser wissenschaftlichen U mschrift bislang unberührt, wie es seit den Tagen von Marco Polo gewesen ist, der ‘Japan’ mit Zipangu wiedergab und die damalige Aussprache ʒ I 4 pǝn 3 kuǝi 3 damit fast getroffen hatte.

6.

Schluß

Eine Schrift ist an uns vorübergezogen, die in ihrer fast verwirrenden Vielfalt seit über 4000 Jahren in ständigem Gebrauch ist und bisher keinerlei Abnutzungserscheinungen gezeigt hat. Im Gegenteil: sie stellt ihre Frische immer wieder unter Beweis, wenn es gilt, neue Situationen zu meistern, wie es die Naturwissenschaften und die Dialekte gezeigt haben. Auf ein paar Zeichen mehr oder weniger kommt es schließlich nicht an — alle kann sowieso niemand behalten, selbst die 8079 (eigene Zählung) des zum Standard- Taschenlexikon avancierten Xīnhuá zìdiǎn nicht, von dem man annehmen kann, daß es die gebräuchlichsten Zeichen aufgelistet hat. Das tägliche Leben kommt sowieso mit viel weniger — etwa der Hälfte — aus. Die pīnyīnU mschrift war einmal dazu gedacht gewesen, die chin. Zeichen ganz zu ersetzen. Aber hier muß man wohl der chin. Sprache den Dank abstatten, daß sie solch ein Vorhaben durch ihre in diesem Fall alles besiegende Homophonie vereitelt hat und wohl auch weiterhin vereiteln wird, denn solange die Chinesen Chinesisch sprechen und sich diese Sprache nicht von Grund auf ändert, was wohl nicht im Bereich der Möglichkeiten zu liegen scheint, werden sie auch weiterhin ihre Schrift gebrauchen (müssen) und wir Gelegensheit haben, uns an ihr zu erfreuen.

7.

Literatur

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III. Schriftgeschichte

382

2

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27.

wěiyuánhuì

(ed.).

1962.

Wolfram Müller-Yokota, Bochum (Deutschland)

Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift: Japan — Korea — Vietnam

1. 2. 3. 4.

Japan Korea Vietnam Literatur

Abkürzungen a) Aussprachen (hochgestellt) altj c j kant mitk modk sj sk sv v

altjapanisch chinesisch rein-japanisch kantonesisch mittel-koreanisch modernes Koreanisch sino-japanisch sino-koreanisch sino-việtnamesisch rein-việtnamesisch

b) Sprachen chin. chinesisch frz. französisch

jap. japanisch kor. koreanisch viet. việtnamesisch

1.

Japan

1.1. Anfänge Daß das chinesische Schriftsystem auf die Nachbarn Chinas nicht ohne Einfluß bleiben konnte, stand eigentlich von vornherein fest und war nur eine Frage der Zeit, da die Höhe und Überlegenheit der chinesischen Kultur auf der einen und die Noch-Schriftlosigkeit der China umgebenden Völker nicht-chinesischer Zunge auf der anderen Seite faute de mieux dazu führen mußte, daß diese Völker ihren Blick nach China richteten. In den chinesischen Reichsannalen der c Hòu-HànSpäteren c Hàn -Dynastie (

27.  Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift:Japan — Korea — Vietnam

shū , sj Go-Kanjo ), die Anfang des 5. Jahrhunc Fàn Yè (398—445) derts n. Chr. von zusammengestellt wurden und den Zeitraum von 25—220 n. Chr. umfassen, wird berichtet, daß einer zu Tributleistungen an den chinesischen Hof gekommenen japanischen Gesandtschaft vom chinesischen Kaiser c Guāngwǔ im Februar 57 n. Chr. ein goldenes Siegel als Zeichen dafür überreicht worden ist, daß sie sich als unter chinesischem Schutz stehend betrachten durften. Dieses Siegel ist am 12. 4. 1784 von einem Landwirt bei Arbeiten auf seinen Feldern, die im heutigen j Higashi-ku der Stadt Stadtbezirk j Fukuoka (NW-Kyūshū) lagen, gefunden worden und ist somit eine willkommene Bestätigung der chinesischen Annalen; es befindet sich heute als Nationalschatz im Kunstmuseum der Stadt j Fukuoka. Die Inschrift des Siegels lautet in erschlossener chinesischer Aussprache der damaligen Zeit (archaisches Chinesisch) xân 3 uǝ r 1 ng 1 kuǝk γung 1 („König [des] Land[es] Ng 1 [in zum] Hàn [-Reich gehörenden] Japan“) und ist auf zweierlei Weise aufschlußreich: Einmal ist mit dem chinesischen Zeichen ng 1 der Versuch unternommen worden, ein japanisches, d. h. nicht -chinesisches nom en proprium mit chinesischen, d. h. n i ch t -japanischen Schriftzeichen darzustellen. Das Problem als solches war für China nicht neu, denn seit dem allerersten Kontakt eines Chinesen mit einem Ausländer bzw. mit dem Ausland gab es für den Chinesen gar keine andere Möglichkeit, als einen fremden Namen mit Hilfe chinesischer Zeichen als einzigem vorhandenen Darstellungsmittel wiederzugeben. Mit dem chinesischen Zeichen ng 1 sollte also vermutlich das bis heute existente Topo- und Hydronymikon j naka (Wörtliche Bedeutung „Mitte“; Fluß durch die Stadt j Fukuoka und Name j Hakata ) eines Stadtteils im Stadtbezirk wiedergegeben werden, wobei dasjenige Problem auftaucht, das 500 Jahre später bei der Herausbildung der japanischen Schriftsysteme eine so wichtige Rolle spielen sollte: die unterschiedliche Struktur des Donators Chinesisch einerseits und des Rezipienten Japanisch andererseits. Das archaische Japanisch kannte bis etwa Anfang des 11. Jahrhunderts n. Chr. nur die Silbenstruktur V oder CV für den Wortanfang und CV für alle übrigen Silben, also nur offene Silben, während das Chinesische nur geschlossene Silben aufwies. Eine japanische Silbenfolge /naka/ war daher weder mit 1 noch mit 2 chinesischen Zeichen

383

darstellbar, denn im ersten Fall wäre zwar eine Lautfolge /n/ + /a/ + /k/ angenähert möglich, aber dann hätte das Auslaut-/a/ der 2. japanischen Silbe /ka/ geopfert werden müssen. Hätte man sich andererseits für die 2. Möglichkeit der Darstellung mit 2 chinesischen Zeichen entschlossen, so wären 2 Komplexe /na + C f / und /ka + C f / zustandegekommen, deren Verwendbarkeit für das Japanische am deutlich hörbaren chinesischen Auslautkonsonanten gescheitert wäre. Die Entscheidung mußte also wohl oder übel zugunsten der ersten Möglichkeit fallen. Bei den weiter bestehenden und manchmal sehr engen Kontakten Japans zu China sollte nicht vergessen werden, daß die Gesandtschaften hin und zurück ihren Weg meistenteils über die koreanische Halbinsel an deren Westküste entlang nahmen, eine Tatsache, die später ebenfalls von Wichtigkeit werden sollte. Der Norden der koreanischen Halbinsel war 108 v. Chr. unter chinesische Oberhoheit gekommen, und die Errichtung der c chinesischen Residenzstadt Lèlàng, ), sj Rakurō ) trug wesentlich ( sk Nangnang ( dazu bei, die chinesische Kultur und als deren Grundlage die chinesische Schrift an Völker nicht-chinesischer Zunge weiterzureichen. Selbstverständlich bedienten sich die Chinesen bei der Verwaltung koreanischer Angestellter, denn ohne deren Vermittlung wäre die Verständigung mit der einheimischen Bevölkerung weder schriftlich noch mündlich möglich gewesen. Diese koreanischen Angestellten mußten für ihre chinesischen Behördenleiter aber auch koreanische nom ina propria aufzeichnen, und dafür hatten sie nur die chinesischen Schriftzeichen zur Verfügung. Sie standen also vor demselben Problem wie die Chinesen, die j / naka / schreiben mußten. Ein U nterschied zum Japanischen bestand insofern, als die damals dort gesprochene Sprache — ein südtungusisches Idiom — wohl auch geschlossene Silben hatte, was die Auswahl chinesischer Zeichen für die Darstellung der Namen wenigstens etwas erleichterte. Die chinesischen Reichsannalen berichten dann verhältnismäßig ausführlich über Stammesfehden in Süd-Japan, die schließlich im 3./4. Jahrhundert n. Chr. zu den Anfängen eines organisierten Staatsgebildes in ZentralJapan führten, das Ende des 4./Anfang des 5. Jahrhunderts sogar in innerkoreanische Querelen verwickelt wurde. Dadurch bedingt, flohen zahlreiche Angehörige der koreanischen Oberschicht nach Japan. Sie hatten aus langer Erfahrung gründliche Kenntnisse nicht nur der chinesischen Sprache, sondern auch der

III. Schriftgeschichte

384

Schrift und ihrer Verwendung auch zur Notation koreanischer Wörter erlangt, denn sie und ihre Nachkommen waren diejenigen, die bis ins 6. Jahrhundert hinein in Japan für offizielle Aufzeichnungen unter Einschluß der Familienregister, für die Einziehung von Steuern, für Einnahmen und Ausgaben sowie für die auswärtigen Beziehungen ausschließlich zuständig waren. Diese heute mit dem japasj kikajin (= „Nanischen Ausdruck turalisierte“; der Ausdruck selbst ist neu und tritt in dieser Form erstmals im § 16 des japanischen Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1899 auf) bezeichneten Flüchtlinge konnten bei ihren Schreibarbeiten zumindest grundsätzlich auf ein ihnen vertrautes Schriftsystem zurückgreifen, brauchten also nichts vollständig Neues auszutüfteln, wenn sie sich an die in China ausgebildete Methode, fremde Eigennamen zu schreiben, hielten. Für eine monosyllabische Sprache geschaffen, konnte die chinesische Schrift Zeichen für Silben, nicht für einzelne Phoneme zur Verfügung stellen. Es lief also darauf hinaus, für alle 88 Silben des damaligen Syllabars der altjapanischen Sprache (mindestens) ein chinesisches Schriftzeichen herauszusuchen, das die darzustellende japanische Silbe so genau wiederzugeben imstande war, daß sie der japanische Leser als das Gemeinte zu identifizieren in der Lage war. Bei der Auswahl der chinesischen Zeichen kam den sj kikajin zu Hilfe, daß es durchaus chinesische Zeichen gab, die zu jener Zeit (4.—6. Jh.) durch Abfall stimmhafter Finalkonsonanten im Chinesischen, also durch den Übergang vom archaischen zum Altchinesischen, in der Lage waren, eine Kombination von Anlautkonsonant und Auslautvokal darzustellen: die Aussprache des Zeichens „Nacht“ hatte sich bereits vom archaisch-chinesischen dag 3 zu altchinesisch ja 3 gewandelt, so daß die japanische Silbe /ya/ dargestellt werden konnte. „Hanf“ war vom archaisch-chinesischen mag 1 zu altchinesisch ma 1 geworden und konnte so für die japanische Silbe /ma/ verwendet werden. Schrieb man beide Zeichen nacheinander , ergab sich das japanische Wort /yama/ ( ) „Berg“. Leider war es nicht immer ganz so einfach wie hier, denn die Phoneminventare des Altchinesischen und des Altjapanischen wiesen doch so gravierende Differenzen auf, daß mancher Kompromiß notwendig war, der, da beim Empfänger keine phonetischen Veränderungen vorgenommen werden konnten, ohne die Verständlichkeit zu opfern, notgedrungen auf der Geberseite geschlossen

werden mußte. So kam, um nur ein Beispiel zu nennen, als Ersatz für das zur Darstellung der japanischen Silbe /a/ anfänglich verwendete Zeichen (archaisch-chinesisch r 1 >  1 ), das aufgrund inner-chinesischer Lautentwicklungen auf dem Weg zu einer Aussprache [ 1 ] nicht mehr für [a] zu gebrauchen war, das Zeichen (archaisch-chinesisch 1 1 n > n ) in den Bereich der Möglichkeiten, da kein anderes Zeichen in der Lage war, den anvisierten japanischen Vokal /a/ adäquat wiederzugeben. Dabei mußte in Kauf genommen werden, daß das chinesische Auslaut-/n/ einer Amputation zum Opfer fiel (Wenck 1954, § 457 ff). 1.2. Altjapanisch Auf diesem Wege war man im 6. Jahrhundert zu einem Verfahren gelangt, mit dessen Hilfe ein altjapanischer Text über den U mweg liebevoll behauener chinesischer Mosaiksteinchen zu einem (Satz-)Bild zusammengefügt werden konnte. Dieses System war nicht starr, sondern machte den beispielhaft angedeuteten Lautwandel der chinesischen Sprache nachvollziehend mit. Die älteste in Relikten erhaltene Stufe (Zusammenstellung bei Kan To-kō 1982, 6) enthält 134 chinesische Zeichen für 62 japanische Silben, 26 sind im überkommenen Material nicht repräsentiert. In diesem Zusammenhang ist für die Weiterentwicklung in Richtung auf die spätere japanische Schrift hin eine Feststellung besonders wichtig: in einem verhältnismäßig frühen Stadium muß den Benutzern dieses Schriftsystems aufgefallen sein, daß man das japanische Wort /yama/ „Berg“ zwar schreiben und selbstverständlich auch verstehen konnte, daß es andererseits aber daneben ein chinesisches Zeichen , in damaliger chinesischer Aussprache ṣæn 1 , gibt, das zwar im japanischen Syllabar wegen seiner Lautung keine Verwendung gefunden hatte, dessen Bedeutung aber „Berg“ war und ist. Die felsenfeste Überzeugung, daß chinesische Schriftzeichen nur für die chinesische Sprache da sind und ergo chinesisch zu lesen sind, hatte sich zwar in der damaligen Zeit so tief eingeprägt, daß im Grunde genommen heute noch nicht daran gerüttelt wird, aber doch allein schon die Tatsache, daß diese chinesischen Zeichen zur Darstellung j a p a n i s c h e r Silben „mißbraucht“ worden sind, hat den Mini-Riß im Damm verursacht, der ihn später zum Einsturz brachte. Selbst wenn die völlige Gleichsetzung von = /yama/ = = „Berg“ noch etwas auf sich warten ließ,

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so waren unter den erwähnten 134 Zeichen doch immerhin 23 (= 17,16%), deren Lesung sich nicht auf ihre chinesische Aussprache, sondern sozusagen auf ihre Übersetzung ins Japanische stützte. Ihre Auswahl orientierte sich an dem Zusammentreffen der verhältnismäßig einfachen Schriftzeichen mit der Tatsache, daß das ins Japanische übersetzte Wort nur eine Silbe hatte (die beiden Ausnahmen erklären sich damit, daß bei /tö/ die auch alt-j bei der Konjugation des Verbs / tömu / „anhalten“ unveränderliche 1. Silbe und bei /yu/ die häufig in Zusammensetzungen verwendete 1. Silbe benutzt worden ist). Als Beispiele für diese 23 Zeichen seien angeführt (vollständige Auflistung vgl. Müller-Yokota 1987, 8): (1) (2) (3) (4)

< alt-japanisch kë „Haar“ < alt-japanisch tö(mu) „anhalten“ < alt-japanisch mi „drei“ < alt-japanisch me „Frau“

Als Beispiel für einen zusammenhängenden Text auf dieser Stufe der Schriftentwicklung, bei der jede einzelne Silbe durch 1 chinesisches Zeichen in altjapanischer Lautung wiedergegeben ist, sei das Gedicht Nr. 793 aus der insgesamt 4516 Gedichte umfassenden altjapanischen Gedichtsammlung des Man’yōshū (abgeschlossen im Jahre 758; vgl. Ichiko 1985, 23, s. v. 758) in Originalschreibung angeführt: (altjapanisch) yö-nö naka-pa munasiki 1 mönö-tö siru töki 1 - si iyöyö masu-masu kanasikarike 1 ri „Wenn man die Erfahrung macht, wie inhaltlos die Welt doch ist, wird man von Mal zu Mal trauriger“. Da sich die erwähnte Gedichtsammlung neben anderen Werken dieser Zeit durch diese Schreibweise auszeichnet, ist sie allgemein unter der Bezeichnung Man’yōgana bekannt ( man’yō- ist dem Titel der Gedichtsammlung entnommen, -gana aus kana ist die gängige Bezeichnung der japanischen Silbenalphabete, also eigentlich ‘Silbenalphabet, in dem das Man’yōshū geschrieben ist’).

Als im Laufe der Zeit vermehrt chinesische Zeichen in ihrer ursprünglichen Bedeutung, d. h. zwar in chinesischem Gewand, aber ins Japanische übersetzt in rein-japanischer Lesung, auftraten, waren Schwierigkeiten bei der Lesung eines Textes nicht mehr ganz aus-

zuschließen. Der obige Beispieltext ist in sich homogen, was die Verwendung der Schriftzeichen angeht, verlangt vom Leser also nur eine phonetische Identifikation des einzelnen Zeichens mit seinem Laut. Kamen aber jetzt Zeichen mit ihrem Bedeutungsgehalt in reinjapanischer Lesung hinzu, dann war der Leser gezwungen, sozusagen alleine auf einem Klavier vierhändig zu spielen. Dabei bildete sich allmählich ein System heraus, das faktisch noch heute für die alltägliche Schreibung des Japanischen gilt: die Substantiva und cum grano salis auch die Stämme der Verben werden mit semantisch und die grammatisch unverzichtbaren Flexionsendungen und Partikeln mit phonetisch verwendeten chinesischen Zeichen geschrieben. Das obige Beispiel sähe dann so aus: Die semantisch verwendeten Zeichen sind mit einem Strich versehen, aber es muß betont werden, daß es sich hierbei um ein zu Illustrationszwecken vom Verfasser aufbereitetes Beispiel, also nicht um Originalschreibung handelt. Eine solche Schreibweise ist in der Dichtung noch sehr lange verwendet worden, aber die Erfordernisse des täglichen Lebens waren an der Unzweideutigkeit des zu Lesenden ausgerichtet, wenn z. B. Regierungserlasse durch Vorlesen des Textes bekanntgemacht wur-

den oder der Priester Gebete an die Götter richtete, bei denen Versprecher unweigerlich dazu führten, daß sie unerhört blieben. U m dem (Vor)leser eine optische Handhabe zu bieten, schrieb man daher in solchen Fällen die oben nicht unterstrichenen Teile nur halb so groß wie die anderen und rückte sie gleichzeitig bei senkrechter Schreibweise etwas nach rechts heraus, also etwa so: Auch dies ist keine Originalschreibung, sondern nur zu Anschauungszwecken aufbereitet. Da diese Schreibweise vornehmlich in offiziellen Dokumenten wie z. B. sj semmyō ) Kaiserlichen Erlassen ( benutzt wurde, ist sie unter der Bezeichj Semmyō-gaki „Schreibnung weise der Kaiserlichen Erlasse“ bekannt geworden. Als die chinesischen Schriftzeichen nach Japan kamen, hatten sie bereits ihre heutige Gestalt (s. 1.1.), nur war diese Gestalt dreifach ausgeprägt:

III. Schriftgeschichte

386

c kǎishū/ (1) Die Normschrift sj kaisho/ sk haesǒ/ sv giai-thu· in den exakten, festgelegten Formen, die u. a. auch der heutigen Druckschrift, wie sie hier in den Beispielen verwendet wird,

zugrunde liegen. Mit dieser Schrift sind bei den ägyptischen Hieroglyphen die exakt ausgeführten Zeichen der Inschriften vergleichbar (→ Art. 19). c xíngshū / sj gyōsho/ (2) Die Handschrift sk haengsǒ / sv hàng-thu, wie sie in jedem Schriftsystem vorhanden ist, im Falle der chinesischen Zeichen charakterisisert durch Verbindungslinien zwischen den Einzelstrichen der Normschrift und Ausbildung gewisser Rundungen der sonst sehr eckigen Normschrift. Die ägyptischen Hieroglyphen haben hier die hieratische Schriftform entwickelt. c cǎoshū / sj sōsho / (3) Die Konzeptschrift sk ch’osǒ / sv thao-thu (aufgrund falscher Interpretation des Zeichens c cǎo als ‘Gras’ (richtig ist ‘Entwurf, Konzept’) oft als „Grasschrift“ bezeichnet) für schnelle Notizen u. ä. Aufzeichnungen, charakterisiert nicht nur durch extreme Zusammenziehungen der einzelnen Striche, sondern auch von der Normschrift manchmal sehr stark abweichender Strichführungen und der reichlich genutzten Möglichkeit, die sonst isoliert untereinander stehenden Zeichen miteinander zu verbinden ( c liánmián-tǐ / sj remmen-tai / sk yǒnmyǒnch’e / sv liên-miên-thê ):

Norm- und Handschrift geschrieben von Frau Barbara L. T. Chang (Bochum), Konzeptschrift vom Verfasser. 1.3. Ausbildung der Kana-Syllabare Die immer wiederkehrenden grammatischen Formantien der japanischen Sprache forderten geradezu dazu heraus, möglichst schnell geschrieben zu werden, so daß sich die Konzeptschrift hier austoben konnte. Das am Anfang des Gedichtbeispiels vorkommende Zeichen sj pa hatte auf seine chinesische Bedeu-

tung „Welle“ bereits verzichtet und diente nur zur schriftlichen Darstellung der altjapanischen Silbe /pa/; seine äußere Gestalt wandelte sich aufgrund der Konzeptschriftform langsam über zu , womit ein Grad der Vereinfachung, Abstraktion und Verfremdung gegenüber dem ursprünglichen chinesischen Zeichen erreicht war, das dann damit wieder in der Lage war, seine wahre Funktion als Sinnzeichen mit der Bedeutung „Welle“ auszuüben, während sein Abkömmling ausschließlich Silbenschriftzeichen für die aus dem altjapanischen /pa/ über einige Zwischenstufen entstandene heutige Silbe /ha/ wurde. Dieser Prozeß spielte sich bei allen chinesischen Zeichen ab, die zur Darstellung japanischer Silben verwendet worden sind, war im 9./10. Jahrhundert vollendet und ergab unter Berücksichtigung der Tatsache, daß für jede japanische Silbe mehr als ein chinesisches Zeichen als Grundlage gedient hatte, eine ansehnliche Liste für das Gesamtsyllabar. In der folgenden Aufstellung sind deswegen nur die im heutigen Japan seit der Volksschulverordnung vom 20. 8. 1900 offiziell verwendeten Silben mit ihren Standardzeichen und deren Ableitungen in der Reihenfolge aufgenommen, wie sie der heute üblichen Anordnung in der sog. „50-Laute-Tabelle“ ( sj gojū-onzu ) entspricht (→ Tab. 27.1). Das obige Gedichtbeispiel (1.2.) sieht dann so aus, was zwar auch keine Originalschreibung ist, zu Nutz und Frommen der Leser aber eine heute allgemein verwendete Mischschreibung, wie sie auch von der ‘Anthologie der klassischen japanischen Literatur’, Bd. 5, 55) durchgehend benutzt wird: Die so entstandene Schrift erfreute sich u. a. auch des Zeichenverbindungen erlaubenden, flüssigen Duktus wegen insbesondere bei den Damen des Kaiserlichen Hofes größter Beliebtheit, die sich viel lieber der rein-japanischen Sprache (und Schrift) bedienten als ihre männlichen, auf chinesischen Stil und Schreibweise fixierten Kollegen. Sie ließen den Fluß der japanischen Literatur zu einem gewaltigen Strom anschwellen, weshalb diese Schrift denn auch mit der 938 erstmals aufgetretenen j onnade „FrauBezeichnung enhandschrift“ belegt wurde. Der heute allgemein übliche Name j Hiragana wurde, wie durch Rodriguez (1604, 55 v) belegt ist, erst Anfang des 17. Jahrhunderts eingeführt und bedeutet eigentlich „vollständig ( hira- ) entlehnte ( -ga- )

27.  Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift:Japan — Korea — Vietnam

Tab. 27.1: Die Hiragana und ihre Ableitung

387

388

Schriftzeichen ( -na )“ (Müller-Yokota 1987, 66 Anm. 46), da es sich um die stilisierte Konzeptschriftform ganzer chinesischer Zeichen handelt. Zur gleichen Zeit entstand auf einem ganz anderen Sektor für ganz andere Zwecke ein ganz anderes Syllabar, die j Katakana („teilweise ( kata- ) entlehnte ( -ka- ) Schriftzeichen (- na )“). Der 538 n. Chr. durch Vermittlung Koreas nach Japan gelangte Buddhismus verbreitete sich rasch, so daß Studium und Lehre einen ungeheuren Aufschwung nahmen. In 1.1. war bereits erwähnt worden, daß sich die für China fremden Gedankengänge des Buddhismus sprachlich in Transliterationen von Sanskrit-Begriffen in chinesischen Zeichen äußerten, wenn adäquate Übersetzungen nicht zu finden gewesen waren. U m der ebenfalls in 1.1. schon angesprochenen Verwechslungsgefahr mit inhaltsträchtigen, richtigen chinesischen Sätzen zu entgehen, verwendeten diese Transliterationen zu einem großen Teil komplizierte, seltene chinesische Zeichen, die die Wiedergabe der manchmal recht langen Sanskrit-Wörter zu einem Geduldsspiel werden ließen. Bei häufig vorkommenden Begriffen sinnt daher jeder Schreiber — damals wie heute — auf Abhilfe. Z. B. war der Sanskrit-Begriff śrāvaka „Schüler (der buddh. Lehre)“ auch in c shēngseiner chinesischen Übersetzung sj sk sv wén / shōmon / sǒngmun / thanh-vǎn mit seinen insgesamt 31 Strichen beim Schreiben so aufwendig, daß irgendein Vorfahre von Gabelsberger zwangsläufig auf die Idee kommen mußte, ein bißchen ταχυγραϕεῖν zu machen, indem er dafür nur 4 Striche vorsah, wobei er das gemeinsame Element beider Zeichen untereinander setzte und die Konzeptschriftform extrem stilisierte. Solche Abkürzungsfanatiker muß es gerade unter den Mönchen zahlreicher gegeben haben. Einer der Hauptinhalte ihres Berufs war ja die Verbreitung und richtige Interpretation der Lehre, und dies war notwendigerweise auch an die korrekte Aussprache der Lehrsätze gebunden. Diese Lesungen waren des öfteren so kompliziert, daß die Mönche nach Hilfsmitteln Ausschau hielten. Das vorhandene Darstellungsmittel der Man’yōgana verwendete ganze chinesische Zeichen und schied wegen Platz- und Zeitmangels aus, und die Frauenhandschrift Hiragana war nichts für Männer. Also kamen sie auf die Idee, die für die Wiedergabe der japanischen Silben verwendeten Man’yōgana- Zeichen so abzukürzen, daß sie

III. Schriftgeschichte

leicht und klein, d. h. platzsparend geschrieben werden konnten. Das für die japanische war zwar Silbe /re/ verwendete Zeichen schon eine beliebte Abkürzung der VollSchreibung und mit 5 statt mit 18 Strichen auch verhältnismäßig schnell zu schreiben, aber wen der Abkürzungsteufel einmal reitet, für den sind 4 Striche weniger als 5. U nter der Voraussetzung, daß einmal eine eindeutige Festsetzung getroffen worden ist, für was die Abkürzung gelten soll, und zum andern eine ausreichende visuelle Distinktivität gegenüber anderen Abkürzungen gegeben ist, kann man so stark kürzen, wie man will: minus = , geringfügig umgestaltet: . So entstand für das gesamte Syllabar ein vollständiges Katakana-Inventar, bei dem im Anfang genau wie bei der Hiragana manche Position mehrfach besetzt war, das aber schließlich seit der in 1.2. erwähnten Volksschulverordnung die folgenden Formen in der offiziellen Reihenfolge aufweist (→ Tab. 27.2). Ein Blick auf die beiden Kana-Syllabare zeigt, daß der Laut [p] als Tenuis und die Mediae ganz fehlen. Während die Man’yōgana das /p/ keiner Sonderbehandlung zu unterwerfen brauchte, da es als Tenuis normal im Phonem-Inventar vertreten war, änderte sich die Situation aufgrund inner-japanischen Lautwandels später insofern, als [p] über eine Zwischenstufe [ p ϕ] (ca. 10.—13. Jh.) zu [ϕ] (13.—16. Jh.) wurde, um schließlich danach im Wortanlaut zu [h(a), h(ε), h(ɔ), i, ϕ] und intervokalisch zu [∅] zu werden. Die notwendig gewordene graphische U nterscheidung für den als Phonem nie verloren gegangenen /p/-Laut erfolgte dann seit etwa Beginn des 17. Jahrhunderts mittels eines kleinen, rechts oben am Kana-Zeichen der /h/-Reihe angefügten Kreischens ° ( handakuten): = /ha/ : = /pa/. Die Phonem-Opposition Tenuis : Media war andererseits in der Man’yōgana durch entsprechende Zeichen meistens deutlich zum Ausdruck gekommen (z. B. /ka/ : /ga/), wurde aber bei der Schreibung in Kana weitgehend außer acht gelassen (z. B. iṯure ... saẖurahi ... yamuḵoto ... ḵa ... suḵurete (Murasaki 1525, 1 r.) für iḏure ... saḇurahi ... yamuoto ... a ... suurete (NKBT Bd. 14, 1958, 27), was ursprünglich wohl mit einer gewissen Instabilität intervokalischer Tenues zusammengehangen haben dürfte, später aber reine Gewohnheitssache wurde, die z. B. in offiziellen Verlautbarungen sogar noch bis Ende 1946 ein respektiertes Dasein fristete, denn der japanische Leser wußte ja, was gemeint war. Falls sich aber aus irgendeinem

389

Tab. 27.2: Die Katakana und ihre Ableitung (1) Laut

heutige entstanden aus Drucktype

a

dem zu

vereinfachten linken Bestandteil

i

dem linken Bestandteil

u

dem oberen Bestandteil

e

der zu Z stark stilisierten Konzeptschriftform

o

dem linken Bestandteil des Zeichens

ka

dem linken Bestandteil des Zeichens

ki

der zu

ku

den ersten beiden Strichen

ke

dem 1.

ko

der oberen Hälfte

sa

den ersten 3 Strichen

shi

der Konzeptschriftform

su

den letzten 3 Strichen

se

dem 1.

so

den ersten beiden Strichen

ta

der oberen Hälfte

chi

dem ganzen Zeichen

tsu

den 3 mittleren Punkten

des Zeichens

te

den ersten 3 Strichen

und

to

dem 1. — und 2. Strich =

des Zeichens

na

dem 1. — und 2. Strich

des Zeichens

ni

dem ganzen Zeichen

nu

dem rechten Bestandteil

ne

dem linken Bestandteil

des Zeichens

des Zeichens des Zeichens des ganzen Zeichens

erheblich verkürzten Konzeptschriftform

, 2.

und

=

des Zeichens

des Zeichens

und 3. Strich des Zeichens des Zeichens und

=

des Zeichens

des Zeichens , und

und 5. Strich

des Zeichens

des Zeichens und

des Zeichens

des Zeichens

,

=

des Zeichens

des Zeichens des Zeichens




-n

des Zeichens

des Zeichens

und 2. Strich des Zeichens verkürzten rechten Bestandteil

des Zeichens

des Zeichens

des Zeichens des

des Zeichens

und 3. Strich des Zeichens

des Zeichens

oder dem rechten Bestandteil

des Zeichens des Zeichens des Zeichens

des Zeichens

>


j grasu ‘Glas’), um es für japanische Zungen aussprechbar zu machen. Die heutige Form j g ramu < frz. gramme ist seit 1909 offiziell. Der Liter nahm mit sj ritsu und der Lesung j rittoru vorlieb und der Meter mit , bei dem das sj bei/mai normaler sino-japanischer Lesungen so lange unter Druck gesetzt wurde, bis es gegen die Lesung j mei nichts mehr einzuwenden hatte. Die dezimalen Zählschwellen 10 3 bis 10 — 3 boten keine Schwierigkeiten, da sie von alters her im System vorhanden waren ( 10 3 kilo-, 10 2 hekto-, 10 1 deka-, 10 — 1 dezi-, 10 — 2 zenti- und 10 — 3 milli-), so daß eine ordentliche Tabelle entstand (vgl. Müller-Yokota 1987, 46): Tab. 27.4: Metrische Maßeinheiten

Die Lesungen aller dieser Zeichen waren selbstverständlich die der dafür verwendeten Fremdwörter, also von j kiroguramu kg bis j miririttoru ml. Vor Einführung der metrischen Maße machte man kurzzeitig auch einmal eine Anleihe beim anglo-amerikanischen Maßsystem, und hier erreichte die Gestaltungskraft einen einsamen Höhepunkt, dem die Hinwendung zum viel praktischeren metrischen System (leider) ein nur kurzes Dasein bescherte. In England und Amerika wurden früher die Zeichen ʒ für dram ap. ( 3,89 g) und für die U nze (oz. ap. 31,1 g) verwendet, was für die Japaner eine direkte Aufforderung zum Handeln war. Das dram- und das U nzenzeichen blieben im großen und ganzen ungeschoren: und , nur die fluid ounce erforderte ein klein wenig Nachdenken. Fluid hat aber etwas mit Flüssigkeit zu tun, und alle chinesischen Zeichen, die etwas damit zu tun haben, werden mit dem Determinativum für Wasser geschrieben. Warum sollte man nicht auch das U nzen-Zeichen damit kombinieren und einfach schreiben? Vom Gedankenblitz bis zur Ausführung wird es nicht lange gedauert haben. — Den Vogel schoß aber der Winzling unter den Gewichten, das grain mit seinen ca. 64,8 mg ab. 100 Jahre alte Wörterbücher und der Taschenkalender einer Fotosatzmaschinenfirma in Ōsaka für das Jahr 1990 führen es mit dem Zeichen auf, das selbst in dem mit 50 294 Zeichen umfangreichsten Zeichenlexikon von Morohashi ( 2 1984—86) nicht enthalten ist. Einmal scharf angeschaut, gibt es aber sein Geheimnis preis und entpuppt sich als stilisiertes großes G > > , um damit zum Ausgangspunkt unseres G zurückzukehren, das ja aus einem C mit rechts unten angesetztem Strich nach rechts \ entstanden ist.

27.  Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift:Japan — Korea — Vietnam

1.5. Zeichenspiele Die beiden Tatsachen, daß einmal hinter jedem chinesischen Zeichen nicht nur früher, sondern auch jetzt noch deutlich und bewußt ein (Schrift)bild konkreten Inhalts steht, und daß die Zeichen zum anderen im Japanischen sowohl sino-japanisch als auch rein-japanisch gelesen werden können und nach wie vor gelesen werden, hat seit alters her einen Mechanismus in Gang gesetzt, den man nur unvollkommen mit dem Begriff Rebus wiedergeben kann, da die Bildhaftigkeit in Buchstabenoder Silbenalphabeten zum allergrößten Teil verloren gegangen ist. Fälle wie 2 g = zwei g = Zweige sind und bleiben selten. Jedem, der sich mit chinesischen Schriftzeichen befaßt, sei er Schüler in Ostasien oder Lernender anderswo, werden sie in ihrer Bildhaftigkeit ad oculos demonstriert, alleine schon, um sie einprägsamer zu machen. Die verhältnismäßig große Gestaltungsfreiheit bei der Konstruktion chinesischer Zeichen (Stalph 1989, 52 ff) hat dem natürlichen Trieb des homo ludens Tür und Tor geöffnet, und mancher Schalk hat sich hier austoben können. Jeder weiß, daß ‘Frau’ bedeutet und als Determinativum in sehr vielen Zeichen vorkommt, daß u. a. ‘hinaufgehen’ und u. a. ‘hinuntergehen’ beinhalten und miteinander kombiniert in einigen Zeichen ( , , , , ) enthalten sind. Wer könnte da widerstehen, sich ein Zeichen auszudenken, um der Tatsache beredten Ausdruck zu verleihen, daß eine ‘Frau, die hinaufund hinuntergeht bzw. -fährt’ eben eine Fahrstuhlführerin ist und folgerichtig japanisch j erebētā-gāru (< engl. elevator girl ) gelesen werden muß? Man darf nun nicht denken, daß so etwas lediglich ein Zeitvertreib müßiggehender Zeitgenossen sei — weit gefehlt: sj gisho ) haben Spielereien mit Zeichen ( seit den Tagen des altehrwürdigen Man’yōshū literarische Tradition. Stellvertretend für unzählige Beispiele sei hier nur eines genannt. Im Gedicht Nr. 1787 enthält die Zeile sozusagen eine Regieanweisung (hier unterstrichen) für den Leser, die er befolgen muß, sonst hapert es mit dem Verständnis. Die Zeichenabfolge ist zudem auch noch chinesisch und bedeutet „auf dem Berg ist noch ein Berg “. Erst wenn man sich genau daran hält und graphisch nachvollziehend einen Berg über setzt, kommt das Zeichen einen anderen „herauskommen“ zustande und die Zeile kann dann alt-j irö-ni (i) deba „wenn es in (mei-

395

nem) Gesicht zum Ausdruck kommt“ gelesen werden. Tantae m olis erat iaponicas legere litteras. 1.6. Ligaturen Von der Möglichkeit, 2 oder gar mehrere chinesische Zeichen zu einem neuen zusammenzuziehen, war in 1.3. im Zusammenhang mit dem Buddhismus kurz die Rede. Im Gegensatz zu den in China aufgetretenen Schwierigkeiten (— > Art. 26), war das von Haus aus polysyllabische Japanisch in dieser Beziehung weniger vorbelastet und wies bis zur Schriftreform von 1946 eine ganze Reihe von Ligaturen auf, von denen die allermeisten jedoch dieser Reform zum Opfer gefallen sind. Heute j maro < sind z. B. noch ma + ro (Endung männlicher Eigennamen) oder j kume < ku + me (ein Familienname) in Gebrauch, während frühere Bildungen wieder der Vergessenheit anheim gefallen sind (vgl. Lehmann-Faust 1951, Suppl. 5—31). Auch in beiden Kana-Bereichen gab es bis 1946 einige weithin verwendete Ligaturen. Die Hiragana hatte u. a. /shime/ oder /yori/ < /yo/ + /ri/ aufzuweisen, von denen heute nur noch das Zeichen vereinzelt gebraucht wird. Die Katakana verfügte u. a. über /koto/ < /ko/ oder /toki/ < /to/ + /ki/, von denen keines mehr verwendet wird. U nmittelbar nach dem Ende des II. Weltkriegs machte sich eine amerikanische Erziehungskommission in Japan zu schaffen, die der offenbar in Amerika bis heute unausrottbaren Auffassung huldigte, die Japaner hätten ihre Schreibweise extra so schwierig gemacht, damit sie kein Ausländer erlernen könne, und außerdem verhindere sie die Anhebung des Bildungsniveaus weiter Bevölkerungsschichten und damit eine Demokratisierung. Die japanische Schrift müsse daher weitgehend vereinfacht werden. So kam es dazu, daß am 16. 11. 1946 eine Regierungsverordnung in Kraft trat, durch die einmal die Anzahl derjenigen chinesischen Zeichen, die in Grundund Mittelschule, d. h. also während der Zeit der allgemeinen Schulpflicht, vermittelt werden, auf 1850 sog. Tōyō-kanji „zur Verwendung geeignete chinesische Schriftzeichen“ beschränkt wurde, wovon damals 881 (heute 996) als Kyōikukanji „chinesische Zeichen für die (Grundaus)bildung“ (Stalph 1989, 49 Anm. 70) in den 6 Grundschuljahren, der Rest in den verbleibenden 3 Jahren Mittelschule gelehrt werden. Zum andern wurde aber auch bei 426

III. Schriftgeschichte

396

Schriftzeichen eine mehr oder minder starke Vereinfachung des einzelnen Zeichens verfügt, wodurch z. T. wesentliche Kürzungen erzielt sj wurden. Das 25-strichige chō „Amt“ hatte nach der Abmagerungskur nur noch 5 Striche , das 17-strichige sj sei, shō ; j koe „Stimme“ noch 7 . In diesem Zusammenhang sollte nicht unerwähnt bleiben, daß bis zu diesem Zeitpunkt überall in Ostasien, wo chinesische Zeichen geschrieben wurden, dieselben Formen verwendet wurden, und daß diese Schriftzeichen das kulturell einigende Band ganz Ostasiens gewesen waren (→ Art. 32). Dieses nicht zu unterschätzende Band war damit — und wie man heute nach 45 Jahren sagen muß — endgültig zerrissen, zumal auch die Volksrepublik China seit 1952 diesen Weg mit von Japan z. T. stark abweichenden Zeichenformen beschritt. Der Kuriosität halber sei vermerkt, daß die „Vereinfachungen“ in 36 Fällen in einem zusätzlichen Strich zu dem alten Zeichen bestanden, wie z. B. bei (alt 7 Striche) > (neu 8 Strisj j che) ho ; aruku „zu Fuß gehen“. Da zwar die offizielle Zeichenzahl beschränkt worden war, man aber eine Sprache nicht von heute auf morgen auf Volksschulniveau absenken kann — im Endeffekt ist es wohl auf eine Verarmung der Sprache hinausgelaufen, wie die Ausdrucksarmut der jungen Generation auch in Japan beweist — mußte man in einer sehr großen Anzahl von Fällen zu dem Mittel von U mschreibungen j kakikae ) greifen, um den neuen Nor( men Genüge zu tun. Dazu zählen sowohl einzelne Zeichen wie z. B. sj chū „Kommentar“, für das jetzt sj chū mit der eigentlichen Bedeutung „eingießen“, aber auch ganze Aussj sōkō „bleiche Farbe drücke wie z. B. haben“ + „aufgeregt sein“ → „überstürzt“, sj sōkō „Trockenspeicher“ für das jetzt + „Kaiser“ eingesetzt wurden. Bei den zahllosen Fällen dieser Art darf allerdings nicht vergessen werden, daß der Sinnzusammenhang entscheidend mit dazu beiträgt, Mißverständnisse auszuschließen, und daß heute nach fast einem halben Jahrhundert allgemeiner Gewöhnung fast niemand die alte und damit richtige Schreibung mehr kennt. Die 1946 dekretierte und zunächst murrend hingenommene Beschränkung der Zeichenzahl erwies sich — quod erat expectandum — als unzureichend, so daß am 23. 3. 1981 ebenfalls für den offiziellen und den Schulgebrauch eine auf 1945 Zeichen aufgestockte Liste (sog. Jōyō-kanji „chinesische Zeichen für den normalen Gebrauch“)

verabschiedet und eingeführt wurde, die in der Zwischenzeit noch einige geringfügige Ergänzungen erfahren hat, aber weiterhin Gültigkeit besitzt. Wie auch der letzte Vorschlag der als beratendes Organ des Kultusministeriums fungierenden Kommission für japanische Sprache zur Orthographie der Fremdwörter vom 1. 3. 1990, der am 1. 4. 1991 in dieser Form promulgiert worden ist, expressis verbis festlegte, sollen sich zwar Schulen, Amtsstuben und Presseorgane an die offiziellen Regelungen halten, dem Privatmann und der Wissenschaft ist aber die Freiheit zurückgegeben worden, die Schriftzeichen auch wieder in ihrer alten, ungekürzten Form zu verwenden. U nd es sollte nicht verhehlt werden zu konstatieren, mit welcher (Wol)lust sich inzwischen ein Großteil der Japaner der restitutio in integrum hingegeben hat.

2.

Korea

2.1. Einleitung und Anfänge Im U nterschied zu Japan hat die Halbinsel Korea eine Landverbindung zu China, was ab 108 v. Chr. dazu führte, daß Nord- und Mittel-Korea bis 313 n. Chr. unter chinesischer Oberhoheit standen. Die Errichtung der c Lèlàng / beiden Verwaltungszentren sk Nangnang (heute P’yǒngyang) für die Präfektur gleichen Namens und c Dàifāng / sk Taebang (entweder in der Nähe des heutigen Sǒul oder bei sk Sǒksǒng-ni, Gemeinde sk Munjǒn, Landkreis sk Pongsan, Provinz sk Hwanghae ) für die Präfektur gleichen Namens brachte die chinesischen Beamten in unmittelbaren Kontakt zur einheimischen Bevölkerung und löste damit dasselbe Problem aus wie später in Japan auch: die Schreibung der Eigennamen. Das 414 n. Chr. errichtete Monument zum Gedenken an den sk Koguryǒ- König sk Kwanggaet’o (374—412, reg. 391—412) enthält eine große Anzahl solcher Eigennamen. Zur Charakterisierung der Verschriftung reicht ein Beispiel aus, da die Transkriptionsmethode in der Verwendung phonetisch gebrauchter Zeichen mit der chinesischen identisch ist. Die Zeichen 9 und 10 der 2. Zeile der Südseite der Inschrift sind , archaisch-chinesisch am 2 -led 3 , altchinesisch am 2 -lei 3 und sk ǒm-ri, eine Transkription des (tungusisch-)solonischen Wortes amur „Fluß“, zeigen das gleiche Prinzip der Verschriftung mit etwas größeren Freiheiten

27.  Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift:Japan — Korea — Vietnam

in der phonetischen Gestaltung, wie sie ebenso bei der Man’yōgana auftreten. Aus dieser ältesten Periode, die trotz der Tatsache, daß die auf der koreanischen Halbinsel in der damaligen Zeit gesprochenen Sprachen unbekannt sind, zusammenfassend als Altkoreanisch bezeichnet wird, obwohl man annehmen darf, daß sich die Koreanisch zu nennende Sprache erst danach aus dem langsamen Zusammenschmelzen mehrerer Einzelidiome gebildet hat, sind wie in Japan auch nur Aufzeichnungen in chinesischer Sprache erhalten. Obwohl aus dieser frühen Zeit Materialien nur ganz sporadisch überliefert sind, hat sich für diese 1. Phase aufgrund des Inhalts einer vielleicht aus dem Jahre 552 (oder 612) stammenden Steininschrift die Bezeichnung sǒgich’e „Gelöbnisschrift“ eingebürgert (Lee 1977, 52 f), deren Besonderheit darin besteht, daß sie zwar ausschließlich chinesische Zeichen in ihrer semantischen Funktion verwendet, die Abfolge der Zeichen aber bereits teilweise vom Chinesischen abweicht (Trappmann 1989, 11) und sozusagen „koreanisiert“ erscheint, so daß der Leser interlinear übersetzen konnte, ohne wegen der anderen Stellungsgesetze des Chinesischen vor und zurück springen zu müssen. U ngefähr im 7. Jahrhundert (Lee 1977, 55) scheint eine Entwicklung eingesetzt zu haben, die der Semmyō-gaki (s. 1.2.2.) in Japan entspricht, und durch die eine gewisse Systematisierung in der Weise erreicht wurde, daß wie dort auch Substantiva und Verbstämme mit chinesischen Zeichen in semantischer Funktion, Endungen und Partikeln aber mit chinesischen Zeichen in rein phonetischer Funktion verwendet wurden. So wurde z. B. die mitk Konverbalform des Verbs hta > modk hada ‘machen’ mitk hko > modk hago ‘machen und dann’ geschrieben, wobei in semantischer Funktion den Begriff ‘machen’ zum Ausdruck bringt, während modsk kyǒn die grammatische Endung -/ko/ der Konverbalform andeutet (Lee 1977, 57 f). Da diese Schreibweise bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vorzugsweise von Beamten verwendet worden ist, ist sie neben einigen weniger gebräuchlichen Bezeichnungen unter dem Namodsk idu „Beamtenlesung“ (= Bemen amtenschrift) bekannt geworden. Wie sich die in Japan verwendete Man’yōgana für die Endungen und Partikel durch den ständigen Gebrauch nicht nur der Normal-, sondern auch der Konzeptschrift schnell zu Allegro-Formen abschliff, so verlangten auch die für die Endungen und Partikel verwendeten idu-Zeichen kategorisch

397

nach Vereinfachung. So wurde z. B. aus der mitk ay > modk e ein Lokativ-Endung die Nominativ-Endung i zu (Parallele zum Katakana i des Japanischen!), die in der älteren Schriftsprache satzschließende und tatsachenfeststellende Verb-Endung mitk ni zu (zusammen mit dem Verb modk hada ‘machen’ stark verkürzt > ), die Endung des Adversativkasus zur Herstellung eines Gegensatzes mitk nn > modk nǔn zu oder das Verbalsuffix der feststellenden Aussage k ra zu (vollständige Auflistung bei Trappmann 1989, 100—119). Seit dem 15. Jahrhundert wird diese Art der Schreibweise modsk kugyǒl a. l. „mündmit dem Begriff liche Geheimüberlieferung“ bezeichnet. Genau wie in Japan waren es auch in Korea Lieder und Gedichte, die Anlaß dazu waren, nicht nur Einzelworte oder Eigennamen, sondern zusammenhängende Sätze in der Landessprache aufzuzeichnen. Erhalten sind 25 unter dem zusammenfassenden Begriff sk hyangga „einheimische Lieder“ bekannte Gedichte, von denen 14 aus dem 7./8. Jahrhundert stammen sollen und in dem angeblich 1285 fertiggestellten Geschichtswerk sk Samguk-yusa „Überlieferungen [aus der Zeit] der 3 Reiche“ und weitere 11 aus der Feder des Mönchs Kyunyǒ (923—973) in dessen Biographie enthalten sind (Sasse 1989, 133). Da für die Aufzeichnungen nur Zeichen der chinesischen Schrift zur Verfügung standen, ergaben sich dieselben Probleme wie bei der schriftlichen Fixierung des Altjapanischen, so daß die gesamte Klaviatur der weißen Tasten für die semantische, der schwarzen für die aus der sino-koreanischen Lesung der chinesischen Zeichen abgeleitete und des Pedals für die aus der reinkoreanischen Lesung stammende phonetische Verwendung bespielt werden mußte, um zu einem Ergebnis zu kommen. Ein Beispiel mag zur Illustration dienen (Sasse 1989, 173): sk sokcha ) gewöhnliches Zeichen ( anstelle des orthographisch richtigen Zeichens sk chǒngja ) modk nop’ta „hoch sein“: ( Chinesisches Zeichen in semantischer Funktion und rein-koreanischer Lesung mitk nop ’/ o. modsk pok < archaisch-chinesisch p’ Q > altchinesisch p’ Q : Chinesisches Zeichen in sino-koreanischer Lesung als phonetisches Komplement für den koreanischen Wortauslaut /p’ + dunkler Vokal + implosives k/ unter gleichzeitiger Andeutung der Endung — /k/ der verstärkten Konverbalform (Sasse 1988, 185—254, insb. 244).

398 modsk ho : Chinesisches Zeichen in sinokoreanischer Lesung als phonetisches Komplement zur Darstellung des aspirierten Stammauslauts -/p’/ von k nop ’/ ta und der auf -/o/ auslautenden Konverbalform k nop ’/ o „sind hoch und ...“.

2.2. Einheimische Zeichen Über die bisher beschriebenen Verwendungen der chinesischen Schriftzeichen zur Darstellung der koreanischen Sprache hinaus hat man es auch in Korea für notwendig erachtet, für mit richtigen chinesischen Zeichen nicht wiedergebbare koreanische Begriffe eigene sk kukcha „einZeichen neu zu schaffen ( heimische Zeichen“). Wenn der Wind sk p’ung durch die Tür fegt, gibt es k p’aeng „Durchzug“ — ein in seiner Bildhaftigkeit außerordentlich einprägsames Zeichen. Flora und Fauna boten wie in Japan auch Anlaß für zahlreiche Neubildungen, wie sk ǒm für das Efeugewächs Kalópanax z. B. ricinifólius MIQUEL (zusammengesetzt aus dem k namu ‘Baum’ und dem Determinativum Phonetikum ǒm zur Wiedergabe des koreanischen Wortes ǒm-namu für diese Pflanze). Im Gegensatz zu den „einheimischen Zeichen“ in Japan und Việtnam enthalten die koreanischen „einheimischen Zeichen“ eine recht umfangreiche Gruppe von 70 der insgesamt 168 Zeichen (vollständige Auflistung bei Sasse 1980, 193—204), deren Kennzeichnung die Einarbeitung eines chinesischen Zeichens bzw. eines Teils davon oder aber eines koreanischen Han’gǔl -Zeichens (s. u. 2.3.) in das ursprüngliche chinesische Zeichen ist, um auf den Auslaut aufmerksam zu machen. Aus chinesischen Zeichen sind folgende phonetische Komplemente abgeleitet: sk ǔl zur Wiedergabe des Auslaut-/l/ in sino- und rein-koreanischen Wörtern, wie z. B. sk ol < sk o + sk ǔl für den Laut /ol/ oder k tol < k tol + sk ǔl , um die rein-koreanische Lesung tol „Stein“ sicherzustellen; sk chǔl/chil zur Wiedergabe der Auslaute -/s, ch, ch’, t’/ in sino- und rein-koreanischen Wörtern sowie des Anlaut-/s/ in rein koreanischen Wörtern einer älteren Sprachstufe, sk kǒ + wie z. B. sk kǒs < (Auslautk k kos /s/) für den Laut /kǒs/, kos < + (Auslaut-/s/), um die rein-koreanische Lesung /kos/ „Blume“ sicherzustellen, oder mitk spun > modk ppun < (Anlaut-/s/) + sk pun zur Wiedergabe des rein-koreanischen

III. Schriftgeschichte

Wortes ppun „nur“. In abgekürzter Form wird das chinesische Zeichen sk ǔn für auslautendes -/n/ verwendet, wobei die aus dem Determinativbestandteil abgeleiteten Abkürzungen , , und vorkommen, wie z. B. oder zur Wiedergabe des Präteritalpartizips modk han < älterem hn „gemacht habend“ des Verbums modk hada < älterem hta „machen“. — U nter Zuhilfenahme von Zeichen des Han’gǔl-Alphabets wurden zur Auslautkennzeichnung (-k), (-ŋ), (-n) und (-m) gebraucht, in der Mehrzahl der Fälle (8 von 9), um sino-koreanische Lautungen anzudeusk kǒ + ten, wie z. B. kǒk < -/k/, sk tu + tung < -/ŋ/ oder tun < sk tu + sk ya -/n/. Bei dem Zeichen < + -/m/ können Zweifel aufkommen, ob es phonetisch /yam/ oder semantisch k pam „Nacht“ gelesen werden soll (alle Angaben nach Sasse 1980, 193—204). Kombinationen dieser Art waren selbstverständlich erst nach der Erfindung der heute als Han’gǔl bezeichneten Buchstabenschrift möglich. Sie entsprach und entspricht der koreanischen Sprache so gut, daß man eigentlich ganz auf die chinesischen Zeichen hätte verzichten können, aber hier war der historische Hintergrund und die Tradition doch stärker als alle Bequemlichkeit. Erst das Ende des II. Weltkriegs brachte hier insofern eine Änderung, als die chinesischen Zeichen in Nordkorea gänzlich abgeschafft wurden (bewußter völliger Bruch mit der Tradition!) und nur noch in Han’gǔl geschrieben wird, während Südkorea mit Ausnahme der Jahre 1970— 1972, in denen die chinesischen Zeichen offiziell abgeschafft waren, an ihnen mit der Maßgabe festgehalten hat, daß ihre Lesung auf die sino-koreanischen Lautungen beschränkt ist und man bei der Lesung der Notwendigkeit enthoben ist, wie im Japanischen erst die Möglichkeiten auszuloten, ob man denn nun sino- oder rein-japanisch lesen soll oder zuweilen gar einen 3. Weg beschreiten muß. 2.3. Exkurs: Die modk Han’gǔl -Schrift Die in 2.1. erwähnten Schwierigkeiten bei der schriftlichen Darstellung des Koreanischen mit chinesischen Zeichen hingen vor allem damit zusammen, daß dem Koreanischen ein den japanischen Kana-Syllabaren vergleichbares Hilfsmittel zur Schreibung grammatischer Endungen fehlte. Der koreanische Kösk Sejong (1397—1450; reg. 1418— nig 1450) arbeitete deshalb im 12. Monat seines 25. Regierungsjahres (= Dez. 1443/Jan. 1444)

27.  Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift:Japan — Korea — Vietnam

zusammen mit einer kleinen Gruppe von 8 Gelehrten unter der Leitung des hoch angesehenen Philologen und Phonetikers sk Sin Sukchu (13. 6. 1417—21. 6. 1475) eine Schrift aus, die Abhilfe schaffen sollte. 1446 sk als Hunmin-chǒngǔm (wörtl. „das Volk in den richtigen Lautungen unterweisen“ [= Nationale Orthoëpielehre]) veröffentlicht, fand diese genial erfundene Buchstabenschrift trotz der Anstrengungen Sejongs und seiner Nachfolger wegen der Widerstände in der Beamtenschaft und der der chinesischen Tradition verhafteten Oberschicht nur geringe Verbreitung. Sie geriet dadurch zwar nicht in Vergessenheit, aber doch auf ein Abstellgleis mit rotem Ausfahrtssignal, und führte lediglich bei der Niederschrift von Liedern, dem Erlernen von chinesischen Schriftzeichen, dem Studium chinesischer Bücher, beim Anfängerunterricht für Mädchen sowie bei der Schreibung fremder Eigennamen ein kümmerliches Dasein am Rande, ja war sogar sk ǒnmun „Schrift durch die Benennung für die niedere Sprache“ noch zusätzlich dissk kungmun kriminiert. U m 1900 dann als „nationale Schrift“ bezeichnet (Lee 1977, 64), änderte sich dies erst 1945 nach der japanischen Kapitulation, als sich der bereits 1913/ sk Chu Si14 von dem Grammatiker kyǒng (1876—1914) vorgeschlagene Name k han’gǔl (< k han- „groß/eins“ + k kǔl „Schrift“) für die eigenständige koreanische Schrift durchsetzte. Waren die japanischen Kana-Syllabare noch in völliger Abhängigkeit von der chinesischen Silbe entstanden, so lösten sich Sejong und seine Berater in epochemachender Weise von diesen Vorstellungen, indem sie durch Aufspaltung einer Silbe in An-, In- und Auslaut zu einer Einzellautbetrachtung gelangten, was Voraussetzung für die Schaffung einer Buchstabenschrift ist. Das Hunminchǒngǔm erläutert die einzelnen Buchstaben zunächst phonetisch: „k. Velarlaut. Wie der zuerst gesprochen Laut sk kun [„Fürst“] (Hunmindes Zeichens chǒngüm, 1 r), und sodann physiologisch, um die Form des Buchstabens beschreiben zu können: „( scil. das Zeichen für den ) Velarlaut k bildet die den Kehlkopf verschließende Zungenwurzel nach.“ (Hunmin-chöngǔm, 6 r; vgl. auch Abb. 25.10). Dies wird für alle damaligen 28 Buchstaben durchgeführt, deren Zusammenstellung zu einer Silbe das einzige Zugeständnis an die Schreibtradition der chinesischen Normschrift war. Da Einzelbuchstaben frei

399

kombinierbar sind, hätte man den koreanisk Kim ja einfach schen Familiennamen schreiben können, aber hier siegte die Tradition, ein chinesisches Schriftzeichen immer in ein imaginäres Quadrat hineinzuschreiben, so daß die Einzelbuchstaben seit Anbeginn der koreanischen Buchstabenschrift als Gruppe zu einer Silbe zusammengefaßt werden: < . Die folgende Zusammenstellung (Tab. 27.5) enthält alle koreanischen Buchstaben in ihrer heutigen Reihenfolge, wobei die heute nicht mehr verwendeten Zeichen mit einem * gekennzeichnet sind. Das heutige koreanische Alphabet hat die Abfolge: Die Vokale sind dabei unter dem Vokalträger o angeordnet. Sie werden graphisch durch vertikale und horizontale Striche dargestellt, die den Öffnungsgrad des Mundes symbolisieren sollen. Sie sind unter sich kombinierbar, um Diphthonge und Triphthonge bilden zu können. Das moderne Koreanisch hat folgende Vokalzeichen in der Reihenfolge des Alphabets: /a/, /ae/ < /a + i/, /ya/, /yae/ < /ya + i/ /ǒ/, /e/ < /ǒ — i/, /yǒ/, /ye/ < /yǒ + i/ /o/, /wa/ < /o + a/, /wae/ < /o + a + i/, /oe/ < /o + i/, /yo/ /u/, /wǒ/ < /u + ǒ/, /we/ < /u + ǒ + i/, /ui/ < /u + i/, /yu/ /ǔ/, /ǔi/, /i/. Herrn Prof. Dr. Werner Sasse, Frau MarieTheres Westhoff und Herrn Lektor Oh In-je (alle Bochum) bin ich für Materialbeschaffung und wertvolle Hinweise zu Zf. 2 sehr zu Dank verpflichtet.

3.

Việtnam

Allein schon die Tatsache, daß die geographische Situation Việtnams derjenigen Koreas insofern gleicht, als es eine gemeinsame Landgrenze mit China hat, hat chinesischer Infiltration von Anfang an Tür und Tor geöffnet, zumal hier wie da dem Riesenreich China ein flächenmäßig kleines Land gegenüber stand, das zudem fast immer unter sich sehr zerstritten war. Je geeinter und daher mächtiger das Reich der Mitte war, desto stärker waren auch seine Gelüste, ganz Ostasien mit seiner pax sinica zu beglücken. Die c Hàn -Dynastie (206 v. Chr.—220 n. Chr.) war ein solcher Staat, und folglich kam Việtnam nicht darum herum, sich von

III. Schriftgeschichte

400

Tab. 27.5: Die koreanische Han’gǔl-Schrift Buchstabe

*

Laut

Name

Bemerkungen

[k-/--]

kiyǒk

[g’]

ssang-giyǒk

[n]

niǔn

[t-/--]

tigǔt

[d’]

ssang-digǔt

[-r-/-l]

(r)iǔl

[m]

miǔm

[p-/--]

piǔp

[b’]

ssang-biǔp

völlig unaspiriert

[-β-]

sun-gyǒngǔm (

seit ca. 1450 nicht mehr verwendet (Lee 1977, 148)

völlig unaspiriert

völlig unaspiriert

)

*

*

*

[s h ]

siot

aspiriert

[s’]

ssang-siot

völlig unaspiriert

[z]

pan-siot, yǒrin siot, samgak siot

seit der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts in der Schrift nicht mehr verwendet (Lee 1977, 150)

(1) spiritus lenis

iǔng

heute nur Vokalträger

[(2) [-ŋ]

iǔng

silbenschließender Velarnasal [ŋ]

[’-/--]

toen iǔng

Vokalanstoß als Vokalträger im Anlaut [’]

yǒrin hiǔt

intervokalischer stimmhafter laryngaler Frikativlaut [] (Lee 1977, 151); seit Ende 15./Anfang 16. Jahrhundert in der Schrift nicht mehr verwendet (Lee 1977, 152)

[]

area a

seit 15./16. — 2. Hälfte 18. Jahrhundert in der Schrift nicht mehr verwendet, aber erst 1933 abgeschafft (Lee 1977, 242)

[tʃ-/--]

chiǔt

[tʃ’]

ssang-jiǔt

völlig unaspiriert

[tʃ h ]

chhiǔt

stark aspiriert

[k h ]

khiǔk

stark aspiriert

[t h ]

thiǔt

stark aspiriert

[p h ]

phiǔp

stark aspiriert

[h]

hiǔt

[ç]

ssang-hiǔt

palataler stimmloser Frikativlaut („ichLaut“), seit 1465 in der Schrift nicht mehr verwendet (Lee 1977, 146)

27.  Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift:Japan — Korea — Vietnam

111 v. Chr. bis 968 n. Chr. mit dem Status eines chinesischen Protektorats abzufinden. Rund 1100 Jahre chinesischer Oberherrschaft in Việtnam mußten daher ihre unauslöschlichen Spuren hinterlassen. Während sich die chinesische Verwaltung in den chinesischen Präfekturen auf koreanischem Boden mit indigenen Sprachen herumschlagen mußte, die mit dem Chinesischen nichts zu tun hatten, war die Situation in Việtnam insofern anders, als das Việtnamesische bei allen gravierenden U nterschieden zum Chinesischen rein äußerlich eine monosyllabisch-isolierende Sprache war und ist. Mögen sich Phonetik und grammatikalisch-syntaktische Konstruktionen im Việtnamesischen noch so sehr vom Chinesischen unterscheiden, so lag doch die Versuchung nahe, die für eine ebenfalls monosyllabisch-isolierende Sprache geschaffenen chinesischen Schriftzeichen so, wie sie waren, für das Việtnamesische zu verwenden. Zwar dachte im Anfang niemand daran, Việtnamesisch mit chinesischen Zeichen zu schreiben, denn wenn es etwas zu schreiben gab, dann wurde es, wie in Japan und Korea zunächst auch, mit chinesischen Zeichen in chinesischer Sprache geschrieben. Nur ein Punkt machte überhaupt keine Schwierigkeiten, nämlich die Schreibung der việtnamesischen Eigennamen, die ja in Japan und Korea nicht nur Stein des Anstoßes, sondern direkter Auslöser für eine eigene Schriftentwicklung gewesen waren. Bis zum heutigen Tage werden việtnamesische nom ina propria in China nicht phonetisch transkribiert, sondern mit richtigen chinesischen Zeichen geschrieben, die in Việtnam selbst gar nicht mehr verwendet und verstanden werden. In China wird Việtnam geschrieben und c yuènán ( kant jyt 9 nam 4 ) ausgesprochen, ist sv Điện-biên-ph und Lê-Văn-Huu ist der Verfasser der việtnamesischen Geschichtsannalen sv Đại-Việt s·-ký von 1272. U m diese Zeit herum wurden erste Versuche unternommen, die eigene việtnamesische Sprache mit chinesischen Zeichen zu schreiben. Das Problem hierbei war, daß das Việtnamesische zwar monosyllabisch war, auf grammatische Formantien also keine Rücksicht zu nehmen brauchte, aber ganz andere Worte benutzte als das Chinesische. Vor die Aufgabe gestellt, das Verb „essen“ schriftlich zu fixieren, hätte man wie im Japanischen und Koreanischen auch zweigleisig fahren können, einmal mit der Entlehnung der adaptierten chinesischen Aussprache und zum anderen mit der eigenen rein-việtnamesischen Lautung, denn das chinesische Zeichen „es-

401

sen“ existierte ja und war bekannt. Nun ergaben aber die Entlehnungen aus dem chinesischen Vokabular normalerweise die SinoVarianten der jeweiligen Sprachen. c

shípǐn shokuhin sk sikp’um sv thụcphâm sj

„Lebensmittel“ „Lebensmittel“ „Lebensmittel“ „Lebensmittel“

Andererseits zeigt aber der Grundwortschatz durchaus sein Beharrungsvermögen — „essen“ als Simplex ist nie etwa durch *„mandieren“ ersetzt worden. Das Japanische hat sich mit dem Trick der Übersetzung in die eigene Sprache geholfen: da das chinesische Zeichen „essen“ bedeutet, lesen wir das j einfach taberu. Bis zur Einführung der Han’gǔl-Schrift war es in Korea ebenso: das Zeichen wurde k mǒkta gelesen. Im Việtnamesischen hätte es theoretisch genauso sein können, aber die Einsilbigkeit der Sprache machte einen Strich durch die Rechnung. Auf Việtnamesisch heißt „essen“ v ăn. Schriebe man nur , könnte man dem Zeichen von außen nicht ansehen, ob es sv tụ oder sv thụ oder aber v ăn gelesen werden soll, denn Lej ta⋮beru sehilfen wie im Japanischen k oder Koreanischen mǒk⋮ta waren ja unmöglich. Also blieb nichts anderes übrig, als eine radikale Trennung in der Weise vorzunehmen, daß die sino-việtnamesischen Lesungen für die chinesischen Zeichen reserviert, für die việtnamesischen Worte aber neue Zeichen geschaffen wurden, die mit den echten chinesischen Zeichen nicht verwechselt werden konnten. Die den Gedankenbereich eines chinesischen Zeichens bezeichnenden Determinativa boten dazu zusammen mit den Phonetika eine gute Grundlage. Da „essen“ immer etwas mit ‘Mund’ zu tun hat, war der Determinativ-Bestandteil des zu schaffenden Zeichens bereits eindeutig als ‘Mund’ festgelegt. Als Phonetikum für das việtnamesische Wort v ăn bot sich c ān an, so daß sich ein Zeichen ergab, das dem Leser die eindeutige Instruktion gab, „hat etwas mit ‘Mund’ zu tun und soll ungefähr wie [an] gelesen werden“. Wer es dann immer noch nicht kapiert hatte, mußte wohl hungrig bleiben. Zur Abgrenzung von den echten chinesischen Zeichen chũ hán wurde diese neue Schrift chũ nȏm „einheimische Schriftzeichen“ genannt; die Gesamtzahl ihrer Zeichen beläuft sich auf 6285 (eigene Zählung aufgrund von Takeuchi 1988, 633—694). Ihr

402

bei weitem wichtigstes, aber nicht das einzige Bildungsgesetz war die oben dargestellte Kombination eines Determinativums mit einem Phonetikum. Andere Bildungsweisen hatten i n diesem Zusammenhang zwar nur geringe Chancen, kamen aber vor, so z. B. bei v trò·i „Himmel“ < sv thiên (Himmel) und sv thuọng (oben), wobei einerseits weder noch als Phonetikum geeignet waren und andererseits /trò·i/ als sino-việtnamesische Lautung irgendeines chinesischen Zeichens nicht vorkommt. Das Zeichen dürfte c tiānvon dem chinesischen Binomen shàng (Himmel, Firmament) mit inspiriert v trùm „Häuptworden sein. Ähnlich bei sv nhân (Mensch) und sv thuọng ling“ < (oben) für einen Menschen, der an der Spitze steht. Auch v trùm kommt als sino-việtnamesische Lautung eines chinesischen Zeichens nicht vor. Graphisch setzen sich die chinesischen Zeichen aus einzelnen (Pinsel)strichen zusammen, deren Gesamtzahl im Chinesischen selbst die stolze Zahl von 64 erreicht. Zu allen Zeiten hat man daher oft seine Zuflucht zu Abkürzungen genommen, insbesondere wenn es sich dabei um häufig gebrauchte Zeichen gehandelt hat. Auch die chũ nôm blieb davon nicht verschont, so daß es von gekürzten, abgekürzten, verkürzten und verstümmelten Zeichen nur so wimmelt. Das Zeichen c wéi / sj i / sk wi / sv vị „machen“, das ursprünglich „einen Elefanten bei der Arbeit mit der Hand leiten“ bedeutete, war schon den Chinesen zu lästig, so daß sie schon früh inoffiziell auf einen Großteil der Hand verzichteten und nur noch schrieben. Aber auch das war ihnen noch zu viel, so daß heute offiziell von dem Elefanten nur noch soz. Skeletteile übriggeblieben sind. Die chũ nôm hat demgegenüber manchmal den Weg der japanischen Katakana beschritten und Teile eines Zeichens verwendet, in diesem Fall auf den Elefanten ganz verzichtet und nur noch die Hand übriggelassen. Das Zeichen wurde so für das việtnamesische Verb làm „machen, tun“ verwendet, war darüber hinaus aber auch noch für die Lautungen lam/ lâm/lem/lim/lôm/lo·m/lum/luôm eingesetzt worden. Entwicklungen dieser Art reifen langsam, und so ist es kaum verwunderlich, daß die

III. Schriftgeschichte

neue Schrift chũ· nôm in altem Gewande erst im 13. Jahrhundert erste Gehversuche unternahm. 1282 schrieb der Justizminister Nguyễen-Thuyên Gedichte in einheimischer Sprache, womit er beim Adel eine große Resonanz hatte (Lê 1969, 117). Ende des 15./ Anfang des 16. Jahrhunderts nahm die in chũ· nôm geschriebene Literatur einen bescheidenen (Lê 1969, 174), Ende des 17. und im 18. Jahrhundert aber einen beachtlichen Aufschwung (Lê 1969, 226). In der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts stellte die zunächst in Chinesisch verfaßte „Klage einer Kriegersfrau“ ( ) Chinh-phụ-ngâm(-khuc) von Đặng-Trần-Côn in ihrer Übertragung ins Việtnamesische durch die Dichterin Đoàn-Thị-Điém (1705—1748) das Original weit in den Schatten (Lê 1969, 226; hier unrichtigerweise PhanHuy-Ích als Übersetzer genannt). U m 1790 herum wurde der Versuch unternommen, die chinesischen Zeichen gänzlich durch die einheimischen zu ersetzen, indem Gesetze, Kultgebete, Proklamationen und die 3. Prüfungsarbeit bei den Staatsprüfungen nur noch in chũ· nôm geschrieben wurden (Lê 1969, 262 f), was dann 1790 zur offiziellen Einführung als nationale Schrift ausgebaut wurde (Lê 1969, 264). Erst 1915 wurde die chũ nôm offiziell abgeschafft, nachdem Việtnam schon lange französisches Protektorat geworden war (Kamei et al. 1988, 765) und französische Missionare, insbesondere P. Alexandre de Rhodes (1591—1660) in seinem 1651 in Rom herausgekommenen Dictionarium Annam iticum -Lusitanum et Latinum bereits eine auf portugiesische Vorarbeiten beruhende U mschrift des Việtnamesischen in lateinische Buchstaben geschaffen hatte, die seit 1910 als sv (chũ) quốc ngũ ( ) alleiniges Darstellungsmittel des Việtnamesischen geworden ist. Der Gesamtkomplex der Entwicklung der chinesischen Schrift in Việtnam kann gut an einem Beispiel veranschaulicht werden, das der việtnamesischen Übertragung des erwähnten Versromans „Klage einer Kriegersfrau“ entnommen ist (Nguyễn-Du, s. l. s. a., Bd. II, 157, Z. 7—8) (s. nächste Seite). Für wertvolle Hinweise und Hilfestellung bei der Materialbeschaffung z. Zf. 3 bin ich Frau Dr. Vera Schmidt (Bochum) und Herrn Dr. Johannes Kehnen (Duisburg) sehr zu Dank verpflichtet.

27.  Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift:Japan — Korea — Vietnam

Original

Erläuterung

(1)

có vorhanden sein

abgekürztes Zeichen für das aus dem Phonetikum cố und dem Determinativum „vorhanden sein“ zusammengesetzten Determinativphonetikum „vorhanden sein“.

(2)

đâu ganz und gar

verkürztes Zeichen, anstelle von đâu (eigentliche Bedeutung „Helm“) rein phonetisch verwendet. verkürztes Zeichen für parteiisch“.

sv thiên „einseitig, voreingenommen,

thiên

verkürztes Zeichen für

sv

(3) (4)

403

vị „wegen, weil, für, infolge“

vi sino-viet. Binom-Kompositum mit der Bedeutung „Voreingenommenheit“. Kein chin. Lehnwort. (5)

chũ· (auf)bewahren

Aus dem Phonetikum trũ (mit chũ· homophon) und dem Determinativum „Schriftzeichen“ zusammengesetzes Zeichen mit der Bedeutung „Schriftzeichen“; hier fälschlicherweise für das homophone trũ „(auf)bewahren, speichern“ verwendet.

(6)

mệnh Geschick, Los, Fügung

sino-viet. Lehnwort mit der Bedeutung „Fügung, Los, Geschick; Leben“.

(7)

dồi dào rein-viet. Binom-Kompositum mit der Bedeutung „viel, (über)-reichlich“

Lapsus calami für richtiges , das aus dem Determinativum < (Wasser) als Sinnbild für Überfluß“ (Fluß ← Wasser!) und dem Phonetikum đôi zur Darstellung des Begriffs „Überfluß“ gebildet ist.

(8)

câ zu viel

Aus co/ky/kỳ durch graphische Umkehrung der Größenverhältnisse (großes anstelle eines kleineren und kleines anstelle eines größeren) gebildet, um den Begriff „zu groß, zu viel“ darzustellen (das große ist für das kleine „zu groß“).

(9)

hai zwei, doppelt

Aus dem Phonetikum thai und dem Determinativum „2“ zusammengesetzes Determinativphonetikum.

4.

Literatur

Hong Ki-hun (ed.). 1973. Wǒnbon yǒngin Han’guk kojǒn ch’ongsǒ (pokwǒnp’an), I. [Ǒhakyu] Hunmin-jǒngǔm, Sǒul.

1973 Ichiko, Teiji (ed.). 1986. Nihombungaku Dai-nempyō, Tōkyō. 61 Kamei, Takashi, Kōno, Rokurō & Chino, Eiichi. 1988. Gengogaku Dai-jiten, dai-1-kan, Sekaigengo-hen (jō), Tōkyō.

63 Kan, To-Kō. 1982. Ritō to Man’yōgana no Kenkyu, Ōsaka. 57 Lê, Thành Khôi. 1969. 3000 Jahre Vietnam. Bearbeitet und ergänzt von Otto Karow, aus dem Französischen („Le Vietnam, Histoire et Civilisation“) übertragen von W. Helbich, U . Schmalzriedt & H. W. A. Schoeller, München. Lee, Ki-moon. 1977. Geschichte der koreanischen Sprache. Deutsche Übersetzung hrsg. von Bruno Lewin, Wiesbaden.

III. Schriftgeschichte

404

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Wolfram Müller-Yokota, Bochum (Deutschland)

28.  Mittelamerikanische Schriften

405

28. Mittelamerikanische Schriften 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

1.

Schriftsysteme im vorspanischen Amerika Narrative Piktographie der Präklassik Die zapotekische Schrift Die epiolmekische Schrift Maya-Hieroglyphen Die aztekische Hieroglyphenschrift Literatur

Schriftsysteme im vorspanischen Amerika

Die indianischen U reinwohner des amerikanischen Kontinents haben verschiedene Schriftsysteme entwickelt, die im Vergleich mit den altweltlichen Schriften nur ungenügend bekannt, aber aufgrund ihrer vollkommenen Eigenständigkeit von erheblichem komparatistischen Interesse für die Erforschung der Genese von Schriftsystemen sind. Von den amerikanischen Schriften werden in diesem Kapitel nur solche behandelt, die nicht auf europäische Kontakte zurückgehen. Abgesehen von diversen sehr heterogenen Vorläufern der Schrift haben die indianischen Völker Nordamerikas keine eigenständigen Schriftsysteme hervorgebracht. Ganz anders stellt sich die Situation in den frühen vorspanischen Stadtkulturen Mesoamerikas dar, die verschiedene ideographische und logosyllabische Systeme entwickelten, die von den letzten vorchristlichen Jahrhunderten bis zur spanischen Eroberung, in Rückzugsgebieten sogar noch bis weit in die Kolonialzeit hinein in Gebrauch waren. Die städtischen Kulturen im andinen Raum haben — im Gegensatz zu Mesoamerika — keine Schriftsysteme verwendet, die über das Stadium der an anderer Stelle behandelten Vorstufen zur Schrift hinausgehen. Die Verwendung von Schrift im vorspanischen Amerika ist auf das „Mesoamerika“ genannte Kulturareal beschränkt, also auf ein Gebiet, das sich auf die heutigen Staaten Mexiko, Guatemala, Belize, Honduras und El Salvador erstreckt. Die folgende Diskussion beschränkt sich daher auf die Schriftsysteme des vorspanischen Mesoamerika. Der Schwerpunkt der Darstellung muß bei der Mayaschrift liegen, die nicht nur das am weitesten entwickelte, sondern inzwischen auch das am besten erforschte Schriftsystem der Neuen Welt ist. Neben der Mayaschrift entstanden bereits in der Präklassik andere Schriftsysteme im südlichen Mesoamerika, die wie im Fall der erst

kürzlich entzifferten epiolmekischen Schrift bereits sehr komplexe logosyllabische Strukturen haben. Im nördlichen Mesoamerika tritt Schrift erst unmittelbar vor der spanischen Invasion auf.

2.

Narrative Piktographie der Präklassik

Der eigentlichen Schrift gehen in Mesoamerika verschiedene Vorstufen zur Schrift voran. In den frühen Stadtkulturen der Olmeken, im Tal von Oaxaca, und in den meisten Bereichen Zentralmexikos noch bis in die postklassische Zeit hinein wird eine komplexe narrative Piktographie zur „Schreibung“ einfacher Aussagen verwendet. Die narrative Piktographie ist jedoch ein begrenztes System, das abstrakte Ideen und Zusammenhänge nicht darzustellen vermag (vgl. 6.). Die olmekische Kultur, die von 1200 v. Chr. bis 500 v. Chr. an der mexikanischen Golfküste blühte, entwickelte eine komplexe narrative Ikonographie, die möglicherweise bereits den Übergang zu einer den Sprachcode einbeziehenden Notation vollzog. Allerdings sind uns bis jetzt keine eigentlichen olmekischen Hieroglyphentexte bekannt, sieht man einmal von dem Vorkommen isolierter Zeichen ab, die für nominale Ausdrücke stehen.

3.

Die zapotekische Schrift

Die Verwendung von Schrift in Mesoamerika ist zum ersten Mal in der zapotekischsprachigen Stadt Monte Alban im Tal von Oaxaca in Südmexiko belegt (Marcus 1976; Whittaker 1992, 6). Die ältesten Schrifttexte finden sich auf massiven Stelen aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Das Schriftsystem wurde über die gesamte Präklassik weiterentwickelt und zur Niederschrift der militärischen Erfolge der Herrscher Monte Albans verwendet. Die Schrift erreichte ihre höchste Entwicklung in der späten Präklassik (200 v. Chr.—250 n. Chr.) und wurde dann aber zu dem Zeitpunkt, als die Macht der Stadt am größten war, in der Verwendung dramatisch reduziert. Geschriebene Texte wurden durch eine komplexe Ikonographie ersetzt, die vielleicht den Vorteil einer allgemeineren Verständlichkeit in einem durch die Eroberungen entstandenen multilingualen U mfeld hatte. Die zapoteki-

III. Schriftgeschichte

406

sche Schrift wurde bis in die späte Klassik verwendet, hatte in der Spätzeit jedoch allein die Funktion, Namen und Daten niederzuschreiben. Das Corpus der zapotekischen Hieroglyphentexte ist klein und im wesentlichen auf Steinmonumente — Stelen und Wandtafeln — aus dem Hauptort Monte Alban beschränkt. Kurze Texte sind auch in umliegenden Orten gefunden worden, die wahrscheinlich von Monte Alban kontrolliert wurden. Die Kürze der meisten Inschriften, in denen selten mehr als zehn Zeichen folgen, deutet darauf hin, daß es sich um ein logographisches System handelt. Die Zeichen stellen in den meisten Fällen konkrete Gegenstände dar. Sie stehen für Kalenderzeichen, Personennamen, Toponyme und Verben. Da die zapotekischen Sprachen stark isolierende Sprachen sind, brauchen grammatische Affixe nicht repräsentiert zu werden. Der zapotekische Kalender beruht auf dem in ganz Mesoamerika verbreiteten 260tägigen Ritualkalender. Die Zeichen des Ritualkalenders wurden auch zur Notierung des 365tägigen Jahres und verschiedener anderer Kalenderabschnitte verwendet. Wie in vielen anderen Regionen Mesoamerikas erfolgt die Namengebung von Personen nach ihrem Geburtsdatum, so daß Personennamen häufig nicht von Kalenderdaten zu unterscheiden sind. Toponyme können an ihrer syntaktischen Position und daran erkannt werden, daß sie häufig mit dem Zeichen „Berg“ kombiniert werden. Einige der Ortshieroglyphen können mit aus der Kolonialzeit bekannten Toponymen aus dem Tal von Oaxaca und angrenzenden Gebieten korreliert werden. Dabei hat sich herausgestellt, daß neben konkreten Toponymen auch Namen von Distrikten erscheinen, denen die genannten Eroberungen zugeordnet werden. Zu den wenigen sicher identifizierten Verben gehört das Verb für „erobern“. Die sprachliche Entzifferung der zapotekischen Schrift steht erst in den Anfängen und wird durch das Fehlen reiner Silbenzeichen und die seltene phonetische Verwendung der Logogramme, aber auch durch die Kürze der Texte und die unbefriedigende Dokumentation der zapotekischen Sprachen erschwert.

4.

Die epiolmekische Schrift

In der Zeit zwischen 150 v. Chr. und 450 n. Chr. entstand im Kerngebiet der olmekischen Kultur eine Schrift, die am besten als

„epiolmekische“ Schrift bezeichnet wird, da sie in der archäologischen Tradition der früheren olmekischen Kultur steht (Justeson & Kaufman 1993, 1703). Bislang sind nur neun epiolmekische Schrifttexte bekannt, von denen alle bis auf zwei auf Steinmonumente geschrieben sind. Die geringe Anzahl der Texte wird wettgemacht durch eine 1986 in La Mojarra (Veracruz) gefundene Basaltstele mit einem aus mehreren hundert Schriftzeichen bestehenden gut erhaltenen Text (Abb. 28.1). Die Entdeckung und Publikation dieses außergewöhnlichen Monumentes, das zwei sicher zu entziffernde Daten aus der Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. trägt, führte zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der epiolmekischen Schrift und ihrer Entzifferung im Frühjahr 1993 (Justeson & Kaufman 1993). Epiolmekische Schrifttexte repräsentieren eine Prä-Proto-Zoque-Sprache. Sieben verwandte Mixe-Zoque-Sprachen werden noch heute in der Region, in der epiolmekische Texte gefunden wurden, gesprochen. Die Entzifferung der epiolmekischen Schrift beruht auf dem Vergleich der Struktur der Schrift mit der Struktur des rekonstruierten PräProto-Zoque, der Ähnlichkeit des Kalendersystems mit dem der späteren Maya und der graphischen Ähnlichkeit vieler Zeichen mit Zeichen aus der genetisch verwandten Mayaschrift. Die Anzahl der epiolmekischen Schriftzeichen ist mit knapp 200 Zeichen zu gering für eine rein logographische Schrift. Die epiolmekische Schrift stellt daher den ersten bekannten Beleg für eine vollentwickelte logosyllabische Schrift in Mesoamerika dar. Die meisten Silbenzeichen haben die Struktur Konsonant-Vokal (CV). In den Mixe-ZoqueSprachen sind nur 66 CV-Kombinationen möglich, so daß trotz eines geringen Textcorpus syllabische Entzifferungen an einer Vielzahl unterschiedlicher Kontexte überprüft werden können. Neben CV-Silbenzeichen können auch Logogramme, die die Struktur CVC und CVCV haben, in phonetischen Schreibungen verwendet werden, wobei ihr semantischer Wert bedeutungslos wird. Aus mehreren Silben bestehende Logogramme können durch Akrophonie zu CV-Silbenzeichen werden. Logogramme sind häufig ikonische Zeichen, deren Bilder für das Gemeinte stehen. Die Silbenzeichen können sowohl für rein syllabische Schreibungen, aber auch zur phonetischen Komplementierung von Logogrammen und zur Schreibung grammatischer Morpheme verwendet werden.

28.  Mittelamerikanische Schriften

Abb. 28.1: Die epiolmekische Basaltstele von La Mojarra, Veracrúz, México. Zeichnung von George Stuart

407

III. Schriftgeschichte

408

Die La Mojarra-Stele, der längste bekannte epiolmekische Text, behandelt die Inthronisation des dargestellten Herrschers, begleitende Opferzeremonien und zahlreiche Feldzüge, die er unternommen hat. Inhaltlich entspricht sie damit späteren Maya-Inschriften. Nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell scheint die epiolmekische Schrift die gleichen Wurzeln zu haben wie die erst später belegten Maya-Hieroglyphen. Zahlreiche epiolmekische Zeichen sind Mayazeichen ähnlich und teilen mit ihnen auch den gleichen Lautwert.

5.

Maya-Hieroglyphen

5.1. Verbreitung der Mayaschrift Schriftzeugnisse in der Hieroglyphenschrift der Maya finden sich im gesamten Gebiet der klassischen Mayakultur, das sich über Südmexiko, über den gesamten Norden des Staates Guatemala, den Staat Belize, und einen schmalen Streifen im Nordwesten des Staates Honduras erstreckt. In mehreren hundert Städten, die im Einzelfall bereits in der mittleren Präklassik (800 bis 300 v. Chr.) entstanden, wurde die Hieroglyphenschrift bis zum Zusammenbruch der klassischen Mayakultur (ca. 750 bis 900 n. Chr.) verwendet. Schrifttexte haben sich auf einer Vielzahl unterschiedlicher Materialien erhalten, vor allem aber auf Steinmonumenten (→ Abb. 28.2 auf Tafel IX). Zu den steinernen Schriftträgern gehören Stelen, Altäre, und architektonische Elemente, wie Türstürze und -laibungen, Wandtafeln, und sogar Treppen. Neben gemeißelten Texten gibt es auch ein sehr großes Corpus von auf Keramiken geschriebenen Texten. Schließlich kennen wir zahlreiche Texte auf Kleingeräten und Schmuckstücken aus Jade, Knochen und Muschelschale (Abb. 28.3) und einige wenige Exemplare von in Holz geschnitzten Texten. Nur in wenigen Fällen haben sich Wandmalereien mit erläuternden Hieroglyphentexten gefunden. In der Zeit kurz vor der spanischen Invasion entstanden die vier noch erhaltenen Faltbücher,

Abb. 28.3: Inzisierte Muschelplatte mit Logogramm, wahrscheinlich für einen Personennamen; Originalgröße

die auf Feigenbastpapier geschrieben sind und sich heute in europäischen und mexikanischen Bibliotheken befinden. Wie groß das sich ständig durch archäologische Grabungen erweiternde Gesamtcorpus aller Hieroglyphentexte ist, läßt sich nicht genau sagen; sicher handelt es sich um eine fünfstellige Zahl. Verschiedene Projekte bemühen sich gegenwärtig um die vollständige Dokumentation des Textcorpus. 5.2. Entstehung und Entwicklung der Mayaschrift Zu den noch ungelösten Fragen gehört die Frage, ob die Mayaschrift eine selbständige und weitgehend unabhängige lokale Entwicklung ist, oder ob die Mayaschrift aus der pazifischen Küstenregion in das Tiefland, das das Kerngebiet der klassischen Mayakultur bildet, importiert wurde (Justeson, Norman, Campbell & Kaufman 1985). In den Jahrhunderten unmittelbar um die Zeitenwende wurde an der pazifischen Küstenregion wie auch im Hochland Guatemalas ein Schriftsystem verwendet, das in vielerlei Hinsicht als Vorläufer der klassischen Mayaschrift angesehen werden kann. Die Schöpfer dieser Schrifttexte standen in Kontakt mit Sprechern von Mixe-Sprachen, die ihrerseits die epiolmekische Schrift verwendeten. Die wenigen lesbaren Hieroglyphen auf frühen Texten dieser Region sind in einer der Cholsprachen geschrieben, die in der Kolonialzeit in der Gegend nicht mehr vorkamen. Das könnte ein Indiz dafür sein, daß es in der späten Präklassik zu einer Migration von cholsprachiger Bevölkerung aus dem Hochland und der Pazifikküste in das Tiefland gekommen ist. Auch archäologische Indizien können zur Stützung dieser Hypothese angeführt werden. Das letzte datierte Monument aus der Küstenregion trägt das Datum 126 n. Chr. Andererseits haben neuere archäologische Grabungen im Norden Guatemalas zeigen können, daß Städte mit monumentaler Architektur und einer komplexen Ikonographie schon um 600 v. Chr. existierten und daß mit frühen Formen von Mayaschrift beschriebene Monumente und Objekte ebenfalls bereits in der Präklassik vorkommen (Hansen 1991, 12 ff). Die sich vor allem in monumentalen Stuckmasken an der Fassade von Tempelpyramiden manifestierende präklassische Ikonographie macht sich ein Zeichenrepertoire zu nutze, das weitgehend identisch ist mit Logogrammen, die später in der Mayaschrift

28.  Mittelamerikanische Schriften

vorkommen. Diese Tatsache deutet wiederum auf eine lokale Entstehung der Mayaschrift aus der Ikonographie der Präklassik hin. Möglicherweise schließen sich beide Theorien nicht aus; vielleicht hat es auch diverse Ansätze zur Schriftentwicklung gegeben, die durch die Zuwanderung von Cholsprechern ins Tiefland zusammengeführt wurden. Fest steht jedoch, daß im dritten nachchristlichen Jahrhundert die Kenntnis der Schrift über das gesamte Gebiet der klassischen Mayakultur verbreitet ist, und daß uns die Schrift plötzlich als voll entwickeltes logosyllabisches System begegnet. In die gleiche Zeit fällt auch der Beginn der eigentlichen klassischen Zeit der Mayakultur. Die uns erhaltenen Schriftdokumente entstammen fast ausnahmslos einem höfischen Kontext. Stelen, Altäre und Gebäudeinschriften hatten die Aufgabe, die Biographien und politischen Programme der Herrscher festzuhalten und in einen religiösen Kontext zu stellen (Schele & Freidel 1991). Innerhalb der sechs Jahrhunderte der klassischen Zeit verändert sich die Schrift kontinuierlich (Grube 1990). Obgleich schon die ältesten frühklassischen Texte rein syllabische Schreibungen aufweisen, nimmt der Grad der Phonetisierung besonders stark während des Überganges von der Frühklassik zur Spätklassik im 6. Jahrhundert n. Chr. zu. Begriffe, die in der Frühklassik ausschließlich logographisch geschrieben wurden, werden in der Spätklassik nun auch syllabisch geschrieben. Gleichzeitig steigt der Grad der phonetischen Komplementierung, und die Schrift wird um zahlreiche neue Silbenzeichen bereichert. Neben einer immer größer werdenden Flexibilität, die auch der individuellen Kunstfertigkeit der Schreiber immer größeren Raum ließ, sind die Veränderungen der Schrift im sechsten Jahrhundert Anzeichen für eine sich wandelnde linguistische Landschaft, die einhergeht mit bislang noch nicht hinlänglich erforschten Veränderungen in der sozialen und politischen Struktur der Kleinstaaten des Mayagebietes. In der Spätklassik nahm die Anzahl von Silbenzeichen noch weiter zu, ohne jemals allerdings die Logogramme aus der Schrift zu verdrängen und den Schritt zu einer reinen Silbenschrift zu machen. Mit dem Kollaps der politischen Struktur der klassischen Mayakultur endete auch die Verwendung der Schrift als Medium der herrschenden Elite. Die letzte datierte Stele wurde im Jahr 909 n. Chr. errichtet, zu einer Zeit, da die meisten zentraler gelegenen Städte bereits aufgehört hatten, monumentale Architektur

409

und Inschriften hervorzubringen. Aus der Postklassik (900 n. Chr. bis zur spanischen Invasion) kennen wir Hieroglyphentexte mit wenigen Ausnahmen nur noch aus den vier erhaltenen Handschriften, deren Inhalte nun nicht mehr historischer, sondern religiöser und astronomischer Natur sind. Die Schrift der Handschriften ist weitestgehend identisch mit der Schrift der späten Klassik. Entgegen weitverbreiteter Ansicht repräsentieren die Handschrift keine stärkere Phonetisierung als die Texte auf klassischen Steinmonumenten (Grube, 1990). Die weit niedrigere Anzahl von Schriftzeugnissen aus postklassischer Zeit geht auf die veränderten politischen Strukturen der Postklassik zurück, in der nun nicht mehr einzelne Herrscherpersönlichkeiten im Vordergrund standen, sondern Formen kollektiver Herrschaftsausübung erprobt wurden (Schele & Freidel 1991). Mit der Ankunft der Spanier und der Auslöschung, Bekehrung und U merziehung des Adels erlosch die Kenntnis und damit die Verwendung der Mayaschrift im sechzehnten Jahrhundert. Bis auf wenige Ausnahmen scheinen die Spanier an der Mayaschrift nicht interessiert gewesen zu sein. Dieser U mstand hat dazu geführt, daß es keine Bilinguen gibt und die einzige spanische Beschreibung von Mayahieroglyphen auf Mißverständnissen beruht (Coe 1992). Da es den spanischen Eroberern bis zum Ende der Kolonialzeit nicht gelang, das gesamte Mayagebiet zu kontrollieren, konnten sich in den U rwäldern des Südens Maya-Kleinstaaten, in denen die Mayaschrift verwendet wurde, bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts halten. Die Verwendung von Schrift ist durch Erwähnungen in spanischen Berichten belegt; Texte selbst sind uns aber aus dieser Spätzeit nicht bekannt. 5.3. Forschungsgeschichte Mit der archäologischen Wiederentdeckung der Mayakultur begann um 1840 auch die wissenschaftliche Erforschung der Mayaschrift (Coe 1992). Die Entzifferung beschränkte sich zunächst auf die Interpretation des Zahlensystems und des Kalenders. Mit der fotografischen Dokumentation einer großen Anzahl von Monumentaltexten Ende des Jahrhunderts setzte auch ein verstärktes Bemühen um die sprachliche Entzifferung der Mayaschrift ein. Sie war geprägt von Auseinandersetzungen zwischen den Forschern, die in der Mayaschrift ein Sprache kodierendes System sahen, und solchen, die in ihr eine

410

ideographische Schrift erkennen wollten. Das Fehlen linguistischer Daten und die ungenügende linguistische Ausbildung der meisten Befürworter der phonetischen Entzifferung führte zu einer über mehrere Jahrzehnte währenden Stagnation der Entzifferung der Mayaschrift, zu der festen Überzeugung, daß die Mayaschrift ideographischer Natur sei und daß sie hauptsächlich zur Schreibung religiöser und astronomischer Texte gedient habe (Thompson 1950). Der russische Ägyptologe Yurii Knorozov wies 1952 unter Zuhilfenahme einer über die Schrift berichtenden kolonialspanischen Quelle nach, daß die Mayaschrift mit ihren etwa 750 Schriftzeichen nur ein logosyllabisches System sein konnte (Knorozov 1958). Seine Forschungen stießen zunächst auf Ablehnung. Erst Anfang der 80er Jahre ist Knorozovs Forschungsansatz erfolgreich weitergeführt worden und hat zu entscheidenden Durchbrüchen in der sprachlichen Lesung der Mayaschrift geführt (vgl. Stuart 1987; Grube & Stuart, 1987; Houston 1989). Parallel dazu gelang Anfang der 60er Jahre der Nachweis des historischen Charakters der Mayaschrift (Berlin 1958; Proskouriakoff 1960). Seitdem sind die Herrscherdynastien fast aller Kleinstaaten rekonstruiert worden (vgl. Schele & Freidel 1991). 5.4. Struktur der Mayaschrift Mit ihren insgesamt etwa 750 Schriftzeichen ist die Mayaschrift vielen anderen logosyllabischen Schriftsystemen vergleichbar. Grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Arten von Schriftzeichen: Logogramme und Silbenzeichen. Das Verhältnis von Logogrammen zu Silbenzeichen ist etwa gleich. Silbenzeichen haben ohne Ausnahme die Struktur Konsonant — Vokal (CV). Da es in den der Schrift zugrundeliegenden Sprachen 21 Konsonantenphoneme und fünf Vokalphoneme gibt, gibt es nur 105 mögliche CV-Silbenkombinationen. Tatsächlich gibt es aber wohl über dreihundert Silbenzeichen. Dieser Widerspruch ist dadurch zu erklären, daß für fast alle Silben mehr als nur ein Zeichen existiert. Etwa 60% der Silbenzeichen können als bereits entziffert gelten. Logogramme sind Wortzeichen. Sie entsprechen in der Regel genau einem Morphem. Auch innerhalb der Logogramme gibt es Allographe für das gleiche Morphem. Die exakte sprachliche Entzifferung von Logogrammen gelingt in der Regel nur, wenn phonetische Komplemente den Wortlaut andeuten. Logogramme repräsen-

III. Schriftgeschichte

tieren (unflektierte) Substantive, Verben, Adjektive, Adverbien und Zahlklassifikatoren. Neben Silbenzeichen und Logogrammen gibt es nur zwei sicher als nicht mitzulesendes Determinativ interpretierte Zeichen, die sogenannte „Tageszeichencartouche“ und die Dopplungspunkte. Wird ein Zeichen in die Tageszeichencartouche infigiert, verliert es seinen ursprünglichen Silben- oder Wortwert und wird zu einem Logogramm für eines der zwanzig Tageszeichen des mesoamerikanischen Ritualkalenders. Die Anbringung von zwei Dopplungspunkten außen an den U mriß eines Silbenzeichens deutet an, daß der Silbenwert des betreffenden Zeichens zu wiederholen ist. In allen Schrifttexten werden Logogramme und Silbenzeichen miteinander kombiniert (Abb. 28.4). Die gleichen Begriffe, die logographisch geschrieben werden können, können ebenfalls durch eine Kombination von Silbenzeichen geschrieben werden. Die Grundstruktur von Morphemen in den verschrifteten Mayasprachen ist Konsonant-Vokal-Konsonant (CVC). Die meisten Morpheme werden daher syllabisch geschrieben, in dem man zwei CV-Zeichen miteinander kombiniert, wobei der Vokal des zweiten Zeichens ausfällt. Die Wahl des zweiten Zeichens scheint von Vokalharmonie bestimmt zu sein, wenngleich in bestimmten Regionen auch die Vokale /a/ und /i/ als neutrale Vokale galten, die offenbar frei kombinierbar waren. Waren die zu schreibenden Wörter länger, wurden weitere Silbenzeichen angehängt. Silbenzeichen werden ebenfalls zur phonetischen Komplementierung von Logogrammen verwendet und können dem Logogramm vor- oder nachgestellt, in wenigen Fällen auch in dieses infigiert werden. Logogramme haben — mit seltenen Ausnahmen — immer genau ein sprachliches Denotat. Die phonetische Komplementierung diente also nicht der Festlegung eines von mehreren alternativen Denotaten des Logogramms, sondern bestimmte die korrekte Aussprache in einer multilingualen Situation. Ob im Einzelfall einer logographischen Schreibung oder einer silbischen Schreibung der Vorzug gegeben wurde, blieb wahrscheinlich individueller Entscheidung überlassen. Die Grenze zwischen Silbenzeichen und Logogrammen war nicht eng gezogen. Silbenzeichen konnten für gleichlautende Morpheme stehen. U mgekehrt konnten Zeichen, die mehrheitlich als Logogramme verwendet werden, syllabisch verwendet werden. Mei-

28.  Mittelamerikanische Schriften

411

Abb. 28.4: Syllabische und logographische Schreibungen in der Mayaschrift. Die Beispiele witz „Berg“, tzak „beschwören“ und tz’ib „Schrift, schreiben“. Zeichnung des Verfassers

stens handelt es sich dabei um Logogramme mit auslautendem -h oder Glottisverschluß. Logogramme haben ein sprachliches Denotat, können aber auch Synonyme bezeichnen. Das Logogramm für die Zahl „vier“ chan kann sowohl chan „Himmel“ als auch chan „Schlange“ schreiben (Houston 1984). Eine — insgesamt noch nicht bekannte — Anzahl von Zeichen war polyphon und hatte zwei Silbenwerte oder denotierte ein Wort und eine mit dem Wort in keinem erkennbaren Zusammenhang stehende Silbe (Fox & Justeson 1984). Wahrscheinlich gehören alle Tageszeichen zu den polyphonen Zeichen. Zeichen können in verschiedenen Formen auftreten und künstlerisch verändert werden. Viele Schriftzeichen, besonders aber Logogramme sind Bilder konkreter Gegenstände,

im Fall der Logogramme meist der durch sie bezeichneten Objekte. Sowohl bildhafte Zeichen als auch abstrakte Zeichen konnten personifiziert werden, indem man sie in die U mrisse eines Kopfes infigierte. U mgekehrt war es möglich, ein pars pro toto des Zeichens zu schreiben. Die zahlreichen Variationsmöglichkeiten brachten es mit sich, daß das gleiche Wort nicht nur einmal als Logogramm und dann als Silbenzeichen, sondern auch stets mit allomorphen Silbenzeichen oder als Kopfvariante geschrieben werden konnte, so daß in einem Text sich wiederholende Begriffe immer verschieden auftreten können. Silbenzeichen und Logogramme wurden zu Hieroglyphenblöcken zusammengefügt, die meistens einem „Wort“ entsprechen. Hieroglyphenblöcke werden in senkrechten Kolum-

III. Schriftgeschichte

412

nen, in der Regel aber in Doppelkolumnen geschrieben. Innerhalb einer Doppelkolumne werden die Hieroglyphenblöcke von links nach rechts, und dann in der nächstunteren Zeile von links nach rechts gelesen, bis der Leser an das untere Ende der ersten Doppelkolumne gelangt ist und in gleicher Weise, von oben nach unten mit der zweiten Doppelkolumne fortfährt. 5.5. Mayasprachen und ihre Verschriftung Von den 32 heute gesprochenen Mayasprachen sind nur die Cholsprachen (Chontal, Chol, Chorti) und die yukatekischen Sprachen (Mopan, Itzaj, Lakandon und das eigentliche yukatekische Maya) an der Entstehung der Schrift beteiligt gewesen. Das Gebiet, in dem zur Zeit der spanischen Invasion Chol- und yukatekische Sprachen gesprochen wurden, ist identisch mit dem Gebiet der klassischen Mayakultur und mit dem Gebiet, in dem sich Hieroglyphentexte finden. Zu Beginn der klassischen Zeit waren die betreffenden Sprachen noch nicht aufgesplittert. Die Aufsplitterung von Cholan in einen östlichen und einen westlichen Zweig erfolgte wohl im Übergang von früher zu später Klassik und ist verantwortlich für einige, wenn nicht alle der Veränderungen, die die Schrift in dieser Zeit erfuhr (Justeson et al. 1985). Die Cholund yukatekischen Sprachen sind teilergative Sprachen des aspektorientierten Typus und teilen einen weitestgehend identischen Wortschatz. Die Rekonstruktion der Sprachgeographie des Mayagebietes zur klassischen Zeit steckt erst in den Anfängen. Offensichtlich wurde in den südlichen und westlichen Regionen Cholan gesprochen, und in den östlichen und nördlichen Gebieten Yukatekan. Archäologische und linguistische Indizien sprechen dafür, daß die Verschriftung von Cholan später begann als die des Yukatekan. Die Silbenzeichen der Mayaschrift gestatteten ihr die vollständige Wiedergabe der Grammatik, vor allem der komplexen Verbmorphologie. Dennoch ist die Erforschung der Verbmorphologie bis heute ein dringendes Desideratum, obgleich wir Aspekte, transitive und intransitive Formen unterscheiden können (Schele 1982; Bricker 1986). Die Syntax der Hieroglyphentexte entspricht der verbinitialen Syntax gesprochener Mayasprachen. Häufig kommen stative Konstruktionen ohne eigentliches Verb vor. Hilfsverben und Modalverben sind bekannt; sie gehen unflektierten Verben voran und sind mit Präpositionen

an diese gekoppelt. Gut bekannt sind die prävokalischen und präkonsonantischen Varianten der Ergativpronomina, während bislang noch kein Absolutivpronomen sicher nachgewiesen wurde. Inschriften bestehen gewöhnlich aus mehreren Sätzen, die in einen präzisen, durch den Kalender vorgegebenen chronologischen Rahmen plaziert sind. Längere Texte erwähnen Serien von Kalenderdaten. Die verschiedenen Daten gehen den Sätzen voran und markieren deren Beginn. Die Interpretation des chronologischen Gerüstes eines Textes ist Voraussetzung für die Erforschung der Syntax und der häufig durch Ellipsen und fragmentarische Ausdrücke gekennzeichneten Diskursstruktur eines Textes (Lounsbury 1980). 5.6. Inhalte Mayainschriften auf öffentlichen Monumenten berichten fast ausschließlich von biographiebezogenen und historischen Ereignissen, sowie von der Einweihung von Objekten und Bauwerken. Die meisten Ereignisse wurden in einen kosmologischen und religiösen Rahmen eingebettet, die den Herrscher als Zentrum des Kosmos darstellten. Ereignisse wie Kriege, die Einweihung von Gebäuden und Opferzeremonien orientierten sich an wichtigen astronomischen Phänomenen. Die Aufzeichnung biographie- und dynastiebezogener Daten hat es möglich gemacht, die Geschichte aller großen Herrscherdynastien der klassischen Mayakultur von der frühen bis zur späten Klassik und ihre Beziehungen zueinander zu rekonstruieren. Die Inschriften dokumentieren die territorialen Ansprüche der Kleinstaaten, indem sie von der Einsetzung von Beamten in abhängigen Städten und Provinzen berichten. In den letzten Jahren ist es zu einer verstärkten Zusammenarbeit von Archäologen und Schriftforschern gekommen, durch die es möglich wurde, die auf Monumenten festgehaltene offizielle Version der Geschichte archäologisch zu verifizieren. Großangelegte Bauprogramme manifestieren sich in langen Weihinschriften auf Bauwerken. In den Weihinschriften wird nicht nur von der Fertigstellung und zermoniellen „Belebung“ von Bauwerken, sondern auch von ihrer Namengebung berichtet, da in der Vorstellung der Maya Bauwerke ebenso wie andere kostbare Objekte und Schmuckstücke beseelt waren. Sowohl auf Steinmonumenten wie auch auf Keramiken haben Künstler ihre Signaturen hinterlassen, eine Tatsache, die es

28.  Mittelamerikanische Schriften

uns heute ermöglicht, die soziale Dimension des Schreibens zu erforschen. Religiöse Texte kommen sowohl in der klassischen Zeit wie in der Postklassik vor. Die religiösen Texte der Postklassik sind uns in den Handschriften erhalten. Sie sind zum großen Teil augurischer Natur und verbinden Prophezeiungen mit verschiedenen Kalenderzyklen. Die besterhaltene Handschrift, der Dresdner Mayacodex enthält verschiedene astronomische Kapitel über die Venus und zur Vorhersage der Knotenpunkte, an denen Finsternisse stattfinden konnten (→ Abb. 28.5 auf Tafel X). Hieroglyphentexte auf Keramiken sind häufig narrativ und begleiten gemalte Szenen, die sowohl religiöser, in vielen Fällen aber auch weltlicher Art sind. Auf Keramiken finden sich deshalb Sprechtexte, in denen grammatische Formen wie etwa der Imperativ, oder Pronomina, wie etwa die erste Pers. Singular vorkommen, die sich auf anderen Medien nicht finden. Neben den genannten Inhalten muß es auch Tributlisten, Familiengeschichten, Anweisungen für Rituale und medizinische Bücher gegeben haben. Texte dieser Art waren wahrscheinlich in Büchern geschrieben, von denen sich bis auf die vier zuvor erwähnten keines erhalten hat. 5.7. Soziale Aspekte der Verwendung der Mayaschrift Im Gegensatz zu den Schriften des alten Orients ist die Mayaschrift nicht aus einer ökonomischen Notwendigkeit entstanden, sondern als Instrument zur religiösen Sanktionierung von Herrschaft. Ihr Anwendungsbereich hat sich in der Klassik auf alle Bereiche des höfischen, politischen und religiösen Lebens ausgeweitet. Literalität war nach gegenwärtigen Kenntnissen auf den — allerdings sehr zahlreichen — Adel beschränkt und Bestandteil der Ausbildung junger Fürsten. Schreiber waren häufig nahe Familienangehörige des Herrschers. Dennoch konnten wohl auch Angehörige sozial niedriger Gruppen Informationen aus den Inschriften entnehmen. Dies mag einer der Gründe dafür gewesen sein, daß die Schrift stets ihren ausgeprägt ikonischen Charakter bewahrte und nie den Schritt zu einer reinen Silbenschrift machte. Ein anderer Grund für die „Konservativität“ des Systems war der heilige Charakter der Schrift, der eine besondere Kunstfertigkeit verlangte. Mit der Veränderung der sozialen Struktur der Mayagesellschaft in der

413

Postklassik verlor die Schrift ihren höfischen Charakter und wurde nicht mehr auf öffentlichen Monumenten verwendet. Die spanische Missionierung zerstörte die religiösen Grundlagen für die Schriftverwendung. Im Rahmen zeitgenössischer indianischer Revitalisierung erfährt die Mayaschrift unter Maya-Intellektuellen Guatemalas eine gewisse, von Hieroglyphenforschern unterstützte Renaissance und wird als Zierschrift in modernen mayasprachigen Medien eingesetzt.

6.

Die aztekische Hieroglyphenschrift

Obgleich die Schrift, die in vorspanischer Zeit im Hochtal von Mexiko entstand, von Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen und politischer Einheiten verwendet wurde, ist sie doch unter der Bezeichnung „Aztekische Schrift“ bekannt. Die aztekische Schrift ist heute gut erforscht, vor allem deshalb, weil es zahlreiche aztekische Dokumente aus der frühen Kolonialzeit gibt, die mit lateinschriftlichen Übersetzungen und Glossen versehen sind (Dibble 1971; Prem 1992). Aztekische Schriftdokumente sind uns vor allem aus der frühen Kolonialzeit in Form von Handschriften erhalten, die zum Teil als Abschriften voraztekischer Quellen entstanden. Neben Tributlisten, in denen die Namen der tributpflichtigen Ortschaften hieroglyphisch geschrieben sind, begegnet uns aztekische Schrift in religiös-ritualistischen Handschriften und schließlich in vorspanischer Zeit auch auf Steinmonumenten. In der Kolonialzeit wurde die aztekische Schrift auch zur Schreibung spanischer Wörter und Namen verwendet. Der relativ begrenzte Anwendungsbereich der aztekischen Schrift reflektiert die offensichtlichen Begrenzungen des Systems, das komplexe Sachverhalte und abstrakte Ideen nicht auszudrücken vermochte. So blieb die aztekische Schrift vor allem auf die Schilderung historischer Abläufe, religiöser Zeremonien und die Schreibung von Personennamen, Toponymen und Ethnonymen beschränkt. Die aztekische Schrift kannte zwei unterschiedliche und unabhängig voneinander existierende Subsysteme: narrative Piktographie (Prem 1992, 53) und die eigentliche Hieroglyphenschrift. Während die Zeichen der Hieroglyphenschrift Elemente aus dem Sprachcode denotieren und so eine Aussage in zwei Codes notieren, läßt die narrative Piktographie den Sprachcode aus und denotiert die Aussage

414

direkt, in dem sie das Gemeinte mit Hilfe eines stark konventionalisierten graphischen Codes abbildet. Narrative Piktographie kann also von jedem „gelesen“ werden, der den graphischen Code und die metaphorischen und symbolischen Beziehungen zwischen Zeichen und Denotat verstand. Der Vorteil dieses Systems ist, daß es die Kenntnis des Nahuatl, der aztekischen Sprache, nicht notwendig voraussetzt. In dem multilingualen U mfeld, in dem die aztekische Schrift verwendet wurde, war die Sprachunabhängigkeit ein wesentlicher Vorteil der narrativen Piktographie. In dieser Form des Schreibens wurde nicht der Sprachcode abgebildet, sondern der Inhalt einer Aussage. Es versteht sich von selbst, daß eine detailgetreue Abbildung der Aussage nicht in Frage kam. Aus Gründen der Schreibökonomie, aber auch um die Identifikation bestimmter Objekte oder Eigenschaften zu erleichtern, bediente man sich eines weitgehend standardisierten graphischen Codes, in dem die darzustellenden Objekte auf ihre wesentlichen U mrisse oder sogar auf ein pars pro toto reduziert wurden. Darüber hinaus standardisierte man die Darstellung von Objekten, um individuelle Variationen zu vermeiden. So entwickelten sich einfache und unzweideutige Zeichen für die am meisten wiederholten Objekte. Es ist ganz offensichtlich, daß die narrative Piktographie große Defekte hat und abstrakte Ideen und Zusammenhänge nur in sehr engem Rahmen darstellen kann. Darüber hinaus ist sie nicht in der Lage, Namen von Personen und Orten exakt wiederzugeben. Aus diesem Grund verwendete man immer dann, wenn die korrekte Wiedergabe von Elementen des Sprachcodes notwendig war, die Hieroglyphenschrift. Die Hieroglyphenschrift war kein einheitliches System. Sie kombinierte ideographische Schreibungen mit phonetischen Schreibungen. In ideographischen Schreibungen wird wiederum der Sprachcode ausgeschaltet und der Aussageinhalt unmittelbar bildlich verschlüsselt. In dieser Hinsicht sind ideographische Schreibungen nicht von narrativer Piktographie zu unterscheiden. In ideographischen Schreibungen ist jedoch der Grad an Ambiguität weitaus geringer als in narrativer Piktographie. Ein Zeichen wird idealerweise vom Leser im gleichen Wortlaut interpretiert wie vom Schreiber. Wenn ein Zeichen eindeutig einem Wort zugeordnet werden kann, handelt es sich um ein Logogramm. Logogramme zeigen in der Regel einen größeren Grad an graphischer Standardisierung

III. Schriftgeschichte

als andere Zeichen. Zu den am häufigsten verwendeten Logogrammen gehören die kalendarischen Zeichen, die die Namen der zwanzig Tage des mesoamerikanischen Ritualkalenders bezeichnen, oder etwa das Zeichen xiuhmolpilli für das Jahr zu 365 Tagen. In der Regel war aber eine solche ein-eindeutige Zuordnung von Zeichen zu sprachlichem Denotat nicht gegeben, entweder weil das Zeichen unterschiedlich interpretiert werden konnte, oder weil es Synonyme für das Bezeichnete gab. Ein weiteres Problem ergab sich bei der — relativ seltenen — Schreibung von Verben. Sie konnten am besten geschrieben werden, indem man den Menschen oder das Tier bei der Verrichtung der gemeinten Handlung zeichnete. Nun konnte aber das so geschriebene Zeichen auch für das Objekt selber stehen. Ein anderes Problem stellt sich bei der Schreibung von Begriffen, die nicht als Objekt abgebildet werden können wie etwa Eigenschaften oder Adjektive. Man half sich, indem man ein Objekt zeichnete, daß diese Eigenschaft in besonderem Maße hatte oder verkörperte. Auch hier ergab sich aber wieder das Problem daß das so entstandene Zeichen auch für das Objekt selbst stehen konnte. Die zahlreichen Ambiguitäten der ideographischen Schreibungen wurden durch ergänzende phonetische Schreibungen reduziert. Als phonetische Schreibungen werden alle Schreibungen bezeichnet, bei der der Sprachcode zwischen Denotat und Zeichen geschaltet wird. Phonetische Zeichen bezeichneten ihr Denotat in der aztekischen Schrift entweder durch Konvention oder durch Homonymie. Vollständige Homonyme sind sehr selten im Nahuatl. So konnte man sich auch approximativer Homonymie bedienen: der Kopf eines Adlers cuauhtli konnte für „Baum“ cuahuitl stehen. Rein phonetische Schreibungen, bei denen ein Wort mit Hilfe zweier Zeichen geschrieben wird, die keine Beziehung zur Bedeutung des Wortes haben, sind in der aztekischen Schrift extrem selten und scheinen überhaupt erst nach der spanischen Eroberung aufzutreten. Häufig wurden phonetische Schreibungen zur phonetischen Komplementierung von Logogrammen oder Ideogrammen angewendet. Die phonetisch verwendeten Zeichen reduplizieren den gesamten oder auch nur einen Teil des ideographisch oder logographisch geschriebenen Wortes. Auch grammatische Suffixe wie etwa bestimmte Ortssuffixe konnten unter Anwendung des phonetischen Prinzips geschrieben werden. Ein Beispiel dafür ist das Suffix -tlan,

28.  Mittelamerikanische Schriften

das mittels einer Zeichnung zweier Zähne ( tlantli ) geschrieben wird. Neben der ideographischen und phonetischen Verwendung von Zeichen konnten Zeichen auch als Determinative, die nicht mitgelesen wurden, sondern lediglich zusätzliche Information vermitteln, verwendet werden. Zu den wesentlichen Aufgaben von Determinativen gehört die Identifizierung der Kategorie einer Hieroglyphe als Toponym oder Personenname. Toponyme werden oft durch die Zeichnung eines Berges markiert; eroberte Ortschaften sind an einem brennenden Tempel zu erkennen. Der geringe Grad der Phonetisierung der aztekischen Schrift, die Tatsache, daß es keinen fest umrissenen Zeichenkanon gab, daß die Leserichtung nicht immer eindeutig war und daß Zeichen von verschiedenen Lesern unterschiedlich interpretiert werden konnten machten die aztekische Schrift zu einem defekten und wenig eindeutigen Schriftsystem. Seine Vorteile, nämlich seine Flexibilität und — für einen Sprecher des Nahuatl — relativ einfache Erlernbarkeit konnten die offensichtlichen Nachteile gegenüber der von spanischen Mönchen eingeführten lateinischen Schrift nicht aufwiegen. Dennoch existierten für viele Jahrzehnte beide Systeme nebeneinander.

7.

Literatur

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415

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Nikolai Grube, Bonn (Deutschland)

III. Schriftgeschichte

416

29. Decipherment 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

1.

Decipherment of writing and interpretation of languages Methods of decipherment Decipherment of ancient writing systems Attempts to decipher the scripts of pre-Columbian America Other deciphering attempts Scripts not yet deciphered References

Decipherment of writing and interpretation of languages

Among writing systems presented in this section on the history of writing, several were no longer used or studied for various reasons and were forgotten. The meaning of their graphical signs was not rediscovered until after a long period of time. And in many instances languages which were fixed in these writing systems also became extinct. In the following short survey of decipherment, attention will be devoted solely to the rediscovery of the writings; reconstruction of extinct languages is taken into consideration only as far as it is relevant for the study of writing systems. This distinction between decipherment and interpretation of language was already known, as Maurice Pope points out, to the author of the biblical Book of Daniel (5, 8). The quasi-graphical systems in which pictures and symbolic signs convey a message without respect to a specific language will not be dealt with here. The indication of numbers by certain quantities of dots and strokes and modern systems of traffic signs serve as examples of such systems.

2.

Methods of decipherment

2.1.  Various categories of texts no longer understandable were classified as follows by I. J. Gelb: (1) the writing is unknown and the language is known; (2) the writing is known and the language unknown; (3) both language and writing are unknown. The second category concerns the interpretation of the language. Etruscan can be cited as an example; it is written in the ancient Greek alphabet with only few variations, but the structure of the language in which 8,000 texts have been preserved has not yet been sufficiently established. The texts of the third

category can be understood only after significant links to a known writing system or a known language are discovered. In most successful decipherments a connection to a language — often a distant one — was established, and thus the procedure shifted to the first category. 2.2.  If writing is characterized as the graphical expression of units of a language, then these units have first to be determined. This task was difficult for writings in which more than one category of units was indicated by graphical units — graphemes. Such inconsistencies, however, have been helpful in some decipherments. In some old writing systems words were expressed by graphical signs indicating real objects or actions or at least suggesting them. Such signs could be understood without knowing the sounds of words, and thus transferred with the writing system to be used in texts in another language; the sign indicated the meaning, not the sound. The actual pronunciation of word signs — logograms — could also be used to indicate the same sounds without respect to the original meaning. This phonetization led to development of basically syllabic systems with different types of syllables. U sing C for “consonant” and V for “vowel”, these syllable types can be indicated as CV, VC, CVC, V, and even CVCV has been verified. Such a predominantly syllabic system is represented in the cuneiform script of Sumerian origin which was then adopted for other, non-related languages. Such a mixed system is different from exclusively syllabic systems, in which only syllables of the CV type are represented; the V signs have to be interpreted as ∅V, zero consonant + vowel. Another development of word scripts led to the introduction of phonetic signs indicating consonants and their groupings, with no vowels. This system was appropriate for ancient Egyptian script, since consonants were sufficient to indicate the meaning of words. In alphabetic writing systems one graphical sign, letter, indicates one sound unit, phoneme. For most Semitic alphabets the consonant letters suffice, as the structure of words is based on consonants. 2.3.  The character of writing determines the number of graphemes. In systems with quan-

29.  Decipherment

titative prevalence of logograms, hundreds of graphemes have been attested. A consistent syllabic script needs less than one hundred signs; and alphabetic systems manage with thirty or even less letters. These quantitative considerations are decisive for the aproach to the decipherment. The existence of scripts using various language units as grapheme bases can make the correct determination of grapheme values difficult, especially if — as is often the case with cuneiform scripts — a grapheme can have more than one value. 2.4.  Deciphering attempts have only been successful if the corpus of written material was large enough. Considerable help in decipherment or in confirmation of its correctness has been provided by texts in one language and two scripts (bi-scripts), and texts of identical content in two languages (bi-linguals). Even texts in more than two languages are known. Names which were known from other ancient texts or from copies of texts passed down from antiquity have also aided deciphering attempts significantly. Especially the names of rulers, which were sometimes emphasized by graphical arrangements, have proven useful. 2.5.  Some methodical approaches which have proven successful can be mentioned. But it is necessary to point out that in some instances rational methods led to dead ends while intuition or application of less strict methods opened the way to correct decipherments. Some methods used in decipherment of forgotten writing systems are similar to those with which decipherers try to disclose the meaning of a message intentionally made secret by some means of cryptography. Experienced cryptographers have participated in effective decipherments of ancient scripts. The selection and application of methods also depends on the graphical arrangement of texts. If signs follow each other directly, the task is more difficult than the analysis of texts in which units, mostly words, are separated by spaces or some dividing signs. The repetition of sign combinations may provide considerable help; they may point to important words, and if they appear at the end or the beginning of word units separated by graphical means, they may express grammatical patterns, afformatives or prefixes. In some stages of decipherment the relative frequency of signs can lead to comparison of the phonological system to that of a language

417

already known. For study of large amounts of data computers have recently come into use. They are helpful in providing reliable information about the frequency of signs and their combinations. In the attempts to reconstruct phonological features of a language represented by an unknown script, graphical characters indicating the word category or similar information deserve special treatment. Because of their relative frequency these determinatives can help in ascertaining semantic meanings of words. Some similarities in graphical forms or in tentatively determined sign values can lead to establishing significant relationships between them. For syllabic signs their arrangement in grids can provide considerable help in determining their phonological character. 2.6.  The role of chance is not to be underestimated as concerns both the methods of decipherment and the access to the texts to be deciphered. After successful or partial decipherment based on texts in the unknown script, bilinguals can sometimes be found which can serve to verify or refute the results. Also alphabet tablets, comparisons of two scripts and vocabularies containing words in two or more languages can serve this purpose. An access of competent decipherers to the newly found texts i s dependent on the publication of excavation results or the willingness of responsible archaeologists to allow the prospective decipherer to study the new finds. A prompt publication of new texts can lead to their prompt decipherment; concealment of important finds can delay decipherment for decades.

3.

Decipherment of ancient writing systems

3.1.  It would be interesting to trace the growing interest in ancient scripts during the Renaissance, through the first successful decipherment attempts in the 18th century, to the period of great descoveries — the 19th century — and to decipherments of the 20th century. Here the inventory of scripts and languages preserved by transmission in writing and reading since antiquity is worth mentioning, since this knowledge was instrumental for the successful decipherments. The Jewish community cultivated Hebrew as well as Western and Eastern Aramaic, the Syriac

III. Schriftgeschichte

418

churches their Eastern Aramaic language, the Coptic church the last stage of Ancient Egyptian, the Ethiopic church their local Southern Semitic language. All these languages were written in alphabetic scripts. The Greek language and alphabet were well-known. In presenting some decipherments, a selective approach is required due to the space restraint. Those scripts whose decipherment opened access to cultures previously known only from late and not always reliable reports deserve more attention. Therefore, the ancient Egyptian scripts and the cuneiform writings of Mesopotamia and adjacent areas will be dealt with primarily. Two diametrically opposed deciphering methods will be demonstrated in Sec. 3.7. on the basis of two ancient scripts from the Eastern Mediterranean: the U garitic alphabet and Cretan Linear B syllabary. 3.2.  The first successful decipherment was presented in 1754 by Jean-Jacques Barthélemy (1716—1795). With help of the Syriac alphabet and Greek words in bi-lingual inscriptions he established the alphabet used in the oasis of Palmyra in the Syrian Desert for the local Aramaic dialect. A few years later Barthélemy succeeded in reading the Phoenician inscriptions, the script and language of which is similar to Hebrew. 3.3. Ancient Egyptian scripts Determination of the nature of the Egyptian hieroglyphic script was hampered by its pictorial appearance: it was assumed that — similar to Chinese script — each sign indicated one word. A stone inscribed in 196 B. C. in Egyptian hieroglyphs and Demotic script and in Greek was found in Rosetta in the Nile Delta by a French army officier in 1799. Jean-François Champollion (1790—1832), who studied Coptic and collected reproductions of Egyptian inscriptions, compared the Greek Rosetta text with the Egyptian version. He identified names of Egyptian kings also known from Greek sources. He was also able to identify the correct nature of the Egyptian scripts: Word signs and signs indicating consonants and their combinations were supplemented by determinatives indicating the semantic categories of some words. Champollion was then able to translate hieroglyphic inscriptions, hieratic papyri and also the epic poem on the victory of Ramses II at Kadesh.

3.4. Cuneiform writing While the Egyptian script in its three graphical variants was used for one language only, the cuneiform writing served various, mutually unrelated languages. The cuneiform word signs developed from pictorial signs. Sumerians in Lower Mesopotamia also used these cuneiform signs for sound units, mostly syllables. This system was adopted for East Semitic languages, Old Akkadian and then Babylonian and Assyrian. It was also used for Elamite, Hurrian and U rartaean, and Indo-European Hittite. For Indo-European Old Persian the system was considerably simplified (→ art. 18). The decipherment began with this Old Persian cuneiform script. Georg Friedrich Grotefend (1775—1853), high-school teacher in Göttingen, succeeded — with help of historical data from Herodotus — in identifying names and titles of Persian kings in the first version of trilingual royal inscriptions. In 1802 he did not yet have access to other ancient Persian texts, which Henry Rawlinson later used (1810—1895) to complete the decipherment of this system of 39 graphemes for consonants and syllables. Trilingual royal Persian inscriptions of Persepolis and other sites also provided clues to the decipherment of the Babylonian cuneiform script. Comparison of names of kings in Old Persian and the other yet to be defined version written in signs corresponding to those on inscriptions found in Mesopotamia led to discovery of syllabic values of some signs. Further progress was impeded by the polyvalence of some syllabic signs and by use of some signs for words, i. e., logograms. Eventually the Semitic character of the language was recognized and related languages, Hebrew and Arabic, were effectively used to determine word meanings. The results of these decipherments were confirmed in 1857, when in London four leading decipherers translated a recently discovered text in the same way. Many thousands of Babylonian and Assyrian cuneiform documents and records as well as long literary works could be interpreted. This opened access to texts in other languages written in basically syllabic cuneiform writing. The use of logograms (word signs) both to express words within the texts and as determinatives indicating character of words has proven helpful in interpreting these languages. Here, only some aspects relevant from

29.  Decipherment

the viewpoint of writing characteristics will be mentioned. U nderstanding texts in the Sumerian language originating mostly from the 3rd and 2nd millenia B. C. was difficult because of the preconceived notion that the religious texts which were later copied were cryptographic. It took several decades to establish the structures of the Sumerian language since it was not related to any known language. The word signs adopted from it by writing systems in other languages facilitated decipherment considerably. It was also possible to determine logographic and phonetic values of pictorial signs from which the cuneiform signs developed. The clue to the interpretation of Hittite was also provided by a logogram. In 1915 Czech scholar Bedřich Hrozný (1879—1952) found that the sign for “bread” appears parallel to the sequence wa-a-tar-ma, which reminded him of some Indo-European words for “water”; he related the word following the sign for “bread”, e-iz-za-te-ni, to IndoEuropean verbs for “eating”. An Indo-European language was prevalent in the middle of the second millenium B. C. in central Anatolia. 3.5. Hittite “hieroglyphs” After the Hittite Empire was destroyed in the 12th century B. C., small Hittite states survived for several centuries in southeast Anatolia and adjacent areas of Syria. A writing system with rather pictorial signs, already used in the final period of the Hittite Empire, survived as well. This Hittite hieroglyphic writing — so called for its similarity to the oldest Egyptian script — was already known at the end of the 19th century. Even though names written both in Hittite cuneiform script and in the hieroglyphic signs were known, as well as the Hittite language itself, attempts to decipher the hieroglyphs using various deciphering methods were only partially fruitful. Most successful was Ignace J. Gelb (1907— 1985). The complete decipherment was based on parallel texts from the 8th century B. C., in Hittite hieroglyphs and the Phoenician alphabet, found in 1947 in the ruins of the ancient fortress on the hill Karatepe, northeast of Adana in Turkey. It was published by Helmuth Bossert (1889—1961). 3.6. Cypriote syllabary Since the middle of the 19th century scholars have been attracted to inscriptions from the

419

middle of the first millenium B. C. found on the island of Cyprus. Again, the parallel Phoenician text provided the clue. George Smith (1840—1876) of the British Museum determined the syllabic character and Greek language of these inscriptions. Moriz Schmidt (1823—1888), a classical scholar in Jena, found in 1874 that only syllables of types CV and V were used. This system of approx. 30 signs does not express Greek sounds as precisely as the Greek alphabet. 3.7. Deciphering of the Ugaritic alphabet and of Cretan Linear B Two relatively recent, well-documented decipherments are presented here together to illustrate both similarities and significantly different methods applied. The U garitic cuneiform alphabet and Cretan Linear script B were used on opposite sides of the eastern Mediterranean, before their respective civilizations were destroyed by upheavals at the end of Bronze Age around 1200 B. C. Both these writings were then completely forgotten. First clay tablets with Cretan Linear B signs were excavated at Knossos by Arthur Evans (1851—1941) on 5 April 1900. The first clay tablet with cuneiform simple was found at Ras Shamra in northern Syria on the Mediterranean shore between the city of Lattaquié and Mount Ǧebel elAqra‛, at the excavation conducted by Claude F.-A. Schaeffer (1898—1982), on 14 May 1929. The background of these two scripts was quite different. The Cretan Linear B represented the final stage of development; a pictographic script was used in Crete during the first half of the second millenium B. C. and later the Linear script A which, because of the similarity of graphical shapes of some signs, can be considered a direct predecessor of Linear B. The U garitic cuneiform alphabet is a systematic new creation: only the simplest combinations of wedges appearing as elements in the syllabic cuneiform writing were introduced. In the three last letters of the alphabet, allegedly added by Eisirios, more complicated or even imitative forms were used. Substantial differences in acquiring access to the epigraphic finds affected the procedures of these two decipherments. Schaeffer’s principle was to make the texts found at Ras Shamra accessible without delay; in 1929, the same year as they were excavated, all 51 texts were published by Charles Virolleaud (1879— 1968). Evans already published a few Linear

420

B texts in 1900, and 120 more in 1909, but the bulk of his finds appeared only after his death, in 1952. Three acknowledged scholars worked simultaneously on the decipherment of Ras Shamra texts; they supplemented and in some instances corrected each others’ work. Hans Bauer (1878—1937) in Halle und Paul (Édouard) Dhorme (1881—1966) in Jerusalem agreed with Virolleaud about the alphabetic character of the newly found script with about 30 cuneiform signs. They considered the language to be related to Phoenician and Hebrew. Some texts from 1929 are still relatively difficult to understand, as they were badly preserved. The one-letter word on the first line of a text was rightly interpreted by Virolleaud as l- “to”. Other West Semitic words containing this letter were then sought by decipherers. The rather intuitive approach of Dhorme brought, in some respects, better results than the more methodical procedures of Bauer, who tried to determine grammatical markers. Since it was found that the number of consonants was higher than 22, as in the Hebrew alphabet, data from a conservative West Semitic language — Classical Arabic — was used to identify the values of interdentals and postvelars as well as meanings of words. Similarly, the unconventional features of the 30-letter U garitic alphabet, namely, three syllabic signs at the end, i /’i/, u /’u/ and  /su/, and the limitation of the first letter to a /’a/, were explained with reference to related Semitic languages. The relevant results which were achieved in three years enabled Virolleaud to provide reliable translations of poetic texts found since 1930. Also the ancient name of the city ugrt, according to the syllabic records pronounced as /’ugarīt-/, could be determined (→ art. 20). While the decipherment of the U garitic alphabet was supported from the very beginning by related languages, it was not clear which language was represented by the Linear B texts. Evans himself in 1935, and American classical scholar and linguist Alice Kober (1906—1950) in 1943—1950 recognized some patterns of inflection. She also found some relationships between syllabic signs expressing the same consonant and different vowels. This approach was effectively applied by Michael Ventris (1922—1956), an English architect with experience in cryptograhy. In 1951 and 1952 Ventris put together syllabic grids in which CV signs were presented in vertical

III. Schriftgeschichte

sequence according to their consonants and in horizontal lines according to their vowels. The separation of words by vertical lines made it possible to put together the syllable values obtained by the combinatoric method. One of the results was ko-no-so, the place name “Knossos”. Simple words could also be determined, such as ko-wo and ko-wa, for “boy” and “girl”, respectively, as was already suggested by A. E. Cowley in 1927. These words correspond to the Greek koros and kora; cf. the original Arcadian form korra. Recognition of Greek words was difficult. It still is in the case of exclusive use of CV signs; final consonants of the closed syllables and some other word elements are not indicated. Close cooperation between Ventris and classical philologist John Chadwick brought identification of additional Greek words. Confirmation of a decipherment can be reached in principle by two means: First, if texts in this deciphered writing system make sense and second, if newly acquired evidence can be interpreted according to the results of the decipherment. A great number of U garitic poetic texts and their similarities with Hebrew biblical poetry provided this kind of verification. Of methodical interest are some examples of the second kind of confirmation. In 1932 Bedřich Hrozný recognized names of Hurrian gods and grammatical features in a Hurrian text written in U garitic cuneiform letters. Tablets with 30 signs in alphabetical order very similar to that of the Hebrew alphabet have been found at Ras Shamra since 1938. One of them found in 1955 has U garitic letters accompanied by syllabic cuneiform signs containing the same consonants. Verification of the decipherment of Cretan Linear B script was not so clear-cut. The available texts are all only random records; no connected or even literary texts are known. Confirmation was provided, however, by a tablet excavated by C. W. Biegen at Pylos on the Peloponnesus in 1952. Two tripods depicted in the list are characterized as ti-ri-pode, corresponding to the dual form tripode in Classical Greek. The contribution of these two decipherments cannot be overestimated. That of the U garitic cuneiform alphabet provided access to great epic poems in an ancient Canaanite language; this decipherment contribute to better understanding of the forms and style of Hebrew Biblical poetry. The understanding of Linear B texts extends the knowledge of

29.  Decipherment

the Greek language many centuries back. Greeks were already living on Crete in the Bronze Age. 3.8. Decipherments of other ancient scripts Other decipherments of ancient scripts from the countries around the Mediterranean can be presented only briefly, with few data. The Meroitic alphabet of 23 letters used south of Egypt in the first centuries of the Christian era is attested in two graphical versions, corresponding to Egyptian hieroglyphic and Demotic scripts. Its system apparently follows the Greek model. It was deciphered at the beginning of the 20th century by the British Egyptologist Francis Griffith. U sing Old Persian and Babylonian versions of trilingual inscriptions of kings of Persia, it was possible to interpret the third version, written in Elamite, a language unrelated to any known language. The Proto-Elamite script used in Susa (now in southern Iran) in the second half of the second millenium B. C. was deciphered by Walther Hinz in 1961; it is a syllabic script with some logograms. The alphabetic scripts used in southern Arabia in the Pre-Islamic times could be understood with help of the Ethiopic alphabet, which developed from this ancient script. They were deciphered by Emil Rödiger in 1837 and by Wilhelm Gesenius in 1841. Phoenician alphabet probably served as model for alphabetic writing systems used mostly in the 2nd century B. C. in the western Mediterranean. Libyan or Numidian, written in North Africa in an ancient Berber dialect, was deciphered with help of Punic and Latin parallel texts. Iberian and Turdetanian (in the city of Tartessus) alphabets were used in Hispania. Due to uncertain interpretation of their language the deciphering attempts are not yet considered fully reliable. Adaptations of the Greek alphabet for Indo-European languages related to Greek, which were spoken in Anatolia in the first millennium B. C. — Phrygian, Lydian, Lycian, Pamphylian (at Side) — were determined on the basis of their relationships to Greek, and with help of bilingual inscriptions with Greek and Aramaic versions. 3.9. Ancient cryptic scripts While in the modern times cryptic devices are used mostly for military and similar secrets (→ art. 145), in the antiquity cryptic scripts

421

were used for astronomical and religious texts. Among the scrolls discovered in 1950s in the Qumran caves at the Dead Sea (→ Fig. 36.1 on table V), where they were deposited before 68 A. D., are several exhibiting cryptic scripts. In Hebrew texts some Greek letters were used, together with archaic Hebrew letters. Some secret instructions were indicated in Greek letters in the Copper Scroll (3Q15), containing locations of hidden treasures. Specific cryptic alphabets were used in some Hebrew texts; some cryptic letters are similar to archaic Hebrew letters. A fragmentary astronomical text on phases of the moon (4Q317) was deciphered and partially published by Józef Tadeusz Milik in 1976. Michael Wise deciphered and published in 1992 a religious text, “Admonitions to the Sons of Dawn” (4Q298). 3.10. Scripts of Central and Southern Asia Alphabetic scripts of Central and Southern Asia developed from the Aramaic models. Some of them were forgotten and had to be deciphered by modern scholars. The Danish scholar Wilhelm Thomsen (1842—1927) deciphered the script used by Turks in Mongolia and Siberia before they adopted Islam. The oldest stages of the Indian alphabetic scripts such as Brahmi were deciphered by British scholars, James Prinsep (1799—1840) and others. C. O. Blagden deciphered the alphabet used by the Mon people in Burma/Myanmar in the first half of the 2nd millennium A. D.

4.

Attempts to decipher the scripts of pre-Columbian America

4.1.  The fact that some of these languages are still in use facilitates these attempts, but the functions of graphical signs are difficult to determine (→ art. 28). 4.2.  The least developed of these American systems was that used by the Incas in Peru. Signs, often geometrized, on textiles and wood probably indicated concepts; they could have possibly also been used for names. Most signs depict objects; their combinations can convey a message without reference to any language. It seems that pictorial signs and their combinations were also used to express divine, personal and geographical names, and calendar terms. It is not clear, however,

III. Schriftgeschichte

422

whether use of originally pictorial signs was introduced to indicate language sounds. 4.3.  Writings of Central America were more developed, such as Aztec script, which was used in central Mexico, and Maya script in Eastern Mexico and even farther east. The Maya language is still spoken as is Nahuatl, which developed from the Aztec language. Both these writing systems are well-preserved in handwritten codices; in the Maya area, signs on stone buildings and stelae were also found. Pictorial Aztec signs were probably used to write names; this system is considered either less developed or even deteriorated compared to the system taken over from Maya. Maya writing is preserved in written documents from about 300 A. D. until the 16th century. Spanish bishop Diego de Landa recorded consonantal values in some Maya signs about 1556. Mayan “hieroglyphs” were used primarily to indicate words and names. Some signs served as semantic determinants. Some signs and their variants were gradually applied as grammatical affixes and phonetic complements. Eventually some originally logographic signs were introduced to indicate syllables. This development is analogical to that of ancient Mesopotamian cuneiform script. Also some similar methods were used for the deciphering of these in their developing analogical writing systems. First reliable results in decipherment of Central American scripts were reached only in the second half of the 20th century. Important attempts were presented by Russian scholars, beginning with Yu. V. Knorozov in 1952. Mayan texts were analyzed in Novosibirsk with help of computers. Recent results were contributed by North American scholars, who applied methods of modern linguistics (→ art. 28).

5.

Other deciphering attempts

Some decipherments of writing systems are not — or perhaps not yet — commonly accepted. Some of these devoted to “Old World” scripts may be briefly mentioned. According to the number of signs, even writing systems not yet deciphered can be categorized as alphabetic, syllabic or logograhic. The script of Proto-Sinaitic inscriptions from the middle of the second millennium

B. C. is alphabetic. In 1948 William F. Albright referred to their language as ProtoCanaanean (→ art. 20). Similarly, in 1965 Henri Cazelles characterized tablets from the late Bronze Age from Deir ‛Alla in the Jordan Valley as Canaanite. The syllabic system of the Cypro-Minoan texts from the late Bronze Age was used for an ancient, non-Indo-European language, according to Émilie Masson. The number of signs points to the syllabic character of late Bronze Age “hieroglyphs” from Byblos, published by Maurice Dunand. The decipherment by Édouard Dhorme, who referred to the language as Old Phoenician, is no longer accepted. A new decipherment was presented by George Mendenhall in 1985; he points to the relationships of the language of these “hieroglyphic” inscriptions to both West Semitic and Arabic (→ art. 20). The syllabic script of the Manchurian tribe of Khitan, used around 1000 A. D., was studied with help of computers by Russian scholars.

6.

Scripts not yet deciphered

Some scripts which have withstood all attempts at decipherment deserve mention: Cretan hieroglyphic and Linear A texts are written in an unknown language. The same is true for another text from Bronze Age Crete, the Discus of Phaistos, with pictorial signs stamped in spiralic sequence, perhaps the most frequent subject of scholarly and amateur deciphering efforts. It is not clear whether the signs on the tablets found at Tărtăria in Romania and several other Neolithic sites on the Balkan Peninsula are part of a writing system (→ art. 17). The unknown language prevents complete decipherment of all signs of the Carian script, derived mostly from the Greek alphabet and preserved in inscriptions from western Anatolia and Egypt. Much effort has been devoted to the pictorial script from the third millennium B. C. preserved on seals and inscriptions in the Indus Valley. If this Proto-Indian writing expresses names or even words of a language, it would most be probably of Proto-Dravidian character (→ art. 24). Quite isolated are the inscriptions carved with shark teeth on wood tablets on the Easter island in the Pacific Ocean, about 4000 km west of Chile. It seems that the pictorial

29.  Decipherment

signs served as ritual symbols or memory aids in reading rituals or mythological narratives by the local speakers of a Polynesian language.

7.

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Stanislav Segert, Los Angeles, California (USA)

424

IV. Schriftkulturen Literate Cultures

30. Oral and Literate Cultures 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

1.

Introduction The oral-literate dichotomy Literacy and orality as means, not cause Literacy and orality not unitary Literacy and orality not separate Literacy and orality not sequential Literacy, orality, and inequality References

Introduction

In the thirty years since Go o dy & Watt (1963) argued fo r significant co nsequences o f literacy, seeking to stem a gro wing tide against the traditio nal distinctio n between no n-literate and literate so cieties, a burgeo ning multidisciplinary research literature o n o ral and literate co mmunicatio n in actual co ntexts has accumulated with such a breadth and depth o f evidence to the co ntrary that it has indeed o verwhelmed the o ral-literate dicho to my. Anthro po lo gists, histo rians, psycho lo gists, and so cio linguists, amo ng o thers, have pro vided evidence that literacy neither stands in a dicho to mo us relatio nship to o rality no r carries with it necessary co nsequences. Specifically, this research do cuments that speaking and writing are means o f co mmunicatio n that co nditio n, but do no t determine, what is do ne with them; that neither literacy no r o rality are unitary and co nstant acro ss cultures; that o rality and literacy, far fro m being o ppo sites, are intimately intertwined in bo th use and character; and that there is no unifo rm, sequential path whereby a mo ve fro m o rality to literacy necessarily signifies individual o r so cietal develo pment o r pro gress. To realize the significance o f these findings, we must first intro duce the o ral-literate dicho ot my they refute.

2.

The oral-literate dichotomy

Go o dy & Watt argued that, tho ugh so cial scientists co uld no lo nger in the 1960s accept

ethno centric views dicho ot mizing primitive o ver against civilized (o r ratio nal) humankind, nevertheless, to deny the validity o f the distinctio n between no n-literate and literate so cieties was to o verlo o k significant histo rical and functio nal co nsequences o f literacy (1963 [1968, 28]). They went o n to use the example o f the rise o f alphabetic culture in Greek civilizatio n to sho w that alphabetic reading and writing led no t o nly to new (“lo gico empirical” 1963 [1968, 43]) mo des o f tho ught, but also to the develo pment o f po litical demo cracy, the breakdo wn o f the literate/no nliterate so cial stratificatio n typical o f pro to literate cultures, greater individualizatio n o f perso nal experience, and a mo re highly differentiated cultural traditio n than that transmitted in no n-literate so cieties (1963 [1968, 55—63]). Go o dy & Watt were no t alo ne in suggesting significant co nsequences o f literacy and thereby, so mewhat parado xically, putting o rality “o n the map” (Havelo ck 1991, 12). Havelo ck suggests that McLuhan’s Gutenberg Galaxy (1962), Lévi-Strauss’ The Savage Mind (1962), and his o wn Preface to Plato (Havelo ck 1963) co incided with Go o dy & Watt in marking the release o f “a flo o d o f intellectual activity devo ted to [...] the o ralliterate equation” (Havelock 1991, 12). A number o f scho lars have explo red o rality and literacy via a dicho to mized view which attaches clear benefits to the literate end o f the equatio n. Ong (1982) devo tes a bo o k to explo ring the differences between o ral and literate tho ught and expressio n, and the emergence o f the latter fro m the fo rmer. Havelo ck himself, while champio ning the “o ralist inheritance” as a “necessary supplement to o ur abstract literate co nscio usness,” nevertheless characterizes the fo rmer as “limited” in “its fo rms o f expressio n and co gnitio n — rhythmic, narrativized, actio n o riented” (1991, 26). Olso n asso ciates the develo pment o f widespread literacy with the Pro testant Refo rma-

30.  Oral and Literate Cultures

tio n and the rise o f mo dern science, and attributes ot literacy psycho ol gical oc nsequences which he clearly co nsiders to be advantageo us, namely: the develo pment o f explicit, auto no mo us pro se; the ability to distinguish data fro m interpretatio n; and the gro wth o f metalanguage (e. g. Olso n 1977; 1991 a; 1991 b; see also Halverso n 1991 fo r a critique of Olson). These and o ther scho lars’ claims fo r the benefits o f literacy are summarized by Graff as “the literacy myth” (1986, 62). “Writings abo ut the imputed ‘co nsequences,’ ‘implicatio ns,’ o r ‘co nco mitants‘ o f literacy have assigned to literacy’s acquisitio n a truly daunting number o f co gnitive, affective, behavio ral, and attitudinal effects, ranging fro m empathy, inno vativeness, achievement o rientatio n, ‘c o sm o op litanism’, inf o rmati o n acquisiti o n and media awareness, natio nal identificatio n, techno ol gical acceptance, ratio nality, co mmitment to demo cracy o r to o ppo rtunism, linearity o f tho ught and behavio r o r urban residence! [...] On o ther levels, literacy ‘thresho lds’ are seen as requirements fo r eco no mic develo pment, ‘mo dernizatio n,’ po litical develo pment and stability, fertility co ntrol, and so on and on” (Graff 1986, 65). Graff’s o wn explo ratio n o f literacy in specific histo rical co ntexts has yielded evidence co ntrary to the literacy myth, as has research by o thers acro ss a range o f histo rical and cultural co ntexts. It is this research that we will no w turn to in o ur explo ratio n o f o ral and literate cultures.

3.

Literacy and orality as means, not cause

Altho ugh anthro po ol gy, histo ry, and psycho lo gy have played so me part in the study o f o rality and literacy in co ntext, the greatest ro le has perhaps been taken by so cio linguistics and the ethno graphy o f co mmunicatio n, which had their beginnings at abo ut the same time as the afo rementio ned arguments fo r significant co nsequences o f literacy (see fo r example Fishman 1968; Hymes 1964). Heath (1984, 54) suggests that so cio linguistics’ majo r co ntributio n to literacy research o ver the last few decades has been the “attempt to place texts within their co ntexts and to examine these acro ss so cial gro ups, situatio n and institutio ns”. Indeed, an interest in co ntext as an impo rtant facto r in all aspects o f language use is a central feature o f the ethno graphy o f co mmunicatio n. In pro po sing

425

that the speech [o r co mmunicative] act sho uld replace the linguistic co de as the fo cus o f attentio n in the study o f languages, Hymes (1964, 3) argued that “[the ethno graphy o f co mmunicatio n] must take as co ntext a co mmunity, investigating its co mmunicative habits as a who le, so that any given use o f channel and co de takes its place as but part o f the reso urces upo n which the members o f the co mmunity draw”. Amo ng the channels o f co mmunicatio n to be included in such an appro ach Hymes explicitly mentio ned no t o nly speaking and writing, but also printing, drumming, whistling, singing, and so o n (1964, 13). Murray (1988) co nvincingly adds electro nic mail to the reperto ire o f co mmunicative channels. Numero us researchers to o k up the call fo r such an appro ach, pursuing ethno graphies o f speaking (e. g. Bauman & Sherzer 1974) and o f writing. (e. g. Dubin 1989; Heath 1983; Szwed 1981), and yielding rich evidence o f the impo ssibility o f generalizing validly abo ut ‘o ral’ vs. ‘literate’ cultures (Hymes 1980, 28). Such studies demo nstrate that co mmunities and cultures may, and do , emplo y the same means, i. e. speaking and writing, to diverse ends and that it is the purpo se o f the language act, and no t the mo dality (spo ken o r written) that determines the bias o f language to ward being “explicit o r vague, lo gical o r illo gical, adequately o r inadequately info rmative, lucid o r o paque,” and so o n (Halverso n 1991, 628, 630). The impo rtant questio ns are no t whether a co mmunity, culture, o r so ciety is o ral o r literate, but rather what the reperto ire o f o ral and literate means and the relatio nships amo ng them are in any particular co mmunity, culture, o r so ciety. Again and again as a result o f these studies and in a call fo r mo re o f the same, scho lars reiterate that the co gnitive [and o ther] co nsequences o f literacy are still elusive and pro bably mo re culturespecific and co mmunity-specific than usually suppo sed (Halverso n 1991, 639); that is, that the co nsequences o f literacy canno t be presumed, but must be researched by fo cusing o n the diversity o f literacy events and practices in specific and diverse cultural, histo rical, and ideo lo gical co ntexts (Graff 1986, 65, 68; Street 1991 b, 1, 10; 1992).

4.

Literacy and orality not unitary

A series o f seminal studies have established that literacy can by no means be co nsidered a unitary phenomenon across cultures:

426

— Psycho lo gists Scribner & Co le (1981) set o ut to investigate the co gnitive co nsequences o f literacy amo ng the Vai o f Liberia, and in the pro cess do cumented the co existence o f three different types o f literacy, each asso ciated with different languages, institutio ns, and so cial activities. They fo und that different literacies implied different co gnitive co nsequences: neither the syllabic Vai script which was used fo r perso nal and co mmercial reco rds, no r the Arabic alphabetic literacy which was used fo r Qur’anic study were asso ciated with higher o rder intellectual skills, while English literacy, used fo r go vernmental and educational purposes, was. — Heath (1983) underto o k the study o f literacy in co ntext within an ethno graphy o f co mmunicatio n framewo rk and fo und striking differences in ho w children were so cialized into such literacy-related practices as sto rytelling and questio n-answer sequences in three co mmunities o f the rural American So uth — a white middle-class to wn and white and black w o rking-class oc mmunities, respectively. In particular, attitudes to ward the relatio n o f literacy to ‘truth,’ perfo rmance and participatio n in sto ry-telling, and the ro le o f kno wn-answer questio ns differ acro ss these communities. — Anthro po lo gist Street (1984) identified a number o f literacies in use in vario us rural villages o f No rth East Iran, amo ng them the ‘maktab’ literacy learnt in the Islamic scho o l and a ‘co mmercial’ literacy lo cally adapted fro m maktab literacy, as well as the rural and urban state scho o l literacies. On the basis o f the differences amo ng these literacies and their relative no n-interchangeability, Street rejected what he labeled the ‘auto no mo us mo del’ o f literacy, which assumes that literacy is a unitary, neutral and auto no mo us variable which exists everywhere in the same fo rm and who se acquisitio n carries the same co nsequences; and argued fo r the ‘ideo lo gical mo del’ o f literacy, which assumes instead that literacy practices are always embedded in cultural patterns, so cial institutio ns, and, especially, power structures. — Delgado -Gaitan (1990) analyzes children’s so cializatio n into literacy and scho o ling in Mexican families o f Califo rnia, describing parental aspiratio ns, o ral literacy activities, and text-interactio n activities that give evidence o f stro ng suppo rt fo r literacy in these ho mes, despite po pular misco nceptio ns and research which blame mino rity children’s scho o l failure on the home culture.

IV. Schriftkulturen

— Wagner (1987), Street (1993), and Wagner & Puchner (1992) have pro vided edited co llectio ns further do cumenting the great diversity o f literacy attitudes and practices acro ss cultures. Wagner’s vo lume fo cuses mainly o n internatio nal co mpariso ns, amo ng them “medieval England: Malagasy as lo cal adaptatio ns o f co lo nial literacy (Street); the Vai o f Liberia: Brazilian peasants, similar in eco no mic level, different in valuatio n o f literacy (Carraher); Brazilian peasants: Brazilian middle-class expectatio ns fo r literacy (Carraher); co ntrasting mo ther mediatio ns o f sto rybo o k reading (Teale and Sulzby); indigeno us and immigrant families in relatio n to a co mmo n metho d o f teaching reading in Israel (Feitelso n); the effect o f differing mo dels o f functio nal literacy in Kent, in New Zealand, and in Papua New Guinea (Do wning)” (Hymes in Wagner 1987: xiii). Papers in the Wagner & Puchner vo lume explo re internatio nal co ntinuities and co ntrasts aro und literacy po licy, wo men and literacy, literacy and multilingualism, literacy and develo pment, and health and literacy. Street’s vo lume includes bo th inter- and intra-natio nal cultural variatio n. Fo r example, Ro ckhill (1987) describes ho w everyday ho useho ld literacy practices o f Hispanic wo men in Lo s Angeles remain invisible while mo re public kinds o f literacy are seen as bo th threatening and desireable; Weinstein-Shr (1993) co mpares the different uses o f literacy o f two Hmo ng refugees in Philadelphia: a yo ung man who se literacy enables him to act as bro ker between his fello w refugees and the ho st so ciety; and an o lder man who adapts his literacy to serve him in traditional Hmong roles of authority. Similarly, three decades o f research in so cio linguistics and the ethno graphy o f speaking have yielded insights into variatio n in o ral language use at every level fro m the pho netic to the pragmatic. At the pho netic level, so cio linguistic research sho wed that “o ne and the same pro nunciatio n o f ‘bird’ [båid] might be stigmatized in New Yo rk City, admired in Charlesto n” (Hymes 1992: 3; cf. Labo v 1966 o n the so cial stratificatio n o f English in New Yo rk City). At the pragmatic level, gro undbreaking vo lumes such as Bauman & Sherzer 1974 and Cazden, Jo hn & Hymes 1972 described differences in ways o f speaking acro ss co mmunities and classro o ms, respectively. Baumann 1983 o n speaking and silence amo ng 17th century Quakers; Philips 1983 o n o ral co mmunicatio n in classro o ms and co mmunity o n the Warm Springs Indian Reser-

30.  Oral and Literate Cultures

vatio n; Sherzer 1983 o n Kuna ways o f speaking; Bo ggs, Watso n-Gegeo & McMillen 1985 o n speaking, relating, and learning amo ng Hawaiian children at ho me and at scho o l; Ochs 1988 o n language acquisitio n and language so cializatio n in a Samo an village; Basso 1990 o n Western Apache language and culture; and Go o dwin 1990 o n talk as so cial o rganizatio n amo ng Black children in Philadelphia are examples o f bo o k length studies do cumenting the diversity o f o ral co mmunication across communities and cultures.

4.

Literacy and orality not separate

Tho ugh the abo ve studies have been catego rized as studies o f literacy o r o rality, in truth mo st o f them stray, whether intentio nally o r inadvertently, fro m o ne territo ry into the o ther. Virtually all the literacy studies necessarily inco rpo rate aspects o f o ral language use since, as Go o dy & Watt themselves no ted, writing is an “additio n, no t an alternative to o ral transmissio n” (1963 [1968, 68]). Similarly, o f the last several ethno graphies o f speaking mentio ned, Bo ggs, Watso n-Gegeo & McMillen, Ochs, and Philips all explicitly treat the relatio nships between children’s o ral language so cializatio n at ho me and their literacy learning in school. Orality and literacy, far fro m being o ppo site, are intimately interwined in bo th use and character. As to use, research has sho wn that literacy use is always embedded in o ral language use, that children’s (and adults’) literacy develo pment is stro ngly influenced by o ral so cial interactio n, and that literacy and o rality are in a relatio nship o f recipro cal interactio n such that co mmunicative functio ns assigned to o ne may be taken o ver by the o ther and vice versa. As to character, research has sho wn that characteristics co mmo nly ascribed to one or the other are shared by both. Heath (1982) demo nstrated ho w a familiar literacy event in mainstream US culture, the bedtime sto ry, is embedded in o ral language use. Street argued that “literacy practices are always embedded in o ral uses, and the variatio ns between cultures are generally variatio ns in the mix o f o ral/literate channels” (1988, 5). Heath’s (1983) study o f the functio ns and uses o f literacy in the three So uthern rural co mmunities clearly revealed no t o nly that speech and literacy were interrelated in each gro up, but that differences amo ng the gro ups were no t so much alo ng the lines o f o ral versus literate cultures as alo ng the lines

427

o f which literacies mo st clo sely resembled those of the school. Others, to o , have pro vided evidences o f the ways in which o ral language use scaffo lds and supp o rts literacy acquisiti o n, specifically “scho o led literacy” acquisitio n (Co o k-Gumperz 1986, 22): Au & Jo rdan (1981) repo rted that inco rpo rating co -narratio n — characteristic o f a native Hawaiian speech event, the talk sto ry — into reading lesso ns co ntributed to children’s learning at the KEEP (Kamehameha Early Educatio n Pro gram) scho o l in Hawaii; in the American so uthwest, Mo ll & Diaz (1985) fo und that use o f o ral Spanish in an English reading lesso n co uld impro ve fo urth-grade bilingual students’ English reading; Hiebert & Fisher (1991), citing these examples and o thers, po sit that tho ughtful design o f task and talk structures is crucial fo r pro viding equitable learning o ppo rtunities in classro o ms with children fro m diverse cultures, and suggest that such an appro ach is co nsistent with a Vygo tskyan framewo rk that po sits the impo rtant ro le o f so cial interactio n in children’s literacy develo pment (Vygo tsky 1962). Literacy and o rality are intertwined no t o nly at the level o f individual learning, but also at the level o f so cietal practice. Heath no tes that so cio linguists have accumulated co nsiderable evidence that “disco urse features, o ral language uses and ways o f viewing language in specific speech co mmunities ha[ve] co nsiderable effect o n the receptio n o f literacy” there (1984, 47). Street 1993 demo nstrates this, citing his co ntributo rs’ descriptio ns o f peo ple “tak[ing] ho ld o f’ (Street 1991 b, 6) literacy and co mbining it with their o ral culture in a variety o f ways. Kulick & Stro ud, he says, demo nstrate ho w, in a Papua New Guinea village, co nventio ns emplo yed in o ral disco urse carry o ver into written fo rms; specifically, the co nventio ns o f hed (avoidance o f appearing pushy) and save (emphasis o n o penness to kno wledge and sensitivity to o thers’ interests); and Blo ch presents a case, in a Zafimaniry village in Eastern Madagascar, where literacy and scho o ling serve to reinfo rce existing patterns o f o ral co mmunicatio n; while Besnier do cuments a case, o n Nukulaelae ato ll in the So uth Pacific, where literacy actually expands the co mmunicative reperto ire by allo wing the o vert expressio n o f affect in writing which is no t allo wed in o ral co mmunicatio n. Alternatively, Street co ntinues, in urban America, Camitta describes ado lescent vernacular writing which appears to

428

share features with o ral co mmunicatio n (features such as face-to -face co mmunicatio n and impro visatio n); while Shuman, in a study o f sto rytelling rights amo ng ado lescents, presents a reversal o f the usual co mmunicative no rms fo r o ral and written language, whereby writing is used fo r face-to -face interactio n and o ral language fo r absent-autho r co mmunication. Evidence fro m studies o f literacy in co ntext, then, sho w that literacy and o rality can be put to similar uses, i. e. that diverse means can be used to the same ends. Similarly, explo ratio ns into the character o f literacy and o rality suggest that diverse means can share similar characteristics, depending o n the use to which they are put. No t all scho lars agree o n this po int. Olso n argues that as literacy assumes functio ns fo rmerly served by o ral fo rms, it alters the fo rms and in the pro cess, new, literate attitudes to self, kno wledge, and so ciety evo lve (Olso n & To rrance 1991, 1). He suggests that the rise o f widespread literacy in Euro pe co ntributed to the Refo rmatio n and to the rise o f mo dern science by permitting the differentiatio n o f text fro m interpretatio n. “In speech, [...] fo rm and meaning are perceived as indisso lubly linked by speakers. Literacy is intrumental in pulling them apart by freezing the fo rm into a text” (Olso n 1991 a, 153). He argues that while o ral statements must be po etized to be remembered and in the pro cess lo se so me o f their explicitness, written statements bypass the limitatio ns o f memo ry and can, with a highly explicit writing system such as the alphabet, beco me relatively auto no mo us expressio ns o f meaning. (Written) texts and (o ral) utterances, in his view, differ alo ng lines o f meaning, truth, and functio n: while utterances appeal fo r their meaning to shared experiences and interpretatio ns, texts appeal to premises and rules o f lo gic; while truth in utterance has to do with wisdo m, truth in text has to do with co rrespo ndence between statements and implicatio ns; and while in o ral speech the interperso nal functio n is primary, in text it is the ideatio nal o r lo gical functio n which is primary (Olson 1977). Others take issue with the characteristics and attitudes attributed to literacy (e. g. permanence, systematicity, explicitness, auto no my), po inting o ut that they can co exist just as well with o ral language use. Baso (1990, 99—137) demo nstrates the permanence o f mo ral teachings bo und up with places and the o ral narratives abo ut them, w i t h o u t

IV. Schriftkulturen

writing, in Western Apache culture; a series o f essays in Swann (1992) demo nstrate, amo ng o ther things, the systematicity o f Native American o ral literatures. Halverso n suggests that b o t h o ral and written language can be explicit o r o paque, citing as examples Ho meric o ral verse as explicit and Heidegger’s written pro se as o paque; and that fo rm and meaning are as easily perceived as auto no mo us in o ral as in written language, as evidenced, fo r example, by the co mmo n expressio n, “I didn’t mean that the way it so unded” in ordinary conversation (1991, 624—631).

6.

Literacy and orality not sequential

The uses and nature o f literacy and o rality are no t, then, as easily separable as the o ralliterate dicho to my wo uld suggest. Even mo re significant to o ur understanding o f the ro le o f literacy in o ur wo rld are findings that challenge the unilinear mo del o f individual and so cietal develo pment via the acquisitio n o f literacy. The o ral-literate dicho to my carried implicit within it a view o f literacy as engine o f so cial and psycho lo gical change (a view still held by so me, see Olso n & To rrance 1991, 7 o n co ntinuity theo ry vs. great divide theo ry). Ho wever, the wo rk o f so cial histo rians and anthro po lo gists is increasingly calling into questio n the co rrelatio n between literacy and individual and so cietal develo pment, with co nsensus emerging that the ro le o f literacy as a facto r in individual and so cietal change is highly dependent o n o ther facto rs (Heath 1984, 51). Halverso n refutes Olso n’s suggestio n that the rise o f widespread literacy and any co nco mitant co nceptual changes led to the Refo rmatio n and thence to the rise o f mo dern science, no ting that it was mo re likely the inventio n o f the printing press, and the rejectio n o f institutio nal autho rity that Pro testantism engendered, rather than literacy per se, that spurred these so cial mo vements o n (1991, 622, 634). Indeed, Olso n himself ackno wledges the ro le o f the printing press, as do cumented by histo rian Eisenstein (1979), but maintains his o wn co nceptual-change view, as against what he terms her instrumental view (Olson 1991 a). Kaestle (1991) suggests that recent study o f the histo ry o f literacy has been shaped aro und fo ur interpretive issues, which he frames as questio ns and to which he o ffers tentative answers based o n research to date. In essence, his answers co mplicate any easy

30.  Oral and Literate Cultures

co rrelatio ns between literacy and pro gress, between literacy and o ther so cial changes, and between literacy and scho o ling, as well as thro wing into questio n the assumptio n that o nce literacy is intro duced in a so ciety, it will auto matically expand. He no tes that while there are stages in the evo lutio n o f writing systems and in the diffusio n o f literacy to different gro ups in so ciety, no t all so cieties mo ve thro ugh all stages, and the stages are po tentially reversible and no t mutually exclusive, but gradual and o verlapping (1991, 6—7). Fo r this fact o f so cietal literacy develo pment, as well as fo r the pro cesses o f individual literacy develo pment, mentio ned abo ve (cf. 5.), the no tio n o f co ntinuum captures mo re aptly than dicho to my the relatio nship between o rality and literacy (Heath 1984, 54; Hornberger 1989, 278—279, 282). Graff (1986) in fact pro po ses that we need to reco nceptualize the histo ry o f literacy, mo ving fro m a co nceptual framewo rk centered aro und change to o ne emphasizing co ntinuities and co ntradictio ns. His o wn research do cuments histo rical examples that refute the change framewo rk and its implicit linking o f literacy with pro gress: 18th century Sweden, where a transitio n to mass literacy had no thing to do with urbanizatio n, co mmercializatio n, and industrializatio n, and everything to do with the co nservative piety o f the state church; and 19th century Canada, where analysis o f pro cesses o f scho o ling and literacy acquisitio n fo r different ethnic and o ccupatio nal gro ups in the cities reveals that greater literacy did no t co rrelate with increased equality and demo cracy no r with better co nditio ns fo r the wo rking class, but rather with co ntinuing so cial stratificatio n. His new co nceptual framewo rk is premised o n co ntinuities and co ntradictio ns recurringly fo und acro ss the histo ry o f literacy in different cultures and so cieties. Co ntinuities include no t o nly the co ntributio ns o f o ral co mmunicatio ns and traditio ns in receiving, co nditio ning, and shaping writing, as implied by the no tio n o f o ral-literate co ntinuum mentio ned abo ve; but also legacies aro und the use o f elementary scho o ling fo r mo ral co nduct, respect fo r so cial o rder, and participant citizenship; and the enduring po wer o f literacy’s uses fo r state and administratio n, theo lo gy and faith, trade and co mmerce (Graff 1986, 72—74); while co ntradictio ns include tho se between “the pro mo ted uses o f literacy and [its] so cial purpo ses [...]; the functio nal and no n-functio nal uses o f literacy; the self-activating po tentials [...]

429

and the realities [...]; the so cial theo ries and experiential realities; the liberating po tentials and the integrating, ho mo genizing, co ntro lling uses” (1986, 76).

7.

Literacy, orality, and inequality

It is in these last-mentio ned co ntradictio ns that the inequalities o f literacy reside. “The center o f attentio n is shifting, in much current wo rk, to the o ften igno red language and literacy skills o f no n-mainstream peo ple and to the ways in which mainstream, scho o l-based literacy o ften serves to perpetuate so cial inequality while claiming, via the literacy myth, to mitigate it” (Gee 1991, 268). Literacy is bo th liberato r and weapo n o f o ppressio n; and has been reco gnized as such as far back as Plato , who “wants the autho r to stand as a vo ice behind the text no t just to engage in respo nsive dialo gue [with the reader], but to enfo rce cano nical interpretations” (Gee 1991, 271). Hymes (1992) describes inequality in language in terms o f the dialectic between actual and po tential ability. Whereas linguists kno w and take fo r granted that all languages and all literacies are po tentially equal, they also tend to take fo r granted that po tential equality means actual equality, when in fact that is no t so . Just as “it is a fallacy to equate the reso urces o f a language to the reso urces o f (all) users” (Hymes 1992, 10), so to o literacy fo r all, when co mmand o f literacy remains cruelly stratified, o ffers no real advantage o ver no literacy. If, as scho lars like Besnier (1993), Ferdman (1990), Ro ckhill (1987), and Street (1993) suggest, literacy practices are co nstitutive o f identity, but the o nly literacy identity available to yo u is o ne which challenges o r denies yo ur cultural identity and at the same time po sitio ns yo u as marginalized, then what have yo u gained by beco ming literate? Yet, if it is true that literacy practices po sitio n us, it is also true that they may be sites o f nego tiatio n and transfo rmatio n (Street 1991 a, 3). Literacy, tho ugh no t a causal facto r in individual and so cietal develo pment, can be an enabling o ne. Indigeno us literature pro ductio n and learner-centered publicatio ns are o n the rise aro und the wo rld. Scho o ling with a cro ss-cultural literacy appro ach is in evidence (Saravia-Sho re & Arvizu 1992). Where literacy po licy and pro grams begin to catch up with the insights (reviewed abo ve) that researchers and practitio ners are wit-

430

IV. Schriftkulturen

nessing daily, where institutio ns and gro ups that use literacy allo w peo ple to take ho ld o f literacy and o rality fo r their o wn purpo ses, where multiple literacies and o ralities are seen as a reso urce and no t a pro blem, then it may be po ssible fo r equality, amo ng languages a n d literacies, to emerge fro m po tentiality to actuality.

8.

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Nancy H. Hornberger, Philadelphia, Pennsylvania (USA)

432

31. 1. 2. 3. 4. 5.

1.

IV. Schriftkulturen

On the Threshold to Literacy Forerunners of writing Numbers Conditions and constraints Expansion and disappearance of thresholds of literacy References

Forerunners of writing

1.1. Preliterate graphs Many early so cieties emplo y graphic devices, either as a linguistic o r as abstract fo rms. Mo st o f these devices have a linguistic co mpo nent, in that language enters in to their creatio n and their interpretatio n; they have meaning to the initiato r and the recipient. We do no t see a picture o f a ho use witho ut muttering o r at least thinking the wo rd ‘ho use’. That is true in a different way o f mo st abstract signs, such as po inters to indicate directio n; these are symbo lic in a further sense since they stand at a farther remo ve fro m what is signified. On the o ther hand such grahic fo rms may also be purely deco rative, especially when they co me in rhythmic sequence like the chevro n o rnaments o n Ro manesque buildings. Markings o n individual pebbles are mo re likely to carry specific meanings than repeated themes (patterns). Other types o f mark were certainly used fo r so me mnemo nic purpo ses as in the case o f Ojibway birchbark scro lls where they reminded the recito r o f narrative o r similar sequences o f the chants rather than transcribing particular linguistic utterances (Dewdney 1975). The clo ser such signs are to bearing a precise linguistic meaning, the mo re they can be co nsidered fo rerunners o f writing and can be read in bro adly the same way by anyo ne kno wing the language and the script. 1.2. Pictograms In early so ciety such signs were o ften picto rial in fo rm, as in No rth America, where we find no t o nly single picto grams but mo re co mplex sequences o f picto graphs capable o f co nveying warnings, indicating directio ns and pro viding so me fo rm o f time measurement, as in the case o f the well-kno wn Dako ta calendar on a buffalo robe (Mallery 1893). 1.3. The recent invention of scripts No rth America is unusual in its develo pment o f picto graphs. So me o f their uses were un-

do ubtedly stimulated by the advent o f Euro peans with established systems o f writing. In the early nineteenth century the Chero kee Indians invented a syllabic script as an answer ot the Euro pean co mmunicatio n systems aro und them and so o n had higher rates o f literacy than the neighbo uring immigrants. Sho rtly afterwards a similar type o f script was created by Bukele fo r the Vai language in Liberia. In these cases a single individual was mainly respo nsible fo r the inventio n which was accepted by the peo ple as a result o f a public demo nstratio n that linguistic messages co uld be sent at a distance (→ art. 58). In o ther wo rds it was the letter-writing ability o f the script that was attractive to tho se living in an oral society. 1.4. The development of earlier scripts In o ther parts o f the wo rld such earlier picto graphs are rarely fo und in the areas where writing began; they co nstitute no necessary preliminary. Writing systems o ften appeared suddenly rather than by a pro cess o f lo ng evo lutio n. Ho wever in Meso po tamia and mo re widely in the Near East we also find fro m c. 6000 B. C. a series o f marked and shaped clay to kens (o r hand-made pebbles) which were later used in trading transactio ns, to act as bills o f lading indicating the co ntents o f particular transacti o ns (Schmandt-Besserat 1981; → art. 16). This task invo lved primarily the representatio n o f quantity, which can exist, as in a tally, witho ut any reference to qualities, to the nature o f the go o ds transacted. To indicate the co ntents invo lved ano ther series o f signs which can be seen as the fo rerunners o f the full writing system that develo ped aro und 3100. The chro no lo gy and the details are a matter o f discussio n, but much early writing in Meso po tamia did give pride o f place to the reco rding o f transactio ns and to the creatio n o f administrative lists (indeed lists o f all kinds). Much teaching also to o k the similar fo rm o f making lists o f o bjects, especially natural o nes. So stro ng was this tendency that Landsberger (1937) speaks of Listenwissenschaft.

2.

Numbers

2.1. Early uses: numerical systems A develo pment o f this kind wo uld lead to the prio r use o f a numerical system (which is o ften distinct fro m scripts themselves, ado pt-

31.  On the Threshold to Literacy

ing as with Arabic o r Ro man numerals, a lo go graphic, no n-pho netic fo rm) and to signs fo r transacted o r reco rded o bjects. Writing has the capacity to iso late parts o f speech, elements o f the sentence, in this way. Tho ugh it is a po int o f argument, it may be that the much later graphic system o f the Maya o f Central America co nstituted such a fo rm o f pro to -writing (Marcus 1976); it was certainly greatly co ncerned with numerals, principally fo r calendrical purpo ses. The Inca o f So uth America develo ped a mnemo nic system using co lo ur-co ded kno ts (quipu) as a kind o f tally, but essentially of r reco rding transactio ns. Bo th these co mplex so cieties, the o ne based o n the intensive pro ductio n o f maize, the o ther o f the po tato e, were o n the thresho ld o f literacy. Nevertheless in o ther centres such as Egypt and China the reco rd indicates a sudden breakthro ugh to a full lo go graphic system altho ugh o f co urse the uses to which this new means o f co mmunicatio n were put expanded o ver time. In China the earliest that have been fo und relate to divinatio n but as in o ther areas that fo cus may be a functio n o f the materials used fo r this particular purpose. 2.2. Mathematics in Mesopotamia In Meso po tamia the uses o f early writing are particularly easy to fo llo w since the marker material was clay and the market a reed with a triangular sectio n, giving rise to a script kno wn as cuneifo rm. The baked clay was virtually indestructable and the impressio ns difficult to erase. Even scho o l exercises have been preserved. One particularly interesting sequence brings o ut the way that literacy enabled Meso po tamia, already much interested in the use o f writing fo r co mmercial transactio ns, to develo p the science o f mathematics o ver time. Oral so cieties po ssess metho ds fo r additio n and subtractio n but have o nly very simple devices fo r multiplicatio n and divisio n, pro cesses that emerge very early when numbers and their pro ducts are allo cated graphic equivalents, giving rise to mathematic tables. Geo metrical calculatio ns, required fo r transactio ns in valuable farming land such as fields under irrigatio n, is again made po ssible by the co mbinatio n o f visual representatio n o f space and number. Fro m these vantage po ints, mo re co mplex mathematical o peratio ns can be develo ped and pro gress in this directio n is very clear fro m the tablets under discussio n (Nissen, Damero w & Englund 1990).

433

2.3. Cognitive operations The example o f mathematics indicates the pro fo undly stimulating effect that the develo pment o f writing can have o n human cultures, and o n the co gnitive o peratio ns o f their members. The arithmetic table is a co gnitive to o l with which o ne can increase o ne’s understanding o f this wo rld and participate in its activities. It is like that o ther graphic to o l, a map, which helps us to understand the wider physical enviro nment and to find the way to Mecca, Jerusalem o r Nagasaki. On a verbal level, early literacy enco uraged a mo re precise no tio n o f catego ries, since lists o f trees had to have a beginning and an end, at which po int there co uld be a shift to , say, bushes. As with o ther fo rms o f ‘measurement’, such precisio n is no t a no table feature o f co mmunicatio n in o ral so cieties. That is equally true o f no tio ns o f co ntradictio n (later develo ped by Aristo tle) and o f o rtho do xy, that is, o f the co rrect, ‘autho rized’ versio n o f a narrative o r a law. In o ral so cieties ideas o f this kind exist in embryo but co ntradictio n is much easier to perceive when o ne is dealing with written statements. Such precisio n has its disadvantages. The kind o f paradigmatic reaso ning fo rmulated by the Greeks was perhaps o ne such case, giving rise to subtle distinctio ns fo r their o wn sake. Nevertheless, fo r better o r fo r wo rse, it was writing that permitted such changes to o ccur. Of co urse, any particular feature did no t necessarily fo llo w the inventio n o r ado ptio n o f writing (with the po ssible exceptio n o f better perfo rmance o f tasks invo lving verbatim memo ry, see Scribner & Co le 1981), but the creatio n o f graphic fo rms to represent language is a preco nditio n fo r their develo pment in the histo ry o f human cultures.

3.

Conditions and constraints

3.1. The preconditions for writing What are the so cial preco nditio ns fo r the develo pment o f systems o f writing? Co mplete writing systems came abo ut fo llo wing what has been called the seco nd Agricultural Revo lutio n, that is, in Meso po tamia and Egypt abo ut 3000 B. C. These so cieties po ssessed irrigated, plo ugh agriculture that suppo rted an urban po pulatio n engaged in a variety o f specialist tasks, in particular metal wo rk and the pro ductio n o f clo th. They were the first ‘civilisatio ns’ in the literal sense o f that wo rd, with elabo rate co urt and temple o rganisatio ns

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invo lved in the keeping o f reco rds, in particular o f the inflo w and o utflo w o f perso nnel, wealth, fo o dstuffs and messages. Altho ugh it is po ssible to o rganise so me activities o f this kind by o ral means alo ne, po ssibly with the help o f co unting with pebbles (as in Daho mey, West Africa), with no tched tallies (as in Euro pe) o r with co ol ur-co ded kno ts (as amo ng the Inca), they can be greatly extended by means o f even a basic system o f writing, which enables wo rds (e. g. names) to be recorded as well as quantities. 3.2. The transmission of skills In o ther terms, the so cial eco no my has to reach a certain po int befo re writing beco mes a po ssibility. Abo ve all o ne needs an o rganisatio n fo r the transmissio n o f trained teachers and acquiescent pupils. The fo rmer have to be taken o ut o f primary pro ductio n, the latter o ut o f the family, at least fo r a large part o f the day o ver a perio d o f many years. While language learning takes place within the family, that is no t the case fo r writing (except fo r particular individuals). Fo r the first lo go graphic scripts, which represent wo rds o r co ncepts by individual signs, make immense calls o n memo ry since the signs are many and co mplex, tho ugh the fact that so me are picto graphic may make them easier to recall. The lo ng perio d o f apprenticeship can be carried o ut within the framewo rk o f a wider o rganisatio n, such as a temple, a co urt o r po ssibly o f ano ther ‘great o rganisatio n’, as Oppenheim called them. The mo st usual co ntext is the temple, as in Ancient Egypt, which gives the who le curriculum a definite shape. Nevertheless administratio n remains a central aim o f the pro ductio n o f literates; it is part o f the implicit co ntract between church and state, which has left its mark o n co ntempo rary western society (Baines 1983). 3.3. The constraints of oral cultures The desire to sto re info rmatio n in a fo rm o ther than in the memo ry alo ne is already present in simple o ral cultures. The reco rding o f ceremo nial gifts and co ntributio ns, which have to be returned o n similar o ccasio ns, o f items in marriage transactio ns where o wnership as distinct fro m po ssessio n may be at stake, o f the names o f members o f vo luntary asso ciatio ns, these activities get inco rpo rated in writing when it beco mes available, as do elementary co mmercial transactio ns. That desire is insufficient to give rise to writing itself but makes use o f that skill when it beco mes

IV. Schriftkulturen

available. Even befo re that o ccurs the no tio n rather than the practice o f writing fro m neighbo uring gro ups may influence o ral so cieties, impressing them as a means o f co mmunicatio n o ver distance and hence as a way o f getting in to uch with supernatural agencies. Such was the view o f the ‘bo o k’ in New Guinea so cieties at the time o f co ntact, while neighbo urs o f the Islamic wo rld in Africa made use o f written verses o f the Qu’ran fo r divinato ry, medicinal and o ther purpo ses. Writing had a certain prestige in advanced o ral cultures, even tho ugh they might be unwilling to accept the so cial co nsequences o f its ado ptio n, that is, religio us change o r go vernmental co ntro l. That was less true fo r many o f states systems in Africa; tho se that lacked writing themselves made use o f literates fro m o utside, Muslims in earlier times, realising their utility fo r distant co mmunicatio n, fo r histo rical reco rds, and fo r treaties with o ther po wers; while little use was made o f writing fo r administrative reco rds, reco gnitio n was given to its ro le in co mmunicating the word of God.

4.

Expansion and disappearance of thresholds of literacy

4.1. Thresholds for subsequent expansion What were the thresho lds fo r the spread o f literacy fro m the o riginal urban centres? The prime mo vers seem to have been literate religio ns, fo llo wed by co mmercial and administrative activities. Islam, Christianity, Hinduism and Buddhism spread writing wherever they went, fo r it was essential that so me be trained to hand o n the religio us traditio n. The pro cess was po tentially greater when the system o f writing was alphabetic. In recent times it has been the aim o f Islam and Po st-Refo rmatio n Christianity to press to wards mass literacy fo r their co nverts. As a result writing spread to previo usly no n-literate so cieties in the co urse o f the expansio n o f these creeds fro m centres in the Near East and Euro pe. Of co urse the military co nquests o f states like Ro me also entailed the spread o f a script fo r administrative purpo ses, as did the co mmercial netwo rks o f Pho enician and o ther Near Eastern traders to the East and to the West. But such administrative activities do no t generally lead to the institutio nalisatio n o f literacy amo ng the lo cal po pulatio ns so that when administrato rs withdraw, the practice o f writing might co llapse. It was the religio us gro ups

31.  On the Threshold to Literacy

who fo r their o wn ends were keen o n setting up scho o ls fo r the large-scale training o f lo cal personnel. 4.2. Contemporary literacy in the third world In many co untries the stro ng links between scho o ls and educatio n co ntinues to this day. No w the finances are largely taken o ver by the state and they co nstitute a very significant element in the average budget o f develo ping as o f develo ped co untries. Fro m the standpo int o f mo ney, effo rt and perso nel, scho o ling, o f which literacy is an abso lute prerequisite, usually takes prio rity beyo nd that o f the eco no my, ho using, health, even defence. This emphasis, the result o f wo rldwide co mpariso n by po liticians and o thers fo r who se tasks and fo r who se very so cial po sitio ns literacy is essential, has given the structure o f many develo ping co untries a particular twist. Earlier written cultures went thro ugh lo ng perio ds when the ability to read and write was achieved o nly by a mino rity. Much pro to -industrial activity was set o n fo o t by a largely illiterate wo rk fo rce and it co uld be argued that such a parsimo nio us divisio n o f labo ur was a co nditio n o f earlier gro wth. The attempt to pro duce mass literacy in so cieties with a lo w eco no mic base may have advantages o f a so cial kind but it is undo ubtedly very co stly in o ther repects. The sight o f yo ung ado lescents wo rking in the fields o r wo rksho ps sho cks many Euro peans. It is no t clear that the sudden abando nment o f the pro ductive labo ur po wer o f all the yo unger members o f so ciety by the intro ductio n o f co mpulso ry educatio n in African co untries can be sustained witho ut co nsiderable aid fro m o utside. No r is it clear that in the early stages o f mo dernisatio n a full life canno t be led witho ut writing, given the stro ng dependence o n the earlier o ral culture and the lack o f written materials in lo cal languages. In Africa few are o n the thresho ld o f literacy until they have also mastered a language o f wo rld circulatio n such as English o r French, since if their cultures were previo usly no nliterate, they were by definitio n devo id o f their o wn reading matter and are fo rced to rely on that of others. 4.3. The disappearance of thresholds Such develo pments meant that the no tio n o f a thresho ld fo r literacy no lo nger make any sense at the so cietal level. No n-literate peo ple

435

are inevitably inco rpo rated in larger netwo rks o f po litical, religio us o r eco no mic ties. Despite the fact that writing was o f minimal use within their o wn lo cal co mmunities, literacy became available, indeed was o ften at first fo rced upo n them. Tho se who acquired these skills o ften had to leave their co mmunities in o rder to make use o f their newly-acquired talents, acting as intermediaries with the wo rld o utside o r migrating yet further afield. Impo sed by the wo rld system and avidly pro pagated by tho se who had already undergo ne the experience, scho o ling makes literacy no t so much a matter o f learning to write o ne’s mo ther to ngue, as is the case fo r speakers o f languages o f wo rld circulatio n (which is ho w they develo ped that status), but o f learning to read ano ther language which gives access to co ntempo rary kno wledge. The results are pro fo und fo r smaller co untries, since parliamentary pro ceedings, newspapers, radio , the acquisitio n o f ‘info rmatio n’, all depend upo n a seco nd language. That is go o d fo r ‘mo dernisatio n’ but marginalises the ro le o f lo cal languages and cultures. Literacy acts as a ho mo genising facto r in large regio ns such as China where, by using the lo go graphic script, individuals can co mmunicate by writing o ver wide areas even when they canno t understand each o ther’s speech. Such co mmunicatio n is po ssible between Chinese, Japanese and Ko reans, in rather the same way as classical Arabic o r Latin was earlier in the Islamic o r Christian wo rlds. Writing is as go o d fo r the culture o f the glo bal village as it is harmful in the lo ng run fo r the culture of the locality.

5.

References

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IV. Schriftkulturen

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Jack Goody, Cambridge (Great Britain)

32. Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì) 1. 2. 3. 4. 5.

1.

Der hànzì-Kulturkreis — Begriffsbestimmung Entstehung und historisches Umfeld Die Ausbreitung der hànzì-Kultur in Ostasien Hànzì, hanja und kanji im heutigen Ostasien Literatur

Der hànzì-Kulturkreis — Begriffsbestimmung

Am äußersten Rand des eurasischen Ko ntinentes, in einem Gebiet, das man auf euro päischen Karten stets am weitesten rechts plazierte und deshalb „Ferno st“ nannte, existierte lange Zeit eine Kulturgemeinschaft, die gemeinhin als „hànzì-Kulturkreis“ (chin. hànzì = ‘chinesische Schriftzeichen’; jap. kanji; kor. hanja) bezeichnet wird. Es handelte sich dabei, vereinfacht gesagt, um eine Gemeinschaft vo n Menschen, die aufgrund ihrer Lese- und Schreibfähigkeit chinesischer Schriftzeichen schriftsprachlich, das heißt mittels nach bestimmten fo rmellen und grammatischen Regeln in chinesischen Schriftzeichen fixierter Texte miteinander ko mmunizieren ko nnten, o hne das Medium der gespro chenen Sprache in Anspruch nehmen zu müssen. Damit sprengte der hànzìKulturkreis Staats- und Dynastiegrenzen und überkam alle aufgrund lo kal gespro chener Sprachen bestehenden Unterschiede. Vo m Altertum bis in die jüngste Vergangenheit bestand mithin für die Bewo hner mehrerer Länder des Fernen Ostens die Möglichkeit, sich tro tz unterschiedlicher Sprachen frei miteinander zu verständigen, so fern sie sich nur chinesischer Schriftzeichen bedienten und diese syntaktisch nach den No rmen der

klassischen Schriftsprache, die im alten China zur Aufzeichnung vo n Texten und Do kumenten Verwendung gefunden hatte, ano rdneten. Dieser schriftsprachliche Stil heißt im mo dernen Chinesischen gŭwén (wörtl. ‘alte Schrift/ Texte’), in Japan kambun und in Ko rea hanmun (beide: ‘chinesische Schrift/Texte’). Daß in China die gespro chene und die geschriebene Sprache bereits in frühester Zeit erheblich differierten, ist zur Genüge bekannt. Die ältesten erhaltenen chinesischen Schriftzeugnisse sind die Shāng-zeitlichen Orakelinschriften (chin. bŭcí, jap. bokuji), die auf Schildkrötschalen o der Rinderkno chen und dergleichen geritzt wurden und in ihrer Gesamtheit deshalb auch als jiǎgŭwén, jap. kôkotsubun ‘Inschriften auf Kno chen und Schildkrötpanzern’ bezeichnet werden (→ Art. 26; Taf. XI). Die Texte, die etwa aus dem 13. bis 10. Jahrhundert v. Chr. stammen, sind äußerst ko nzis; daß es sich um Entsprechungen der damals gespro chenen Sprache handeln könnte, ist auszuschließen. Zu den ältesten erhaltenen chinesischen Schriftzeugnissen zählen ferner die Bro nzeinschriften, die etwa zur gleichen Zeit wie die Orakelinschriften entstanden und bis in die Zhōu-Zeit (um 1025 bis 221 v. Chr.) hinein auf den Innenseiten vo n Bro nzegefäßen, die man für religiöse Zeremo nien und Rituelle go ß, zu finden sind; aber auch diese Bro nzeinschriften (jīnwén, jap. kimbun) spiegeln nicht einfach die gespro chene Sprache der Epo che wider. Vo n den ersten schriftlichen Aufzeichnungen an schrieb man also in China anders, als man sprach. Der traditio nelle, no rmative Stil der klassischen chinesischen Schriftsprache — güwén

32.  Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì)

bzw. jap. kambun und ko r. hanmun — bildete sich vermutlich vo m fünften bis dritten vo rchristlichen Jahrhundert heraus; am Anfang standen die in der chinesischen Geistesgeschichte unter dem Begriff zhūzĭ băijiā zusammengefaßten Do kumente — Texte, in denen die zur Zeit der Streitenden Reiche (Zhànguó, 475—221 v. Chr.) vo n Herrscherho f zu Herrscherho f ziehenden Wanderphilo so phen ihre diversen Lehrmeinungen fo rmulierten. Wesentlichen Anteil daran, daß dieser Stil sich bei den Intellektuellen des späteren China als schriftsprachlicher Standard etablierte, hatte o hne Zweifel die zur Frühen Hàn-Zeit (206 v. Chr.—8 n. Chr.) unter Kaiser Wŭ Dì (Regierungszeit 140 bis 88 v. Chr.) erfo lgte „Aufwertung des Ko nfuzianismus zur Staatsideo logie“. Der im Lande Lŭ im Südwesten der heutigen Pro vinz Shāndōng gebo rene Ko nfuzius (552—479 v. Chr.) ko difizierte die grundlegenden gesellschaftlichen Verhaltensweisen und lehrte die Möglichkeit einer harmo nischen Lenkung des Staates und der Gesellschaft durch gegenseitige Achtung und Rücksichtnahme (die fünf Kernbeziehungen: zwischen Fürst und Staatsdiener, Vater und So hn, Mann und Frau, älterem und jüngerem Bruder, Freund und Freund). In der Qín-Zeit (221—206 v. Chr.) war der Ko nfuzianismus unter Kaiser Shǐ Huángdì bis an den Rand der Auslöschung unterdrückt wo rden, hatte in der Hàn-Zeit jedo ch wieder einen allmählichen Aufschwung erlebt, bis er zur Blüte der Hàn unter Wǔ Dì zur zentralen Staatslehre erho ben wurde. Vo n den vielfältigen Lehren der zhūzǐ bǎijiā erkannte Wǔ Dì lediglich die des Ko nfuzianismus als Staatslehre an, berief Pro fesso ren an die in der Hauptstadt Chángān gegründete Staatliche Akademie, die die heiligen Schriften des Ko nfuzianismus lehrten, ließ do rt vo n den Pro vinzgo uverneuren ganz Chinas ausgewählte Jugendliche ausbilden und verpflichtete die besten Abso lventen an seinen Ho f. Da die Nähe zum Kaiser sicheren Ruhm und Karriere bedeutete, widmete sich bald die Jugend des Landes dem Studium der ko nfuzianischen Schriften, um Zugang zu dieser Schule zu erhalten. Die Ho chschätzung des ko nfuzianischen Systems nahm nach Wǔ Dì no ch erheblich zu; als Herrschaftslehre des Staates baute der Ko nfuzianismus seine zentrale Stellung in der Philo so phie und in den Wissenschaften weiter aus. Abgesehen vo n extremen Ausnahmezeiten wie der Mo ngo lenherrschaft (Yuan-Zeit, 1234—1368), die zu einer Umkehrung aller

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bis dahin gültigen Werte führte, hielt dieser Zustand bis zur Revo lutio n im Okto ber 1911 und dem gleichzeitigen Ende der Qīng-Dynastie etwa zweitausend Jahre lang an. Zur Festigung der Vo rmachtstellung des Ko nfuzianismus trug wesentlich das zur Zeit der Suí-Dynastie (581—618) eingeführte Prüfungssystem für die höheren und höchsten Beamtenränge bei. Die Prüfungsfragen stammten o hne Fehl aus dem Kano n der ko nfuzianischen Schriften, so daß sich die männlichen Nachko mmen der gebildeten Schichten bereits im zarten Alter vo n drei o der vier Jahren auf deren Studium ko nzentrierten, um im wahrsten Sinne des Wo rtes Seite für Seite zu verinnerlichen und bis hin zu den Standardko mmentaren auswendig zu lernen. So wurden die vo n Ko nfuzius und anderen verfaßten Schriften, die die zentralen Ideen und Vo rstellungen dieser Lehre enthielten, in der traditio nellen chinesischen Gesellschaft für jeden Gebildeten zur Pflichtlektüre. Abgefaßt waren sie in jenem schriftsprachlichen Stil, den die Denker zur Zeit der Streitenden Reiche verwendet hatten. Die durchgängige Verwendung beinahe ein- und desselben Stiles in Texten, die mehrere Jahrhunderte vo r Christus geschrieben wurden, und in so lchen, die aus dem 20. Jahrhundert stammen, dürfte ein weltweites Unikum sein; in China dagegen war es alltäglich und wurde aufgrund der o ben skizzierten gesellschaftlichen Gegebenheiten nie in Frage gestellt. Dieser grundlegende Stil, der sich so früh herausgebildet und etabliert hatte, blieb danach über Jahrhunderte schriftsprachliche No rm, was nicht zuletzt die Regierung und Verwaltung des Landes wesentlich erleichterte. Vo n weit in der Vergangenheit liegenden Zeiten an, in denen sich no ch keine landesweit gültige Standardsprache herausgebildet hatte, war es eben diese allero rten verbreitete geschriebene Sprache, die die Vielfalt der im Riesenreich China vo rko mmenden dialektalen Unterschiede, die eine Verständigung über das gespro chene Wo rt nicht selten unmöglich machten, überwand und den Bewo hnern erlaubte, miteinander zu ko mmunizieren. Und dies galt nicht nur für das eigentliche China: Das derart geschriebene Wo rt war in ganz Ostasien verständlich. Die Länder Ostasiens empfingen, wie no ch zu schildern sein wird, bereits sehr früh die Weihen der chinesischen Ho chkultur, vo rnehmlich durch die Übernahme des Ko nfuzianismus. Auf der ko reanischen Halbinsel wie in Japan bedeutete „Wissenschaft“ lange

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Zeit nichts anderes als das Studium der ko nfuzianischen Klassiker. Verdeutlicht wird dies durch die Tatsache, daß das in den Ländern Ostasiens meistgelesene und am häufigsten nachgedruckte Werk das Lúnyǔ war, die „Gespräche“ des Konfuzius. Die chinesischen Schriftzeichen nun, die hànzì, dienten ursprünglich zur schriftlichen Fixierung der Sprache des chinesischen Vo lkes der Hàn. Mit der Tradierung des Ko nfuzianismus fand dieses Schriftsystem jedo ch über seine innerchinesische Ro lle hinaus in ganz Ostasien Verbreitung und diente schließlich im Altertum als eine Art internatio nale Gemeinschrift. So entstanden in dieser Regio n der Erde Gemeinschaften, die mittels der chinesischen Schriftzeichen und dem im alten China entwickelten schriftsprachlichen No rmstil Austausch pflegen ko nnten, Gemeinschaften, die in ihrer Gesamtheit den „hànzì-Kulturkreis“ ausmachen. Zu diesem Kulturkreis, in dessen Zentrum natürlich China, das Mutterland der hànzì, stand, gehörten jene Länder Asiens, die mit China diplo matische Beziehungen unterhielten o der Handel trieben. Das waren im Osten die Königreiche der ko reanischen Halbinsel so wie, jenseits des Meeres, Japan, im Westen die an der „Seidenstraße“, der gro ßen OstWest-Verkehrsader, gelegenen Länder und südlich davo n unter anderem Vietnam. Nicht dazu gehörten die Staaten im No rden Chinas und das im Westen gelegene, kulturell ho chentwickelte Tibet. Zwar war auch do rt die chinesische Kultur samt Schriftzeichen rezipiert wo rden, und nicht wenige Menschen verfügten über die Kenntnisse, sich dieses Mediums frei zu bedienen. Letztlich aber schaffte man in diesen Ländern die hànzì ab und entwickelte — mit allen kulturellen Ko nsequenzen — eigenständige Schriften. Oberflächlich betrachtet läßt sich der hànzì-Kulturkreis mit der in Euro pa seit dem Mittelalter vo rherrschenden Religio nsgemeinschaft der römisch-katho lischen Kirche vergleichen, die, mit dem Papst im Zentrum, aufs engste durch das Band der lateinischen Sprache verbunden war. Die weit größere zeitliche wie auch geo graphische Ausdehnung des hànzì-Kulturkreises zeigt jedo ch die Grenzen eines so lchen Vergleiches. Im Euro pa vo n heute wird zudem das Lateinische im Alltag nicht mehr gespro chen; es lebt nur in sehr limitierter Fo rm als Kirchensprache und als Gegenstand der Fo rschung fo rt, während in den Ländern Ostasiens die chinesischen Schriftzeichen nach wie vo r Tag für

IV. Schriftkulturen

Tag zur schriftlichen Fixierung vo n Texten eingesetzt werden. Die genauen histo rischen Daten der Entstehung wie der Dauer dieses Kulturkreises sind jedoch äußerst schwer zu bestimmen. Aus altchinesischen Schriften, in denen sich Beschreibungen Japans und der ko reanischen Halbinsel finden, ist zu ersehen, daß China seine innere und äußere po litische Stabilität etwa zur Frühen Hàn-Zeit (206 v. Chr.—8 n. Chr.) erreichte, eine Zeit, in der es auch Interesse an den umliegenden Ländern zu zeigen begann und mit verschiedenen Staaten diplo matische Beziehungen anknüpfte; damit kann die Frühe Hàn-Zeit als Epo che gelten, in der die ersten Anfänge des hànzì-Kulturkreises keimten. Das Nachlassen der Einflußsphäre dieser Kulturgemeinschaft, der Anfang ihres Niederganges, fällt etwa mit jener Zeit zusammen, als der Ko nfuzianismus in den Gesellschaften Ostasiens seine jahrhundertelange Vo rmachtstellung als abso lutes Wertesystem einzubüßen begann, als aus dem Euro pa nach der Industriellen Revo lutio n eine neue Zivilisatio n mit mo dernem Gedankengut und ho chentwickelten Techno ol gien nach Ostasien drang, als, ko nkret, China nach dem verlo renen Opium-Krieg (1842) halb ko lo nialisiert wurde und beispielsweise Japan nach der Meiji-Restauratio n (1868) energisch daranging, einen neuen Staat nach dem Vo rbild der westlichen Gesellschaften zu errichten. Vo n dieser Zeit an, etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts also , hielt sich die auf dem Medium der chinesischen Schriftzeichen beruhende Kulturgemeinschaft in ihrem Glanz nur no ch so lange, bis sich die aus dem Westen eingeströmten neuen Wertvo rstellungen endgültig durchgesetzt hatten. Heute gibt es im Fernen Osten keinen in irgendeiner Fo rm einigenden “hànzì-Kulturkreis“ mehr. Selbst die chinesischen Schriftzeichen an sich haben ihren Rang als d i e Schrift Ostasiens verlo ren; als hauptsächliches Mittel zur alltäglichen Aufzeichnung vo n Sprache werden sie nur no ch in China und in Japan eingesetzt. Die traditio nelle Bezeichnung „hànzì-Kulturkreis“ allerdings wird als eine Art Kürzel zur zusammenfassenden Benennung der kulturellen Charakteristika der Region nach wie vor häufig benutzt. So wurde etwa 1986 in Tôkyô ein internatio nales Sympo sium zur „Geschichte und Zukunft der hànzì-Kultur“ veranstaltet. Organisiert und ko o rdiniert hatte diese Veranstaltung, an der neben japanischen Wissenschaftlern Gelehrte aus China, Ko rea und

32.  Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì)

Vietnam teilnahmen, der vo r wenigen Jahren versto rbene, weltweit reno mmierte Sprachwissenschaftler Hashim o ot Mantarô. Die während des mehrtägigen Sympo siums gehaltenen Vo rträge und die Ergebnisse der Diskussio nen sind in dem 1987 publizierten Tagungsband Kanji-minzoku no ketsudan — kanji no mirai ni mukete [Entscheidungen der hànzì-Völker — für eine Zukunft der chinesischen Schriftzeichen] enthalten. Eine ähnliche Veranstaltung mit dem Thema „Die chinesischen Schriftzeichen im Alltag der Länder des hànzì-Kulturkreises“ fand im September 1991 in Seo ul statt; die Teilnehmer kamen aus Ko rea, Japan und China. Im Vo rdergrund standen dabei Fragen der Einstellung zu den chinesischen Schriftzeichen in den jeweiligen Ländern so wie zusammenfassende Darstellungen im Alltag auftauchender Schriftprobleme. Vo n Bedeutung ist hier, daß diese Tagung in Südko rea ausgerichtet wurde, einem Land, das, wie no ch zu zeigen sein wird, vo n der Schriftzeichenkultur bereits beträchtlich entfremdet ist, ferner, daß auch drei Wissenschaftler aus der Vo lksrepublik China teilnahmen, mit der Südko rea zu diesem Zeitpunkt no ch keine diplo matischen Beziehungen unterhielt. Da auch zwei Teilnehmer aus dem Südko rea traditio nell freundschaftlich geso nnenen Taiwan angereist waren, bo t die Tagung in Seo ul Gelegenheit zu umfassenden Diskussi o nen zwischen hànzì-Wissenschaftlern vo m Festland und aus Taiwan, wie sie bis dahin weder in Běijīng no ch in Táiběi möglich gewesen waren. Der ursprüngliche Plan, auch Wissenschaftler aus der Vo lksrepublik Ko rea (No rdko rea) einzuladen, mußte jedo ch aus verschiedenen Gründen scheitern. Die Regierung der nach dem Zweiten Weltkrieg im No rden der ko reanischen Halbinsel entstandenen os zialistischen o V lksrepublik schaffte die chinesischen Schriftzeichen bald gänzlich ab, und heute wird do rt zur Verschriftung ausschließlich das im 15. Jahrhundert entwickelte eigenständige han’gŭl-Alphabet verwendet; die Haltung no rdko reanischer Wissenschaftler zum Thema hànzì wäre deshalb vo n beso nderem Interesse gewesen. Es ist zu ho ffen, daß sich das erklärte Vo rhaben der südko reanischen Veranstalter, beim nächsten derartigen Sympo sium unter allen Umständen auch Wissenschaftler aus dem „No rden“ dabeihaben zu wo llen, in die Tat umsetzen läßt. Die beiden genannten Veranstaltungen waren und sind beileibe nicht die einzigen, die

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sich ausschließlich mit Fragen der chinesischen Schriftzeichen beschäftigen. Im Mittelpunkt steht dabei stets die vo n den Wissenschaftlern der betro ffenen Länder mit gro ßem Eifer diskutierte histo rische Bedeutung und zukünftige Entwicklung des ehemaligen o stasiatischen „hànzì-Kulturkreises“. Die chinesischen Schriftzeichen bilden aus verschiedenen Gründen gegenwärtig nicht mehr das starke einigende Band vo n einst; gleichwo hl hat diese Kulturgemeinschaft auch vo n der heutigen, internatio nalen Warte aus gesehen durchaus Bedeutung; die Möglichkeit regio naler Zusammenschlüsse und freundschaftlichen Austausches auf der Basis des Mediums hànzì ist nach wie vo r gegeben. Wünschenswert und erfo rderlich ist, daß in Zukunft auch Wissenschaftler aus Ländern, die nicht zum hànzì-Kulturkreis gehören, vo r allem aus Euro pa und Amerika, intensiv an der Erörterung solcher Fragen teilnehmen.

2

Entstehung und historisches Umfeld

Überall in den an China grenzenden Gebieten — auf der ko reanischen Halbinsel und in Japan im Osten, im No rden in der Mo ngo lei und Mandschurei, im Westen in Tibet, ferner in den an der vo n Westen nach Zentralasien verlaufenden „Seidenstraße“ gelegenen Ländern und im Süden in Thailand und in Vietnam — entstanden und vergingen im Altertum verhältnismäßig kleine Reiche und Dynastien. Eine ho chentwickelte Zivilisatio n besaß nur China. Scho n sehr früh galt das Reich seinen Nachbarn deshalb als Land der Ho chkultur, von dem man zu lernen habe. Bald nach ihrer innenpo litischen Stabilisierung erstreckte die im Zentrum Chinas entstandene mächtige Hàn-Dynastie ihren Einflußbereich auf die Nachbarstaaten, unterwarf sie o der band sie als Vasallen an sich und erlegte ihnen die Pflicht der regelmäßigen Entsendung von Gesandtschaften auf. Nach der traditio nellen chinesischen Denkweise bildete das „Reich der Mitte“ im wahrsten Sinne des Wo rtes den Mittelpunkt der Welt und war den umliegenden „Barbaren“ kulturell und geistig abo lut überlegen. Der über dieses Reich der Mitte gebietende Herrscher war nicht einfach ein aufgrund po litischer und militärischer Stärke aus irgendwelchen Wirren siegreich hervo rgegangener Fürst, so ndern galt als irdischer Beauftragter des „Himmels“, der höchsten und abso luten, das Universum beherrschenden Macht und wurde folglich als „Himmelssohn“ tituliert.

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Kulturelles Überlegenheitsgefühl und Ho chschätzung der jeweils eigenen Wertvo rstellungen sind natürlich kein spezifisch chinesisches Charakteristikum; im alten China äußerten sie sich jedoch in extremer Form. Bei der traditio nellen chinesischen Denkweise handelte es sich um eine völkische Überlegenheitsphilo so phie, die die das Reich der Mitte beherrschenden Hàn scho n in sehr früher Zeit entwickelten, ein Pro zeß, der, wie uns die Geistesgeschichte lehrt, vo n der Zeit der Streitenden Reiche an bis zur Qín-Dynastie und damit etwa parallel zur Etablierung der ko nfuzianisch geprägten Mo ral- und Herrschaftslehre verlief. Die Hàn, die das Fundament der eigentlichen chinesischen Zivilisatio n schufen, behaupteten gegenüber den Nachbarvölkern op litisch wie militärisch eine uneingeschränkte Vo rmachtstellung, die sich scho n bald zu einem kulturellen Überlegenheitsgefühl steigerte. Schließlich gab man dem eigenen Land den schmückenden Namen „Glanz und Pracht und Blüte der Mitte“ (Zhōnghuá) und bedachte die Nachbarvölker aller Himmelsrichtungen mit pejo rativen Bezeichnungen wie „Barbaren“ o der „Wilde“, versagte ihnen also die Anerkennung als gleichwertige Staaten. Der traditio nellen chinesischen Denkweise nach war es nur natürlich, daß die „Barbaren“ sich nach der „Pracht der Mitte“ sehnten und deren Pro tektio n suchten; Aufstände gegen das Reich wurden unter keinen Umständen geduldet. Dieses Bewußtsein blieb in den herrschenden Schichten Chinas bis in die ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts hinein tief verwurzelt (möglicherweise so gar, wie mitunter behauptet wird, bis heute) und führte letztlich mit dazu, daß sich die Mo dernisierung Chinas verzögerte. Auch gegenüber England und anderen mo dernen Staaten Euro pas pflegte man no ch nach der Industriellen Revo lutio n und der Mo dernisierung der Wissenschaften das Bewußtsein, diplo matische Beziehungen zu „barbarischen Vasallenstaaten“ zu unterhalten; ähnlich verhielt man sich gegenüber den christlichen Missio naren, o hne an den der fremden Kultur immanenten religiösen Hintergrund o der die damalige internatio nale Lage auch nur einen Gedanken zu verschwenden. Die einseitige Fo rderung an die Gesandten dieser Länder, dem „Himmelsso hn“ bei der Audienz entsprechende Reverenz zu erweisen, verursachte eno rme po litische Probleme.

IV. Schriftkulturen

Die Gunst des „Himmelsso hnes“, um no ch einmal zum Altertum zurückzukehren, erstreckte sich nach traditio neller Vo rstellung auch auf die benachbarten „Barbaren„völker, die ihrer Kultur so mit dank des Herrschers des „Reiches der Mitte“ teilhaftig wurden. Ihren Dank dafür hatten die „Barbaren“staaten durch regelmäßige Gesandtschaften und durch Tributzahlungen zum Ausdruck zu bringen. Auch dieses Tributsystem galt als den „Barbaren“ vo m „Himmelsso hn“ gewährte Gnade. China war seit jeher gro ß und reich genug gewesen, um sich autark verso rgen zu können und bedurfte der „Barbaren-Pro dukte ursprünglich nicht. Diese Länder waren zudem arm an Resso urcen, und ihre Pro duktivität war gering; zur Aufrechterhaltung ihres kulturellen Niveaus waren sie auf den Handel mit China angewiesen. Die Fürsten und Könige der „Barbaren“ schickten also Gesandtschaften und trieben Handel, um in den Besitz für sie lebensno twendiger Güter zu gelangen, während in China der für das Reich nicht unbedingt erf o rderliche Außenhandel als blo ße Gunst des Kaiserho fes an die Nachbarstaaten galt. So wucherte die traditio nelle chinesische Denkweise bis in das Handelsgebaren hinein. Den Herrschern der Tribut zahlenden „Barbaren“ verlieh man chinesische Beamtenränge und ernannte sie zu Königen vo n Vasallenstaaten, die man so dem Universum, dessen Zentrum China selbst war, einverleibte. Natürlich behagte Chinas Nachbarn die Verächtlichmachung als „Barbaren“ nur wenig. Das ehrenrührige Tributsystem brachte ihnen jedo ch Gewinn, auch wirtschaftlichen, und allein die Tatsache, mit dem im alten Ostasien zivilisato risch unangefo chten an der Spitze stehenden China Beziehungen zu pflegen, hatte Vo rteile — bei Streitigkeiten mit angrenzenden Drittstaaten ko nnte man sich bis hin zur Gewährung militärischen Beistandes auf die Pro tektio n durch die Supermacht China verlassen. Die o ffiziellen Gesandtschaften wurden darüber hinaus in China äußerst gastlich empfangen: Unterkunft und Verpflegung waren unentgeltlich, Esko rten geleiteten sie zu bestens ausgestatteten Gästehallen, und man gewährte ihnen Audienzen beim Kaiser. Den Gesandten aus den Nachbarstaaten, die sich aus chinesischer Sicht auf der Stufe vo n Entwicklungsländern befanden, mußte es vo r dem Glanz und der Pracht der chinesischen Hauptstadt geradezu schwindlig werden; zu-

32.  Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì)

dem durften sie mit der Bevölkerung freien Handel treiben und wurden als Gegenleistung für ihre Tribute mit chinesischen Beamtenrängen versehen und mit auserlesenen Geschenken entlohnt. Länder, die wie das Reitervo lk der Hunnen im No rden, das mit China vo n der Qín-Dynastie Kaiser Shǐ Huángdìs bis zur Frühen Hàn-Zeit aufs heftigste verfeindet war, dem Reich bis zuletzt jede Tributzahlung verweigerten, blieben die Ausnahme. Eine Ko pie der zur Zeit der Nördlichen und Südlichen Dynastien, als im gespaltenen China immer wieder kurzlebige Herrscherhöfe einander abwechselten, in der südlichen Dynastie Liáng (502—557) angefertigte berühmte Bildro lle — das Original ist nicht erhalten — zeigt 35 zur Tributzahlung angereiste ausländische Gesandte und verzeichnet in einem beschreibenden Text die Namen und geo graphischen Daten jedes einzelnen vertretenen Landes. Bereits Mitte des sechsten Jahrhunderts leisteten also mehr als dreißig Länder China Tribut, eine Zahl, die sich während der Tang-Zeit (618—907), der Epo che der Fo rmung und Festigung des hànzì-Kulturkreises, no ch beinahe verdoppelte.

3.

Die Ausbreitung der hànzì-Kultur in Ostasien

3.1. Japan Japan wurde etwa zu der Zeit in den hànzìKulturkreis integriert, als es begann, Tributgesandtschaften nach China zu entsenden. Die erste Erwähnung Japans in chinesischen Quellen findet sich im landeskundlichen Abschnitt (dìlǐ-zhì) der Hàn-Annalen (HànShū, 1. Jahrhundert n. Chr.). Do rt heißt es: „Die Wa befinden sich [südöstlich vo n] Lèlàng inmitten des Meeres. Im ganzen sind es über hundert Staaten. Einige davo n ko mmen und leisten Tribut.“ Lèlàng war die nach der Ko lo nialisierung der ko reanischen Halbinsel 108 v. Chr. im Süden der heutigen no rdko reanischen Hauptstadt P’yŏngyang eingerichtete Residenzstadt. „Wa“ bezeichnet das heutige Japan. Einige der „über hundert Staaten“, in die Japan damals geteilt war, müssen also bereits zur Frühen Hàn-Zeit regelmäßig das Festland besucht haben. Genauere Angaben als das Hàn-Shū bieten die „Berichte über die Ostbarbaren“ in den „Annalen der Späteren Hàn“ (Hòu Hàn-Shū). Do rt wird erwähnt, daß im Jahre 57 n. Chr. Gesandte des „Landes Na“ die Hàn-Dynastie

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besucht und aus der Hand des damaligen „Himmelsso hnes“ Guāngwǔ ein go ldenes Siegel empfangen hätten, das 1784 am Kap Kanan o saki (Fuku o ka, Kyûshû) gefunden wurde. Die Siegelinschrift trägt die fünf Zeichen mit der Bedeutung „König [des] Land[es] Na [im zum] Hàn[-Reich gehörenden Japan]“. Der Kaiser der HànDynastie erkannte damit den König vo n Na, der Gesandte geschickt hatte, o ffiziell als Herrscher über den Staat Na an. Die immer wieder diskutierte Möglichkeit, daß es sich bei diesem go ldenen Siegel um eine Fälschung handeln könnte, ist extrem gering. Tro tz seiner nur fünf hànzì muß es deshalb als bedeutendes Schriftzeugnis gewertet werden und als Beleg dafür, daß das Land „Na“ bereits im ersten nachchristlichen Jahrhundert Ko ntakte zu China unterhielt. Die Übernahme eines Schriftsystems dürfte im auto chtho n schriftlo sen Japan vo r allem im Zusammenhang mit der Herrschaftsstruktur und der Straffung der po litischen Organisatio n des Landes no twendig gewo rden sein. Daß die schließlich überno mmene Schrift hànzì waren, ergab sich aus der geo graphischen Lage des Landes und aus der allgemeinen po litischen und gesellschaftlichen Situatio n Ostasiens: Die erste Schrift, mit der Japan in Berührung kam, war die chinesische; eine Qual der Wahl gab es nicht. Nach der Siegelüberreichung durch Kaiser Guāngwǔ erreichten alle möglichen Kulturgüter und -pro dukte Japan, darunter viele, die — wie beispielsweise Spiegel o der Münzen — hànzì-Inschriften trugen. Mehr schlecht als recht ahmten die Japaner bald die aus China erhaltenen Bro nzespiegel nach; viele davo n sind erhalten. Nachgeahmt wurden auch die auf den Originalen eingravierten Texte und Inschriften, wo bei allerdings zahlreiche Fehler unterliefen: So verwechselte man etwa die Reihenfo lge der in den Texten enthaltenen zyklischen Zeichen (die zur Zeitangabe dienen und in der hànzì-Kultur zum abso luten Basiswissen gehören), schrieb Zeichen do ppelt, vertauschte die rechten (tsukuri)und linken (hen) Bestandteile ho rizo ntal gegliederter Schriftzeichen o der pro duzierte gar irgendwelche zeichenähnlichen Phantasiegebilde. Die Spiegel stammen alle aus dem 4. bis 5. Jahrhundert, so daß angeno mmen werden kann, daß man in Japan, abgesehen vo n einer geringfügigen Zahl berufsmäßiger, vo m Festland eingewanderter Schreiber, zu dieser Zeit no ch keine Vo rstellung vo m eigentlichen Sinn und

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Zweck vo n Schrift hatte. Die Zeichen waren den Japanern kaum mehr als Ornament. Einen klassischen Beleg für die Verwendung vo n Schrift in ihrer eigentlichen Funktio n bieten erstmals die zur Aufrechterhaltung der Beziehungen zu China verfaßten Urkunden. So so ll etwa die legendäre Königin Pimiko des Reiches Yamatai, die im Jahre 293 nach dem Niedergang des Landes „Na“ die Tributgesandtschaften nach China wieder aufgeno mmen hatte, der ersten chinesischen Gesandtschaft, die Yamatai besuchte und ein kaiserliches Begleitschreiben samt Siegel überreichte, ihrerseits ein Grußschreiben mit auf den Weg gegeben haben. Ihr Ho f verfügte demnach über — wenn auch nicht unbedingt einheimische — Perso nen, die hànzì schreiben und Schriftstücke im Stil der klassischen chinesischen Schriftsprache aufsetzen konnten. Ein wesentlicher Punkt, der hier der Erwähnung bedarf, ist die Frage, wie es den Japanern möglich war, ein Schriftsystem, das ursprünglich ausschließlich zur Aufzeichnung der Sprache der Hàn, also des Chinesischen, ko nzipiert war, später auch zur schriftlichen Darstellung der eigenen, vo m Chinesischen völlig verschiedenen Sprache einsetzen zu können. Natürlich betrifft dieses Pro blem nicht nur Japan, so ndern gilt in gleicher o der ähnlicher Fo rm auch für Ko rea, Vietnam usw.; es war das größte Hindernis auf dem Weg der Entstehung des hànzì-Kulturkreises, aber eines, das sich aufgrund der ursprünglich ideo graphischen Funktio n der chinesischen Schriftzeichen nicht als unüberwindlich erwies. Die jedem einzelnen Schriftzeichen eigene Bedeutung ließ sich auch o hne Kenntnis der jeweiligen chinesischen Aussprache vermitteln; das galt beso nders für die so genannten pikt o graphischen Schriftzeichen, beispielsweise . Alsbald wurden dann die den hànzì eigenen bzw. zugeo rdneten Bedeutungen mit äquivalenten Wörtern aus der eigenen Sprache „unterlegt“, in diesem Fall ‘Berg’ mit dem japanischen yama, das sich fo rtan als „japanische Lesung“ (kun-yomi) dieses Zeichens etablierte. Eine zweite Metho de bestand darin, die ursprüngliche chinesische bzw. eine ihr angenäherte Aussprache der hànzì in die eigene Sprache zu integrieren (on-yomi; sino japanische, sino ko reanische etc. Aussprache); im Falle vo n (neuchinesisch shān) führte dies in Japan zu der Lesung san. Zur Fixierung der jeweiligen Landessprache kam so wo hl in Japan wie in den Staaten der ko rea-

IV. Schriftkulturen

nischen Halbinsel, in Vietnam und in anderen nicht chinesischsprachigen Ländern eine Ko mbinatio n vo n beiden Metho den zum Zuge (→ zur Schriftgeschichte Japans ausführlich Art. 27, Zf. 1.). 3.2. Die koreanische Halbinsel Aufgrund der geo graphischen Lage Ko reas als peninsulare Verlängerung des Ko ntinentes besteht die Möglichkeit einer scho n sehr früh erfo lgten Übernahme der chinesischen Schriftzeichen. Ihre regelmäßige Verwendung dürfte aber auch hier erst in die Zeit nach der Errichtung Lèlàngs und der anderen drei Residenzstädte (108 v. Chr.) durch die Hàn fallen. Alle ho hen Beamten wurden damals zwar direkt vo n China entsandt, aber bei den in den Ämtern diensttuenden niedrigeren Rängen handelte es sich um Einheimische; die Verwaltungsaufgaben wurden also vo n Ko reanern erledigt, und die Schrift, derer sie sich bedienten, waren hànzì. Bei den frühesten Schriftzeugnissen der Halbinsel handelt es sich um beschriftete Ziegel und Ho lztafeln; des weiteren existiert eine im Jahre 85 n. Chr. errichtete Steinstele mit einem verhältnismäßig langen, zusammenhängenden hànzì-Text. Um das dritte Jahrhundert, nach dem Niedergang der Hàn und der Errichtung dreier starker, unabhängiger Staaten, der Drei Reiche Ko guryŏ, Paekche und Silla, beherrschten die Ko reaner so wo hl die chinesischen Schriftzeichen als auch die klassische chinesische Schriftsprache; Do kumente und Schriftstücke aus dieser Zeit sind erhalten. Am frühesten entfaltete sich die chinesische Kultur in dem direkt an China grenzenden Ko guryö (37—668). Mitte des 4. Jahrhunderts übernahm man do rt den Buddhismus, und zur etwa gleichen Zeit wurden staatliche Akademien zur Förderung der Lehre des Ko nfuzianismus errichtet. Mit dem Buddhismus und Ko nfuzianismus kam eine Fülle klassischer chinesischer Schriften ins Land, deren Studium bald zum freien Umgang mit den ursprünglich fremden Schriftzeichen führte. Auf welch ho hem Niveau die hànzìKultur Ko guryŏs stand, verdeutlicht die riesige, im Jahre 414 errichtete Steinstele Kwanggae-t’o, deren majestätisch gehauene, an die quadratischen Schriftfo rmen der Hàn erinnernden Zeichen vo n den Beziehungen Ko reas und des alten Japan berichten. Mitte des 7. Jahrhunderts unterwarf Silla Paekche und dann auch Ko guryǒ und herrschte allein über die Halbinsel. Silla (57 v. Chr.—668, vereintes Silla 668—935) hatte nach anfänglichen Auseinandersetzungen

32.  Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì)

schließlich die Macht der Táng anerkannt und Gesandtschaften so wie zum Studium auch Mönche nach China geschickt. Man pflegte intensive kulturelle Ko ntakte. Mitte des 8. Jahrhunderts wurden Pers o nennamen und Rangbezeichnungen sinisiert, und Heimkehrer aus Tang-China erhielten wichtige Ämter und Po sten in der Verwaltung; die Zahl jener, die die hànzì und die klassische chinesische Schriftsprache beherrschten, nahm stetig zu. Manche der aus Silla entsandten Studenten bestanden gar die als schwierigste, als Prüfung aller Prüfungen geltende ho he chinesische Beamtenprüfung, eine selbst für ho chgebildete Chinesen beinahe unüberwindliche Hürde, und wurden Regierungsbeamte am Ho fe der Táng. Im auf Silla fo lgenden Königreich Ko ryŏ (918—1392) förderte man weiterhin die Verbreitung des Buddhismus, pflegte aber auch den Ko nfuzianismus und führte die Wissenschaften chinesischen Stils zu neuer Blüte. Im Jahre 958 übernahm man das chinesische System der Beamtenprüfungen; verlangt wurden Kenntnisse der chinesischen Po esie und der klassischen chinesischen Schriftsprache, vo r allem der konfuzianischen Klassiker. In der vo n 1392 bis zur Annexio n Ko reas durch Japan (1910) dauernden Yi-Dynastie wird der Ko nfuzianismus zur herrschenden Staatslehre. Die in dieser Epo che veröffentlichten hànzì-Schriften sind Legio n, und insbeso ndere die Studien zur Lehre und den Do gmen des Ko nfuzianismus stehen den in China verfaßten an Qualität in nichts nach. Scho n sehr früh bildete sich also auf der ko reanischen Halbinsel eine Zweisprachigkeit heraus: Gespro chen wurde Ko reanisch, während man geschriebene Texte mit hànzì im Stil der klassischen chinesischen Schriftsprache gestaltete. Natürlich gab es in der Verwendung der chinesischen Schriftzeichen auch ko reanische Eigenheiten. Nach anfänglicher Schreibung im rein chinesischen Stil ging man immer häufiger dazu über, ko reanische Ortsund Perso nennamen o der Beamtenbezeichnungen mit lautwertig eingesetzten Schriftzeichen auszudrücken, wo bei so wo hl reinko reanische als auch sino ko reanische „Lesungen“ zum Tragen kamen. Je nach spezifischer Ausprägung wird diese Art des schriftlichen Ausdrucks als idu, kugyŏl o der hyangch’al bezeichnet. Das bekannteste System ist das idu, wo bei die hànzì so wo hl in ihren sino ko reanischen als auch reinko reanischen Lautungen zur Fixierung ko reanischer Wörter und Syntagmen eingesetzt, die hànzì in der Wo rtfo lge

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des Ko reanischen angeo rdnet und vo r allem Prä- und Suffixe mit lautwertig verwendeten Schriftzeichen wiedergegeben wurden. Die Erfindung dieser Schreibweise so ll der Legende nach auf einen gewissen Sŏl Ch’o ng zurückgehen, der zur Zeit des Silla-Königs Sinmun lebte; aufgrund der Zunahme jener, die sich im no rmativen Stil der chinesischen Schriftsprache auszudrücken verstanden, geriet sie jedoch bald außer Gebrauch. Die heute in Ko rea verwendete, eigenständig ko reanische Buchstabenschrift han’gŭl wurde 1443 unter dem vo n der Nachwelt als größtem aller Yi-Herrscher gefeierten König Sejo ng (1397—1450) entwickelt und 1446 unter der Bezeichnung Hunmin chŏng’ŭm ‘Richtige Laute zur Unterweisung des Vo lkes’ publik gemacht. Die geläufige Bezeichnung war han’gǔl, die „Gro ße bzw. Gro ßartige Schrift“. Der Tag der Pro klamatio n der Hunmin chŏngŭm, der 9. Okto ber, wird heute in Ko rea als Nationalfeiertag begangen. Das han’gǔl ist eine pho nemische Schrift, die Einheiten für Ko nso nanten und Vo kale zu silbischen Blöcken gruppiert und deshalb auch Züge einer Silbenschrift besitzt. Die Gestaltung der einzelnen Einheiten so ll auf detaillierten pho netischen Beo bachtungen basieren, und auch das Gesamtsystem ist geradezu ein Muster an linguistischer Präzisio n und Ratio nalität (→ zur Schriftgeschichte Ko reas ausführlich Art. 27, Zf. 2.). Das han’gŭl war damit das geeignetste Medium zur schriftlichen Aufzeichnung der ko reanischen Sprache, ko nnte sich aber aufgrund des starken chinesischen Einflusses und der Ho chschätzung des Ko nfuzianismus in der traditio nellen Gesellschaft lange Zeit nicht als Amtsschrift durchsetzen. 3.3. Vietnam Zum hànzì-Kulturkreis gehörte lange Zeit auch das an den Süden Chinas grenzende Vietnam. Auch dieses Land stand bereits seit vo rchristlicher Zeit unter dem kulturellen Einfluß seiner gro ßen nördlichen Nachbarn; mit China pflegte es enge po litische und kulturelle Ko ntakte. Der chinesische Einfluß verstärkte sich merklich ab 679, als die TangDynastie in der Gegend des heutigen Hano i eine „Pro tektio nsregierung Annam“ zur Ko ntro lle der nichtchinesischen Vo lkschaften einrichtete; eine Fülle vo n Sinismen fand Eingang in die vietnamesische Sprache. Die etwa 300jährige Geschichte der „Pro tektio nsregierung“ fand ihr Ende mit dem Niedergang der Táng Mitte des 10. Jahrhun-

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derts und dem Zusammenbruch des SìchuānYúnnán-Verkehrsweges. Es etablierte sich eine vo n der chinesischen Herrschaft mehr o der weniger unabhängige vietnamesische Regierung. Die erste langfristig stabile Regierung schuf in diesem Teil Asiens die Ly-Dynastie (1009— 1225); die Hauptstadt war Thang Lo ng (Hano i). Die anfangs tief buddhistisch geprägte Dynastie wandte sich später dem Ko nfuzianismus zu und führte u. a. ein dem chinesischen ähnliches System vo n Beamtenprüfungen ein. Zugleich erklärte man die hànzì zur Amtsschrift und anerkannte die klassische chinesische Schriftsprache als o ffizielle geschriebene Sprache. In diesem Punkt unterscheidet sich die Entwicklung, die letztlich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fo rtdauerte, in nichts von der in Korea oder Japan. Während der Ly- und der darauffo lgenden Chn(Trận)-Dynastie (1225—1400) fand eine Fülle chinesischen Schrifttums Eingang ins Land. Daneben wurde in dieser Zeit aber auch eine auf der Basis der chinesischen Schriftzeichen geschaffene und diesen sehr ähnliche, aber do ch eigenständige Schrift verwendet; man nannte sie chũ’ nôm, was ursprünglich ‘einheimische Vo lksschrift’ bedeutet. Die chinesischen Schriftzeichen waren zur Wiedergabe des Vietnamesischen, einer im wesentlichen ebenso wie das Chinesische mo no syllabischen Sprache, gut geeignet. Zur Darstellung vo n vietnamesischen Orts- und Perso nennamen wählte man dabei hànzì, deren chinesische Lautungen mit denen der jeweiligen vietnamesischen Silben identisch waren o der ihnen sehr nahe kamen. Die chinesischen Schriftzeichen wurden, mit anderen Wo rten, o hne Rücksicht auf ihren semantischen Gehalt rein lautwertig gebraucht, ein Prinzip, das man mit den nach der altjapanischen Gedichtsammlung Man’yôshû benannten man ’yôgana, sprich Pho no grammen, vo r der Herausbildung der Silbenschriften hiragana und katakana auch in Japan einsetzte und das heute no ch in China zur schriftlichen Wiedergabe westlicher Orts- und Perso nennamen Verwendung findet. So wird etwa der Name des Präsidenten der Vereinigten Staaten vo n Amerika, Bush, mit den beiden Zeichen (Bùsī) wiedergegeben und Lo ndo n als (Lúndūn) geschrieben. Der semantische Gehalt der Zeichen spielt dabei keine Rolle. Ein Pro blem beim gemischten Einsatz rein lautwertig so wie nach ihrem Sinngehalt ver-

IV. Schriftkulturen

wendeter Schriftzeichen besteht in der Schwierigkeit, die einen vo n den anderen zu unterscheiden. Das chũ’ nôm umgeht dieses Pro blem, indem es rein pho no lo gisch eingesetzte Schriftzeichen durch graphische Zusätze wie oder kenntlich macht. Diese graphisch als Pho no gramme ausgewiesenen Schriftzeichen wurden in einer Art Mischtext im Zusammenspiel mit genuinen hànzì, die man in Vietnam als „ko nfuzianische Schriftzeichen“ bezeichnete, verwendet. Derart aufgezeichnet sind unter anderem eine Vielzahl literarischer Werke. Mit der Einführung der alphabetischen Verschriftung der vietnamesischen Sprache wurden die chũ’ nôm nach und nach verdrängt; bei einem sehr kleinen Teil der älteren Bevölkerung so ll aber no ch eine gewisse Lesefähigkeit vo rhanden sein. Selbst in Ostasien ist heute vielen Menschen kaum no ch bewußt, daß Vietnam einmal zum hànzì-Kulturkreis gehörte. Die chinesischen Schriftzeichen sind abgeschafft, die Sprache wird mittels lateinischer Buchstaben verschriftet (benutzt wird das in Frankreich übliche lateinische Alphabet zuzüglich diakritischer Zeichen zur To nhöhenwiedergabe). Dieses System wird als Quôc ngu (‘Landessprache’) bezeichnet, geht aber auf ein vo n christlichen Missio naren entwickeltes Transkriptio nssystem zurück, das zum ersten Mal in dem 1651 vo n Alexandre de Rho des herausgegebenen Dictionarivm Annamiticvm, Lusitanvm et Latinvm Verwendung fand. Allgemeine Verbreitung fand dieses Schriftsystem zur Zeit der Nguyen-Dynastie (1802— 1945), zu der das Land seine Blütezeit, auch seine histo risch größte territo riale Ausdehnung erlebte und sich den Namen Việt-Nam (‘Land des Südens’) gab; dem ersten Herrscher der Dynastie, Nguyen Anh (Gia Lo ng), gelang es, das Land mit Hilfe französischer Missio nare po litisch zu einen und eine Dynastie nach dem Mo dell der in China herrschenden Qīng(Mandschu)-Dynastie aufzubauen, stand aber Frankreich und anderen Staaten des Westens o ffen gegenüber. In der Fo lgezeit kamen jedo ch starke anti-westliche Gefühle auf, die Missio nare wurden grausam unterdrückt; schließlich entsandte Frankreich Streitkräfte. Im Vertrag vo n Saigo n (1862) stellte Vietnam einen Teil seines Territo riums unter französische Oberho heit und wurde de facto vo n Frankreich ko lo nialisiert; Ende des 19. Jahrhunderts befand sich das Land völlig unter französischer Ko ntro lle, ein Zustand, der mit dem Zwischenspiel der japanischen

32.  Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì)

Besetzung 1940—1945 bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges anhielt. Auf diese Weise wurde Vietnam teils mit Gewalt dem kulturellen Einfluß Chinas entrissen und entfernte sich damit no twendigerweise vo m hànzì-Kulturkreis. Die Aufzeichnung der Sprache mittels hànzì und/o der chũ’ nôm wurde rasch zugunsten der vo n den Missio naren entwickelten Lateinumschrift aufgegeben, die auch heute no ch das gültige Schriftsystem ist. Hànzì werden nur no ch vo n Teilen der chinesischstämmigen Bevölkerung verwendet; insgesamt spielen sie nicht die geringste Ro lle mehr (→ zur Schriftgeschichte Vietnams ausführlich Art. 27, Zf. 3.).

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Hànzì, hanja und kanji im heutigen Ostasien

4.1. China Mit der Ausrufung der Vo lksrepublik China im Okto ber 1949 brach über die hànzì auch im Land ihres Ursprungs eine Welle vo n Refo rmen herein. Auf Taiwan, in Ho ngko ng und unter der chinesischen Bevölkerung Singapurs lebt die überk o mmene chinesische Schriftkultur — in jeweils mo difizierter Fo rm — fo rt, auf dem Festland jedo ch, wo die überwältigende Mehrheit der Chinesen lebt, änderte sich die die Schriftzeichen betreffende Lage dramatisch. Die Veränderung läßt sich gro b kennzeichnen als Übergang vo n einer „passiven“ zu einer „aktiv geschaffenen“ hànzì-Kultur. In einer Gesellschaft, in der das Vo lk herrschte, galt es, die Ro lle vo n Sprache und Schrift neu zu überdenken, und scho n bald nach der Gründung des Neuen China nahm man die Aufgabe einer grundlegenden Schriftrefo rm in Angriff. Scho n 1940 hatte Máo Zédōng geschrieben, die Kultur des neuen China müsse die der Massen sein, die Sprache dem Vo lk nähergebracht, die Schrift nach einheitlichen Kriterien refo rmiert werden. 1951 gab er dann die Weisung aus, die “hànzì unbedingt in Richtung auf ein pho no lo gisch o rientiertes Schriftsystem zu refo rmieren, wie es in der Welt vorherrscht“. Die ersten aktiven Bemühungen zielten auf drei Punkte: die Etablierung einer Standardsprache, die Schaffung einer pho nemischen Schrift zur Angabe der Lesung vo n hànzì sowie eine Vereinfachung der hànzì selbst. Zuvo r hatte zu allen Zeiten stets nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung die Schrift-

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zeichen beherrscht. Hànzì gehörten zur Welt des Ko nfuzianismus und der Intellektuellen, die große Masse der Bevölkerung war illiterat. Hànzì sind, auch wenn alle, die sie beherrschen, dazu neigen, dies zu vergessen, eine vo n den Zeichenfo rmen her ko mplizierte, schwierig zu lernende und schwer zu schreibende Schrift. Hinzu ko mmt die aufgrund des ideo graphischen Charakters der Zeichen no twendige schiere Zahl, die den Schrifterwerb extrem zeitaufwendig macht. Da es jedo ch in China, vo r allem im zivilisato risch und kulturell maßgeblichen Hàn-China, keine andere Schrift gab, blieb nichts anderes übrig, als zur Aufzeichnung der Sprache eben diese ko mplexen Schriftzeichen zu verwenden. Ihre Erlernung erfo rderte langen Unterricht und ein entsprechendes so ziales Umfeld, so daß die der Schrift Kundigen schließlich eine privilegierte Schicht bildeten, die die Gesellschaft beherrschte. Die als ein wesentlicher Bestandteil der Sprach- und Schriftrefo rmen der Vo lksrepublik in Angriff geno mmene Vereinfachung der hànzì zielte darauf, eben diesen Zustand zu überwinden und die Schrift der breiten Mehrheit des Volkes zugänglich zu machen. Bestrebungen zur Vereinfachung der Schriftzeichen sind allerdings keine Erfindung der Vo lksrepublik; sie haben eine lange Traditio n. Die Geschichte der hànzì ist eine Geschichte der Bemühungen, sie zu vereinfachen. Bei jeder Entwicklung der Zeichenfo rmen — vo n den Kno cheninschriften zur Siegelschrift, zur Ko nzeptschrift und vo n do rt zu den fließenden Linien der Halbkursiva und der Grasschrift (→ Art. 26) —, bei jedem Bemühen, schneller zu schreiben, ging es im Grunde immer nur um eines: die Schrift so weit wie möglich zu vereinfachen. Auch Verfahren wie die Vereinfachung vo n Radikalzeichen bzw. Klassenhäuptern innerhalb der quadratischen No rmschrift o der die Ersetzung ko mplizierter Zeichenbestandteile durch gleichlautende einfachere waren ganz gewöhnlich. Was man im Alltag schrieb, waren nicht die Zeichen der ko nfuzianischen Lehrtexte o der die der amtlichen Beamtenprüfungen, so ndern jene vereinfachten Kurzzeichen. Dies belegen eine Vielzahl der zu Beginn dieses Jahrhunderts aus den Höhlen vo n Dūnhuáng gebo rgenen alten Schriftro llen, aber auch viele Druckwerke, die nach der Sòng-zeitlichen Erfindung des Buchdruckes hergestellt wurden und nicht zum klassischen ko nfuzianischen Kano n gehören, zum Beispiel Werke

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der beliebten Sitten- und Unterhaltungsliteratur; sie alle enthalten vereinfachte Schriftzeichen. Und selbst jene, die die Schrift beherrschten, benutzten bei privaten Aufzeichnungen, bei No tizen o der im Briefwechsel mit vertrauten Perso nen nicht die Vo llfo rmen ko mplizierter hànzì, so ndern Kürzel und Kurzzeichen. Diese „in der Fo rm vereinfachten Zeichen“ (jiǎntǐzì, eine Bezeichnung, die heute in China für die mo dernen Kurzzeichen benutzt wird) wurden „abgekürzte“ (lüèzì) o der „Vulgärzeichen“ (súzì) genannt und ausschließlich vo n bestimmten Schichten bzw. zu beso nderen Gelegenheiten verwendet; sie galten weniger als die Vo llfo rmen. Mit der Diskussio n um die No twendigkeit einer allgemeinen Schulbildung und angesichts der Tatsache, daß die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung weder lesen no ch schreiben ko nnte, wurden diese ehemals nicht „gesellschaftsfähigen“ Zeichen jedo ch in neuem Licht gesehen und als vo lksnahe, einfache Schrift pro pagiert, die weiter verbreitet werden müsse. Die vo n der Regierung der Vo lksrepublik China erlassenen Bestimmungen zur Refo rm der Schriftzeichen wurden im Januar 1956 als Hànzì jiǎnhuà fāng’àn ( cǎo’àn) (‘Programm zur Vereinfachung der chinesischen Schriftzeichen’) veröffentlicht. Das Pro gramm bestand aus drei Teilen: aus einer Liste vo n insgesamt 230 bereits in Zeitungen und Zeitschriften verwendeter und mithin gut bekannter Kurzzeichen; die entsprechenden Vo llfo rmen wurden außer Kraft gesetzt und durften nur no ch in Nachdrucken klassischer Werke und ähnlichen So nderfällen benutzt werden; zweitens aus einer Zusatzliste vo n 285 vo rläufigen Kurzzeichen, die zwar als unpro blematisch galten, deren Akzeptanz durch die Öffentlichkeit aber abgewartet werden so llte; drittens aus einer Liste 54 abgekürzter Radikale, auf deren Basis sich eine Fülle weiterer Kurzzeichen schaffen ließ (= alle Zeichen, in denen einer der abgekürzten Radikale Bestandteil war). Die Regierung betrieb diese Schriftpo litik mit gro ßer So rgfalt und Vo rsicht; die Kurzzeichen wurden jedo ch vo n der Öffentlichkeit mit Begeisterung aufgeno mmen und setzten sich bald in amtlichen Publikatio nen ebenso wie in Zeitschriften und Zeitungen als o ffizielle Fo rmen der Schriftzeichen durch. Im Mai 1964 erschien dann eine ‘Generalliste vereinfachter Schriftzeichen’ (jiǎnhuàzì zǒngbiǎo), die die Bestimmungen zur Abkürzung vo n Radikalzeichen weiter spezifizierte und alle

IV. Schriftkulturen

zugelassenen Kurzzeichen im Überblick bo t. Eine weitere „Liste vo n Zeichenfo rmen zur Verwendung in Druckerzeugnissen“ setzte einen letzten Standard, vo n dem lediglich Nachdrucke klassischer Werke ausgeno mmen waren. Die scharfe Haltung der Kulturrevo lutio n gegen alle überko mmenen Machtstrukturen trug das ihrige zu einer weiteren Förderung der Kurzzeichen bei; immer mehr auch nicht amtlich zugelassene Kürzel wurden geschaffen und erfreuten sich weiter Verbreitung. Diese ino ffiziellen, aber allero rten verwendeten Kurzzeichen führten nach der Zerschlagung der Kulturrevo lutio n zu einem nicht unerheblichen Durcheinander in der Schriftzeichenverwendung, zu dessen Entwirrung im Dezember 1977 ein „Zweites Pro gramm zur Vereinfachung der Schriftzeichen“ veröffentlicht wurde, das aber tro tz o der gerade wegen der Inklusio n einer Vielzahl ino ffizieller Kurzzeichen auf wenig Gegenliebe stieß und im Januar 1986 wieder außer Kraft gesetzt wurde. Unter den aufgeführten Zeichen hatten sich nicht wenige nur regio nal bekannte bzw. an Institutio nen und Organisatio nen gebundene Sonderformen befunden. Der Einsatz und die Verbreitung vo n Kurzzeichen sind jedo ch kein Pro blem mehr, das sich auf einen Streich po litisch lösen ließe. Die Zeichen haben eine Eigendynamik entwickelt, die sich nicht einfach per Beschluß sto ppen läßt. Tatsächlich sieht man heute überall in China in den Geschäftsstraßen und Ladengassen eine Flut neu geschaffener, amtlich nicht sanktio nierter Kurzzeichen, und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen. Tro tzdem gibt es nirgendwo ko nkrete Ansätze, die hànzì gänzlich abzuschaffen. Lǔ Xùn (1881—1936), der Vater der mo dernen chinesischen Literatur und zugleich Schriftrefo rmer und eifriger Verfechter des Einsatzes des lateinischen Alphabetes, hatte die extreme Ansicht vertreten (entweder gingen die hànzì unter o der aber China), und auch Máo Zédōng hatte sich, wie erwähnt, für eine Entwicklung hin zu einer pho no ol gisch ausgerichteten Schrift eingesetzt. Gleichwo hl liegt die vo n China langfristig angestrebte Abschaffung der hànzì und ihre Ersetzung durch ein pho no lo gisches Schriftsystem im Sinne Lǔ Xùns und Mao s wo hl no ch in weiter Ferne. Das als erster Schritt in diese Richtung geschaffene No tatio nssystem hànyǔ pīnyīn dient nur als pho netische Hilfsschrift für die hànzì; zur ausschließlichen Aufzeichnung der

32.  Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì)

chinesischen Sprache wird es nicht eingesetzt. Ein System, das diese Funktio n übernehmen könnte, wurde bisher no ch nicht entwickelt. Zudem eröffnen sich auch in China immer neue Metho den der maschinellen und elektro nischen Schriftzeichenverarbeitung, so daß die hànzì wo hl no ch lange ihren Platz als wesentlicher Träger der Kultur Chinas werden behaupten können (→ Art. 69). 4.2. Korea In Ko rea werden heute vo rnehmlich zwei Schriftsysteme eingesetzt, nämlich die vo r etwa 500 Jahren entwickelte Buchstabenschrift han’gŭl und die chinesischen Schriftzeichen (hanja), die, wie beschrieben, vo r rund zweitausend Jahren auf der ko reanischen Halbinsel heimisch wurden. Die han’gǔl hatten sich in den jahrhundertelang vo m Ko nfuzianismus und dem chinesischen System der Beamtenprüfungen geprägten Ländern der ko reanischen Halbinsel lange Zeit nicht als Amtsschrift durchsetzen können; sie galten als „Vulgär-“ bzw. als „Frauenschrift“. Heute ist das ganz anders. Wer sich in Ko rea zurechtfinden will, ko mmt um eine Kenntnis der han’gǔl nicht herum. Firmen- und Ladenschilder so wie Reklametafeln sind fast ausschließlich in han’gül gehalten, und die Busse und Bahnen in Seo ul geben sämtliche Ortsangaben und Haltestellen nur in han ’gŭl. Der Siegeszug dieser Schrift begann Ende des 19. Jahrhunderts; ursprünglich war eine Verdrängung o der gar Abschaffung der chinesischen Schriftzeichen nicht vo rgesehen gewesen; die han’gŭl so llten nicht mehr sein als Ko mpo nente einer hanja-han’gŭl-Mischschrift. Nach der Besetzung Ko reas im Jahre 1910 stand das Land bis 1945 unter japanischer Verwaltung. Der Bevölkerung wurde verbo ten, auf ko reanisch zu ko mmunizieren; sie hatte sich in der Fremdsprache Japanisch zu verständigen und schriftlich im japanischen kanji-kana-Mischstil auszudrücken. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung vo n der japanischen Herrschaft wurde auch die traditio nelle Vo rmachtstellung der hanja gebro chen; die Ro lle der o ffiziellen Amtsschrift kam den han’gŭl zu. Eine wichtige Ro lle spielte dabei der Beschluß des auf Weisung der amerikanischen Militärverwaltung eingesetzten „K o reanischen Ausschusses für Schule und Ausbildung“ (Chosŏn kyoyuk simŭihoe) vo m Dezember 1945, nach dem in den Lehrbüchern

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der Grund- und Mittelschulen ausschließlich han’gǔl zu verwenden waren; hanja durften nur in Ausnahmefällen beigegeben werden und standen dann in Klammern. Damit war die Po litik, das Ko reanische grundsätzlich mit han’gŭl zu verschriften, vo rgegeben, auch wenn man die chinesischen Schriftzeichen nicht gänzlich verbannte. Ähnliche Maßnahmen ergriffen die Amerikaner in Japan, wo bei die Sto ßrichtung hier auf einer Limitierung der Zahl der zugelassenen Schriftzeichen lag. Inmitten der Umwälzungen überko mmener Wertvo rstellungen und der gesellschaftlichen Wirren der Nachkriegszeit machten die amerikanischen Besatzer und auch ein Teil der Japaner in etwas irratio naler Argumentatio n die hànzì bzw. kanji als die Wurzel allen Übels aus, als Band und als Fessel, mit dem der japanische Militarismus ehedem seine geplante „Gro ßasiatische Wo hlstandssphäre“ hatte zusammenhalten wo llen. So wurden in Ko rea wie in Japan Maßnahmen zur Beschränkung der Zeichenzahl getro ffen; aber weder hier no ch do rt waren die hànzì blo ß Mittel zur Aufzeichnung der Sprache, so ndern aufs engste mit der Geschichte und der Kultur des Landes verwo ben, ein kulturelles Erbe, das sich nicht einfach igno rieren ließ. Im Schulunterricht richtete man deshalb, um die Verbindung zur Kultur der Vergangenheit nicht ganz abreißen zu lassen, ein Fach kambun bzw. hanmun ‘Klassisches Chinesisch’ ein. Ausgeno mmen vo n dem erwähnten ko reanischen Schulbuchbeschluß waren alle anderen Schriften und Druckerzeugnisse; in Zeitungen und Zeitschriften ebenso wie in amtlichen Publikatio nen wurde eine hanja-hangŭl-Mischschrift verwendet (eine Ausnahme bildeten Werke der erzählenden Pro sa, die bereits seit der Yi-Dynastie fast ausschließlich in han’gǔl fixiert wurden). Als Maßnahme zur weiteren Förderung der han’gŭl-Bewegung erließ die ko reanische Regierung im Herbst 1948 ein „Gesetz zur ausschließlichen Verwendung vo n han’gŭl“, erlaubte aber in einer Zusatzklausel „bis auf weiteres auch den Gebrauch vo n hanja“; dieses „bis auf weiteres“ wurde jedo ch nicht zeitlich spezifiziert, was das Gesetz wirkungslo s machte. Anders verhielt es sich mit dem 1955 vo m ko reanischen Kultusministerium verkündeten „han ’gŭl-Gesetz“. Do rt heißt es: „Alle amtlichen Publikatio nen, Zeitungs- und Zeitschriftentexte so wie für die breite Öffentlichkeit bestimmten Publikatio nen sind ausschließlich

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in han’gŭl zu halten. Bei wissenschaftlichen Texten können Fachtermini jedo ch zusätzlich in hanja gegeben werden; sie stehen dann in Klammern.“ Der ausschließliche Gebrauch vo n han’gŭl wurde überall auf Plakaten, Po stern und Schildern pro pagiert; nach und nach verschwanden die chinesischen Schriftzeichen aus dem öffentlichen Leben. Ab 1961 wurden auch Gerichtsurteile nur no ch in hangŭl verfaßt. Die in den sechziger Jahren no ch verstärkt betriebene han’gŭl-Po litik der Regierung kulminierte schließlich in einer vo m Präsidenten der Republik am 25. 10. 1968 erlassenen Direktive, in der es unter anderem heißt: 1. Mit Wirkung vo m 1. Januar 1970 sind nicht nur die vo n staatlichen und amtlichen Stellen verfaßten Schriftstücke, so ndern sämtliche Texte jedweder Art ausschließlich mit han’gǔl zu schreiben. Texte, die chinesische Schriftzeichen enthalten, haben keine Gültigkeit. 2. Die Entwicklung vo n han’gŭl-Schreibmaschinen ist zu fördern; sie sind überall zu verbreiten. 3. Das 1948 erlassene „Gesetz zur ausschließlichen Verwendung vo n han’gŭl“ wird revidiert; die hanja-Zusatzklausel wird mit Wirkung vom 1. Januar 1970 aufgehoben. 4. In sämtlichen Schulbüchern sind keinerlei chinesische Schriftzeichen mehr zu verwenden. 5. Die Umschreibung aller klassischen Werke in han’gǔl ist voranzutreiben. Die Rigidität dieser Bestimmungen stieß in der Bevölkerung auf erheblichen Unmut; gleichwo hl setzte die Regierung auf der Basis der Direktive einen „Ausschuß zu Fragen der ausschließlichen Verwendung vo n han’gǔl“ (Han’gŭl chŏnyong wiwŏnhoe) ein und veranlaßte eine Reihe durchgreifender Maßnahmen, etwa die Abschaffung der 1951 festgelegten und danach im Schulunterricht vermittelten Liste vo n 1300 „Pflichtzeichen“ (kyoyuk hanja). Ab 1970 erschienen in amtlichen Publikatio nen so wie in Gesetzestexten keine chinesischen Schriftzeichen mehr, und ab März desselben Jahres verschwanden sie aus den Lehrbüchern der Grund- und Mittelschulen so wie der gymnasialen Oberstufe. Zeitungen, Zeitschriften und andere nicht-amtliche Veröffentlichungen hielten jedo ch tro tz der rigiden Maßnahmen der Regierung am herkömmlichen ko reanisch-chinesischen Mischstil (KukHan honyongch’e) fest, so daß der Gebrauch vo n hanja in der ko reanischen Gesellschaft

IV. Schriftkulturen

nach wie vo r verwurzelt ist. Die ausschließliche Verwendung vo n han’gǔl ko nnte sich unangefo chten aller po litischen Bemühungen bis heute nicht durchsetzen. Der starke Widerstand der Bevölkerung führte ganz im Gegenteil zu Zugeständnissen seitens der Regierung. 1972 kam sie nicht umhin, eine 1800 Einheiten umfassende Liste vo n „Essentiellen chinesischen Schriftzeichen für den hanmun-Unterricht“ (hanmun kyoyukyong kich’o hanja) zu erlassen, die ab 1975 in den Schulbüchern der Mittel- und Oberstufe auftauchten. In Zeitungen, Zeitschriften usw. finden wir deshalb heute einen mit hanja durchsetzten Mischstil, während alle regierungsamtlichen Publikatio nen ausschließlich in han’gŭl gehalten sind. Eine wesentliche Ursache für das Scheitern der Schriftpo litik der Regierung liegt in der Fülle der ins Ko reanische integrierten Sinismen. Etwa 70% des in Wörterbüchern do kumentierten ko reanischen Wo rtschatzes sind der Statistik zufo lge chinesischen Ursprungs. Die Vielzahl der darunter befindlichen Ho mo pho ne führt bei reiner han’gŭl-Schreibung zu semantischen Unklarheiten, die sich letztlich nur durch eine Ersetzung des betreffenden sin o ok reanischen W o rtschatzes durch reinko reanisches Wo rtgut vermeiden ließen. Eine Ersetzung dieser seit Jahrhunderten und länger in der ko reanischen Sprache fest verankerten Sinismen — wenn sie denn möglich ist — hieße aber nichts weniger als eine tiefgreifende Veränderung der Sprache an sich. Die Pro blematik eines so lchen Unterfangens liegt auf der Hand. Die Wahl han’gǔl o der hanja — die Pro blematik der Aufrechterhaltung o der NichtAufrechterhaltung des kulturellen Erbes einmal beiseite — ist demnach keine allein die Art der Verschriftung betreffende Frage, so ndern wirkt sich unmittelbar bis in die Struktur der Sprache aus. Eine zweite Ursache für das letztliche Scheitern der Bemühungen, die chinesischen Schriftzeichen gänzlich abzuschaffen, dürfte im internatio nalen Ko ntext zu suchen sein. Ko reas einflußreichste o stasiatische Nachbarn sind Japan und China (einschließlich Taiwan und Ho ngko ng), und in beiden Ländern werden nach wie vo r hànzì verwendet. Eine einseitige Abko ppelung Ko reas vo n der hànzì-Traditio n wäre po litisch und auch wirtschaftlich zumindest nicht von Vorteil. Neuerdings sind in Ko rea ganz im Gegenteil Bestrebungen im Gange, die alte hanjaKultur wieder aufleben zu lassen. Überall

32.  Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì)

werden in privaten und kirchlichen Einrichtungen chinesische Schriftzeichen gelehrt, und der Unterricht wird nicht nur Kindern erteilt; auch viele Erwachsene frequentieren nach der Arbeit o der in ihrer Freizeit diese Einrichtungen. Das ko reanische Tauziehen um hanja und han’gŭl ist no ch nicht entschieden; o b es am Ende wie in No rdko rea zu einer Abschaffung der chinesischen Schriftzeichen ko mmt, bleibt offen. 4.3. Japan Die nach dem Zweiten Weltkrieg auf Drängen der amerikanischen Militärverwaltung auch in Japan fo rciert betriebene Schriftrefo rm betraf hinsichtlich der chinesischen Schriftzeichen (kanji) zwei Aspekte: eine graphische Vereinfachung der Schriftzeichen und eine Reduzierung der Zeichenzahl. Ehedem als „Vulgärzeichen“ (zokuji) o der „abgekürzte Schriftzeichen“ (ryakuji) — beispielsweise statt , statt , statt , statt oder statt — bezeichnete kanji galten nach der Refo rm als o ffiziell und ko rrekt. Diese vereinfachten Fo rmen seien leichter zu erlernen und leichter zu schreiben, ein aus pädago gischer Sicht durchaus vertretbarer Standpunkt. Unter den dekretierten neuen Fo rmen befanden sich aber auch so lche, die aus semantischer bzw. etym o ol gischer Sicht nicht unpr o blematisch waren. So ersetzte man zum Beispiel ‘Kunst’ durch das ursprünglich ‘Gras mähen’ bedeutende o der verkürzte den wesentlichen Zeichenbestandteil

(‘zwei Menschen

nebeneinander’:‘fo lgen, begleiten’), etwain ‘fo lgen, geho rchen’ zu einem etymo lo gisch nicht vertretbaren . Eine Fo lge dieser Verkürzungen war, daß Gymnasiasten und selbst Studenten heute ältere Texte, die no ch die Vo llfo rmen der Schriftzeichen (seiji ‘korrekte Schriftzeichen’) enthalten, nicht mehr lesen können. Vo n wesentlich größerer Tragweite als die Vereinfachung der Schriftzeichenfo rmen war jedo ch die Beschränkung der für den amtlichen Gebrauch und die schulische Ausbildung zugelassenen kanji: 1946 wurde per Kabinettsbeschluß eine entsprechende 1850 Schriftzeichen umfassende Liste pro mulgiert (tôyôkanjihyô). Im Fo lgejahr wurde eine Liste der diesen Zeichen zuzuo rdnenden sino japanischen und reinjapanischen Lesungen nach-

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gereicht, eine neue No rm, die der Willkürlichkeit und Arbitrarität, die bis dahin zumindest theoretisch geherrscht hatte, Einhalt gebot. Der Gebrauch ausschließlich dieser 1850 Standardschriftzeichen war zwar, vo n den Schulbüchern einmal abgesehen, nicht zwingend vo rgeschrieben, wurde aber für Gesetze und andere amtliche Schriftstücke so wie Zeitungen, Zeitschriften usw. dringend empfo hlen — eine Empfehlung, die sich in den fo lgenden Jahren immer mehr durchsetzte und die Verschriftlichung (wegen der gleichzeitigen Verwendung der beiden Silbenalphabete hiragana und katakana allerdings nicht die Ortho graphie im Sinne vo n Rechtschreibung) des Japanischen weitgehend standardisierte. 1981, dreieinhalb Dekaden nach ihrer ersten Pro mulgatio n, wurde die Liste auf Drängen vo n u. a. Zeitungsverlagen und nach langjährigen Beratungen des „Ausschusses für Fragen der Landessprache“ (kokugo shingikai)schließlich um 95 kanji auf 1945 Schriftzeichen erweitert. Diese Erweiterung und die in der Präambel der bis heute gültigen neuen Liste (jôyôkanjihyô) angedeutete zusätzliche Lo ckerung der gesellschaftlichen Verbindlichkeit rief bei den Verfechtern einer Schriftzeichenbegrenzung zeitweise heftige Reaktio nen hervo r und wurde als „reaktio näre Schriftpolitik“ gebrandmarkt. Fo rderungen, die Schriftzeichen vo n der Zahl her zu begrenzen o der gar völlig abzuschaffen, hatte es zuvo r in Japan häufig gegeben, verstärkt ab Mitte der zwanziger Jahre im Zusammenhang mit der Mo dernisierung des Landes, die, wie es hieß, auch die Schrift einschließen müsse. Das Ziel vo r allem vieler Unternehmen war, ihre Geschäftsko rrespo ndenz ratio neller und schneller abwickeln zu können. Die Lösung lag in einer Auto matisierung der Schriftverarbeitung nach dem Mo dell westlicher Schreibmaschinen, das allerdings nur zwei Möglichkeiten bo t: den ausschließlichen Einsatz entweder der japanischen Silbenschriften o der aber eine Verschriftung der Sprache mittels lateinischer Buchstaben. In beiden Fällen hatten die kanji auf der Strecke zu bleiben. Tatsächlich wurde in der Fo lge ein „kana-Typewriter“ entwikkelt, eine Schreibmaschine, die statt Buchstaben mit den Zeichen der japanischen Silbenalphabete bestückt war; sie kam kurzfristig und in beschränktem Umfang zum Einsatz, konnte sich letztlich aber nicht durchsetzen. Einen Ausweg bo t schließlich Ende der 70er Jahre die Co mputertechno lo gie, die mit der Entwicklung der so genannten „Wo rtpro zesso ren“, d. h. mit Drucker und Mo nito r versehenen Kleinco mputern zur elektro nischen Textverarbeitung, auch die Verarbei-

IV. Schriftkulturen

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tung chinesischer Schriftzeichen und damit die Beibehaltung des traditio nellen kanjikana-Mischstiles (kanji-kana-majiribun) ermöglichte. Diese leicht zu bedienenden, ho cheffizienten elektro nischen Schreibmaschinen, die heute in Japan überall, auch in privaten Haushalten, verbreitet sind, nahmen der Bewegung für eine Reduzierung der Schriftzeichen eines ihrer gewichtigsten Argumente — die chinesischen Schriftzeichen ließen sich elektro nisch nicht o der nur unter ho hem Ko stenaufwand verarbeiten. Die japanische Industrieno rm (Japanese Industrial Standard, JIS) stellt für die elektro nische Datenverarbeitung zwei Zeichensätze zur Verfügung, die neben den Silbenschriften, den Buchstaben des lateinischen und griechischen Alphabetes, Numeralia, So nderzeichen etc. (insgesamt 524 Einheiten) 6355 kanji enthält (Satz 1: 2965, Satz 2 (1990 um 2 kanji erweitert): 3390 Zeichen). Nicht zu dieser No rm gehörende Schriftzeichen können bei allen Wo rtpro zesso ren über ein So nderpro gramm vom Benutzer selbst erstellt werden. Im Regelfall reichen die Industrieno rmen 1 und 2 völlig aus; Spezialisten, etwa Wissenschaftler o der Jo urnalisten, sto ßen jedo ch nicht selten auf Schriftzeichen, die in beiden Sätzen nicht enthalten sind; so kann per Wo rtpro zesso r etwa der Vo rname, nicht aber der Familienname des chinesischen Po litikers Deng Hsiao -ping (Deng) generiert werden; ebenso lassen sich nicht alle der in den japanischen Literaturdenkmälern Kojiki und Man’yôshû o der selbst in den Werken der mo dernen Klassiker Mo ri Ôgai (1862—1922) o der Natsume Sôseki (1867—1916) enthaltenen Zeichen darstellen. So wird das Schriftbild japanischer Texte heute in gro ßem Umfange vo n Ingenieuren und So ftwareherstellern beeinflußt, die Industrieno rmen umsetzen. Schreibende, die mit Wo rtpro zesso ren arbeiten, sind mithin in der Wahl ihrer kanji nie ganz frei — selbst wenn sich der neueste, im Okto ber 1990 vo m japanischen Wirtschaftsministerium (MITI, Ministry fo r Internatio nal Trade and Industry) unterbreitete Vo rschlag einer 5801 Zeichen umfassenden Ergänzungsliste schließlich durchsetzen sollte.

5.

Literatur

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Tetsuji Atsuji, Ôsaka (Japan) übersetzt von Jürgen Stalph

33.  The Sphere of Indian Writing

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33. The Sphere of Indian Writing 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

Writing in ancient India Indian scripts Written tradition Official languages Language development Written languages and education Literacy in modern India Publications Written word in the sphere of Indian writing References Appendix: Survey of living languages in India

1.

Writing in ancient India

The histo ry o f writing in India has remained a vexed and o pen questio n. The o rigin o f writing has been linked to the first datable evidence o f the deciphered Asho ka edicts o f the third century BC; yet the literary histo ry o f India, acco rding to Whitney (1964, xv) co uld easily be as o ld as 2000 BC. It is generally agreed that the o ldest Indian literature must have already reached its peak well befo re histo rical times. The dating o f ancient Indian literature is based largely o n linguistic evidence which distinguishes the language o f the Vedas fro m the later Classical Sanskrit which is highly co dified. There is no do ubt that the Vedic language predates Sanskrit and its sister Prakrits including Pali, but the precise date o f the co mpo sitio n o f the Vedas will perhaps never be agreed upo n. Altho ugh no do cumentary o r palaeo graphic evidence prio r to the Asho kan edicts exists, the earliest Sanskrit literature is datable with reference to Buddhist literature which was written befo re the fo urth century BC. The Sanskrit language itself is datable fro m the scientific treatises o n grammar which are o ver 2500 years o ld. Panini’s grammar o f Sanskrit o f the sixth o r fifth century BC, mentio ns ten grammarians who precede him but who se wo rks have no t survived (Ananthanarayana 1976, 5—6). By and large, western scho lars base their estimatio ns o f the dates o f vario us literary texts o n histo rical evidence such as acco unts by Greek histo rians o r Chinese travellers who came to India as Buddhist pilgrims in the fifth to seventh centuries AD (Winternitz 1981, 23—25). The linguistic evidence o f relatedness o f Sanskrit to o ther Indo -Euro pean languages is o ften used in suppo rt o f linking the use o f writing in India to the develo pment and practice o f writing in the Middle East, ancient Greece and Ro me. The Indian tradi-

tio n, o n the o ther hand, which is gro unded in legend and ritual, links literary texts and writing to divine revelatio n. Either way, the o rigin o f Indian literature will co ntinue to be a subject fo r speculatio n. As Whitney (1964, xix) states: „All dates given in Indian literary histo ry are pins set up to be bo wled do wn again.” 1.1. Oral versus written It is generally believed that the bulk o f ancient Indian literature o riginated witho ut the art o f writing and was transmitted o rally fo r centuries. The ancient Indian grammarians are said to have perfected the metho d o f reducing rules o f grammar into algebraic fo rmulas ensuring the co rrect pho netic renderings o f all texts. Memo rizatio n o f literary texts was co nsidered to be the o nly metho do lo gy fo r the learning and transmissio n o f such texts (Whiternitz 1981, 33). The earliest Indian literature is said to belo ng to 2000 BC, the Indian writing system is believed to go back to 500 BC, and the Asho kan edicts which are the earliest extant samples o f writing in India belo ng to the third century BC (Co ulmas 1989, 181; Mo o kerji 1960, 211). This wo uld mean that no t o nly was the vast bo dy o f ancient literature handed do wn o rally fo r fifteen hundred years but that all ancient literature was co mpo sed o rally. The fo ur Vedas co ntain between them o ver a hundred tho usand verses (Karan Singh 1987, 1), which to gether with the innumerable co mmentaries and treatises o n philo so phy, law, medicine, mysticism, grammar and a ho st o f o ther subjects make up a mo st fo rmidable vo lume o f literary creatio n. And yet all this bulk is believed to have been faithfully handed do wn o nly by wo rd o f mo uth witho ut disto rtio n. While it canno t be do ubted that the memo rizatio n o f texts must have been linked with religio us ritual, it is natural to speculate whether such a vo lume o f literature co uld have co me into existence witho ut writing. As Chatterji (1966, 54) puts it: „Go o d, bad o r indifferent, witho ut so me system o f writing the Vedic co mpilatio ns co uld no t co nceivably have been made.” 1.2. Vedic literature The Vedic perio d in Indian literary histo ry is recko ned between 2000 BC and 560 BC, the year Gautam Buddha was bo rn. Of the fo ur

IV. Schriftkulturen

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Vedas — the Rig, the Sama, the Yajur, and the Atharva — the o ldest is the Rig Veda which co ntains o ver a tho usand hymns and ten tho usand verses. The Sama Veda, made up largely o f the hymns fro m the Rig Veda, pro vides fo r different readings o f the hymns. The Yajur Veda is significant that in additio n to hymns it also has numero us pro se utterances, co nsidered to be the o ldest examples o f Indo -Euro pean pro se. The Atharva Veda, like the Yajur Veda, carries a number o f brief pro se passages. The hymn material in the Vedas is referred to as mantra and the pro se is called brahmana. The Brahmana traditio n is carried fo rward in the Arnayakas, hermitic texts, and culminates in the Upanishads o f which there are nearly two hundred, and are in the fo rm o f dialo gues between the teacher and the disciples, dealing with pro blems o f human existence. Co llectively, the Upanishads are kno wn as the Vedanta o r the end o f the Vedas (Karan Singh 1987, 3). A further distinctio n is made between the Brahmanas and Sutras, the latter being in the fo rm o f rules such as tho se fo und in Panini’s grammar Ashtadhyayi o r the Dharma-sutras o f Manu which co uld have been written in the sixth century BC. The two great epics, the Ramayana and Mahabharata to gether with the philo so phical po em, the Bhagavad-Gita, also belong to the Vedic period (Whitney 1964, xiii — xxii; Nanavati 1973, 9—37). This entire bo dy o f literature is believed to have been o ral in the absence o f „sure pro o fs o f the existence o f manuscripts o r even authentic info rmatio n abo ut writing do wn texts fro m o lder days” (Winternitz 1981, 27). The Indian traditio n, o n the o ther hand, assigns the writing o f the Mahabharata to the elephant-headed Go d Sri Ganesha who came to the assistance o f the Sage Vyasa who so ught divine interventio n fo r penning the great epic. Acco rding to legend, Sri Ganesha snapped o ff o ne o f his tusks to use as a pen. Wakankar (1968, 6—8) demo nstrates that there are references to „marking” o r „writing” in the Rig Veda, Yajur Veda and in several Aranyakas and Upanishads. In the Bhagavad Gita (10.33) Sri Krishna says „Amo ng letters I am the vowel A, ...” (Judge 1984, 75). 1.3. Buddhist literature It is universally agreed that all the texts o f Vedic literature handed do wn to the present were co mpo sed well befo re 500 BC when Buddhism was bo rn in India. In the Buddhist cano nical literature co mpleted befo re 400 BC,

there is ample pro o f o f kno wledge o f the art o f writing as well as its widespread use. In o ne o f the Buddhist tracts fro m abo ut 450 BC there is mentio n o f children’s games which include guessing o f letters o f the alphabet traced in the air. Instructio n in writing and arithmetic was widespread. There is mentio n in so me o f the texts, o f wo o den writing bo ards and wo o den pens (Nanavati 1973, 162—165). The educatio nal system o f the time was highly structured and there are meticulo us details o f ho w the scho o l and university systems were o rganized. Primary educatio n emphasized mo ral educatio n in additio n to the 3 R’s. The art o f writing was practised by all classes o f peo ple including the trading and co mmercial classes. 1.4. Manuscripts The earliest do cumentary evidence o f writing in the fo rm o f ancient Indian manuscripts is no t o lder than the earliest centuries after Christ. It has been argued that a po ssible reaso n fo r the general lack o f written do cuments co uld be the writing material used in ancient India. The mo st po pular writing materials in ancient India seem to have been birch bark and palm-leaf. The latter is co nsidered to be the o nly appro priate material fo r inscribing religio us texts and co ntinues to be used in the present time. Palm leaves are very fragile and easily destructable in the Indian climate. Manuscripts written o n palm leaves have to be co ntinuo usly reco pied fro m time to time. It is therefo re difficult to co nclude, fro m the o ldest extant palm leaf manuscripts, whether they are the first co pies o f the texts they carry. The pro blem is no t made any easier by the fact that the o ldest texts do no t always identify the autho rs o r the perio d when a text was written. So me o f the o ldest manuscripts fro m the fo urth, fifth and sixth centuries AD have been disco vered in Turkestan, Japan and Nepal. Manuscripts fo und in India are relatively mo re recent — fro m the tenth to twelfth centuries AD (Winternitz 1981, 32—33). Many o f the manuscripts fo und in India are written o n paper and are fro m the thirteenth century o nwards. Numero us manuscripts have been fo und in temples, palaces and private co llectio ns, tho usands o f them have been catalo gued and published. Special manuscript libraries have been established after 1947 to preserve these valuable reco rds. In additio n to the tho usands o f Indian manuscripts scattered all o ver the wo rld, innumerable manuscripts are still in private

33.  The Sphere of Indian Writing

co llectio ns in India and are in the danger o f being destro yed fo r lack o f care and awareness o f their value (Encyclo paedia o f Indian Literature 1989, 2596—2606; P. B. Ray 1992, 135—137).

2.

Indian scripts

The o rigin and use o f scripts in India presents as many pro blems and parado xes as the history of Indian literature (→ Art. 24). 2.1. Ancient scripts The o ldest writing fo und o n the Indian subco ntinent is o n 3,000 seals excavated at many sites o ver a large tract in the no rth and west. These seals fro m the Indus valley civilizatio n, also called the Harappan civilizatio n, belo ng to the perio d 2500 BC to 1600 BC. In the absence o f any reliable bilingual data, it is no t po ssible to assign any meaning to the vario us symbo ls fo und o n these seals. Until the Harappan script is finally deciphered the o rigin o f writing in India will co ntinue to be reckoned from the date of the Ashokan edicts. The Asho ka edicts are scattered all o ver the subco ntinent po inting to widespread literacy. The Asho kan inscriptio ns are in two scripts: the Kharo sthi fo und in the no rthwest, and the Brahmi. Kharo sthi is written fro m right to left. The Kharo sthi script is no t attested after the fo urth century AD (Pattanayak 1981, 95). The Brahmi like Kharo sthi, and unlike the Semitic, is no t a co nso nant script. Every basic sign is a co mbinatio n o f a co nso nant so und plus an inherent vo wel /a/; o ther vo wels are indicated by diacritics added to the basic co nso nant signs; the inherent vo wel can be muted thro ugh a special diacritic; and co nso nant clusters are indicated by ligatures where the inherent vo wel o f all but the last co nso nant is muted (→ Art. 24). The Brahmi also has distinct signs fo r initial vo wels. In all the extant texts, including the Asho kan edicts, Brahmi is written fro m left to right (Co ulmas 1989, 184). The Brahmi is a fully elabo rated script with 44 letters as against the 22 characters in the Semitic script (Winternitz 1981, 27). Despite these features which distinguish it fro m bo th the Semitic and Kharo sthi, western scho lars co nsider the Brahmi script to be a derivative o f the Semitic system o f writing. Ho wever, there is no agreement o n whether the Brahmi belo ngs to the No rth o r the So uth Semitic branch (Dani 1986, 24ff; Rasto gi 1980, passim). There is ano ther bo dy o f o pin-

453

io n which suppo rts the theo ry o f indigeno us o rigin o f Brahmi. Chatterji (1966, 7—11) rejects the Semitic o rigin hypo thesis and po sits a pro to -Brahmi script aro und the tenth century BC which links it to the Late Harappan script o f aro und 1200 BC (cf. S. R. Rao 1985, 6). The pho no lo gical principles that o bvio usly underlie the arrangement o f the vo wel and co nso nant signs in acco rdance with place and manner o f articulatio n make the script a part o f the ancient Indian grammatical traditio n which fo rmed a part o f the Vedic scientific literature (Agrawala 1966, 12). The Brahmi script and its vario us branches all attest the insights o f Indian grammarians into the relatio nship between speech and writing, which is reflected in the pho nemic-syllabic character o f all Indian alphabets. The develo pment o f the Brahmi fro m an earlier Pro to -Brahmi and the Late Harappan scripts seems intuitively acceptable, especially in the light o f the claim that there must have been a writing system in the Vedic perio d. It must be no ted that even the pro po nents o f the Semitic o rigin o f Brahmi reco gnize the fact that the writing system was tho ro ughly redesigned and recreated by the ancient Indians (Co ulmas 1989, 185). Dani (1986, 29—30) states: „Whatever may be the particular so urce o f inspiratio n, Brahmi is a creatio n o f the Indian Pandits. The script has been evo lved to suit the local grammar ...” 2.2. Development of Brahmi Within India the Brahmi develo ped into two distinct branches — the no rthern and the so uthern. One may identify three significant stages fro m the third century BC in the develo pment o f bo th these branches. In the no rth the Gupta Brahmi o f 400 AD was used o ver a very large tract o f land co vering mo st o f no rth India as well as parts o f the so uthern peninsula. During the sixth and seventh centuries a style o f the Gupta Brahmi was called the Siddhamatrika which was widely used fo r writing religio us texts in India, Central Asia and Japan (Agrawala 1966, 13). Between the eighth and tenth centuries the Gupta script develo ped two distinct fo rms — the eastern and the western, the fo rmer giving rise to the Nagari script and the latter to Sharada which co ntinues to be used fo r writing specific Kashmiri texts. The Nagari develo ped further into Devanagari, Pro to -Bengali, and Tibetan. The Sharada script, in turn, gave rise to the Gurmukhi script (Chatterji 1966, 11; Agrawala 1966, 13—14; also cf. Co ulmas 1989, 182).

454

IV. Schriftkulturen

Like the Gupta Brahmi, the Nagari was used o ver a very large area giving rise to numero us lo cal variatio ns called by different names. A versio n o f the Nagari was used in So uth India under the name o f Nandinagari. In So uth India the Brahmi develo ped into the Grantha script which influenced bo th the Tamil and the Malayalam scripts. Aro und the seventh century the Pallava script figures pro minently in the develo pment o f the Tamil-Malayalam writing system. At abo ut the same time there is evidence o f the Kadamba script which, to gether with the Nandinagari, gave rise to the Kannada-Telugu writing systems (Agrawala 1966, 15; Meenakshisundran 1966, 23—27; KV Rao 1966, 28—33). In India the mo dern day descendants o f the Brahmi develo ped between the tenth and sixteenth centuries AD. The evo lutio n o f the vario us scripts has no t been strictly linear. Many branches and sub-branches have crisscro ssed. A script develo ped in o ne part has been carried to ano ther and so metimes rebo rro wed. Fo r example the Khampti language, spo ken in the no rth-east o f India emplo ys a variety o f the Thai script which can be ultimately traced back to the Brahmi thro ugh Pali fro m which have also o riginated the Saimese, Kavi, Burmese, and Sinhalese scripts. Likewise, Ladhaki languages spo ken in the no rth use the Tibetan script which is an o ffsho o t o f the Nagari script (cf. Pattanayak 1981, 42). Such o verlaps result in co nflicting analyses and multiple relatio nships. Fo r instance the Gurmukhi script which is used fo r writing Punjabi is derived fro m the Sharada script by Chatterji (1966, 11), and from the Devanagari by Coulmas (1989, 182). 2.3. Present-day writing systems Nine majo r scripts derived fro m the Brahmi are used to write mo st o f the majo r Indian languages. The Devanagari is used to write Hindi, Marathi and Sanskrit. Bengali is written in the Bengali script which is also used to write Assamese with mino r additio ns. Gujarati, Kannada, Malayalam, Oriya, Tamil and Telugu is each written in a script that bears the name o f the language, e. g. Gujarati is written in the Gujarati script, and so o n. Punjabi is written in the Gurmukhi script (cf. Pattanayak 1981, 41—42). In additio n to these nine Brahmi derived scripts, the Persio Arabic script is used fo r writing Kashmiri, Sindhi and Urdu. The Ro man script is used fo r writing English and fo r transliteratio n o f all Indian languages in a variety o f co ntexts.

Fig. 33.1: Transliteration into various Indian lanSatyaguages of the Sanskrit phrase meva jayate — ‘Truth alone triumphs’

Fig. 33.1 pro vides examples o f the presentday scripts, except Ro man, used fo r writing majo r languages o f India. It is impo rtant to no te that the eleven scripts currently used fo r writing the majo r Indian languages, are emplo yed fo r writing the thirty o dd o ther Indian languages which are written. Fro m the earliest times many o f the Indian scripts have been used fo r writing mo re than o ne language. The Devanagari script is an o utstanding example o f a script that is used fo r writing several Indian languages including Sanskrit. The

33.  The Sphere of Indian Writing

Grantha script in So uth India was used fo r writing Sanskrit, Tamil and Malayalam. A mo dified versio n o f the Bengali script is used of r writing Manipuri. The Persio -Arabic script, used fo r writing three o f the majo r languages, is also used fo r writing Punjabi bo th in India and Pakistan. Just as a script may be used by mo re than o ne language, many Indian languages emplo y mo re than o ne script. Punjabi is written bo th in Gurmukhi and the Persio -Arabic, Tamil uses the Grantha in additio n to the Tamil script, Kashmiri uses the Sharda and the Persio -Arabic. Sindhi was, at o ne time, written in fo ur scripts — Devanagari, Persio -Arabic, Gurmukhi and Hattai. When a language emplo ys mo re than o ne script, each script takes o n specific so cio linguistic functio ns — o ne used by men and ano ther by wo men, o ne fo r sectarian functio ns and the o ther fo r secular, and so o n (Pattanayak 1981, 42, 94—99; Ferguso n 1992, 28; Daswani & Parchani 1978, 93—94; 1979, 61; 1985, 223—24; cf. N. C. Chaudhuri 1968, 44). 2.4. Common script There are stro ng script lo yalties in India. Altho ugh all the Indic scripts have derived fro m the Brahmi, all the mo dern scripts have distinct identities and staunch adherents. In the mo dern co ntext the pro po sal fo r writing all the Indian languages in o ne script has been co nsidered bo th at the o fficial go vernmental level and at the intellectual-theo retical level. The central argument in favo ur o f a co mmo n script is based o n the criteria o f efficiency and techno lo gical viability. It has been argued that multiplicity o f scripts can be a hinderance in the running o f a mo dern natio n state, hence all the Indian languages sho uld be written in o ne script; at the same time, the co mmo n script sho uld be able to facilitate techno lo gical inno vatio ns. The Ro man script was pro po sed as a likely candidate (Chatterji 1960, 304—307; P. S. Ray 1963, 92—105). The o ther o bvio us co ntender has been the Devanagari script. In 1966 the Ministry o f Educatio n, Go vernment o f India, pro po sed an augmented Devanagari as a co mmo n script fo r Indian languages. The Devanagari, it has been argued, wo uld be better since it is an indigeno us script and is widely used all o ver the co untry. Bo th the Ro man and the Devanagari co uld fulfil the requirement o f efficiency, but the Devanagari is co nsidered to be mo re authentic culturally and linguisti-

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cally. Ho wever mo st pro po sals fo r a co mmo n script have failed because no language co mmunity is willing to o pt fo r a script o ther than the traditio nally used script. In the meantime, script as an identity marker has beco me mo re strengthened as hitherto unwritten languages have been reduced to writing. While the state po licy legislates the use o f the do minant regio nal script fo r newly written languages, a number o f such languages have so ught to develo p new scripts, so me derived fro m the Indic scripts, o thers to tally different (Daswani 1976, 36—42; 1975 b, 182—185; Pattanayak 1981, 42, 94—109).

3.

Written tradition

Fo urteen mo dern Indian languages can claim lo ng written traditio ns. Ten o f the fo urteen languages derive fro m Sanskrit and fo ur have evo lved fro m ancient Dravidian which, in fact, pre-dates Sanskrit. It is agreed that mo st o f these mo dern languages emerged as literary languages aro und the tenth century AD, yet several can demo nstrate an unbro ken literary histo ry o f several hundred years befo re the tenth century. Standard Hindi has a mo re recent literary histo ry but can be linked to Sanskrit thro ugh the vario us regio nal literary dialects which actually pre-date Hindi and are no w subsumed under it. Likewise, Urdu o ccupies a unique po sitio n amo ng the mo dern Indian languages. It shares its structure with Hindi and still has its o wn distinct literary traditio n fro m aro und 1500 AD drawing upo n bo th the regio nal literary reso urces as well as tho se o f the Persian language and literature (Akhtar 1985, 181 ff; Bhudeb Chaudhuri 1985, 110 ff; Go vindswamy 1985, 119 ff; Gupta 1985, 97 ff; Nayak 1985, 133 ff; Reddy 1985, 160 ff). In additio n to these fo urteen languages, many mo re mo dern Indian languages can claim written traditio ns, albeit mo re recent. The questio n o f determining written status in itself raises a number o f pro blems. In a multi-lingual so ciety with a lo ng written histo ry, there is a co mplex relatio nship between classical languages, vernaculars and dialects. At each stage in the develo pment o f mo dern Indian languages the vernaculars have develo ped fro m spo ken varieties gradually replacing standard literary varieties. As vernacular languages have beco me standardised, regio nal spo ken dialects have taken the place o f vernaculars. The Prakrits co -existed as spo ken languages with the standard literary Sanskrit; as the Prakrits be-

IV. Schriftkulturen

456

came standardised, they yielded to Apabhramshas which in time yielded to the mo dern Indian languages o f the tenth century AD. The develo pment fro m dialect to vernacular to standard written variety co ntinues as hitherto unwritten languages develo p into written literary languages adding to the number o f written languages in India. 3.1. Inventory of living languages It is no t always po ssible to determine the number o f written languages in India at any given po int o f time. In fact the to tal number o f living languages and dialects in India has always been a to pic fo r debate. The Indian Census, carried o ut every ten years, pro vides an invento ry o f mo ther to ngues spo ken by the Indian peo ple. The mo ther to ngues are gro uped under different languages and dialects o n the basis o f linguistic and cultural affinities. Over the past seventy years, different lists o f living languages have been pro po sed. The Linguistic Survey o f India by Sir Geo rge Grierso n pro po sed a list o f 179 languages and 544 dialects (Grierso n 1967, 26), which was different fro m the o ne used in 1921 census with 190 languages and 49 dialects. The Grierso n invento ry has influenced much o f the wo rk o n language taxo no mies carried o ut in India (Shapiro & Schiffman 1981, 70— 115). In 1961 a pheno menal number o f 1652 mo ther to ngues was classified under 193 language names. This invento ry was ratio nalized fo r the 1971 census which lists 105 languages, each with a speaker strength o f 10,000 and abo ve (Mahapatra et al. 1989 a, xvii). Ano ther 106 languages and dialects are subsumed under these 105 language names, making a to tal o f 211 languages (Bhattacharya 1991, 16 n 3). Apart fro m Sanskrit and Tibetan seven o f these 105 languages are either fo reign languages (Arabic, Chinese, Persian and English) o r languages o f do ubtful status (Naga, Kuki, Munda). The remaining 96 languages belo ng to fo ur language families: (i) Austro -Asiatic (Austric), (ii) Dravidian, (iii) Ind o -Aryan (Ind o -Eur o pean), (iv) Tibet o Burman (Sino -Tibetan). In 1971 the 19 Indo Aryan languages were spo ken by 73.93%, the 16 Dravidian languages by 23.95%, the 13 Austro -Asiatic languages by 1.27%, and 48 Tibeto -Burman languages by o nly 0.79% o f the Indian op pulati o n (cf. Mahapatra, McCo nnell, Padmanabha & Verma 1989 a, xvii). The appendix lists all the 105 languages under different language families.

3.2. Criteria for written status No t all o f the 96 living Indian languages in the 1971 list are written languages. In the strictest sense, a language witho ut a script can be co nsidered unwritten. In that sense 14 o f these languages are unwritten (see appendix). But the mere fact o f alphabetizatio n do es no t necessarily qualify a language fo r written status. At least 32 o ther languages, altho ugh they have writing systems, canno t be co unted amo ng the written languages fo r lack o f any significant written traditio n o r co ntinued written activity. Writings in these languages are restricted to spo radic and limited texts such as wo rd lists, grammatical sketches o r religi o us translati o ns. Mahapatra et al. (1989 a, xvii ff) list several criteria fo r determining written status o f a language, o f which two are co nsidered the mo st impo rtant, viz. (i) existence o f printed literature by native speakers o f that language, and (ii) use o f the language in the primary scho o l. The criterio n fo r native literary o utput is significant because many o f the 32 alphabetized languages have so me kind o f learned literature in print pro duced by scho lars such as linguists and anthro po lo gists o r religio us translatio ns by fo reign missio naries. Ho wever, despite these written texts the speakers o f these languages do no t read o r write their languages (Bhattacharya 1991, 7 f). The criterio n fo r a language being used in the primary scho o l is even mo re significant since its use in educatio n pro mo tes the creatio n o f text bo o ks in po pular as well as refined pro se leading to co dificatio n and standardizatio n (cf. Ferguso n 1971, 51—58). Language reshaping, it is believed, is achieved thro ugh literature o f info rmatio n mo re than literature o f imaginatio n. Scho o l text-bo o ks are a step in that directio n. Many o f the Indian languages with mo re recent written histo ries have reaso nable quantity o f no n-narrative pro se. On the o ther hand, the 32 languages with o nly scripts are no t co unted amo ng the written languages because they have neither no n-narrative literature no r scho o l text-bo o ks. Other criteria which determine the written status o f a language relate to do mains such as administratio n, legislatio n, judiciary and the mass media, particularly jo urnalism. The vigo ur o f a written language may also be measured by the number o f translatio ns fro m o ther languages into that language as well as translatio ns fro m it into o ther languages. On such a scale o f criteria o nly 50 o f the 96 Indian

33.  The Sphere of Indian Writing

languages qualify as written languages. A definitio n o f writtenness based o n these criteria is more methodological than ideological. 3.3. Written languages The fifty written languages in the 1971 census list are distributed amo ng the fo ur language families. The fo urteen majo r written languages have ancient literary traditio ns and have been used as languages o f mo dern educatio n fo r a fairly lo ng perio d. They have been used in o ther do mains such as administratio n, judiciary and legislatio n fo r varying perio ds. In additio n to these 14 languages, the 36 o ther languages that qualify as written languages have relatively recent literary traditio ns, mo st o f them in the nineteenth century except fo r Nepali and Manipuri which have literature fro m the eighteenth century. It is no tewo rthy that 22 o f these languages belo ng to the Tibeto -Burman family, and 6 to the Austro -Asiatic; o nly eight belo ng to the o ther two families — Indo -Aryan, 5 and Dravidian, 3. Of the Tibeto -Burman and Austro -Asiatic languages as many as 25 use the Ro man script, so me exclusively and o thers in additio n to the Devanagari o r ano ther Indic script. So me o f them use three scripts, so me even fo ur. The cho ice o f the Ro man script is related to the alphabetizatio n o f these languages by Christian missio naries. Co nsequently, the earliest publicatio ns in these languages are Biblical translatio ns (cf. Ferguso n 1992, 28; Pattanayak 1981, 96). Like the 14 majo r languages, these 36 languages satisfy the two majo r criteria; i. e. they all have printed native literature in varying degrees, and they are used as languages o f instructio n in the primary scho o l. There are scho o l textbo o ks in all these languages, and at least three o f them (Khasi, Ko nkani and Manipuri) are used at the co llege and university levels like the 14 majo r written languages. The majo r difference between the majo r languages and the mo re recently written languages is that o f vo lume and variety o f printed literature. The use o f these languages in o ther do mains is directly related to the status o f so me o f these as official languages. 3.4. Sanskrit as a written language Altho ugh no t co unted amo ng the 50 written languages because o f lack o f current native literature and it no t being used as a language fo r primary educatio n, Sanskrit co ntinues to o ccupy a unique po sitio n amo ng the lan-

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guages o f India. Fo r the Hindus all o ver India Language

% loan words Assamese 47.5 Bengali 61.8 Gujarati 46.3 Hindi 43.2 Kannada 61.7 Kashmiri 7.2

Language

% loan words Malayalam 53.8 Marathi 46.6 Oriya 50.7 Punjabi 25.6 Tamil 13.5 Telugu 54.9

Fig. 33.2: Sanskrit loan-words in some Modern Indian languages in %. (Based on Gandhi 1984, 21)

(and internatio nally) it is the language o f religio n and ritual; Hindu religio us texts are read and recited daily by hundreds o f millio ns o f peo ple. Fo r many centuries Sanskrit has been written in a variety o f alphabets, each part o f the co untry emplo ying the script used fo r the lo cal vernacular (cf. 2.5.); but in Aryan India Sanskrit has lo ng been written in the Devanagari script (Whitney 1964, 1). Admittedly, there is no significant new literary pro ductio n in the language, yet the tho usands o f o lder texts co ntinue to be repro duced and reprinted with a go o d deal o f research co nducted o n Sanskrit as a classical language rich in literature bo th religio us and scientific (cf. 1.2.). Sanskrit is taught in the scho o ls and co lleges as an elective o r o ptio nal subject, and mo st traditio nal universities pro vide fo r specializatio n in Sanskrit. Thro ugho ut the last 4000 years, Sanskrit has influenced o ther Indian languages; it has been a perpetual so urce fo r learned vo cabulary and all Indian languages including Dravidian have Sanskrit ol an-w o rds ob rr o wed at vari o us stages thro ugho ut their develo pment. It is o fficially reco gnized as the so urce fo r creatio n o f technical termino lo gy and fo r the enrichment o f Hindi as the o fficial language (cf. 4.1.; 4.2.). All Indian languages have layers o f Sanskrit lo an-wo rds since all languages keep returning to this so urce fo r enrichment as and when co mmunicative demands have warranted new vo cabularies. In fo rmal written styles all mo dern Indian languages, with the po ssible exceptio n o f Sindhi and Urdu, use Sanskritic tatsama wo rds in preference to the vernacular tadbhava wo rds. An estimate o f the tatsama wo rds in mo dern Indian languages in given in Fig. 33.2 (Gandhi 1984, 21). As a language o f classical literary heritage and immense linguistic reso urces, Sanskrit was included in the list o f scheduled languages in the Co nstitutio n o f India (cf. 4.2.) despite the fact that the number o f peo ple claiming

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Sanskrit as their mo ther-to ngue is very small; in 1981 their number was a mere 2,946 peo ple (Census o f India 1981; 1987, 3). Ho wever, the number o f mo ther-to ngue speakers is no t a true reflectio n o f the status o f Sanskrit in India. Fo r that matter there has been an unending debate o n whether Sanskrit was ever a spo ken language (N. C. Chaudhuri 1968, 43; Ho ck 1992, 247 f), fo r it is argued that Sanskrit has always been a highly co dified written language used fo r written co mmunicatio n in co njunctio n with vario us spo ken languages fro m Prakrits o nwards co -existing with newly emerging written literary languages, and maintaining its supremacy as the mo st perfect vehicle o f written texts. Despite the small number o f mo ther-to ngue speakers in mo dern India, Sanskrit is pro jected as a language o f great significance and value, and effo rts are being made to revive it as a spo ken language in additio n to its ro le as a carrier o f the Indian traditio n and literary heritage. Daily news bulletins in Sanskrit are bro adcast by the natio nal radio altho ugh so me scho lars claim that spo ken Sanskrit is being attritio ned thro ugh disuse (Ho ck 1992, 247—260). If all the Indian languages were put o n a co ntinuum, Sanskrit wo uld be placed at o ne extreme as a predo minently written language and the 14 unalphabetized languages (cf. 3.2.) at the o ther extreme as who lly spo ken languages with the remaining 82 languages placed at vario us po ints o n the co ntinuum acco rding to the written spheres o r do mains in which they functio n in the to tal multilingual co mmunicative setting (cf. Bhattacharya 1991, 2). 3.5. The sphere of English in India English has been excluded fro m the list o f written languages (cf. 3.3.) because it is classified as a fo reign language to gether with Arabic, Chinese and Persian, all fo ur being included in the 1971 invento ry o f living languages. In 1981 o ut o f a to tal Indian po pulatio n o f 661.5 millio n, English mo therto ngue speakers were ro ughly 0.23 millio n, just abo ut 0.034% o f the to tal po pulatio n (Census o f India 1981: 1987, 449). The mo ther-to ngue speakers o f English make up o nly 1% o f the to tal number o f speakers o f English in India, 99% o f who m speak English as a seco nd language, the to tal number co nstitute barely 3.4% o f the Indian po pulatio n (cf. Mahapatra et al. 1989 a, xix). No twithstanding this, English enjo ys high so cial prestige and is used in mo re do mains than perhaps

IV. Schriftkulturen

any o ther mo dern Indian language. The vo lume o f printed literature in English exceeds that o f any o ther Indian language. In 1987— 88 o ut o f the nearly 32,000 bo o ks received by the Natio nal Library in Calcutta 56.5% (17,650) were in English. There is no to pic o n which bo o ks are no t written and printed in English in India; bo th literature o f info rmatio n and imaginatio n is pro duced in the language, altho ugh no t many o f the mo therto ngue speakers engage in this activity. Creative literature in English by Indian writers has acquired the label o f Indo -Anglian literature (Ansari 1978, 144—161). English can be the medium o f instructio n fro m the earliest classes in the primary scho o l in English medium scho o ls; it is taught as o ne o f the co mpulso ry languages to all scho o l children fro m grade 5 o r 6 o nwards as o ne o f the three languages under the three-language fo rmula (cf. 6.2.). At the senio r scho o l, co llege and university it is the medium o f instructio n fo r science and technical subjects. All co lleges and universities o ffer specialised co urses in English language and literature. Altho ugh English is no t included in the Eighth Schedule (cf. 4.2.), it co ntinues to be an asso ciate o fficial language o f the Indian Unio n (cf. 4.1.) and is used widely fo r o fficial co mmunicatio n at the go vernmental level between the Unio n and the States as well as between States that do no t share a co mmo n language. In recent years it has been declared as the o fficial language in two states, viz. Mizo ram and Nagaland. English is used in legislatures and parliament, the supreme co urt and the state high co urts, in administratio n, industry and co mmerce. It is the language o f scientific research and is used by mo st educated peo ple. It is the preferred language o f internatio nal co mmunicatio n used by Indian diplo mats, academics and businessmen. In the urban areas mo st educated Indians speaking different mo ther-to ngues, o r even the same mo therto ngue prefer to co mmunicate thro ugh English since it brings so cial prestige and reco gnitio n (Ansari 1978, 69 ff; Daswani 1975 a, 34—49). In spite o f the widespread use o f spo ken and written English, the facility in English o f the average Indian speaker has deterio rated o ver the past 90 years, particularly in the last 45 years since 1947. A regio nal variety labelled Indian English has co me to be reco gnized as a no n-native variety no ted fo r its characteristic syntax and pho no lo gy which exhibit marked influence o f the Indic mo ther-

33.  The Sphere of Indian Writing

to ngues o f the speakers (Ansari 1978, 155 ff; Jo hn 1968, 80 f; Pattanayak 1981, 161—178; Daswani 1975, 34—47; Gokak 1964, 57—62).

4.

Official languages

Multiple o fficial languages fo r co mmunicatio n at vario us levels is characteristic o f multilingual po licies. India has had an uninterrupted state po licy o f multiple o fficial languages since the fo urth century BC (Ferguso n 1992, 27). Sanskrit was the natio nal o fficial language fo r many centuries even when the day-to -day co mmunicatio n was in the lo cal dialects. As an o fficial language, Sanskrit was pro bably no t the mo ther-to ngue o f many peo ple (cf. N. C. Chaudhuri 1968, 43). During the Muslim perio d Persian succeeded Sanskrit as the o fficial language. Persian, strangely eno ugh, was no t the mo ther-to ngue o f even the Muslim rulers who intro duced it into India. While Sanskrit was always a cultural and religio us language fo r a large sectio n o f the Indian po pulatio n, Persian was so lely an o fficial language used o nly by the go verning elite and later by the educated; it was neither understo o d by the lay peo ple, no r accepted as a part o f the Indian cultural heritage. Persian was displaced by English which became the o fficial language o f India under the British, especially after the unsuccessful War o f Independence in 1857 when India became a co lo ny o f the British Cro wn. Like Persian, English was neither the mo ther-to ngue o f the Indian peo ple no r a language o f cultural identity. Fo r so cio -po litical reaso ns, in the ninety years fro m 1857 to 1947 English came to be used very widely in India, in do mains that extended far beyo nd the strictly o fficial o nes. It became the mo st prestigio us language and was used exclusively in higher educatio n, research, internatio nal relatio ns and fo r science and techno lo gy, in additio n to the o fficial do mains o f legislatio n, administratio n and the judiciary. It became the preferred language fo r co mmunicatio n amo ng the educated elite and affected the develo pment and mo dernizatio n o f Indian languages to a large extent. In 1947 with po litical freedo m the cho ice o f an o fficial language fo r free India to o k o n an added significance since the use o f Indian languages in preferance to English had been an impo rtant issue during the freedo m struggle (Gandhi 1984, 8).

459

4.1. Hindi as official language The Indian Co nstitutio n, which was ado pted in 1950, designated Hindi in the Devanagari script as the o fficial language o f the Indian Unio n (the federal go vernment) and also pro vided fo r the co ntinuatio n o f English fo r o fficial purpo ses fo r a perio d o f fifteen years until 1965 by which time it was assumed that Hindi wo uld be able to replace English in all the o fficial do mains. The Co nstitutio n also pro vided fo r the ado ptio n o f o ne o r mo re languages as the state o fficial languages in the different states in the co untry. The Co nstitutio n carried a directive fo r the develo pment o f the Hindi language: „It shall be the duty o f the Unio n to pro mo te the spread o f the Hindi language, to develo p it so that it may serve as a medium o f expressio n fo r all the elements o f the co mpo site culture o f India and to secure its enrichment by assimilating witho ut interfering with its genius, the fo rms, style and expressio ns used in Hindustani and in the o ther languages o f India specified in the Eighth Schedule, and by drawing, wherever necessary o r desirable, fo r its vo cabulary, primarily o n Sanskrit and seco ndarily o n o ther languages.” (Co nstitutio n o f India, Part XVII, Chapter IV, Article 351). The directive is clear. Hindi was no t o nly declared as the o fficial language o f the co untry, but it had to be develo ped to take o n that ro le mo re effectively, and the develo pment had to be natural to Hindi as well as depend o n the reso urces o f Sanskrit and o ther Indian languages. Mo reo ver, in additio n to being the natio nal o fficial language Hindi co uld also be the o fficial language in any o f the states in the co untry (cf. Mahapatra 1991, 12). Hindi was designated the o fficial language o f the Unio n by the Co nstituent Assembly after a lo ng debate in which languages o ther than Hindi viz. English, Hindustani, Sanskrit and Bengali were pro po sed as alternatives to Hindi as the official language (Gandhi 1984, 33—41). 4.2. Scheduled languages The Eighth Schedule is mentio ned twice in the Indian Co nstitutio n: in the co ntext o f mo nito ring the use o f Hindi as the o fficial language (Co nstitutio n o f India, Article 344), and in the co ntext o f the develo pment o f Hindi (cf. 4.1.). In 1950 the Schedule listed 14 languages including Hindi and Sanskrit. English was no t included since it was no t co nsidered to be an Indian language. The o ther 12 languages were all majo r written

460

languages with lo ng literary traditio ns. Other Indian languages were left o ut o f the Schedule because they did no t have established literary traditio ns. Sindhi, a majo r Indian language with literature go ing back to the eighth century AD was left o ut because the entire Sindhi speaking regio n was assigned to Pakistan, and the Sindhi immigrant po pulatio n in India was scattered all o ver the co untry (Daswani 1979, 60—68; 1992, 239 ff). In 1957 the po litical map o f India was redrawn when states were demarcated o n linguistic basis making po litical bo undaries co extensive with language bo undaries. As a result, the Eighth Schedule to o k o n a very special significance since all the Scheduled languages, except Sanskrit and Urdu, became majo rity o r do minant languages in the newly drawn states. Urdu is the stated mo ther-to ngue o f sizeable po pulatio ns, especially Muslim, in several states, but it is no t a majo rity language in any o f the states. After 1957 the Scheduled languages, as o fficial languages o f different states, became languages o f wider use in do mains such as legislatio n, administratio n, judiciary and educatio n. This also affected the status o f o ther languages spo ken in each state. Fo r example, Gujarati became a mino rity language in Bo mbay after the separatio n o f Maharashtra and Gujarat (Phadke 1979, 118—132). The co nsequences o f linguistic states became evident much later when the majo rity languages to o k o n the mantle o f do minant languages in the states and were perceived as a threat by the mino rity languages in each state (Mallikarjun 1985, 264—279), exactly in the same manner as Hindi as the o fficial language o f the Unio n was perceived as a threat by the o ther languages o f the Eighth Schedule (Srivastava 1979, 80—89; Pattanayak 1985, 280—286). Since 1957, speakers o f several written languages excluded fro m the Schedule have agitated fo r the inclusio n o f their languages in the Eighth Schedule. Sindhi was added to the Schedule in 1967, and in 1992 Ko nkani, Manipuri and Nepali have been included in the Eighth Schedule, making the to tal o f Scheduled languages 18 with many mo re languages seeking inclusio n. Fig. 33.3 sho ws the states where 15 Scheduled languages are spo ken as majo rity languages; Sanskrit, Sindhi and Urdu are no t indicated since they are stateless languages. 4.3. Regional and state official languages The distinctio n between Scheduled languages, regio nal languages and state o fficial lan-

IV. Schriftkulturen

guages has never been clear. Kashmiri is a Scheduled language and a regio nal language but no t an o fficial language. Urdu is a Scheduled language, no t a regio nal language, yet it is a state o fficial language in Jammu & Kashmir where, curio usly, it is no t even o ne o f the three numerically impo rtant languages (India Literacy Atlas 1978). Sanskrit and Sindhi are Scheduled languages, but neither is a regio nal o r state o fficial language. The reco gnitio n o f do minant regio nal languages (except Kashmiri) as state o fficial languages has had several fallouts. The o fficial languages have beco me the languages o f universal currency extending to all do mains, making it o bligato ry fo r speakers o f mino rity languages in each state to learn the state o fficial language. This has also led to further co dificatio n and standardizatio n o f each state o fficial language. Telugu has beco me standardized in the directio n o f a mo dern spo ken standard as o ppo sed to the earlier classical written standard, leading to a muchneeded refo rm in educatio n (Krishnamurti 1979, 1—29). Likewise, as a state o fficial language Bengali has undergo ne systematic co dificatio n with adjustments in the traditio nally reco gnized diglo ssic styles — the fo rmal sadhu bhasha and the co llo quial chalit bhasha (Chatterjee & Chatterjee 1979, 25—34). Tamil has been purged o f Sanskritic tatsama loan-words in an effo rt to purify the language (Annamalai 1979, 35—68). On the o ther hand, Hindi has faced co mpetitio n fro m several o f the regio nal dialects subsumed under standard Hindi (Misra 1979, 70—79), just as there has been o ppo sitio n to Hindi as the o fficial language o f the Unio n (Srivastava 1979, 80— 88; Pattanayak 1985, 280—286). In effect the creatio n o f linguistic states leading to the reco gnitio n o f majo r languages as state o fficial languages has given rise to language identity and linguistic ambitio ns. Speakers o f numero us mino r languages (as against mino rity languages) have so ught to pro ject their linguistic identities as a prelude to po litical identities (Ekka 1979, 99—106; Mahapatra 1979, 107— 117; Khubchandani 1985, 287—310). Do minant languages as state o fficial languages have also resulted in reinfo rcing regio nal language identity as primary and natio nal identity as seco ndary. Speakers o f languages o ther than the do minant regio nal language are perceived as o utsiders which has led to heightened linguistic identities amo ng linguistic mino rities in each state. In a co untry where multilingualism is a reality at the grass-

33.  The Sphere of Indian Writing

461

Fig. 33.3: The Scheduled languages of India. Sanskrit, Sindhi and Urdu are not indicated since they are stateless languages

ro o ts level, with no t even o ne o f the 464 administrative districts in the co untry being mo no lingual, the do minatio n o f a regio nal language as the state o fficial language, creates mo re frictio n than harmo ny. In several states mino rity languages have been declared as additio nal o fficial languages since they are majo rity languages in specific sub-regio ns within the state; viz. Bho tia and Lepcha in Sikkim in additio n to the state o fficial Nepali; Lu-

shai/Mizo in Mizo ram where the state o fficial language is English, and Nepali in parts o f West Bengal where the o fficial language is Bengali. Majo r languages such as Bengali, Hindi, Malayalam, Tamil, Telugu and Urdu are designated as sub-regio nal o fficial languages in states o ther than tho se where they are state o fficial languages. English is no w the state o fficial language in Nagaland and Mizo ram giving it the unique status o f a state

IV. Schriftkulturen

462

o fficial language witho ut it being either a Scheduled o r a regio nal language (Mahapatra et al. 1989 a, xxiii f).

5.

Language development

The Co nstitutio n o f India directs the Unio n o f India to ensure the develo pment o f Hindi as the o fficial language using the reso urces o f the languages o f the Eighth Schedule (cf. 4.1.). The go vernment o f India set up several co mmittees and co mmissio ns and also established several institutio ns to carry o ut the directive co ntained in the Co nstitutio n. The initial effo rts were related to the creatio n o f technical termino lo gies and writing standard reference bo o ks so that Hindi co uld perfo rm the ro le assigned to it. Invariably, any planned activity fo r the develo pment o f Hindi also entailed parallel activities fo r the develo pment o f regio nal o fficial languages, particularly fo llo wing the fo rmatio n o f linguistic states, since the state languages were to perfo rm precisely tho se functio ns at the state level that were assigned to Hindi at the natio nal level. The majo r develo pmental activities have been in the areas o f pro mo tio n o f Indian literatures and languages, printing o f text-bo o ks and reference bo o ks including dictio naries, establishment o f liberaries, study o f tribal languages, and research in classical and mo dern languages. 5.1. Technical terminologies The Co mmissio n fo r Scientific and Technical Termino lo gy in New Delhi prepares and publishes definitio nal dictio naries and termino logies in basic sciences, applied sciences, social sciences and humanities which are used fo r writing text-bo o ks and reference bo o ks. The Co mmissio n prepares these termino lo gies in Hindi and the o ther Scheduled languages. It enco urages pro ductio n o f university level bo o ks in Hindi in the vario us disciplines. University level bo o ks in regio nal languages are pro duced at the state level. By 1978 a to tal o f 4528 bo o ks had been written in 11 Scheduled languages fo r use at the university level (Gandhi 1984, 204—207). 5.2. Promotion of Indian literatures In 1954 the Go vernment o f India set up the Sahitya Akademi, the natio nal academy o f literature, to wo rk actively fo r the develo pment o f literature in Indian languages and to co o rdinate literary mo vements in the vario us

languages. Since its inceptio n the Sahitya Akademi has reco gnized o utstanding literary writings in vario us Indian languages thro ugh natio nal literary awards given o ut every year. The Sahitya Akademi has its o wn list o f twenty-o ne languages — 18 Scheduled languages plus English, Do gri and Rajasthani. It is wo rth no ting that Ko nkani, Manipuri and Nepali which have fo und a place in the Eighth Schedule in 1992 were already reco gnized by the Sahitya Akademi as literary languages. Likewise, Rajasthani which is subsumed under Hindi by the Indian census, is reco gnized as a separate literary language by the Sahitya Akademi. The Sahitya Akademi also o rganizes writers’ wo rksho ps and o ther literary meetings thro ugho ut the co untry to po pularize Indian literature accro ss linguistic bo undaries. One o f the majo r activities undertaken by the Sahitya Akademi is to translate Indian literature into as many Indian languages as po ssible. An encyclo paedia o f Indian literature is being prepared by the Sahitya Akademi. The vario us literary activities are co o rdinated by the regio nal centres o f the Sahitya Akademi in Bo mbay, Calcutta and Madras in additio n to the natio nal centre in New Delhi. Many o f the states have established state Sahitya Akademies fo r the pro mo tio n o f literary activities in all the languages in a particular state. Co nsequently, all languages with written literature find enco uragement thro ugh these state academies (cf. P. B. Ray 1992, 126 f). 5.3. Promotion of Indian languages Develo pment and pro mo tio n o f Indian languages is enco uraged thro ugh numero us pro grammes and institutio ns bo th at the natio nal level as well as in each o f the states. The majo r thrust o f these develo pmental activities is to facilitate the three-language fo rmula (cf. 6.2.) in scho o ls and to wo rk to wards a switcho ver fro m English to regio nal languages as media o f instructio n at the universities. The Central Institute o f Hindi, in Agra, pro mo tes the teaching o f Hindi in the no n-Hindi speaking states and pro duces text-bo o ks as well as reference bo o ks including multilingual dictio naries and technical termino lo gies fo r facilitating the use o f Hindi as an o fficial language. The Central Institute o f Indian Languages in Myso re is the co unterpart institute fo r the pro mo tio n o f o ther majo r Indian languages thro ugh research, publicatio ns and instructio nal mo dules. Metho do lo gies fo r accelerated instructio n in Indian languages fo r

33.  The Sphere of Indian Writing

no n-native speakers is o ne o f the special areas o f co ncern. Research in written and unwritten mino r and tribal languages is a majo r activity o f this institute. 57 tribal languages, so me witho ut alphabets, are being systematically researched fo r pro ductio n o f basic reference materials and text-bo o ks (cf. P. B. Ray 1992, 114 f.). 5.4. Promotion of foreign languages As early as 1958 the go vernment o f India established the Central Institute o f English in Hyderabad fo r ensuring qualitative impro vement in the teaching o f English. Altho ugh the Co nstitutio n o f India had envisaged a switcho ver fro m English to Indian languages in vario us do mains, the impo rtance o f English as an internatio nal language was never questio ned and steps were taken to ensure co ntinuatio n o f English as o ne o f the three languages to be taught at the scho o l (cf. 6.2.). The Central Institute o f English was later expanded to address o ther majo r fo reign languages, viz. Russian, German, French and Arabic (cf. P. B. Ray 1992, 115 f). Tibetan finds a special place in the study o f fo reign languages. Special institutio ns fo r the study o f Tibetan and Buddhism have been established in Himachal Pradesh and Sikkim as well as in Varanasi to research o n Tibetan studies with special reference to the co ntributio n o f Tibetan to the Indian heritage, fo r a bo dy o f kno wledge lo st to Sanskrit and Pali, exists in the Buddhist texts in Tibetan (cf. P. B. Ray 1992, 139). 5.5. Promotion of classical languages In the scheme o f things, pro mo tio n and develo pment o f classical languages finds a place alo ng with the develo pment o f mo dern Indian and fo reign languages. Sanskrit, Classical Arabic and Persian are studied and pro mo ted thro ugh a number o f develo pmental pro grammes. Reco gnitio n awards are given to scho lars in Classical Arabic, Persian and Sanskrit. Traditio nal Sanskrit educatio n including the o ral traditio n is paid particular attentio n. Co mpetitio ns in recitatio n o f Vedic hymns to enco urage co ntinuatio n o f the o ral traditio n are o rganized annually. Sanskrit scho lars are enco uraged to co ntinue the study o f that language in the traditio nal mo de o f memo rizatio n and handing do wn the texts o rally. Sanskrit is also taught as o ne o f the languages at the scho o l level (cf. P. B. Ray 1992, 116—121). 5.6. Promotion of Libraries

463

There are mo re than 60,000 libraries in India. The Natio nal Library in Calcutta is the permanent repo sito ry o f all printed material pro duced in India, all printed material written by Indians as well as material written o n India by fo reigners wherever published and in whatever language. Under the Delivery o f Bo o ks Act o f 1954, the Natio nal Library receives o ne co py o f each publicatio n pro duced in the co untry. Apart fro m jo urnals, perio dicals, maps, manuscripts, newspapers, micro film/micro fish, the Natio nal Library has a co llectio n o f o ver two millio n bo o ks. The Natio nal Library publishes the Indian Natio nal Biblio graphy every mo nth and annually which co ntains entries o f publicatio ns in majo r Indian languages and English received under the Delivery o f Bo o ks Act. There are majo r libraries in all the Indian cities. Educatio nal institutio ns have bo o k co llectio n and many universities have specialised libraries fo r researchers. Under the Delivery o f Bo o ks and Newspapers (Public Libraries) Act o f 1954 fo ur libraries are entitled to o ne co py each o f all new bo o ks and magazines published in the co untry; these are the Natio nal Library, Calcutta, Central Library, Bo mbay, Co nnemara Public Library, Madras and Delhi Public Library, Delhi. In a recent attempt to po pularize the reading habit amo ng the rural readers a netwo rk o f 2355 Jana Shikhshana Nilayams, rural reading ro o ms and libraries is being established (cf. P. B. Ray 1992, 90 f; 137 ff). 5.6. Promotion of book publication The Natio nal Bo o k Trust in Delhi pro mo tes publicatio n o f bo o ks in majo r Indian languages and also pro mo tes the reading habit especially amo ng scho o l children and neo literates. It pro duces bo o ks o f general interest, bo th narrative and no n-narrative, and enco urages private publishers to pro duce such bo o ks at subsidised prices. The NBT o rganizes wo rksho ps fo r writers and translato rs in Indian languages to enco urage bo o k writing fo r children and newly literate adults. It o rganizes bo o k fairs, natio nal bo o k weeks, seminars and exhibitio ns as part o f its pro mo tio nal activities (cf. P. B. Ray 1992, 108— 112).

6.

Written languages and education

The mo dern university system was intro duced in India by the British after 1857 with the establishment o f the universities o f Bo mbay,

IV. Schriftkulturen

464

Madras and Calcutta. The medium o f instructio n in these universities was English. The educatio nal system under the British was limited to the elite and aimed at pro ducing English kno wing Indians trained to serve the interests o f the co lo nial masters, it igno red the indigeno us system o f educatio n and supplanted it by intro ducing the western pattern o f scho o l educatio n (Raza, Ahmad & Nuna 1990, 12—15). The indigeno us scho o ling system which had a histo ry o f at least 2500 years (Mo o kerji 1960, xix—xxxvi), perished under the state co ntro lled scho o ls run by the British since the pro ducts o f this educatio n were abso rbed by the co lo nial administratio n as clerks. The language o f instructio n in the scho o ls and universities in British India was English. It was o nly in 1922, after a pro tracted debate o n the ro le o f vernacular languages in educatio n, that scho o l educatio n came to be imparted thro ugh the majo r Indian languages in different parts o f British India. English, ho wever, co ntinued to be taught as a co mpulso ry subject at the scho o l. The medium o f instructio n at the universities and co lleges co ntinued to be English. In 1947 when India became independent, the majo r pro blem befo re the co untry was to universalize elementary educatio n in o rder to bring within the scho o l-fo ld millio ns o f children speaking different languages and dialects many o f which were unwritten, and to bring literacy to millio ns o f adults who had no t been pro vided basic educatio n (cf. 7.). The fo cus after 1950 was the pro visio n o f basic educatio n in the mo ther-to ngue o f the learners to all children in the age-group 6—14. 6.1. Medium of instruction In the fo rty year perio d fro m 1951 to 1991 the number o f languages in which primary scho o l educatio n is pro vided has risen to fifty — the written languages o f India (cf. 3.3.). This number, ho wever, is o nly a small pro po rtio n o f the to tal number o f mo therto ngues. Co nsequently, a large number o f scho o l children in India get primary educatio n thro ugh a language that is no t their mo ther-to ngue. Fo r many children the scho o l language is the standard written variety o f the regio nal o r so cial dialect they have learnt naturally, fo r many o thers it is a to tally different language o ften fro m ano ther language family unrelated ot their mo ther-to ngue. Scho o l educatio n, therefo re, is an exercise in acquiring no t merely the skills o f reading and writing but an exercise in acquiring a to tally

new language in a fo rmal scho o l setting. The medium o f instructio n in the co lleges and universities, especially in science and techno lo gy, co ntinues to be English. In 1967, the go vernment o f India pro po sed to intro duce regio nal languages as media o f instructio n at the university level replacing English. This decisio n had to be mo dified permitting co ntinuance o f English as the medium o f instructio n in science and techno lo gy because o f pro test by writers, students, academics, pro fessio nals and intellectuals (Mehro tra 1986, 203—217; Shah 1968, 97—118; Farreira 1968, 34—38; Rajago palachari 1968, 59—61; Srinivasan 1968, 92—96; also cf. Shah 1968, 189—209). 6.2. The three-language formula In 1961 it was decided by the Co nference o f Chief Ministers o f the vario us states o f the Indian Unio n that all scho o l children in the co untry will be required to study three languages during their scho o ling, this po licy which came to be referred to as the threelanguage fo rmula was mo tivated mo re by po litical and so cial co nsideratio ns rather than educatio nal (Shah 1968, 197). Basically, the fo rmula envisaged the use o f the mo therto ngue o r the regio nal language as the medium o f instructio n at the primary scho o l (grades I—V), fo llo wed by the natio nal o fficial language Hindi as the seco nd language at the upper primary stage (grades VI—VIII), with English as the third language to be intro duced anytime between grades VI to X in the scho o l. The three language of rmula equated the Hindi speaking states with the no n-Hindi speaking states, making the study o f a mo dern Indian language co mpulso ry in states where Hindi was the state o fficial language. The three-language fo rmula has been fo llo wed in the Indian scho o l system since 1961 with varying degrees o f success. It has been interpreted idio syncritically by several states making it po ssible fo r mo st learners to make easy o ptio ns. In Tamil Nadu it has been reduced to a two -language fo rmula where Tamil and English are taught as the two languages in scho o ls. In relatio n to the use o f written languages in educatio n, it has to be no ted that every Indian who co mpletes seco ndary educatio n (grades I—X) learns to read and write three languages, and o ften three separate scripts. In many cases a learner may actually have to learn fo ur languages including his mo ther-to ngue if that is different fro m the do minant state o fficial language. Acco rd-

33.  The Sphere of Indian Writing

ing to the educatio nal po licy children fro m tribal co mmunities are suppo sed to be taught thro ugh their mo ther-to ngue in grades I and II, making a transitio n to the state o fficial language in grade III. These children, therefo re, are required to learn to read and write in fo ur languages if they sho uld co mplete seco ndary scho o l. It may be no ted that a number o f tribal languages especially o f the Austro -Asiatic and Tibeto -Burman families are as yet unwritten. Once these languages beco me available as media o f instructio n at the primary scho o l their status will change and they will aspire like o ther written languages fo r a place in the Eighth Schedule (cf. Citizens for Democracy 1978, 58—61). 6.3. Status of English in education English is o ne o f the three languages in the three-language fo rmula. It co ntinues to be the medium o f instructio n at the co llege and university levels in science, medicine, engineering and agriculture. It is also the medium o f instructio n fo r so cial sciences and humanities in many Indian universities. English is the so le language fo r scientific research and an impo rtant language fo r all academic research. In public examinatio ns leading to pro fessio nal careers, including go vernment service, English co ntinues to be an impo rtant language. The Unio n Public Services Co mmissio n which co nducts examinatio ns fo r entry into the Indian Administrative Service allo ws candidates to o pt fo r a regio nal language as the medium o f answering examinatio n questio ns. Figures sho w that abo ut 8% to 23% o f the candidates o pt fo r o ne o f the regio nal languages, the o thers o pting fo r English. There is so me evidence to sho w that the regio nal languages are beco ming increasingly mo re po pular at these examinatio ns altho ugh English is still the mo st po pular language (Gandhi 1984, 201). At the scho o l level mo re and mo re parents prefer to send their children to English medium scho o ls where it is taught as the first language. In recent debates o n the medium o f instructio n at the scho o l level the impo rtance o f mo ther-to ngue is being reiterated and there is a demand fo r po stpo ning the study o f English in the scho o l curriculum (Nair 1992, 96; 103 f).

7.

Literacy in modern India

Literacy is co nsidered to be a reliable index

465

o f the practice o f reading and writing in a so ciety. The literacy rates in India have regLiteracy Rates

Scheduled castes 1971 1981 % % Total population 14.67 21.38 Male 22.36 31.11 Female 6.44 10.93 Rural population 12.77 18.48 Male 20.04 27.91 Female 5.06 8.44 Urban population 28.65 36.60 Male 38.93 47.54 Female 16.99 24.34

Non scheduled 1971 1981 % % 33.80 41.30 44.48 52.35 22.25 29.43 27.51 34.22 38.10 46.14 15.88 21.68 55.06 60.39 63.73 68.46 44.93 51.19

Fig. 33.4: Literacy Rates in India (From: Raza & Aggarwal 1986, 107)

istered an increase fro m 5.35% in 1901 to 52.11% in 1991. In 1951 the literacy rate was 19.74%. The nearly, 48% increase in ninety years (1901—1991) o f a little o ver 32% increase in fo rty years (1951—1991) bo th po int to the increased practice o f reading and writing in India (Prem Chand 1991, 3; cf. Raza & Aggarwal 1986, 101). While the literacy rates have mo unted, the abso lute number o f peo ple who canno t read o r write has steadily increased since the to tal Indian po pulatio n has mo re than do ubled between 1951 and 1991. The gro wth o f literacy during this perio d has no t been able to bridge the gap between male and female literacy. Fo r instance, in 1951 male literacy was 29% while female literacy was o nly 2.8%. In 1991 male literacy figures stand at 63.9% (an increase o f 34.9% in fo rty years) and female literacy at 39.4% (an increase o f 36.6% in fo rty years). Segregated literacy rates fo r rural and urban areas as well as fo r upper (no n-scheduled) and backward (scheduled) castes reveal these gaps mo re dramatically. Fig. 33.4 sho ws the co mparative rates o f literacy amo ng scheduled and no n-scheduled castes in rural and urban areas (Raza & Aggarwal 1986, 107). As is evident, the no n-scheduled caste urban males have the highest literacy rates at 68.46% and the scheduled caste rural females the lo west rates at 8.44%. The hierarchy o f literacy fro m the upper caste urban male to the lo wer caste rural female is sho wn in Fig. 33.5 (cf. Raza & Aggarwal 1986, 110). It is clear that the urban: rural and the male: female variables

IV. Schriftkulturen

466

Scheduled Non-Scheduled Scheduled Scheduled Non-Scheduled Scheduled Non-Scheduled Non-Scheduled

Caste Rural Female Caste Rural Female Caste Urban Female Caste Rural Male Caste Rural Male Caste Urban Male Caste Urban Female Caste Urban Male

8.44% 21.68% 24.34% 27.91% 46.14% 47.19% 51.19% 68.46%

Fig. 33.5: Hierarchy of Literacy in India (Based on Raza & Aggarwal 1986, 110)

intersect with the caste variable. The spread o f literacy in India, therefo re, is no t unifo rm. Urban India is mo re literate than the rural, upper castes are mo re literate than the lo wer castes, and males are mo re literate than females. Practice o f literacy in India is a male do main. Then, there are regio nal variatio ns with so me states sho wing very high literacy rates, o thers very lo w. Fig. 33.6 sho ws literacy rates fo r 1981 and 1991 in the 32 States and Unio n territo ries o f India (Prem Chand 1992, 6). It may be assumed that the literacy rates in each o f the states relate to the do minant majo rity language. In o ther wo rds, the 90.6% literacy rate in Kerala in 1991 is indicative o f literacy in Malayalam, likewise the 38.5% literacy rate in Bihar in 1991 is indicative o f the rate o f literacy in Hindi, the do minant majo rity language o f Bihar. It may be co ncluded that no t all written languages have the same status since the literacy rates are different for different languages. 7.1. Literacy and illiteracy Widespread illiteracy, in the narro w sense o f absence o f alphabetizatio n, is a relatively recent phen o men o n. Unsegregated literacy rates fo r the entire po pulatio n, measured in percentages is no t an Indian interpretatio n o f literacy. It is surmised that as early as the fo urth and third centuries BC, literacy must have been widespread in the central Maurya empire (Go ugh 1968, 70). Certainly, by the fifth century AD there was a well established system o f educatio n in India (Mo o kerji 1960, 492—502). In medieval India literacy appears to have been universal amo ng the upper castes. Yet literacy in India has always been perceived as a highly specialised skill which is the jurisdictio n o f certain sectio ns o f the so ciety. Lack o f alphabetic literacy was no t co nsidered an o bstacle o r an impediment in the acquisitio n o f kno wledge o r learning, since the o ral traditio n was available to the

Sl. No. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32.

State/IYD Andhra Pradesh Arunachal Pradesh Assam Bihar Goa Gujarat Haryana Himachal Pradesh Jammu & Kashmir Karnataka Kerala Madhya Pradesh Maharashtra Manipur Meghalaya Mizoram Nagaland Orissa Punjab Rajasthan Sikkim Tamil Nadu Tripura Uttar Pradesh West Bengal A & N Islands Chandigarh Dadar & Nagar Haveli Daman & Diu Delhi Lakshdweep Pondicherry

Literary rates (1981)(1991)* 35.7 45.1 25.5 41.2 N.A 53.4 32.0 38.5 65.7 77.0 52.2 60.9 43.9 55.3 51.2 63.5 32.7 N.A 46.2 56.0 81.6 90.6 34.2 43.5 55.8 63.1 49.6 61.0 42.1 48.3 74.2 81.2 50.2 61.2 41.0 48.6 48.2 57.1 30.1 38.8 41.6 57.5 54.4 63.7 50.1 60.4 33.3 41.7 48.7 57.7 63.2 73.7 74.8 78.7 32.7 39.5 59.9 73.2 71.9 76.1 68.4 79.2 65.1 74.9

* Based on estimated population of age group 7 and above Fig. 33.6: Literacy Rates in Indian States and Union Territories 1981—1991. (From Prem Chand 1992, 6)

literate and the illiterate alike. Also , there has always been a distinctio n between classical literacy and vernacular literacy, each with specific functio ns, and abo ve all literacy in the mo dern western co nno tatio n is perceived as an aspect o f fo rmal scho o ling, quite unco nnected with everyday living (Ferguso n 1992, 28). It is significant to no te that fo rmally educated Indians co nsider it infra dig to wo rk with their hands. Literacy and educatio n, therefo re, have never been co terminuo us in the Indian psyche, no r have the co nsequences o f literacy, in traditio nal India, been so directly measureable in terms o f eco no mic and so cial advantage as in the present day co ntext. The lack o f alphabetic literacy has never be-

33.  The Sphere of Indian Writing

fo re influenced the lives o f the illiterate peo ple as it do es to day (cf. Go o dy & Watt 1968, 27—68). 7.2. Levels of literacy In an alphabetized literate so ciety, ho w is individual literacy measured? A language which merely has an alphabet is no t necessarily co nsidered to be a written language (cf. 3.2.; Co ulmas 1992, 210). Similarly, an individual who can o nly sign his name canno t be co nsidered literate. In the Indian co ntext, every scho o l graduate is literate in three languages, o ften fo ur. Sho uld that be the measure o f literacy, o r sho uld the ability to read and write in limited co ntexts be co nsidered sufficient? Is it necessary to be able to read and write the standard fo rmal language o r is literacy in the lo cal dialect sufficient? In a multilingual so ciety multiple literacy is co nsidered usual, but it is no t clear whether that sho uld be the no rm. Ultimately, practice o f literacy is far mo re impo rtant than access to literacy. In a traditio nal so ciety where literacy is perceived as a specialised skill, the practice o f literacy is limited to tho se who se o ccupatio ns o r so cial ro les demand literacy. Fo r the spread o f literacy in such so cieties it is necessary to extend the sphere o f writing, and therefo re, literacy, to do mains that are traditio nally co vered by o ral mo des o f co mmunicatio n. Many literacy pro grammes igno re this intricate ro le relatio nship between the written and o ral mo des and seek to bring alphabetic literacy to all illiterates irrespective o f whether there is demand fo r literacy and whether the so cial enviro nment pro vides fo r widespread practice of literacy.

8.

Publications

The vo lume o f publicatio ns in a language is a measure o f the extent o f writing in that language. Mo st o f the majo r Indian languages have literary traditio ns that go back a lo ng time (cf. 3.), ho wever printed publicatio ns in the majo r languages o f India can be linked to the advent o f the printing press in India in early nineteenth century. So me o f the newly written languages fo und an impetus in the intro ductio n o f the printing press and the writing systems o f these languages were standardized as a result o f publishing activities. Publicatio ns in the 14 majo r languages run into tho usands. Languages like Bengali, Hindi, Marathi and Tamil have many mo re publicatio ns than languages like Kashmiri, Punjabi and Sindhi, altho ugh so me languages

467

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

Assamese: Bengali: English: Gujarati: Hindi: Kannada: Hashmiri: Malayalam: Marathi: Oriya: Punjabi: Sanskrit: Sindhi: Tamil: Telugu: Urdu: Other languages: Total:

153 1,422 6,281 440 2,469 965 29 881 1,133 220 422 219 100 959 611 568 14 16,886

Fig. 33.7: Books received at the National Library, Calcutta in 1987—88. (From Indian National Bibliography 1989, Annexure-VII)

like Sindhi have ancient written traditio ns. Mo st o f these languages have larger numbers o f no n-narrative publicatio ns reflecting a pro cess o f reshaping and standardizatio n. The mo re recently written languages (cf. 3.3.) have fewer publicatio ns, so me o f them very recent and no t many in the no n-narrative catego ry (Mahapatra et al. 1989 a, xvii f; 1989 b, passim). 8.1. Books, newspapers and periodicals A large number o f bo o ks, newspapers and perio dicals are published each year. Fig. 33.7 sho ws the number o f bo o ks received by the Natio nal Library, Calcutta (cf. 5.6.) in 1987— 88. Newspapers and perio dicals are published in many Indian languages fro m all the states. Fo rty two newspapers and perio dicals are mo re than a hundred years o ld, the earliest being the Gujarati Daily Bombay Samachar published fro m Bo mbay and started in 1822. At the end o f 1989 the to tal number o f newspapers printed in vario us languages was 27,054, bro ught o ut in 93 languages and dialects. Fig. 33.8 sho ws publicatio n o f newspapers and perio dicals language-wise at the end o f 1989. The to tal circulatio n o f newspapers in 1989 was 58,284,000 co pies (P. B. Ray 1992, 319). 8.2. Newspapers and language modernization Newspapers, mo re than bo o ks, have co ntributed to the pro mo tio n o f reading habits amo ng the millio ns o f new literates, bo th

IV. Schriftkulturen

468

No. Languages DailiesTri/Bi Weeklies Fortnightlies Monthlies Quarterlies Others AnnualsTotal 1.Hindi 1013 4102 1874 313 102 19 8924 45 1456 2.English 197 423 1899 930 112 4627 15 536 515 33 8 7 0 119 3.Assamese 8 2 36 25 4.Bengali 11 482 341 328 111 8 1885 63 541 4 240 109 42 28 9 860 5.Gujarati 53 375 148 4 242 144 33 13 2 932 6.Kannada 346 7.Kashmiri 0 0 1 0 0 0 0 0 1 8.Malayalam 1 128 6 1037 159 145 548 35 15 9.Marathi 172 13 122 378 33 467 76 76 1337 10.Oriya 30 0 188 14 4 405 61 46 62 11.Punjabi 1 238 193 24 17 1 592 60 58 12.Sanskrit 2 0 1 13 11 3 0 5 35 13.Sindhi 8 0 27 9 31 4 2 0 81 20 7 1 1111 14.Tamil 192 191 169 526 5 2 189 121 297 19 1 699 15.Telugu 65 5 831 391 13 3 1795 16.Urdu 269 16 236 36 17.Bi-lingual 37 14 409 223 821 90 27 1875 254 18.Multi-lingual 9 2 71 41 180 6 389 55 25 19.Others 9 80 32 12 0 350 106 53 58 TOTAL 144 8740 2308 1012 3684 2538 8353 275 27054 Fig. 33.8: Number of Newspapers in 1989. (From Ray 1992, 320)

pro ducts o f the fo rmal scho o ling system and the adult neo -literates who have participated in the numero us pro grammes o f adult literacy. In the pro cess o f reaching o ut to millio ns o f new readers the vernacular newspapers have been instrumental in language mo dernizatio n. The demand fo r vernacular language newspapers has given rise to small newspapers reaching o ut to limited po pulatio ns, o ften in the rural areas where literacy rates have been traditio nally lo w. In the pro cess o f reaching o ut to the new readership, the vernacular newspapers have systematically adapted the fo rmal written styles o f the majo r languages to the spo ken co llo quial styles o f rural po pulatio ns. In the case o f newly written languages the newspapers have evo lved a who le new vo cabulary o f newspaper styles. The majo r area o f inno vatio n in the majo r Indian languages has been the lexico n. The vernacular newspapers, which were dependent fo r a lo ng time o n the English news co py, have evo lved new wo rds and phrases to meet the demands o f mo dern day internatio nal jo urnalism. These newspapers have explo ited the reso urces o f Sanskrit, Persian and English to create new vo cabularies, in additio n to the creative extensio n o f the internal linguistic reso urces in each language. The newspapers have greatly influenced the style o f writing in o ther do mains bo th fo rmal and co llo quial. Many o f the lexical inno vatio ns intro duced

by the newspapers have fo und a place in the native lexico ns (Daswani 1989, 83—88; Krishnamurti 1984, 96—112). In a recent survey amo ng new literates in West Bengal it has been fo und that a newspaper is the mo st favo ured reading material amo ngst adult neo literates. A number o f bro ad-sheets bro ught o ut in several vernacular languages fo r adult neo -literates perfo rm a do uble functio n, that o f making current info rmatio n available to these adults, and reinfo rcing the skill o f reading amo ng them. These specially designed newspapers are also used to enhance the skill o f writing amo ngst the neo -literates. (Natio nal Institute o f Adult Educatio n 1992, passim.) The silent linguistic change that is currently underway in the written languages thro ugh po pularizatio n o f reading amo ng new literates is bo und to have far reaching effects. Already, the gap in the fo rmal and co llo quial styles in traditio nally diglo ssic languages has narro wed. As mo re and mo re peo ple begin to depend o n the written wo rd, these languages will undergo further adaptation.

9.

Written word in the sphere of Indian writing

An assessment o f the sphere o f writing in a co untry like India brings into fo cus vario us issues. The ancient traditio n o f literary activ-

33.  The Sphere of Indian Writing

ity co upled with the o ral traditio n o f handing do wn ancient learning has tended to assign a unique status to the written wo rd. It was fo r lo ng the do main o f a limited number o f individuals who have been traditio nally the custo dians o f the literary traditio n. Even with the co ming o f po pular and universal educatio n, the o ral traditio n has co ntinued to impinge o n the practice o f literacy. In mo dern independent India, universal educatio n, and therefo re universal literacy, has been given prio rity in State po licy. Given the multilingual realities o f India, and the fact that a number o f living languages have no t been alphabetized and many remain witho ut viable literary traditio ns, the sphere o f writing in India will enco mpass the task o f alphabetizatio n and pro mo tio n o f literary practice. The act o f alphabetizatio n will set into mo tio n the co nco mmitant pro cesses o f language develo pment and language identity. Alphabetizatio n, literacy and literary practices will co ntinually change the language co nfiguratio n, since mo re languages will aspire to scheduled, regio nal and o fficial status. Regio nal and so cial dialects, at present subsumed under the 96 living Indian languages, will seek reco gnitio n and so cio -po litical identity. The number o f languages is bo und to gradually appro ximate the number o f mo ther-to ngues as mo re and mo re peo ple beco me literate in their dialects thro ugh the educatio nal pro cess. Writing will play a majo r ro le in the language co nfiguratio n in India in the next few decades. Writing qua writing, then, is the majo r sphere o f Indian writing.

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469

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33.  The Sphere of Indian Writing

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11. Appendix: Survey of Living Languages in India List o f 105 living languages listed in the 1971 Census, arranged acco rding to written and o fficial status under the vario us language families (Based o n Mahapatra, McCo nnell & Padmanabha 1989 a, 1989 b; Bhattacharya 1991). I. Indo-Aryan: total number — 19 A. Written languages (scheduled) 1. Assamese 2. Bengali 3. Gujarati 4. Hindi 5. Kashmiri 6. Konkani 7. Marathi 8. Nepali 9. Oriya 10. Punjabi 11. Sindhi 12. Urdu

471

B. Written languages (non-scheduled) 1. Bhili 2. Bishnupuria 3. Dogri C. Unwritten languages (alphabetized) 1. 1. Halabi 2. 2. Lahnda 3. 3. Shina D. Unwritten languages (not alphabetized) 1. Khandeshi II. Dravidian: total number — 16 A. Written languages (scheduled) 1. Kannada 2. Malayalam 3. Tamil 4. Telugu B. Written languages (non-scheduled) 1. Gondi 2. Kurukh 3. Tulu C. Unwritten languages (alphabetized) 1. Coorgi/Kodagu 2. Khond/Kondh 3. Konda 4. Kui 5. Parji D. Unwritten languages (not alphabetized) 1. Jatapu 2. Kisan 3. Kolami 4. Koya III. Tibeto-Burman: total number — 48 A. Written languages (scheduled) 1. Manipuri B. Written languages (non-scheduled) 1. Angami 2. Ao 3. Bhotia 4. Bodo 5. Dimasa 6. Garo 7. Hmar 8. Kabui 9. Khezha 10. Konyak 11. Ladakhi 12. Lepcha 13. Lotha 14. Lushai 15. Mikir 16. Phom 17. Sangtam 18. Sema 19. Tangkhul 20. Thado 21. Tripuri C. Unwritten languages (alphabetized) 1. Adi 2. Balti 3. Chang 4. Deori 5. Halam 6. Khiemnungan

472

IV. Schriftkulturen

7. Kinnauri 8. Lahuli 9. Lakher 10. Mao 11. Miri/Mishing 12. Mishmi 13. Monpa 14. Nissi/Dafla 15. Nocte 16. Paite 17. Rabha 18. Sikkim Bhotia 19. Tangsa 20. Vaiphei 21. Wancho 22. Yimchungre D. Unwritten languages (not alphabetized) 1. Koch 2. Lalung 3. Mogh 4. Pawi IV. Austro-Asiatic: total number — 13 A. Written languages (scheduled) None B. Written languages (non-scheduled) 1. Ho 2. Kharia 3. Khasi

4. Mundari 5. Nicobarese 6. Santali C. Unwritten languages (alphabetized) 1. Korku 2. Savara D. Unwritten languages (not alphabetized) 1. Bhumij 2. Gadaba 3. Juang 4. Koda/Kora 5. Korwa V. Classical languages: total number — 2 1. Sanskrit 2. Tibetan VI. Foreign languages: total number — 4 1. Arabic/Arbi 2. Chinese 3. English 4. Persian VII. Languages of doubtful linguistic status: total number — 3 1. Naga 2. Kuki 3. Munda

Chander J. Daswani, New Dehli (India)

34. Die ägyptische Schriftkultur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Rahmenbedingungen Funktionen der Schriftkultur Bürokratie — Texterzeugung und -speicherung im Dienst der Archive Tempel mdash; Schrift und Ritus, Schrift und Wissen Schrift und Bildung Repräsentation: der „monumentale Diskurs“ Totenliteratur — Rezitationsliteratur und Wissensausstattung Literatur

Abkürzungen:

AR MR NR H1 H2 D ÄHG LÄ

1.

Altes Reich Mittleres Reich Neues Reich Hieroglyphenschrift Hieratische Schrift Demotische Schrift Assmann, Altägyptische Hymnen und Gebete Lexikon der Ägyptologie

Rahmenbedingungen

Die pharao nische Kultur entsteht im Niltal mit der Gründung des Einheitsstaates um 3000 v. Chr. am Ende langer Pro zesse des

Zusammenwachsens ov rgeschichtlicher Kulturen (4000—3000: Nagade I—III), bei denen scho n (vo r-)schriftliche No tatio nssysteme eine Ro lle spielten. Staats- und Schriftentwicklung laufen, sich mutuell bedingend, nebeneinander her und kulminieren im AR (2650—2200 v. Chr.). Nach dessen Zusammenbruch (Erste Zwischenzeit, 2200—2050 v. Chr.) entwickelt sich außerhalb kultischer und büro kratischer Funktio nen eine Literatur, die im MR (2050—1650) ko difiziert, ausgebaut und zum Kernbestand ägyptischer „Bildung“ wird, an dem sich spätere Epo chen als einer „Klassik“ o rientieren. Die 2. Zwischenzeit nach dem Ende des MR ist durch die Einwanderung der asiatischen Hykso s (15. Dyn.: 1650—1550) gekennzeichnet. Mit ihrer Vertreibung durch die thebanischen Herrscher der 17. und 18. Dyn. beginnt das NR (1550—1100) als eine beso ndere Blütezeit der ägyptischen Kultur. Das imperialistische Ausgreifen des Reiches nach Nubien und vo r allem Vo rderasien führt kulturell zur Öffnung gegenüber fremden Einflüssen, insbeso ndere babylo nischer, syrischer, hethitischer Religio n

34.  Die ägyptische Schriftkultur

und Mytho lo gie. Nach dem Versuch einer o mon theistischen Religi o nsstiftung durch Echnato n (1360—40) bedeutet die nachfo lgende Ramessidenzeit (19.—20. Dyn., 1300— 1100) eine Reo rganisatio n der äg. Schriftkultur, die durch das Aufko mmen neuer Gattungen, einer spezifischen Literatursprache („Traditio nsägyptisch“), der Verehrung der Schulklassikern des MR und einer beso nderen Blüte des „theo lo gischen Diskurses“ gekennzeichnet sind. Vieles davo n verschwindet in der Dritten Zwischenzeit (1100—650), in der das Land wieder in verschiedene Teilstaaten zerfällt. Nach der „saitischen Renaissance“, einer kurzen Blüte des wiedervereinigten Landes unter der 26. Dyn. (650—525), die in archaisierendem Eklektizismus an verschiedene Epo chen der ägyptischen Vergangenheit anknüpft, beginnen die Jahrhunderte der persischen, griechischen und schließlich römischen Fremdherrschaft, in denen sich die ägyptische Schriftkultur in den drei funktio nal differenzierten Schriftsystemen des Hiero glyphischen (H1), Hieratischen (H2) und Demo tischen (D) entfaltet und in der Spätantike so gar am hellenistischen Schrifttum erheblichen Anteil gewinnt. 1.1. Schrift: Digraphie 1.1.1. Dynamik der Ausdifferenzierung Die ägyptische Schrift ist gekennzeichnet durch das Nebeneinanderbestehen zweier Schriftsysteme, die, o bwo hl jederzeit mutuell transkribierbar, do ch hinreichend vo neinander unterschieden sind, um getrennt erlernt werden zu müssen. Dabei bleibt das eine Schriftsystem, die M o numentalschrift der Hiero glyphen (H1), über drei Jahrtausende hinweg ziemlich ko nstant (→ Abb. 34.1 auf Tafel IV), während das andere, die Kursivschrift des Hieratischen (H2), sich weiter entwickelt und auch weiter differenziert. Aus H1 entsteht zunächst das Kursiv-Hiero glyphische, dann H2, neben dem das Kursiv-Hiero glyphische aber für bestimmte Funktio nen bestehen bleibt (→ Abb. 34.2—3). Im späten NR entwickelt sich H2 zum „abno rmalen H2“, dann zum Demo tischen (D), bleibt aber gleichfalls neben diesem für bestimmte Funktio nen bestehen. Während bis zum Ende des 2. Jahrtausends der Bereich der Kursivschriften sich als ein breites Spektrum mit fließenden Übergängen darstellt, dessen Po le gebildet werden auf der einen Seite durch BuchSchriften vo n hervo rragender Lesbarkeit und auf der anderen Seite durch verschliffene Kur-

473

siven, die bereits D nahe stehen (dies ganze Spektrum wird z. B. scho n vo n den „Ächtungstexten“ des AR vertreten), wird im 1. Jahrtausend ein weiterer Schnitt gemacht und zwischen H2 und dem (nicht mehr in H1 transskribierbaren) D unterschieden, so daß wir in der Spätzeit nicht zwei, so ndern drei funktio nal definierte Schriftsysteme nebeneinander haben. Die Entwicklung wird bestimmt durch Interferenz zweier verschiedener Kräfte. Die eine läßt sich als „archaisierende Bindung“ kennzeichnen, sie wirkt stillstellend und führt dazu, daß ältere Schriftstadien neben jüngeren in bestimmten Funktio nen erhalten bleiben. Die andere können wir als „systemratio nale Evo lutio n“ bezeichnen, sie wirkt (im Dienst des Schreibers, nicht des Lesers) in Richtung auf immer geringeren Schreibaufwand und Beschränkung auf nötigste unterscheidende Merkmale. Die Schriftdifferenzierung entspricht nicht der Sprachdifferenzierung. Zwar bezeichnet D ein Schrift- und Sprachstadium, und H1 zeigt in ihrer Verwendung eine gewisse So lidarität (mit vielen Ausnahmen) mit dem Mittelägyptischen, das als Kult- und Bildungssprache kano nisiert wurde (Junge 1985). In H2 werden aber unterschiedslo s mittelägyptische, „traditio nsägyptische“ (Vernus) und neuägyptische Texte geschrieben. Die bindenden Kräfte hieratischer Stillstellung stehen dem Heiligen, die treibenden Kräfte systemratio naler Evo lution dem Profanen nahe (Vernus 1990). 1.1.2. Inschriftlichkeit H1 ist die bildhafte Fo rm der äg. Schrift, in der die Zeichen ihren realistischen Bildbezug auf bestimmte Dinge der sichtbaren Welt o hne jede abstrahierende Vereinfachung über die gesamte mehrtausendjährige äg. Schriftgeschichte unvermindert beibehalten. H1 ist so mit die einzige ursprünglich pikto graphische Schrift, die ihre Bildhaftigkeit nicht im Laufe ihrer Entwicklung verschliffen hat. Das ist nur möglich im Rahmen einer di- und später po lygraphischen Differenzierung, in der entscheidende Funktio nen vo n anderen, weniger aufwendigen Schriften wahrgeno mmen werden. Der Anwendungsbereich vo n H1 ist auf Steinmo numente festgelegt. Die Errichtung vo n Mo numenten ist ein Spezifikum der äg. Kultur, das in diesem Umfang anderswo keine Parallelen hat (Assmann 1991, 16—31). Es erklärt sich aus (1) der beso nderen Repräsentatio nsbedürftigkeit des Staates (des ersten dieses Fo rmats in der Menschheitsgeschichte), und (2) aus äg. Vo rstellungen

474

Abb. 34. 2: Kursiv-Hieroglyphen. Totenbuch des Cha, 18. Dynastie, um 1400 v. Chr. (Aus: Ägyptisches Museum Turin. 1988. Das Alte Ägypten. Die religiösen Vorstellungen. Mailand, Abb. 270)

IV. Schriftkulturen

34.  Die ägyptische Schriftkultur

Abb. 34. 3: Buch-Hieratisch. Beispiel für eine sorgfältige Buchschrift der frühen 18. Dynastie um 1500 v. Chr. (Aus: Breasted, J. H. 1930. The Edwin Smith Surgical Papyrus. Chicago, Tafel VIII)

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476

einer „schriftgestützten“ nachto dlichen Fo rtdauer im so zialen Gedächtnis (Assmann 1991, 169—99), wo bei Staat und Unsterblichkeit in Ägypten eng miteinander zusammenhängen und sich mit Stein und Schrift zum „mo numentalen Diskurs“ verbinden. In der Entwicklung vo n H1 sind die „archaisierenden Bindekräfte“ vo ll wirksam und die evo lutiven Kräfte neutralisiert. Dasselbe Prinzip hieratischer Stillstellung regiert auch die Kunst (Davis 1989). H1 und Kunst bilden eine Einheit (Fischer 1986); der übergreifende Begriff ist das „Mo nument“ (äg. mnw), das so wo hl der Repräsentatio n der po litischen Macht als auch der Verewigung des Individuums dient. Der mo numentale Diskurs ist ein Diskurs der Selbstthematisierung (Assmann 1987). In allen H1-Texten ist der Stifter des Denkmals in 1., 2. o der 3. Ps. gegenwärtig. Der Zweck des mo numentalen Diskurses ist die Selbst-Verewigung. Mit Hilfe des Mo numents gewinnt der Stifter Anteil an der unvergänglichen Dauer, die der Ägypter mit dem Steinernen verbindet. Er gewinnt einen Körper, dem die Hiero glyphenschrift eine Stimme leiht, um zur Nachwelt zu sprechen und die Nachgebo renen über die Jahrtausende hinweg zu erreichen. In diesem mo numentalen Diskurs der Selbstverewigung hat das, was sich in Ägypten als „Literatur“ im engeren Sinne entwikkelt, einen Vo rlauf: die Ko mmunikatio n zwischen „Grabherr und Nachwelt“ wird zum Mo dell der Ko mmunikatio n zwischen „Auto r und Publikum“ (Assmann 1991, 169—99). 1.1.3. Handschriftlichkeit: Kursivschriften Da die Hiero glyphen eher zur Kunst als zum Schreiben gehören, ist die Kursive die eigentliche Schrift des Ägyptischen; sie erlernt der ägyptische Schreiber (während die Erlernung vo n H1 den Künstlern vo rbehalten ist), und mit ihr verbindet sich der äg. Begriff des Schreibens (Vernus 1990; zum fo lgenden s. Schlo tt 1989, 52—85). Sie entsteht vermutlich gleichzeitig mit H1 (der älteste Papyrus, allerdings leer, stammt aus einem Grab der 1. Dyn.). Die Kursivschrift H2 wird vo n rechts nach links geschrieben. Die ältere Schreibweise in senkrechten Ko lumnen wird im Laufe des MR auf waagerechte Zeilen umgestellt. Dabei bildet sich die Ko nventio n heraus, bei religiösen Handschriften die Ko lumnenschreibung beizubehalten. Im Bereich der Kursivschrift finden wir eine mehr o der weniger ausgeprägte Oppo sitio n zwischen „Buchschrift“ (literarische und o ffizielle Handschriften) und „Alltagsschrift“ (Briefe u. a. Do ku-

IV. Schriftkulturen

mente mehr persönlichen Charakters). LehrerKo rrekturen am Rand vo n Schüler-Handschriften zeigen, daß mehr Wert auf Kalligraphie als auf Ortho graphie gelegt wird. Im NR hat sich die Zeilenschreibung durchgesetzt. Nur To tenbücher werden no ch in Ko lumnen beschriftet. Hierfür wird ein neuer Schrifttyp verwendet: Kursivhiero glyphen. Erst ab der 21. Dyn. verwendet man auch für To tenbücher H2 und Zeilenschreibung. Zur gleichen Zeit wird der Bruch zwischen „Buchschrift“ und „Alltagsschrift“ (Schlo tt 1989, 82 ff; Parkinso n 1991, 13 f) vo llzo gen. Neben H2 als Schrift für religiöse und literarische Texte tritt jetzt das abno rme H2, später D, als Kanzleischrift. Die Kursivhiero glyphen verschwinden, denn H2 ist jetzt gegenüber der Alltagsschrift hinreichend abgegrenzt. Mit der Einführung des Griechischen als Alltagsschrift wird D auch für literarische, zuletzt so gar für religiöse Zwecke (To tenliturgien, s. Smith 1987; auch Totenbücher) verwendet. 1.1.4. Kryptographie, Kalligraphie und Verwandtes Krypto graphie tritt als eine Variante der Hiero glyphenschrift im Bereich der inschriftlichen, nicht der handschriftlichen Überlieferung auf (LÄ II, 1196 s. v. Hiero glyphen, H.). Nach vereinzelten Anfängen im AR und MR wird Krypto graphie im NR häufiger und ko mmt in zwei Funktio nsko ntexten vo r: 1. in deko rativen Inschriften als eine Fo rm der Ästhetisierung des Schriftbilds zum Zwecke der Steigerung des Anreizes zur Lektüre (Privatinschriften, königliche Bauinschriften), und 2. in es o terischen Texten ov rnehmlich der Königsgräber zur Steigerung ihrer Geheimhaltung. Als Ästhetisierung des Schriftbilds hat auch die seit der Amarnazeit gelegentlich auftretende „kreuzwo rtartige“ Textgestaltung zu gelten. Hierbei wird ein Text so angeo rdnet, daß ein o der zwei querlaufende Zeilen für eine Anzahl vo n Zeichen auch eine Lesung in anderer Richtung ermöglichen. In extremen Fällen (zwei sind bisher bekannt) ist der gesamte Text in Quadrate eingeteilt und so wo hl senkrecht wie waagerecht zu lesen. Die äg. Bezeichnung für so lche Texte ist šd r zp snw „auf 2 Weisen zu lesen“ (Stewart 1971). Als Ästhetisierung des Schriftbildes haben schließlich auch Fo rmen symmetrischer („heraldischer“) Zeichenano rdnung zu gelten, wie sie vo rzugsweise etwa auf Seitenwänden königlicher Thro ne, Architraven vo n TempelDurchgängen und Giebelfeldern vo n Stelen als Repräsentatio nen der pharao nischen Herr-

34.  Die ägyptische Schriftkultur

schaft (als eine Art Staatswappen) auftreten (vgl. Fischer 1986). Die Epigraphik der griechisch-römischen Zeit basiert weitgehend auf krypto graphischen Traditio nen (Saunero n 1982). Jeder Tempel strebt jetzt nach Ausbildung seines eigenen Schriftsystems, mit der Tendenz, möglichst viele verschiedene Schriftzeichen zu finden. H1 ist dank seiner Bildhaftigkeit ein o ffenes System, das ständig neue Zeichen integrieren kann. 1.1.5. Heiligkeit der Schrift Die äg. Bezeichnung für Schrift ist mdw nṯr „Go tteswo rte“. Nach äg. Vo rstellung wurde die Welt durch Go tteswo rte als Schrift geschaffen: Der Künstlergo tt Ptah erfand „im Herzen“ die Zeichen, die seine Zunge in Wo rte und seine Hände in Dinge, Pflanzen und Lebewesen umsetzte (Allen 1988, 42—47, 91—93). Die Schrift erscheint in dieser Sicht als ein enzyklo pädisches Bildlexiko n, die Welt als unerschöpfliches Schriftzeichenreservo ir, die Tätigkeit des Schreibers als Fo rtsetzung und Inganghaltung der Schöpfung. Der „Schreiber des Go ttesbuches“ tritt auf als einer, der „das Seiende ausspricht und das Nichtseiende entstehen läßt“ (Faulkner 1969, § 1146). 1.2. Schreibstoffe und Schreibgeräte Wichtigster Schreibsto ff ist der Papyrus (vo n dem. P3-Pr-c3 ko pt. papoyro, gr. pápyros = „der des Pharao “: Papyrusherstellung war staatliches Mo no po l. Hierzu und zum fo lgenden s. Černý 1977; Weber 1969.) Dabei wird das in Streifen zerschnittene Mark der Papyruspflanze kreuzweise aufeinandergelegt und mit seinem Schlegel flachgeklo pft so wie anschließend geglättet. Die Seite mit den waagerecht liegenden Fasern wurde nach innen gero llt und ab dem NR zuerst beschrieben (Recto ). Wegen der Ko stbarkeit des Materials wurden Papyri o ft wiederbenutzt; ausgemusterte Akten wurden z. B. auf der Rückseite (Verso ) mit literarischen Texten beschriftet. Papyri wurden als einzelne Blätter, vo r allem aber als Ro llen benutzt, die aus aneinander geklebten Blättern hergestellt wurden. Die Ro llen wurden so wo hl in vo ller Höhe (im MR um 30 cm, im NR um 42 cm) wie auf halber (16—22 cm) und geviertelter Ro lle (8—14 cm) beschrieben. Briefe wurden auf der senkrecht gehaltenen Ro lle geschrieben; für andere Schriftstücke hat sich seit dem MR die waa-

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gerechte Haltung durchgesetzt. Schriftrichtung war vo n rechts nach links, bis zum MR in senkrechten, später in waagerechten Zeilen. Zweitwichtigster Schreibsto ff war Leder. Lederro llen werden in den Texten o ft erwähnt, meist in Verbindung mit ho hem Alter, galten also als haltbarer als Papyrus, sind aber äußerst selten gefunden wo rden. Leinwand wurde für Texte benutzt, die man auf dem Körper trug wie Amulette, Heilungszaubersprüche und To tenliteratur (auf Mumienbinden). Im Schulunterricht wurden Ho lztafeln verwendet, die mit weißem Stuck überzo gen waren, mit einer Vo rrichtung zum Aufhängen. Billigstes Schreibmaterial war das Ostrako n: flach absplitternder Kalkstein, der in Theben als Bauschutt zur Verfügung stand, und Scherben zerbro chener To ngefäße. Ostraka wurden benutzt für Übungen im Schulunterricht, für Briefe und für kleinere Rechtsgeschäfte (Quittungen u. ä.). Die Rahmenerzählung der demo tischen Weisheitslehre des Anchschescho nqi erzählt, daß der Auto r den Text im Gefängnis auf vielen To nscherben niederschrieb und mo tiviert auf diese Weise anschaulich die lo ckere Textko härenz einer Spruchsammlung. Als Schreibgeräte verwendete der Ägypter die Palette, schwarzen und ro ten Farbsto ff, den Wassernapf zum Anrühren der Farbe und die Schreibbinse. Für die ägyptische „Literato kratie“ war die Palette, was für die euro päische Aristo kratie der Degen: ein Standesabzeichen. „Du trägst deine Palette zu Unrecht“ wird zu einem unwürdigen Schreiber gesagt (Weber 1969, 40). Die Palette wird so gar vergöttlicht als Hypo stase des Schreibergo ttes Tho t (ibd., 38 ff). Auch mit dem Wassernapf verband sich ein religiöser Brauch: aus ihm brachten die Schreiber vo r Beginn ihrer Arbeit eine Libatio n dar. Das Geschäft des Schreibens wurde als eine Art To tenkult an den „Klassikern“ ausgedeutet (Assmann 1991, 177 f). Geschrieben wurde mit dem Halm der Binse juncus maritimus, dessen eines Ende schräg gekappt und durch Kauen zu einem feinen Pinsel zerfasert wurde. Erst in griechischer Zeit wurde auf den kalamos mit harter, schreibfederartiger Spitze umgestellt. Vo n seiner Binse ko nnte ein Schreiber sprechen wie heute ein Auto r vo n seiner Feder: „meine Binse hat mich vo rangebracht“, „den seine Binsen bekannt gemacht hat“. In den Schreibgeräten ko nkretisierte sich für den Ägypter die als göttlich empfundene schaffende, o rdnende, ko ntro llierende und verwaltende Macht der Schrift.

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IV. Schriftkulturen

Abb. 34. 4: Beispiel für Buchführung aus den Abusir-Papyri (Akten der Tempelverwaltung des Neferirkare aus der 5. Dynastie um 2470 v. Chr.). Die Objekte sind in den Spalten, die Tage in den Zeilen eingetragen.

34.  Die ägyptische Schriftkultur

Links das Original in hieratischer Schrift, rechts die Nachzeichnung mit den hieroglyphischen Zeichenformen. (Aus: Posener-Krieger, O. & de Cenival, J. L. 1968. Hieratic Papyri in the British Museum 5th ser. London, Tafel VI.)

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1.3. Layout und sprachliche Formung Die ungewöhnliche Flexibilität der äg. Schrift, die eine Ano rdnung in senkrechten und waagerechten Zeilen erlaubte, machten sich v. a. die Akten und Urkunden zunutze (Helck 1974). In königlichen Dekreten bildet der Ho rusname des Königs die erste, senkrechte Zeile, dann fo lgen zwischen je zwei waagerechten Zeilen, die den o beren (Name des Adressaten) und den unteren Abschluß (Siegelvermerk) bilden, senkrechte Zeilen mit dem Text des Dekrets. Ähnlich sind in religiösen Texten Litaneien angeo rdnet, mit den repetierten Elementen in waagerechten und den variierten Elementen in senkrechten Zeilen. Tabellarische Ano rdnung entwickelt sich in der Buchführung (Abusir-Papyri, 5. Dyn., um 2470 v. Chr., s. Po sener-Kriéger 1976). Die Einträge sind durch senkrechte und waagerechte Zeilen in Zeilen und Spalten gegliedert. Meist bilden die einzelnen Tage die Zeilen, wo bei jede zehnte Zeile durch ro te Farbe als „Wo che“ markiert ist; in den Spalten stehen Güter, anliefernde Instituti o nen, Pers o nen und andere Variablen (→ Abb. 34.4). Viele Sprüche der „To tenliteratur“ (Sargtexte, To tenbuch) spiegeln in ihrer listenhaften Ano rdnung bür o kratische Aufzeichnungstechnik, z. B. die Fährbo o t- (Sargtext 398) und Fangnetz-Sprüche (ibd. 474), die Gliedervergo ttung (To tenbuch 42), das „negative Sündenbekenntnis“ (ibd. 125). Häufig ist die „gespaltene Ko lumne“, bei der ein sich wiederho lendes Textelement nur einmal geschrieben und verklammernd den variierten Elementen vo rangestellt wird (Grapo w 1936, 40 ff). Literarische Handschriften sind meist viel schlichter gestaltet und spiegeln die sprachliche Fo rmung nicht wider. Denn sie waren nicht zur Lektüre und zum Nachschlagen bestimmt, so ndern zur Speicherung auswendig beherrschter Texte. Literarische Texte sind in der Regel in Abschnitte gegliedert („Maximen“ in Weisheitsbüchern, „Kapitel“ in erzählenden Texten), die durchschnittlich 12— 24 Verse umfassen. Sie werden durch Rubren o der Trennzeichen markiert (Assmann 1983 a) und erleichtern die Memo ratio n. Die „Verse“ — lo ckere Sinneinheiten mit zwei bis drei Hebungen als Einheit nicht po etischer, so ndern allgemein gebundener Sprache (LÄ IV, 1127—1154; Fecht, in: Spuler 1970, 19—51) — werden nicht selten durch Verspunkte abgetrennt, die o ffenbar die metrisch ko rrekte Rezitatio n erleichtern so llten (LÄ VI, 1017 f) Zu diesen Gliederungsindikat o ren gehört auch das (ro te) Zeichen der „Hand“ als Mar-

IV. Schriftkulturen

kierung derjenigen textlichen Einheit, die sprachlich ḥwt, eigentlich „Haus“, genannt wird, was so viel wie Lied, Kapitel, Stro phe bedeutet (Grapo w 1936, 53). In Ritualhandschriften der Spätzeit ist auch stichische Schreibung bezeugt (auch in der Lo ndo ner Handschrift der Lehre des Amenemo pe). Das Layo ut wird durch scriptio continua bestimmt. Nur ausnahmsweise und in religiösen Handschriften wird sprachliche o F rmung o der textliche Gliederung auch graphisch sichtbar gemacht (Grapow 1936). In medizinischen Handschriften werden Glo ssen durch Ro tschreibung gegenüber dem Haupttext abgeho ben. Ro te Farbe wird für viele Zwecke verwendet (Po sener 1951, 77 unterscheidet vier Funkti o nen: Herv o rhebung, z. B. vo n Summen in Abrechnungen, Gliederung, Iso lierung und Differenzierung), v. a. aber zur Markierung vo n Metatextualität, für Titel, Glo ssen, Ko rrekturen, Nachschriften, Ko lo pho ne, Vermerke (wie „usw.“, „und umgekehrt“, „viermal“), Rezitatio nsanweisungen. 1.4. Institutionen des Schreibens 1.4.1. Schreiben lernen Schulen im eigentlichen Sinne hat es nicht gegeben (hierzu und zum fo lgenden grundlegend Brunner 1957; LÄ I, 569—75; V, 741—43). Schreiben wurde weitestgehend wie alle anderen beruflichen Fertigkeiten auch in persönlicher Gehilfenbeziehung zu einem Beamten („Famulus-System“) erlernt. Erst im MR erfahren wir vo n einer Ho fschule in der Residenz im Zusammenhang der No twendigkeit, eine neue Beamten-Elite heranzubilden (Po sener 1956, 3 ff), im NR auch vo n Tempelschulen. Das Schreibenlernen in der Klasse ging dann der spezialisierten Fachausbildung in einem Verwaltungsbüro vo raus. Es gab keine hauptberuflichen Lehrer; auch der Gruppenunterricht wurde vo n Beamten nebenamtlich ausgeführt. Die Ausbildung wurde nicht mit einer Prüfung, so ndern mit der Berufung auf einen Po sten abgeschlo ssen. Dem Unterricht wurden zugrundegelegt: (1) Schulbücher mit Mustertexten: das Schulbuch „Kemit“ und die „Miszellaneen“, vo m Lehrer zusammengestellte Sammelhandschriften (Camino s 1957), (2) „Klassiker“: alte Texte überwiegend weisheitlichen Inhalts zur Erlernung des Mitteläg. so wie gewiß auch zum Auswendiglernen als „Bildungs“-Gut (Assmann 1991, 303—13) und (3) Wissens-Literatur wie pAnastasi I (Fischer-Elfert 1986).

34.  Die ägyptische Schriftkultur

1.4.2. Verwaltungsarchive und Sakralbibliotheken Archive (ḫ3 n zš „Büro der Schriften“) gehörten zu allen größeren Wirtschaftsbetrieben (v. a. Tempeln) und Behörden (z. B. Schatzhaus und Scheune für Steuerurkunden). Do rt wurden die Perso nal- und Landurkunden so wie Gerichtspro to ko lle abgelegt und durch Archivare verwaltet. Größere Funde ausgemusterter Archiv-Bestände bilden die Akten des To tentempels vo n Neferirkare aus Abusir (5. Dynastie: Po sener-Kriéger 1976), die Kahunpapyri (12. Dyn.) und die Grabräuberpapyri (20. Dyn.: LÄ II, 862—66). Biblio theken (pr mḏ3t „Haus der Schriftro llen“, sakrale Spezialbiblio thek, hierá bibliothéke nach Dio do r I 49.3) waren den Tempeln angegliedert und enthielten die für die Durchführung der entsprechenden Aktivitäten no twendigen Schriften, waren also eher Hand- und Arbeits-, als Sammelbiblio theken. Aufgrund der Vergänglichkeit des Materials mußten wichtige, zum Wiedergebrauch bestimmte Traditio nstexte in regelmäßigen Abständen ko piert werden (grundlegend: Burkard 1980). Das geschah in Skripto rien, deren wichtigste, die „Lebenshäuser“ (pr ‛ nh) ebenfalls dem Palast und den Tempeln angegliedert waren (LÄ III, 954—57). Eine Idee vo m Inhalt einer Handbiblio thek vermittelt der Fund einer Bücherkiste in einem Grab der 13. Dynastie: Literarische Texte (Sinuhe, Klagen des Bauern, Weisheitstexte), Rituale, Hymnen, medizinische und medico -magische Texte (Gardiner 1955). Offenbar haben wir es mit der Biblio thek eines „Vo rlesepriesters“ (ẖrj-ḥ3bt) zu tun, der als Rezitato r zugleich literarischer, liturgischer und magischer Texte so wie als Heiler wirkte. Dieselbe Verbindung vo n Kult, Medizin, Magie und Literatur finden wir 500 Jahre später in dem Fund eines Familienarchivs in Der el Medine (Pestman 1982): Literarische Werke (Liebeslieder, der Streit zwischen Ho rus und Seth, Nilhymnus, Weisheitslehre), Medico -magische Texte, Rituale (Ameon phis I), mant o ol gische Wissensliteratur (Traumbuch). Für die Spätzeit geben uns inschriftlich erhaltene Buchkatalo ge vo n Tempelbiblio theken (Edfu, To d), Funde aus Biblio theken (Elephantine: Burkard 1980, 96— 98; Tebtynis) so wie der Bericht bei Clemens Alexandrinus einen Eindruck. Aus Tebtynis stammen Rituale, Götterhymnen, ko smo graphische und Geo graphische Bücher, Astro no mie, Magie, Weisheitstexte, Traumbücher, Medizin, Bücher über die Tempelverwaltung,

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Ono mastica u. a. (Tait 1977; Reymo nd 1977; Fo wden 1986). Die Auflistung der 42 „ho chno twendigen Bücher“, die sämtlich vo n Hermes selbst verfaßt sein so llen, entspricht auffallend den erhaltenen Katalo gen (Stro m. VI.4.35—7; vgl. Fo wden 1986, 58 f): 1 Buch Götterhymnen; 1 Buch über die Lebensführung des Königs; 4 Bücher über Astro no mie; 10 Hiero glyphische Bücher (Ko smo graphie, Geo graphie, Tempelbau, Tempelland, Verso rgung und Ausstattung der Tempel); 10 Bücher über Erziehung und Opferkult; 10 Hieratische Bücher über Gesetze, Götter und priesterliche Lebensführung; 6 medizinische Bücher. Wir haben es hier mit einer Art „Kano n“ zu tun. Wie der hebräische an den 24 Buchstaben des Alphabets, so o rientiert sich dieser an den 42 ägyptischen Gauen. Ob es daneben, vielleicht als Palastbiblio theken, Sammlungen der natio nalen literarischen Traditio n gab, muß fraglich bleiben. Dieser Biblio thekstyp wurde vo n den Assyrern entwickelt, die sich durch „Bildung“ zu legitimieren suchten; auffallenderweise entfalten die gleichzeitigen Inschriften der Äthio penkönige einen ausgeprägten Bildungsprunk (Grimal 1980). 1.5. Schreiber Zwar war die ägyptische Bevölkerung nur zu einem verschwindend geringen Bruchteil literat (1% nach Baines 1983), dafür spielten aber die Schreiber eine alles beherrschende Ro lle, und der Alltag war in einem außero rdentlichen Maße schriftdurchwirkt. Das ergab sich aus dem ägyptischen System weitgehend staatlicher Plan- und Speicherwirtschaft so wie der Mo no po lisierung des Handwerks. Schreiber waren überall anzutreffen, wo es etwas zu registrieren o der zu ko ntro llieren galt. Der typische ägyptische Schreiber war ein Beamter innerhalb der verschiedenen Resso rts der ägyptischen Verwaltung (Scheunen, Schatzhaus, Justiz, Militär, Arbeit, Residenz, Gau, Stadt, Tempel). Die Schrift erscheint und entwickelt sich als ein Organ der büro kratischen Zentralverwaltung und ihres verwaltenden Zugriffs auf die Resso urcen und die Menschen des Landes. Die Schreiber bilden daher als Träger spezifischer Ämter der Zentralverwaltung die Oberschicht des ägyptischen Staates (Schlott 1989). Den schriftkundigen Priester treffen wir mit den Titeln „Schreiber des Go ttesbuchs“ (seit Frühzt.: Meeks 1989, 70 n. 2) und „Träger der Schriftro lle“ (ẖrj-ḥ3bt, meist übersetzt als „Vo rlesepriester“, „lecto r priest“) im To -

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ten- und Götterkult; ihm o blag die Rezitatio n der heiligen Schriften (Verklärungen, Hymnen) und die Durchführung der ko mplizierten Festrituale (LÄ I, 940—43). Typisch ist die Verbindung vo n Kult, Magie, Medizin, später auch Mantik und Weisheit. In der Bibel erscheinen die ägyptischen „Vo rlesepriester“ unter dem Namen hartummim (vo n äg. 〈ẖrjwḥ3bt〉 ḥrjw-tp, o„ berste o V rlesepriester“, Quaegebeur 1987) als Wahrsager, Magier und Schriftgelehrte. Hauptberufliche Schreiber, die nichts als Schreiber waren, wirkten als „Briefschreiber Pharao s“ und Sekretäre ho her Beamter. Wir werden auch mit Tradenten zu rechnen haben, denen das Ko pieren vo n Textvo rlagen o blag. Es gab zweifello s auch Gelehrte und Schriftsteller, die sich eine so umfassende Kenntnis der Schriften erwo rben haben, daß sie in der Weitergabe der Traditio n ihrerseits schöpferisch wirken und den „Traditio nsstro m“ durch eigene o K mp o siti o nen bereichern ko nnten. Die fiktiven Verfasserangaben, in die Lebenslehren im Sinne einer „Rahmung“ eingekleidet zu werden pflegen, lassen ho he und höchste Beamte als Auto ren auftreten; das entspricht der Wirklichkeit einer Ausbildung in den Kanzleien, nicht durch Lehrer, so ndern durch die Beamten selbst. Das Geheimnis der schriftgelehrten „Weisen“ ist die Fernwirkung ihrer Wo rte. So wie der Redegewandte die Situatio n, so beherrscht der Schriftgewandte die Zeit. „Bei diesen Weisen, die das Ko mmende vo rhersagten, geschah das, was aus ihrem Munde hervo rgeko mmen war. Man fand es als Spruch, aufgeschrieben in ihren Büchern (...) Sie sind zwar verbo rgen, aber ihre Magie erstreckt sich auf alle, die in ihren Büchern lesen“ (pChester Beatty IV: Brunner 1988, 59 ff). Wer schreiben kann, steigt ein in einen Diskurs, der mit den fernsten Vo rfahren und Nachko mmen über die Jahrtausende hinweg ko mmuniziert. Vo rausschau des Ko mmenden ist keine Sache inspirierter Pro pheten und Ekstatiker, so ndern lebenskluger Erfahrung und Belesenheit. Pro gno se fo lgt aus Diagno se, aus der Kunst, das Leben bis auf die typischen Tiefenstrukturen zu durchschauen (rq) und zu allgemeingültigen Aussagen zu ko mmen, die sich auch no ch nach Jahrhunderten als wahr erweisen (Brunner a. a. O.). Der ägyptische Begriff vo n Weisheit (rh-jht, der „Wissende“) ist eng mit der Schrift verknüpft. Der Wissende ist „eingedrungen in die Schriften“. „Werde eine Bücherkiste“ rät ein Lehrer dem Schüler (Brunner 1957, 179). Aber auch die Literaten waren Beamte im

IV. Schriftkulturen

Dienst des Staates. In Ägypten gab es, im Gegensatz zu China und Griechenland, keine „auto no me Intelligenz“, die gegenüber der po litischen Macht eine kritische Instanz eigener Legitimität dargestellt hätte. Bildungsund Machtelite waren identisch.

2.

Funktionen der Schriftkultur

Schrift ist in Äg. stets eingebettet in praktische Vo llzüge, zumindest aber anwendungsbezo gen. Wir können den Gesamtbereich des Schrifttums einteilen in (a) Akten, Do kumente, Briefe; (b) Literatur mit den drei Bereichen Rezitatio nsliteratur (im Kult), Erziehungsliteratur (zum Auswendiglernen) und Wissensliteratur (zum Nachschlagen), und (c) Inschriften. Einen So nderfall bildet (d) die To tenliteratur. Das entspricht weitgehend den Funkti o nsbereichen „Bür o kratie“, „Tempel“ und „Schule“, so wie den Schreibfunktio nen „Speicherung“, „Erziehung/Zirkulati o n/Publikatio n“, „Repräsentatio n“ und „Verewigung“. Da der Funktio nsbereich „Schule“ weitgehend in die Institutio nen der Verwaltung und des Tempels eingegliedert war, bilden Büro kratie und Tempel die wichtigsten Fundamente ägyptischer Schrifttraditio n (Po sener 1951, 77).

3.

Bürokratie: Texterzeugung und -speicherung im Dienst der Archive

3.1. Schrift und Wirtschaft: Akten Über alle landwirtschaftliche und handwerkliche Pro duktio n mußte Buch geführt werden, sei es zum Zwecke der Besteuerung o der der Magazinierung. Warenzirkulatio n über Märkte spielte eine verschwindend geringe Ro lle gegenüber Speicherung und Redistributio n, die Buchführung implizierten. So sehen wir in Mo dellen und Wandbildern Schreiber überall in Aktio n, wo Waren angeliefert und ausgegeben werden. Der jährliche „Aussto ß“ an beschriftetem Papyrus durch die Buchhaltung eines einzigen größeren Betriebes wird auf ca. 120 lfd. m Papyrus geschätzt (Ho chrechnung Po sener 1961 auf der Basis der Abusir-Papyri; s. o. Abb. 34.4). 3.2. Schrift und Recht: Gesetze, Edikte, Protokolle und Urkunden Die äg. Sprache unterscheidet zwischen hp „Gesetz“ und wḏ(.t) „Befehl, Edikt“. Erstere werden handschriftlich, letztere inschriftlich

34.  Die ägyptische Schriftkultur

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aufgezeichnet. Handschriftliche Rechtsbücher (ko difizierte Gesetze) sind allerdings erst ab der Spätzeit erhalten, so daß ihre Existenz für ältere Perio den umstritten ist (co ntra: Otto 1956; pro : Kruchten 1981). Der Co dex Hermo po lis stammt aus dem 6. Jahrhundert (Grunert 1982); die demo tische Chro nik erwähnt eine Gesetzessammlung unter Darius I. (Meyer 1915), in verschiedenen griechischen Quellen erfahren wir vo n Sakralgesetzen (Quaegebeur 1980/81). Was man aus älterer Zeit kennt, sind einerseits königliche Dekrete, meist Erlasse für Privilegien und Exemptio nen für einzelne Tempel, andererseits private Rechtsurkunden. Alle Rechtsvo rgänge wurden pro to ko lliert; so lche Pro to ko lle wurden bei Verhandlungen ggf. auf der Suche nach Präzedenzfällen konsultiert.

menten chro no lo gischer Orientierung. Da es keine durchgehende Jahreszählung gab, vielmehr mit jeder neuen Thro nbesteigung wieder bei Jahr 1 bego nnen wurde, bo ten die Königslisten das einzige Mittel, sich über die Ausdehnung der Zeit Rechenschaft abzulegen. Auf diesen Listen beruht auch das pto lemäische Geschichtswerk des Manetho , angereichert mit annalistischen Einträgen. Auch die Annalen (gnwt) waren nicht öffentlich, so ndern gehörten zum Archiv. Der Palermo stein allerdings bietet eine Art mo numentaler Publikatio n vo n Annalen vo n der Frühzeit bis in die 5. Dynastie.

3.3. Schrift und Geschichte: Annalen, Tagebücher

4.1. Schrift und Ritus: Kultische Rezitationsliteratur

Es gibt allgemein zwei Fo rmen vo n Geschichtschreibung: die Do kumentatio n laufender Vo rko mmnisse und die zusammenfassende retro spektive Erzählung. In Ägypten spielt Do kumentatio n die Hauptro lle. Man kennt Reste o der Erwähnungen vo n Tagebüchern verschiedener Betriebe und Institutio nen (Redfo rd 1986, 97 ff) wie Wirtschaftsbetriebe, Festungen, der Thebanischen Nekro po le, Lo gbücher vo n Schiffen, Kriegstagebücher etc. Seit dem MR treten daneben die Fo rmen mo numentaler Veröffentlichung in Fo rm vo n Stelen und Tempelinschriften so wie (v. a. im Ausland) auch Felsinschriften. Sie dienen der Ko mmemo ratio n einzelner herausgeho bener Ereignisse, vo n denen man wünscht, daß sie in die (mündliche) Überlieferung ko mmender Generatio nen eingehen. Zusammenfassende Tatenberichte, in denen ein Herrscher Rechenschaft über seine gesamte Regierungszeit ablegt, vergleichbar den bio graphischen Inschriften der Privatleute, gibt es nicht. Am nächsten ko mmt dem der Gro ße Papyrus Harris, der einer Zusammenstellung allen vo n Ramses III. gestifteten Tempelbesitzes einen histo rischen Bericht über den Übergang vo n der 19. zur 20. Dynastie und die ersten beiden Könige der 20. Dynastie, Sethnacht und Ramses III. anfügt (LÄ IV, 707). Königslisten gehörten nicht zu den öffentlichen Denkmälern. In inschriftlicher Fo rm hatten sie den liturgischen Sinn einer Opferrezitatio n im königlichen Ahnenkult. In handschriftlicher Fo rm (Turiner Papyrus) gehörte die Königsliste zu den Instru-

Die streng wo rtlautgetreue Überlieferung vo n Ritualtexten bildet weltweit die ursprünglichste und wichtigste Funktio n der Überlieferung. Im Unterschied zu den Indern, Griechen und Kelten, die hierfür der Schrift mißtrauten und das Gedächtnis für das präzisere Medium hielten, haben die Ägypter sich o ffenbar scho n sehr früh der Schrift zur Aufzeichnung ritueller „Vo r-schriften“ und Rezitatio nen bedient. Daher trägt der Ritualist den Titel „Träger der Schriftro lle“ (LÄ I, 940—43): er entnimmt der Schrift, wie das Ritual durchzuführen und was zu rezitieren ist. S o rgfältige Ritualhandschriften waren zweigeteilt und enthielten in einem Bildstreifen Skizzen der auszuführenden Handlung und in einem Textstreifen die zu rezitierenden Texte nebst Gl o ssen („Kultk o mmentare“) und Vermerken. Viele Techniken und Ko nventio nen der rituellen Schriftpraxis sind in die To tenliteratur (Sargtexte und To tenbuch) übernommen worden. Zu den wichtigsten Veränderungen gehört die Entstehung des „Theo lo gischen Diskurses“. Die theo lo gische Arbeit an der Idee der Einheit Go ttes und seiner Beziehung zur po lytheistischen Götterwelt vo llzieht sich einerseits in Hymnen kultischer (Berliner Papyri 3049, 3050, 3056) und funerärer Bestimmung (Grabinschriften), andererseits in literarischen Handschriften (Pap. Bo ulaq 17 aus der mittleren 18. Dyn. mit älteren Amun-Hymnen, pLeiden J 350, ein Zyklus vo n Amunhymnen mit Zahlenwo rtspielen, der wo hl unter einem Titel wie „das Buch der 1000 Lieder“ kursierte, pLeiden J 344, pChester Be-

4.

Tempel — Schrift und Ritus, Schrift und Wissen

484

atty IV) und berührt sich mit der im weiteren Sinne weisheitlichen Gebetsliteratur. Eine beso ndere Ro lle spielt die Bewegung der „Persönlichen Frömmigkeit“, die sich nicht nur in der genannten Gebetsliteratur, so ndern auch und vo r allem in einer Fülle vo n Vo tivstelen manifestiert, unter denen die aus Der el-Medine durch ihre bedeutenden Texte hervo rragen. Persönliche Unglücksfälle wie Krankheit, beso nders Blindheit, werden als Strafe einer erzürnten Go ttheit gedeutet, die durch öffentliches Bekenntnis und Lo bpreis in Fo rm einer Stele besänftigt werden soll (Assmann 1984, 258—67). Ritualpapyri des MR stammen aus dem Ramesseumfund (Gardiner 1955), des NR („Ritual für Ameno phis I.“) aus dem Chester Beatty Fund aus Der el Medine und der 22. Dyn. aus einem nach Berlin gelangten Fund thebanischer Herkunft (Mo ret 1902). Aus der Spätzeit sind zahlreiche Ritualpapyri erhalten, vgl. zu diesen Derchain 1965; Assmann 1990 a; Goyon 1972 u. a. 4.2. Schrift und Wissen: Priesterliche Wissens-Literatur Verstreut in verschiedenen Gattungen der Tempel- und T o tenliteratur (Verklärungen, Bauinschriften usw.) erscheinen Texte, die Elemente eines theo lo gischen Systems in ko härenter Fo rm entfalten. Zu den frühesten Beispielen gehört die Theo lo gie des Luftgo ttes Schu in Sprüchen 75—83 der Sargtexte (Assmann 1984, 209—15; Allen 1988, 13—27) und die „Theo dizee“ in Spruch 1130 (Assmann 1984, 204—8). Spruch 80 beschreibt als Mo no lo g des Schu den Mo ment der Weltentstehung als den Übergang des Einen in die Dreiheit vo n Atum, Schu und Tefnut, die als „All, Leben und Wahrheit“ ausgedeutet wird. Spruch 1130 ist ein Mo no lo g des Schöpfergo ttes, der sich vo n der Mitverschuldung des Bösen freispricht. Man hat in diesem Text die Antwo rt auf den „Vo rwurf an Go tt“ vermutet, der in den „Mahnwo rten des Ipuwer“ erho ben wird: daß Go tt aufgrund seiner Indifferenz gegenüber dem Bösen eine Mitschuld am Zerfall der Ordnung trifft (Fecht 1972). Den berühmtesten theo lo gischen Traktat enthält eine Inschrift der 25. Dyn., die „Memphitische Theo lo gie“, die sich als Abschrift einer wurmzerfressenen Handschrift ausgibt (Allen 1988, 42—47, 91—93). Sie berichtet vo n der Erschaffung der Welt durch o K nzepti o n („Herz“) und Pr o klamati o n („Zunge“) und vo n der Wirksamkeit dieser Prinzipien in der Erhaltung der Schöpfung.

IV. Schriftkulturen

Der früher meist ins AR datierte Text kann aus inhaltlichen Gründen kaum älter sein als die Ramessidenzeit (13. Jh. v. Chr.). Viele der gro ßen Hymnen der Ramessidenzeit zeigen denselben systematisierenden Zugriff und können gut als „Traktate“ gelten. (Vgl. bes. ÄHG Nrs. 127—131, 143—145; Lichtheim 1973—80 III, 109—115; Saunero n 1962; zur Reko nstruktio n der ramessidischen AmunTheo lo gie s. Assmann 1983.) Bauinschriften der griech.-röm. Tempel enthalten mytho lo gische „Mo no graphien“ über den Ursprung des Tempels (Guthub 1973). Typisch für die Wissensliteratur der Spätzeit sind geo graphische Handbücher, die für jeden Gau die relevanten Info rmatio nen (Haupto rt, Osiris-Reliquie, Go tt und Göttin, Priester und Sängerin, Barke und Kanal, Heiliger Baum und Hügel, wichtigste Feste, Tabus, Schlangen, Ackerland und Sumpfgebiet) zusammenstellen. Ausführlichere Gau-M o no graphien enthielten darüber hinaus Mythen und Kultlegenden (Vandier 1962; Beinlich 1991). Astro no mische Handbücher haben sich nicht erhalten, lassen sich aber als Vo rlagen für Sarg-, Grab- und Tempeldeko ratio nen seit dem MR erschließen (NeugebauerParker 1960). Pap. Chester Beatty III ist ein o neir o mantisches Handbuch (Sauner o n 1959). Zur Omen-Literatur kann man ferner die Tagewählerei-Kalender rechnen, vo n denen sich (seit dem MR) 9 erhalten haben (Bakir 1966). Zum Priesterwissen gehört auch das o phio ol gische Handbuch in Bro o klyn (Sauneron 1989). Irgendwo zwischen To tenliteratur und priesterlicher Wissensliteratur stehen die Unterweltsbücher der Königsgräber, Beschreibungen des nächtlichen So nnenlaufs in Bild-TextKo mpo sitio nen, deren Verwendung als königliche To tenliteratur vermutlich sekundär ist. Es handelt sich um Auflistungen vo n Handlungen und Namen unterweltlicher Wesen im Zusammenhang des So nnenlaufs, so wie lange Rezitatio nen, meist Lo bpreisungen des So nnengo ttes und Wechselreden zwischen diesem und den unterweltlichen Göttern und Wesen. Das Buch vo m Tag und vo n der Nacht bildet das ko smo graphische Gegenstück zum liturgischen Text des Stundenrituals (ÄHG Nr. 1—12), das unabhängig davo n in So nnenkultstätten des NR auftritt und erst in pto lmäischen Tempeln mit dem ko smo graphischen Teil verbunden wird. Dieser Fall beleuchtet den Sitz im Leben der Gattung „Ko smo graphie“: sie gehört zum So nnenkult und ko difiziert das für den Kultvo llzug no twen-

34.  Die ägyptische Schriftkultur

dige Wissen. Der auffallendste Zug dieser Literatur ist ihre hermetische Exklusivität. Bis zum Ende des NR ko mmt sie nur in der Deko ratio n der unterirdischen und unzugänglichen Königsgräber vor. Die medizinische und medico -magische Literatur läßt sich speziell mit dem Priestertum der Göttin Sachmet verbinden (v. Känel 1984; Ghalio unghi 1983). Medizinische Handbücher sind z. T. so rgfältig (mit ro ter Tinte) glo ssiert. Die Grenzen zwischen Medizin und Magie (hierzu Bo rgho uts 1978) sind fließend, so daß die zahlreichen Heilungszaubertexte zur medizinischen Wissensliteratur gerechnet werden müssen. Carminative Magie gehörte zum Spektrum medizinischer Anwendungen. Wissensliteratur mehr pro fanen Charakters bilden die mathematischen Handbücher (Gillings 1972) so wie „Ono mastica“, Wo rtlisten in sachlicher Ano rdnung (Gardiner 1947). Aus der Spätzeit sind auch Zeichenlisten und Ansätze grammatikalischer Ko difikatio nen überliefert (LÄ IV, 732).

5.

Schrift und Bildung

5.1. Tradieren: Kopieren, Lehren, Erweitern Man darf davo n ausgehen, daß schriftliche Texte anwendungsbezo gen waren. Geschrieben wurde nur im Hinblick auf institutio nalisierte Verwendungssituatio nen. Es gab, so viel wir wissen, keinen Buchmarkt und kein Lesepublikum. Schreiben lernte man anhand der gro ßen o der fundierenden Texte der ägyptischen Literatur (zum Pro blem der „Literarizität“ äg. Texte s. Assmann 1974; Lo prieno 1992). Vo r und unabhängig vo n der Ausbildung zu spezifischer Sachko mpetenz in einem bestimmten Resso rt der Verwaltung o der des Kults geno ß der ägyptische Schüler eine Unterweisung in literarischer Bildung. Das ist, was mit sb3jjt „Lehre, Unterweisung“ gemeint ist (Brunner 1957, vgl. hebr. musar „Zucht“, gr. paideia). Als Lehrer fungierten die Tradenten, denen zugleich das Abschreiben (und Auslegen?) der fundierenden Texte o blag, und die in beso nderen Fällen den überlieferten Bestand durch eigene Ko mpo sitio nen erweiterten. Der Traditio nsstro m und seine Pflege bildeten den Rahmen literarischer Ko mmunikatio n. Erziehungsliteratur wurde als Schulsto ff auswendig gelernt; an ihr lernte man schreiben, fo rmulieren und die Regeln gebildeten und erfolgreichen Benehmens.

485

5.2. Weisheitsliteratur Den Kernbereich der edukativen Literatur bildet in allen Epo chen der ägyptischen Geschichte die Weisheitsliteratur. Sie umfaßt zwei Gattungen: Lehren und Klagen. Die Lehren, vo n denen 17 teils ganz, teils fragmentarisch erhalten sind (Brunner 1991), dürften die älteste literarische Gattung darstellen; zugleich ist sie bis in die griechischrömische Zeit pro duktiv geblieben (Lichtheim 1983). Typisch für diese Gattung ist der Bezug auf eine als Verfasser auftretende Lehrauto rität. Da im Falle der Lehre des Königs Amenemhet I. der Dichter Cheti als der eigentliche Verfasser überliefert ist, dürfte es sich auch bei den anderen Verfassernamen um literarische Rahmenfiktio nen handeln, so daß die Geschichte der Gattung nicht unbedingt bis in die 3. Dynastie, zu Imuthes zurückgehen muß, der als erster Weisheitsauto r gilt (wenn auch seine Lehre nicht erhalten ist). Vo llständig und in mehreren Fassungen erhalten ist die Lehre des Wesirs Ptahho tep unter Aso sis (5. Dynastie; ein histo rischer Wesir dieses Namens ist in der 6. Dynastie bezeugt), die bei weitem bedeutendste Lehre, die bis in die Spätzeit und vielleicht so gar darüber hinaus (Brunner 1988, 417—20) bekannt war. Ob diese Texte wirklich ins AR zu datieren sind (die erhaltenen Handschriften stammen frühestens aus dem MR), o der vielmehr in der Herakleo po litenzeit und der 12. Dyn. entstanden sind, ist umstritten. Der fiktio nale Charakter der Verfasserschaft ist jedo ch in den meisten Fällen evident. In der Zeit nach dem AR treten so gar Könige als „Verfasser“ vo n Lehren auf: der Vater des Königs Merikare (10. Dyn.) und Amenemhet I. (12. Dyn.). Im NR tragen die „Verfasser“ vo n Lehren bescheidenere Titel. Ani ist Tempelschreiber, Amenem o pe Katasterschreiber. Inhalt der Lehren ist das, was der Ägypter Ma’at („Wahrheit — Gerechtigkeit — Ordnung“) nennt, das Prinzip des richtigen Lebens und Handelns, das einen Menschen so wo hl im Einklang mit seinen Mitmenschen hält als auch zum Erfo lg im irdischen Leben und zur Fo rtdauer im Jenseits verhilft (Assmann 1990). Der Gegenwert dieser Ethik des Gemeinsinns ist Habgier, das ego istische Streben nach Selbstbereicherung auf Ko sten anderer, das den einzelnen iso liert und dadurch der Vergänglichkeit preisgibt. Als wichtigste Entwicklungslinie in der Geschichte dieser Gattung tritt ihre Theo lo gisierung hervo r. Was als Einstimmung in eine wesentlich diesseitige,

IV. Schriftkulturen

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wenn auch göttlich fundierte Ordnung beginnt, wird allmählich zur Unterwerfung unter den Willen Go ttes. Die so zialen Tugenden der Rücksicht, Selbstbeherrschung und Bescheidenheit nehmen die spezifisch religiöse Färbung der Demut, Go ttesfurcht und Frömmigkeit an. Diese Po sitio n ist bei Amenemo pe erreicht; eine wichtige Po sitio n auf diesem Wege markiert die Lehre für Merikare mit ihren gro ßartigen Abschnitten über das To tengericht und den Schöpfergo tt als Hirten seiner Schöpfung. Im späteren NR erweitern sich daher die Gattungen der Weisheitsliteratur um religiöse Texte: Gebete und Hymnen an die Götter („Persönliche Frömmigkeit“: Fecht 1965). Die andere bedeutende Gattung der Weisheitsliteratur bilden die Klagen. Unter diesem Oberbegriff fassen wir die Werke der „Auseinandersetzungsliteratur“ (Spuler 1970, 139—57; engl. Übers. der meisten Texte in Lichtheim 1973—80) zusammen, d. h. die Klagen über die durch den Verlust an so zialer Gerechtigkeit (Ma’at) aus den Fugen geratenen Welt, z. B. die Mahnwo rte des Ipuwer (pLeiden J 344), die Pro phezeiungen des Neferti (pPetersburg 1116 b), die Klagen des Chacheperresenb (tBM 5645), u. a. m. Alle diese Texte stammen vermutlich aus dem MR, teilweise in Fo rtführung einer aus der Erfahrung des Zerfalls des AR-Staates erwachsenden Traditio n. Aus späterer Zeit stammen Der Mo skauer Literarische Brief (pMo skau 127 LÄ IV, 724), Das Töpfero rakel (griechisch), Das Orakel des Lammes und die Demo tische Chro nik (beide demo tisch). Es handelt sich um „po litische Chao s-Beschreibungen“ (Assmann 1991, 259—87), die das Pro blem der so zialen Gerechtigkeit (Ma’at) auf der Ebene des gesamtgesellschaftlichen Gelingens behandeln und sich daher mit den Lebenslehren ergänzen, die sich diesem Pro blem auf der Ebene individuellen Gelingens widmen. Mit den Klagen berühren sich die Harfnerlieder, eine Gattung der Gelagepo esie (Fo x 1982), die durch elegische Beschwörung der Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit des irdischen Lebens (memento mori-Mo tiv) zum Genuß des festlichen Augenblicks aufruft (carpe diem-Mo tiv) (Assmann 1991, 215— 226). 5.3. Erzählende Literatur Die erzählende Literatur des MR gehört ebenfalls in den Rahmen der edukativen Literatur (Otto 1966; Eyre 1990, 150 ff). Sie wird durch zwei Erzählungen vertreten, die beide

außerhalb Ägyptens spielen. (1) Sinuhe flieht im Zusammenhang der Ermo rdung Amenemhets I. nach Palästina, wo er zu Reichtum und Würden aufsteigt, kehrt aber auf dem Höhepunkt seiner Karriere nach Ägypten zurück, um sich mit dem König auszusöhnen und in dessen Gunst zu sterben und begraben zu werden (Lo prieno 1988). Die Geschichte reflektiert die Pro bleme des Willens (die Flucht wird einem „Plan Go ttes“ zugeschrieben), so wie der Beziehungen, in die der einzelne gestellt ist zu Go tt, zum König, zu den Mitmenschen und seinem eigenen Inneren („Herz“). Außerdem beleuchtet sie die typisch ägyptische Verbindung zwischen Herrschaft und Heil, Staat und Unsterblichkeit, Königsgunst und Mo numentalgrab. (2) Der Schiffbrüchige (Lo prieno 1991) strandet auf einer Insel und begegnet do rt einer schlangengestaltigen Go ttheit. Auch hier geht es um dasselbe Beziehungsgeflecht vo n Individuum, Go tt, König, Mitmenschen und „Herz“. Der Held muß lernen, daß „Go tt“ ihn zu dieser Insel gebracht hat und daß er sein Herz in Geduld und Standhaftigkeit üben muß, um heimkehren zu können zum König und zu seiner Familie. Aus späterer Zeit läßt sich nur der Bericht des Wenamun (pMo skau 120, LÄ IV 724) mit diesen Erzählungen vergleichen. Gemeinsam ist diesen Werken neben dem ausländischen Schauplatz die Orientierung an einem außerliterarischen Ausgangstyp: bei Sinuhe die auto bio graphische Grabinschrift, beim Schiffbrüchigen und Wenamun der Expeditio nsbericht (zu dieser Gattung s. Blumenthal 1977). 5.4. Kanonische und außerkanonische Literatur Die Erzählliteratur des NR scheint nicht mehr an den edukativen Rahmen der „Bildung“ gebunden. Jetzt bildet sich ein vo n funktio nalen Bezügen entlasteter Raum des Vergnügens an schönen Texten und Handschriften heraus, in deutlicher Abgrenzung gegenüber dem kano nisierten Bereich der „Schulklassiker“. Dieser basiert auf einer Auswahl vo n Bildungstexten des MR und läßt sich bestimmen anhand des Mehrfachvo rko mmens der Texte, vo r allem auf Ostraka (Kalksteinsplitter, seltener To pfscherben), wie sie als billigstes Schreibmaterial im Schulunterricht verwendet wurden. Die klassischen Texte wurden auswendig gelernt und abschnittsweise niedergeschrieben, wo bei die zahlreichen Fehler zeigen, daß auf Sinnverständnis wenig Wert gelegt wurde und eine die Überlieferung dieser

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Texte begleitende Auslegungskultur nicht entwickelt war (Burkard 1977). Den Häufigkeitsreko rd halten Texte wie Die Lehre des Cheti (eine Satire der praktischen Berufe zum Lo bpreis des Schreiberberufs), Die Lehre des Königs Amenemhet I., Der Nilhymnus (alle drei Texte gelten als Werke des Dichters Cheti), Neferti, Die Lo yalistische Lehre, Die Lehre eines Mannes an seinen So hn, das Schulbuch Kemit so wie, deutlich seltener bezeugt, Djedefho r, Ptahho tep und Sinuhe. Viele bedeutende Werke der MR-Literatur, vo r allem Klagen, sind in diesen Kano n nicht aufgeno mmen (Bauer, Lebensmüder, Schiffbrüchiger). Vo n neuen Texten gehören zum Schulkano n Die literarische Streitschrift (pAnastasi I), Die Lehre des Ani und die Übungstexte der auf das Vo rbild der Kemit zurückgehenden Miszellaneen mit Mo dellbriefen und literarischen Übungsstücken aller Art wie Eulo gien, Hymnen, Gebete, Ermahnungen an den Schüler, nicht So ldat zu werden, sich nicht zu betrinken o der entsprechenden Ausschweifungen hinzugeben, Berufssatiren nach dem Vo rbild des Cheti, Listen mit Waren etc. (Camino s 1957). Echte Briefe, vo n denen eine ganze Anzahl erhalten sind, zeigen die Wirkung dieses Trainings (Bakir 1970; Wente 1967). Dem Schulkano n stehen die Neuägyptischen Erzählungen (Hintze 1950/52) gegenüber, die jeweils nur auf einer einzigen Handschrift bezeugt sind: die Wundererzählungen des Pap. Westcar, das Zweibrüdermärchen des Pap. D’Orbiney (Blumenthal 1973), der Verwunschene Prinz, Der Streit zwischen Ho rus und Seth und viele andere: Erstverschriftlichungen mündlich umlaufender Erzählungen, o ffenbar zum Zwecke der Unterhaltung (alle übers. in Brunner-Traut 1989). Zur gleichen Überlieferungsfo rm gehören Liebeslieder, vo n denen mehrere Zyklen bekannt sind (Fo x 1985) so wie Papyri und Ostraka mit satirisch-karnevalesken und o bszönen Zeichnungen. Hierbei scheint es sich um Illustratio nen vo n Fabeln (Brunner-Traut 1968) und Fabliaux (pTurin Cat. 2031 LÄ IV 736, C5) zu handeln, deren Texte nur in mündlicher Traditio n existieren. Vo n den Fabeln tauchen einige über 1000 Jahre später in demo tischen und griechischen Texten auf. Beso nders charakteristisch ist das Thema der Verkehrten Welt (z. B. ein Mäuse-Pharao , der eine vo n Katzen verteidigte Stadt ero bert: BrunnerTraut 1968, 4 mit fig. 1) o der ein Nilpferd im Feigenbaum (ibd. 5 mit fig. 8).

487

6.

Repräsentation: der „monumentale Diskurs“

6.1. Königliche Monumente Alles weist darauf hin, daß sich in Ägypten die Schrift aus vo rschriftlichen No tatio nssystemen entwickelt hat, die im Dienst der Repräsentatio n po litischer Gewalt und Identität standen, im Gegensatz zu Vo rderasien, wo das vo rschriftliche No tatio nssystem in den Bereich der Wirtschaft weist (Schlo tt 1989). Aus diesen Ursprüngen entwickeln sich im MR die verschiedenen Gattungen der Königsinschriften: Stelen zur „Verewigung“ histo rischer Ereignisse, o ft in der Fo rm der „Königsno velle“ als beso nders elabo rierter narrativer Einkleidung (Hermann 1938; Eyre 1990; Spalinger 1982, 101—114; LÄ II, 566—68), Tempelinschriften usw., immer in engstem Verbund mit Bilddarstellungen, die den König im Kult vo r Go ttheiten o der beim „Erschlagen der Feinde“ darstellen. Die Königsinschriften berichten, begründen und legitimieren königliches Handeln, wo bei die Gewichte verschieden verteilt sind. In Bauinschriften liegt das Gewicht meist auf der Legitimatio n durch theo ol gische Überhöhung, in Feldzugsberichten (Spalinger 1982) auf der narrativen Spezifikatio n. Höhepunkte bilden hier die Kamo se-Stelen mit dem Bericht der Befreiungskämpfe gegen die Hykso s (17./18. Dyn., um 1580 v. Chr.) und das Gedicht über die Kadesch-Schlacht Ramses II. (1274 v. Chr.; v. d. Way 1984). Vo n beiden Texten existieren (was eine gro ße Ausnahme darstellt) auch literarische Fassungen auf Schreibtafel bzw. Papyrus. In der Ramessidenzeit verändert sich im Zusammenhang mit einer Theo lo gisierung des Geschichtsbildes der Teno r der Inschriften. Das einzelne Ereignis gewinnt jetzt an Bedeutung, indem es als göttliche Interventio n zugunsten des Königs gedeutet wird. In der Kadesch-Schlacht greift Amun rettend ein. Merenptah geht bei seinem Bericht der Libyerschlacht no ch einen Schritt weiter: er läßt dem irdischen Kampf einen Rechtsstreit im Himmel vo rausgehen, wo bereits das Urteil über seinen Gegner gefällt und Merenptah der Sieg zugespro chen wird, so daß der König überhaupt erst aufgrund göttlicher Bev o llmächtigung militärisch aktiv wird. Die inschriftlichen Tatenberichte standen in den äußeren Tempelbezirken und waren darauf angelegt, vo n Besuchern, die anläßlich vo n Festen bis in die Vo rhöfe zugelassen waren, gelesen zu werden. Sie so llten

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IV. Schriftkulturen

Nachruhm im ko llektiven Gedächtnis stiften; und in der Tat findet sich bei Hero do t (II 101) und Dio do r (I 45) die Vo rstellung, die ersten „52 Könige“, d. h. die Könige des Alten Reichs, hätten keine nennenswerten Taten vo llbracht, was sich daraus erklärt, daß die Gattung des m o numentalen Tatenberichts erst mit dem Mittleren Reich aufkommt. 6.2. Nichtkönigliche Inschriften Der Aufzeichnungsrahmen des mo numentalen Privatgrabes, ab MR auch der Tempelstatue, bietet Raum für eine Vielzahl verschiedener Textgattungen, die teils auf den To tenkult, teils auf Grabbesucher bezo gen sind. Unter den letzteren ragen die Inschriften bio graphischen Inhalts heraus (Lichtheim 1988). Als schriftliches Medium der Selbstrepräsentatio n ergänzen sie sich mit dem bildlichen Medium der gleichfalls ho chstehenden Po rträtkunst (Assmann 1991, 138—168). In den bio graphischen Inschriften zieht ein Grabherr die Summe seines Lebens. Dabei sind zwei Aspekte maßgebend, die ursprünglich in zwei distinkten Gattungen behandelt werden: die Beamtenkarriere im Königsdienst und das Bekenntnis zur ethischen No rm der Ma’at. Erst nach dem Zusammenbruch des AR fallen diese Bereiche zusammen: auch die Karriere wird „ethisiert“, ein Kano n vo n Beamtentugenden bildet sich heraus wie Schweigen, Selbstherrschung, Bescheidenheit, o V raussicht, Wo hltätigkeit, Freundlichkeit, Gro ßzügigkeit, Lo yalität, Bildung usw. (Lichtheim 1988). Die Idee einer Selbstverewigung im Medium der Schrift, wie sie dem Ho razischen aere perennius zugrunde liegt, wird scho n in Ägypten selbst vo m mo numentalen auf das literarische Denkmal übertragen (Assmann 1991, 169—178: pChester Beatty IV), das als Überbietung des Grabmonuments erscheint.

7.

Totenliteratur — Rezitationsliteratur und Wissensausstattung

Die ägyptische To tenliteratur (Altenmüller, in: Spuler 1970, 52—81) bildet innerhalb der ägyptischen Überlieferung den Bereich mit den os rgfältigsten Schrifttraditio nen. Hier entsteht der erste und bedeutendste katechetische Ko mmentar (To tenbuch Kap. 17), hier bilden sich Fo rmen systematischen Vo rlagenund Variantenvergleichs heraus (Rößler-Köh ler 1976). Offensichtlich benutzte ein so rgfältiger Schreiber mehrere Vo rlagen und no tierte

abweichende Lesarten. Die To tenliteratur existiert in drei Aufzeichnungsfo rmen, die sich auf das Alte, Mittlere und Neue Reich verteilen: als Steininschrift auf den Wänden der inneren Pyramidenkammern (Faulkner 1969), auf den Innenwänden hölzerner Särge (Sargtexte in Kursivhiero glyphen auf Stuck, Übers. frz. Barguet 1986; engl. Faulkner 1973—78) und auf Papyrus (To tenbücher Übers. Ho rnung 1979). Die Geschichte der äg. To tenliteratur ist der Pro zeß einer allmählichen Ko nstitutio n eines eigenständigen schriftkulturellen Gebiets. Die Pyramidentexte sind weitgehend sekundäre „Verinschriftlichung“ vo n Texten, deren eigentlicher Ort der Kult ist (s. o . 4.1. „Schrift und Ritus“). Wenn uns auch vo n den „Festro llen“, die als Vo rlage gedient haben müssen, direkt nichts erhalten ist, zeigt do ch das Vo rko mmen identischer Spruchfo lgen auf Papyri der Spätzeit, daß hier Liturgien zugrundeliegen, die im Ritualko ntext über die Jahrtausende hin weitertradiert wurden. Die MR-Särge übernehmen viele dieser Liturgien aus den Pyramidentexten und weisen dazu eine gro ße Masse neuer „Sprüche“ auf. Als No vum treten jetzt Spruchtitel hinzu, die die Texte explizit für den Gebrauch des To ten umfunktio nieren. Weitaus die meisten dienen dazu, im Jenseits eine bestimmte Gestalt anzunehmen („Verwandlungssprüche“), andere, einen To ten zu einem verklärten Geist zu machen („Verklärungen“) usw. Gegenüber den Pyramiden des AR hat sich jetzt die To tenliteratur als ein Funktio nsrahmen ko nstituiert, im Sinne magischer Rezitatio nen mit spezifischer Heilseffizienz. Der Abstand zwischen der Ausgangsfo rm, der „Festro lle“, und der Zielfo rm, der beschrifteten Sargwand, ist viel geringer, da für die Beschriftung dieselben Schreibgeräte verwendet und Schriftko nventio nen befo lgt werden. Bei den To tenbüchern des NR ist dieser Abstand verschwunden. Jetzt werden nicht mehr Festro llen ko piert, so ndern ältere Totenbücher. Die To tenliteratur hat sich auch überlieferungstechnisch als eigenes Gebiet ausdifferenziert. Die einzelnen Handschriften sind aber immer no ch weitgehend individuell zusammengestellt; Bestand und Reihenfo lge der Sprüche liegen nicht fest. Dieser Schritt wird erst ansatzweise in der 21. Dyn., dann endgültig in der Saitenzeit vo llzo gen. Mit der Kano nisierung des To tenbuchs (vgl. hierzu Co lpe 1987) einher geht die Entstehung neuer Ko mpo sitio nen der To tenliteratur. In der 21. Dyn. entstehen die „Mytho lo gical Papyri“,

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die neben Texten vo r allem ho chsymbo lische Bildko mpo sitio nen enthalten (Niwinski 1989), so wie die Kurzfassungen des Amduat (Sadek 1985). Im Gefo lge der späteren Kano nisierung entstehen das „Buch vo m Verbringen der Ewigkeit“ (LÄ II, 54 f) und die beiden „Bücher vo m Atmen“ (Go yo n 1972; 1974). Jetzt werden auch gelegentlich Rituale des Osiriskults an To tenbuchro llen angehängt o der in eigenen Schriftro llen ins Grab mitgegeben. Eine gro ße Fülle vo n Osiris-Liturgien sind uns auf diese Weise erhalten und vermitteln eine Vo rstellung vo m Aussehen der „Festro llen“ des Vo rlesepriesters. Einzelne Rituale enthalten dieselben Texte, die scho n den Beschriftern der Pyramiden als Vo rlage gedient haben (Möller 1900). Diese Handschriften verwenden ein schönes, flüssiges und archaisierendes Hieratisch, das erst in der Römerzeit erstarrt. Einzelne Sprüche werden o ft in einzelnen Ko lumnen angeo rdnet; auch stichische Schreibung ist nicht selten. So lche o sirianischen To tenliturgien (zu dieser Gattung s. Assmann 1990 a) sind auch demo tisch belegt (pBM 10 507 ed. Smith 1987). Damit kehrt die To tenliteratur zu ihrem Ursprung zurück: zur Verschriftlichung kultischer Rezitatio nsliteratur zum Zwecke der Grabbeigabe. Nachdem sich die eigentliche To tenliteratur vo m To tenkult abgeso ndert hatte und sich als Ausstattung des To ten mit dem zum Bestehen der Jenseitsreise nötigen Wissensvo rrat verstand, werden jetzt neue Fo rmen entwickelt, dem To ten auch die Kultrezitatio nen mitzugeben.

8.

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IV. Schriftkulturen

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Jan Assmann, Heidelberg (Deutschland)

35. Die Keilschriftkulturen des Vorderen Orients 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Anfänge (Proto-Keilschrift) Altsumerische Zeit Akkadzeit Neusumerische Zeit Altbabylonisch-Altassyrische Zeit Mittelbabylonisch/-assyrische Zeit Das 1. Jahrtausend Literatur

1.

Anfänge (Proto-Keilschrift)

1.1. Schriftgeschichte 1.1.1. Voraussetzungen Die Schrifterfindung in Südmeso po tamien (Uruk?) an der Wende vo m 4. zum 3. Jahrtausend v. Chr. fußte auf Vo rläufern, dem System der in To nbälle eingeschlo ssenen, mit

492

Siegelabro llungen gesicherten Zählsteine (→ Art. 16). Griffeleindrücke als Zahlzeichen erübrigten das Zerbrechen der Bälle für Mo nats- o der Jahresabrechnungen und erlaubten ein nachprüfbares Rechnungswesen. Kissenförmige, gesiegelte To ntafeln (o hne Zählsteine) mit Zahleindrücken fo lgen; das Gezählte legten andere Ko nventio nen fest (z. B. Aufbewahrungso rt, Tafelfo rm). So lche Zahlen-Tafeln fanden sich auch in Iran (z. B. Susa, Go din Tepe, Tepe Sialk), in No rdsyrien (z. B. Ǧebel Arūda, Habūba Kabīra). Der Siegelabdruck auf Urkunden aus Recht und Wirtschaft bleibt durch Jahrtausende Zeichen für Verantw o rtlichkeit und Anerkennung einer Verpflichtung. 1.1.2. Anfänge der Schrift Das Ersetzen der Zählsteine durch mit spitzem Griffel in To n geritzte Bildzeichen erscheint im Rückblick naheliegend. Es hat wie kaum eine andere Erfindung die Kulturen Asiens und Euro pas geprägt. — In Südmeso po tamien entstand die Vo rfo rm der babylo nisch-assyrischen Keilschrift (KS), in Iran unabhängig davo n die (no ch unentzifferte) pro to -elamische Bilderschrift, die vermutlich zur elamischen Strichschrift des letzten Drittels des 3. Jahrtausends v. Chr. führte (→ Art. 18) und mit ihr endete. Aus Syrien fehlen Textfunde bis ca. 2400 v. Chr.; man kann vermuten, die babylo nische Pro to -KS sei do rt überno mmen wo rden. Wie diese nach Südo stEuro pa gelangte, ist no ch ganz unklar (Falkenstein 1965). 1.1.3. Sprache Die der Pro to -KS zugrundeliegende Sprache war sehr wahrscheinlich das Sumerische, eine Ergativ-Sprache vo m agglutinierenden Typ o hne bekannte Verwandte. Hinweise auf eine in Südmeso po tamien zwischen Schrifterfindung und eindeutig sumerischen Texten (um 2600 v. Chr.) vo rherrschende andere Sprache fehlen; Indiz ist auch die Schreibung der Zahlen im Sexagesimalsystem. Das Sumerische benennt seine Zahlen sexagesimal. Zwischen /aš/ = 1 (= 600) und /ĝéš/ = 60(1) kennt es zwar Fünfer- (z. B.: 7 = 5 + 2), Zehner- und Zwanzigerschritte (30 = 3 × 10, 40 = 20 × 2), genuin benannt sind wieder 602 /šár/ und, davo n abgeleitet, 603 /šár gal/ (gro ßes šár), 604 /šár gal šu nu-tag-ga/ (unerreichtes, gro ßes /šár/); vgl. Powell 1972. 1.2. Alltagstexte und Schulbildung

IV. Schriftkulturen

1.2.1. Enzyklopädische „Lehrbücher“ Der einfach scheinende Gedanke, Symbo le zu zeichnen, setzte die gewaltige Anstrengung vo raus, ein allgemein verbindliches System vo n Zeichenfo rmen und ihnen zugeo rdneten Bedeutungen (Wörtern) zu schaffen, das weit über das Inventar der Fo rmen vo n Zählsteinen hinausgriff. Es mußte gelehrt werden; die „Schule“ entstand. Der Lehrsto ff brauchte eine feste, dauerhafte Ordnung. Didaktisch geschickt wählte man die vo n Sachgruppen in Listen, erfaßte und o rdnete die vo rgefundene Welt, Ko nkretes wie Abstraktes (z. B. Ämter), nach übergeo rdneten Katego rien, gemeinsamen Merkmalen, Funktio nen etc., als enzyklo pädische Lexika. Das blieb bis zum Ende der KS Grundlage der Schreiberausbildung (später auch andere Typen). Die Identifizierung der Pro to -KS-Zeichen der frühesten lexikalischen Texte begünstigen jüngere Duplikate (Fāra, Tell Abū Ṣalābīḫ, Ebla, auch aus dem 2. und 1. Jahrtausend v. Chr.). Vo m 2. Jahrtausend an sind die Listen auch zweisprachig, (sumerisch-akkadisch), in Ugarit und bei den Hethitern mehrsprachig. Sie bilden das Gerüst des angesammelten Wissens; der mündliche Unterricht vermittelte ko mplexe Info rmatio nen, warum ein Wo rt mit einem bestimmten Zeichen geschrieben an dieser Stelle in dieser Liste aufgeführt ist (Cavigneaux 1976). — Die gro ße geistige Leistung analytischen wie ko nstruktiven Denkens (vo n So den 1936) in der Ko mpilatio n der Listen steht nicht allein; Tempelbezirke vo n der Größe des E’ana in Uruk setzen die Handhabung einer verzweigten Wirtschaftsverwaltung vo raus, und die Architektur der gewaltigen Tempel mit ihren ko mpliziert gegliederten Räumen stellte höchste Ansprüche an die Fähigkeit, exakt zu planen und z. B. die Statik korrekt zu berechnen. 1.2.2. Formulare Die meisten Pro to -KS-Texte sind Wirtschaftsurkunden, tägliche, mo natliche o der jährliche Abrechnungen vo n Tempeldienststellen über Einnahmen und Ausgaben vo n Gro ß- und Kleinvieh, Getreide und seinen Pro dukten (Mehl, Bro t, Bier) o der Obst und Wein, über Arbeit und hergestellte und verarbeitete Waren wie Keramikgefäße, Wo lle und Tuche, etc. in Listenfo rm mit summierendem Schlußvermerk. — Da die Schrift dieser Zeit nur Zahl- und Wo rtzeichen kennt, ist der für das Verstehen nötige Zusammenhang meta-

35.  Die Keilschriftkulturen des Vorderen Orients

sprachlich durch die Ano rdnung der Einträge auf der To ntafel ko diert: Urkundenfo rmulare sind ebenso wie der Katalo g der Schriftzeichen no rmiert und waren vo m Schreiber zu erlernen. Die mo derne Fo rschung steckt hier no ch in den Kinderschuhen. Fo rmulare bleiben bis ins 1. Jahrtausend wesentliche Merkmale vo n Do kumenten der Verwaltung und des Rechts; ihre Kenntnis ist unerläßlich für das Verständnis der einzelnen Texte. 1.2.3. Mathematik Über die Schreiberausbildung dieser frühen Zeit ist so nst nichts bekannt; Mathematik (ko mplizierte Rechenarten und Geo metrie) gehörte vo n Anfang an dazu, galt es do ch, z. B. Saatgut, Erträge und Ratio nen für Mensch und Vieh über größere Zeiträume zu berechnen, Felder zu vermessen, die Anzahl vo n Arbeitern beim Ausheben vo n Kanälen zu berechnen, das Vo lumen der zu bewegenden Erdmasse zu bestimmen, etc. — Die Schreibkunst war vermutlich auf den kleinen Kreis der Verwaltungsbeamten beschränkt. 1.2.4. Dokumente über Landerwerb Außer „Schulbüchern“ und Wirtschaftsurkunden sind seit der Phase der Pro to -KS (ab Uruk III) Steindo kumente über Erwerb vo n, o der Rechte an Ländereien bezeugt: Steintafeln mit Reliefschmuck, vo m Text überzo gene Tierfiguren o der (später) Statuen mit Inschrift. Scho n die frühesten zeigen strukturelle Ähnlichkeiten (Fo rmular); es kann sich um (geraffte?) Abschriften vo n Rechtsurkunden auf To n handeln, vo n denen selbst (kaum Privathäuser der Zeit in Meso po tamien ergraben) nichts erhalten ist. Am Ende des 3. Jahrtausends verschwindet diese Denkmalgattung, lebt aber ½ Jahrtausend später in den kudurru (vgl. 6.2.) wieder auf; wie diese waren sie (mo dern ebenfalls kudurru genannt) wo hl in Tempeln depo niert (Gelb, Steinkeller & Whiting 1991). 1.2.5. Weitere Textarten? Die Existenz anderer Textgattungen zu dieser Zeit ist möglich. Altsumerische Schultexte (z. B. Beschwörungen und po etische Texte aus Fāra und Tell Abū Ṣalābīḫ) zeigen wie lexikalische Tafeln vo r jedem Eintrag einen Griffeleindruck („Zählkeil“). So können no ch nicht verständliche Pro to -KS-Tafeln mit diesem Merkmal auch andere Inhalte als lexikalische Listen haben. Einmal in Gebrauch geko mmene Textarten mögen sich wandeln, bleiben aber in aller Regel erhalten; im fo l-

493

genden wird darum vo r allem auf das jeweils Neue abgehoben. 1.3. Aufbewahrung, Fundumstände To ntafeln bewahrte man in Keramikgefäßen, Lederbeuteln, Körben (mit den Inhalt nennenden Etiketten) o der auf hölzernen o der gemauerten Regalen auf. Im neubabylo nischen Sippir lagen sie in Wandnischen eines Biblio theksraumes(?). Funde verdanken wir meist Katastro phen, wenn Tafeln aus einstürzenden o der brennenden Gebäuden nicht zu retten waren. Oder sie sind wie der Inhalt mo derner Papierkörbe Teil achtlo s weggewo rfenen Abfalls, manchmal wegen ihres festen Tons Unterlage von Türschwellen.

2.

Altsumerische Zeit

2.1. Schriftgeschichte Auf der Fāra-Stufe (ca. 2600 v. Chr.) hat die Schrift aus Wo rtzeichen genügend silbische Lesungen abstrahiert, um eine (für Muttersprachler) genügende grammatische Eindeutigkeit zu erzielen, die ko mplexere Zusammenhänge schriftlich festzuhalten erlaubte (→ Art. 18, Zf. 6.5.2.). Dieses Instrument wird in der altsumerischen Epo che zunehmend verfeinert; an ihrem Ende (Irikagina vo n Lagaš, Lugal-zage-si vo n Uruk und Umma) wird jede gespro chene Silbe geschrieben; jedo ch nicht immer in ihrer Lautung vo llständig no tiert. Fo rmulargebundene Texte erlauben für Kenner des Fo rmulars ergänzbare Verkürzungen. 2.2. Alltagstexte 2.2.1. Wirtschaftsurkunden Abrechnungen der Wirtschaftsverwaltung vo n Tempel und Staat werden durchsichtiger, in Fāra bereits mit finiten Verbalfo rmen (Edzard 1976, 194 f), was in Ĝirsu, Umma, Nippur und Adab zur Regel wird. Schlußvermerke no tieren den Verwaltungsbereich (z. B. der Ehefrau des Stadtfürsten) und den verantwo rtlichen Beamten. Gegen Ende der Perio de (vo r allem in Girsu und Umma) beginnt man, Urkunden zu datieren. Später allgemein übliche Jahresnamen ko mmen in Nippur und im syrischen Ebla auf. 2.2.2. Rechtsurkunden Einige Rechtsgeschäfte werden häufig beurkundet (vgl. 1.2.4.), Schenkung vo n Haus und Sklaven scho n in Fāra verbal stilisiert. In

494

Fāra no minal gehaltene, seit E’anatum vo n Lagaš (um 2450 v. Chr.) verbal stilisierte Kaufurkunden nennen außer Gegenstand (Feld/Haus), Preis, Käufer, Verkäufer (mit Verwandten) und Zeugen der Parteien auch öffentliche Zeugen (Vermesser, Hero ld, Felderschreiber). Unter späteren Lagaš-Herrschern gibt es erste Sklavenkaufurkunden (vgl. Edzard 1968; Krecher 1974; Gelb et al. 1991). 2.2.3. Briefe Der Brief, Mittel schriftlicher Ko mmunikatio n schlechthin, taucht erst spät, am Ende der Epo che auf. Drei der sechs Beispiele gehören zur Ko rrespo ndenz der Herrscher vo n Lagaš mit Verwaltungsbeamten (So llberger 1956, Enz. 1, N.12.14.). Sumerische, später auch akkadische Briefe verwenden bis ins 1. Jahrtausend die Bo tenfo rmel „Zu X sprich! So (sagt) Y.“ Ob diese Fo rmel besagt, der geschriebene Brief sei zunächst nur Begleitund Belegtext einer mündlichen Bo tschaft, o der o b sie nur dem mündlichen Bo tenverkehr abgeschaut ist, ist nicht festzustellen. Das sumerische Wo rt /ù-na(-a)-du11/ „Brief“ ist die lexikalisierte Auffo rderung an den Bo ten „Sprich zu ...“ und wird als unnedukkum ins Babylo nische entlehnt. Der epischen Traditio n gilt ein Brief als erstes Schriftstück: Enmerkar erfindet das Schreiben auf To n, weil die Zunge seines Boten „schwer“ ist. 2.3. Königsinschriften Die frühesten Königsinschriften finden sich auf Weihegaben. Eine Steinschale (vo r der Fāra-Zeit) identifiziert den Spender „Mebára(ge)-si, König vo n Kiš“ (Edzard 1959); wenig später steht auf einer reliefgeschmückten, steinernen Keule: „Mesal(l)im, König vo n Kiš, Haus-Erbauer des (Go ttes) Ninĝirsu, hat dem (Go tt) Nin-ĝirsu (diese Keule) hineingebracht. Lugal-šà-engur (war) Stadtfürst vo n Lagaš“ (Steible 1982/2, 215 f). UrNanše, der Begründer der 1. Dynastie vo n Lagaš, identifiziert auf Weihplaketten Familienmitglieder und Bedienstete namentlich und zählt wie auf Steintafeln auf, welche Tempel er errichtet habe. Vo n ihm stammen auch erste Feldzugsberichte: die unentzifferte Stele Steible 1982/1: Urn. 50 und eine no ch altsumerisch vo n einer Stele ko pierte Übungsabschrift in Stein (Co o per, 1980, 104 ff, Steible 1982/1: Urn. 51). Andere pro minente Träger vo n Original-Inschriften sind Statuen, Backsteine und Nägel aus Metall o der (nicht bei Ur-Nanše) To n. Ur-Nanšes Nachfo lger be-

IV. Schriftkulturen

richten detaillierter. Texte auf ho hlen „To nkegeln“ (zur Fo rm: Co o per 1985) sind vielleicht Schüler-Abschriften vo n Stelen. Sein Enkel E’anatum beschreibt z. B. (Geierstele) den Krieg mit dem Nachbarstaat Umma samt Vo rgeschichte, dann ausführlich den Eid des unterlegenen Herrschers vo n Umma; Enmetena verlegt den Anfang dieses zur Zeit des Mesa(l)lim vo n Kiš beginnenden Ko nfliktes in die Welt der Götter. Der Usurpato r Irikagina berichtet über umfangreiche rechtliche Refo rmen; er beschreibt vo n Lugal-zage-si begangene Frevel, beto nt seine Unschuld und fo rdert, Lugal-zage-sis Göttin Nisaba so lle diesen bestrafen. Stilistisch gehören diese Texte zur geho benen Sprache, sie sind Literatur. Sehr kunstvo ll ist die Vaseninschrift des Lugal-zage-si gestaltet (Wilcke 1991). Königsinschriften aus Mari am mittleren Euphrat sind (west)akkadisch zu lesen. 2.4. Schule und Literatur Altsumerisch sind die meisten Gattungen sumerischer Literatur späterer Epo chen bereits vertreten, o ft in Schülerhandschriften; Ko lo pho ne vo m Tell Abū Ṣalābīḫ zeigen, daß mehrere Perso nen beteiligt waren, darunter mehrfach ein „Meister“ (Biggs 1974, 33—35). Das Verständnis leidet stark an Bruchstückhaftigkeit der To ntafeln und für den heutigen Wissensstand allzu knapper No tierung der Mo rpho grapheme. Schreibflächen vo n To ntafeln o der -zylindern sind (auch bei lexikalischen Texten) schachbrettartig eingeteilt, gleichsam linierte „Schreibhefte“. Gründe für die Auswahl bestimmter, gewiß mündlich verfaßter und meist auch tradierter Literaturwerke für den Schulunterricht sind no ch nicht sichtbar. — Die frühesten erkennbaren literarischen Texte ko mmen aus Fāra. Sprichwo rtsammlungen (Civil & Biggs 1966, 5—7) und Beschwörungen gegen verschiedene Übel (z. B. Krankheit, Sko rpio n, Schlange) und für po sitive Ziele (z. B. Geburt, Tempelbau) und vo n ‘Kultmitteln’ (Tamariske), werden über jüngere Duplikate aus dem no rdsyrischen Ebla (um 2400 v. Chr.) verständlich (Krebernik 1984). Der seit der Ur III-Zeit bezeugte „Marduk-Ea-Typ“ (Falkenstein 1931, 44— 76) findet hier einen Vo rläufer; die Göttin Ningirima bittet ihren Vater Enlil um Hilfe für den Bedrängten, nicht Marduk/Asal-lú-ḫi seinen Vater E’a/En-ki. — Tell Abū Ṣalābīḫ (um 2550 v. Chr.) erbrachte neben Beschwörungen epische Fragmente (z. B. Jaco bsen 1989; Biggs 1974, Nr. 282; 283), einen Kranz kurzer Hymnen auf Tempel verschiedener

35.  Die Keilschriftkulturen des Vorderen Orients

Städte (Biggs 1974, 45—56) und eine frühe Fassung (Biggs 1971) der altbabylo nisch (um 1800 v. Chr.) bezeugten Hymne auf das Heiligtum Keš (Gragg 1969). Die Ermahnungsliteratur vertritt der auch in der frühen Akkadzeit (um 2350 v. Chr.), altbabylo nisch und um 1100 v. Chr. in Assur überlieferte Rat des Šuruppag (Alster 1974, Wilcke 1978, Civil 1984): Mahnungen eines Vaters an Kind und Schwiegerkind zu rechtem Verhalten in Handel und Wandel. — Rätsel stammen aus Lagaš (Biggs 1973); in Ĝirsu diente eine Tamarisken-Beschwörung einem Steinschreiber als Übungstext; do rt auch ein Bruchstück eines Klageliedes (So llberger 1956, Urn. 49, Ukg. 15); ein auf einem To nzylinder geschriebener Mytho s vo n der Geburt eines Go ttes (van Dijk 1966) und andere mytho lo gische Fragmente fanden sich in Nippur. Die o ft akkadischen Namen der Schreiber literarischer Texte vo m Tell Abū Ṣalābīḫ weisen auf enge sumerisch-akkadische K o ntakte. Ein no ch unverständlicher Text vo n do rt ist akkadisch zu lesen, wie ein Duplikat aus Ebla erweist (Edzard 1984, Nr. 6). — Po well (1976, 431 ff) findet bereits in Fāra Rechenaufgaben, die Interesse an abstrakten mathematischen Pro blemen beweisen. 2.5. Palastarchive von Ebla und Mari Tell Mardīḫ (Ebla) erbrachte umfangreiche Palastarchive mit überwiegend sumero graphisch geschriebenen, in westakkadischem Dialekt zu lesenden Wirtschaftstexten, lexikalischen Listen und literarischen (sumerischen und akkadischen) Texten, Briefen und Vertragstexten, die in den Archivi Reali di Ebla und den Materiali Epigrafici di Ebla ediert werden. In Ebla enthalten lexikalische Listen erstmals akkadische Wörter; sie sind den sumerischen aber nicht gegenüber- so ndern nachgestellt. Ein westakkadisch zu lesendes Wirtschaftsarchiv fand sich auch im frühdynastischen Palast vo n Mari (Charpin 1987).

3.

Akkadzeit

3.1. Schriftgeschichte, Alltagstexte Das erste vo ll funktio nsfähige akkadische Syllabar (→ Art. 18) hat die sumerische Ortho graphie nachhaltig beeinflußt, (z. B. Schreibung silbenschließender K o nso nanten in Verbalpräfixketten). Die Neuerungen setzen sich langsam durch, gegen Ende der Ur

495

III-Zeit ist dieser Pro zeß weitgehend abgeschlo ssen. Rechts- und Wirtschaftsurkunden und Briefe erscheinen nun in akkadischer o der sumerischer Sprache; das Akkadische herrscht in No rdbabylo nien und in Randgebieten vo r (z. B. Gasur bei Kerkuk); wieweit sein Gebrauch im Süden die Präsenz akkadisch-sprachiger Garniso nen und Go uverneure spiegelt, ist unsicher. In einigen Briefen aus dem Süden fo lgt auf sumerisch fo rmulierte Teile syllabisch geschriebenes Akkadisch (z. B. Westenho lz 1975, Nr. 50). Zweisprachigkeit der Schreiber ist anzunehmen. Briefe (Kraus 1976) aus Südbabylo nien (kaum akkadzeitliche Privathäuser ausgegraben; darum fehlen auch private Wirtschaftstexte) gehören zur Verwaltungsk o rrespo ndenz; im No rden (Sippir, Diyala-Gebiet) gibt es auch private Geschäftsbriefe. Die Bo tenfo rmel kann am Anfang o der mitten im Brief stehen; sie kann so gar fehlen. Zumeist enthalten Briefe Bitten o der Anweisungen. Der Adressat ist o ft in der 3. Perso n angeredet. — Rechtsgeschäfte nehmen zu; neu sind Dahrlehensurkunden. Bis zur Mittelbabylo nischen Zeit sind Vertragstexte nur o bjektiv stilisiert und beurkunden die den neuen Rechtszustand begründende Handlung als vo llzo gen. Gerichtsurkunden können fo rtan Beweisverfahren und Erklärungen vo r Gericht festhalten (Edzard 1968; Krecher 1974; Gelb et al. 1991). 3.2. Königsinschriften und Literatur Die Könige vo n Akkade (ca. 2350—2150) zeichnen ihre Taten in beiden Sprachen auf Statuen und Stelen auf; es gibt Bilinguen. Verlo rene Originaltexte sind durch Abschriften aus dem altbabylo nischen Schulunterricht wiederzugewinnen (Gelb & Kienast 1990). — Vo n der vermutlich reichen akkadischen Literatur dieser Zeit ist fast nichts im Original erhalten. Erzählungen über die Könige vo n Akkade tauchen relativ spät in No rdbabylo nien und überwiegend außerhalb Babylo niens (Mari, Assyrien, Bo ğazköi, Tell al-Amarna) auf. Do ch Omina und späte Chro niken bezeugen eine reiche mündliche Überlieferung, die aber vermutlich aus po litisch-religiösen Gründen keinen Eingang in die altbabylo nische Schultraditio n des Südens fand. Bruchstücke einer sumerischen Dichtung über Sargo n vo n Akkad und sumerische Werke seiner To chter En-ḫedu-ana (En-Priesterin des Mo ndgo ttes im südbabylo nischen Ur) sind erhalten. — Unter den Schultexten finden sich schwierige Rechenaufgaben.

IV. Schriftkulturen

496

3.3. Elam und Hurriter

4.2.2. Briefe

Mit der Ausdehnung des Reiches vo n Akkade nach Iran und in Nutzung des altakkadischen Syllabars hält die KS auch in Elam und bei den no rdmeso po tamischen Hurritern (Wilhem 1989, 8 f) Einzug. Ein Staatsvertrag (Akkade-Elam; Name des Herrschers vo n Akkade nicht erhalten) in elamischer Sprache ist in KS überliefert (Hinz 1967). Elamische Herrscher verfassen akkadische Weihinschriften an elamische Go ttheiten; so lche in elamischer Sprache aber in elamischer Strichschrift.

Briefe staatlicher und lo kaler Dienststellen enthalten meist Anweisungen; Verwaltungsurkunden no tieren, Bo ten sei Verpflegung aufgrund eines Briefes des Reichskanzlers gewährt wo rden. Adressaten sind überwiegend in der 3. Perso n angespro chen. Das Verständnis leidet o ft an lako nischer Kürze (Adressat und Absender Bekanntes unerwähnt) und am Hang der Schreiber zu uno rtho graphischem Schreiben in fo rmularlo sem Ko ntext (z. B. So llberger 1966, Nr. 5 i 5—11 (ba-ra-za/ für /ba-ra-zàḫ/ „sind entlaufen“, /in tar/ für /èn tar/ „fragen“, /ba-ra-AD. KU-e/ („?“), /bí-inla-ḫa/ für /bí-in-laḫ5-ḫa/ „die er weggeführt hat“) und zum Ko ntaminieren zusammengesetzter Verben (ibid. i 9: /Lugal-kù-zu-da ĝála ba-dé/ „bei L. sind sie bei der Arbeit abhanden geko mmen“: Vermengung vo n /ĝá-la dag/ „Arbeit verlassen“ und /ugu dé/ „verlo ren gehen“). Literarisch tradierte Briefe der Könige vo n Ur III sind Teil des Kano ns altbabylonischer Schulliteratur.

4.

Neusumerische Zeit

4.1. Schriftgeschichte Um die Mitte der Regierungszeit Šulgis vo n Ur (2094—2047 v. Chr.) explo diert die Zahl der KS-Do kumente. Z. Zt. ca. 35 000 veröffentlichte Wirtschafts- und (zum geringeren Teil) Rechtsurkunden der Epo che (viele Tausend no ch unveröffentlicht) stammen überwiegend aus den 35 Jahren zwischen 2060 und 2025 v. Chr. (fast nur aus südbabylo nischen Städten). Die staatliche Verwaltung erfaßte das ganze Land. Urkunden und Briefe schützte man vo n nun an o ft mit gesiegelten Hüllen, die den Text der Innentafel wiederho len ko nnten. — Außer To ntafeln /dub/, tuppum, gebrauchte man lē’um genannte hölzerne Wachstafeln, die (später mit Sicherheit) als Po lyptycha mehrere Flügel besitzen ko nnten. Ein (aus dem Mittelmeer gebo rgenes) spätes Beispiel bildet Ünal (1989, 135) ab.

4.3. Königsinschriften Im Original sind überwiegend kurze Bau- und Weihinschriften der Herrscher vo n Ur III erhalten, vo n Gudea vo n Lagaš (etwa gleichzeitig mit Ur-Nammu [2111—2095 v. Chr.]) und seinem Vo rgänger Ur-Baba auch ausführliche, in Statuen gemeißelte Berichte über Tempelbauten (Steible 1991). Altbabylo nische Abschriften zeigen längere, literarisch gestaltete Feldzugsberichte Šū-Su’ens vo n Ur (Civil 1969; Kutscher 1989, 71—101; Sjöberg 1972).

4.2. Alltagstexte

4.4. Neusumerische und altbabylonische Schulbildung und Literatur

4.2.1. Rechtsurkunden

4.4.1. Lehrstoff und -ziele

Zahl und Art beurkundeter Rechtsgeschäfte nehmen zu. Darlehens- und abstrakte Schuldurkunde (Verpflichtungsschein) sind flexible Mittel zur Gestaltung vo n Verträgen, für die (no ch) kein festes Fo rmular entwickelt ist, z. B. Dienstmiete, Pacht, Lieferungskauf. Als eigene Gattung ko mmt die gerichtliche Endurteilsurkunde (Falkenstein 1956—1957) auf. Urkunden können Beweismittel sein; dafür spricht die in Verwaltungstexten häufige Fo rmel „Wenn eine vo n A gesiegelte Urkunde gebracht wird, ist die vo n B (stellvertretend) gesiegelte Urkunde zu zerbrechen“. Teile einiger Urkunden (SI.A.A-Archiv) können akkadisch formuliert sein (vgl. 5.1.).

Die Schule war eine Institutio n, kein Schulgebäude. Die Ausbildung zum Schreiber erfo lgte wie eine Handwerkslehre im Hause des Meisters (Waetzo ldt 1989). Examina wurden im Kreise der Meister abgeno mmen (Sjöberg 1975, 140: 2). Der in mehreren Städten gleich geo rdnete (Wilcke 1987, 85 ff) Lehrsto ff erhellt aus Übungstexten, aus altbabylo nisch und jünger überlieferten Schulsatiren in Dialo gfo rm und aus der Hymne Šulgi B. Vo n fester Fo lge der Literaturwerke zeugen auch Stichzeilen und mehrere Texte vereinende Sammeltafeln. Neben den Regeln vo n Schreibkunst und Mathematik muß der Schüler vo r allem die (in den ersten Jahrhunderten des 2. Jahrtausends v. Chr. aussterbende) sumerische Sprache beherrschen, dann lexika-

35.  Die Keilschriftkulturen des Vorderen Orients

lische Listen (Syllabare, Perso nennamenlisten, Sachgruppenlexika), Urkundenf o rmulare (anhand vo n Mo dell-Verträgen; auch Strafurteilen) und die kasuistisch stilisierten Rechtssammlungen (Co dices Ur-Nammu, Lipit-Ištar, akkadisch: Co dices Ešnuna und Ḫammurabi), das Briefe Schreiben, Musik und Dichtkunst, Rheto rik in nuce vermittelnde Sprichw o rtsammlungen. An Hand eines Schimpfwörterlexiko ns und literarischer Streitgespräche lernt er (zu welchem fo rensischen Zweck?), Beleidigungen mit gleicher Münze heimzuzahlen. Eine sehr subjektive Geschichtsversio n wird mittels der Sumerischen Königsliste und durch Ko pieren vo n Königsinschriften vergangener Epo chen und Briefen der Herrscher vo n Ur gelehrt. Epen über Götter und Hero en, Lieder auf Götter und Könige und geschichtsdeutende Dichtungen wie die Klagen über die Zerstörung vo n Ur (und Sumer) so llen künftigen Beamten Gesellschaft und Staat im Reiche der Ur IIIKönige und ihrer Nachfo lger leitende Prinzipien vermitteln und werden nach der Altbabylonischen Zeit kaum weiter tradiert. 4.4.2. Literatur Die Literatur der Neusumerischen Zeit ist sumerisch; nur wenige altakkadische Beschwörungen liegen vo r. Die Werke sind ano nym (in der 1. Perso n redende Herrscher sind kaum selbst Dichter) und nur in wenigen Originalen bezeugt; das Gro s der Texte liegt in Abschriften aus der Zeit Samsu-ilunas vo n Babylo n (1749—1712 v. Chr.) vo r; sie stammen überwiegend vo m Ende des 3. Jahrtausends, z. B. Hymnen auf und Epen über die Könige vo n Ur (Klein 1981), sind z. T. auch älter (vgl. 2.4.). Bis in die Spätzeit überlieferte man (zweisprachig) z. B. Epen um den Go tt Nin-ĝirsu/Ninurta: An-gim dím-ma (Co o per 1978; 58 Textzeugen) und Lugal ud me-lámbi (van Dijk 1983; 189 Textzeugen). Kultlieder scheinen kaum zur südbabylo nischen Schreiberausbildung gehört zu haben; im No rden (Babylo n, Kiš, Sippir, Mê-Turān) sind sie gut bezeugt. — Eindrucksvo lles (nicht in die Schultraditio n eingegangenes) Beispiel neusumerischer Dichtkunst ist die (mindestens) 2 To nzylinder mit insgesamt 1366 Versen umfassende „Bauhymne“ Gudeas vo n Lagaš. Die an Metaphern und Vergleichen reiche Sprache der Dichtungen ist in Verse und Stro phen gefaßt; Metra sind nicht erkennbar. Die Dichter gebrauchen kunstvo ll einen gro ßen Schatz rheto rischer Mittel. Sehr beliebt ist der aus dem Alten Testament bekannte Paralle-

497

lismus Membrorum. Die in mündlicher Traditio n wurzelnde Epik verwendet fo rmelhafte, refrainartig wiederkehrende Versgruppen; längere Abschnitte werden o ft abgewandelt wiederho lt (Auftrag und Ausführung etc.), vgl. Wilcke 1976. In den eher liedhaften Königsepen der Ur III-Zeit ist dieses Stilmittel selten. — Altbabylo nisch blieb die Schulliteratur sumerisch, auch wenn man im Alltag nicht mehr sumerisch sprach. Vereinzelt tauchen akkadische Dichtungen auf (z. B. in Nippur Teile des Gilgameš-Epo s, in Ur burleske Vo lksdichtungen). So nstige Fundo rte liegen überwiegend in No rdbabylo nien (Tell Ḥarmal, Sippir) und in Randgebieten (Susa: Anzu-Epo s, Mari: Narām-Sîn-Bericht). Der Wendepunkt liegt vermutlich in der Zeit Hammurabis (Agušaja-Lied); nach Samsuiluna nehmen in Sippir akkadische po etische Texte an Zahl zu. Nun wird auch hier vo n Königen vo n Akkade berichtet; das vo n der Sintflut erzählende Atram-ḫasīs-Epo s stellt erstmals so ziale Ko nflikte und ihre Lösung dar. 4.4.3. Wissenschaft, Handbücher Seiner Opferschaukunst rühmt sich scho n Šulgi vo n Ur. Omina finden sich aber schriftlich erst früh-altbabylo nisch auf Lebermo dellen (Mari). In der Beo bachtung und Deutung vo n Eingeweiden des Opfertieres, natürlicher (z. B. Aussehen Neugebo rener bei Mensch und Tier, Geschehen im Haus und auf der Straße, Gestirne, Erdbeben, etc.), aber auch herbeigeführter Ereignisse (Öl in Wasser, Wasser in Öl gego ssen; Rauch) und in ihrer Ordnung nach Merkmalen der Befunde sehen wir denselben wissenschaftlichen Geist wie bei der Schaffung der ersten Sachgruppen-Listen, s. o ., 1.2.1.). Omensammlungen fügte man zu Serien gleicher Thematik zusammen und tradierte sie wie auch Opferschaugebete nur Akkadisch. Sie sind Fachliteratur der Zukunftsdeuter. Waren neusumerische medizinische Texte (Civil 1960) Einzeltafeln, standen den altbabylo nischen Ärzten scho n Ko mpendien zur Verfügung. Auch sumerische und akkadische Beschwörungen sammelte man in Serien (z. B. Geller 1985). Derartige Handbücher haben nachaltbabylo nisch gro ßen Anteil an der literarisch-wissenschaftlichen Überlieferung. Bei vereinzelten Ritualen in sumerischer Sprache ist nicht ersichtlich, o b sie zur altbabylo nischen Schulliteratur gehören o der Niederschriften aus aktuellem Anlaß sind. Dasselbe gilt für das akkadische Ištar-Ritual

498

aus Mari (Do ssin 1938). Die Ko chrezepte (van Dijk, Go etze & Hussey 1985, Nr. 25— 27; Bottéro 1982) sind ohne Parallele. 4.5. „Literalität“ in Neusumerischer und Altbabylonischer Zeit Die Verschriftlichung aller Verwaltungsvo rgänge in der Ur III-Zeit setzt entsprechende Fähigkeiten der Beamten vo n höchsten bis zu niedrigsten Rängen vo raus (Waetzo ldt 1991, 640). Sie führen auf Siegeln die Bezeichnung „Schreiber“ (/dub-sar/) wie einen akademischen Titel. König Šulgi rühmt seine umfassende Schulbildung (Hymne Šulgi B). Auch Priester und andere Kultperso nen brauchten eine pro funde Schulbildung. Private No tizen und Abrechnungen aus Privathäusern (z. B. Ko sten einer Bestattungsfeier: Owen 1982, 853; Nippur, Haus I, Ur III-Zeit), altbabylo nisch (z. B. Edzard 1970, Nr. 55—235 aus Sippir-Amnānum) auch in der 1. Perso n stilisiert (Edzard 1970, Nr. 140—142; 173; 209 f; Charpin 1986, 66—67, aus Nr. 7, Quiet Street in Ur) setzen Beherrschung der KS durch ihre Besitzer vo raus. Die Neigung neusumerischer Rechtsurkunden (Nippur, aus Privathäusern) wie der Briefe (vgl. 4.2.2.) zu uno rtho graphischem Schreiben und zum Ersetzen ko mplizierter o der seltener Zeichen durch silbische Wiedergabe der Wörter ist Anlaß, eine bei der Stadtbevölkerung, in geho benen Schichten (z. B. Kaufleuten) breite Lese- und Schreibfähigkeit anzunehmen; z. B. /ĝiz-ki-im/ für IGI.DUB mit Lesung /ĝizkim/ „Vertrauen“ und /ki-lu-ti-in/ für KI.SIG7.ALAN mit Lesung /ki(u)lutin/ „Zeichen“ in Owen 1982, Nr. 511, 13.33 (vgl. Çiĝ/Kizilyay 1965, 96 : 7 /kilu̚-ti-ba/; Po hl 1937, 3 : 7 /ki-lu-ti-im-ba/) o der /nam-bé-re(-e/né)/ (vgl. Sauren 1969, 23), /nam-re/ (Owen 1982, 293 : 4) und /nambé-ru/ (Sigrist 1990, 263 : 12) für NAM.BÍ.RU(-e) geschriebenes /nam-érim(-e)/ „asserto rischer Eid“ (→ Art. 18, Zf. 3.1. zu den Umschriftk o nventi o nen). Untersuchungen zur „Literalität“ im Alten Orient fehlen no ch; do ch bestärken in altbabylo nischen Privathäusern des Südens (z. B. in Ur [Abschnitte AH, EH und EM], in Isin, auch in Nippur) in ho her Pro zentzahl ausgegrabene KS-Texte (darunter vielfach Schultexte) in o biger Annahme, zumal das Syllabar dieser Perio de nur ca. 85 Zeichen (dazu ca. 20 seltenere) benötigt; daß die altasyrischen Kaufleute in Anato lien (Syllabar vergleichbar gro ß) selbst schrieben, ist unbestritten. Vgl. auch Pedersén (1986, 140), der für „at least 1/6, perhaps even between 1/4 and 1/3“ der Privathäuser im neuassyrischen Assur Archive annimmt.

IV. Schriftkulturen

5.

Altbabylonisch-Altassyrische Zeit

5.1. Schriftgeschichte In der 1. Hälfte des 2. Jahrtausends wird das Akkadische Schriftsprache der Alltagsdo kumente. Nur in Babylo nien behalten fo rmulargebundene Rechtsurkunden das Sumerische weitgehend bei, wechseln aber öfter ins Akkadische; auch bei sumerischer Fo rmulierung gebrauchen sie akkadische Präp o siti o nen. Das Syllabar erlaubt eine weite Verbreitung der Lese- und Schreibfähigkeit (vgl. 4.5). Im Klo ster (gagûm) in Sippir treten Schreiberinnen auf. — Anato lier übernehmen die KS und schreiben in assyrischem Dialekt. Das Babylo nische ist auch in Syrien und No rdmeso po tamien (Aleppo , Alalaḫ, Ḫana, Mari, Tell Leilan, Tell al-Rimah, Tell Šemšara), in Elam und Tilmun (Baḥrain) vertreten. 5.2. Alltagstexte 5.2.1. Rechts- und Verwaltungsurkunden Private Rechts- und Wirtschaftsurkunden werden wesentlich häufiger. Fo rmulare sind lo kal verschieden und wandeln sich im Laufe der Zeit. Da Vertreter vo n Behörden für ihre Ämter auch privatrechtliche Verträge schließen (Kraus 1958, Kap. 6—7), ist der private Charakter der Urkunden nicht immer sicher. Gerichtsurkunden sind stets akkadisch stilisiert. Verwaltungsurkunden staatlicher, lo kaler und religiöser Dienststellen sind ebenfalls zahlreich vertreten. 5.2.2. Briefe Der Briefverkehr (Kraus 1964 ff) erfaßt alle Bereiche der Gesellschaft. Auch an Götter wandte man sich brieflich und erhielt ebenso Bescheid vo n ihnen. Die Palastarchive vo n Mari (Parro t, Do ssin & Durand 1950 ff) bezeugen die diplo matische Ko rrespo ndenz vo n Königshöfen untereinander und die der Herrscher mit Familienmitgliedern und Untergebenen. Spätaltbabylo nisch ko mmen Briefe o hne Absender und Adresse (o hne Bo tenfo rmel) mit kennzeichnender runder Fo rm auf (Finkelstein 1972, 4 f), vielleicht entstanden aus bereits älter (Edzard 1970, Nr. 135.188) bezeugten Notizen in der 2. Person. 5.3. Königsinschriften Bau- und Weihinschriften Babylo niens bleiben in der 1. Hälfte des 2. Jahrtausends überwiegend sumerisch und nehmen an Verbo sität zu. Bedeutendstes Denkmal ist die akkadisch geschriebene Gesetzesstele Ḫammurabis, de-

35.  Die Keilschriftkulturen des Vorderen Orients

ren Text Schüler in Babylo nien und Assyrien no ch im 1. Jahrtausend ko pieren. Akkadische Felsinschriften lo kaler Herrscher im Zagro sGebirge stammen vo m Beginn der Epo che. Könige vo n Mari und Ešnuna schreiben auch Babylo nisch, ebenso der im babylo nisch sprechenden Obermeso po tamien beheimatete Šamšī-Adad in Texten aus Assur und Niniveh; Assyrisch gebrauchen z. B. Abschriften eines Textes des Īrišum vo n Assur (Grayso n 1987, 19 ff) aus Anatolien (Kültepe).

6.

Mittelbabylonisch/-assyrische Zeit

6.1. Schriftgeschichte (Verbreitung) Die zweite Hälfte des 2. Jahrtausends ist in Babylo nien und Assyrien weniger dicht bezeugt als frühere Perio den. Babylo nische Urkunden und Briefe gibt es z. B. aus Ur, Isin, Nippur, Babylo n, Sippir, Dūr-Kurigalzu, assyrische aus Assur, Tell al-Rimah, Dūr-Katlimmu am Ḫabūr, Ḫana am mittleren und Tell al-Qiṭār (hurritisches Substrat) am o beren Euphrat. In Emar und seinen Nachbaro rten am Euphratknie, weiter westlich in Alalaḫ, in Ugarit am Mittelmeer und auf Zypern (Amarna-Briefe), in Palästina bis hin nach Ägypten (Tell al-Amarna), in Hattuša und im hurritischen Mitanni-Reich schrieb man Westbabyl o nisch, im Osttigrisland (Nuzi) Babylo nisch mit starkem hurritischem Substrat. Akkadisch war lingua franca und die KS das internatio nale Schriftsystem im gesamten Vo rderen Orient. — Tušratta vo n Mitanni schrieb auch (in KS) in seiner hurritischen Muttersprache an den Pharao ; Hethiter gebrauchten die KS für akkadische wie hethitische Texte. In Elam schrieb man Elamisch in KS. — Ugarit entwickelte eine eigene KS zur Darstellung des Ko nso nantenalphabetes des Ugaritischen (→ Art. 20). Mo numental- und Siegelinschriften (letztere auch aus Emar) in hethitischer und luwischer Sprache schreiben Hieroglyphen-hethitisch. 6.2. Alltagstexte Do kumente aus Recht und Wirtschaft unterscheiden sich regio nal in Fo rmularen, Rechtsmaterie und in zugrundeliegenden Bräuchen. In Babylo nien hat die Kassitenherrschaft die Landbesitzverhältnisse grundlegend verändert. Könige belehnen nun treue Untergebene mit riesigen, teilweise vo n öffentlichen Lasten befreiten Latifundien und entziehen sie den in Ungnade Gefallenen. Mit Göttersymbo len (als Garanten) versehene Steinko pien (ku-

499

durru) der Belehnungsurkunden depo niert man in Tempeln, vgl. 1.2.4. Entsprechend fehlen Feldkaufurkunden (Ausnahme: Ko mpensatio n für Auslösung aus Kriegsgefangenschaft, Lackenbacher 1983). „Zwiegesprächsurkunden“ (Petscho w 1974, 38 f) mit wörtlichen Erklärungen der Parteien stehen vo n nun an neben traditio nell fo rmulierten (vgl. 3.1.); auch in Randgebieten stilisiert man subjektiv. — Abrechnungen der Lo kalverwaltung in Ugarit und Briefe vo n do rt schreiben Ugaritisch in Ko nso nantenschrift. — Unter hethitischen Urkunden sind Landschenkungen, Gerichtspro ot ko lle und Staatsverträge hervo rzuheben. — Die internatio nale Ko rrespo ndenz (vo r allem Amarna-Briefe: Mo ran 1987) ist eine erstrangige Geschichtsquelle und erlaubt Einblicke in Handel, Po litik, wechselndes Kriegsglück, Diplo matie und vielfältige Verflechtungen der Herrscherhäuser miteinander. 6.3. Schule und Literatur Die meisten Schultexte dieser Epo che wurden außerhalb vo n Babylo nien gefunden: Susa, Nuzi, Assur, Emar, Ugarit, Hattuša, Megiddo und Tell al-Amarna. Sie beweisen ein intensives Lehren der KS, der lexikalischen, wissenschaftlichen (Omina) und literarischen Überlieferung Babyl o niens außerhalb des Kernlandes. — Im Übergang der Altbabylo nischen zur Mittelbabylo nischen Zeit erfo lgt die Kano nisierung der babylo nischen Literatur, die bindende Ordnung der altbabylo nisch bego nnenen Serienbildung in Literatur und Wissenschaft, die Ko lo pho ne der Tafeln bezeugen. Das Gilgameš-Epo s erhielt seine Sînleqe-unnīnī zugeschriebene (relativ) endgültige Fassung. Das laut Epilo g schriftlich verfaßte Weltschöpfungsepo s Enūma elīš entstand in dieser Perio de; es greift auf einen Katalo g der Namen des Go ttes Marduk zurück, die midraschartig gedeutet werden (Bo ttéro 1977); zu dieser in spätbabylo nischen o K mmentaren häufigen hermeneutischen Technik s. Cavigneaux 1987. In Assyrien entstehen Königsepen; das Tukultī-NinurtaEpo s (Machinist 1976) berichtet, der König habe die Schätze der babylo nischen Literatur als Kriegsbeute nach Assur gebracht. Aus Ḫattuša und Emar stammen früheste Beispiele kunstvo ll gebauter Gebete (Mayer 1976), die in magischen Beschwörungsritualen Verwendung finden (Abusch 1983). Die Entstehungszeit der Rituale läßt sich nicht eng eingrenzen. Abusch 1990, 1991, 1992 erschließt für die gegen Hexerei gerichtete Serie

500

Maqlû des 1. Jahrtausends eine lange, mindestens in diese Perio de zurückreichende Vo rgeschichte; sie wächst vo n nur vier Beschwörungen über zunächst zehn bis zu einhundert an, wo bei sich ihr Charakter stark ändert. In Emar gefundene kultische Rituale sind o hne Parallele in babylo nischer Traditio n. Sie können als Handbücher gedient haben. — In ugaritischer Sprache und Schrift sind mytho lo gische Epen, Rituale und Beschwörungen aufgezeichnet. — Hethitisch werden hurritische (z. B. Kumarbi) und altanato lische (z. B. Zalpa-Mytho s, Otten 1972) Mythen erzählt; hethitische Rituale beschreiben den Ablauf gro ßer Feste und kultische Handlungen vo n König und Königin. Das Rechtsleben der Hethiter regelnde Erlasse und Gesetze wurden tradiert. Ihre Geschichtsdarstellung in Tatenberichten und Pro lo gen zu Staatsverträgen ist stark legitimatorisch.

7.

Das 1. Jahrtausend

7.1. Schriftgeschichte Das 1. Jahrtausend kennt KS und aramäische Ko nso nantenschrift (→ Art. 20). Assyrische Palastreliefs zeigen Schreiber beider Schriften nebeneinander stehend. In Assyrien sicherte man aramäische Urkundenr o llen (Pergament?) mit To nplo mben, die den Text in KS auf Akkadisch wiederh o len. Babyl o nier schrieben KS bis ins 1. Jahrhundert n. Chr., zuletzt nur no ch Schultexte, auch mit Umschrift in griechischen Buchstaben (z. B. Geller 1983; vgl. Oelsner 1986). Die babylo nische KS entfernt sich unter dem Einfluß der Ko nso nantenschrift vo n der silbengerechten Wiedergabe gesprochener Sprache. 7.2. Alltagstexte Internati o nale K o rresp o ndenz, Vasallenverträge, Do kumente der Staatsverwaltung und Briefe vo n Vo rzeichenkundigen, die dem assyrischen König astro no mische Beo bachtungen und andere o minöse Zeichen berichten und aktuell deuten, erlauben genaue Einblicke in Po litik und Geistesleben Assyriens. Daneben stehen auch private Urkunden und Briefe, auch aus Pro vinzstädten (z. B. Guzana). — In Babylo nien sind u. a. Urkunden und Briefe gro ßer Handelshäuser (Murašû, Egibi) bezeugt. Rechtsgeschäfte und Pro zesse werden bis in die Arsakidenzeit auf To ntafeln beurkundet. — In Persepo lis fanden sich staatliche Wirtschaftsarchive in elamischer Sprache und Schrift.

7.3. Königsinschriften Neu sind in Assyrien mit lebendigen Tatenberichten der Könige beschriebene Palastreliefs, „Obelisken“ und ko lo ssale Türlaibungsfiguren. Neu ist auch die Gliederung der Berichte nach Jahren („Annalen“). Babylo nische Könige, auch Kyro s, berichten auf traditio nellen Inschriftenträgern und auf (massiven) To ngefäßchen meist über ihre Bautätigkeit. Atypisch sind Inschriften des archäo lo gisch interessierten Nabo nid, der die Einsetzung seiner To chter in das lang o bso let gewo rdene Amt der En-Priesterin des Mo ndgo ttes berichtet und (auf einer in Ḫarrān gefundenen Stele) seine Mutter ihre Vita erzählen läßt und die Trauerfeierlichkeiten für sie beschreibt. — In elamischer und altpersischer Sprache und Schrift, aber auch auf Akkadisch schildern die Achämeniden ihre Taten in gro ßen Felsinschriften. 7.4. Wissenschaft und Literatur Assurbanipal sammelte in Babylo nien und Assyrien wissenschaftliche und literarische Texte für seine Biblio thek in Niniveh. Instruktiv sind die vo n Parpo la 1983 edierten Aufstellungen (Zugang zur Biblio thek vo n ca. 2000 To ntafeln und 300 Po lyptycha). Es sind in erster Linie Omenserien, medizinische Texte und Beschwörungsserien, kaum schöne Literatur. Vo n der Vielfalt sumerischer und akkadischer Literatur dieser Zeit zeugen Katalo ge vo n Hymnen und Klageliedern und z. B. die vo n Livingsto ne 1989 bearbeitete assyrische Ho fliteratur. Schöne und wissenschaftliche Literatur sammelte man in Assyrien auch außerhalb der Hauptstädte Assur, Kalḫu und Niniveh; s. den Textfund vo m Sultan Tepe (z. B. Mythen, Epen, Hymnen, Beschwörungen, kultische und magische Rituale) o der die Tafel mit Anzu- und ErraEpo s aus Tarbiṣu. — In Babylo nien ko mmen viele einschlägige Tafeln aus Uruk, Babylo n, Bo rsippa und Sippir. — Am Anfang des 1. Jahrtausends entstand das Erra-Epo s, eine mythische Schilderung verheerender Fo lgen einer Niederlage Babylo niens und eines Aufstandes. In dieser Zeit bildete sich auch die Geschichtsschreibung in fo rtlaufenden Chro niken heraus (z. B. Grayso n 1975). Eine neue Literaturgattung ist auch der Ko mmentar, der traditio nelle Texte aller Art philo lo gisch, o ft midraschartig (vgl. 6.3.) erklärt.

8.

Literatur

Abkürzungen: FAOS =Freiburger Altorientalische Studien

35.  Die Keilschriftkulturen des Vorderen Orients

Fs. Moran=Abusch, T., Hühnergard, J. & Steinkeller, P. (ed.), Lingering over Words. Studies in Near Eastern Literature in Honor of William L. Moran. Atlanta. JAOS =Journal of the American Oriental Society JCS =Journal of Cuneiform Studies JNES =Journal of Near Eastern Studies RA =Revue d’Assyrologie et d’Archéologie Orientale TCS =Texts from Cuneiform Sources. Locust Valley, NY ZA =Zeitschrift für Assyriologie 8.1. Allgemeines Bo ttéro , Jean & Kramer, Samuel No ah. 1989. Lo rsque les dieux faisaient l’ho mme. Mytho lo gie mésopotamienne. Paris. [Ebeling, Erich, Meissner, Bruno , Weidner, Ernst, vo n So den, Wo lfram] & Edzard, Dietz Otto (ed.). 1932 ff. Reallexiko n der Assyrio lo gie und der Vo rderasiatischen Archäologie. Berlin. Edzard, Dietz Otto , Falkenstein, Adam, Hirsch, Hans Erich & Wilcke, Claus. 1992. (Artikel zur sumerischen und akkadischen Literatur). In: Jens, Walter (ed.), Kindlers Neues Literatur Lexiko n. München, Bd. 18, 59—75; 636—647; 792—795; Bd. 19, 574—606. Falkenstein, Adam & vo n So den, Wo lfram. 1953. Sumerische und akkadische Hymnen und Gebete. Zürich. Jaco bsen, Tho rkild. 1987. The Harps that Once ... New Haven/London. Kaiser, Otto (ed.). 1982 ff. Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Gütersloh. Pritchard, James B. (ed.). 1969. Ancient Near Eastern Texts Relating to the Old Testament3 (with Supplement). Princeton. Röllig, Wo lfgang. (ed.). 1978. Alto rientalische Literaturen (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 1). Wiesbaden. vo n So den, Wo lfram. 1985. Einführung in die Altorientalistik. Darmstadt.

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36.  Die nordwestsemitischen Schriftkulturen

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Claus Wilcke, München/Leipzig (Deutschland)

36. Die nordwestsemitischen Schriftkulturen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

1.

Allgemeines Rahmenbedingungen Textkorpus Schule Funktionen der Schrift Schrift und Bild Literatur

Allgemeines

Die Alphabetschrift, genauer: die westsemitische Ko nso nantenschrift, hat sich bereits in

der 2. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. unter ägyptischem Einfluß einerseits, in Ko nkurrenz mit der Keilschriftkultur andererseits entwickelt und allmählich durchgesetzt. Da ihre Prinzipien der in Ugarit im 13. Jahrhundert v. Chr. verwendeten Keilalphabetschrift zugrundeliegen, muß sie damals bereits weiter verbreitet gewesen sein, als wir es bisher aufgrund der no ch recht spärlichen Funde nachweisen können (→ Art. 20). Aber erst nach den tiefgreifenden po litischen Veränderungen am Übergang vo n der Spätbro nze- zur Frühen Eisenzeit (12./11. Jahrhundert v. Chr.)

IV. Schriftkulturen

504

findet die Linearschrift, wahrscheinlich vo n den phönizischen Städten ausgehend, weite Verbreitung und ausschließliche Verwendung. Sie wird im 10. Jahrhundert in Palästina (Gezer-Kalender), im 9. Jahrhundert im östlich angrenzenden M o ab (Meša-Inschrift) und in den nördlich angrenzenden aramäischen Staaten überno mmen und bald auch — vermutlich im kleinasiatischen Raum — an. die Griechen weitergegeben. In dieser Zeit bleiben die allgemeinen Prinzipien dieser Schrift und ihrer Graphie unverändert: — Schriftrichtung linksläufig im Gegensatz zur der Keilschrifttradition verhafteten Rechtsläufigkeit des Ugaritischen — reine Konsonantenschrift (erst im aramäischen Kulturkreis kommt es zur Wiedergabe von Vokalen in best. Positionen, den matres lectionis) — feste Buchstabenfolge in Abecedarien (zu Schulzwecken) — Beibehaltung dieser Zeichenfolge (und der Zeichennamen) bei den Griechen. Scho n früher hatte sich die südsemitische Schrift als eigener Stamm mit geso nderter Entwicklung und einer anderen Ko nso nantenfolge abgespalten.

2.

Rahmenbedingungen

2.1. Schriftträger Die Entwicklung der Schriftkultur wird mit der Verbreitung der Schrift einhergegangen sein, do ch wissen wir darüber — bedingt durch die Vergänglichkeit der Schriftträger — nur wenig bzw. unser Bild der frühen Schriftkultur ist verzerrt. Zwar müssen wir davo n ausgehen, daß vielerlei Materialien als Schriftträger gedient haben, do ch hat das im Gegensatz zu Ägypten humide Klima im Mittelmeerraum und in No rdmeso po tamien alle o rganischen Substanzen vernichtet. Fo lglich sind do rt lediglich Texte erhalten geblieben, die auf Metall, Stein, To n (Keramik), Verputz aufgemalt o der eingemeißelt wurden. Papyrus, Pergament, Ho lz, als Schreibmaterial sicher weithin in Gebrauch, sind verro ttet o der verbrannt. Das gilt auch vo n den mit einer Wachspaste gefüllten Ho lz- o der Elfenbeintafeln, die mit Scharnieren zu Po lyptycha zusammengefügt werden ko nnten (Funde in Nimrud und in Schiffswracks, z. B. Uluburun, Payto n 1991). Die dafür übliche griechische Bezeichnung deltos geht so gar auf semitisch daltu (urspr. „Türflügel“) zurück

(Galling 1971). Da diese Schriftträger, die zur Aufzeichnung ephemerer ebenso wie längerer und wertbeständigerer hist o rischer, op etischer, religiöser Texte gut geeignet sind, entfallen, ist das Ko rpus der Texte stark beschränkt. Als Ausnahme müssen die Texte aus Ugarit gelten, die in einem eigenen Keilalphabet aufgezeichnet sind und deren Beschreibsto ff, die To ntafel, sich verhältnismäßig gut erhalten hat. 2.2 Schreibtechnik Die Schreibtechnik der uns erhaltenen Texte ist ziemlich einheitlich (Lemaire 1985). Ostraka, d. h. Gefäßscherben, wurden meist mit dem Pinsel bzw. der Binse und schwarzer Tinte beschrieben, zunächst auf der leicht gewölbten Vo rderseite, erst wenn der Platz nicht ausreichte, auf der Rückseite. Dabei wurde das Ostrako n um seine Längsachse gedreht. Inschriften auf den Verputz vo n Wänden wurden ebenfalls mit (ro ter und schwarzer) Tinte geschrieben. Kurze Texte (Eigentums- bzw. Inhaltsvermerke) auf Gefäßen wurden auch vo r o der nach dem Brand mit einem Stichel eingeritzt, selbst Stempel (bes. auf Krughenkeln) für wiederkehrende Vo rgänge sind belegt. In die To ntafel, die als Schriftträger (abgesehen vo m Ugaritischen) für die Aufzeichnung einer Linearschrift schlecht geeignet ist, wurde der Text eingeritzt, als Beischrift gelegentlich auch mit dem Pinsel aufgetragen. In Metallgegenstände (selten auch Elfenbein) wurde die Inschrift nach der Herstellung graviert, in beso nderen Fällen (aramäische Inschriften auf Silberschalen) auch gepunzt. Steininschriften wurden no rmalerweise eingetieft, o ffenbar o hne vo rherige Zeichnung auf dem Mo nument, nur in seltenen Fällen wurden die Buchstaben erhaben herausgearbeitet. Auf Papyrus und Pergament (z. B. Schriftro llen aus den Höhlen vo n Qumran am To ten Meer; → Abb. 36.1 auf Tafel V) wurde entweder mit der ägyptischen Binse o der mit der Rohrfeder geschrieben. 2.3. Schriftgestaltung Die Schriftgestaltung kennt keine Unterschiede zwischen den einzelnen Textarten. Eine eigene Mo numentalschrift wird nicht entwickelt, auch der Unterschied zwischen Gro ß- und Kleinbuchstaben existiert nicht. Natürlich sind Steininschriften fo rmal steifer als die zur Kursive neigenden Tintenaufschriften der Ostraka und Papyri. Tro tzdem ähneln die Buchstaben einander sehr, so daß palä o graphische Altersbestimmungen möglich

36.  Die nordwestsemitischen Schriftkulturen

sind. Regio nale Unterschiede der Buchstabenfo rmen bilden sich bereits im 9. Jahrhundert v. Chr. heraus und lassen bald Zuschreibungen zu bestimmten Kulturkreisen zu (Naveh 1982): Aramäisch mit der Tendenz der Öffnung der o beren Rundung einiger Zeichen; Hebräisch mit starken Ober- und Unterlängen, einer Tendenz zur Schräglage der Zeichen bei gleichzeitiger Abplattung; Punisch mit der Übernahme kursiver Unterlängen mit Verdickung in die Steininschriften, Herausbildung einer bald sehr vereinfachten „neupunischen“ Schriftvariante. Eine Beso nderheit zeigt das Hebräische inso fern, als es in nachexilischer Zeit, belegbar ab ca. 250 v. Chr., die eigene Schrifttraditio n verläßt und eine auf aramäischen Fo rmen aufbauende „Quadratschrift“ verwendet, die mit geringen Mo difikatio nen bis heute in Gebrauch ist (→ Art. 20, Zf. 4.1.2.). Sie kennt, wie auch später die arabische Schrift, bei einigen Buchstaben (K, M, N, P, Ṣ) leicht abgewandelte Finalbuchstaben. Daß es eine bewußte „Neuerung“ war, läßt sich daran ablesen, daß der althebräische Go ttesname YHWH zeitweilig no ch ehrfürchtig mit den althebräischen Zeichen im so nst quadratschriftlichen Text erscheint. Schließlich verdient Erwähnung, daß kultische Texte in aramäischer Sprache auch in demo tischer Schrift (→ Art. 20, Zf. 1.1.3.) niedergeschrieben sein können (Vleeming & Wesselius 1982; 1983/84; Nims & Steiner 1983).

3.

Textkorpus

Info lge der o ben geschilderten Umstände ist das Textko rpus der Alphabetschriftkulturen bis in hellenistisch-römische Zeit hinein recht schmal. Es besteht im wesentlichen aus Steininschriften und Ostraka, in geringem Umfang auch in (in Ägypten gefundenen) Papyrusund Lederdo kumenten, die sich zu Archiven zusammenfassen lassen. Die sehr zahlreichen punischen Weihinschriften aus No rdafrika — beso nders Karthago — und vo n den Inseln Malta, Sizilien und Sardinien sind wegen ihrer zweckgebundenen Stereo typie nur vo n beschränktem Wert. Ein So nderfall ist das hebräische (und aramäische) Alte Testament (AT), das umfangreichste Do kument der frühen Alphabetschriftkultur, das aber in der uns vo rliegenden Fo rm recht jung und das Pro dukt tiefgreifender redaktio neller Veränderungen ist (s. 3.2.). Da es jedo ch Textgattungen erhalten hat, die in allen übrigen Kulturen

505

fehlen, muß es unbedingt berücksichtigt werden. 3.1. Sprachen Im fo lgenden werden die Textgattungen o hne Rücksicht auf ihre sprachliche Zugehörigkeit behandelt, o bgleich selbstverständlich sprachliche Identität auch kulturelle Identität begründet. Tro tzdem ist es bei der verhältnismäßig schmalen Textbasis erlaubt, diese Differenzen gegenüber den Gemeinsamkeiten zurücktreten zu lassen. Sprachlich (und in gewissem Umfang auch graphisch) gehören die Dokumente drei Kulturkreisen an: 3.1.1.  dem Kanaanäischen, wo zu das Hebräische (in Palästina), das Mo abitische, Ammo nitische und Edo mitische (im heutigen Jo rdanien) und das Phönizisch-Punische (Syrische Küste und Nordafrika) gehören; 3.1.2.  dem Aramäischen, dessen altaramäische Sprachstufe beso nders in No rdsyrien belegt ist, das sich als Verwaltungssprache des Achämenidenreiches (so g. Reichsaramäisch) über den ganzen Vo rderen Orient vo m 1. Katarakt in Ägypten bis zu den Dardanellen, nach Armenien und Iran verbreitete. Auch Teile des AT (Dan. 2,4—7,28; Ezra 4,8—6,18; 7,12—26; Jer. 10,11) und viele Texte vo m To ten Meer (Beyer 1984) gehören dazu. Aus hellenistisch-römischer Zeit sind z. B. das Palmyrenische, Jüdisch-Aramäische und Nabatäische zu nennen. Das Syrische und weitere jüngere Sprachstufen bleiben hier außer Betracht; 3.1.3.  dem Arabischen mit dem Altsüdarabischen (Sabäisch, Minäisch, Qatabanisch, Hadramautisch, Ausanisch; → Art. 21) und dem vo rklassischen No rdarabischen, das sich z. T. im Nabatäischen, so nst im Thamudischen, Lichjanischen und Safaitischen fassen läßt. Hierfür ist allerdings der Bestand an Denkmälern extrem schmal. Da diese Denkmäler zwar dem gleichen Schrifttyp angehören, sprachlich aber vo m No rdwestsemitischen zu trennen sind, werden sie nur am Rande berücksichtigt. 3.2. Kanonbildung Während die meisten alphabetschriftlichen Texte keine Redaktio nsarbeit erkennen lassen, hat das AT eine lange und nur no ch teilweise rek o nstruierbare Textgeschichte. Diese war erst mit der Arbeit der Maso reten

IV. Schriftkulturen

506

ca. 750—1000 n. Chr. beendet, bei der der für den jüdischen Go ttesdienst verbindliche hebräische Text des AT in seinem Ko nso nantentext mit Vo kalzeichen, diakritischen Punkten, Lesezeichen, Hinweisen zur Rezitatio n usw. definitiv fixiert wurde, wo bei no ch unterschiedliche Schulen (Maso reten des Ostens bzw. des Westens, Kahle 1913; 1927—1930) nachweisbar sind. Diese so g. Maso ra legte aber bereits einen Text zugrunde, der als Ergebnis eines langen Entstehungspro zesses ca. um 200 v. Chr. festgelegt war. Das zeigt die griechische Übersetzung der so g. Septuaginta, die seit ca. 280 v. Chr. angefertigt wurde und die im wesentlichen, wenn auch mit manchen Umstellungen und Zusätzen, bereits den uns bekannten Text enthielt. Das gilt auch vo n den in Qumran gefundenen hebräischen Manuskripten des 1. Jahrhunderts v. Chr. Vo rangegangen ist aber eine umfangreiche Redaktio nsarbeit, in die wir nicht in allen Einzelheiten Einblick haben (Smend 1978). So wird angeno mmen, daß bei der Ausfo rmung des Pentateuch am Anfang Einzelerzählungen standen, die teils als Sagen, teils als ätio lo gische Deutungen vo n Namen und Begriffen, teils auch als Bruchstücke vo n Stammes- o der Familiengeschichten überliefert und erst nach Überführung in die Schriftfo rm zu größeren K o mp o siti o nen unter übergreifenden Gesichtspunkten (Erwählungstraditio n; Exo dus; Landnahme usw.) zusammengefaßt wurden. Bei der Zusammenstellung ergaben sich Überschneidungen und Brüche, die es uns ermöglichen, einzelne Erzählko rpo ra (im Pentateuch z. B. Jahwist, Elo hist und Priesterschrift) zu iso lieren, deren jeweilige Zielsetzung sich no ch wiedergewinnen läßt. Im Verlauf der Redaktio nsarbeit kam es natürlich zu Diskrepanzen in den Aussagen, die die Redakto ren wieder durch z. T. erklärende Zusätze auszugleichen suchten. Ferner scheinen manche Texte im Verlauf häufiger Abschreibarbeit verstümmelt und dann interpretierend verbessert o der vo n einzelnen Schreibern durch Glo ssen ko mmentiert wo rden zu sein, die danach in den Text einflo ssen und ihrerseits Erläuterungen erfuhren. Schließlich wurde der so entstandene Text im Rahmen einer Kultrefo rm, die König Jo sia vo n Juda im Jahre 621 v. Chr. mit zentralistischer Tendenz (einziger Tempel ist jetzt der in Jerusalem) vo rnahm, in dem gro ßen „deutero no mistischen Geschichtswerk“ no chmals vo n priesterlicher Seite überarbeitet. All das ist nur vo rstellbar auf der Basis eines schriftlich fixierten, wo hl in einzelnen Schriftro llen nie-

dergelegten Textes, der wegen seines sakralen Charakters nur partielle Veränderungen zuließ. Ähnliches gilt auch vo n pro phetischen Texten. So ist das dem Pro pheten Jesaja, der im 8. Jahrhundert v. Chr. wirkte, zugeschriebene Buch aus mindestens 4 Quellen zusammengestellt: 1. Der eigentliche Jesaja mit seinen pro phetischen Sprüchen (Kap. 1—35), 2. den Erzählungen (Kap. 36—39), die einen Bericht aufnehmen, der bereits in 2. Reg. 18,13 bis 20,19 zu finden ist, 3. Deutero jesaja (Kap. 40—55), der erst in der Achämenidenzeit geschrieben haben kann, und 4. Trito jesaja (Kap. 56—66), dessen Wirken um die Zeit des Exils (d. h. nach 587) angesetzt wird. Viele Bücher des AT sind unter textkritischen Gesichtspunkten also zunächst ganz uneinheitlich gewesen. Sie wurden aber in einem theo lo gischen und literarischen Fo rmungspro zeß allmählich zu den Einheiten verschmo lzen, als die sie bereits in hellenistischer Zeit den Kano n bildeten. Abgesehen vo n Apo kryphen gibt es aber in den kano nischen Texten selbst genügend Hinweise auf ursprünglich vo rhandene Quellen, die völlig ausgemerzt o der nur in stark verkürzter Fo rm überliefert wurden. All dies ist nur denkbar auf dem Hintergrund einer breiten schriftlichen Überlieferung, die vo n priesterlichen Schreibern weitergeführt, exzerpiert und redigiert wurde. Schriftlichkeit der Vo rlagen erweist sich auch an zahlreichen „Verbesserungen“ und daraus fo lgenden Uminterpretatio nen vo n o ffenbar ko rrupten Passagen einer Vo rlage, die vo n den jeweiligen Abschreibern vo rgeno mmen wurden. Sie lassen sich u. a. an Textvarianten ablesen, die in der griechischen Übersetzung des AT (so g. „Septuaginta“) erscheinen, fo lglich einen Text repräsentieren, der um die Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. zumindest zum Teil niedergeschrieben wurde (Würthwein 1988).

4.

Schule

4.1 Schreiber Die allenthalben feststellbare Unifo rmierung der Schriftfo rm und der Graphie setzt eine Schulung vo raus, die durch Schreiber, die als eigener Berufsstand existierten (Bo nnet 1991), vermittelt wurde. Die Funde vo n Abecedarien (bereits in Ugarit) und typischen „Schultexten“ in Linearschrift belegen eine so lche Praxis scho n für das 13. Jahrhundert v. Chr. Verschiedene Anspielungen im AT lassen ein System der Erziehung, zu dem auch Lesen

36.  Die nordwestsemitischen Schriftkulturen

und Schreiben gehörte, erschließen (Lemaire 1981). Danach gab es zumindest bestimmte Berufszweige (u. a. Priester und Pro pheten), die des Lesens und Schreibens kundig waren. Obgleich die Alphabetschrift gegenüber der Keilschrift o der den Hiero glyphen sicher leichter zu erlernen war, ist do ch keine Gewißheit darüber zu gewinnen, in welchem Umfang sie allgemein gelesen und geschrieben werden ko nnte. Die beachtliche Zahl vo n „öffentlichen“ Inschriften, d. h. königlichen Verlautbarungen (Meša-Stele KAI Nr. 181; Karatepe-Inschrift KAI Nr. 26 usw.) o der juristischen Do kumenten, z. B. Verträgen (SfireInschrift KAI Nr. 222—224) o der Steuertarifen (Palmyra, CIS II 3913) läßt allerdings darauf schließen, daß die Zahl der möglichen Leser nicht klein war. Zumindest unter den höheren Beamten war, nach den auf Ostraka erhaltenen Briefen zu urteilen, die Lesefähigkeit verbreitet und wurde auch in Schulen gelehrt. 4.2. Graphische und sprachliche Formung Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, daß gewisse Schreibgewo hnheiten allgemein verbreitet sind. Die Texte werden fast immer of rtlaufend geschrieben. W o rttrenner als Punkte (und selten auch kurze Striche zur Abteilung vo n Phrasen) sind nur sehr früh und dann wieder spät (unregelmäßig) in Gebrauch, Spatien zur Trennung vo n Wörtern sind zunächst unbekannt, Wo rtende und Zeilenende müssen nicht übereinstimmen. Gelegentlich werden Absätze (o der Zwischenstriche) zur Gliederung längerer Texte verwendet. Vo r allem Verwaltungstexte haben einen streng eingehaltenen Aufbau, sie sind, je nach Inhalt, z. B. in Ko lumnen gegliedert, setzen eine gen o rmte Verwaltungspraxis ov raus. Dasselbe gilt vo n Briefen, die meist einem festen Fo rmular fo lgen (Pardee 1982). Auch die Bittschrift eines Erntearbeiters (KAI Nr. 200) läßt erkennen, daß bestimmte juristische Vo rgänge fo rmalisiert waren und in Schriftfo rm erledigt werden mußten. An einen Leser allein wenden sich Texte des AT (Ps. 9 + 10, 25, 34, 37, 111, 112, 119, 145. Klagelieder 1—4), die nach dem System des Akro stich aufgebaut sind, die hebräische Alphabetfo lge als Zeilenbeginn erkennen lassen. 4.3. Archive und Bibliotheken Die Existenz vo n Archiven für Texte der Verwaltung o der der Jurisdiktio n ist scho n früh nachweisbar: In Ugarit sind zusammengehörige Vo rgänge an einer Stelle gelagert gewe-

507

sen; der König vo n Byblo s läßt im Reisebericht des Ägypters Wen-Amun (um 1100 v. Chr.). „die Tagesro llen seiner Väter“ ho len, um zurückliegende Zahlungen der Ägypter festzustellen; ganze zusammengehörige Ko mplexe vo n Ostraka sind z. B. in Samaria, Arad und Lachisch gefunden wo rden, wo bei die Fundsituatio n nahelegt, daß die entsprechenden Vo rgänge zwar gemeinsam „abgelegt“ waren, dann aber weggewo rfen wurden. Die jüdische Militärko lo nie in Elephantine (Oberägypten) hatte so wo hl private als auch o ffizielle Archive; in letzteren wurden auch die Abschriften und Entwürfe vo n Schreiben aufbewahrt, die nach Jerusalem gegangen waren (Po rten 1968). In Karthago wurde unlängst in der Nachbarschaft eines Tempels ein riesiges Lager vo n To nbullen mit Siegelabdrükken entdeckt, die zu einem verbrannten Archiv vo n Papyrusurkunden gehört haben müssen, das über mehrere Jahrhunderte lief. Regelrechte Biblio theken, d. h. systematisch gesammelte und thematisch geo rdnete Bestände an Büchern bzw. Schriftro llen, lassen sich für vo rhellenistische Zeit nicht nachweisen. Wenn z. B. in 2. Reg. 22,8 die Rede davon ist, daß „das Gesetzbuch im Tempel des Herrn gefunden“ wurde, so deutet dieser o ffenbar „zufällige“ Fund darauf hin, daß es auch do rt keine Biblio thek gab, wo hl aber Archive, die auch für den Kultus angelegt wurden (evtl. im Sinne einer Geniza). Für achämenidische und spätere Zeit sind wieder im AT Hinweise auf Büchersammlungen erhalten (Kellermann 1982). Die umfangreiche punische Literatur (Huss 1985, 504 ff) war in Tempelbiblio theken gesammelt und wurde nach der Ero berung Karthago s vo n den Römern den numidischen Fürsten übergeben (Plinius, Hist. nat. 18,22).

5.

Funktionen der Schrift

5.1 Wirtschaft und Verwaltung Wenn das AT scho n für die Zeit Davids und Salo mo s eine differenzierte Beamtenschaft an der Staatsspitze nennt (2. Sam. 8,16—18; 20,23—26; 1. Chro n. 27,25—34; 1. Reg. 4,7— 19), so dürfen wir annehmen, daß dem eine wo hl unter ägyptischem Einfluß in Kanaan bereits früher entstandene Organisatio n entsprach, die auch verschriftete Verwaltungsakte vo raussetzt. Ein Gro ßteil der uns als Ostraka erhaltenen D o kumente frühen Schriftgebrauchs betrifft denn auch Vo rgänge wie den Eingang und Ausgang vo n Waren als Lieferungen (teilweise vo n Kro ngütern) an den Pa-

IV. Schriftkulturen

508

last o der Vergabe vo n Ratio nen. Sie haben eine knappe, dem Sachverhalt angemessene Diktio n, nennen selten mehr als das Quantum, das Gut (gelegentlich no ch mit Qualitätsmerkmalen), den Lieferanten o der Empfänger, manchmal no ch den Herkunfts- o der Bestimmungso rt und ein Datum. Daneben können diese Texte auch als reine Perso nenlisten gestaltet sein. Zunächst aus Ugarit, dann wieder aus dem Elephantine-Archiv des 6. Jahrhunderts v. Chr. (Po rten 1968) sind Urkunden über Grundstückstransakti o nen, Erbschaften, Mitgift, Testamente usw. bekannt, die bereits eine sehr spezifische Termino lo gie verwenden. Das läßt darauf schließen, daß sie in einer längeren Traditio n stehen, die uns nicht überliefert ist. Dabei ist daran zu erinnern, daß in den Keilschriftkulturen Recht prinzipiell der Schriftfo rm bedurfte, so daß Ähnliches auch in Kanaan gego lten haben wird. — In den gleichen Ko ntext gehören die meisten Briefe, die in der Regel keine persönlichen Anliegen zum Inhalt haben, so ndern Wirtschaft, Verwaltung o der auch (z. B. KAI Nr. 266) po litisch-histo rische Fragen betreffen. 5.2. Geschichte und Tradition „Was so nst no ch vo n PN zu sagen ist, alles was er getan hat, siehe, das steht geschrieben in der Chro nik der Könige vo n Israel (bzw. vo n Juda)“. Dieser in den Königsbüchern häufige Satz verweist auf eine Ho fchro nik, die o ffenbar den Büchern der Könige bzw. Chro nik des AT zugrunde gelegen hat, uns aber nicht erhalten ist. Vergleichbares wird vo n dem Phönizier Sanchuniato n (bei Euseb vo n Caesarea, Praep. Evang. I 9,20) gesagt, nämlich daß er „die ganze alte Geschichte aus den Überlieferungen der einzelnen Städte und den in den Heiligtümern vo rhandenen Aufzeichnungen zusammengestellt“ habe. Die histo rische Traditio n war also zumindest in einer Art Annalistik niedergeschrieben. Analo gien liefern babylo nische und assyrische histo rische Berichte, die als Epo nymen- o der Königslisten in Kurzfo rm, als jährliche Chro niken wesentlich ausführlicher die für wichtig gehaltenen Ereignisse verzeichnen (vgl. Grayso n 1975). Vermutlich nehmen die histo rischen Texte des AT jedo ch eine So nderstellung ein. Sie erheben sich weit über die reine Annalistik, sind mit ihren vielerlei Kunstmitteln und Reflektio nsebenen, mit ihrer bewußt theo lo gischen Begründung bzw. Ko mmentierung vo n Handlungen bereits Geschichtsschreibung in unserem Sinne (Cancik 1976).

Erhalten sind so nst nur wenige Bau- o der Grabinschriften vo n Herrschern (z. B. Bauinschr.: KAI Nr. 4 [Jehimilk v. Byblo s], Nr. 7 [Šipiṭba‛al I.], Nr. 10 [Jehaumilk], Nr. 15. 16 u. a. [Bo daštart], Nr. 24 [Kilamuwa], Nr. 26 [Azatiwada]; Grabinschr.: KAI Nr. 1 [Aḥīrōm v. Byblo s], Nr. 9 [So hn des Šipiṭba‛al III.], Nr. 11 [Batno ‛am], Nr. 13 [Tabnit], Nr. 14 [Ešmunazar] usw.). Diese sind durchaus literarisch gefo rmt: Auf Nennung des Objekts fo lgt der Name des Stifters, Angabe des Zwecks bzw. Hinweis auf eine Weihung, Segensfo rmel für den Stifter und Fluchfo rmel gegen einen möglichen Veränderer des Bauwerks. Die Kilamuwa-Inschrift (→ Abb. 20.4 auf Tafel V) hat darüber hinaus eine durchaus po etische Struktur (O’Connor 1977). 5.3. Mythos, Ritus und Kultus Hier ist der Textbestand, gemessen etwa am benachbarten Ägypten o der Meso po tamien, wieder sehr beschränkt. Während Mythen z. B. aus Ugarit in beachtlicher Zahl bekannt sind (Caquo t, Sznycer & Herdner 1974), ist das vergleichbare Material der Phönizier unter dem Namen des Priesters Sanchuniatho n nur in vielfach gebro chener Traditio n ganz bruchstückhaft nach Philo vo n Byblo s bei Euseb vo n Caesarea erhalten (Ebach 1979). Während vo n althebräischer Mytho lo gie sich Reste im AT erhalten haben (Schöpfungsgeschichte(n), Sintflut, Götterkampf), sind keinerlei vergleichbare Texte aus dem aramäischen und arabischen Kulturkreis erhalten geblieben. Religiöse Riten hat es, fo lgt man Anspielungen in antiken Auto ren, viele gegeben, z. B. um Ado nis, Melqart usw., do ch sind auch hier o riginale Aufzeichnungen verlo ren. Für den gro ßen Bereich der Magie sind lediglich zwei Beschwörungen (KAI Nr. 27 und Teixido r 1983) und einige Fluchtäfelchen (z. B KAI Nr. 89) bekannt. Sie unterstreichen den magischen Charakter des geschriebenen Wo rtes, da sie, amulettartig ins Grab und damit in die Unterwelt gebracht, vo n do rt aus no ch lebenden namentlich genannten Perso nen Unglück bringen so llten. — Zum Kult gehören die zahllo sen stark fo rmalisierten Weihinschriften auf Steinstelen, vo r allem aus No rdafrika (bes. Karthago ), die mit Hinweis auf ein Opfer (o ft eines Kindes o der seines Ersatzes) die göttliche Hilfe erflehen (Beispiele KAI Nr. 61. 63. 64. 84—88. 102—112). Grabstelen enthalten z. T. Fo rmeln, die sich auf den To tenkult beziehen (Schmuck der To ten, Gesichtsmasken, Libatio nen). Außero rdentlich reich ist dagegen die kultische Über-

36.  Die nordwestsemitischen Schriftkulturen

lieferung des AT, auch wenn durch die deutero no mistische Redaktio n nachträglich eine Bereinigung und Ausrichtung lediglich auf den Kult vo n Jerusalem vo rgeno mmen wurde. Die kultischen Vo rschriften beso nders des Buches Leviticus regeln nicht nur den Tempeldienst, so ndern auch die Bestallung vo n Priestern, die gro ßen Festlichkeiten und selbst das individuelle Verhalten bei bestimmten täglichen Verrichtungen (Speisegebo te usw.). Viele der im AT überlieferten Psalmen und Lieder haben ihren festen Sitz in diesen Festtagsliturgien besessen. Vergleichbares ist vo n den Nachbarkulturen anzunehmen, aber verlo ren. — Pro phetische Texte, wiederum im AT reichlich erhalten, hat es auch in den Nachbarkulturen gegeben. Ein leider schlecht erhaltener Text ist das Bileams-Orakel aus Dēr ‛Allā (Weippert 1991). 5.4. Erzählung, Lied, Spruch und Texte zur Weisheit Erzählliteratur hat wieder nur das AT erhalten, z. B. in den Patriarchen-Erzählungen, den Geschichten über Jo seph, über Mo se und — in etwas abgewandelter Fo rm — im Buch Esther. Sie sind auch in den eher histo risch o rientierten Büchern zu finden, so etwa die Geschichte vo n der Thro nfo lge Davids (2. Sam. 13—20 und 1. Reg. 1—2). Sie sind, wie etwa die Jo sephsgeschichten, in der überlieferten Fo rm ko mpliziert gebaute literarische Ko mpo sitio nen (Schweizer 1991), gehen aber im Kern auf mündliche Berichte zurück, die erst im Pro zeß der Verschriftlichung ihre anspruchsvo lle Fo rm erhielten. Darüber hinaus hat das AT in unterschiedlichen Textzusammenhängen Lieder erhalten, die o ffenbar in den Nachbarkulturen nicht verschriftet wo rden sind, vo n denen sich jedenfalls so nst in den Zeugnissen der frühen Alphabetschrift keine Reste gefunden haben. Es sind dies Arbeits-, Ernte- und Trinklieder (Num. 21,17 f; Jes. 22,16; Sap. Sal. 2,1—20); Ho chzeits- und Liebeslieder (So g. Ho helied); Wächterlied (als Anspielung in Jes. 52,8 f); Spo ttlieder (Num. 21,27—30; Jes. 37,22—29) und Leichenlieder (2. Sam. 1,19—27; 3,33 f; Jes. 14,4—21). Auch Klagelieder und Danklieder (Ps. 66,2—12 bzw. 13—20 u. ö.) sind Gattungen, die nur im AT in die Schriftlichkeit überführt wo rden sind. Sie setzen einen „Literaturbetrieb“ vo raus, der aus inhaltlichen und ko mpo sito rischen Gründen literarische Gattungen in die Schriftfo rm überführte, die ursprünglich nicht für eine schriftliche Tradierung bestimmt waren. Es ist deshalb auch nicht verwunder-

509

lich, daß die anderen Schriftkulturen der Regio n nichts davo n bewahrt haben. Anders verhält es sich mit Weisheitstexten, die in Ägypten und Meso po tamien selbstverständlicher Bestandteil der schriftlichen Traditio n waren (→ Art. 20, 2.3.2.) und natürlich reichlich im AT (Hio b-Dichtung; Qo helet; Sapientia Salo mo nis) vertreten sind, aber auch in Fo rm des so g. Achiqar-Ro mans mit Rahmenhandlung und Spruchsammlung eine reichsaramäische Überlieferung kennt (Lindenberger 1983). 5.5. Repräsentation Fragen wir nach den Mo tiven vo n Schriftlichkeit in den frühen Jahrhunderten der Verwendung der Alphabetschrift, so ist das Bedürfnis zur Selbstdarstellung, zur Verewigung der eigenen Taten sicher ein bevo rzugter Anlaß gewesen. Zahllo se Felsinschriften einfachster Fo rm — beso nders im arabischen Sprachraum — enthalten selten mehr als den Namen und Vatersnamen des Schreibenden, gelegentlich mit der Anrufung einer Go ttheit verbunden, o ft aber lediglich mit dem Hinweis auf kurzzeitiges Verweilen an diesem Ort. Diese Bekundung hat dann spätere Besucher veranlaßt, sich in die Nachfo lge zu einer so lchen Präsenz einzureihen. Umfangreicher als diese Privatinschriften sind die vergleichbaren vo n Königen, die o ft no ch best. Bauten, Weihungen und andere Taten zu ihrem Ruhme und zur Erinnerung für die Nachfahren anführen. Auch Grabinschriften verfo lgen ähnliche Ziele. Der magische Charakter des Geschriebenen wird dabei auch eine Ro lle gespielt haben, do ch wird dies nur in dem Verbo t der Namenstilgung in der Fluchfo rmel spürbar. Ein beso nderer Typ der Schrift ist zur Repräsentatio n z. B. auch auf Siegeln (Sass & Uehlinger 1993) nicht geschaffen wo rden.

6.

Schrift und Bild

Die Alphabetschrift hat aufgrund des geringen deko rativen Charakters ihrer Zeichen im Gegensatz zu ägyptischen Hiero glyphen, chinesischen Wo rtzeichen usw. im allgemeinen keine spezifisch künstlerische Verwendung gefunden. Lediglich altsüdarabische Inschriften treten gelegentlich auch als Gebäudeschmuck hervo r. Andererseits lassen sich kurze Alphabettexte leicht auf kleinen Schriftträgern (z. B. Münzen) anbringen, o hne die Darstellung zu stören o der indem sie deren Ko mpo sitio n abrunden. Als Beischriften z. B. auf Grabdenk-

IV. Schriftkulturen

510

mälern (u. a. in Palmyra), auf den So ckeln vo n Bildnissen, neben Darstellungen auf Wandgemälden usw. machen sie mit wenigen Zeichen die Identifikatio n des Dargestellten möglich, so daß für den Schriftkundigen neben die iko no graphische Charakterisierung noch die durch die Schriftsprache tritt.

7.

Literatur

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Wolfgang Röllig, Tübingen (Deutschland)

37.  Die griechische Schriftkultur der Antike

37. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

1.

511

Die griechische Schriftkultur der Antike Vorgeschichte Die Übernahme des phönizischen Alphabets Beschreibstoffe Lautes und stilles Lesen Die Entwicklung bis zum 4. Jahrhundert v. Chr. Hellenismus und Kaiserzeit Literatur

Vorgeschichte

Die Griechen haben sich zweimal eine Schrift angeeignet. Die erste griechische Schrift war eine Silbenschrift, das Linear B. Sie war aus dem Linear A entwickelt, einer nichtgriechischen Silbenschrift (1650 [o der früher] — 1450), vo n der Funde aus Kreta, aber auch vo n verschiedenen Inseln der Ägäis vo rliegen. (Zeitgleich mit den frühen Zeugnissen vo n Linear A ist der berühmte Disko s vo n Phaisto s, dessen Eino rdnung ein ungelöstes So nderpro blem darstellt.) Nach dem Niedergang des mino ischen Reiches und der mino ischen Kultur um 1450 wurde Kreta vo n mykenischen Griechen eingeno mmen. Es ist eine plausible Hypo these (Heubeck 1979, 32 ff), daß diese hier, aus der Ko nfro ntatio n mit dem mino ischen Erbe heraus, zur Schaffung einer für die eigene Sprache verwendbaren Schrift veranlaßt wurden (die weitaus meisten erhaltenen Texte stammen aus dem Palast vo n Kno sso s). Linear B gewann in der Fo lgezeit Verbreitung auch auf dem griechischen Festland (wichtigste Fundo rte: Pylo s, Mykene, Tiryns, Theben). Freilich blieb der Gebrauch der Schrift — sie wurde 1952 vo n M. Ventris und J. Chadwick entziffert — auf Verwaltungszwecke beschränkt (Bestandsaufnahmen, Do kumentatio n vo n Verpflichtungen, Lieferungen u. dgl.; Schriftträger sind To ntafeln). Daß es ihr nicht gelang, sich weitergehende Funktio nen zu erschließen, ist darin begründet, daß sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur äußerst mangelhaft gestattet: Sie bietet Zeichen nur für Vo kale und o ffene Silben, differenziert weder zwischen Tenues, Aspiratae und Mediae (Ausnahme: t und d) no ch zwischen l und r no ch zwischen langen und kurzen Vo kalen. Mit der Zerstörung der mykenischen Kultur um 1200 v. Chr. verschwand die Kenntnis vo n Linear B, die o ffenbar auch nie über den Bereich der Fürstenhöfe hinausgedrungen war. Was fo lgte, waren die sog. ‘Dunklen Jahrhunderte’.

2.

Die Übernahme des phönizischen Alphabets

Die zweite, ungleich fo lgenreichere Aneignung der Schrift durch die Griechen erfo lgte im 8. Jahrhundert Seit dem ausgehenden 9. Jahrhundert intensivierten sich die Ko ntakte zwischen Griechen und Phöniziern, den seefahrenden Bewo hnern der südsyrischen Küstenregio n mit den Städten Byblo s, Sido n und Tyro s (Heubeck 1979, 80 ff; Burkert 1984, 15 ff). Diese drängten nach Westen, zeitweilig unter assyrischem Expansio nsdruck, der sich im fo lgenden Jahrhundert wiederho lte; do ch gewann dieser Vo rgang im Zeichen sich verstärkenden Handelsverkehrs auch eine eigene Dynamik. Phönizier setzten sich bereits im 9. Jahrhundert auf Zypern fest (Kitio n), gründeten Karthago ; frühe Verbindungen bestanden auch mit Kreta. Orientalische Impo rtstücke aus dem 8. und 7. Jahrhundert bezeugen den Ko ntakt für viele Plätze der griechischen Welt. Insbeso ndere wurde Euböa zur Drehscheibe griechisch-phönizischen Handels, welcher sich auch in den westlichen Mittelmeerraum ausdehnte. Griechen ihrerseits stießen nach Syrien vo r, siedelten sich an der Oro ntes-Mündung an (griechische Ortsbezeichnung: Po sideio n, heute Al Mina). Parallel zu den Handelsbeziehungen etablierte sich die Ko o peratio n auf dem Gebiet künstlerischen Handwerks, wo bei die Griechen vo r allem die Lernenden waren; Ergebnis war die ‘Orientalisierende Epo che’ der griechischen Kunst im 7. Jahrhundert. Im Rahmen des intensiven Ko ntakts erlernten die Griechen auch die Schrift vo n den Phöniziern und paßten sie ihrer Sprache an. Die phönizische Ko nso nantenschrift (→ Art. 20) enthielt freilich Zeichen, die für das Griechische nicht benötigt wurden. Dieser Restbestand wurde nun in einer Weise umfunktio niert, die den Erfo lg der griechischen Schrift als eines perfekten Instruments zur Fixierung vo n Sprache begründete: Die überschüssigen Zeichen wurden zu Vo kalzeichen. Weiterhin wurden zu den 22 Zeichen des phönizischen Alphabets vier zusätzliche hinzugefügt. Dies ergab einen Gesamtbestand vo n 26 Zeichen, wo bei allerdings Schwankungen und auch unterschiedliche Zuo rdnungen in den verschiedenen lo kalen Alphabeten auftreten. Diese Unterschiede auf der einen und die Kalku-

IV. Schriftkulturen

512

liertheit der Anpassung auf der anderen Seite lassen die Frage, o b ein einzelner ‘Erfinder’ o der mehrere parallele Adaptatio nen anzusetzen sind, in der Apo rie enden (Heubeck 1979, 87 ff; Burkert 1984, 29 ff; Heubeck 1986, 16 ff). Der ursprüngliche Zeichenbestand reduzierte sich im so g. io nischen Einheitsalphabet, das sich in den fo lgenden Jahrhunderten durchsetzte, auf 24 Zeichen. Athen übernahm dieses Alphabet durch Vo lksbeschluß im Jahre 403/2 (Pöhlmann 1986; vgl. auch Immerwahr 1990, 179 ff). Als Reflex der Übernahme des phönizischen Alphabets erhielt sich im Io nischen der Begriff phoinikéia für Schriftzeichen, den Hero do t für eine in den Grundzügen zutreffende Reko nstruktio n des Vo rgangs auswertete (5,58; vgl. Heubeck 1979, 105 ff). Anso nsten gab es jedo ch keinerlei Erinnerung. So muß mo derne Fo rschung Antwo rten auf die o ffenen Fragen finden. Für den Ort der Übernahme werden in erster Linie die Plätze früher Berührungen zwischen Griechen und Phöniziern diskutiert: Zypern, Kreta, Po sideio n (Heubeck 1979, 84 ff; Burkert 1984, 30 f; Wachter 1989, 64 ff; Jeffery & Jo hnsto n 1990, 5 ff; 425 f). Als Zeitraum, innerhalb dessen die Übernahme erfo lgte, ist die erste Hälfte des 8. Jahrhunderts anzusetzen (Heubeck 1979, 75 ff; 86 f; Burkert 1984, 30 f; Wachter 1989, 69 ff; Jeffery & Jo hnsto n 1990, 12 ff; 426 f). Dies ergibt sich daraus, daß Textfunde über die Jahrhundertmitte nicht hinausreichen (Jo hnsto n, in: Jeffery & Jo hnsto n 1990,426: „no Greek alphabetic texts befo re c. 740“; die Frühdatierung [770] einer naxischen Schale ist ungesichert [ebd. 466 f, zu A]), während die Häufigkeit danach rasch zunimmt. Für die vo rausliegende Zeit hat so mit das argumentum ex silentio erhebliches Gewicht (gegen Versuche vo n semitistischer Seite, den Zeitpunkt der Übernahme bis ins 11. Jahrhundert hinaufzudatieren: Burkert 1984, 31; Wachter 1989, 69 ff; Jeffery & Jo hnsto n 1990, 426). Diskutiert werden schließlich die der Übernahme zugrunde liegenden Mo tive. Waren sie ko mmerzieller Natur (Heubeck 1979, 94 f; 150 ff; Lo mbardo 1988), o der stand so gleich die Absicht dahinter, metrische, d. h. po etische Texte zu fixieren (Ro bb 1978; SchnappGo urbeillo n 1982)? Man entgeht dieser Alternative, wenn man annimmt, daß es alltagspraktische Bedürfnisse in einem allgemeinen und umfassenden Sinne waren, die den Erwerb einer Schrift attraktiv erscheinen ließen. Darin sind beispielsweise Besitzervermerke, wie sie gerade die frühen Funde bieten (Jo hn-

sto n 1983), ebenso eingeschlo ssen wie metrische Dedikationsinschriften.

3.

Beschreibstoffe

Gegen eine anfängliche ko mmerzielle Nutzung der Schrift wird eingewandt, daß sie durch Funde nicht belegt ist. Im Gegenzug wird die Beweiskraft dieses Arguments durch den Hinweis darauf bestritten, daß die aufgrund ihrer Dauerhaftigkeit erhaltenen Schriftträger nicht repräsentativ sind. In der Tat bezeichnen Inschriften auf Keramik, Stein o der Metall nur einen Teilbereich der Schriftverwendung, nicht nur in materieller, so ndern auch in inhaltlicher Hinsicht. Dabei ist zu berücksichtigen: Der Traditio nsbruch zwischen Linear B und der griechischen Alphabetschrift fand unter anderem darin seinen Ausdruck, daß To ntafeln — in mykenischer Zeit das bevo rzugte Material für Aufzeichnungen, die aus den Bedürfnissen vo n Wirtschaft und Verwaltung erwuchsen — nun nicht mehr Verwendung fanden. Deshalb hat sich dieser Ko mplex vo n Schriftlichkeit nur aus der älteren, der mykenischen Zeit erhalten. Do ch hat es ihn gewiß nicht minder in der frühen Phase der Alphabetschrift gegeben. Die üblichen Beschreibsto ffe waren nunmehr die fo lgenden (Heubeck 1979, 152 ff; Burkert 1984, 32 ff; Jeffery & Jo hnsto n 1990, 50 ff; 429 f): Es gab einfache Ho lztafeln o der so lche mit Wachseinlage (déltoi [semitisches Lehnwo rt], pínakes), auch in zusammengeklappter Fo rm, die für kürzere Texte benutzt wurden. Sie hatten eine wichtige Funktio n nicht zuletzt im Schreibunterricht. Für längere Texte war im Orient die Lederro lle etabliert. Daß sie vo n den Griechen zusammen mit der Schrift überno mmen wurde, ist darin manifest, daß sich bei den Io niern die Bezeichnung diphthéra (‘Leder’) für Buch auch dann no ch hielt (Hero do t 5,58), als sich die Papyrusro lle (bíblos, biblíon) längst durchgesetzt hatte (wo hl seit dem späten 7. Jahrhundert). Diese war in den fo lgenden Jahrhunderten das zentrale Medium der griechischen Schriftkultur. Erst in nachchristlicher Zeit wurde sie durch den Pergamentko dex abgelöst (Hunger 1961, 47 ff; Roberts & Skeat 1983; → Art. 8).

4.

Lautes und stilles Lesen

Das Erbe der Mündlichkeit blieb die ganze Antike hindurch inso fern wirksam, als laut gelesen wurde (Sammlung der Testimo nien

37.  Die griechische Schriftkultur der Antike

bei Balo gh 1927): Der Leser inszenierte gleichsam für sich selbst eine mündliche Ko mmunikatio nssituatio n. Do ch hat es auch eine Praxis stillen Lesens gegeben, die sich mit dem Fo rtschreiten der Literarisierung ausbildete und spätestens für das 5. Jahrhundert v. Chr. anzusetzen ist (Kno x 1968; Rösler 1992). Diese Entwicklung wurde vo m 3. Jahrhundert v. Chr. an dadurch unterstützt, daß Akzente, Spiritus und Elemente vo n Interpunktio n, welche die gebräuchliche scriptio continua gliederten, in die Texte Eingang fanden (Raible 1991; zu o ptischen Hilfen bei der Gliederung größerer Texteinheiten Cancik 1979).

5.

Die Entwicklung bis zum 4. Jahrhundert v. Chr.

5.1. Verbreitung der Schrift Merkmal der Entwicklung im antiken Griechenland ist die gro ße Dynamik, mit der die neue Errungenschaft, die Buchstabenschrift, eine ehedem mündliche Kultur durchdrang und schließlich, im 4. Jahrhundert, in eine Buchkultur überführte, in der man sich der ov rausliegenden Verhältnisse dann kaum mehr bewußt war. Mit vo llem Recht ist hier vo n einer kulturellen ‘Revo lutio n’ gespro chen wo rden (Havelo ck 1982). Offenbar verbreitete sich die Schriftkenntnis vo n Anfang an über einen engeren Zirkel vo n Experten hinaus: Die frühesten Inschriften sind durchweg privater Natur (vgl. Heubeck 1979, 109 ff); vo m 7. Jahrhundert an wird über erklärende Vasenbeischriften so wie Töpfer- und Malersignaturen (Simo n 1981, 21 ff) eine verbreitete Schriftbenutzung durch Handwerker faßbar. Erst sekundär, in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts, setzen öffentliche Inschriften ein (die Texte bei Meiggs & Lewis 1988), beginnend mit einer Rechtsinschrift aus Drero s, wie überhaupt die Fixierung vo n Recht eine der wichtigen frühen Funktio nen der Schrift war (Gagarin 1986; Detienne 1988; Lo raux 1988). Ein eigentliches Schulwesen scheint sich freilich erst im späten 6. Jahrhundert entwickelt zu haben (Pöhlmann 1988, 11 f; 14 ff; Harris 1989, 57 ff; zur Methode des Schreibunterrichts Pöhlmann 1986, 54 f), und erst in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts begann sich ein o rganisierter Buchvertrieb herauszubilden (Erler 1987, 51 ff). Hieraus erwuchs wiederum die Praxis, Büchern Titel zu geben (Schmalzriedt 1970). Dieser Pro zeß vo llendete sich im frühen 4. Jahrhundert (vgl. Turner 1954, 23: „By the first thirty years o f

513

the fo urth century bo o ks have established themselves [...]“). In Anbetracht der dargestellten Entwicklung läßt sich die vo n Havelo ck vertretene Annahme (1963; vgl. auch 1982), die Einführung der Schrift sei außerhalb vo n Handel und Gewerbe bis weit ins 5. Jahrhundert hinein relativ fo lgenlo s geblieben, nicht aufrecht erhalten (Nieddu 1982; Pöhlmann 1988, 14 ff). Tatsächlich hat es o ffenbar bereits im 6. Jahrhundert, beso nders gegen dessen Ende hin, eine erhebliche Ausbreitung der Schriftlichkeit gegeben (zum athenischen Befund Immerwahr 1990, 176: „The last third o f the sixth century sees a great o utburst o f writing activity [...]“; vgl. auch Harris 1989, 52 ff). Auf der anderen Seite wird man vo n einer wirklich umfassenden, auch ländliche Regio nen einschließenden Literalität der griechischen Bevölkerung zu keinem Zeitpunkt sprechen können (Canfo ra 1989; Harris 1989, 3 ff). Selbst im Hinblick auf das Athen des 5. und 4. Jahrhunderts wird vo r Überschätzungen gewarnt (Tho mas 1989, 15 ff; vgl. Harris 1989, 93 ff; über Sparta: Cartledge 1978; Bo ring 1979). 5.2. Dichtung und Literatur Als die Griechen im 8. Jahrhundert das phönizische Alphabet übernahmen, gab es bei ihnen eine ho chentwickelte mündliche Dichtung. Es war zwangsläufig, daß die Schrift auf diesen Bereich übergriff. Mit ihrer Hilfe ließen sich auch po etische Texte fixieren und ko nservieren; signifikant ist, daß die Überlieferung der griechischen Dichtung spätestens mit dem 7. Jahrhundert, wenn nicht scho n im letzten Drittel des 8. Jahrhunderts, einsetzt (Pöhlmann 1990; ko ntro vers ist die Datierung der Ilias). Darüber hinaus veränderte die Schrift vo n Grund auf den po etischen Schaffenspro zeß. Der Text mußte nicht mehr extemp o rierend herv o rgebracht werden. Er ko nnte nun in einem Akt der Abfassung entstehen, der vo n der Darbietungssituatio n abgeko ppelt war und dessen Tempo der Auto r selbst bestimmte. Zu ko nstatieren ist freilich keine abrupte Veränderung, so ndern ein langer Ablösungsvo rgang. Bei aller Verfeinerung, die die schriftliche Abfassung ermöglichte, bewahrten sich Elemente der Mündlichkeit (grundsätzlich dazu Andersen 1987): so die epischen ‘Fo rmeln’ (traditio nelle, zum Reperto ire der Gattung gehörende Fo rmulierungen, deren Funktio n es gewesen war, den Sänger in der Streßsituatio n des Impro visierens zu entlasten) o der die Hinwendung zu

IV. Schriftkulturen

514

einem o der zu mehreren Adressaten in Lyrik und Lehrgedicht. Vo r allem — das zuletzt genannte Merkmal verweist darauf — blieb die Zweckbestimmung für den mündlichen Vo rtrag einstweilen unangefo chten (Gentili 1984; speziell zur Lyrik: Rösler 1980a; vgl. auch Rösler 1983). Wo hl erst im späten 5. und dann im 4. Jahrhundert verdrängte individuelles Lesen allmählich das ko llektive Zuhören als Regelfall der Rezeptio n (zur Situatio n im 5. Jahrhundert Mastro marco 1984). Aristo teles faßt diese Entwicklung in zugespitzter Weise zusammen, wenn er so gar im Hinblick auf dramatische Dichtung die Ansicht vertritt, für eine Tragödie sei die Aufführung ein äußerlicher Aspekt; sie entfalte ihre Wirkung vielmehr unabhängig vo n der Anschauung durch das Auge, eben im Akt des Lesens (Po etik 26, 1462 a 11 ff; vgl. 6, 1450 b 16 ff; 14, 1453 b 1 ff). Ein beso nders zukunftsweisendes Pro dukt der Literarisierung war das Pro sabuch. Pro saschriften kamen in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhundert im Umkreis vo rso kratischer Theo riebildung auf. Sie do kumentieren, daß sich zu dieser Zeit eine auf Schriftlichkeit basierende Ko mmunikatio n in einem beträchtlichen Ausmaß entwickelt hatte, was mit anderen Befunden übereinstimmt (vgl. 5.1.). Zwar bestand eine frühe, namentlich für das 5. Jahrhundert bezeugte Funktio n der Pro saschrift darin, als ein hypómnema (zur eigenen Erinnerung gemachte Aufzeichnung) dem Verfasser als Grundlage für mehr o der minder öffentliche Lesungen zu dienen (Thukydides 1, 21 f; Plato n, Parmenides 127 a—d; vgl. Erler 1987, 34 ff). Vo rrangig war freilich die Bestimmung, dem Text eine nicht an die Perso n des Auto rs gebundene Verbreitung zu ermöglichen (Nieddu 1984; Pöhlmann 1990, 23 f). Die Ko härenz der unter den Vo rso kratikern geführten Auseinandersetzung zeigt, daß dieses Ziel auch erreicht wurde. Auch ist darauf zu verweisen, daß die vo rso kratischen Texte mindestens teilweise, und zwar gerade auch da, wo die Darstellung in der traditio nellen Versfo rm erfo lgt, sich aufgrund ihrer gedanklichen und sprachlichen Ko mpliziertheit einer blo ß hörenden Aufnahme entzo gen (krasses Beispiel: das Lehrgedicht des Parmenides [erstes Drittel des 5. Jahrhunderts]). Im 5. Jahrhundert kam es zu einer explo sio nsartigen Ausweitung der Pro saschriftstellerei. Im beso nderen sind so phistische Traktate und Fachschriften, etwa medizinischen Inhalts, zu nennen (Pigeaud 1988; Pöhlmann 1990, 24 ff). Schließlich war mit dem Pro sabuch die Ent-

wicklung der Histo rio graphie verbunden (wo bei hinzuzufügen ist, daß sich zuvo r bereits die Herausbildung eines Geschichtsbewußtseins als Auswirkung der Schrift darstellt, vgl. Rösler 1980 b, 302 ff). Im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts war die Literarisierung so weit fo rtgeschritten, daß nun die Möglichkeit in den Blick trat, sich mit Gro ßtexten vo n bislang ungekannter Ausdehnung dezidiert an künftige Leser zu wenden. Thukydides entschied sich zu Beginn des Pelo po nnesischen Krieges, ein so lches Werk in Angriff zu nehmen, und er bediente sich bei der Ausführung eines dezidiert unmündlichen Stils. Aber auch scho n das Geschichtswerk Hero do ts war in der Fo rm, in der es sein Verfasser in den ersten Jahren desselben Krieges niederschrieb, nicht mehr für Vo rträge, so ndern zur Lektüre bestimmt (Rösler 1985, 20 ff). Die kulturelle Veränderung nötigte überhaupt zu beständiger Überprüfung, Anpassung und Neuentwicklung vo n Ko nzeptio nen und Theo rien. Ein ho chbedeutsamer Pro zeß war die Ablösung der alten, in der Mündlichkeit wurzelnden Vo rstellung, Dichtung sei am Wahrheitskriterium zu messen, durch eine Sicht, derzufo lge die Faktizität des in einem po etischen Text Mitgeteilten irrelevant ist (Rösler 1980b). Do ch schlo ß die Auseinandersetzung mit dem Vo rdringen der Schriftlichkeit auch Widerstand ein. Der ko mpro mißlo se Verzicht des So krates auf schriftliche Äußerungen zugunsten gelebter Gesprächsbereitschaft fand seine Weiterentwicklung in der Schriftkritik Plato ns, der im Phaidro s fo lgende Mängel benennt (274 b—277 a): die negative Wirkung auf das Gedächtnis und die in der Unfähigkeit der Schrift zur Antwo rt begründete mangelhafte Tauglichkeit, dasjenige, was vermittelt werden so ll, auch tatsächlich zu vermitteln (Szlezák 1985; Erler 1987, 21 ff; 38 ff; Heitsch 1987; Kullmann 1990).

6.

Hellenismus und Kaiserzeit

Ein auf Schriftlichkeit aufbauender Wissenschaftsbetrieb wurde im späten 4. Jahrhundert durch Aristo teles und seine Schule begründet (Wehrli 1983, 462 ff). Damit begann die letzte Etappe im Pro zeß der Literarisierung (zusammenfassend Easterling 1985; Reyno lds & Wilso n 1991, 5 ff), in der nun die Fähigkeit der Schrift, Wissen zu akkumulieren und eben dadurch Wissensfo rtschritt in Gang zu setzen, in gro ßem Umfang realisiert wurde. Bezeichnend ist, daß die Grundlage

37.  Die griechische Schriftkultur der Antike

der in der Schule des Aristo teles betriebenen Wissenschaft zahlreiche schriftliche Materialsammlungen waren, die Aristo teles selbst zu systematischen Zwecken angelegt hatte (Pfeiffer 1970, 91 ff). Zentrum hellenistischer Wissenschaft wurde Alexandrien, wo Pto lemaio s I. eine Fo rschungsstätte, das Mouseîon, mit einer angeschlo ssenen, in der Fo lgezeit auf das üppigste ausgebauten Biblio thek errichtete (grundlegend Pfeiffer 1970, 125 ff; lesenswert die belletristische Fiktio n mit wissenschaftlicher Rek o nstrukti o n verbindende Darstellung vo n Canfo ra 1988). Diese Gründung erfo lgte nicht unabhängig vo n der Schule des Aristo teles in Athen; Demetrio s vo n Phalero n und Strato n vo n Lampsako s, die mit dieser Schule in Verbindung standen, waren Berater vo n Pto lemaio s I. (Wehrli 1983, 559 f; 569). Die neue Institutio n setzte sich das Ziel, die literarische Traditio n Griechenlands in umfassender Weise zu sammeln und aufzuarbeiten (Pfeiffer 1970, 135 ff). Hierfür mußten ebenso die metho dischen Grundlagen wie die erfo rderlichen Verfahren und Techniken entwickelt werden: kritische Editi o n und K o mmentar, Katal o gisierung (Blum 1977) und Lexiko graphie (Alpers 1990); daneben entfaltete sich ein reiches Spektrum kultur-, literatur- und sprachgeschichtlicher Sekundärliteratur. Ein neuer Gelehrtentypus verkörperte sich in Männern wie Zeno do t, Kallimacho s, Apo llo nio s vo n Rho do s, Erato sthenes, Aristo phanes vo n Byzanz und Aristarch vo n Samo thrake. Kallimacho s und Apo llo nio s waren zugleich Dichter; ihre Dichtung reflektiert, auf durchaus unterschiedliche Weise, das Verhältnis zu jener Traditio n, mit der sie sich als Philo lo gen beschäftigten (Pfeiffer 1970, 157 ff; 177 ff; Bing 1988). Eine mit Alexandrien ko nkurrierende Institutio n entstand in Pergamo n (Pfeiffer 1970, 286 ff). Auswirkung des bestimmenden Einflusses der sto ischen Philo so phie war einerseits die allego rische Interpretatio n vo n Dichtung (im Unterschied vo n Alexandrien), andererseits das Interesse an Sprachtheo rie und Grammatik (Schmidt 1979). Seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. bildeten sich weitere Zentren (Pfeiffer 1970, 306 ff). So ließ sich Dio nysio s Thrax, aus Alexandrien ko mmend, in Rho do s nieder; seine Grammatikè téchne ist ein Werk, das die weitere Entwicklung dieser Disziplin in nicht zu überschätzender Weise geprägt hat. Das Aufblühen der Wissenschaften beschränkte sich indes keineswegs auf den Bereich der Philo lo gie (Llo yd 1973). Eine überaus reiche Fachliteratur, in der sich Bestandsaufnahme und Systematisierung des vo rhan-

515

denen Wissens mit Erkenntnisfo rtschritt verbanden, entfaltete sich in der Mathematik (Euklid, Archimedes, Apo llo nio s vo n Perge), der Astro no mie (Aristarch vo n Samo s, Hipparcho s, Klaudio s Pto lemaio s), der Geo graphie (Erato sthenes [bereits als Philo lo ge erwähnt], Po seido nio s, Klaudio s Pto lemaio s), der Mechanik (Archimedes, Hero n), schließlich in Bio lo gie und Medizin (Hero philo s, Erasistrato s, Galen). Hero n, Klaudio s Pto lemaio s und Galen gehören bereits in die Kaiserzeit. Das gewaltige Œuvre Galens — er selbst bezifferte es auf 153 Werke in über 500 Büchern; die letzte, aus dem 19. Jahrhundert stammende Gesamtausgabe umfaßt 21 stattliche Textbände — do kumentiert den Stand der griechischen Schriftkultur im 2. Jahrhundert n. Chr. Die Grundlage bildete ein Unterrichtswesen, das den jungen Menschen vo n der Elementarschule über die Unterweisung beim ‘Grammatiker’ (Dichterlektüre und -erklärung) bis hin zur Rheto rikausbildung führte (Marro u 1977, 273 ff). In der Fo lgezeit erlo sch die evo lutio näre Dynamik, die vo n der Literarisierung ausgegangen war. Nach der Ko nstituierung des Oströmischen Reiches, spätestens mit der Schließung der Plato nischen Akademie durch Justinian im Jahre 529, mündete die griechische in die byzantinische Schriftkultur (Hunger 1989).

7.

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Wolfgang Rösler, Konstanz (Deutschland)

38. Die lateinische Schriftkultur der Antike 1. 2. 3. 4. 5.

Die Übernahme des Alphabets Die ‘vorliterarische’ Periode Die ausgebildete Schriftkultur der Republik und frühen Kaiserzeit Wandel in der Spätantike Literatur

1.

Die Übernahme des Alphabets

Die Römer selbst setzten die Einführung der Schrift in mythische Vo rzeit. Nach der verbreitetsten Versio n so ll der arkadische Hero s Euander das Alphabet mitgebracht haben, als er zwei Generatio nen vo r dem tro janischen Krieg als erster auf dem Gebiet des späteren Ro m siedelte (Briquel 1988). Tatsächlich hingegen lernen die Römer in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts v. Chr. im Zuge des Austauschs mit ihren etruskischen Nachbarn und den Westgriechen Kampaniens schreiben. Hierbei übernehmen sie das Alphabet nicht direkt vo n den Griechen, so ndern vermittelt über die Etrusker, die sich um 700 v. Chr. das westgriechische Alphabet angeeignet haben, das über die euböische Ko lo nie Kyme nach Italien gelangt war. Dieser Vermittlungsweg geht aus zweierlei hervo r (Rix 1985, 214;

Wachter 1987, 14 ff): Wenn F, das griechische Zeichen für Digamma [w], im Lateinischen [f] ausdrückt, so ist das nur als Vereinfachung der südetruskischen Schreibweise FH für [f] zu erklären. Zum zweiten wird im südetruskischen Schriftsystem C, das westgriechische Gamma, für [k] benutzt, da der Lautwert [g] nicht benötigt wird, wo bei die o rtho graphische Regelung gilt, vo r i/e Gamma (C), vo r a Kappa (K) und vo r u/(o ) Qo ppa (Q) zu schreiben. Diese Ko nventio n hat das Lateinische überno mmen, o bgeich sie seiner pho netischen Struktur nicht gemäß ist; ein eigenes Graphem G ist erst im 3. Jahrhundert v. Chr. durch Zufügen eines Strichs zu C geschaffen wo rden. Schließlich ist auch die Etymo lo gie vo n littera jüngst als Indiz für die Ro lle Etruriens in der lateinischen Alphabetgeschichte in Anspruch geno mmen wo rden (Sando z 1991). Ungeachtet so lcher Abhängigkeit bezeugt jedo ch einen direkten Einfluß des Griechischen die Verwendung vo n B D O X, die anders als im Etruskischen die gleichen Lautwerte wie die westgriechischen β δ ο ξ wiedergeben: zu erklären aus Vermittlung durch griechische Schreiblehrer (Rix 1985, 214) o der als griechisch beeinflußte Wiederbelebung

IV. Schriftkulturen

518

vo n im Alphabetmerkspruch mitüberlieferten ‘to ten’ Buchstaben (Wachter 1987, 20). Nach der Mitte des 6. Jahrhunderts verläuft die lateinische Entwicklung unabhängig. Es dauert indes no ch einige Jahrhunderte, bis durch o rtho graphische Refo rmen, so die Anfügung der Buchstaben Y und Z am Ende der Reihe, aus dem archaischen das klassische lateinische Alphabet entstanden ist (Desbo rdes 1990, 147 ff).

2.

Die ‘vorliterarische’ Periode

Die Übernahme des Alphabets hat in Ro m nicht vergleichbar dynamisierend gewirkt wie in Griechenland. Die Zeit bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. wird, ungeachtet der Schriftkenntnis, als vo rliterarische Perio de bezeichnet. Genauer ist Ro m in dieser Phase, in der es Italien unterwirft, aber no ch nicht über das italische Festland ausgreift, eine traditio nale Gesellschaft mit begrenzter Literalität (vgl. die Merkmale bei Go o dy 1981, 21 ff). Das dynamische Po tential der Schrift entfaltet sich erst, als Ro m, im Zuge seines Eintritts in die hellenistische Staatenwelt, erneut und verstärkt griechische Kultur rezipiert, dann jedo ch in rapider Entwicklung. Die Gründe für diesen anderen Verlauf werden v. a. in der so zio lo gischen Struktur Ro ms gesucht: Für ein ‘Bauernvo lk’ spielt das Festhalten am Überko mmenen, dem mos maiorum, eine elementare Ro lle (Marro u 1977, 426 ff). Für die Übernahme des Alphabets braucht kein spezielles Mo tiv gesucht zu werden: Ro m gewinnt in dieser Phase sein Pro fil in der Auseinandersetzung mit den Etruskern und ihren kulturellen Errungenschaften. Die lateinischen Zeugnisse setzen mit dem ausgehenden 7. Jahrhundert ein und sind so wo hl privaten als auch öffentlichen Charakters, dabei vo n einiger Vielfalt (das älteste lateinische Sprachdenkmal ist die so g. Fibula Praenestina, deren Echtheit allerdings aufgrund vo n Unregelmäßigkeiten in der Fundgeschichte stark umstritten ist [Guarducci 1980; Wachter 1987, 55 ff; zu den frühesten Inschriften zuletzt Eichner 1988—1990; zur lateinischen Epigraphik jetzt zusammenfassend Almar 1990]). Die ersten Schriftzeugnisse auf römischem Bo den sind freilich etruskisch; die Schriftlichkeit ist bereits im 7. Jahrhundert in Latium und Südetrurien weit verbreitet, jedo ch auf die Aristo kratie beschränkt, wo bei Frauen und Männer o ffenbar gleichen Anteil haben. Die Inschriften dieser Zeit sind alle

privat, o ft Besitz-, Geschenk- o der Widmungsinschriften auf Prestigegegenständen (gesammelt jetzt bei Rix & Meiser 1991). Daher wird vermutet, es gebe im 7. Jahrhundert v. Chr. eine Aristo kratie, die eine Geschenkkultur pflege und mit auf Gegenständen geschriebenen kurzen Billetten gleichsam Ko nversatio n treibe. In jedem Fall ist die anfängliche Verwendung des Alphabets ebenso wenig wie in Griechenland auf administrative o der merkantile Zwecke begrenzt (→ Art. 37), vielmehr hat die Schrift ko mmunikative Funktion (Cristofani 1978, 20). Ein bes o nders auffälliger Unterschied Ro ms gegenüber Griechenland besteht darin, daß der Bereich der Dichtung nicht in der Weise vo n Verschriftlichung erfaßt wird, daß größere Fo rmen hervo rgebracht werden. Dies erklärt sich zum Teil aus dem Fehlen eines Kriegeradels mit hero ischer Überlieferung, so daß Ro m nicht über eine vo n Rhapso den gepflegte epische Traditio n verfügt, die gewissermaßen zur Literalisierung gedrängt hätte. Gleichwo hl sind die Römer nicht o hne Dichtung. Untersuchungen zur altlateinischen Metrik erweisen die Ausbildung einer Dichtersprache (Rix 1989; Blänsdo rf 1989; Maurach 1989), die vo rnehmlich in dramatischen Gattungen so wie im Bereich des Brauchtums gepflegt wird (Überblick bei Vo gt-Spira 1989) und dabei überwiegend mündlich bleibt. Die Do mänen des Schriftgebrauchs im Ro m der nächsten Jahrhunderte sind dagegen Staatsverwaltung, Recht und Religio n, die hauptsächlichen Träger Priesterschaft und Aristo kratie (inso fern ist vo n begrenzter Literalität zu sprechen). Die pontifices etwa schaffen eine Staatschro nik, indem sie auf einer jährlich an ihrem Amtssitz angebrachten geweißten Ho lztafel (album) die für bedeutsam erachteten Begebenheiten eintragen. So lche schriftlichen Do kumente (auch: ein Verzeichnis der alljährlichen Oberbeamten Ro ms [Fasti]; Senatsbeschlüsse, die vo n Beginn der Republik an archiviert werden etc.) begründen indes nur zu einem geringen Teil späteres Wissen über die ersten 500 Jahre Ro ms: Daneben tritt wesentlich mündliche Überlieferung (v. Ungern-Sternberg 1988). Eine bedeutende Ro lle spielt Schriftlichkeit ferner in der Religio n. Sie hat v. a. die Funktio n, wörtliche Genauigkeit sicherzustellen (certa verba): Ein Gebet „[...] muß in fest vo rgeschriebener Fo rmulierung schriftlich abgefaßt und wörtlich übereinstimmend mit dem Fo rmular laut und deutlich vo rgetragen werden, jedes Abirren in

38.  Die lateinische Schriftkultur der Antike

einem Wo rte o der jedes Versprechen o der Sto cken macht den ganzen Akt rechtsungültig“ (Wisso wa 1912, 397). Für die legendenumwo benen libri Sibyllini (im übrigen der älteste Fall, daß in Ro m vo n Büchern die Rede ist) ist daneben ein Höchstmaß vo n Geheimhaltung charakteristisch (Radke 1987, 57). Sicherheitsleistende Funktio n übernimmt die Schrift schließlich auch im Recht. Im Zusammenhang des so zialen Ständekampfs zu Beginn der Republik so ll das Argument aufgeko mmen sein, nicht das bisherige, vo n den Patriziern manipulierbare mündliche Recht, so ndern nur geschriebene Gesetze sicherten das Leben der Plebeier: Das Ergebnis ist das 12-Tafel-Gesetz aus der Mitte des 5. Jahrhunderts (Wieacker 1988, 287 ff; Zlinszky 1993, 31). Charakteristisch ist für die Fo lgezeit ein Nebeneinander vo n Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Seine ko nstitutive Wirkung bezieht das Recht vo m ‘Aussagen’ (dicere), do ch die „Schrift wird immer mehr zum Beweis der mündlichen Rechtsgeschäfte zugezogen“ (Zlinszky 1993, 32). Ab dem Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. setzt ein Entwicklungsschub ein: „[...] the functio ns o f the written wo rd were enlarged in Latin Italy o f the mid-republican perio d“ (Harris 1989, 157). Aufschlußreich ist das Münzwesen. Die frühesten Legenden — sie sind no ch griechisch — zeugen vo n geringem Interesse am geschriebenen Wo rt, ab 300 v. Chr. wird die Aufschrift hingegen lateinisch (Burnett 1977).

3.

Die ausgebildete Schriftkultur der Republik und frühen Kaiserzeit

3.1. Verbreitung der Schrift Mit der po litisch-militärischen Expansio n in die hellenisierte Oikumene ab der Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. ist Ro m auf dem Weg zu einer literalisierten Gesellschaft. Es handelt sich indes nicht wie in Griechenland um eine Evo lutio n, innerhalb derer neue intellektuelle Möglichkeiten der Schrifttechno ol gie ‘entdeckt’ würden, so ndern um einen Rezeptio ns- und Adaptatio nspro zeß: Die römische Schriftkultur bildet sich zum gro ßen Teil nach griechischem Muster. Die Griechen gelten für den gesamten weiteren Verlauf der Antike als die Kulturnatio n. Der Höhepunkt der Literarisierung ist in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten erreicht. Man pflegt deren Ausmaß allerdings meist zu überschätzen.

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Schwerlich wird man vo n einer verbreiteten Mentalität sprechen können, nach der die natürlichste Übermittlungs- und Fixierungsfo rm des Gedankens auf jeglicher so zialen Stufe die des Geschriebenen gewesen sei (Petrucci 1969, 160). Der Vo rstellung, daß die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben außerhalb der Landbewo hnerschaft weitgehend selbstverständlich gewesen sei (repräsentativ: Dihle 1989, 25), wird neuerdings energisch widerspro chen. Zahlen stehen naturgemäß nicht zur Verfügung; daher mag die Schätzung der Alphabetisierung in Italien auf unter 15%, in den westlichen Pro vinzen auf 5—10%, in den östlichen auf wenig mehr (Harris 1989, 259 ff) vielleicht zu skeptisch sein, do ch in der Tendenz dürfte sie zutreffen (Petersmann 1989, 425). Dabei ist scharf zu trennen zwischen einer rudimentären Schriftbeherrschung zu alltagspraktischen Zwecken und Literarisierung im Sinne höherer Bildung. Ludi litterarii, in denen auch Kinder der unteren Schichten lesen, schreiben und rechnen lernen, sind zu Beginn der Kaiserzeit allenthalben verbreitet (erstmals so ll 234 v. Chr. ein Sp. Carvilius Elementarunterricht gegen Bezahlung gegeben haben). Indes handelt es sich um eine private Institutio n, die wenig Ansehen und miserable Einkünfte aus Schülerho no raren bietet. Eine öffentlich getragene allgemeine Alphabetisierung bleibt außer Betracht; im Gegenteil: „[...] l’une des causes de la stabilité so ciale durable do nt a jo ui [...] l’Etat ro main, c’est précisément l’absence de l’alphabétisatio n des masses libres“ (Canfo ra 1989, 928). So ist die Entscheidung zum Schulbesuch individuellen Erwägungen überlassen. Daraus erklärt sich im übrigen, daß außerhalb der Oberschicht die Alphabetisierung unter Frauen gering ist (Cavallo 1983, 176). Ferner werden hier allenfalls rudimentäre Fähigkeiten vermittelt, man gelangt kaum über mühseliges Buchstabieren hinaus (zur Metho de Marro u 1977, 364—6; zu den technischen Schwierigkeiten des Lesens Vo gt-Spira 1990, 184). Inso fern ist für den Regelfall besser vo n Semialphabetisierung zu sprechen (das Griechische kennt dafür den Ausdruck ‘die langsam Schreibenden’), eine Stufe, die durch eine gro ße Zahl vo n einfachen, o ft unko rrekten Graffiti bezeugt wird (Cavallo 1983, 174 f). Die höhere Bildung hingegen, zunächst beim Grammatiklehrer, dann in der Rheto renschule erwo rben, wird nur vo n einer schmalen Schicht durchlaufen. Das System ist im wesentlichen aus Griechenland überno mmen, was auch die

IV. Schriftkulturen

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Praxis vo n Zweisprachigkeit mit sich bringt (Marrou 1977, 468 ff). Darf man einerseits das Ausmaß der Alphabetisierung nicht überschätzen, so ist andererseits der Terraingewinn der Schriftlichkeit auf allen Gebieten unübersehbar. Indiz für ihren Rang im Staatswesen ist die Stellung der scribae. Als Staatsschreiber bilden sie die o berste Stufe des Apparats, der den römischen Beamten für ihre Amtsgeschäfte beigegeben ist. Sie werden so ho ch bezahlt, daß der Po sten auch für Ritter attraktiv ist, zumal sie als ständige Beamte durch Akten- und Rechtskenntnis o ft über gro ßen Einfluß verfügen. Augustus führt dann eine differenzierte Büro kratie zur Verwaltung des gesamten Imperium ein, was zur Ausbildung einer vo ll literalisierten bürgerlichen Schicht in der Kaiserzeit beiträgt. Auch in der Po litik greift der Schriftgebrauch aus. Cäsar begründet 59 v. Chr. die Acta urbis, eine amtliche Tageszeitung, in der durch Anschlag u. a. die vo llständigen Pro to ko lle vo n Senatssitzungen (bis hin zu Zwischenrufen) publiziert werden; in der Kaiserzeit verko mmt der Staatsanzeiger dann zum Organ für Gesellschaftsnachrichten und ausgewählte Bekanntmachungen. Erwähnenswert ist schließlich die Einführung schriftlicher Wahlen in Ro m 139 v. Chr., wo bei diskutiert wird, inwieweit daraus Schlüsse auf den Literarisierungsgrad der Gesellschaft zu ziehen sind (po sitiv Best 1974, anders Harris 1989, 168 ff). — Parallel dringt die Schrift zunehmend in den privaten Alltag. Neben anderem entwickelt sich eine ausgedehnte Praxis des Briefverkehrs. Das eindrucksvo llste Beispiel liefert Cicero , vo n dem hunderte privater Briefe erhalten sind (zur Episto lo graphie Cugusi 1983). Einen vo rzüglichen Einblick in den Stellenwert der Schrift im Alltag des 1. Jahrhunderts n. Chr. bietet, bei aller artistischen Verzerrung, der Ro man des Petron. Eine Buchkultur größeren Umfangs beginnt sich in Ro m im 1. Jahrhundert v. Chr. zu etablieren, als man ein Äquivalent zur ‘unendlichen Menge vo n Büchern’ bei den Griechen (Cicero , Tusc. 2,2,6) zu schaffen sucht. Eine nennenswerte Büchersammlung ist erstmals überhaupt nach 168 v. Chr. nach Ro m geko mmen, als L. Aemilius Paullus die Biblio thek der Makedo nenherrscher als Kriegsbeute mitbringt. Ab dem Ende der Republik werden dann bedeutende Privatbiblio theken zusammengetragen (berühmt die des Lucull nach dem Vo rbild des Museio n). Die erste öffentliche Biblio thek, vo n Cäsar geplant, 39

v. Chr. vo n Asinius Po llio eingerichtet, erhält durch Augustus bald darauf ein Gegenstück im Apo llo -Tempel auf dem Palatin. Für die Zeit um 320 n. Chr. nennt eine Stadtbeschreibung Ro ms 29 öffentliche Biblio theken; darüberhinaus verfügen viele Privathäuser über Büchersammlungen. Der Prestigewert des Buchs ist ho ch: Scho n Seneca klagt, daß selbst Leute, die kaum die Anfangsgründe der Schrift beherrschten, sich eine Biblio thek zulegten — nicht um zu lesen, so ndern als Wanddeko ratio n des Speisezimmers (De tranquillitate an. 9,5). Vo raussetzung, um den Bedarf zu befriedigen, ist ein Verlags- und Buchhandelswesen, das erstmals vo n Atticus, dem Freund und wichtigsten Briefpartner Cicero s, in fabrikmäßigem Umfang betrieben wird. Gleichwo hl darf man sich die Verbreitung nicht nach mo dernen Maßstäben vo rstellen: Die Zahl der Leser ist so begrenzt, daß ein Cicero o der Fro nto (2. Jh. n. Chr.) versuchen können, einen Text nach seiner Publikatio n zu reto uchieren (Canfo ra 1989, 934; zum Buchwesen Kleberg 1975, 40 ff und jetzt umfassend Blanck 1992). 3.2. Das Literatursystem Bei der lateinischen Literatur handelt es sich erstmals in Euro pa um die pro duktive Rezeptio n einer fremden Literatur. Dies erkennen auch die Römer selbst an: „Griechenland wurde ero bert, indes es seinerseits den wilden Sieger ero berte und die Künste ins bäurische Latium brachte“ (Ho raz, Epist. 2,1,156 f; eine weiter zurückreichende italisch-römische Traditio nslinie pflegt daneben nur schwächer ausgezo gen zu werden: dazu Schmidt 1989 a). Hieraus entspringt die Beso nderheit eines datierbaren Beginns, nämlich auf das Jahr 240 v. Chr., als erstmals eine lateinische Tragödie und Ko mödie nach griechischer Vo rlage bei den Ludi Romani aufgeführt werden. Der Dichter, der griechische Freigelassene Livius Andro nicus, wird kurz darauf mit einer Übersetzung der ho merischen Odyssee auch zum Begründer des lateinischsprachigen Epo s. Die Etablierung der Literatur in Ro m steht so in Zusammenhang mit der Übernahme zweier kultureller Institutio nen der Griechen: des Theaterwesens und des Schulsystems; denn die Odusia dient wie ihr griechisches Vo rbild als Schulbuch für den Unterricht beim Grammaticus. Der Bezug auf griechische Muster, der für die Anfangsphase charakteristisch ist, bleibt ein beherrschendes Merkmal der gesamten römischen Literatur (vo n römischer als Spezies

38.  Die lateinische Schriftkultur der Antike

der lateinischen Literatur ist bis ca. 250 n. Chr. zu sprechen, so lange sich die Literatur auf das po litische Gebilde Ro m bezieht [Fuhrmann 1974, 1]). Freilich wandelt sich das Verhältnis (Zintzen 1975). Die archaische Perio de bis etwa 100 v. Chr. ist ein Pro zeß der Aneignung. Gerade in den dramatischen Gattungen werden o ft griechische Vo rlagen benutzt, mit denen man jedo ch äußerst frei umgeht und die man tiefgreifenden Strukturänderungen unterzieht (Lefèvre 1978). Vielfach gelingt zudem eine wirkungsvo lle Verschmelzung mit auto chtho nen Traditio nen (Lefèvre, Stärk & Vo gt-Spira 1991). Für die fo lgende Perio de der Klassik (1. Jahrhundert v. Chr.) ist aemulatio, ein Wetteifern und sto lzes Sich-Messen an den griechischen Mustern kennzeichnend. Das ok nzepti o nelle o P tential der Schrift wird hierbei pro grammatisch genutzt: Man kritisiert die nachlässige, rasche Ko mpo sitio nsweise der alten Dichter und bekennt sich zum alexandrinischen Kunstideal des unablässigen Feilens. Vergil so ll beim Verfassen der Georgica mo rgens eine gro ße Zahl vo n Versen diktiert und den Rest des Tages daraus einige wenige herausgefiltert haben (Vita Donati 22 ff). Die dritte Phase, die als silberne Latinität etikettiert zu werden pflegt und sich selbst als Dekadenz empfindet, steht erstmals hingegen auch einer eigenen als musterhaft erkannten Vergangenheit gegenüber (dazu Döpp 1989). — Die Abhängigkeit vo n der griechischen Literatur manifestiert sich scho n im Bereich der Fo rm. Das gesamte Gattungssystem ist überno mmen — allein die Satire wird vo n den Römern als eigene Schöpfung begriffen (satura [...] tota nostra Quintilian 10,1,93) —, wenngleich innerhalb des vo rgegebenen Rahmens durchaus neue Spielarten geschaffen werden. Do ch insgesamt handelt es sich um einen Pro zeß, in dem im Laufe der Zeit alle wichtigen griechischen Gattungen in Ro m eingebürgert werden. Die Entwicklung verläuft indes sehr unterschiedlich in Dichtung und Pro sa, die sich auch durch die so ziale Stellung der Schriftsteller unterscheiden (als Faustregel gilt zunächst: Mitglieder der führenden Schicht nehmen sich v. a. der Pro sa, die der übrigen Schichten eher der Dichtung an, was sich jedo ch seit der Klassik lo ckert und nur no ch als Tendenz spürbar bleibt [Fuhrmann 1974, 21 ff]). Die römische Pro sa setzt mit der Geschichtsschreibung gegen Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. auf griechisch ein; die eigene Sprache wird o ffenbar als no ch nicht entwickelt genug empfunden: Es dauert mehr als 80 Jahre, bis sich das

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Lateinische in dieser v. a. vo n der Senatsaristo kratie gepflo genen Gattung endgültig durchsetzt. Das 1. Jahrhundert v. Chr. ist dann überaus reich an Pro sapro duktio n auf allen Gebieten. Cicero wird mit seiner Darstellung sämtlicher Disziplinen der griechischen Philo so phie zum Begründer der philo so phischen Kunstpro sa in lateinischer Sprache und markiert zugleich den Höhepunkt der Rede. Ausgiebig betreibt man auch Fachschriftstellerei: Philo lo gie, Architektur, Landwirtschaft etc. Dabei betrachten die Römer den Wissenssto ff in der Regel als etwas Fertiges, das es zu übernehmen und darzustellen gilt. Exemplarisch für diese Haltung ist die 37 Bücher umfassende Naturgeschichte des älteren Plinius, eine aus riesigen Exzerptmassen zusammengetragene Enzyklo pädie des Wissens: Schriftlichkeit dient so weniger als Instrument des Erkenntnisfo rtschritts denn als Wissensspeicherung. Eine Ausnahme bildet die Rechtsliteratur, für die es kein Vo rbild im Griechischen gibt und die die größte fachwissenschaftliche Leistung der Römer darstellt (Liebs 1974). Neben so lcher literarischen und wissenschaftlichen Schriftstellerei existiert schließlich ein Stratum o ffenbar anspruchslo serer Unterhaltungsliteratur, die jedoch restlos verloren ist. Die Literatur wird vo n den Römern seit Anfang auch als Machtinstrument eingeschätzt. Man nutzt den vo n den Griechen überno mmenen Mytho s als Gewand für natio nale und po litische Argumentatio n. Gerade Augustus sucht die Unterstützung dieses Mittels zur Vertiefung seiner Legitimatio n. L. Varius Rufus erhält etwa für die bei dem Festspiel zur Feier des Sieges vo n Actium aufgeführte Tragödie Thyestes das immense Ho no rar vo n 1 Millio n Sesterzen (zum typo lo gischen Umgang mit dem Mytho s Lefèvre 1989, 25 ff). Wie hier zu panegyrischem Zweck wird Literatur auch in o ppo sitio neller Funktio n eingesetzt, so im frühen Prinzipat (Raaflaub 1987). 3.3. Schriftlichkeit und Mündlichkeit In der späten Republik wird Schriftlichkeit zu einem unabdingbaren Bestandteil der Zivilisatio n („[...] the Ro man wo rld was no w dependent o n writing“ [Harris 1989, 232]); gleichwo hl behauptet die Mündlichkeit ihren Rang. In vielen Bereichen, wie Recht o der Religio n (s. o . 2), herrscht Ko existenz; auch für die Literatur im engeren Sinne gilt: „Les o euvres écrites [...] restent en effet étro itement liées à des conduites orales“ (Hadot 1983, 28).

IV. Schriftkulturen

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Dies betrifft zum einen die Pro duktio nsseite: Oft diktiert man einem Steno graphen (Do randi 1991; in der Spätantike vo rherrschend: Hagendahl 1971). Beso nders rührt dieses Nahverhältnis jedo ch vo n der Rezeptio nsweise: Lesen ist nahezu gleichbedeutend mit lautem Lesen. Auf dem Hintergrund dieser selbstverständlichen Praxis erscheint leises Lesen als Ausnahmefall (Balo gh 1927; zur Kritik vo n Kno x 1968 Lefèvre 1990, 14 f). Der materiale Grund liegt im Schreibsystem: Das herrschende o rth o graphische Prinzip ‘Schreibe, wie du sprichst’ findet sein Ko rrelat in der Anweisung ‘Lies, indem du sprichst’ (Raible 1991, 22 ff; 36). Hinzu ko mmt seit augusteischer über die Kaiserzeit hinweg ein ausgedehntes Rezitatio nswesen, o ft der Ort des Erpro bens no ch unfertiger Werke o der dann der ‘Erstpublikatio n’ (Lefèvre 1990). Dem Umstand, daß Dichtung wie Pro sa auf lautliche Realisierung hin angelegt sind, entspringen daher vielerlei mündliche Strukturen der Literatur. Allgemein läßt sich sagen, daß Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Praxis nicht als miteinander ko nkurrierend, so ndern als ko mplementär begriffen werden. Ein aufschlußreiches Indiz bildet die Termino lo gie für den Buchstaben, in der die Unterscheidung ‘pho nisch/graphisch’ sich nicht durchsetzt, littera vielmehr im Regelfall als Oberbegriff beide Seiten umfaßt (Vogt-Spira 1991).

4.

Wandel in der Spätantike

Der überko mmene schriftliche Nachlaß der Spätantike (zu Perio disierung und Deutungsgeschichte Demandt 1989, 470 ff) ist umfangreicher als der des gesamten vo rangehenden Altertums. Dies hängt v. a. mit zwei Fakto ren zusammen: den Christen als neuen Pro duzenten und Trägern der weiteren Überlieferung so wie der ‘Buchrevo lutio n’ des Ko dex mit der Fo lge einer Selektio n des Älteren. Die Ko dexfo rm ist bei mittels Ringen zusammengefügten klappbaren Ho lztäfelchen scho n lange in Gebrauch; auch in Verbindung mit Pergament wird sie früh erwähnt. Sie findet v. a. im Geschäftsleben Verwendung, do ch gilt sie etwa bei den Juristen des 3. Jahrhunderts n. Chr. no ch als nicht vo rnehm (Hunger 1961, 47). Bevo rzugter Schriftträger für die Literatur ist die Papyrusro lle (zu den gebräuchlichen Beschreibst o ffen insgesamt Hunger 1961, 27; → Art. 8). Im 4. Jahrhundert setzt sich dann rasch, parallel zum Siegeszug des Christentums, der Ko dex gegenüber der Ro lle durch, wo bei die Gründe, warum dies gerade

zu diesem Zeitpunkt geschieht, nicht geklärt sind (Ro berts & Skeat 1983). Der Pergamentko dex birgt eine Reihe vo n erheblichen Vo rteilen: Er ist widerstandsfähiger, leichter auf Reisen mitzunehmen, erlaubt rasches Nachschlagen vo n Stellen und speichert das 6-fache an Text. Darüberhinaus eröffnet er der Buchmalerei neue Möglichkeiten, die bald zu einem führenden Kunstzweig avanciert (Weitzmann 1977; Geyer 1989). Für die Umschrift der früheren Literatur auf Ko dizes ist die Metapher des ‘Flaschenhalses’ der Überlieferung geprägt wo rden. Eine Schlüsselro lle ko mmt hierbei dem heidnisch-senato rischen Symmachuskreis (um 400) zu, der durch systematisches Ko pieren viele Werke der römischen Literatur rettet (zur Überlieferungsgeschichte Reynolds & Wilson 1991). Die Spätantike wird insgesamt durch die Spannung zwischen Ko ntinuität und Übergang charakterisiert. Dies gilt auch für die Schriftkultur. Zum einen dient ein zähes Festhalten an der Traditio n als Garant kultureller Identität (Herzo g 1989, 10). Entsprechend tritt die Tätigkeit des Exzerpierens und Sammelns in den Vo rdergrund: Literarische Leitfo rmen sind etwa Kurzfassungen, Auszüge und Antho lo gien, ferner Scho lien und Ko mmentare (Herzo g 1989, 32). Eine der größten und fo rtdauerndsten Leistungen ist die Ko difizierung des Rechts, die in Iustinians Gesetzgebungswerk gipfelt, dem später so g. ‘Co rpus Iuris Civilis’: Es umfaßt den Codex Iustinianus, das Rechtslehrbuch der Institutiones sowie die Digesten in 50 Büchern, Auszüge aus ca. 2000 Schriften römischer Juristen seit der Republik (Kunkel 1980, 146 ff). Ein wesentlicher Fakto r der Ko ntinuitätsstiftung ist ferner die traditio nelle Bildung: Die Grammatik, die hier ihre Blütezeit erlebt, leistet die „Reko nstitutio n der sprachlichen Kultur“ (Schmidt 1989 b, 101) — ihre Vertreter Do nat und Priscian bewahren bis in die Neuzeit kano nische Geltung — und vermittelt zugleich einen Klassikerkano n. Auf diese Klassiker sind auch Praxis und Selbstverständnis der Dichtung ausgerichtet. Gleichwo hl vo llzieht sich hier eine Verschmelzung mit Neuem. Gerade für die literarische Blütezeit 374—430 (Fuhrmann 1967) ist eine Mischung traditio neller Gattungen und z. T. die Verbindung mit biblisch-exegetischen Verfahrensweisen charakteristisch. Denn das Christentum ist die andere kulturelle Macht: Dies schlägt sich in der Schriftkultur scho n darin nieder, daß der größte Teil der spätantiken Literatur vo n den Kirchenvätern stammt. Ferner hat der Wan-

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del der kirchlichen Kultsprache zum Latein Ende des 3. Jahrhunderts eine Fülle vo n Übersetzungen zur Fo lge, darunter die Bibelübertragung des Hieronymus. Bei all dieser gewaltigen literarischen Pro duktio n ist freilich ein allgemeiner Rückgang der Alphabetisierung nicht zu übersehen (zur Entwicklung des Verhältnisses vo n schriftlicher und mündlicher Ko mmunikatio n in Spätantike und frühem Mittelalter Banniard 1992). Indiz ist die fo rtschreitende Abnahme vo n Zahl und Bedeutung der Inschriften; auch das Schulwesen erlebt einen allmählichen Niedergang (Cavallo 1983, 181; Demandt 1989, 6; Harris 1989, 287). Die Trägerschicht antiker Bildung wird immer dünner. Traditio nswahrung und Buchpro duktio n gehen in die Obhut vo n Klöstern und diesen angeschlo ssenen Schreibschulen über (Cavallo 1975).

5.

Literatur

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Gregor Vogt-Spira, Freiburg im Brsg. (Deutschland)

39.  Die arabische Schriftkultur

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39. Die arabische Schriftkultur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Ursprung und Zentrum der arabischen Schriftkultur: Die Schreibung des Korans Die Kursivschriften Stilarten der Kursivschriften; geographische Verbreitung Buchstabenmystik Kalligraphie Das Aljamiado-Phänomen Ausblick Literatur

Abb. 39.1: Basmala in tauqī‛-Schrift; Ahmed Karahisari, ca. 1540

1.

Ursprung und Zentrum der arabischen Schriftkultur: Die Schreibung des Korans

Das ‘Buch’ ist ein beso nderes Kennzeichen der islamischen Kultur. Im Ko ran wird die Offenbarung in erster Linie mit diesem Namen, kitāb, bezeichnet, und diejenigen, die ein Buch besitzen, ahl al-kitāb (Juden, Christen, Sabier) werden anderes behandelt als die Völker o hne Offenbarungsschrift. Das führt dazu, daß die Schrift eine beso ndere Ro lle im islamischen Raum erhält. 1.1.  Die arabische Schrift hat sich aus dem west-semitischen Alphabet entwickelt und läuft, wie dieses, vo n rechts nach links. Daß Schreiben im vo rislamischen Mekka und Medina, zwei Handelsmetro po len, bekannt war, geht aus dem Ko ran hervo r, der darauf besteht, daß Verträge schriftlich fixiert und dann vo n zwei Zeugen bestätigt werden. Dieses Nebeneinander vo n schriftlicher Aufzeichnung und mündlicher Verifizierung blieb lange typisch für die islamische Welt und ist bis heute z. B. in den Kreisen der Mystiker zu finden, die — mit Recht — darauf bestehen, daß das lebendige Wo rt des Meisters zum Verständnis der schriftlichen Traditio n unbedingt no twendig sei: „Man muß auch das Weiße zwischen den Buchstaben lesen!“

Die Offenbarungen, die Muhammad vo n 610 an erhielt, wurden vo n einigen seiner Anhänger niedergeschrieben, wo bei man sich der verschiedensten Materialien bediente — glatte weiße Steine, Pergament, Leder, Kno chen, Palmblätter usw. Diese Fragmente, die wahrscheinlich im Hause vo n Muhammads To chter, der Frau des zweiten Kalifen Omar (r. 634—644) bewahrt wurden, wurden unter dem dritten Kalifen, ‛Uthmān (r. 644—656) in einem Ko dex, muṣḥaf, zusammengestellt, in dem nach einer kurzen Einleitungssura, der Fātiḥa, die Kapitel, sūra, in absteigender Länge angeo rdnet sind; nach dem Einheitsbekenntnis, Sura 112, fo lgen no ch zwei kurze Suren, Gebete um Schutz. Diese Ano rdnung wurde maßgeblich für alle Zeiten, und Ko pien des ersten mushaf wurden in die Pro vinzhauptstädte geschickt, um eventuell umlaufende Abweichungen zu vereinheitlichen. Scho n bald waren die Fro mmen der bis heute herrschenden Meinung, daß alles, „was zwischen den beiden Buchdeckeln steht“, Go ttes ungeschaffenes Wo rt ist; deshalb darf man den Ko ran nur im Zustand körperlicher ritueller Reinheit berühren und rezitieren. Das Ko ranexemplar, das für ‛Uthmâns Original gehalten wird, ist in eckigem, unschönem Stil geschrieben. Die Funde vo n frühen Ko ranfragmenten, die seit 1971 im Dach der Gro ßen Mo schee vo n Sanaa, Jemen, gemacht wo rden sind, können möglicherweise mehr Aufschluß über die Stilentwicklung geben. Der Fund in Sanaa erklärt sich daraus, daß man Ko ranexemplare wegen ihrer Heiligkeit nicht vernichten darf — daher auch die Tendenz, beschriebenes Papier zumindest so rglich aufzuheben, weil ja der Name Go ttes darauf stehen könnte, und weil die Buchstaben baraka, Segenskraft, in sich tragen. Die eckige Schrift erscheint in verschiedenen Varianten, wo bei ein mā’il genannter Duktus, wie der Name sagt, „geneigt“, d. h. rechtsschräg ist. Die ältesten Ko ranfragmente sind auf Pergament geschrieben und fast ausschließlich im Breitfo rmat gehalten; o ft stehen nur wenige — drei bis sieben — Zeilen auf der Seite. Diese Exemplare so llten mehr o der minder als Gedächtnisstütze dienen, da die Rezitato ren den Text auswendig kannten. Punkte in verschiedener Farbe, um die in vielen Fällen einander gleichenden Ko nso nanten zu unterscheiden, und Vo kalzeichen, ebenfalls durch Farben vo m Textgerippe unterschieden, kamen gegen Ende des 7. Jahrhunderts auf. Da das Arabische ein geradezu

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mathematisch gegliedertes grammatisches System hat, kann man die kurzen Vo kale entbehren. Pro fane Texte werden bis heute o hne Vo kalzeichen geschrieben bzw. gedruckt, wo bei man natürlich hin und wieder falsch vo kalisieren und damit den Sinn verdrehen kann. Da aber nicht nur die Vo kalisatio n, so ndern auch die diakritischen Punkte nicht immer richtig gesetzt wurden, kann man handschriftliche, nicht-ko ranische Texte auch mißverstehen; eine spezielle Literaturgattung befaßt sich mit histo risch bezeugten Verlesungen: es ist ja ein Unterschied, o b man ein sibbūr ‘Täfelchen’ im Ärmel trägt o der ein sinnaur, eine Katze ... Obgleich es in der Frühzeit lo kale, vo neinander leicht abweichende Stilarten gab, faßt man die frühen eckigen Schriften gewöhnlich unter dem Sammelnamen Kufi (nach der irakischen Stadt Kufa) zusammen. Diese steile Schrift entwickelte sich in kurzer Zeit zu gro ßer Schönheit — die frühen Ko dices in kufischer Schrift haben, wie Martin Lings (1976) mit Recht sagt, eine „iko nische“ Qualität — denn Go ttes Wo rt so ll so schön wie möglich geschrieben werden (s. Abb. 39.2 auf Tafel VI). Ko ranko dices auf farbigem Papier o der Pergament, wie der in Go ldschrift auf blauem Pergament, dessen Hauptteil in Tunesien liegt und vo n dem zahlreiche Blätter in Museen zu finden sind, heben sich beso nders hervo r. Zum Schreiben benutzte und benutzt man no ch eine Ro hrfeder, deren Breite je nach dem Buchfo rmat wechselt; die verschiedenen Rezepte, braune, schwarze, blaue o der ro te Tinte herzustellen, waren wahrscheinlich, wie heute no ch, Berufsgeheimnisse der Kalligraphen. Miniaturko rane (der bekannteste hat ein Fo rmat vo n 3 × 8 cm mit 14 Zeilen pro Seite) dürften für reisende Gelehrte bestimmt gewesen sein, und im späteren Mittelalter wurden Ko ranexemplare geschrieben, die unter einen Siegelring paßten. Do ch im ganzen hielt man sich an die Mahnung, Go ttes Wo rt gro ß und feierlich zu schreiben. Da kaum vo llständige Ko rane aus der Frühzeit o der Ko lo pho ne erhalten sind, ist es fast unmöglich, Ursprungso rt o der Schreibernamen festzustellen. Sicher scheint, daß ein kufischer Stil mit weiten Ausschwingungen der runden Endbuchstaben im Westen verwendet wurde, da er eine Vo rstufe zum Maghribi bilden dürfte (s. 4.1.2.). Mit der Einführung des Papiers, das die Muslime 751 vo n den Chinesen über-

IV. Schriftkulturen

nahmen, entwickelte sich der Schreibstil. Ko rane wurden freilich no ch eine lange Zeit im

Abb. 39.3: Iranisches Kufi, ca. 12. Jahrhundert

Breitfo rmat auf Pergament geschrieben, do ch gegen Ende des 10. Jahrhunderts erscheinen ho chfo rmatige Ko dices, in denen die Hasten lang nach o ben ausgezo gen sind, während die anderen Buchstaben eher kriechend wirken (Abb. 39.3). Die meisten dieser Ko rane, die nun auf kräftigem Papier geschrieben werden, stammen o ffenbar aus der östlichen islamischen Welt (Iran, Afghanistan), da sich genaue Parallelen zu in der Epigraphie verwendeten Formen feststellen lassen. Das Kufi wurde nämlich nicht nur für Ko rane verwendet, so ndern vo n früh an auch für Grabsteine und Bauninschriften, so wie zu einem etwas späteren Zeitpunkt zur Verzierung vo n Keramik und Metallwerk. An den Grabsteinen vo m frühen 8. Jahrhundert an erkennt man die Entwicklungsmöglichkeiten dieser Schrift: die Hasten werden in palmettenartige Endungen ausgezo gen, so daß „blühende“ Fo rmen entstehen; die aus Raumgründen o ft weit auseinandergez o genen Buchstaben sind mit Deko ratio nen gefüllt,

Abb. 39.4: Das Wort Allah in Flechtkufi (Ost-Iran, 12. Jh.)

39.  Die arabische Schriftkultur

und schließlich entwickelt sich neben dem „blühenden“ Kufi, das seinen Höhepunkt in der Epigraphik des 10. bis 12. Jahrhunderts hat, das so genannte Flechtkufi, bei dem die langen Hasten in ko mpliziertem geo metrischen Flechtwerk verbunden sind (Abb. 39.4). Meisterwerke des Flechtkufi entstanden im frühen 13. Jahrhundert in Anato lien, Ost-Iran und Indien (die Inschrift an Iltutmischs Grab in Delhi; Inschriften vo n Diyarbekir, Sivas und Ko nya). Diese äußerst reizvo lle Schriftfo rm war aber kaum mehr leserlich; do ch wußte man, daß sie, als Trägerin vo n baraka, auch einfach als Iko ne betrachtet, Segen übermittelte. Verständlicherweise wurde das

Abb. 39.5: Blühendes Kufi auf Keramik, Nischapur, ca. 900

527

Flechtkufi und die anderen verfeinerten Fo rmen dieses Stils nie in die eigentliche Kalligraphie überno mmen, da der Text, in diesem Falle der heilige Text des Ko rans, lesbar bleiben mußte. Interessanterweise tauchten höchst ko mplizierte „blühende“ Fo rmen scho n vo r dem Jahr 1000 auf Keramiken aus Ost-Iran auf (Abb. 39.5). Keramik-Inschriften bieten z. T. interessante Texte vo n Sprichwörtern und, später, persischen Gedichten. Die Ko mbinatio n des schlanken Typs mit ho chragenden Hasten auf lebhaftem Palmettgrund taucht fast gleichzeitig, um 1200, in Handschriften und Inschriften in Ost-Iran auf.

IV. Schriftkulturen

528

Kufische Lettern wurden fast ausschließlich für arabische Texte verwendet; nur ganz wenige persische Texte in Kufi sind bekannt, so in Nachtschewan im Araxestale und in Ghazna (Afghanistan). Die Verfeinerung des epigraphischen Kufi war in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts jedo ch so weit fo rtgeschritten, daß es nur no ch zu Zierzwecken verwendet wurde, und wie sich auch in der Epigraphik jener Zeit bereits die leserlichere Kursivschrift allgemein durchgesetzt hatte, so erscheint das Kufi in verschiedenen raffinierten Fo rmen nur no ch als Deko ratio nselement für Überschriften in Büchern o der, in mo derner Zeit, als Auszeichnungsschrift. Das so genannte quadratische Kufi, das zunächst in Ziegelbauten des frühen Mittelalters auftaucht, weil es sich mit Hilfe vo n rechteckigen Lehmziegeln leicht herstellen ließ, ko mmt vo m 14. Jahrhundert an vo r allem in Fliesenwerk vo r und bedeckt die Wände und Minarette iranischer und zentralasiatischer Sakralbauten. Es wird jetzt vo n mo dernen Künstlern gern als Grundlage für künstlerische Experimente benutzt. In der mittelalterlichen Epigraphik, vo r allem auf Metall, wurde die Schrift gelegentlich amüsant umgefo rmt; es gibt „redende“ Alphabete, deren Buchstaben alle in Menschenköpfen enden (Abb. 39.6), und die verschiedensten zo o mo rphen Fo rmen, beso nders für Segenswünsche für den künftigen Besitzer eines Gefäßes. In all diesen Fällen ist es die Heiligkeit der Schrift — selbst der unleserlichen —, die den Betrachter bewegte, und für die gro ße Anzahl

der Analphabeten war es eindrucksvo ll genug, wenn ein Mystiker o der Arzt „ein Buch mit arabischen Lettern“ öffnete: der Glaube an die Buchstaben allein wirkte Wunder, und einfache Leute in Bengalen mo chten wo hl Steine, auf denen sie arabische Buchstaben sahen, mit Öl begießen und für heilig halten.

2.

Die Kursivschriften

Während Kufi die feierliche Schrift par excellence war, bestand natürlich daneben eine Kursive. Briefe und frühe Urkunden wurden in flüchtiger Schrift, o ft auf Papyrus, gekritzelt, do ch bereits in den Kanzleien der ersten islamischen Dynastien scheint es verschiedene Fo rmen der Kursive gegeben zu haben, vo n denen man jedo ch keine Beispiele kennt. Sie sind nur aus der Literatur belegbar. Gro ße Maße waren o ffenbar für wichtige Urkunden üblich (man hört scho n um 715 vo n der Abneigung eines Kalifen gegen die in seinem Büro übliche Materialverschwendung). Die Schriftnamen thuluth, „ein Drittel“ und thuluthain, „zwei Drittel“ beziehen sich auf das Fo rmat des Schreibmaterials, dem entsprechend Schriftgrad und Federbreite gewählt wurden. Urkunden wurden o ffenbar meist gero llt, wie no ch in späterer Zeit, und in o ft ko stbaren Hüllen aufbewahrt. Die Einführung des Papiers erleichterte das Schreiben, und vo m späten 8. Jahrhundert wurden dank dem neuen Schreibmaterial in wachsender Anzahl Bücher geschrieben. Waren die klassischen arabischen Gedichte in der Regel mündlich überliefert wo rden, eventuell mit ein

Abb. 39.6: Segensinschrift auf Bronzegefäß in zoomorpher und anthropomorpher Form. Mosul, 11. Jahrhundert

39.  Die arabische Schriftkultur

paar No tizen zur Gedächtnisstütze, so waren nun die Kalifen und Gro ßen des sich ausdehnenden Reiches daran interessiert, Biblio theken aufzubauen, und bald beginnt eine erstaunliche Buchpro duktio n so wo hl in Po esie als in Pro sa: histo rische und geo graphische Werke, die zahlreichen Übersetzungen aus dem Griechischen, die vo m Anfang des 9. Jahrhunderts verfertigt wurden; religiöse Texte wurden ko piert, und man liest vo n fast unglaublichen Leistungen einiger Auto ren, die bis zu 30 Seiten an einem Tage geschrieben haben so llen. Die Sekretäre, die für den Ho f arbeiteten, spielten eine beso ndere Ro lle in der Entwicklung eines eleganten Pro sastiles, der die arabische Sprache no ch geschmeidiger machte. Die einfachen Abschreiber, meist schlecht bezahlt, taten die Kärrnerarbeit. Do ch no ch immer galt es, daß etwa die Traditio nen, ḥadīth, die auf den Pro pheten zurückgehen, primär mündlich überliefert wurden, und erst in der Mitte des 9. Jahrhunderts werden die ḥadīthe, die zum Teil schriftlich fixiert waren (wiederum als Gedächtnisstütze), in vo llständige Bücher zusammengefaßt. Das gleiche gilt vo n Ko ranko mmentaren. Vo n der Menge des schriftlich niedergelegten Sto ffes erhält man einen Eindruck durch das Werk eines Bagdader Buchhändlers, Ibn an-Nadīm (gest. 995), das schlicht Fihrist, „Katalo g“ betitelt ist und nicht nur die zu seiner Zeit verfügbaren Bücher auflistet und analysiert, so ndern auch vo n den verschiedenen Kursivstilen spricht, die damals im Umlauf waren. Leider fehlen Bilder, nach denen man sich die Fo rmen vo rstellen kann. Nur eines ist vo n früh an sicher: die Schriftarten, die in den Kanzleien verwendet wurden, zeichneten sich durch beso ndere Schwierigkeit aus, damit keine Fälschungen vo rko mmen ko nnten. Das musalsal, die ineinandergeschlungene „Kettenschrift“, war so ko mpliziert, daß Dschalāladdīn Rūmī (gest. 1273) in einem persischen Gedicht klagt: Du schreibst mir in musalsal — Das heißt, ich soll es nicht lesen können ... In späterer Zeit waren tauqī‛ und dīwānī im arabischen und no ch mehr im persisch-türkischen Bereich als beso nders schwer zu entziffernde Kanzleischriften bekannt. Denn die arabische Schrift breitete sich aus, wo immer Muslime lebten, da das religiöse Ritual auf Arabisch gehalten, der Ko ran in arabischen Buchstaben geschrieben wird; und die Verwaltungssprache war für lange Zeit Arabisch. So wurde die arabische Schrift

529

scho n im 8. Jahrhundert bis an die fernsten Enden der damaligen islamischen Welt getragen — in Westen bis nach Spanien, im Osten nach Zentralasien und dem westlichen Teil des indischen Subkontinents. Die persischen Muslime, die ihre wissenschaftlichen Werke zunächst größtenteils auf Arabisch schrieben (das eine ähnliche Funktio n wie Latein im euro päischen Mittelalter hatte), begannen auch für ihre Muttersprache die arabische Schrift anzuwenden, o bgleich das arabische Alphabet durch die Vieldeutigkeit seiner Buchstabenfo rmen und den Mangel an kurzen Vo kalen für nicht-semitische Sprachen nicht gerade geeignet ist. Do ch bereits im 10. Jahrhundert wurde es auch für persische Werke verwendet, und zwei Jahrhunderte später werden türkische Texte mit arabischen Buchstaben geschrieben. Im Persischen wurden im Laufe der Zeit vier Zusatzbuchstaben eingeführt; in anderen Gebieten versuchte man durch zusätzliche diakritische Punkte emphatische, nasalierte o der andere im Arabischen unbekannte Laute wiederzugeben. Wenn man im Osmanisch-Türkischen die Zeichen sieht, wird man das nicht, wie für den Araber zu erwarten, als kūk ( a)l aussprechen, os ndern gönül. Im Sindhi ist nicht munhunǧū, sondern mũǧō. Do ch die arabische Schrift stellt für die islamische Welt ein Zeichen der Zusammengehörigkeit dar, und selbst Länder, die ihre eigenen Alphabete beibehalten haben, wie etwa das muslimische Bengalen, haben daneben eine Literatur in arabischen Buchstaben gehabt, die man in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts wiederzubeleben trachtete, um durch die ḥurūfal-qur’ān, die „Buchstaben des Ko rans“, die Einheit des damals Ost-Pakistan bildenden Landes mit West-Pakistan zu betonen.

3.

Stilarten der Kursivschriften; geographische Verbreitung

Die arabische Schrift, die sich überall verbreitete, war kurz nach 900 bestimmten Regeln unterwo rfen wo rden. Der Wezir Ibn Muqla (hingerichtet 940) war der erste, der die Buchstaben mit Hilfe eines höchst verfeinerten geo metrischen Prinzips maß und ihnen ihre Idealfo rmen gab. Der erste Buchstabe des Alphabets, alif (in seiner einfachsten Fo rm ein senkrechter Strich), wurde zum Maß für alle Buchstaben, die entsprechend

530

der Dicke der Ro hrfeder und in genauen Pro po rtio nen mit Hilfe vo n Kreisen, Halbkreisen und Dreiecken gestaltet wurden (Abb. 39.7). Zur gleichen Zeit entwickelte sich in der islamischen Mystik eine kabbalistische Buchstabenmystik, so daß beide Aspekte der islamischen Kultur sich begegneten, ja sich durchdrungen haben. Ibn Muqlas System der Kreise und Punkte wurde vo n Ibn al-Bawwāb (gest. um 1022) verfeinert; der ihm zugeschriebene Ko ran (in der Chester Beatty Library Dublin) zeigt bereits die Eleganz der arabischen Kursive, die uns vertraut ist. Nach einer Reihe weiterer Meisterkalligraphen im zentralislamischen Raum, unter denen auch eine Kalligraphin, Šuhda, herausragt, wurde das Ideal erreicht durch Jāqūt al-Musta‛şimī (gest. 1298), dessen sechs Meisterschüler sich in den sechs Stilarten ausgezeichnet haben so llen. Neben der no rmalen Schreibschrift, nasḫ, die der heute im Buchdruck verwendeten Fo rm zugrunde liegt, wurde im Mittelalter vo r allem für Ko ranexemplare das gro ße muḥaqqaq verwendet, dessen alif sehr ho ch ist und bei dem die Endungen der Buchstaben in scharfe Spitzen ausgehen (s. Abb. 39.8 auf Tafel VII). Der größte in diesem Stil bekannte Ko ran (aus der Zeit um 1400) mißt 107 zu 177 cm, mit sieben Zeilen pro Seite. Eine no ch heute gebräuchliche Fo rm dieser „tro ckenen“ Schrift ist das rīḥānī, ebenfalls gern für Ko rane und wichtige Bücher verwendet. Diesen Fo rmen mit ziemlich flachen Unterlängen steht das weiche thuluth gegenüber, das stark

Abb. 39.7: Messung der Buchstaben nach Ibn Muqla

IV. Schriftkulturen

gerundete Fo rmen aufweist und vo r allem in der Epigraphik verwendet wurde o der auch als Auszeichnungsschrift in nasḫ-Texten (Abb. 39.9). Riqā ‛ und tauqī‛ sind größere und ko mpliziertere Fo rmen, die o ft in Kanzleien verwendet wurden. Jede dieser Stilarten hat no ch zahlreiche Nebenfo rmen (s. Abb. 14.16 für eine Synopse verschiedener Stilarten). Die sechs Stilarten blieben für die gesamte islamische Welt das Idealgerüst, aber es gab auch Gegenden, in denen sie sich nur bedingt durchsetzten. Eine davo n ist der Maghreb (No rdafrika und Spanien), wo es zwar genug Meister der klassischen Stilarten gab, wo man aber im allgemeinen das so genannte Maghribi vo rzo g, eine sichtlich aus dem westlichen Kufi abgeleitete Schrift, auf die die Refo rm Ibn Muqlas nicht angewendet wurde. Die Buchstaben sind dünner, die runden Endausschwingungen gro ß und ziemlich unregelmäßig, und die Schrift ermangelt der Harmo nie der klassischen Kursive. Ibn Chaldun, der tunesische Geschichtsphilo so ph (gest. 1406), erklärt das damit, daß die Schreiber, nicht so gut gebildet wie ihre Ko llegen im Zentralgebiet, gleich ganze Wörter schreiben und nicht, wie die klassischen Regeln es verlangen, die Buchstaben einzeln üben, bis Buchstaben und Ligaturen genau dem Idealschema entsprechen. — Ko rane wurde im Maghreb bedeutend länger als im Osten auf Pergament geschrieben, häufig in Go ldtinte, und die Manuskripte sind o ft sehr reizvo ll farbig deko riert (Abb. 39.10). Spanisch-arabische Handschrif-

39.  Die arabische Schriftkultur

Abb. 39.9: Schmuckblatt mit religiösen Texten in nasḫ und thuluth, Ahmed Karahisari, ca. 1540

531

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IV. Schriftkulturen

Abb. 39.11: Buchstabenverbindungen in nasta‛liq, Iran, 17. Jahrhundert

Abb. 39.10: Seite aus einem Koran, Gold auf Pergament, Maghribi-Schrift, Spanien-Nordafrika ca. 11. Jahrhundert

ten verwenden eine engere, kleine und sehr elegante Variante des Maghribi. Vo n No rdafrika aus verbreitete sich das Maghribi nach Westafrika, wo sich eine etwas starrere, kräftige Fo rm herausbildete, do ch hat die kulturelle Aktivität der nahöstlichen Länder und die zahllo sen in Ägypten gedruckten und nach Afrika impo rtierten Bücher auch do rt das no rmale klassische nasḫ immer mehr gestärkt. Am anderen Ende der islamischen Welt, in Indien, entwickelte sich das Bihari, ähnlich dem Maghribi durch weite Endungen und verhältnismäßig unregelmäßige Buchstabenfo rmen charakterisiert; auch hier sind die besten Ko ranexemplare — und Bihari wurde o ffenbar ausschließlich für Ko rane verwendet — mit kühnen farbigen Motiven verziert. Die klassischen Regeln wurden nach einiger Zeit auch auf das Persische angewandt. Altere persische Handschriften weisen ein ziemlich steifes nasḫ auf; andere Texte, vo r allem Kanzleitexte, sind in einem „hängenden“ Stil geschrieben, d. h. die Schriftrichtung ist nicht abso lut waagerecht (was durch Anwendung eines „Lineals“, d. i. eines Rahmens, auf den feine Fäden gespannt waren, erreicht

wurde, der zwischen zwei Lagen Schreibmaterial gepreßt wurde). Entsprechend den Gegebenheiten der persischen Sprache herrschten nach links ausschwingende Endungen vo r und gaben der Schrift ein gewisses Schwergewicht, so daß die Schrift etwas stärker vo n rechts o ben nach links unten bewegt ist. Dieser „hängende“ Stil, ta‛līq, wurde dann — so heißt es — um 1400 vo n Mīr ‛Alī vo n Täbriz den Regeln Ibn Muqlas unterwo rfen, so daß die Lettern genaue Abmessungen erhielten, denen entsprechend der persische und türkische Kalligraph auch heute no ch seine Buchstaben fo rmt. Dieser nasta‛līq genannte Stil errreichte seine Vo llendung am Timuridenho f in Herat, wo Sultan ‛Ali Maschhadī (gest. 1519) und sein Schüler Mīr ‛Alī Harawī (gest. in Buchara um 1550) Meisterwerke eleganter Kalligraphie schufen, die bald im gesamten Orient, so weit er unter persischer Kulturvo rherrschaft stand (o smanische Türkei, Indien) bewundert wurde (Abb. 39.11). In Iran selbst war es Mīr ‛Imād (ermo rdet 1615), dessen Beispiel bis heute als richtunggebend gilt. Für das Arabische eignet sich der „hängende“ Stil nicht. Man hat das schwingende, elegante nasta‛līq als „Braut der Schriften“ bezeichnet, weil es vo r allem für Po esie geeignet ist. In späterer Zeit wird nasta‛līq in Iran und Indien auch in der Epigraphik verwendet. Im no rmalen Schreibgebrauch entwickelte sich do rt im 17. Jahrhundert die šikasta, „gebrochene Schrift“, die bis heute die persische Handschrift do miniert, den Leser aber vo r schwierige Probleme der Entzifferung stellt. Mehr als in anderen islamischen Gebieten wurden im persisch beeinflußten Raum nicht nur Bücher verschiedenster Art geschrieben, so ndern die Kunst der Einzelblätter entwikkelte sich zu ungeahnten Höhen. Man schrieb Wo rte des Pro pheten o der fro mme Sprüche, kleine Liebesgedichte o der Chro no grammVerse auf Einzelblätter, o ft aus feiner Pappe, die dann mit Arabesken verziert o der mit vegetabilischem Deko r, ja mit MiniaturenBo rten umgeben o der auf Marmo rierpapier

39.  Die arabische Schriftkultur

geklebt wurden — Gedicht und Deko r bildeten eine Einheit. Dasselbe gilt für das nasḫ, das in der Türkei durch Scheich Hamdullah (gest. 1519) weiterentwickelt wurde. Seine Albumblätter wie auch die seiner Schüler sind berühmt, und seine Tradition lebt bis heute fort. Oft wurden im persischen Gebiet im 15. und 16. Jahrhundert Verse in so genannte safīna „Bo o t“, geschrieben, kleine Hefte, die an der Schmalseite zusammengeheftet waren und die man leicht im Ärmel o der im Turban mit sich führen ko nnte, (also „Taschenbücher“). Fragmente so lcher fein geschriebener safina wurden später, wenn das Büchlein zerlesen war, o ft ausgeschnitten und als Randdeko ratio n für Miniaturen auf Buchseiten aufgeklebt.

4.

Buchstabenmystik

Kalligraphie war ein wichtiger Teil der Kultur. Zwar gibt es nur wenige Gedichte, die beso nders schöne kalligraphische Pro dukte lo ben (so die persischen Verse des Mo ghul-Dichters Kalīm, gest. 1551, der die berühmten Alben der Mo ghulkaiser po etisch besang), aber ungezählte Dichter verglichen den Garten mit einem Buch, o der ein Buch mit einem Ro sengarten (der Titel vo n Sa‛dīs, gest. 1292), Gulistān, „Ro sengarten“ war für so lche Sinnspiele beso nders geeignet), und die hundert Blätter der Ro se ko nnten als Buch erscheinen, aus dem die Nachtigall den Text ihrer Lieder las. Die ganze Welt erschien als ein Buch; denn die arabische Schrift wurde nicht nur als das einzige Mittel angesehen, Go ttes urewiges Wo rt festzuhalten, o der als eine beso nders wichtige künstlerische Ausdrucksfo rm (da Bilder mit menschlichen Darstellungen verpönt waren), so ndern diente auch Mystikern und Dichtern als Inspiratio nsquelle. Man fand Parallelen zwischen den 28 Buchstaben des Alphabets, den 28 Mo ndstatio nen und den 28 Pro pheten, die im Ko ran als Muhammad vo rausgehend erwähnt sind. Die Ligatur lām-alif , paßte (als 29. „Buchstabe“) zwar nicht in dieses Schema, diente aber zu mannigfachen Vergleichen, die vo m lā des Glaubensbekenntnisses als eines zweischneidigen Schwertes, das alles außer Go tt „abschneidet“, bis zum Sinnbild enger Umarmung reichen. Und wenn die ganze Welt als Buch angesehen wurde, in dem sich Go ttes Zeichen o ffenbarten, so ko nnte man die Menschen als Buchstaben darin ansehen. Während dieser Gedanke die Mystiker zu ho ch-

533

fliegenden Spekulatio nen anregte, sahen die Dichter in den einzelnen Buchstaben des Alphabetes auch menschliche Fo rmen — das schlanke alif gleicht der schlanken Gestalt des/der Geliebten, das kleine runde m war dem Mündchen vergleichbar, die sich lang streckenden Buchstaben wie l o der ‛ain ko nnten als Symbo l für die langen Lo cken dienen. Oder umgekehrt: lange schwarze Lo kken um ein schönes Gesicht, das häufig mit einem fehlerlo s geschriebenen Ko ranexemplar verglichen wird, sehen aus wie Marginalien, an den Rand des ‘Buches der Schönheit’ geschriebene Erläuterungen. Das Wo rt ḫaṭṭ, „Schrift“ hat auch die Bedeutung „erster Bartflaum“, und so erfanden die Dichter ungezählte, und unübersetzbare, Wo rtspiele, in denen sie den sprießenden Flaum des jungen Geliebten als wunderbare Schrift ansahen, die ko stbarer als Jāqūt („Rubin“, auch Name des Meisterkalligraphen) ist. Der Ko ran bo t ebenfalls zahlreiche Vergleiche mit und Anspielungen auf die Schrift. Würde man nicht am Jüngsten Tag das Buch der Taten in die Hand gelegt beko mmen, das die Schreiberengel im Laufe des Lebens mit ihren Aufzeichnungen gefüllt hatten? So ist das Buch der Sünder ganz schwarz; aber da o rientalische Tinte wasserlöslich ist (und das Abwaschen ungewünschter Bilder nicht selten war), ho fften die Dichter, diese Schwärze mit Tränen der Reue abwaschen zu können. Der Gedanke der wo hlverwahrten Tafel, auf der alles Künftige geschrieben ist, und der urewigen Feder bo t ungeahnte Möglichkeiten zur Verwendung vo n Schriftsymbo lik, und man zögerte nicht, die Anfangswo rte vo n Sura 68, Nūn wa‛l-qalam, „N, und bei der Feder!“ auf das urewige Tintenfaß, dem das n in seiner iso lierten Fo rm ähnelt und die Feder des Geschicks anzuwenden. Ja, spätere Dichter mo chten behaupten, daß jeder Buchstabe (= Mensch) gegen den göttlichen Kalligraphen Klage führt, da er ein Papierhemd trägt, d. h. auf Papier geschrieben ist (das Papierhemd war im Mittelalter das Gewand des Klägers bei Gericht) — d. h., alle Menschen sind mit ihrer Stellung auf dem „Blatt des Zeit“ o der ihren Nachbarn (die schlecht geschriebenen Lettern ähneln) unzufrieden. Neben dem „no rmalen“ symbo lischen Sinn der Buchstaben gab es no ch einen weiteren, eso terischen Sinn. Alif, als erster Buchstabe des Alphabetes mit seinem Zahlwert 1 ist das Symbo l für den einen und einzigen Go tt; das alif zu kennen bedeutet bei den mystischen Dichtern, das göttliche Wesen zu erkennen.

IV. Schriftkulturen

534

Zeit o ft inspiriert, da man auf diese Weise eine typisch „islamische“ Kunst zu schaffen hoffte.

5.

Abb. 39.12: Sura 105, „Der Elefant“, in Elefantenform. Indien, 19. Jahrhundert

Man braucht dazu nicht die ungezählten theo lo gischen Traktate, no ch die gewaltigen Biblio theken — e i n Buchstabe genügt. Ferner hat jeder Buchstabe einen Zahlwert, und zwar in der Reihenfo lge des alten semitischen Alphabetes. Dadurch ko nnte man geistreiche Chro no gramme für beso ndere Ereignisse bilden, die zu einer eigenen Literaturgattung wurden, vo r allem in den persisch beeinflußten Gebieten. Indien dürfte das Land sein, wo diese „spinnwebige“ Kunst zur höchsten Entfaltung kam. Ein Beispiel: das Wo rt wāḥid, ‘eins’ hat den Zahlwert 19 ( w = 6, a = 1; ḥ = 8, d = 4), und wurde zur heiligen Zahl der Bahais. Nach mystischer Lehre so llen Go ttes Namen in der Meditatio n entsprechend ihrem Zahlwert wiederho lt werden, um zu wirken, so Allāh 66 Mal, raḥmān ‘Barmherzig’ 299 Mal usw. Aus dieser vielfachen religiösen Verwendung der arabischen Buchstaben erklärt sich die Neigung, aus bestimmten Fo rmeln Schriftbilder zu schaffen, in denen man z. B. aus den Namen der Panǧtan (Muhammad, seine To chter Fāṭima, deren Gatten ‛Alī und ihrer beiden Söhne Ḥasan und Ḥusain) Gesichter o der andere Fo rmen gestaltete, o der aus Ko ranversen und fro mmen Anrufungen Tier- und Menschengestalten fo rmte (Abb. 39.12). Der Vetter und Schwiegerso hn des Pro pheten, ‛Alī, hatte den Beinamen „Löwe Go ttes“; Anrufungen an ihn werden daher gern in Löwengestalt geschrieben. So lche Kalligramme haben die mo dernen Maler der islamischen Welt in jüngster

Kalligraphie

Die Ausbildung des Kalligraphen, der in all diese Geheimnisse eingeweiht wurde, war lang und mühselig. Der Anwärter mußte die richtige Art des Sitzens lernen, das Papier mit Stärke und einem Achat glätten, seine eigene Tinte zubereiten und, das wichtigste Erfo rdernis, seine Feder entsprechend dem gewünschten Stil mehr o der minder schräg anschneiden, mit einem kleinen Einschnitt nahe der Mitte der Schnittkante, und er mußte Mo nat um Mo nat jeden einzelnen Buchstaben üben, bis er am Ende seine iǧāza, das Diplo m, erhielt, das ihn o der sie ermächtigte, ein Schriftstück mit eigenem Namen zu zeichnen. Da die Kalligraphen, wie die Gelehrten und Künstler allgemein, einer bestimmten Traditio nskette fo lgten, kann der Kenner beim Anblick eines schönen Schriftstückes rasch erkennen, welcher Schule der Kalligraph angehört hat. Während man nur wenige Namen vo n Miniaturmalern kennt, ist die Anzahl der Kalligraphen, deren Lebensdaten einigermaßen bekannt sind, sehr gro ß, und die Muslime haben vo n früh an Fachbücher über die Kunst des Schreibens — sei es für die Kanzleisekretäre, sei es für Spezialisten auf anderen Gebieten — verfaßt. In allen islamischen Ländern gibt es umfangreiche Sammlungen vo n Bio graphien berühmter Kalligraphen. Legenden haben sich um einige der größten vo n ihnen gebildet, und ihre Namen ko mmen auch in der Literatur in mehr o der weniger verschlüsselter Form vor. Zahlreiche islamische Herrscher waren gute Kalligraphen, seien es die timuridischen Prinzen Ibrahim and Bayso nghur in Schiraz bzw. Herat im frühen 15. Jahrhundert o der Mo ghulprinzen und -kaiser; seien es o smanische Herrscher o der, im 12. Jahrhundert, der no rdafrikanische Fürst Ibn Bādīs. Auch Frauen erscheinen als Kalligraphen und ko pierten Ko ranexemplare o der fro mme Texte, wie etwa die ḥilya, ein „Bild“ des Pro pheten, das, in feinster nasḫ Kalligraphie in einer bestimmten Ano rdnung geschrieben, die schönen äußeren und inneren Qualitäten des Pro pheten Muhammad darstellt und vo r allem in der o smanischen Kunst verwendet wurde. (Mädchen wurden o ft nur im Lesen, nicht aber im Schreiben unterwiesen, „damit wir

39.  Die arabische Schriftkultur

keine Liebesbriefe schreiben ko nnten“, wie mir eine alte Türkin schelmisch versicherte.) Es ist nicht überraschend, daß Biblio theken vo n früh an in der islamischen Welt blühten, und mancher Literat hat seine Erfahrungen, seine Freude und sein Leid, mit Büchern niedergeschrieben, denn allzuleicht ko nnten Ungeziefer o der Mäuse die ko stbaren Schätze zerstören. Auto graphen wurden so rgfältig gesammelt, und biblio phile Gelehrte o der Fürsten ließen eher ein Buch no chmals abschreiben, als es zu verleihen. Die theo lo gischen Ko llegien ebenso wie die Mo scheen hatten eine mehr o der weniger reich bestückte Biblio thek für die Studenten. Eine der gro ßartigsten Biblio theken der islamischen Welt war die des ‛Abdur Raḥīm Khānkhānān (gest. 1627), des Generalissismus vo n Kaiser Akbar in Indien, der in seiner Biblio thek fast hundert Menschen beschäftigte und dem zahlreiche Dichter ihre eigenen Dichtungen widmeten. Viele der aus so lchen Biblio theken erhaltenen Bücher tragen Siegel o der No tizen der Besitzer. Die Fürsten hatten ihr kunstvo lles Namenssiegel und die tughra, die man seit alters an den Anfang eines o ffiziellen Do kumentes setzte. Dieser Schriftzug ko nnte aus dem Handdruck des — manchmal illiteraten — Herrschers abgeleitet sein, do ch ist sein Ursprung unklar. Die Sekretariate, dīwān, beschäftigten beso ndere Kalligraphen, die diesen Schriftzug schrieben und, vo r allem im o smanischen Reich, mit den verschiedensten Deko ratio nen umgaben (s. Abb. 39.13 auf Tafel VIII). Heute wird das Wo rt tughra für jedes Kalligramm verwendet. Münzen trugen vo m Ende des 7. Jahrhunderts an arabische Schriftzeichen, so die einfachen Zeichen des Glaubensbekenntnisses, das an die Stelle der antiken Götterbilder trat (s. Abb. 22.2). Später wurde der Deko r ko mplizierter, und tughra-artige Embleme erschienen. Aus diesen entwickelten sich im 19. Jahrhundert die kunstv o llen Schriftf o rmen auf Bankn o ten und Briefmarken, deren Fo rm vo n den in der Verwaltung tätigen Kalligraphen ausgebildet wurde (s. Abb. 61.5). Auch jetzt, da die tughra im o ffiziellen Gebrauch durch andere Fo rmen ersetzt ist, versucht man die kalligraphische Traditio n in Do kumenten zu einem gewissen Grade weiterzuführen, o bgleich manche m o dernen Ausführungen ov n arabischer „Kunst“-Schrift die Harmo nie der klassischen Kalligraphie vermissen lassen.

6.

Das Aljamiado-Phänomen

Da die arabische Schrift das Bindeglied zwi-

535

schen den verschiedenen islamischen Völkern darstellt, ist es natürlich, daß sich auch Sprachen, die der Struktur nach dem Arabischen ganz fern stehen, dieser Schrift bedienten. Die gro ße Zahl arabischer Lehnwörter, die durch Ko ran und ḥadīth in die islamischen Sprachen einflo ssen, machte einen in arabischen Lettern geschriebenen Text in Türkisch o der Urdu, in Paschto o der Suaheli einigermaßen entzifferbar. Umgekehrt, wenn eine früher in arabischen Buchstaben geschriebene Sprache wie das Türkische aus po litischen Gründen (Euro päisierung, Bruch mit der islamischen Vergangenheit) jetzt in Lateinschrift geschrieben wird, hat der des Arabischen Kundige gro ße Mühe, arabische o der persische Wörter zu erkennen, da weder die verschiedenen s-Laute no ch die drei h-Laute des Arabischen, ganz zu schweigen vo m gutturalen ‛ain, in der Schrift erscheinen. So wird aus dem Namen der Gattin des Pro pheten, Ḫadīǧa, Hatçe. Die klassische Literatur mit ihren unzähligen Wo rt- und Buchstabenspielen ist zum verschlo ssenen Buch gewo rden. In einer Reihe vo n Sprachen werden arabische und lateinische bzw. kyrillische Schrift nebeneinander verwendet. Zum Teil bilden die arabischen Lettern auch eine Art Geheimsprache, wie im Aljamiado, jenem Spanisch in arabischen Buchstaben, dessen sich die Mo risko s nach der spanischen Reco nquista bedienten. So lche Phäno mene, die auch in slavischen und anderen Sprachen vo rko mmen, ermöglichen es, ältere Sprachfo rmen durch die Art, wie sie in arabischen Lettern transkribiert werden, zu erkennen. Das so genannte Aljamiado -Phäno men findet sich im Balkan, unter den Muslimen Zentralasiens und in Afrika. Umgekehrt macht Arabisch in chinesischen Zeichen dem Leser die größten Schwierigkeiten. Eine Tendenz, vo n den aufgezwungenen westlichen Schriftsystemen zum Arabischen zurückzukehren, wird nach der Auflösung der So wjetunio n in Zentralasien sichtbar, wo bei es das Pro blem gibt, daß beispielsweise das Özbekische im Laufe der Zeit mehrere arabische Umschriften (mit piene o der Defektivschreibungen) gehabt hat. Selbst in Ländern, in denen die arabische Schrift aus po litischen Gründen vo r einigen Jahrzehnten abgeschafft wo rden war, macht sich wieder ein reges Interesse an ihr bemerkbar, sei es auch nur um der ästhetischen Möglichkeiten des arabischen Alphabetes willen, das auch Künstler aus der Türkei o der Malaysia (beide lateinschriftlich) zu Kalligrammen o der zur Verwendung arabischer Buchstaben in Bildern oder sogar in Plastiken anregt.

IV. Schriftkulturen

536

7.

Ausblick

Da die Schrift Träger der Offenbarung ist, gab es gro ße Widerstände, als die erste Drukkerpresse in der Türkei zu Beginn des 18. Jahrhunderts eingeführt wurde, und man zieht es immer no ch vo r, ein Exemplar des Ko rans in der Handschrift eines Meisterkalligraphen fo to mechanisch o der in ähnlichen Pro zessen zu vervielfältigen. Inzwischen hat sich auch die Co mputer-Industrie daran gemacht, Entwürfe schöner und interessanter arabischer Zeichen in allen erdenklichen Ausformungen zu entwickeln. Der vielfache Sinn der arabischen Schrift — vo m Aussagewert über die unerschöpflichen künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten zu kabbalistischen Spielen o der als integraler Bestandteil der literarischen Bildersprache — gibt ihr eine zentrale Stellung in der islamischen Kultur, und man ist geneigt, dem angeblichen Wo rt des Pro pheten Glauben zu schenken, daß jemand, der die basmala, d. i. die Fo rmel „Im Namen Go ttes des Allbarmherzigen des Allerbarmers“ schön schreibt, ins Paradies ko mmen werde, und hört gern die persische Behauptung, daß die Tinte des Kalligraphen ihm, wie das legendäre Lebenswasser, ewiges Leben schenkt.

Abb. 39.14: Die Formel „Im Namen Gottes des Allbarmherzigen des Allerbarmers“ (basmala) in dīwānī Schrift. Türkei, 1967

8.

Literatur

Flury, Samuel. 1920. Islamische Schriftbänder: Amida-Diyarbekir, XI. Jahrhundert. Basel. Gro hmann, Ado lf. 1967/1971. Arabische Paläo graphie. Wien, 2 Bände. Hegyi, Othmar. 1979. Mino rity and Restricted Uses o f the Arabic Alphabet: The Aljamiado Pheno menon. JAOS 99, 262—69. Huart, Clément 1908. Les calligraphes et les miniaturistes de l’Orient musulman. Paris (repr. 1972). „Khatt“, Encyclo pedia o f Islam, 2nd. ed. vo l. IV, 1973, columns 1112—30. Krenko w, Fritz. 1922. The Use o f Writing fo r the Preservatio n o f Ancient Arabic Po etry. Ajabnama, Studies in Ho no ur o f E. G. Bro wne, Cambridge, 261—68. Lings, Martin. 1976. The Quranic Art o f Calligraphy and Illumination. London. Mino rsky, Vladimir. 1989. Calligraphers and Painters. A Treatise by Qadi Ahmad so n o f Mir-Munshi (ca. AH 1015/AD 1606) Translated fro m the Persian. Washington DC. Ro senthal, Franz. 1971. Fo ur Essays o n Art and Literature in Islam. Leiden. Schimmel, Annemarie. 1984. Calligraphy and Islamic Culture. New Yo rk (mit umfangreicher Bibliographie). Scho eler, Grego r. 1992. Schreiben und Veröffentlichen. Zur Verwendung und Funktio n der Schrift in den ersten islamischen Jahrhunderten. Der Islam 69, 1—43. Sellheim, Rudo lf. 1968. Die Mado nna mit der šahāda. In Graef, Erich (ed.), Festschrift für Werner Caskel. Leiden. Vo lo v, Lisa. 1966. Plaited Kufic o n Samanid Epigraphic Pottery. Ars Orientalis 7, 10—33.

Annemarie Schimmel, Bonn (Deutschland)

40. Das Mittelalter in Europa: Lateinische Schriftkultur 1. 2.

3. 4.

Vorbemerkung Manu hominibus praedicare. Wesen und Wert lateinischer Sprachkultur und Schriftlichkeit im Mittelalter Traditio, correctio und innovatio. Von der Karolingerzeit zum Hochmittelalter Zwischen Wissenschaft, Gottverlangen und Weltgetriebe. Wandlungen im Hoch- und Spätmittelalter

5. 6.

1.

Methoden, Ergebnisse und Desiderate der Forschung Literatur

Vorbemerkung

Ein Abriß der lateinischen Schriftkultur des abendländischen Mittelalters (500—1500) kann scho n auf Grund ihrer unvergleichlich

40.  Das Mittelalter in Europa: Lateinische Schriftkultur

breiten und vielfältigen Überlieferung und ihrer fo lgenreichen Entwicklungen kaum in vernünftige Relatio n zu Darstellungen anderer Schrift- und Kulturräume der Menschheitsgeschichte gebracht werden. Eine vo rläufige Schätzzahl vo n allein etwa einer ½ Millio n lateinischer Handschriften dürfte nicht zu ho ch gegriffen sein, wo bei wir davo n ausgehen können, daß nur ein minimaler Bruchteil der gesamten lateinischen Schriftpro duktio n die Wirren der Jahrhunderte überstanden hat und vielleicht nur no ch ein Pro mille des ursprünglich Pro duzierten erhalten ist. Demgegenüber fällt der bis ins Ho chmittelalter verschwindend geringe Anteil vo lkssprachlicher Handschriften so gut wie nicht ins Gewicht, auch wenn man bedenkt, daß in allen Zahlen no ch nicht einmal die Hinterlassenschaften der überwiegend lateinischen Urkundenschriftlichkeit, v. a. der gro ßen mittelalterlichen Kanzleien, wie etwa der päpstlichen, mit eingerechnet sind. Inso fern können für unseren Zeitraum nur wenige spezifische Züge und ausgewählte, für uns heute no ch bedeutungsov lle Charakteristika der abendländischen Schrift- und Buchkultur aufgezeigt werden. Ihre Bedeutung mag allein daraus ersichtlich werden, daß die karo lingische Minuskel als die wo hl wesentlichste Schriftentwicklung des gesamten Mittelalters in ihrer humanistischen Nachbildung bis in die Gegenwart in Fo rm unserer heutigen Druckschrift ausstrahlt (→ Art. 12, 13). Sie wird spätestens im nächsten Jahrtausend die eigentliche Weltschrift sein.

2.

Manu hominibus praedicare. Wesen und Wert lateinischer Sprachkultur und Schriftlichkeit im Mittelalter

Das Christentum als Buch- und Offenbarungsreligio n verlangte eine intensive Auseinandersetzung mit dem geschriebenen Wo rt v. a. der Heiligen Schrift, um in die Geheimnisse des Glaubens tiefer eindringen zu können, die etwa in Typo lo gie und mehrfachem Schriftsinn der Bibel verbo rgen waren. So mit waren Lesen und Schreiben unverzichtbare Vo raussetzungen für die Praxis der christlichen Wissenschaft, in deren Dienst Augustin in seinem Werk De doctrina christiana die heidnischen artes liberales gestellt hatte, welche in seiner Nachfo lge Cassio do r († 583) in seinen pro grammatischen Institutiones mit einem beso nderen philo lo gischen Akzent versehen hatte. Die geistesgeschichtliche Wirkung dieser Schrift auf das Mittelalter so llte

537

nicht überbewertet werden. Denno ch bleibt festzuhalten, daß sich spätestens mit ihr grundlegende Veränderungen in antiker Bildung und Schriftlichkeit abzuzeichnen begannen. Nicht nur verlo ren die freien Künste ihre Funktio n, der Lebensbewältigung draußen zu dienen, und ‛verinnerlichten’ gleichsam zu Hilfswissenschaften theo ol gischen Verständnisses. Viel mehr no ch gewann das Schreiben christlicher Werke, ja selbst die blo ße Abschreibetätigkeit im Klo ster einen nie zuvo r gekannten Eigenwert. Wie ein ro ter Faden zieht sich daher durchs Mittelalter die Vo rstellung vo m anstrengenden Schreiben als Go ttesdienst, ja als Mittel der Askese, wo durch sich der Schreiber selbst vo n Sünden reinigen und den Lesern mit seinen Händen das ewige Heil predigen ko nnte. Diese Haltung finden wir nach Cassio do r in den mo nastischen Consuetudines der Refo rmo rden, die die eigens abgestellten Schreibermönche vo m Offiziumsdienst befreiten (z. B. in Cluny; Fichtenau 1946, 155 ff), aber ebenso ausdrücklich in den Statuten der beso nders schreibfreudigen Orden des Ho ch- und Spätmittelalters (z. B. Kartäuser, Devotio-moderna-Bewegung, Windesheimer Ko ngregatio n) und selbst no ch im 15. Jahrhundert in Jo hannes Gerso ns Werk De laude scriptorum (a. 1423). Der Stellenwert und die Tiefenwirkung der do minierenden lateinischen Schriftlichkeit in der abendländischen Kultur des Mittelalters ist nicht zu überschätzen. Latein war Ausgangssprache in den unterschiedlich stark ro manisierten Pro vinzen des Imperium Ro manum, die eine mehr o der weniger ungebro chene lateinische Schrift- und Sprechtraditio n aufwiesen, und unterlag do rt in seinen vulgärsprachlichen Varianten einer sprachgeschichtlichen Regio nalisierung (Iberische Halbinsel, Italien, No rdafrika; Löfstedt, 1975), der für die frühmittelalterliche Zeit eine bemerkenswerte schriftgeschichtliche Parallele zur Seite gestellt werden kann, inso fern sich die vo rkaro lingischen ‛Schrifttypen’ (nicht: ‘Natio nalschriften’) aus der einen römischen Schrift herauskristallisierten, was ausdrücklich zum ersten Mal vo n Scipio ne Maffei (1675—1755) gezeigt wurde. Als Träger unterschiedlicher lateinischer K o mmunikatio nssituatio nen (zum Wesen des Mittellateins: Traube 1911, 31— 121; vo n den Steinen 1957) nahmen die nach Zeit und Raum unterschiedenen lateinischen Schriftsysteme auch verschiedene Funktio nen wahr. Während sich lateinische Sprache und Schrift in den germanischen Nachfo lgestaaten

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des untergegangenen weströmischen Reiches in ihrer ko mmunikativen und schriftlichen Traditio n o rganisch fo rtentwickelten und insbeso ndere in der no ch unter alter Herrschaft entstandenen römischen Kirche seit dem 6. Jahrhundert ihren Hauptträger fanden, aber do ch nicht nur Klerikerschrift und -sprache waren, gerieten sie durch Impo rt in die Randbereiche und Länder außerhalb des Imperiums zur ausschließlichen o V rbildsprache und -schrift. Vo r allem in Oberitalien erhielten sich bis weit ins Frühmittelalter hinein alte Schriftund Sprachtraditio nen. Auch auf der Iberischen Halbinsel war bis zum Untergang des Westgo tenreiches (711) ein Spätlatein in außero rdentlicher Gepflegtheit in Gebrauch, und selbst die spätantiken Buchschriften wurden no ch weiterverwendet. Auch dürften sich die Reste der in den byzantinischen und arabischen Ero berungsstürmen des 6. und 7. Jahrhunderts untergegangenen Schrift- und Literaturpro vinz No rdafrika, die als letzte Schrifterfindung der Antike die westliche Halbunziale hervo rgebracht hatte (litterae affricanae, Bischo ff 1966, 2—4), nach Spanien gerettet haben. So entstand im multikulturellen Schmelztiegel der Iberischen Halbinsel die seit dem frühen 8. Jahrhundert nachweisbare westgo tische (mo zarabische) Schrift, die bis ins Ho chmittelalter lebenskräftig blieb. In Gallien hingegen ist v. a. im 7. und 8. Jahrhundert parallel zum Verfall der Bildung (Annäherung der Schriftsprache an die gespro chene Sprache) ein Fo rmverlust in der lateinischen Schrift festzustellen. Das Latein der nichtro manisierten Länder war hingegen vo n Anfang an fast ausschließlich eine reine Kirchen- und Verwaltungssprache, weil es erst mit der Missio n Einzug hielt. Dabei entschied die Zeit der Christianisierung als die Zeit der jeweils im Mutterland vo rherrschenden Haupttextschrift über die Art und Weise, in der die aktuellen lateinischen Buchstabensysteme der wesentlichen ersten Schriftträger (Bibel, Psalter, Offiziumstexte und patristisches Schrifttum) die Schriftkultur der einzelnen Länder beeinflußten. Da die westliche Kirche seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts weitgehend lateinisch war, zudem in Kult und Liturgie eine heilig gewo rdene Sprache verwandte und es scho n deshalb in den zu missio nierenden Ländern keine gleichwertige, geschweige denn überlegene Literalität geben ko nnte, wurde das Erlernen der lateinischen Sprache durch die heranzubildende einheimische Geistlichkeit unabdingbar.

IV. Schriftkulturen

So entwickelte Irland, das wo hl bereits im 5. Jahrhundert mit einer unko mplizierten Schrift in Berührung geko mmen sein dürfte (Patrick), im Laufe des 6. Jahrhunderts ein eigenes lateinisches Schrifttum. Vo m ursprünglichen römisch-lateinischen Schriftwesen in Britannien war durch die Einwanderung der Angeln, Sachsen und Jüten (5. Jh.) kaum etwas übriggeblieben, so daß wir erst seit der zweiten, diesmal kirchlichen Latinisierung Eindrücke vo n insularer Schriftlichkeit gewinnen können. Die irische Missio n vo n No rden (seit 634) und die grego rianische Missio n vo n Süden (seit 597) ero berten die Insel mit ihren jeweils eigenen Schriften (irische Halbunziale und Minuskel, so wie römische Unziale, die sich nach Verbreitung vo n Italien und No rdafrika her auf dem gesamten Festland etabliert hatte; Lo we 1960). Die darauf erfo lgte irische und angelsächsische Missio n auf dem Ko ntinent hingegen hinterließ ihrerseits in den insularen Schriftinseln und Literaturzentren Spuren, die sich o ftmals bis ins Ho chmittelalter verfolgen lassen. Am spätesten wurden die slawischen und skandinavischen Siedlungsgebiete als lateinische Schrift- und Literaturpro vinzen erschlo ssen (Önnerfo rs 1970). So mit können wir im Frühmittelalter eine Vermittlung fremder Schriften in andere Länder beo bachten, die in ähnlicher Weise im Spätmittelalter durch die Schriftverbreitung des universitären Buchhandels und seiner internatio nalen Kundschaft (ausländische Studenten) gewährleistet war. Im Übergang vo n der Spätantike zum Mittelalter veränderte sich zusehends die Bildungssituatio n. Nicht nur, daß im Zuge des steigenden Analphabetismus die Privatlektüre u. a. der Bibel und der heiligen Schriften im Laienstand allgemein zurückging; auch das Bildungsniveau der Bevölkerung sank beträchtlich und die bislang allgegenwärtige Schriftlichkeit reduzierte und verlagerte sich immer mehr auf die neuen so zialen Gruppen in Kirche und Mönchtum, die das traditio nelle Schulschrifttum und die Metho den des spätantiken Schul- und Schreibunterrichts — wenn auch durchsetzt mit christlichen Unterrichtsidealen — ins Mittelalter hinüberretteten (Riché 1981; Illmer 1979). Hieraus ergaben sich zwei fo lgenreiche Entwicklungen: Zwar verengte sich einerseits das Latein auf eine allgemeine Bildungs- und Gebildeten-, Urkunden- und Fo rmularsprache, do ch gewannen andererseits Bibel und andere heilige Schriften durch die christliche Ko nzeptio n vo m inspirierten Wo rt Go ttes einen sakralen, ja o ft ma-

40.  Das Mittelalter in Europa: Lateinische Schriftkultur

gischen Charakter, den Bücher zuvo r kaum besaßen. Gerade in der Vo rstellung, daß man mit der Schrift Go ttes Wo rt bannen o der zumindest verstehen helfen ko nnte, ferner im Buch Go tt o der den Heiligen unmittelbar präsent wähnte, war die Verehrung der Bibel, des Evangelien- o der Heiligenbuches begründet. Natürlich erwuchs nun ein Spannungsverhältnis zwischen älteren spätantiken Schrifttraditio nen und jüngeren kirchlichen Buchwünschen, aus dem neue lateinische Textfo rmen hervo rgingen, die man als gruppenspezifische Erscheinungsfo rmen bezeichnen könnte und in denen die mittelalterliche Buchkultur bereits in entscheidenden Zügen angelegt war. Selbstverständlich do minierten die auf der Bibel aufbauenden kirchlichen Text- und Buchfo rmen für Liturgie, Predigt und Exegese (z. B. Evangeliar, Sakramentar, Ho miliar, Bibelko mmentar), aber ebenso Gattungen, die dem gemeinschaftlichen Leben (Regel-Handschriften) und To tengedächtnis ( memoria) der Tagesheiligen, später auch der Versto rbenen einer Ko mmunität dienten (Kalendarien bzw. Martyr o ol gien: Dub o is 1978; Nekr o ol ge: Huyghebaert 1972). Dabei spielte für die Lesung im öffentlichen Go ttesdienst wie im mo nastischen Kapitel die ebenso no ch in der Spätantike entstandene hagio graphische Literatur eine überragende Ro lle während des gesamten Mittelalters, v. a. weil sie wie kaum eine andere Gro ßgattung zahlreichen inno vativen Wandlungen hinsichtlich Fo rmgebung und Stilisierung unterwo rfen wurde (zum Epo chenstil vo n Passio, Vita, Miracula, Translatio: Berschin 1986—1991). Sie wird in der Karo lingerzeit so gar eine eigene Buchgattung hervorbringen. Zu den wesentlichsten materiellen Veränderungen zählte sicherlich der Übergang zu neuen Beschreibst o ffen und Buchf o rmen: Während seit dem 4. Jahrhundert der Pergamentco dex im ganzen Abendland gegenüber der Papyrusro lle im Vo rdringen begriffen war, wurde das Papyrusbuch immer seltener und auch die Pergamentro lle als buchgeschichtliches Spezifikum verlo r an Bedeutung, o hne im Mittelalter aber ganz außer Gebrauch zu ko mmen. Ebenso dürfte die Schreibtafel für flüchtige No tizen weiterhin keine geringe Ro lle gespielt haben, was sich jedo ch aus den wenigen Überresten kaum belegen läßt (→ Art. 8). Im Bereich vo n Textschrift, Textstrukturierung und Seitenaufbau wurden zahlreiche spätantike Entwicklungen bis weit in das Mittelalter fo rtgeführt. No ch die Spätantike entwickelte spätestens mit der Erfindung der Halbunziale

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im Vierlinienschema das bis heute gültige System vo n Majuskel, Minuskel und Kursive, und selbst die antiken Schriftentwicklungen Kapitalis, Unziale (ca. ½ Tausend Handschriften) und Halbunziale (über 200 Handschriften) wurden o ft bis ins 9. Jahrhundert weiterverwendet, auch wenn sich im Frühmittelalter scho n eigenständige Minuskelfo rmen herausgebildet hatten (→ Art. 12). Bemerkenswert ist auch die häufig zu beo bachtende Interdependenz zwischen Text-, Buch- und Schrifttypen, in der die nach Herko mmen und Anwendungsbereich unterschiedenen Buchtypen der jeweiligen Gruppe (Mönche, Gelehrte, Juristen etc.) ihren Ausdruck fanden, eine Erscheinung, die bei der eno rmen Vielfalt der spätmittelalterlichen Text- und Schriftarten no ch deutlicher zutage treten so llte. Abgesehen vo n außergewöhnlichen Buchfo rmaten, bei denen Bücher vo n geradezu mo numentalen Ausmaßen scho n rein äußerlich ein kultur- o der kirchenp o litisches Pr o gramm entwerfen ko nnten (spätantike Vergil-Handschriften; Purpurevangeliare; kar o lingische Bibelpandekten: Bischo ff 1986, 43, n. 38; italienische Riesenbibeln des Investiturstreits: Cahn 1982, 101—7), sind insbeso ndere bestimmte Schriftarten lange Zeit auch für bestimmte Buchtypen reserviert geblieben. So wurden biblische Texte selten in Kapitalis geschrieben, da sich die Schrift scho n zu Hiero nymus’ Zeiten aus der römischen Buchkalligraphie zurückzo g und im Übergang vo n der Spätantike zum Frühmittelalter gegenüber den jüngeren Textschriften zur Auszeichnungsschrift wurde (5./6. Jh.). Daher sind die spätantiken Luxushandschriften, die aus echtem Purpurpergament mit Go ld- und Silbertinte hergestellt wurden und stets dem Evangeliums- o der Psaltertext vo rbehalten blieben, alle in Unziale geschrieben. Auch christliche Pro satexte haben sich auffallenderweise nicht in Kapitalis, so ndern nur in Unziale und Halbunziale erhalten. Und selbst für die klassische Literatur wurde seit dem 4. Jahrhundert häufig die Unziale als Textschrift gewählt, während Vergilexemplare mit Ausnahme weniger Ostpro dukte nur in Kapitalis hergestellt wurden. Auch visuelle Hilfen, die das Lesen der Texte und die Suche vo n Textstellen erleichtern so llten, wurden in der Spätantike durch eine gezielte äußere und innere Strukturierung der Texte entwickelt (Martin & Vezin 1990, 439—55). Zu denken ist etwa an die Entwicklung vo n Ko nko rdanztabellen zu den Evangelien durch Eusebius, an Hiero nymus’ über-

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sichtliche Gliederung des Vulgata-Textes per cola et commata, an marginale Titel in der patristischen Literatur und natürlich an Inhaltsbzw. Kapitelverzeichnisse vo r den einzelnen Büchern eines Werkes ( capitulatio), deren Überschriften im Frühmittelalter in redundanter Weise auch in den Text eingearbeitet wurden, wo mit im Grunde unsere heutige Buchstruktur (Inhaltsverzeichnis + gegliederter Text) erfunden war. Ebenso kennzeichneten die teilweise no ch vo n den Papyrusro llen herrührenden Anfangs- und Schlußfo rmeln (Incipit < incipere = beginnen; Explicit < explicare = entro llen) Textanfang und -ende, vergrößerte Textbuchstaben (> Initialen) einen Seiten- o der Ko lumnenbeginn, später auch Sinneinschnitte, so wie mennigefarben ausgezeichnete Textzeilen den Beginn eines Werkes, den zu ko mmentierenden Text u. v. m. (Lo we 1972, 273), wo rin der Ursprung der mittelalterlichen Rubrizistik zu sehen ist. Auch die Mehrspaltigkeit vo n Texten, die Hierarchisierung vo n Schriften und die Unterscheidung im Schriftgrad bei Text und Ko mmentar waren spätantike Entwicklungen, die ins Mittelalter überno mmen wurden. Eine verbesserte rheto rische Interpunktio n und die allmähliche Einführung der Trennung der einzelnen Wörter untereinander (Verlust der scriptura continua) gehören dann zu den einzigartigen Entwicklungen des früheren Mittelalters, die dem nicht mehr muttersprachlichen Lateinleser das laute Lesen vereinfachen sollten. Ko ntinuitäten römischer Fo rmen hinsichtlich Schriftträger, Schrift, innerer und äußerer Fo rmen sind natürlich auch im frühmittelalterlichen Urkundenwesen festzustellen (Classen 1983). So wurde Papyrus als typisch antiker Beschreibsto ff no ch für die berühmten Ravennater Urkunden, die Ausfertigungen der mero wingischen Königskanzlei (bis in die 2. Hälfte des 7. Jahrhunderts) und der päpstlichen Kanzlei (Urkunden bis 1057 und amtliche Bücher bis zum Ende des 11. Jahrhunderts) verwendet (Santifaller 1953, 32 ff). Die traditi o nalistische Haltung der Kanzleien zeigte sich zudem in der Fo rtführung der spätantiken Behördenschriften in Papst- und Königskanzlei des Frühmittelalters (Kresten 1966), so daß z. B. die päpstliche Kuriale erst nach einem langewährenden Verdrängungspro zeß um 1123 zugunsten der mo derneren kurialen Minuskel aufgegeben wurde (Frenz 1986, 14 f). Auch hielt sich traditio nell der Brauch, die erste Zeile der Urkunden teilweise (später ganz) durch eine verlängerte bzw. vergrößerte Schrift gegenüber dem Rest des Tex-

tes hervo rzuheben (Papst- bzw. Königsurkunden). Ebenso wurde über längere Zeit traditio nelles Fo rmelgut in der Empfängernennung ( inscriptio) und natürlich die persönliche Namensunterschrift als wesentliches spätantikes Mo ment der privaturkundlichen Beglaubigung weitergetragen. Die Papsturkunden sind fo rmal gesehen so gar die unmittelbaren Nachfahren des antiken römischen Briefes. Erst der allmähliche Schriftlichkeitsverlust bei den späteren Mero wingerkönigen, insbeso ndere der Übergang in den Präzepten vo n der eigenhändigen Unterschrift zur blo ßen Ergänzung eines Kreuzes (Pippin der Jüngere) und später zum Vo llziehungsstrich im Mo no gramm des Königsnamens (Karl der Gro ße; Erben 1907, 145 ff) darf ebenso wie der so ziale Wandel im Kanzleiperso nal (vo m Laienreferendar zum Geistlichen) als sympto matisch für den allgemeinen Mangel an Schriftkenntnis in den so zialen Oberschichten des Frankenreichs gelten, wie ja überhaupt das weltliche Bildungssystem im Verschwinden begriffen war (Kirn 1928, 132—4). Gleichzeitig aber gewann die Besiegelung in der karo lingischen Urkunde als wesentliche Beglaubigungsf o rm zunehmend an Bedeutung. Ob allein aus der sehr schmalen Materialgrundlage, wie sie zwangsläufig W. Schlögl in seiner Arbeit (1978) über die nachweislich auto graphen herrscherlichen Unterfertigungen bis zum Interregnum hatte, auch nur andeutungsweise Schlüsse auf eine tatsächlich vo rhandene allgemeine Schriftbeherrschung o der gar Bildung des jeweiligen (deutschen) Königs gezo gen werden können, muß zweifelhaft bleiben. Eine verstärkte Wiedererlangung vo n Schriftlichkeit in laikalen Kreisen ist freilich erst wieder seit dem 13. Jahrhundert zu ko nstatieren. Im Gegensatz zu den o bersten Kirchenvertretern (zur Schriftlichkeit der Päpste und Kardinäle: Katterbach & Peitz 1924) blieben die weltlichen Herrscherkreise über das gesamte Mittelalter hinweg weitgehend illiterat. In der Regel sind eher Latein- und Lesekenntnisse, weniger aber Schriftbeherrschung v. a. im buchschriftlichen Sinne zu erwarten (cf. Karl der Gro ße; Grundmann 1958, Thompson 1960).

3.

Traditio, correctio und innovatio. Von der Karolingerzeit zum Hochmittelalter

In der Karo lingerzeit vo llziehen sich im Bereich der Buch- und Urkundenschrift die wesentlichsten mittelalterlichen Veränderungen

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überhaupt, die jedo ch zu unterschiedlichen Zeiten stattfanden und mit verschiedenen Zielsetzungen behaftet waren. Durch den sittlichen und kulturellen Niedergang der mero wingischen Kirche war auch das allgemeine Sprach- und Bildungsniveau so weit gesunken, daß eine umfassende Refo rm des Bildungssystems an Klo ster- und Do mschulen no twendig wurde. Denn nur ein gestiegenes kirchliches Bildungsniveau ko nnte gewährleisten, daß der Klerus die zugleich gefo rderten fehlerfreien Texte richtig verstehen ko nnte (Bibel, exegetische und liturgische Literatur etc.), zumal man glaubte, nur mit den richtigen Wo rten auch richtig Go ttesdienst feiern zu können (Brunhölzl 1965). Deshalb wurde zur Hebung des Sprach- und Schriftniveaus so ausnehmend auf Grammatik und Ortho graphie Wert gelegt, und deshalb auch wurden verbindliche No rmalexemplare der Bibel, des Sacramentarium Hadrianum, der Benediktsregel, eines Ho miliars, ja selbst der Klassiker hergestellt und in der Ho fbiblio thek aufbewahrt (Bischo ff 1981, 149 ff). Wenn auch einzelne Fäden der Refo rm scho n vo n Pippin und Bo nifatius angespo nnen wo rden waren, so gelang es do ch erst Karl dem Gro ßen, sie in dem Mo ment zum kraftvo llen Ganzen der karo lingischen Correctio zu verflechten (Schramm 1968), als er sich nach der Perio de der o ffensiven Kriegspo litik einer Phase der mehr nach innen gerichteten Kulturpo litik zuwandte, um das entstandene Riesenreich auch in seinem inneren Bestand zu festigen. Das Bemühen um größere Klarheit und Gefälligkeit in Fo rm und Stil der ebenso heruntergeko mmenen lateinischen Schriften fügt sich zwar in den allgemeinen Willen zur Ko rrektur und Niveauhebung ein, do ch ist es nicht ausdrücklicher Bestandteil des umfassenden Bildungsauftrags der kar o lingischen H o fschule gewesen, was allein scho n daraus erhellt, daß Mo delle früher karo lingischer Minuskel bereits existierten, als das übrige Refo rmpro gramm no ch gar nicht ins Leben gerufen war. Daher können wir auch keineswegs vo n einer ‛karo lingischen Schriftrefo rm’ sprechen, da es unter den Karo lingern zu keiner zentral vo n o ben gelenkten Verbreitung eines no rmativen Musters geko mmen ist. Ebenso wenig wird man dem Entwicklungsgang der Schrift zur karo lingischen Minuskel gerecht, wenn man sich die Vo rstellung zurechtlegt, die Schrift sei nach einem guten alten Vo rbild wiederhergestellt wo rden; denn u. W. ist eine partiell neue Schrift entstanden, indem zur Vermeidung früherer Zweideutigkeiten Buchsta-

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ben ersetzt und harmo nisiert, so wie Abkürzungen und Interpunktio nszeichen differenziert wurden (1. Austausch vo n cc-a, das als do ppeltes c gelesen werden ko nnte, durch a. 2. Parallele Bildung vo n n zu m gegenüber bisher N. 3. Scheidung einer neuen ur-Kürzung vo n der früher identischen us-Kürzung; Erfindung des Fragezeichens). Die karo lingische Minuskel ist also gewissermaßen das Ergebnis einer im allgemeinen Ko nsens der Zeit gefundenen Schrift-Co rrectio (→ Art. 12). Daher läßt sich das Ziel dieser karo lingischen Schriftentwicklung auch kaum unter der Fo rmel der norma rectitudinis subsumieren, deren Stellenwert und Tragweite J. Fleckenstein (1953) sichtlich überschätzte, da sie nicht der Kernbegriff für die allumfassende karo lingische Bildungsrefo rm gewesen sein dürfte. Die ‛lebendige Vielheit und Freiheit der Prägungen’ (Bischo ff 1981, 1), aus der wir karo lingische Schriftpro vinzen herauslesen können — eine geradezu erstaunliche Parallele zu den sich allmählich erschließenden Literaturlandschaften — ist eher das Spiegelbild zahlreicher früherer lo kaler Entwicklungen, die sich in unterschiedlichem Rhythmus vo llzo gen. Erst im Zuge einer allgemeinen kalligraphischen Stilsuche wurden die früheren Ansätze zur relativen Einheitlichkeit geführt. Do ch vo llzo g sich die völlige Durchsetzung der karo lingischen Minuskel zur alleinigen Textschrift ähnlich wie die Sprachhebung über Generatio nen hinweg, so daß etwa in den alemannischen o der insularen Schriftzentren erst einige Zeit nach Karls des Gro ßen Ableben († 814) der alte Schrifttyp aufgegeben wurde (Abb. 40.1). Die Ausbreitung der karo lingischen Minuskel gehört damit zu den gro ßen Schriftverdrängungspro zessen des Mittelalters, die sich o ft im Zuge einschneidender Veränderungen im abendländischen Herrschaftsgefüge vo llzo gen. Zu erinnern ist etwa an die Verdrängung der insularen Minuskel durch die ko ntinentale karo lingische Minuskel, die sich seit der no rmannischen Ero berung 1066 no ch verstärkte und mit der ein eno rmer Auftrieb im angelsächsischen Bibli o thekswesen einherhing, indem die alten Bestände aufgesto ckt und aktualisiert wurden (Ker 1960; Tho mso n 1986). Zu denken ist auch an die Ablösung der westgo tischen Minuskel in Spanien durch die inzwischen allgemein gebräuchliche karo lingische Minuskel, die eine gezielte kirchenpo litische Maßnahme der grego rianischen Refo rm war, was erklärt, warum sich das Schriftverbo t des Ko nzils vo n León (1090) ausschließlich auf das Buchwesen der mo zarabischen Liturgie

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IV. Schriftkulturen

Abb. 40.1: Generationswechsel im Spiegel des Schriftwechsels. Die regionale alemannische Minuskel des Reichenauer Kalligraphen Reginbert († 846) wird Mitte der sechsten Zeile durch die jüngere karolingische Minuskel eines Schülers abgelöst. Um 820. «Bibliothek der Symbole», Karlsruhe, Bad. Landesbibliothek, Aug. XVIII, fol. 42r (aus: A. Chroust, Monumenta Palaeographica II. Ser., 10. Fasz., Taf. 8, München 1912).

ko nzentrierte (Millares Carlo 1983, 140—3). Hingegen entsprang das vo n Friedrich II. für Sizilien erlassene Verbo t der unlesbar gewo rdenen No tarskursive und das gleichzeitige Verbo t vo n Papier für No tariatsinstrumente (1231: Bresslau & Klewitz t. 2, 1968, 500) dem gestiegenen Bedürfnis nach Ordnung und Rechtssicherheit im Staate. Der vo rbildhafte Charakter und der maßgebliche Einfluß, den der karo lingische Schulund Schreibunterricht, das kar o lingische Buch- und Biblio thekswesen, so wie die damals geleistete Literaturrezeptio n und -inno vatio n auf die Kultur bis zum Ho chmittelalter hatten, rechtfertigt vo r dem Hintergrund der sich gleichzeitig verändernden Latein- und Schriftlichkeitsakkulturati o n eine ausführlichere Darstellung. Latein hörte auf, eine alltäglich gesprochene Sprache zu sein, seitdem es die gezielte Niveauhebung der karo lingischen Correctio vo n seiner lebendigen, gespro chenen Variante (= sprachliches Regulativ) abgeho ben hatte und damit der Ablösungspro zeß vo n den sich herausbildenden ro manischen Sprachen beschleunigt wo rden war (Skizze: Berschin 1991, 147 f). Damit wurde Latein selbst im ro manischen Raum immer mehr zur Fremdsprache, die erst mühsam zu erlernen war (Murphy

1980). Ein eindeutiges Indiz dafür, wie sehr man den allmählich auftauchenden pro so dischen Unsicherheiten entgegentreten mußte, die beim lauten Vo rlesen vo n lateinischen Texten in Liturgie, Kapitel- und Refekto riumslektüre auftraten, sind die eigens entwickelten Lehrbücher zur Lesekunst, mit deren Hilfe man wieder die rechte Beto nung der lateinischen Wörter erlernen ko nnte (Kneepkens & Reijnders 1979). Was die Rezeptio n der spätantiken Grammatiken (Do nat, Priscian), die Tradierung innerer und äußerer Buchfo rmen der Spätantike, so wie die Ausgewo genheit im Mit- und Gegeneinander vo n heidnischen und christlichen auctores in der Schullektüre anbelangte, so setzte das karo lingische 9. Jahrhundert Maßstäbe, an denen sich der Kulturbetrieb der fo lgenden Jahrhunderte messen lassen mußte. Da freilich bis zum Spätmittelalter der Schreibunterricht weitestgehend mündlich erfo lgte und man es deshalb nicht für nötig erachtete, die völlig selbstverständlichen Unterrichtsregeln aufzuzeichnen, ist ein eklatanter Mangel an schriftlichen Zeugnissen zum mittelalterlichen Schul- und Schreibbetrieb zu beklagen, der allenfalls durch die Interpretatio n vo n diesbezüglichen Äußerungen der mo na-

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stischen Consuetudines (Dressler 1988), vo n Schulhandschriften und materiellen Hinterlassenschaften in Handschriften wie Federpro ben o . ä. (Bischo ff 1966, 74—87) einigermaßen ausgeglichen werden kann. Zudem verdanken wir v. a. der Karo lingerzeit zahlreiche Quellen, die vo n einer bewußten und intensiven Auseinandersetzung mit Schrift, ihrem geschichtlichen Ursprung und ihrer jeweiligen Ausdeutung innerhalb des Grammatik- und Schreibunterrichts zeugen und vo rbildhaft für das ganze Mittelalter gewo rden sind. Zu nennen sind etwa Alphabetverse (Bischo ff 1966, 79 ff), weiterhin Buchstabenbeschreibungen o der Alphabettraktate, in denen der kalligraphische Aufbau vo n Buchstaben aus Einzelbestandteilen o der die allego risch-mystische Erklärung der Buchstaben als heilsgeschichtliche Symbo le für das Erlösungswerk Go ttes thematisiert wurden; zudem Ko mmentare zur so g. Inventio litterarum in den wiederbenutzten spätantiken Grammatiken und so gar eigenständige Traktate. Die häufiger anzutreffenden Aufzählungen der genera scripturarum o ffenbarten nicht allein ein Bewußtsein für den sich vo llziehenden Schriftwandel (antiquaria/coaequaria manus), so ndern brachten auch schriftästhetische, -technische und funktio nale Aspekte zum Ausdruck (z. B. litterae tunsae = gescho ren wirkende irische Halbunziale; littera epistolaris/capitularis), die teilweise antikem Gedankengut entno mmen waren (littera longa/uncialis/epistolaris). Auch war nun die über das ganze Mittelalter gültige Gliederung in Buch-, Auszeichnungs- und Gebrauchsschrift in der Zuo rdnung zu den genera allgemein gebräuchlich. Überhaupt scheint sich bis ins Ho chmittelalter das allgemeine Schriftbewußtsein kaum gewandelt zu haben, o hne daß freilich das menschliche Grundbedürfnis nach ov rstellungskräftigen, griffigen Kateg o rien fehlte (Gasparri 1989, 103), welches den zumeist fremden Schriftbetrachter veranlaßte, die Herkunft der regio nal verschiedenen lateinischen Buchstabensysteme mit spezifischen geo graphischen Namen zu versehen. Beispielsweise erhielt die wegen ihrer selbstverständlichen Anwendung im ganzen Abendland weitgehend unbenannte karo lingische Minuskel ausgerechnet in Süditalien (Benevent) und in Spanien, wo sie zunächst keine Ro lle spielte, den Namen littera francisca bzw. littera gallica. Auch Namen wie littera scottica/beneventana/langobardica waren letztendlich Prägungen auswärtiger Schriftbetrachtung. Der Schreibunterricht, auch der Frauenklöster (Bischo ff 1966, 26—34), zählte allerdings

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nicht zum Elementarsto ff der Klo ster- und Do mschule, da er erst nach dem Lesen- und Auswendiglernen des Psalters erfo lgte und o hnehin zumeist nur befähigten Schülern zuteil wurde, die der Skripto riumsleiter, der o ft zugleich Schulleiter und Kanto r war, eigens ausgesucht hatte. In der Regel wurde schrittweise an die Buchkalligraphie herangeführt, bis auch die anspruchsvo llsten Aufgaben überno mmen werden ko nnten. Arbeitsteilung im Klo ster zwischen mehreren Mönchen und Illuminato ren (später auch im Berufsskripto rium), so wie lagenweises Schreiben, das dadurch ermöglicht wurde, daß die Handschriften üblicherweise aus No rmallagen mit mehreren Do ppelblättern bestanden (z. B. Quaternio > frz. cahier), so rgten für eine Beschleunigung des Schreibvo rgangs, was v. a. in bedeutenden Skripto rien wichtig war, die eine Art mittelalterliches ‛Verlagswesen’ betrieben: Im 8. Jahrhundert wurden z. B. im no rthumbrischen o D ppelkl o ster Wearm o uth/Jarr o w wichtige Werke des Hausauto rs und zeitgenössischen Bestsellers Beda Venerabilis für englische und ko ntinentale Interessenten massenweise vervielfältigt (Parkes 1982, 12—20) o der ein Jahrhundert später die berühmten AlkuinBibeln und Martinsschriften ( Martinelli) in Saint-Martin/To urs in ‛Fließbandpro duktio n’ hergestellt (Lesne 1938, 159 ff.; McKitterick 1989, 141). Geschrieben wurde zunächst laut, nach Diktat bzw. Selbstdiktat, später aber immer häufiger leise, wie es uns no ch heute vertraut ist. Waren an der Erstellung einer Handschrift mehrere ‛Hände’ beteiligt, so besteht für den Paläo graphen heute die Chance, neben der Entstehungsgeschichte einer Handschrift auch die etwaige Größe eines Skripto riums zu reko nstruieren. Ebenso gut ermöglichen die Erzeugnisse junger, wenig gefestigter Skripto rien Einblicke in die regio nal höchst unterschiedliche Ausbildung ihrer Schreiber (z. B. Einsiedeln, 2. Hälfte des 10. Jahrhunderts). Im o ftmals strengen Schreibunterricht spielte freilich die ‛Zucht’ (Fo rmhaltung in der Schrift) eine ungleich größere Ro lle als heute, wo mit zwar die Individualität des einzelnen Schreibers generell weniger zum Ausdruck kam, sich dafür aber ein lo kaler Schulstil über Generatio nen hinweg erhalten ko nnte, der charakteristisch für ein bestimmtes Skripto rium war (Garand 1980). Do ch läßt sich bei ausgeprägter Eigenwilligkeit o der -ständigkeit o ft geradezu die paläo graphische Physio gno mie eines Schreibers studieren (Fichtenau 1946, 48 ff), was beso nders reizvo ll ist, wenn es gelingt, Auot graphe berühmter Auto ren zu ermitteln

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(Lehmann 1941; Garand 1981). Denn im Unterschied zur Antike besteht im Mittelalter zum ersten Mal die Chance, die Diktier- und Herausgebertätigkeit eines Gelehrten o der Literaten im Spiegel der Handschriften zu verfo lgen, ja ihm geradezu auf sein Schreibpult zu sehen, wenn sich Entwürfe, erste Fassungen, Reinschriften mit Ko rrekturen usw. erhalten haben. Zudem läßt sich dann feststellen, o b der Auto r eher eine flüchtige Gelehrten- o der gefestigte Kalligraphenhand pflegte. Auch gewähren Vademecum-Handschriften os wie Hand- und Lehrbücher pro minenter Persönlichkeiten des Mittelalters o ft Einblick in ihre individuelle Lektüre- und Lehrgewohnheiten. Für das Rezeptio nsverhalten der Fo lgezeit wurde ebenso die bewußte karo lingische Anknüpfung an spätantike Auszeichnungsgew o hnheiten und Buchf o rmen maßgeblich. Während sich z. B. die Unziale bezeichnenderweise nur no ch in Teilen Italiens und in Ro m bis zum beginnenden 9. Jahrhundert in lebendiger Anwendung befand (Bischo ff 1981, 28 ff) und die spätantiken Majuskeln (Kapitalis und Unziale) anso nsten aber nur no ch für herausragende Schriftzeugen (v. a. Evangeliare) herangezo gen wurden (zum traditio nsbedingten Fo rtleben einer leblo sen und gekünstelten Unziale in spätkaro lingischen und o tto nischen Prachthandschriften: Lo we 1972, 399—416), rangen sie im No rden bis ins 12. Jahrhundert als Auszeichnungsschriften um den pro minentesten Platz innerhalb der Schriftenhierarchie. Klassische Fo rmgebung im Kano n der Kapitalis, die sich so gar an kaiserzeitlichen Inschriften o rientieren ko nnte, so wie Ausbau und Beherrschung vo n bis zu drei- o der vierfachen Schriftsystemen waren dabei Kennzeichen qualitätvo ller Skripto rien (z. B. To urs). Auch war für bestimmte karo lingische Zentren die Wiederbelebung spätantiker Buchfo rmate sympto matisch (Lo rsch/Ferrières), zu denen das quadratische Fo rmat und das dypticho nartige Buchfo rmat (schmales Ho chrechteck) zählten; letzteres erfuhr allein scho n aus ästhetischen und praktischen Gründen intensive Weiterverwendung bis ins Spätmittelalter (Christ 1943, 56), insbeso ndere weil sich sein Fo rmat bestens für Rechnungsbücher eignete, die sich zum Transpo rt bequem in tiefe Manteltaschen stecken ließen. Demgegenüber war der Wiederbelebung der antiken Tachygraphie (tiro nische No ten) zur alltäglichen, schnellen schriftlichen Fixierung vo n No tizen etc. nur kurze Lebensdauer beschieden. Ihre Beherrschung und Anwendung verflüchtigte sich no ch im Laufe des ausgehenden 9. Jahr-

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hunderts. Daneben kam der karo lingische Ordnungswille, den wir scho n bei der Schrift-Co rrectio beo bachten ko nnten, auch in der intensiven Wiederbelebung des Biblio thekswesens, so wie in der Tendenz zum Ausdruck, ho mo gene Buchtypen zu schaffen. Die frühen karo lingischen Biblio theksinventare, die vo r dem 9. Jahrhundert no ch kaum anzutreffen sind (Dero lez 1979, 27; Bischo ff 1981, 213 ff) dürften ein Spiegel der auch durch legislative Maßnahmen gelenkten Neuo rdnung der karo lingischen Klo sterbiblio theken sein (MBK 1932, 164; Go ttlieb 1890, 322). Zum ersten Mal sind nun auch zahlreiche Privatsammlungen karo lingischer Intellektueller und so gar einige Adelsbibli o theken nachweisbar (Th o mps o n 1939, 54 ff. passim; Riché 1981, nr. VIII). Gleichsam als Gegenbild zur äußeren Ordnung war der nun stark aufko mmende Typus des Sammelko dex Ausdruck der inneren Ordnung, die im karo lingischen Buchwesen herrschte. Er ermöglichte es, Gleichartiges zusammenzufassen, reduzierte aber gleichzeitig durch die feste Bindung lo ser Pergamentheftchen ( libelli) ganz erheblich die Gefahr des Verlustes vo n Lagen. Die vergrößerte Überlieferungssicherheit, die die Verdrängung des spätantiken/mer o wingischen Heiligenlibellus durch den im 8. Jahrhundert entstandenen Buchtyp des Passio nals (> ‛Legendar’) erzielte, könnte man geradezu als ’buchgeschichtliche Wende vo n der Mero winger- zur Kar o lingerzeit’ bezeichnen (älteste Handschriften: Philippart 1977, 31; Ko rrektur und Ergänzung: Berschin 1986, 5 f, n. 10). Das Passio nale, das in mo nastischen Kreisen ganz wesentlich das gemeinschaftliche wie individuelle Bedürfnis nach Erbauungsliteratur befriedigte, begann scho n damals ein gro ßer Bucherfo lg zu werden, der in den mehrbändigen Co rpo ra des 12. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreichte, in denen Heiligenviten für das ganze Kirchenjahr vereinigt waren (Berschin 1986, 7 f). Daß man auch in anderen Bereichen geneigt war, inhaltlich geschlo ssene Handschriften herzustellen, zeigen die etwa zur gleichen Zeit entstandenen 30 Grammatikersammelhandschriften vo m Ende des 8. bis ins erste Drittel des 9. Jahrhunderts (Bischo ff 1981, 219), die zahlreichen Handbücher zu den artes liberales und die Kapitulariensammlungen des 9. Jahrhunderts. Bemerkenswert ist überhaupt die gewaltige Steigerung der Buchpro duktio n, die mit dem 9. Jahrhundert einsetzte (2000 Handschriften bis 800, 9000

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Handschriften im 9. Jh.), dann aber im ‛dunklen’ 10. Jahrhundert so wo hl in der Verwaltungs- und Rechtsschriftlichkeit wie in der literarischen Buchpro duktio n einen erheblichen Einbruch erlitt, um im 11. und v. a. im 12. Jahrhundert wieder enorm anzusteigen. Diese materiellen Gegebenheiten hatten natürlich einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auch auf den Lektüreplan der Schulen, dessen allmählicher Wandel im Laufe des Mittelalters hier nicht skizziert werden kann (zur Änderung und Erweiterung des Klassikerkano ns: Glauche 1970). Festzuhalten bleibt aber, daß die o hnehin traditio nell verschiedenen Ausbildungsziele an Klo ster- und Do mschule auch zu verschiedenen Literaturschwerpunkten führten, die sich bisweilen auch in der unterschiedlichen Struktur vo n Do m- und Klo sterschulbiblio theken widerspiegelten. Oft helfen klo ster- und biblio theksgeschichtliche Nachrichten, die o riginäre HandschriftenÜberlieferung und Literaturpro duktio n so wie Mitteilungen aus Biblio thekskatalo gen und so nstigen Bücherverzeichnissen, einen tieferen Einblick in das Lehr- und Lektürepro gramm der Schulen zu gewinnen. Sicherlich haben sich etwa die Ideen des Investiturstreits und der Klo sterrefo rmen im 11./12. Jahrhundert im Lektüreplan der Schulen niedergeschlagen, auch wenn es zu katego risch geurteilt sein dürfte, daß sich die jeweiligen mo nastischen Refo rmrichtungen ebenso gut durch ein eigenes Literaturpro fil ausgezeichnet hätten, wie sie sich etwa nach Habit o der Liturgiegewo hnheiten unterschieden hätten (so Ko ttje 1969). Unbestritten wird man in den Massenklöstern des Cluniazenser- o der Zisterziensero rdens zunächst nur vo n einem gewachsenen Bedarf an liturgischen Texten ausgehen dürfen. Das so nstige Lektürepro gramm v. a. hinsichtlich der Klassiker wird in ganz erheblichem Maße auch durch die Kulturfeindlichkeit bzw. -bejahung des Abtes o der Schulleiters, durch die lo kale Schultraditio n und letztendlich auch durch die individuelle Ausstattung der Klo sterbiblio thek bestimmt gewesen sein. Die Grundlagen hierfür waren natürlich ebenso in der Karo lingerzeit gelegt wo rden, die uns zahlreiche Archetypen hinterließ und überhaupt erst das Überleben so manches Klassikertextes ermöglichte. Erst wieder das Ho chmittelalter brachte es innerhalb der allgemein gestiegenen Ko piertätigkeit zu einer beso nders starken Klassikerüberlieferung, wo bei freilich den auctores maiores gegenüber früher ein merklich größeres Eigengewicht in der Bildung beigemessen wurde. So ist das 12. Jahrhundert zu

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einem herausragenden Jahrhundert der Überlieferung antiker Texte gewo rden (Munk Olsen 1982—1989). Über ein halbes Jahrhundert nach der Entwicklung der Buchminuskel hatte sich die zweite of lgenreiche Schriftentwicklung der Karo lingerzeit vo llzo gen, als die Kanzlei Ludwigs des Deutschen seit 859 ihre traditio nelle Urkundenschrift durch die diplo matische Minuskel zu ersetzen begann. Der Schriftwechsel ist jedo ch nicht das Ergebnis einer weiteren Schrift-Co rrectio , so ndern vielmehr sichtbarer Ausdruck eines Generatio nswechsels in einer eher minderbemittelten Kanzlei, vielleicht auch im Kleinen das augenfälligste Zeugnis für den Zerfall des Karo lingerreiches, in dem nur der kulturell führende Westen unter Karl dem Kahlen das karo lingische Erbe weitertrug, während sich der germanische Osten aus dem Gesamtreich zu verabschieden begann (Kehr 1932, 21). Die Idee, eine Buchschrift im Urkundenwesen zu verwenden, erwies sich allein scho n wegen ihrer leichten Erlernbarkeit und bequemen Handhabung als tragfähig und dauerhaft: Die diplo matische Minuskel wurde zur wesentlichsten Urkundenschrift der ho chmittelalterlichen Kanzleien. Seit dem 10. Jahrhundert ko mmt sie auch in der westfränkischen Kanzlei zur Anwendung.

4.

Zwischen Wissenschaft, Gottverlangen und Weltgetriebe. Wandlungen im Hoch- und Spätmittelalter

In der vielgestaltig gewo rdenen Welt des Ho chmittelalters, die ähnlich schrift- und gattungsinno vativ wie die Karo lingerzeit wurde, vo llzo g sich im Übergang zur go tischen Zeit des Spätmittelalters auf breiter Fro nt eine abendländische Kultur- und Bildungsrevo lutio n, die die einschneidendsten Veränderungen im Schrift- und Buchwesen überhaupt bewirkte. So ziale, wirtschaftliche, geistige und geistliche Entwicklungen, die sich freilich größtenteils scho n im 11./12. Jahrhundert angekündigt hatten, erschlo ssen dem wichtigen kulturellen Aspekt der Schriftlichkeit völlig neue Haltungen und Trägerschichten. Lesen und Schreiben begannen sich nach ihren traditio nellen Gebrauchsfeldern und -fo rmen immer mehr zu differenzieren und wurden zugleich lebensbestimmende Funktio nen für den einzelnen wie für die Gesellschaft (Hajdu 1931), seitdem der wirtschaftliche und so ziale Aufstieg neuer Schichten das Alltagsleben

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ko mplexer gestaltete und die tiefgreifenden Wandlungen in Kirche und weltlicher Herrschaft seit dem Investiturstreit die Lebensfo rmen stärker zu reglementieren begannen. Damit setzte im Spätmittelalter eine beispiello se Verschriftlichung und Verrechtlichung der Gesellschaft ein, in der die do kumentierende, argumentierende und legitimierende Schriftfo rm immer erheblicher wurde und ihrem Besitzer entscheidende Rechtsvo rteile verschaffte (zur explo sio nsartigen Ausbreitung der allgemeinen Schriftlichkeit seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts: Keller 1990). Ein gutes Beispiel dafür, wie sehr die Schriftlichkeit in den Dienste vo n Rechtsgleichheit und No rmenko ntro lle gestellt wurde, liefern etwa die neuen mo nastischen Gro ßo rganisatio nen des Ho chund Spätmittelalters: Um die permanente Refo rm, ja überhaupt die no rmative Leitung des jeweiligen Ordens und die Ko mmunikatio nsfähigkeit unter den einzelnen Gliedern aufrechterhalten zu können, waren verschriftlichte No rmen nötig gewo rden, die auf völlige Einheitlichkeit drängten (Melville 1991, Schreiner 1992). Ebenso war das Bedürfnis nach schriftlicher Ko mmunikatio n gestiegen, was sich z. B. in den zahlreichen ho ch- und spätmittelalterlichen Briefsammlungen niederschlug. Natürlich wurde die Schrift in zunehmenden Maße auch der städtischen und landesherrlichen Verwaltung und Kanzleihaltung dienstbar gemacht, die im Pro zeß der spätmittelalterlichen Verstädterung und Territo rialisierung v. a. im 14. Jahrhundert zahlreiche neue Fo rmen vo n Geschäftsschriftgut hervo rbrachten (Pitz 1959; Patze 1970: Stadtbücher, Rats- und Gerichtspro to ko lle, Steuerlisten, Verwaltungsunterlagen, Register, lo kale Rechtsgewo hnheiten etc.). Und selbst bei traditi o nell mündlichen o F rmalhandlungen wie etwa der Beeidung beim Vertragsabschluß zweier Herrscher erhielt die schriftliche Beurkundungsfo rm seit dem 12. Jahrhundert immer mehr Eigengewicht (Heinemeyer 1936, 356 f). Daneben förderte freilich auch der spätmittelalterliche Hang zum Theo retisieren die Verschriftlichung verschiedenster Lebensbereiche in nicht unerheblichem Maße, so daß z. B. völlig neue Fo rmen der pragmatischen Traktatliteratur, v. a. in Fo rm der flo rierenden Artes-Literatur, schriftliche Anleitung in allen nur erdenklichen Betätigungsfeldern gaben (ars dictandi: Briefwesen; ars notaria: Kanzleiund Beurkundungspraxis; modus scribendi: Schriftwesen; ars praedicandi: Predigtwesen). Diese tiefgreifenden Veränderungen im Bereich der Schriftlichkeit sind nur in ihrem

IV. Schriftkulturen

Wechselverhältnis zu den Wandlungen der Bildungsstrukturen zu verstehen: Ebenso wie südlich der Alpen, wo es z. B. stets ein laikales No tariatswesen gegeben hatte, wurde nun auch in den anderen Teilen des Abendlandes der Laienstand mit wachsender Schriftlichkeit zunehmend lese- und schreibkundig. So blieb die Fähigkeit schreiben zu können nicht mehr alleine dem geistlichen Stand vo rbehalten, so ndern ero berte sich neben den alten kirchlichen Einrichtungen (Klo ster/Do mschule) als neue schreibintensive Bereiche die z. T. hieraus hervo rgegangenen Universitäten und Ko mmunalschulen samt ihrem berufsgebundenen Umfeld. Damit ging dem Klerus das frühmittelalterliche Bildungs- und Schriftmo no po l verlo ren: War die Schriftlichkeit bislang nur auf wenige Gebrauchsfelder beschränkt gewesen (liturgische und theo lo gische Bücher; Urkunden), so wurde sie nun aus ihrem relativ iso lierten Dasein in neue Bereiche getragen, deren Bedürfnisse mit z. T. völlig neuen Schrift- und Buchfo rmen befriedigt werden mußten. Da in den aufstrebenden Städten seit dem 13. Jahrhundert der Bedarf an Schreibund Lesekundigen in Kanzlei-, Verwaltungsund Buchführungswesen, in Handel (Pirenne 1951, 22 ff: Kaufmanns- und Rechungsbücher, Handelsko rrespo ndenz) und Handwerk immer mehr Bedeutung gewann, entstanden zahlreiche kleine Schulen, an denen die no twendigen Grundkenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen vermittelt wurden (Ennen 1976). So sind z. B. scho n früh (12./13. Jh.) Kaufmannsschulen im blühenden flandrischen Raum und in der wichtigen Ostseestadt Lübeck (St. Jako bi, 1252/62) zu beo bachten. No ch früher hatte freilich das traditio nelle Laiengelehrtentum in den o beritalienischen Ko mmunen Schreib- und Grammatikschulen für Laien eingerichtet. Eine ebenso neue schulische Einrichtung bildeten die pro fessio nellen Schreibmeister, die o ftmals vo n einem Ort zum andern wanderten, um jeweils ihren Schulund Schreibunterricht an po tentielle Kunden verschiedenen Alters zu vermitteln (zu ABCSchulen: Bischo ff 1966, 76). Bemerkenswert erscheint uns die Akzentverschiebung im Erziehungsplan dieser Schulen, die den ehemals kirchlichen Unterrichtssto ff zugunsten einer berufsbezo generen Ausbildung im Sinne bürgerlicher Interessen aufgaben und einer Säkularisierung der Bildung Raum bo ten, wie sie das ganze Mittelalter nicht gekannt hatte. So ist auch zu verstehen, warum sich die o ft geistlichen Lehrer heftig gegen die neuen Lehrinhalte wehrten und die Stadtschulen no ch lange

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Zeit reine Lateinschulen blieben (Lucas 1969, 78 ff). Der Stellenwert, den die Schriftlichkeit inzwischen erlangt hatte, mag allein daraus ersichtlich werden, daß zum ersten Mal seit der Antike wieder Berufsschreiber dem Laienstand entstammten und sich das öffentliche Schreibwesen in immer spezifischere Berufe auffächerte (scribae cathedrales, notarii publici etc.). Neben den weltlich-pro fanen Erfo rdernissen der neuen ‛bürgerlichen’ Gesellschaft so rgten im geistlichen Bereich die gesteigerte Predigttätigkeit und vertiefte Religio sität der neuen Orden (D o minikaner/Franziskaner; Mystik), so wie die tiefe Vo lksfrömmigkeit für einen eno rmen Buchbedarf. Den o rdensinternen, aber auch individuellen meditativen wie erbaulichen Lesebedürfnissen des Vo lkes, die übrigens auch das traditio nelle Leseverhalten grundlegend veränderten (statt lautem leises Lesen: Saenger 1982), trug eine gewaltige lateinische, später auch vo lkssprachliche Pro duktio n vo n Brevieren und Stundenbüchern (seit 13. Jh.), Armenbibeln (seit Mitte des 13. Jahrhunderts, Schmidt 1959), Specula (z. B. Speculum humanae salvationis = Heilsgeschichte in Reimpro sa, seit Anfang des 14. Jahrhunderts), und Legendaren Rechnung. Insbeso ndere ist an die verschiedenen Legendae zu erinnern, vo n denen die des Jaco bus de Vo ragine wegen ihrer euro paweiten Überlieferung und zahlreichen ov lkssprachlichen Übersetzungen die erfo lgreichste wurde (über 1000 mittelalterliche Handschriften). Das Interesse an lateinischen Texten und v. a. auch an vo lkssprachlichen Übersetzungen lateinischer Werke o der so gar an o riginär vo lkssprachlichen Texten, die bislang ausschließlich dem mündlichen K o mmunikatio nsbereich angehört hatten und erst in ihrer verschrifteten Fo rm literaturfähig gewo rden waren (→ Art. 41), war aber nicht allein nur in den adeligen Kreisen gewachsen. Die Schicht der Rezipienten derartiger Texte war v. a. breiter gewo rden, seitdem auch das geho bene Bürgertum in den Besitz vo n Handschriften gelangte. Hierin ko mmt ein eno rmer Gesinnungswandel zum Ausdruck, weil sich zum ersten Mal eine blo ße Hilfssprache zur Eigenständigkeit emp o rgeschwungen hatte und nicht mehr nur dem Erlernen und Verständnis vo n Latein und lateinischen, v. a. theo lo gischen Texten diente. Latein hatte mit anderen Wo rten seine Mo no po lstellung als Literatursprache verlo ren. Freilich wurde die neue Literatur no ch häufig vo n lateinisch gebildeten Klerikern geschrieben und verfaßt, im Spät-

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mittelalter aber immer mehr vo n gelehrten Laien. Deshalb verdankten die vo lkssprachlichen Werke ihre Literaturfähigkeit in der Regel der mittellateinischen Grundlage, die gattungs-, stil-, ja buchspezifisch vo rbildhaft wirkte. Ein gutes Beispiel alleine aus dem Bereich der Buchgattungen sind etwa die deutschen Liederhandschriften des ausgehenden 13. und 14. Jahrhunderts, die in den viel älteren lat. Lieder- und Gedichtsammlungen (z. B. den Carmina Burana, ca. 1230) ihr Vo rbild gehabt haben dürften. Als Urkunden- und Geschäftssprache jedo ch setzte sich die deutsche Sprache im Gegensatz zu anderen Natio nalsprachen wie Angelsächsisch o der Pro venzalisch erst spät in den mittelalterlichen Kanzleien durch — letztendlich erst in dem Augenblick, als es vo r dem Hintergrund der zunehmenden Rechts- und Urkundfähigkeit der unteren Bevölkerungsschichten on twendig wurde, den Urkundentext in der Vo lkssprache zu verlesen und zu erklären, weil Latein in diesen Kreisen nicht verstanden wurde (seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts: Hirsch 1938, 233; Kirchho ff 1957). Daher sind die ältesten Zeugnisse einerseits beim niederen Adel zu finden, der keine eigenen Kanzleien unterhalten ko nnte und gezwungen war, Urkunden in einfacher Fo rm herzustellen, und andererseits in den Urkunden der Städte und in den Geschäftsurkunden des aufstrebenden Bürgertums, wo die Nutzung der Vo lkssprache den praktischen Bedürfnissen entgegenkam. Dementsprechend langsam zo gen die lateinisch geprägten Klöster nach (zum städtischen Bereich: Merkel 1930, Skrzypczak 1956). Neben der weltlich-materiellen Nutzanwendung vo n Schrift und ihrer Indienstnahme für religiöse und erbauliche Zwecke eröffnete sich mit dem Studienbetrieb der entstehenden Universitäten ein dritter gro ßer Bereich der spätmittelalterlichen Schrift- und Buchkultur. Vo r allem seitdem sich der Fächerkano n an den Ho hen Schulen gewandelt hatte und an die Stelle des traditio nellen Artes-Studiums vermehrt philo os phische Lehrinhalte getreten waren (Köhn 1986), hatte sich die Buchlandschaft der wissenschaftlichen Literatur entscheidend verändert. Insbeso ndere in den Städten der gro ßen alten Universitäten entwickelte sich daraufhin im 13. und 14. Jahrhundert das so g. Pecienwesen, das eine o rganisierte und ko ntro llierte Vervielfältigung vo n studienrelevanter juristischer, kan o nistischer und the o ol gischer Literatur ermöglichte. Dazu wurden ko rrigierte No rmalexemplare der Universität bei den beauftragten stationa-

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rii verwahrt, die alleine die Aufgabe hatten, die Texte zum Abschreiben an die Studenten ‛pecienweise’ auszuteilen (Destrez 1935; Po llard 1978). Im 15. Jahrhundert jedo ch verschwand diese Einrichtung, da sich der Studienbetrieb gewandelt hatte und die Studenten ihre Vo rlesungsmitschriften z. B. nach Diktat des Magisters anfertigten. Auf jeden Fall flo rierte das im Dienste der universitären Buchbedürfnisse stehende Schreibgewerbe ganz außergewöhnlich und wurde in den wichtigsten Zentren bald so bedeutend, daß es seine Buchpro duktio n nach dem jeweils beso nderen Schwerpunkt der Lehre abstimmte. So brachte es etwa in Paris, dem Zentrum der Theo lo gie, und in Bo lo gna, dem der Rechtsstudien, spezifische Buchtypen wie die Pariser Taschenbibel (13. Jh.: Bischo ff 1986, 44; zu glo ssierten Pariser Bibeltexten, 12. Jh.: De Hamel 1984) o der den Bo lo gneser Rechtsko dex hervo r. Oft wurden diese Bucherzeugnisse so gar in einem eigens entwickelten lo kalen Schrifttyp geschrieben, der fo rmbildend für andere Schriftausprägungen war und o ft nach seinem Entstehungso rt benannt wurde (lo kale Schrifttermini im 13. Jh. z. B. littera Bononiensis/Parisiensis). Zweifello s erreichte die gewerbliche und in diesem Maße nie zuvo r pro fito rientierte Buchherstellung in den herausragenden Universitätsstädten ihren Höhepunkt. Allein scho n die allenthalb neu entstehenden Aufgabenfelder im Buchmetier führten zu einer gewaltigen Ko mmerzialisierung der Schriftlichkeit und zu einer außero rdentlichen Spezialisierung der damit verbundenen Berufe (stationarius — pro fessio neller Verleger: Widmann 1975, 32 f; Buchhändler — ca. 1170 zum ersten Mal erwähnt: Kirchho ff 1853; Buchverleiher, -binder und -illuminato r). Das berufsmäßige Schreiben erfaßte letztendlich so gar geistliche Gemeinschaften wie die der Brüder vo m Gemeinsamen Leben, die sich mit dem Schreiben vo n Büchern ihren Lebensunterhalt verdienten. Freilich hatte unterdessen die spätmittelalterliche Lesewut in so lchem Maße Kirche, Mönchtum und Wissenschaft, aber ebenso weite Teile der Bevölkerung ergriffen, daß sich die Buchpro duzenten gezwungen sahen, ihre Schreibtätigkeit zu mechanisieren und öko no misieren. Nach eher zögerlichen Versuchen ging man scho n bald zu einer Massenpro duktio n der aktuellen Literaturen über, mit der das Buch zum ersten Mal eine Öffentlichkeit und Gleichartigkeit erreichte, die erst der Buchdruck übertreffen so llte. Beso nders juristische Texte, aber auch elementare Schulbü-

IV. Schriftkulturen

cher, die sympto matisch für die Akzentverlagerung in der Bildung der spätmittelalterlichen Gesellschaft waren, müssen reißenden Absatz gefunden haben. Um vo n Anfang an eine möglichst gro ße Einheitlichkeit der Texte und eine schnellere und damit zugleich ko stengünstigere Fertigung zu gewährleisten, wurden beso nders die Texte der vielbenutzten, vo n Anfang an auf Verschleiß angelegten Stundenbücher, Breviere, Regelbücher, und v. a. Schulbücher o ft nach Art der späteren Druckbo gentechnik auf gro ße Pergamentblätter geschrieben, die anschließend gefaltet und aufgeschnitten wurden (Samaran 1976). Überhaupt scheinen im ko mmerziellen Bereich größere Schnelligkeit und höhere Pro duktio nsleistungen und natürlich die allgemein gestiegene Schriftlichkeit die auch so nst feststellbaren Öko no misierungstendenzen kräftig gefördert zu haben. Häufig wurden nun kleinere und engere Schriften verwendet, die zugleich ein kleineres Buchfo rmat ermöglichten, das o hnehin wegen seiner Handlichkeit sehr beliebt war (Taschenevangeliare, Ordensregeln, No tizbücher, Glo ssare o . Erbauungsschriften). Oder man versuchte, Platz auf dem teuren Pergament zu sparen, indem man den Zeilenabstand verringerte und die Zeilenzahl vermehrte. Außerdem gelang es durch eine o ft extreme Steigerung der Abkürzungen, erheblich mehr Text auf der gleichen Seitenzahl unterzubringen, o der man wählte einfach dünnere Pergamentso rten, die es erlaubten, mehr Blätter in einem gleichstarken Buch unterzubringen. Die Vielschreiberei und das Bedürfnis nach Schnelligkeit etwa bei Vo rlesungsmitschriften förderte freilich seit dem 13. Jahrhundert die Wiederentstehung einer praktischen Kursive, nachdem das Mittelalter bis auf kleinere Glo ssenschriften ganz o hne Gebrauchsschrift ausgeko mmen war. Im 14. Jahrhundert gehörten dann Kursive und der sich seit dem 13. Jahrhundert allgemein ausbreitende Beschreibsto ff Papier, der neben dem Papyrus der zweite o rientalische Beschreibst o ff war (Santifaller 1953, 133—52), gewissermaßen zusammen (→ Art. 8, 12). Da Papier leichter zu handhaben und billiger in der Anschaffung war, förderte es no chmals in erheblichem Maße die Vielschreiberei. Das Spätmittelalter hatte aber nicht nur eine neue Haltung zum Schreibpro zeß gewo nnen, so ndern ebenso im Hinblick auf die Fo rmung der Schriften sein Schriftbewußtsein radikal verändert. Im Zuge eines allmählichen, ganz unmerklichen Stilwandels, der an den Stilwechsel der bildenden und darstellenden

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Kunst erinnert (kar o lingische/ o o tt nische/r o manische/go tische Kunst) hatte sich die vo n Schreibergenerati o n zu Schreibergenerati o n weitergegebene karo lingische Minuskel in ähnlicher Weise verändert. Zum ersten Mal hatte sich mit der neuen go tischen Minuskel eine Schriftentwicklung allein auf der ko nstruktiven Grundlage einer kalligraphischen Minuskel vo llzo gen, während bislang die Neuentwicklungen im lateinischen Schriftsystem (Unziale, Halbunziale, karo lingische Minuskel) stets Kalligraphisierungen vo n jeweils weiterentwickelten flüchtig geschriebenen kursiven o der halbkursiven Schriften waren, eine schriftgeschichtliche Erscheinung, die erst wieder bei der spätmittelalterlichen Bastarda als kalligraphisierter go tischer Kursive zu beo bachten sein wird (→ Art. 12—14). An die Stelle vo n Harmo nie und Ausgewo genheit in der Raumaufteilung zwischen Buchstaben und Zeilen trat die Tendenz zur Verdichtung der Schrift, deren Buchstaben in systematischer Weise o rganisiert wurden. Damit strebte man in der visuellen Präsentatio n der go tischen Schrift nach einer Verdeutlichung (manifestatio) der geo rdneten, lo gischen Struktur der Buchstaben, wie man im scho lastischen Denken der Zeit die geo rdnete und lo gische Gedankenführung als die allein gültige Denkgewo hnheit ( modus operandi) und als vo rnehmstes Ordnungsprinzip verstand (Fichtenau 1946, 186 ff., Marichal 1963, 231—41). Denn auch die menschliche Perzeptio n vo n Schrift auf der Ebene der reinen Sinneswahrnehmung galt als eine Fo rm vo n Ratio nalität, so wie sich die Erklärung des Glaubens aus reiner Vernunft — als einem geschlo ssenen, unabhängigen, aber nicht geo ffenbarten Gedankensystem — in ratio naler Ordnung vo llzo g. Auf diese Weise fand die scho lastische Gedankenstruktur ihre Widerspiegelung in einer ihr artverwandten graphischen Darstellung: Wie auch die similitudines im Gedankenschematismus eine innere Parallelität der Gedanken o ffenbarten (Ho mo lo gie), so fand sich dieses ratio nale Prinzip im Rahmen der mo rpho lo gischen, lexikalen und sprachlichen Umgestaltung des nach äußerster Prägnanz strebenden sch o lastischen Lateins (Anal o giebildungen durch Anhängung gleicher Suffixe, parallele Neubildungen, V o rliebe für parallelismus membrorum und Reimpro sa) und zudem durch die Gleichbehandlung der Buchstabenschäfte in einer äußeren Parallelität der die Gedanken und Wo rte umfassenden Fo rmen wieder. Damit wurde die go tische Schrift in ihrer reifen Ausprägung zu einem System vo n

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gleichwertigen Teilen. Wie in der gespro chenen Anwendung des scho lastischen Lateins, war auch bei der schriftlichen Niederlegung der dialektischen Gedankenführung, die immer ko mplizierter wurde, Überschaubarkeit o berste Pflicht. So entwickelte man v. a. in der wissenschaftlichen theo lo gischen und juristischen Literatur neben der eben angespro chenen inneren Gedanken- und Sprachstruktur ( forma tractatus) eine darauf abgestimmte äußere Textstruktur ( forma tractandi), durch die dem Leser der Denkpro zeß in derselben Weise erläutert wurde, wie seinem Intellekt das eigentliche Wesen des Glaubens o der des jeweiligen Rechtsinhalts verdeutlicht werden so llte (zur spätmittelalterlichen Buch‘architektur’: Palmer 1989; Abb. 40.2). Das neue Buchlayo ut war natürlich auch inso fern ein Spiegel der neuen Lese- und Studiergewo hnheiten, als dadurch die o ptische Memo rierfähigkeit gesteigert wurde und sich wichtige Textstellen schneller finden ließen, was vielleicht in den lo gisch strukturierten und hierarchisierten Summen (Dempf 1925) und Enzyklo pädien des Spätmittelalters am deutlichsten zum Ausdruck kam. So mit hatte alles menschlich Wahrnehmbare seine ihm allein zugewiesene Stelle im mittelalterlichen Ko smo s, dessen rechte Ordnung sich in der Buchund Textstruktur widerspiegelte: Während im Makro ko smo s der lateinischen Schriften der jeweilige Schrifttyp nur mit dem ihm zugehörigen Buch- und Urkundentyp als ein harmo nisches Ganzes empfunden wurde, hatte selbst der jeweilige Buchstabentyp im Mikro ko smo s des lateinischen Textes die ihm gemäße Stelle einzunehmen. Nur so wird es verständlich, warum zum ersten Mal in der Zeit, die die gesamte erfaßbare Welt zu systematisieren und summieren versuchte, die vielgestaltig gewo rdene eine lateinische Schrift in ein festeres Namensschema gefügt und eine der spätmittelalterlichen Schriftenvielfalt entsprechend gro ße Namensvielfalt entwickelt wurde. Die ungeheure Starre, die sich freilich mit der go tischen Schriftfo rmung anbahnte, vermo chte erst das 15. Jahrhundert durch klarere Fo rmen zu überwinden. Do ch hatte gerade der Humanismus in seiner ganzen Antikenseligkeit die bislang o rganisch verlaufene Entwicklung der lateinischen Schrift künstlich unterbro chen, als er mit der Rezeptio n der karo lingischen Minuskel versucht hatte, eine vermeintlich antike Schrift wiederzubeleben, um sie zur internatio nalen Kulturschrift zu machen. Die hieraus hervo rgegangene humanistische Minuskel war gegenüber den stets mit

IV. Schriftkulturen

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Abb. 40.2: Gotischer modus operandi . Das vielleicht ausgeklügeltste Seitenlayout in den hochmittelalterlichen Kommentarhandschriften plaziert die allein wichtige Glosse in das Zentrum der Seite, während die Textgrundlage (in größerer Schrift) an den Rand wandert. Zitate im Kommentar sind rot unterstrichen, theologische Autoritäten sentenzenhaft zitiert und mit einem Verweissystem aus roten Punkten und Strichen über die marginal angeführten Siglen erschließbar (ag = Augustinus, ca = Cassiodor, IeR = Hieronymus, Rem = Remigius v. Auxerre). Petrus Lombardus, Commentarii super Psalmos . Oxford, Bodleian Library, Ms. Auct. D.2.8 (S. C. 2337), fol. 105 r , England, saec. XIIex. (aus: M. B. Parkes, „The Influence of the Concept of Ordinatio and Compilatio on the Development of the Book“, Medieval Learning and Literature . Essays presented to Richard William Hunt, Oxford 1976, Taf. 9).

Leben erfüllten mittelalterlichen Schriften eine ähnlich leblo se Hülle (vgl. Abb. 12.29) wie die wiedererschaffenen humanistischen Sprachund Stilmo delle ein Gegenbild zur Lebendigkeit des bis zur Scho lastik anpassungsfähig gebliebenen mittelalterlichen Lateins waren. Beide humanistischen Ausdrucksfo rmen zeugen vo n einer ähnlich entseelten Künstlichkeit, die immer dann eintritt, wenn eine Kulturentwicklung zu ihrem Ende geko mmen ist und zum Objekt erster wissenschaftlicher Betrachtungen wird: Denn schließlich setzten sich die Humanisten nicht nur mit der klassischen antiken Grammatik und Sprache auseinander, so ndern rezipierten ebenso antike Buch- und Inschriftenschriften und begannen, über die Geschichte des lateinischen Schriftsystems nachzudenken (Casamassima 1964). Do ch wurden die humanistischen Ansätze zur Schriftbetrachtung erst in Jean Mabillo ns epo chalem Wissenschaftswerk De re diplomatica

(1681) zu einem Wissenschaftssystem gebündelt, aus dem unsere mo dernen Disziplinen Diplo matik und Paläo graphie hervo rgegangen sind.

5.

Methoden, Ergebnisse und Desiderate der Forschung

Die paläo graphische Ordungsgröße ‘Skripto rium’, die sich für die frühmittelalterliche Schriftlichkeit als griffige Katego rie kunstgeschichtlicher wie paläo graphischer Untersuchungen erwiesen hat (Delisle 1885, Chro ust 1902—1940, Bruckner 1935—1978, Bischo ff 1974 und 1980) und erst jüngst auch auf die o tto nische und frühsalische Zeit Anwendung gefunden hat (Ho ffmann 1986), dürfte selbst für die zunächst sehr einheitlich wirkende Schriftlandschaft des Ho chmittelalters nutzbar sein. Allerdings fehlen no ch weitgehend

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umfassende paläo graphische und biblio theksgeschichtliche Untersuchungen zu den gro ßen ho chmittelalterlichen Skripto rien, in denen etwa auch spezifische Charakteristika der neuen Orden systematisch herausgearbeitet werden müßten. Im schriftgeschichtlichen Bereich wäre mit der Geschichte der Halbunziale no ch grundlegende Arbeit zu leisten. Ebenso sehr würde sich eine Geschichte der Go tisierung des älteren lateinischen Schriftsystems lo hnen, da sie zahlreiche Wanderungsbewegungen der neuen Schrift etwa vo n West nach Ost aufzeigen könnte. Unter den Hilfsmitteln zur genaueren zeitlichen und örtlichen Eino rdnung vo n Handschriften sind neben zahlreichen älteren Tafelwerken (Übersicht: Bischo ff 1986, 333—6), den natio nalen und lo kalen Katalo gisierungsunternehmungen so wie den Editi o nen mittelalterlicher Bücherverzeichnisse (z. B. MBK, MBKÖ) in beso nderer Weise die Katalo ge der datierten Handschriften/Manuscrits datés (Bischo ff 1986, 12 und 14) zu erwähnen. Zunehmend treten auch ko diko lo gische Studien v. a. zur Einbandkunde in den Vo rdergrund, die o ftmals wesentliche neue Erkenntnisse zur Pro venienz vo n Handschriften ermöglichen. Es ist u. a. der Geschichte der Paläo graphie als Wissenschaftsfach seit Jean Mabillo n (1632—1707) und ihren ursprünglichen — und nach wie vo r gültigen — Zielsetzungen zuzuschreiben, daß die Fo rschungslage ein eindeutiges Mißverhältnis aufweist: So ist eine zunehmend nachlassende Intensität der sto fflichen Durchdringung bei fo rtschreitend jüngerem Material und zugleich wachsender Sto ffmenge zu ko nstatieren, zumal die seit dem Humanismus zögerlich einsetzende schriftgenetische Sichtweise zur chro no lo gischen Betrachtung des Materials zwang und zudem die ersten paläo graphischen Metho den ausschließlich dazu entwickelt wurden, um diplo matische Echtheitskritik üben zu können und die ältesten patristischen und histo rio graphischen Textzeugen für Ausgaben zu erschließen. Wie überall übten naturgemäß auch bei den Schriftdenkmälern die ältesten Handschriften einen beso nderen Reiz aus. Schätzzahlen zum Umfang der uns heute no ch erhaltenen Denkmäler mittelalterlicher Schriftlichkeit sind mit größter Vo rsicht zu handhaben. Alleine bei den frühmittelalterlichen Handschriften, die bis zum Jahre 800 durch das epo chale Oeuvre der Codices Latini Antiquiores erschlo ssen werden, dürfte sich die Ziffer auf etwa 2000 überlieferte Handschriften (und -fragmente, die auch als Handschriften zählen) einpendeln. Ein seit langem vo n B. Bi-

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scho ff (†) in Aussicht gestellter Katalo g sämtlicher Handschriften des 9. Jahrhunderts (Schätzzahl ca. 9000 Handschriften), der vo r seiner Veröffentlichung steht, wird in seiner mannigfachen Katalysato rwirkung kaum zu überschätzen sein. Wir dürfen mit maßgebenden Präzisierungen und Ko rrekturen in der Schriftlichkeits- und Skript o riumsf o rschung rechnen, die v. a. wegen der Rückdatierung zahlreicher Textträger auf das 9. Jahrhundert in der Überlieferungsgeschichte klassischer und mittellateinischer Auto ren etliche ältere Textstemmata in Frage stellen werden. In diesem Zusammenhang kann nur erneut mit Nachdruck die No twendigkeit überlieferungsgeschichtlicher Studien zu bedeutenden mittellateinischen Texten unter quantitativen, chr o on ol gischen und ge o graphischen Gesichtspunkten beto nt werden. Ebenso eröffnen sich neue Fo rschungsfelder, in denen no ch intensive Studien zur Buchgestaltung, letztendlich zum ‛Funktio nieren’ mittelalterlicher Handschriften betrieben werden müssen. Hierbei so llten Fragen im Mittelpunkt stehen, die sich mit dem Wechselverhältnis vo n Text und Bild, dem Sinn und Zweck der Ano rdung und Stellung vo n Bildern in verschiedenartigen Texthandschriften u. ä. beschäftigen (Meier & Ruberg 1980, 9—18). Im Rahmen der Kulturhisto rio graphie wäre zudem eine Geschichte des sich wandelnden abendländischen Schriftbewußtseins im Spiegel seiner Schrifttermini zu schreiben. Eine umfassende Darstellung des Werdens und Wirkens der lateinischen Paläo graphie schließlich bleibt am Ende unseres Jahrhunderts eines der dringendsten Fo rschungsdesiderate der mo dernen Wissenschaftsgeschichte.

6.

Literatur

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Matthias M. Tischler, Heidelberg (Deutschland)

41.  Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in Westeuropa

41.

555

Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in Westeuropa

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Allgemeines Irland England Deutschland Island Frankreich Spanien Italien Rückblick und Ausblick Literatur

1.

Allgemeines

Einige Wo rte zur Begriffsklärung vo rweg scheinen angebracht, zunächst zum Terminus ‘Schriftkultur’. Das Vo rhandensein eines elabo rierten Systems pragmatischer Schriftlichkeit genügt allein nicht, um einen Zustand der Schriftkultur zu ko nstituieren, es müssen Elemente einer Schriftlichkeit hinzuko mmen, die über den Lebensalltag hinausreicht und den Namen ‘literarisch’ verdient. Do ch auch hier wird man nicht scho n beim Auftauchen einiger versprengter Erstlinge vo n Schriftkultur reden können, so ndern erst dann, wenn die schriftliterarische Pro duktio n eine gewisse Quantität erreicht hat. Im fo lgenden wird daher vo n pragmatischer Schriftlichkeit zwar zu sprechen sein, aber meist nur am Rande, im Zentrum wird die literarische Schriftlichkeit stehen. — Der englische Ausdruck literacy ist ins Deutsche nur annähernd übersetzbar (Fro mm 1986, 99, der ihn denn auch unübersetzt stehen läßt; → Vo rwo rt, Zf. 3.2.). Vereinzelt begegnen die Übersetzungen ‘Literarität’ (Bandle 1988, 191) und ‘Literazität’, häufiger ‘Literarizität’ (Curschmann 1984, 221; vgl. auch Kartscho ke 1990, 17 ‘Illiterarizität’) und v. a. ‘Literalität’, ein Terminus, der sich namentlich durch Übersetzungen englischsprachiger Werke einzubürgern scheint und auch in den Überschriften einiger Artikel dieses Handbuchs zu finden ist. Gegen ‘Literarizität’ ist, wenn man den Begriff genügend absichert, nichts einzuwenden (Grubmüller 1989, 43 ff hat ihn im Wechsel mit ‘Literalität’), pro blematisch dagegen ist ‘Literalität’, und das nicht nur deshalb, weil (so Schaefer 1992, 15 Anm. 21) damit englisch literal anklingt, so ndern auch, weil der Terminus mit dem vo n der Typo lo giefo rschung gebrauchten ‘Literalsinn’ ko llidiert. Man wird das Rad kaum zurückdrehen können, aber auf das Pro blem sei wenigstens aufmerksam

gemacht. Um die anderen Abschnitte vo n Wiederho lungen zu entlasten, seien scho n in dieser Einleitung einige die Oppo sitio n vo n Latein und Vulgärsprache betreffenden Mo delle vo rgestellt. Sie haben zwar sämtlich das Deutsche im Blick, dürften jedo ch genügend repräsentativ sein. Haug (1983, 142) sieht fünf grundlegende Oppo sitio nen: (1) Latein vs. Vulgärsprache, (2) Schriftlich vs. Mündlich, (3) Geistlich vs. Pro fan, (4) Klerikal vs. Laikal, (5) Gelehrt vs. Ungelehrt. So nderegger (1985, 65) faßt das Spannungsverhältnis — anders als bei Haug steht auf der einen Seite immer das Latein, auf der andern immer das (geschriebene) Altho chdeutsche — in sieben Aspekte: (1) Bildungssprache vs. Vo lkssprache, (2) Buchsprache vs. Glo ssensprache, (3) Urkunden- und Fo rmularsprache vs. Ergänzungs- und Zusatzsprache, (4) Ausgangssprache vs. Übersetzungssprache, (5) Vo rbildsprache vs. Nachahmungssprache, (6) Schriftsprache vs. Schreibdialekt, (7) Klerikersprache vs. Laiensprache. Bei Kartscho ke (1990, 19) findet sich inso fern eine Reduktio n des Haugschen Mo dells, als er zwar Haugs Paare (1)—(3) übernimmt, die beiden letzten aber auf den Gegensatz Gelehrsamkeit-Laizität verkürzt. Es darf im Vo rgriff behauptet werden, daß in so lchen Kulturen, deren Schriftlichkeit im Zuge der Christianisierung entsteht, die Inhaltso ppo sitio n Geistlich vs. Weltlich eine weit größere Ro lle spielt als in jenen, die erst spät zur geschriebenen Literatur finden. Gesamteuro päische Phäno mene sind die Klo sterrefo rmen, die in verschiedenen Ländern die Gesellschaft in Bewegung geraten lassen und auch eine Umo rientierung der Laien in Richtung Schriftlichkeit mit sich bringen, und die Initiative vo n studierten Männern im Hinblick auf Neuansätze in der Schriftkultur (vgl. Keller 1990, 185 f). Verstärkt hat sich die Fo rschung in den letzten Jahrzehnten den Ro llen des Ho fklerikers und des miles litteratus zugewandt (vgl. bes. 4.2., 4.3., 4.4., 6.1., 6.4.) so wie dem Wandel, dem die inhaltliche Besetzung der Begriffe litteratus und illitteratus im Laufe des Mittelalters unterwo rfen war. Die Ergebnisse der Pio nierarbeit vo n Grundmann (1958) wurden seitdem in mancherlei Hinsicht differenziert und relativiert, Nuancen und Zwischenf o rmen zwischen beiden Begriffen herausgearbeitet (vgl. bes. Clanchy 1979, 177 ff; Scho lz 1980,

IV. Schriftkulturen

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228; Wehrli 1984, 47 ff; Zumtho r 1985, 2; Bumke 1986, 607 ff; Fro mm 1986, 104; Green 1990 b, 274 f; und den Fo rschungsbericht vo n Bäuml 1986, passim). Zu beachten ist das allmähliche Ineinandergreifen der Gegensatzpaare litteratus-illitteratus, Klerikal-Laikal und Schriftlich-Mündlich. Bereits im Ho chmittelalter trifft die Gleichung laicus = illitteratus nicht mehr zu (vgl. Henkel 1991; vgl. auch Keller & Wo rstbro ck 1988, 394). Wie auch innerhalb des lateinischen Bereichs Mündliches und Schriftliches in eine Wechselbeziehung tritt, hat für die kirchliche Latinität in gro ßem Rahmen Sto ck (1983) gezeigt; für ein Teilgebiet wie die Interaktio nstechnik des Briefschreibens vgl. etwa Köhn (1986 a) und v. Mo o s (1991); zu Bildungswesen und Unterricht vgl. Grubmüller (1989, 46 ff). Die Beziehung Mündlichkeit-Schriftlichkeit wird aber vo r allem innerhalb der ov lkssprachlichen Schriftkultur zum Pr o blem, wie die einzelnen Abschnitte dieses Artikels do kumentieren. Literatur dieses gemischt-kulturellen Zustands, in dem Mündlichkeit no ch herrscht und Schriftlichkeit scho n auftritt und den man mit ‘seco ndary literacy’ (Co nquergo o d 1983, 128) o der ‘Vo kalität’ (Schaefer 1992) bezeichnet hat, ist stets auch auf das Ausmaß ihres o ralen Anteils hin zu analysieren, und so wo hl in sehr frühen Ko ntaktzo nen als auch in recht späten Stadien, in denen die Schriftkultur scho n fest etabliert ist, begegnen wir in fast allen Literaturen einer fingierten, mit Elementen der Oralität als Versatzstücken spielenden Mündlichkeit (vgl. Scho lz 1975; 1980, 84 ff; Schlieben-Lange 1987, 787; so wie einzelne Abschnitte dieses Artikels). Auch auf der Seite der Rezipienten beginnt das Pro blem mündlich-schriftlich im Mittelalter — in den einzelnen Literaturen in verschieden starkem Grad und zu unterschiedlichen Zeiten — virulent zu werden. Die Auto ren fangen an, mit dem Leser zu rechnen als einem Pendant zu ihrer eigenen Literarizität, wie zahlreiche Zeugnisse beweisen. Ob ihre Werke auch tatsächlich gelesen wurden, ist eine angesichts der schmalen Bezeugung schwerer zu beantwo rtende Frage (vgl. u. a. Scholz 1980; Wendehorst 1986; Illich 1991). Einen bedeutenden Schritt in der Qualität mittelalterlicher Schriftkultur stellt das Erscheinen des Ro mans dar. Gerade er rechnet auch mit dem Leser, do ch dürfte die These, das neue Genre wo lle nicht mehr eine Dichtung für Hörer sein (de Riquer 1959, 78 f; Vinaver 1963/64, 479), in dieser Allgemeinheit

kaum standhalten. Der Akt der Fiktio nalisierung und die Geburt des eindeutig vo m Auto r geschiedenen Erzählers aber (vgl. 4.4., 6.4.) sind Inno vatio nen, die vo n nun an die Gattung begleiten (vgl. Scho lz 1980, 1 ff; Paden 1983, 93 ff). Der gegenüber den bis dahin existierenden narrativen Genres weit höhere Grad an Ko mplexität des Dargestellten, die andersartige Erzähltechnik, die — den einzelnen Text überschreitend — den Vertretern der neuen Gattung, zuerst und namentlich Chrétiens Ro manen, den Charakter der Intertextualität verleiht (Uitti 1985 a, 250), zeugt nicht nur für ein Stadium pro gressiver Schriftlichkeit, so ndern bringt zugleich einen radikalen Wandel in der Art der literarischen Erfahrung, ein verändertes Rezeptio nsverhalten mit sich (Vinaver 1963/64, 488). Vo n überregio naler Bedeutung sind auch die Ro lle der Lyrik in der Schriftkultur (eine Relatio n, die man nicht o hne weiteres erwartet, vgl. 4.5, 5, 6.6), das Verhältnis vo n Vers und Pro sa (vgl. 5, 6.5) und das in vielen Literaturen zu beo bachtende Streben nach einer Ko iné, nach (zumindest tendenzieller) Standardisierung und No rmierung der Literatursprache (vgl. 3.2, 4.5).

2.

Irland

Aus dem keltischen Bereich so ll hier nur das Irische behandelt werden. Wegen der extrem frühen und überaus reichhaltigen Überlieferung stellt Irland einen Mo dellfall mittelalterlicher Schriftkultur dar (die frühesten kymrischen Schriftzeugnisse gehören erst dem 9./ 10. Jahrhundert an; vgl. Tristram 1989, 13). Das traditio nelle Bild ist das einer alten, illiteraten Gedächtniskultur, der mit der Christianisierung zunächst eine lateinische, dann eine vo lkssprachliche Schriftkultur an die Seite getreten sei. Die Träger der alten Kultur und Hüter der heimischen Traditio n, die Druiden und, nachdem diese ihre Hauptfunktio n, das Priesteramt, durch die Ko nversio n Irlands verlo ren hatten, ihre Nachfo lger, die filid (‘Dichter’, ‘Seher’), beides Vertreter eines straff o rganisierten und ko mpliziert strukturierten Systems mündlicher Bildung, seien nach der Begegnung mit der christlichen Schriftlichkeit in einen fruchtbaren Austausch mit dieser getreten und hätten mit ihrem Fundus o raler Dichtungstraditio n zur eigentümlichen Prägung der irischen vo lkssprachlichen Literatur beigetragen (zur Gedächtnisund zur Schriftkultur vgl. zusammenfassend Gaechter 1970, zu den filid neuerdings Tris-

41.  Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in Westeuropa

tram 1989, 34 ff). — Dieses gängige Bild ist in letzter Zeit wesentlich nuanciert und z. T. auch ko rrigiert wo rden, o hne daß ein Ko nsens erreicht wo rden wäre zwischen den eher harmo nisierenden ‘Nativisten’ und den einen beim Zusammentreffen der beiden Kulturen entstandenen Traditi o nsbruch verfechtenden ‘Latinisten’ (vgl. Tristram 1989, 37 f). — Seit der Missio nierung im 5. Jahrhundert ist fast vo n Anfang an ein Nebeneinander, wenn nicht gar eine enge Symbio se vo n literater Mönchskultur und filid-Kultur zu beo bachten. Letztere scheint freilich nicht in dem Maße illiterat gewesen zu sein, wie man bis vo r kurzem annahm. Gewiß sind auch in Irland Dichtung und Recht lange o ral tradiert wo rden, do ch dürften die Iren die Schriftlichkeit — zumindest als Hilfstechnik — bereits im 2. o der 3. Jahrhundert, zunehmend dann im 4. und 5. Jahrhundert entwickelt und die filid dabei eine entscheidende Ro lle gespielt haben (Stevenso n 1989, 143 ff). D. h., daß die römische Kultur auch an Irland nicht spurlo s vo rübergegangen ist. Frühe Inschriften (spätestens 5. Jh.) in der eigentümlichen OgamSchrift, die nicht o hne lateinisches Vo rbild entstanden sein kann, zeigen, daß die Iren vo n den Römern, mit denen sie in Handelsbeziehungen standen, auch die ersten Ansätze einer Schriftkultur geerbt haben (Stevenso n 1989, bes. 128; 139 ff; Tristram 1989, 14 ff). — Die ersten Zeugnisse lateinischer Pro sa stammen aus dem 5. Jahrhundert, do ch müssen die Anfänge lateinischer Schriftlichkeit in Irland ebenfalls vo r der Christianisierung, spätestens für das 4. Jahrhundert angesetzt werden (Stevenso n 1989, 120; 165). Institutio nalisiert wird sie dann durch die Klöster, vo ll durchgesetzt hat sie sich um 600 (Stevenso n 1989, 152 f). Scho n im 7. Jahrhundert haben die Klöster reiche Bestände an Handschriften (Gaechter 1970, 20). — Sehr früh scho n wird auch die vo lkssprachliche Schriftkultur in den Klöstern heimisch. Es gibt Anzeichen dafür, daß es gerade Angehörige der gebildeten Schicht der filid waren, die als erste den Schritt zum Christentum vo llzo gen haben (Stevenso n 1989, 151). Bereits für das späte 6. Jahrhundert kann man vo n so etwas wie einer durch die filid standardisierten Literatursprache reden (Ó Co ileáin 1985, 530; Stevenso n 1989, 129 f). U. a. dieser Umstand läßt es ratsam erscheinen, den Beginn einer vulgärsprachlichen Schriftkultur nicht erst wie Gaechter (1970, 24) auf den Anfang des 7. Jahrhunderts anzusetzen. Literatur in der Vo lkssprache ist in Irland spätestens im 6. Jahrhundert aufgeschrieben wo rden, und da-

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mit geht dieses Land jeder anderen westeuro päischen Literatur um mindestens ein Jahrhundert vo ran (Stevenso n 1989, 127). Ins 7. Jahrhundert — o der früher — werden heute ca. drei Dutzend Werke unterschiedlicher Art und Länge datiert (Stevenso n 1989, 158). Über die diversen Gattungen der irischen Literatur info rmiert man sich heute am schnellsten anhand der tabellarischen Übersicht bei Tristram (1989, 28 ff). — Die auf die altirische Perio de (Anfang 7.—Ende 9. Jh.) fo lgende mittelirische (ca. 900—ca. 1200) kennzeichnet ein rascher sprachlicher Wandel so wie eine verstärkte Hinwendung zur Vergangenheit: Man widmet sich der Aufgabe, Altes zu bewahren, legt Sammelhandschriften an, schafft neue Werke aus traditio nellen Sto ffen (Gaechter 1970, 26 ff; Ó Co ileáin 1985, 531). An Texten aus diesen beiden Perio den v. a. lassen sich die Pro bleme vo n Mündlichkeit und Schriftlichkeit studieren; als Beispiel für das Erzählgenre sei der Aufsatz vo n Edel (1989) genannt. — In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts schaffen Berufsdichter eine präskriptive Grammatik, die für Jahrhunderte die Basis der Literatursprache werden so llte (Ó Co ileáin 1985, 531). In der Zeit zwischen 1100 und 1200 kulminiert die lange und enge Verbindung zwischen den Klöstern und der irischen Schriftkultur. Die einschneidende Kirchenrefo rm im 12. Jahrhundert — es werden Diözesen eingerichtet, die do minierende Ro lle der einzelnen Klöster schwindet — bringt auch für die Schriftkultur einen Wandel mit sich, indem die Pro duktio n vo n Handschriften an gebildete Laienfamilien, die das Erbe weiter verwalten, übergeht (Ó Co ileáin 1985, 521 f). Die Verantwo rtung für die irische Schriftkultur wird, wenn man so will, den filid zurückgegeben.

3.

England

3.1.  Als die in den letzten Jahren des 6. Jahrhunderts bego nnene Christianisierung Englands gegen 700 so gut wie abgeschlo ssen war, kam der Schriftlichkeit vo rerst nur für missio narisch-religiöse Zwecke Relevanz zu (Schaefer 1992, 27). Bes. für das späte 7. und das 8. Jahrhundert ist zwar ein ho her Bildungsstand und eine quantitativ wie qualitativ beachtliche Buchpro duktio n zu registrieren, do ch die Zahl der erhaltenen Handschriften aus dem 7./8. Jahrhundert ist sehr gering (Gneuss 1992, 105; 124). — Die Ausbreitung der lateinischen Schriftkultur bewegte sich

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(evtl. wie in Irland, vgl. 2.) mehr im Rahmen vo n Anpassung und Angleichung, als daß sie vo n einer radikalen Ausmerzung der Traditio n begleitet gewesen wäre (vgl. Po nert 1975, 11; Co nquergo o d 1983, 108; 131 ff). Die berühmte Entstehungsgeschichte vo n Caedmo ns ‘Hymnus’ (anno 737, die älteste erhaltene altenglische Dichtung) zeigt am deutlichsten die Traditio nsvermischung und ihre Billigung durch die Kirche (Co nquergo o d 1983, 135). Eine Ko existenz beider Kulturen prägt das gesamte englische Frühmittelalter (vgl. Schaefer 1992). — Dem Verfall der Bildung und dem starken Rückgang der Pro duktio n vo n Handschriften im 9. Jahrhundert, einsetzend scho n vo r der Wikingerinvasio n, fo lgt ganz am Ende des Jahrhunderts die radikale, zumindest der Intentio n nach revo lutio när zu nennende Wende in Gestalt des Bildungsund Übersetzungspro gramms König Alfreds (Gneuss 1992, 105). Der vo n Alfred ausgehende dreifache Impetus — Ausfo rmung des Altenglischen als Übersetzersprache; Stabilisierung der christlichen Lehre durch Weiterbildung des Klerus; Schulbildung für Ho chwie Niedriggebo rene — hat die Verschriftlichung der Vo lkssprache einen entscheidenden Schritt vo rangebracht. Unklar bleibt, welchen Nutzen die Nicht-Lateinkundigen daraus zu ziehen vermo chten. Fo lgt man Assers Zeugnis, so war vo lkssprachliche Literatur in geschriebener Fo rm scho n vo r Alfreds Zeit verfügbar (vgl. Wo rmald 1977, 103; Kelly 1990, 61). Auch zeigt die Zahl vulgärsprachlicher Urkunden und anderer Do kumente im 9. Jahrhundert, daß bestimmte Laienkreise über die Schrift zu verfügen wußten (Kelly 1990, 61). Do ch Alfred beklagt selbst den deso laten Zustand der Bildung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, und so ist es zweifelhaft, o b sein Plan einer breit angelegten Erziehung der Laien wirklich Erfo lg hatte (skeptisch Vo llrath 1979, 50; Gneuss 1992, 111). Jedenfalls hat die Bildungsrefo rm stärker die Geistlichen als die Laien erreicht (Parkes 1973, 555), wie scho n der primär gelehrte und kirchliche Charakter der vo n und unter Alfred übersetzten Texte vermuten läßt (Auerbach 1958, 203). Je ein Exemplar seiner Übersetzung der ‘Cura pasto ralis’ Grego rs d. Gr. ließ Alfred an jeden Bischo fssitz senden, wenigstens ein Indiz für die Existenz bischöflicher Biblio theken (Gneuss 1992, 124). Ob der Aufschwung pragmatischer und ‘ho chliterarischer’ Schriftlichkeit im 10./11. Jahrhundert letztlich Alfreds Bemühungen zu verdanken ist, bleibt o ffen. Tro tz Alfreds Zeugnis, daß er einen

IV. Schriftkulturen

Sammelco dex früherer Gesetze habe erstellen lassen, war Schriftlichkeit nicht Teil der angelsächsischen Gesetzgebung (Vo llrath 1979, 54; vgl. auch Wo rmald 1977, 112); erst im 11. Jahrhundert wird sie zum maßgebenden Faktor englischen Rechts (Vollrath 1979, 53). 3.2.  Entscheidend hat die Refo rm der Benediktinerklöster (940 Wiedererrichtung der Abtei Glasto nbury, Bischo f Dunstan) Bildung und Buchgelehrsamkeit vo rangebracht. Ein Hauptziel war die Refo rm des Pfarrklerus, und so entstanden v. a. praktische Werke religiöser Unterweisung (Brunner 1964, 604). Do ch erstreckten sich die Bestrebungen darüber hinaus auf alle Aspekte weltlicher Kultur und berührten auch die Ethik der Kriegerkaste, deren kulturellem Selbstverständnis man die Auto rität und den Wahrheitsanspruch des geschriebenen Wo rtes entgegenzusetzen hatte (Busse 1988, 29 ff). Vo raussetzung dafür, daß diese Kreise auch erreicht werden ko nnten, war ein gewisses Niveau laikaler Kultur. Die Vo lkssprache hat sich nicht nur fast aller Bereiche des religiösen und weltlichen Lebens bemächtigt (Wo rmald 1977, 107), auch die Rezeptio n der Schriftkultur durch die Laien war beträchtlicher als früher angeno mmen (Kelly 1990, 51; Gneuss 1992, 112). Rezeptio nsstimulierend war gewiß auch die seit dem 10. Jahrhundert erfo lgende No rmierung und Standardisierung des Altenglischen (auch des Vo kabulars) in Gestalt des Spätwestsächsischen (Kelly 1990, 52; Gneuss 1992, 120 f), einhergehend mit einer Differenzierung der Schrift: lateinische Texte schrieb man in der karo lingischen, englische in einer Fo rm der insularen Minuskel (Gneuss 1992, 120). Scho n seit dem frühen 10. Jahrhundert nimmt die Zahl der Handschriften zu, in Relatio n stehend zur Einrichtung gro ßer Bildungs- und Biblio thekszentren in Benediktiner- und v. a. Kathedralklöstern (Gneuss 1992, 124). Daß nur vier gro ße Co dices des 10./11. Jahrhunderts den größten Teil der altenglischen po etischen Werke überliefern, muß auch, wenn vielleicht nicht nur, der Wikingerinvasio n des 9. Jahrhunderts angelastet werden. Kurz sei auf zwei Beispiele aus diesem Co rpus eingegangen, an denen sich die Spannung vo n Mündlichkeit und Schriftlichkeit in unterschiedlicher Weise zeigt. Der ‘Beo wulf’Dichter, der lange als Pro to typ eines o ralen Po eten galt, verfügt so wo hl über das ganze Arsenal mündlicher Traditio n wie über die Errungenschaften der christlichen Schriftkultur. Heute überwiegt die Ansicht, daß die

41.  Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in Westeuropa

Dichtung so , wie wir sie vo r uns haben, wo hl nie mündlich existiert hat, so ndern ein rein schriftliches Pro dukt ist (vgl. Opland 1980, 43). Das Beispiel Cynewulfs (zweite Hälfte des 8. o der erste des 9. Jahrhunderts) zeigt aber, daß dieser Befund nicht no twendig für Spätdatierung spricht. Auch er benutzt zwar Fo rmeln — aus o raler wie aus christlich-schriftlicher Traditio n (Schaefer 1992, 161) —, do ch erweist er sich mit seinen durch Runen signierten Gedichten, die geistliche Schriftlichkeit zum Thema haben, als „ein extrem literater Dichter“ (Schaefer 1992, 161 ff; das Zitat 175), der einen radikalen Schritt aus der altenglischen Dichtungstraditio n vo llzieht (Opland 1980, 35). Je nach Standpunkt des Interpreten und der Einschätzung der kulturellen Situatio n im 8./9. Jahrhundert wird man sich Cynewulfs Publikum als Leser (Opland 1980, 38 f) o der als „literate Hörer“ (Schaefer 1992, 163) vo rstellen. Fraglich ist, o b man ihn als „ein ... — vielleicht so gar verfrühtes — Exempel des Einflusses der Schriftlichkeit“ auffassen (Schaefer 1992, 176) o der nicht do ch eine reicher entwickelte Schriftkultur po stulieren muß, deren Spuren nur durch Mißlichkeiten der Überlieferung weithin getilgt sind. — Eine derartige, ho he Schriftkultur haben wir für die Zeit um 1000 anzunehmen, wie das Beispiel Aelfrics zeigt. War sein Ziel und das seiner Zeitgeno ssen auch primär die Klerikerbildung (Wo rmald 1977, 109), so will seine, heute no ch in vierzehn Exemplaren erhaltene, Grammatik nicht nur in die lateinische, auch in die englische Sprache einführen (Gneuss 1992, 113 f). Seine Leistung als Verfasser vo lkssprachlicher Pro sa — Predigten, Legenden, Genesis-Übersetzung — bleibt für Jahrhunderte in Euro pa ohne Pendant (Wormald 1977, 108). 3.3.  Insgesamt sind aus angelsächsischer Zeit ca. 1000 Handschriften und Fragmente erhalten (Gneuss 1992, 123). Die no rmannische Ero berung vo n 1066 setzte der englischen Schriftkultur zwar kein Ende, do ch mußte diese wieder ins zweite, ja dritte Glied hinter das Lateinische und die neue Herrschaftssprache Französisch zurücktreten. Die neue Dreisprachigkeit wird v. a. für den Bereich der pragmatischen Schriftlichkeit bedeutsam (umfassend dazu Clanchy 1979). Für die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts ist ein dramatischer Anstieg der Zahl der Handschriften, eine intensive Ko piertätigkeit und ein Anwachsen der Büchersammlungen zu verzeichnen (Tho mso n 1986, 32 ff). Nach 1150 — auch dies eine Fo lge der No rmannenherr-

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schaft — werden Auto ren und Texte auf den Ko ntinent expo rtiert, und der Austausch mit der festländischen Literatur erreicht ein no ch nie dagewesenes Maß (Tho mso n 1986, 40). — Zwar wurde das Altenglische nach 1066 eine archaische Sprache, und bald nach 1200 ko nnte man altenglische Handschriften nicht mehr lesen (Brunner 1964, 608; Clanchy 1979, 261), do ch blieb die stabreimende Langzeile während der ganzen mittelenglischen Perio de bekannt, wurde im 12. und 13. Jahrhundert in einigen kleineren Gedichten verwendet, und Layamo ns ‘Brut’, der die Alliteratio n z. T. gebraucht, trägt als bedeutendster Bewahrer des Alten evtl. dazu bei, daß der Vers vo m ‘alliterative revival’ im 14. Jahrhundert wieder aufgeno mmen wird (Überblick bei Brunner 1964, 613 ff). Diese po etische Richtung, Pro dukt einer neuen laikalen Schriftkultur, diskutiert Co leman (1981, 162 ff) unter dem Aspekt vo n Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Am reichsten überliefert unter diesen Texten ist Langlands ‘Piers the Plo wman’ (dessen Leser auch Latein können muß) mit 50 Handschriften, singulär dagegen ‘Sir Gawayn and the Greene Knight’. Hieran und an dem am häufigsten abgeschriebenen Text der mittelenglischen Perio de, ‘The Prick o f Co nscience’ (Reimpaare; 114 Handschriften), einem Lehrgedicht religiöser Unterweisung, scheint deutlich zu werden, wo nach der vulgärsprachliche Leser im 14. Jahrhundert verlangte. Auch zwei Werke des Eremiten Richard Ro lle ko mmen auf je ca. 40 Handschriften. Zwar hörte das Französische nach 1300 auf, die erste Vo lkssprache zu sein (Parkes 1973, 564), do ch der nicht nachlassende französische Einfluß zeigt sich in vielen der meist erst in Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts o der no ch später überlieferten ‘ro mances’ und in der Rezeptio n des ‘Ro man de la Ro se’ o der der neuen französischen Lyrik. Der vo llendetsten Fo rm der Aneignung des französischen Vo rbilds begegnen wir dann bei Jo hn Go wer und Geo ffrey Chaucer. Dessen ‘Canterbury Tales’ (über 80 Handschriften) sind ebenso ein Ziel- und Höhepunkt der mittelenglischen Schriftkultur, wie sie no ch einmal, in einem ko mplexen und raffinierten Wechselspiel vo n Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Brewer 1988; Fichte 1988), auf die Anfänge der englischen Literatur zurückschauen lassen.

4.

Deutschland

4.1.  Die deutsche Schriftkultur beginnt mit Karl d. Gr. Zwar besitzen wir (außer dem

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Isido r-Co rpus) keine größeren vo lkssprachlichen Werke aus seinen Lebzeiten, do ch hat er mit seiner Bildungsrefo rm (vgl. Gentry 1988, 56 ff), die über die Kleriker in begrenztem Umfang auch die no ch nicht glaubensfesten Laien erreichte, mit der o hne die benediktinische Anerkennung des Schreibens als asketischer Übung undenkbaren (Haubrichs 1988, 213; Kartscho ke 1990, 65 f) Vervielfältigung m o nastischer Schreibstuben (vgl. Riché 1981, 249; Haubrichs 1988, 210 ff; McKitterick 1989, 135 ff, auch zu Besitzern vo n Handschriften), dem reparare der geschriebenen lateinischen Sprache (vgl. Feldbusch 1985, 216 ff) und der Fo rcierung des Übersetzens aus dem Lateinischen, mit der Errichtung und dem Ausbau klösterlicher Biblio theken (vgl. Riché 1981, 252 f, z. T. regelrechte ‘Verlagshäuser’; McKitterick 1989, 166 ff) wesentliche Anstöße gegeben, die letztlich auch zu einer gewissen Literarizität höherer Laienschichten geführt haben (vgl. zu Karls Bedeutung für die altho chdeutsche Schriftlichkeit Feldbusch 1985, 222 ff; Green 1989, 11 ff; zur laikalen Schriftkultur McKitterick 1989, 21 ff). Ohne diese Impulse wäre es für Otfrid kaum möglich gewesen, die Vo lkssprache für gleichwertig mit den ‘heiligen’ Sprachen zu erklären (zu ihm vgl. Haug 1985, 25 ff; Kartscho ke 1990, 153 ff; zusammenfassend Haug 1983, 144 ff; zu Otfrids Publikum — Hörer und Leser — Green 1986, 144). Otfrids Versuch landet in einer „Sackgasse“, weil er zu stark am Lateinischen geschult war (Günther 1985, 52 f), do ch ko mmen no ch andere, übergreifende Ursachen hinzu (vgl. 4.2.). — Das Pro blem mündlichschriftlich wird akut beim ‘Hildebrandslied’ (Zwischenstellung zwischen o raler Traditio n und Schriftlichkeit; vgl. Kartscho ke 1990, 128 f) und beim ‘Heliand’, dessen Dichter nicht als oral poet gelten kann, da sein Herangehen an die Fo rm theo lo gisch-gelehrt fundiert ist (Curschmann 1967, 50; Kartscho ke 1990, 146 ff). — Die karo lingischen Refo rmen dürften insgesamt für die Kleriker effektiver gewesen sein als für die Laien (Parkes 1973, 555). Ob vo n einer literaten Laiengesellschaft in dieser Zeit gespro chen werden kann (so McKitterick 1989, 270), muß eine intensive Auseinandersetzung mit der ersten umfassenden Darstellung karo lingischer Schriftlichkeit durch McKitterick (1989) erweisen. — Zusammenfassend kann das Altho chdeutsche mit So nderegger (1985, 72) als die Experimentiersprache einer ersten deutschen Schriftlichkeit bezeichnet werden.

IV. Schriftkulturen

4.2.  Eine deutsche Literatur gibt es, abgesehen vo n einfachsten Typen, vo n da an für 150 Jahre — nimmt man No tker (um 1000) als So nderfall, so gar für 50 Jahre länger — nicht mehr. Für diese ‘gro ße Lücke’ gibt es mehrere Gründe. Die altho chdeutsche Literatur verlischt mit dem Ende der Karo linger, weil sie nur einer zentralen Willensbildung ihre Existenz verdankte. Der vo lkssprachliche Impetus Karls und Ludwigs d. Dt. weicht einer Orientierung auf das Lateinische unter den Otto nen (vgl. Haug 1983, 145). Zudem waren die Auto ren des 9. Jahrhunderts scho n rein geo graphisch vereinzelt, die literarische Pro duktio n vo n Disko ntinuität gekennzeichnet. Ein schriftliches Deutsch war no ch keineswegs Usus, ein adäquates, auch quantitativ nennenswertes Publikum fehlte; hinzu ko mmt der rasche Sprachwandel und das Veralten ov lkssprachlicher Werke (vgl. Haubrichs 1988, 437 f; Ehlers 1989, 314; Green 1989, 13 ff). — Nach dem Neubeginn um 1060 kann man spätestens seit 1000 vo n einer Ko ntinuität vo lkssprachlicher Schriftlichkeit sprechen. Die Gründe sind wiederum vielfältig. Die Klo sterrefo rmen bringen die Gesellschaft in Bewegung; der Investiturstreit hat ein wachsendes Selbstgefühl des Adels zur Fo lge; die Kirche blickt zunehmend auf das Diesseits, pro pagiert das Ideal des miles christianus; die Ro lle des Laien in der christlichen Welt wird neu definiert; der Ministerialenstand entsteht. Nicht mehr ein zentraler Wille regiert die Literaturpro duktio n, Kräfte vo n innen und vo n unten werden maßgebend. Die Bedürfnisse der Kirche und der Laien wirken ineinander, Publikumsnachfrage wird ein wichtiger Fakto r. Laienprediger v. a. helfen die Strecke vo n der Kirche zur Welt zu überbrücken. Das Ich des Laien meldet sich zu Wo rt, und seine Stimme wird vo n Mal zu Mal kräftiger (vgl. zu diesen vielfältigen Entwicklungen Auerbach 1958, 205; Haug 1983, 146 ff; Vo llmannPro fe 1986, 15 ff; Gentry 1988, 77 f; Green 1989, 15 ff). 4.3.  Prägen die erste Phase der frühmitteloh chdeutschen Literatur Kleriker-Aut o ren und eine primär kirchliche Sicht, so treten in der zweiten (ca. ab 1150) als Literaturträger immer mehr Laien auf, und die Werke tragen ein zunächst gemischt kirchlich-weltliches, später ein zunehmend pro fanes Gepräge. — Die ‘Renaissance des 12. Jahrhunderts’ hat vo m Westen aus auch auf Deutschland ausgestrahlt. Man weiß vo n deutschen Scho laren in Frankreich, vo m Impo rt vo n Büchern und

41.  Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in Westeuropa

Wissen nach Deutschland (Bumke 1986, 93 ff). Die Bedeutung der Ho fkleriker, tätig in Kanzlei o der Verwaltung o der im geistlichen Amt, als Erzieher und intellektuelle Berater, als Übersetzer und Schreiber für die illitterati und nicht zuletzt — für die Schriftkultur am wichtigsten — als Vermittler der Ideale vo n chevalerie et clergie ist nicht zu unterschätzen (vgl. Bumke 1986, 446 ff; Green 1986, 146; 1989, 19 ff; Köhn 1986 a; 1986 b, 215; Henkel 1991, 336). Kleriker sind es, die seit 1150 Buchwerke in der Vo lkssprache verfassen, eine Geschichtsdichtung wie die ‘Kaiserchro nik’, Spielmannsepen, hero ische Epik (‘Nibelungenlied’), Antikenro mane. — In der Spielmannsepik — die Bezeichnung hat sich eingebürgert, und Spielleute waren wo hl zumindest als Vo rtragsinstanzen beteiligt — und der Heldenepik tritt die Spannung mündlichschriftlich aufs neue vo r Augen. Der Typus ist irgendwo zwischen den beiden Po len anzusiedeln, ein ‘transitio nal text’ (vgl. Curschmann 1967, 45 ff). Die Verschriftlichung der Spielmannsepen, erstes Beispiel ‘König Ro ther’, erfo lgt über die Reflexio n der mündlichen Erzählschemata und der traditio nellen Sinngebung; es sind Schriftwerke, die die Oralität gewissermaßen zitieren (Haug 1983, 151 f; Vo llmann-Pro fe 1986, 129 f; 215). Auch das ‘Nibelungenlied’ ist als schriftlicher Text, als Literarisierung heimischer Heldensage eine inhaltliche und fo rmale Auseinandersetzung mit der hero isch-mündlichen Traditio n (Haug 1983, 153 f; vgl. als ausführlichen kritischen Fo rschungsbericht Bäuml 1986; ferner Ho ffmann 1974, 53 ff; Haymes 1986, 21 ff; Ehrismann 1987, 75 ff). Der Auto r der ‘Nibelungenklage’, die eigene Literarizität reflektierend und zu einer schriftbeto nten Entstehungsfiktio n greifend (vgl. Curschmann 1984, 228; Grubmüller 1989, 43), bindet sich an eine Traditio n an, für die schriftliche Fixierung des Textes Garant der Wahrheit ist und die — etwa in Geschichtswerken, aber auch im höfischen Ro man — sich vehement gegen die Zeugenschaft des Oralen richtet (vgl. SchmidCadalbert 1984, 90; 101; Jaeger 1985, 230; zu mündlich-schriftlichen Überlagerungen in allgemeinerem Rahmen vgl. Scho lz 1980, 98 ff; Curschmann 1984, 221 f; 251 ff; Haug 1988, 148; breitere Info rmatio n über Mündlichkeit und Schriftlichkeit bieten Knapp 1976, passim und v. a. Green 1978; Wehrli 1984, 47 ff; Bumke 1986, 596 ff). 4.4.  Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf der Rezeptio nsebene finden neuerdings nach dem

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Vo rangang vo n Green (1978) und Scho lz (1980) gleichfalls stärkeres Interesse. Bes. Green hat sich, Scho lz’ Fragestellungen und Ergebnisse o rdnend, kritisch sichtend und vermehrend, mit unermüdlichem Eifer auf das Thema eingelassen (Green 1984; 1990 a; 1990 b; z. T. mit Verweis auf weitere eigene Spezialstudien; vgl. auch Wehrli 1984, 55 ff; Bumke 1986, 721 ff zum Hören und Lesen der Epik; Müller 1985, 21 ff zum Spätmittelalter). Den Fakto r ‘Sehen’ — wieder eine beide Bereiche, Mündlichkeit wie Schriftlichkeit, tangierende Katego rie, bringt Curschmann verstärkt ins Spiel (Curschmann 1984, zu den Funktio nen der Bebilderung bes. 254 f; 1992; vgl. auch Bumke 1986, 729 ff zu Wo rt und Bild; Erfen 1991, 39 ff zu Lesen/Hören/Sehen im Spätmittelalter). Einen spezifischen Ansatz verfo lgt jetzt, im Anschluß an eigene frühere Studien, Wenzel (1992), der am Beispiel des ‘Nibelungenliedes’ die visuelle Imaginatio n in der Spannung vo n Mündlichkeit und Schriftlichkeit untersucht. Auch der höfische Ro man setzt sich anfangs mit traditio nell-mündlichen F o rmen auseinander, die in die Reflexio n geraten und für ko mplexere Strukturen und eine neue Sinngebung genutzt werden (Haug 1983, 152 f). Die Kunstmittel des regieführenden Erzählers und ausgeklügelter Strategien der Fiktio nalisierung sind scho n in den ersten deutschen Ro manen, stärker als im Französischen, vo ll entwickelt. Als den Pro to typ eines clerc lisant und miles litteratus, eines Ritters, der seine Quellen in der Originalsprache (Latein und Französisch) zu nutzen versteht (‘Der arme Heinrich’ v. 1 ff; ‘Iwein’ v. 21 f), sehen wir Hartmann vo n Aue vo r uns (vgl. Scho lz 1980, 44 f Anm.; 212 f; Curschmann 1984, 231; Haug 1985, 126; Green 1986, 148; Henkel 1991, 338, der die Dreisprachigkeit fast aller literaten Auto ren hervo rhebt). Auf Hartmann reagiert der miles Wo lfram mit seiner vo rgescho benen Abwehr der Buchgelehrsamkeit (vgl. Green 1978; Scho lz 1980, 214 ff), auf diesen wiederum der clericus Gottfried mit seinem dezidiert schriftkulturellen Anspruch (vgl. Green 1978). 4.5.  Daß der ritterliche Ro manauto r später auftritt als der Lyriker, wurde (Wo lf 1986, 275 f) so gedeutet, daß das Abfassen erzählender Gro ßfo rmen o hne klerikale Schulung nicht möglich gewesen sei. Das mag sein, do ch ist auch die Lyrikpro duktio n, spätestens vo n der ro manisierenden Phase an, kaum o hne eine gelehrt-literarische Ausbildung der Dich-

IV. Schriftkulturen

562

ter denkbar. Welche Bedeutung die Lyrik selbst in der Schriftkultur einnimmt, zeigen nicht nur die späten gro ßen Sammelhandschriften um und nach 1300, so ndern auch ihre no twendig zu erschließenden Vo rstufen in Gestalt vo n Einzelblättern, Liederheften und -büchern (vgl. Schweikle 1977, 16 ff; Bumke 1986, 758 ff; 769 ff). Ulrich vo n Lichtenstein endlich (Mitte 13. Jh.) ist ein wichtiger Zeuge dafür, daß Lieder scho n zur Zeit ihrer Entstehung auch zum Lesen gedacht sein ko nnten (vgl. Scho lz 1980, 219 ff; Heinen 1984; Bumke 1986, 755 ff; 771 f). — Gerade auch die Überlieferung der Lyrik und Epik der mittelho chdeutschen Blütezeit um 1200 verrät eine anderen Literatursprachen vergleichbare Tendenz zur sprachlichen No rmierung und Überregionalität (Wolf 1986, 246). 4.6.  Viele das Spätmittelalter kennzeichnende Tendenzen sind bereits in den vo rangehenden Jahrzehnten angelegt (vgl. Schnell 1978). Der Territo rialisierungspro zeß und das Aufko mmen neuer religiöser Strömungen wie der Bettelo rden fördern die Verschriftlichungstendenzen (Green 1989, 21 ff; 24 f). Die deutsche Schriftlichkeit bemächtigt sich einer zunehmend größeren Zahl vo n ihr bisher verschlo ssen gebliebenen Bereichen, die Ansprüche des Publikums werden vielfältiger, dieses wird hetero gener, breitere Leserschichten entstehen (vgl. Haug 1983, 155). Der Übergang zur Pro sa erfo lgt merklich später als in Frankreich (vgl. Schnell 1978, 71 ff; Müller 1985, 15 ff). Hingewiesen sei no ch auf die Institutio n vo n Lateinschulen und deutschen Schreibschulen (vgl. Erfen 1991, 37 ff), die wachsende Bedeutung der Stadt für die pragmatische und literarische Schriftlichkeit (vgl. Skrzypczak 1956; Green 1989, 23 f; Erfen 1991, 42 f, zu den Schreibstuben) und das Aufko mmen vo n Papiermühlen (vgl. Erfen 1991, 41 f).

5.

Island

Aus Raumgründen und aufgrund der Tatsache, daß es an direkten Schriftzeugnissen aus Schweden und Dänemark weitgehend fehlt und die auto chtho ne Literatur No rwegens so recht erst mit dem 13. Jahrhundert einsetzt (vgl. So nderegger 1964, 735 ff), ko nzentriert sich die Behandlung der Schriftkultur des No rdens auf Island. Die Runenschrift, seit dem 2. Jahrhundert bezeugt und durch insgesamt ca. 5000 Inschriften, davo n allein 3000 in Schweden, vertreten, stellt eine beschränkte

Fo rm der Schriftlichkeit dar und kann nicht für eine frühe altno rdische Schriftkultur in Anspruch geno mmen werden. — Island ist um die Jahrtausendwende christlich. Auch im No rden sind die Klöster mit ihren Schulen und Biblio theken die ersten Träger der Schriftkultur. Wo hl scho n im 11. Jahrhundert begegnen wir den Anfängen einer religiösen Übersetzungsliteratur. Der zwischen 1125 und 1175 entstandene so g. ‘Erste grammatische Traktat’, der ein für das Isländische mo difiziertes lateinisches Alphabet und ein genaues, pho no ol gisch begründetes o rtho graphisches System bereitstellt, um Schreiben und Lesen, die, wie es heißt, in diesem Land jetzt üblich gewo rden seien, zu erleichtern, nennt vier Arten vo n schriftlich existierender Literatur in der Vo lkssprache: Gesetze, Genealo gien, Predigten und die gelehrten geschichtlichen Werke des Ari Tho rgilsso n. Bemerkenswert ist, daß die Verschriftlichung hier wie in einer Reihe anderer Texte vo n Reflexio nen über das Verschriftlichen begleitet wird (Wolf 1988). Die drei gro ßen Sto ff-, Fo rm- und Gattungsbereiche der altno rdischen Literatur, die (Lieder-)Edda mit Götter- und Heldenliedern so wie Spruchdichtung, die Skaldendichtung (bis zum 10. Jh. in No rwegen, seit dem 11. v. a. in Island; Preisgedichte, auch Gelegenheitsgedichte und Liebeslyrik) und die Sagaliteratur (Pro sa) machen Island zum wichtigsten Literaturland des No rdens. Für jeden dieser literarischen Typen nimmt die neuere Fo rschung mündliche Vo rstufen an, während in den Jahrzehnten zuvo r meist der Schriftlichkeitsaspekt akzentuiert wurde. So sieht man in den ano nym überlieferten eddischen Liedern (vgl. die Übersicht zur Überlieferung der einzelnen Lieder bei So nderegger 1964, 741 ff) Zeugnisse einer schriftlo sen Dichtung der Wikingerzeit, und auch für die bis ins 9./10. Jahrhundert zurückreichende Skaldendichtung (vgl. So nderegger 1964, 755 ff), v. a. die größeren Texte, muß — tro tz ihrer ko mplizierten, artistisch ausgefeilten Fo rm, o ft als untrügliches Indiz o riginärer Schriftlichkeit gewertet — mündliche Tradierung angesetzt werden. Bei der Verschriftlichung dieser beiden po etischen Gattungen dürfte es sich mehr o der weniger um ein auf Bearbeitung verzichtendes Festhalten des Überko mmenen handeln (Wolf 1988, 186 f). Daß es nicht statthaft ist, vo n der Differenz zwischen Vers und Pro sa auf eine Differenz mündlich vs. schriftlich zu schließen, zeigt das Beispiel der Saga (Andersso n 1975, 164), auf

41.  Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in Westeuropa

die hier etwas näher eingegangen werden so ll (vgl. die Übersicht zur Überlieferung und Textgeschichte der wichtigsten Sagas bei So nderegger 1964, 749 ff). Anders freilich als bei Edda und Skaldik dürfte dabei zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ein mehr o der minder tiefgreifender Verwandlungspro zeß stattgefunden haben. In der Ko ntro verse, o b es bereits im o ralen Stadium Sagas in relativ fester Fo rm gegeben hat (Freipro saTheo rie) o der o b diese erst der Verschriftlichung (frühestens im 12. Jh.) zu verdanken ist (Buchpro sa-Lehre), neigt man heute zur Differenzierung. So sieht man die Durchdringung vo n Gelehrtem und Vo lkstümlichem, wie z. B. in den frühen Bischo fssagas (Bandle 1991, 213), o der die Verbindung vo n Hagio graphie, Hist o ri o graphie und mündlichen Überlieferungen, wie in Sno rris ‘Heimskringla’ (Wo lf 1990, 490; 512), macht auf spezifisch mündliche o der schriftliche Stilzüge aufmerksam (Bandle 1988 und 1991) und erkennt in der Gro ßsaga die eigentliche Leistung des Verschriftlichungspro zesses, die für die weitere Literarisierung m o dellbildend wirkt (Wo lf 1990, 512). Fraglo s ist mit dem Übertritt aus der Mündlichkeit die Chance zu einem entscheidenden „Qualitätssprung“ gegeben (Wo lf 1988, 186). Träger der gesamten literarischen Pro duktio n ist die Aristo kratie, beim Verfassen und Aufschreiben vo n Sagas handelt es sich um ein „Oberklassenphäno men“ (Glauser 1983, 70). Die einzig nachweisbare Vermittlungsfo rm für die Sagas ist das mündliche Vo rtragen o der das Vo rlesen aus einer Handschrift vo r versammeltem Publikum (Glauser 1983, 61 ff; 1985). Abendliches Vo rlesen vo n Sagas ist in Island bis ins 19. Jahrhundert bezeugt. Eine Ausdifferenzierung der vier no rdischen Natio nalsprachen wird in den Handschriften um 1300 greifbar. Zunehmende stilistische Verfeinerung im Spätmittelalter, so das Aufko mmen des ‘flo rissanten Stils’, u. a. mit einer ko mplizierten Syntax, steht dann für eine vo llends ausgebildete Schriftkultur der altnordischen Literatur.

6.

Frankreich

6.1.  Kann man für den Beginn einer vo lkssprachlichen gallo ro manischen Literatur gro b das Datum 813 ansetzen — das Ko nzil vo n To urs spricht erstmals vo n der lingua Romana rustica und pro pagiert Predigten im Vulgäridio m —, so vergehen do ch no ch 200 bis 300

563

Jahre, bevo r vo n einer eigentlichen Schriftkultur in Frankreich die Rede sein kann. Vo n den ‘Straßburger Eiden’ 842 über die ‘EulaliaSequenz’ aus den achtziger Jahren desselben Jahrhunderts zum ‘Leo degarlied’ um 1000 begegnen wir nur ganz punktuell Zeugen einer französischen Schriftliteratur. Erst mit dem ‘Alexiusleben’ (um 1050 o der erst Anfang des 12. Jahrhunderts?), dessen Dichter einen erstaunlichen Grad an literarischer Fertigkeit aufweist, beginnt der schriftliterarische Stro m reicher zu fließen, und nun melden sich neben der hagio graphischen Gattung zunehmend auch andere Genres zu Wo rt. Daß sie auf starke Reso nanz rechnen ko nnten, zeigt sich in einer erheblichen Zunahme der Handschriftenpro duktio n während des 12. und dann v. a. des 13. Jahrhunderts. Zweifello s trägt die vielberedete ‘Renaissance des 12. Jahrhunderts’ auch zur vo llen Entfaltung einer ov lkssprachlichen Schriftkultur Entscheidendes bei. Mittelbar waren die Bischo fshöfe mit ihrem Reservo ir an schulgebildeten Klerikern maßgebend an der Förderung der kulturellen Entwicklung beteiligt; je mehr aber die Vo lkssprache den Status einer Bildungssprache erreicht, übernehmen die weltlichen Fürstenhöfe die Führung und brechen damit das bis dahin bestehende Mo no po l der Kirche auf die Schriftkultur (vgl. Karnein 1988, 108; 122 ff). 6.2.  Zwei epische Gattungen haben sich vo n französischsprachigem Bo den aus über fast ganz Euro pa ausgebreitet: das hero ische Epo s und der höfische Ro man. Mit ersterem, der Chanson de geste, tritt die französische Literatur recht eigentlich in die Schriftkultur ein. Schriftlich überliefert ist das Genre seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert, breite Verschriftlichung erreicht es aber erst am Ende des 12. Jahrhunderts (Micha 1964, 203), vertreten wird es durch ca. 100 Werke in mehr als 300 Handschriften. Mit dem ‘o ffenen’ Textcharakter der Chansons, die ausgeprägte Phäno mene des remaniement, der mouvance zeigen, was einen eher vo n Fassungen, Versio nen sprechen läßt, hängt es zusammen, daß sie scho n immer einen pro minenten Platz in der Diskussio n um Mündlichkeit und Schriftlichkeit eingeno mmen haben. Heute sieht man die Verfasser weder ausschließlich in den wo hl meist illiteraten Spielleuten (jongleurs) no ch ausschließlich in gebildeten Klerikern, so ndern stellt den Einschlag des klerikalen Milieus in die Kultur des Spielmanns in Rechnung (Christmann 1965, 52; Gumbrecht 1983, 167). Auch auf der Rezeptio nsseite nimmt

564

man eine recht weite so ziale wie intellektuelle Streuung des Publikums an (Uitti 1985 a, 240). 6.3.  Beim anglo no rmannischen Ho chadel finden wir die klaren Anzeichen einer extensiv kultivierten Schriftlichkeit, und bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts ist im französischsprachigen England ein dramatisches Anwachsen der Zahl der Handschriften und des Umfangs der Büchersammlungen zu vermerken (Parkes 1973, 556; Tho mso n 1986, 32 ff). Nicht zuletzt dem Mäzenatentum des Königshauses ist die ‘preco city’ der anglo no rmannischen Literatur zu verdanken (Legge 1963, 7; 362 ff), und neben Benedeit (‘Vo yage de Saint Brendan’, kurz nach 1100) gehören zu den Pio nieren Philippe de Thao n, Auto r eines Co mputus, eines Bestiariums und zweier Lapidarien (Legge 1963, 18 ff), der Chro nist Gaimar (Legge 1963, 27 ff) o der der Verfasser des ‘Adamsspiels’ (Legge 1963, 312 ff). Den entscheidenden Schritt zur Fiktio nalität in der Schrifttraditi o n des ‘Tristan’-R o mans hat Tho mas de Bretagne (um 1170) getan (Legge 1963, 45 ff). Mit dem Ho f und dem Umkreis Heinrichs II. (vgl. Legge 1963, 44 ff) und seiner Nachfo lger werden neuerdings wieder die Artusro mane Chrétiens und anderer Auto ren in Verbindung gebracht (Schmo lke-Hasselmann 1980, 184 ff; zu Chrétiens ‘Erec et Enide’ 190 ff). An all dem wird die ho he Bedeutung der anglo no rmannischen Sphäre für das Pano rama der französischen Schriftkultur ersichtlich. 6.4.  Da die Chro no lo gie sehr eng ist, könnte es durchaus sein, daß dem anglo no rmannischen Publikum als erstem die Gro ßfo rm des Ro mans bekannt wurde; i. a. jedo ch nimmt man an, daß die Antikenro mane um Theben, Aeneas und Tro ja, die auf lateinische Texte zurückgreifen, vo r den Artusro manen Chrétiens anzusetzen sind. Mit der Aneignung der Antike durch Frankreich wird implizit auch dem Gedanken der translatio studii Rechnung getragen, wie er dann pro grammatisch in Chrétiens ‘Cliges’-Pro lo g fo rmuliert wird (zu diesem vgl. Haug 1985, 115 f). Das Ideal der clergie, der gelehrten Bildung, ist systematisch in diese Texte eingebaut (Uitti 1985 a, 243), aber erst in seiner Verbindung mit dem Ideal der chevalerie tritt es im Werk Chrétiens, der als erster die matière de Bretagne für schriftwürdig erachtet, in eine traditio nsbildende Symbio se ein (Haug 1985, 116 f; Uitti 1985 a, 244). Chrétien war sich bewußt, eine literar-

IV. Schriftkulturen

histo rische Schwelle überschritten zu haben, indem er die bislang mündlich kursierenden breto nischen Sto ffe zur Würde der Schriftliteratur erho b, die Möglichkeiten schriftlichen Ko nzipierens reflektierte und über eine strukturelle Ko nzeptio n dem Erzählten Sinn verlieh (Haug 1985, 103). Er wird zum eigentlichen Schöpfer des europäischen Romans. 6.5.  Wenn um 1200 die verschiedenen Arten der Pro saliteratur (Chro niken, Pro saauflösungen vo n Versro manen, auto chtho ne Pro saro mane) zum Durchbruch ko mmen, so hat das nichts mit dem Schritt vo m Vo rlesen zum Selbstlesen zu tun (vgl. Scho lz 1980, 184 ff). Vielmehr ist der Vers selbst in der Krise. Seine Kritiker (o ft zugleich Kritiker der o ralen Überlieferung) machen ihm den Vo rwurf der Lüge und der Verfälschung durch ausschmükkende Hinzufügungen (vgl. Uitti 1985 b, 256; Schlieben-Lange 1987, 771 f). In der Pro sa dagegen sah man, gestützt auf die lateinische Histo rio graphie, den Garanten sachlich-genauer Wiedergabe (vgl. die Textzeugnisse und deren Interpretatio n bei Haug 1985, 241 ff). Der französische Ro man hat mit dem Wechsel zur Pro sa (freilich gibt es weiterhin Versro mane) einerseits die Wahrheitsfo rderung der Geschichtsschreibung beherzigt, andererseits aber gerade die Fiktio nalität des Versro mans herübergerettet. 6.6.  Am Ende dieses Abschnitts so ll die o kzitanische Lyrik stehen. In schriftlicher Fo rm begegnen wir ihr erst ca. 150 Jahre nach der Schaffenszeit ihres ersten Meisters, Wilhelm vo n Po ito u, do ch deutet die relativ unversehrte Tradierung (auch der Melo dien) auf frühe Niederschrift. Die Frage einer schriftlichen Fixierung der Lieder ist scho n seit längerem in der Diskussio n. Wer sie po sitiv beantwo rtet, argumentiert meist mit der technisch-f o rmalen o K mplexität (vgl. Avalle 1964, 275; Rieger 1983, 78). Im letzten Jahrzehnt hat die Ro manistik auch das Pro blem des gelesenen Tro ubado ur- (und Tro uvère-) Liedes in Angriff geno mmen (Rieger 1983; Gruber 1985; Rieger 1987). Die Verstehbarkeit des trobar clus und trobar ric scheint letztlich nur durch die Lektüre vo ll gewährleistet gewesen zu sein (Rieger 1987, 10 ff). — Nach Auto ren angeo rdnete französische und pro venzalische Liedersammlungen (chansonniers) begegnen seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert, gleichzeitig auch vo n den Dichtern selbst angelegte, z. T. chro no lo gisch verfahrende Liederco rpo ra (vgl. Avalle 1964,

41.  Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in Westeuropa

291; Huo t 1987). — Vo n den pro venzalischen Liederhandschriften stammt nur ca. ein Fünftel aus dem französischen Süden selbst, mehr als die Hälfte ist italienischer, ein Teil katalanischer o der no rdfranzösischer Herkunft (Avalle 1964, 273).

7.

Spanien

7.1.  In Spanien standen die Vo lksidio me nicht einer allein od minierenden lateinischen Schriftsprache gegenüber, es herrschte jahrhundertelang Mehrsprachigkeit, und eine beginnende Schriftkultur in der Vo lkssprache sah sich scho n etablierten Schriftkulturen des Lateinischen, Arabischen und Hebräischen ko nfro ntiert, wo bei bald und anhaltend Interferenzen auftraten. Nach der arabischen Invasio n vo n 711 verlagerte sich das kulturelle Leben zunächst ganz nach dem muslimischen Süden. 7.2.  Als älteste Zeugnisse einer literarischen vo lkssprachlichen Schriftlichkeit kennt man seit einem knappen halben Jahrhundert kurze po etische Stücke im Mo zarabischen, der archaischen ro manischen Mundart Andalusiens, über mehrere Jahrhunderte die Sprache der christlichen Mehrheit. Diese so g. jarchas (auch khardjas), vulgärsprachliche Schlußverse hebräischer und arabischer Gedichte (Muwashshaḥas), vo n denen bisher ca. 60 bekannt sind, zeigen, daß die spanische Literatur nicht, wie man früher geglaubt hat, mit dem Epo s einsetzt (vgl. Steiger 1964, 543 ff; Gier 1991, 4 ff). Sie lassen sich z. T. bis in die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts datieren, sind also älter als die frühesten pro venzalischen Stro phen; eine vo rausliegende mündliche Verbreitung ist wahrscheinlich. Daß die jarchas im Vergleich zu den villancicos und den cántigas de amigo, mit denen sie Berührungspunkte aufweisen, viel früher aufgeschrieben wo rden sind, hängt mit dem Kulturgefälle vo n Süden nach No rden zusammen: Nur gebildete Dichter ko nnten diese Verse aufzeichnen, und so lche gab es im muslimischen Süden früher als im christlichen No rden (Deyermo nd 1988, 408). — Kurz vo r 1200 setzt eine umfangreiche lyrische Pro duktio n in der Sprache des No rdwestens, dem Galego po rtugiesischen, ein, die bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts die Ko iné der Lyrik bleibt. Selbst Alfo ns X. und seine Mitauto ren schrieben ihre ‘Cántigas de Santa María’ — in prunkvo llster handschriftlicher Ausstat-

565

tung (vgl. Steiger 1964, 560) — in dieser Sprache. 7.3.  Beim Epo s liegen die Dinge ähnlich wie in Frankreich: Auch hier stehen sich die Fo rschungsrichtungen der Individualisten und der (Neo -)Traditio nalisten gegenüber, und der derzeitige o F rschungsstand entspricht dem des Nachbarlandes. Anders als die Chansons de geste aber sind die spanischen Epen nur sehr schmal überliefert und können meist nur sekundär aus lateinischen und vo lkssprachlichen Chro niken reko nstruiert werden. Als ältester Cantar (ca. 1000) gilt die dem ‘Nibelungenlied’ ähnelnde Geschichte vo n den ‘Siete infantes de Lara’, mit starker Nähe zur Mündlichkeit. Der ‘Cantar de mio Cid’ wird heute i. a. einem gelehrten, um 1207 in der Gegend vo n Burgo s tätigen Auto r zugeschrieben, der sich (auch) auf schriftliche Quellen stützt und eine Technik der Mündlichkeit quasi zitierend anwendet. Hält man dem ‘Cid’ in dieser neuen Sicht das ‘Po ema de Fernán Go nzález’ (ca. 1250?) entgegen, das nicht wie andere Epen in Laissen mit asso nierenden Versen, so ndern in der gelehrten cuaderna vía (gleichreimende AlexandrinerVierzeiler) verfaßt ist, dann zeigt sich, daß der no ch vo n Flasche 1977, 67 ff — wenn auch mit kritischer Zurückhaltung — verwendete Typengegensatz ‘Vo lksepo s’ vs. ‘Kunstepo s’ nicht mehr greift. Eine o ffene Frage ist, o b der ‘Go nzalez’ (dessen Verfasser Mönch war) dem mester de clerecía zugerechnet werden kann (so Flasche 1977, 53), einer gelehrten, an Klöster und Universitäten vo n Altkastilien und das Grenzgebiet vo n León gebundenen Bewegung mit einem dezidiert literarischen Pro gramm und Beziehungen der Auto ren untereinander, deren wesentliche Basis die Lektüre war (Flasche 1977, 108 ff; Deyermo nd 1988, 411 ff). 1212 o der 1214 wird in Palencia ein estudio general gegründet, eine Art Universität, an der Franzo sen o der Männer, die in Frankreich studiert haben, als Lehrer tätig werden. Vielleicht ist der Alexandriner ihr Mitbringsel, das Versmaß, das zuerst das ‘Libro de Alexandre’ (Ende der zwanziger Jahre) verwendet, ein vo n Elementen des Epo s durchzo gener Ro man und eine Summe weltlicher Gelehrsamkeit (Flasche 1977, 150 ff; Deyermond 1988, 412). 7.4.  Nach der Mitte des 13. Jahrhunderts verlagert sich das Zentrum des literarischen Lebens vo m No rden Kastiliens in die Gegend um To ledo , das scho n seit dem 12. Jahrhun-

IV. Schriftkulturen

566

dert im Colegio de Traductores eine Übersetzerakademie besaß, die Gelehrte aus ganz Euro pa anzo g. To ledo , der erste islamische Kulturmittelpunkt, der 1085 im Zuge der christlichen Wiederero berung zu Kastilien kam, pflegte im 12. Jahrhundert no ch die scho lastische Übersetzung ganz in Latein (Adelard ov n Bath, Petrus Venerabilis). Durch o T led o wurden dem christlichen Euro pa Aristo teles und seine Ko mmentato ren Averro es und Avicenna auf Lateinisch vermittelt. Als Brücke zwischen der hebräischen (z. B. Maimo nides) und der arabischen Welt auf der einen, der lateinischen auf der anderen Seite leistete Spanien so lchermaßen einen wertvo llen Beitrag zur kulturellen Renaissance des 12. Jahrhunderts (Steiger 1964, 564 ff; Deyermo nd 1988, 410). Im 13. Jahrhundert ging To ledo dann zum Kastilischen als der neuen Übersetzersprache über. — Wesentlich am Aufstieg des Kastilischen zur Ko iné beteiligt war König Alfo ns X., der Weise (reg. 1252—1284). Er, den man den literarischsten aller Könige des mittelalterlichen Euro pa genannt hat (Steiger 1964, 554), hat seinen Ho f zum wichtigsten kulturellen Zentrum des spanischen Mittelalters gemacht. In der vo n ihm 1254 gegründeten Übersetzerakademie vo n Sevilla wurden arabische (und z. T. hebräische) Texte ins Kastilische übersetzt. Obwo hl Alfo ns, wie gesehen, den Vers nicht verschmäht hat, liegt seine geradezu revo lutio när zu nennende Leistung do ch in der Ausbildung der vulgärsprachlichen Pro sa. Als Auto r und als Anreger, der Berater, Gelehrte, Übersetzer, Ko mpilato ren und Ko pisten um sich scharte, Anteil nahm am Entwerfen und Planen der Werke, das Redigieren der sprachlichen Fo rm überwachte, Prachthandschriften als Vo rlagen für weitere Abschriften im königlichen Skripto rium verwahren ließ und über eine reiche persönliche Biblio thek verfügte (vgl. Steiger 1964, 554 ff), ist Alfo ns so etwas wie der Mo dellfall des rex litteratus. Mögen seine Initiativen auch nicht uneigennützig gewesen sein — die Wahl der Vo lkssprache für die beiden Riesenwerke einer spanischen Chro nik und einer Weltchro nik wird als flankierende Maßnahme im Sinne einer kulturpo litischen Offensive zu seinen Hegemo nieansprüchen auf der Halbinsel und in ganz Euro pa verstanden (Gumbrecht 1983, 170; Deyermo nd 1988, 415) —, sein Verdienst, das Kastilische zum unangefo chtenen Medium gelehrter Pro sa gemacht und zu einer Anreicherung des Vo kabulars so wie zu größerer Flexibilität der Syntax beigetragen zu

haben, bleibt unbestritten, eine in Euro pa einzigartige sprachschöpferische Leistung (Deyermond 1988, 414). 7.5.  Als gesamtro manisches Fazit und als Übergang zum letzten, Italien behandelnden Abschnitt sei die Feststellung Flasches (1977, 15) festgehalten: „Der Beginn der spanischen Literatur ist beträchtlich vo r den der italienischen, sicher neben den der französischen, nach o der vielleicht so gar vo r den der pro venzalischen Literatur anzusetzen.“

8.

Italien

8.1.  Wenn davo n gespro chen werden kann, daß im italienischen Mittelalter die Bildung der Laien weiter entwickelt war als anderswo , dann gilt das in erster Linie für die pragmatische Schriftlichkeit vo n Lehrern, Juristen, No taren und Ärzten, dann auch Kaufleuten o der Beamten des Ho fes und der städtischen Verwaltung. Diese Schriftlichkeit im Ho chmittelalter untersucht ein Teilpro jekt des Münsterer SFB 231. Eine eigentliche literarische Schriftkultur in der Vo lkssprache aber gibt es in Italien (darin ist es der Nachzügler in Euro pa) erst ab dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts. Vo n da an aber zeigen sich vielerlei Beziehungspunkte zwischen beiden Spielarten der Schriftlichkeit: Die meisten Dichter der Sizilianischen Schule um Friedrich II. waren Ho fbeamte; in Bo lo gna, v. a. im letzten Viertel des 13. und im ersten des 14. Jahrhunderts, füllen No tare freibleibenden Raum in Originalregistern und Ko pien mit Gedichten (Fo lena u. a. 1964, 397), und auch unter den ersten Ko pisten der Werke Dantes treffen wir No tare an (Fo lena u. a. 1964, 422). In der seit dem frühen 12. Jahrhundert, v. a. in Bo lo gna, sich zunehmend ausbreitenden Lehre der ars dictandi, zuerst als Anleitung zum kunstgerechten Abfassen vo n Briefen gedacht, bald aber sich auch auf literarische Pro sa und auf alle Arten amtlichen Schriftguts ausweitend (Wo rstbro ck 1989, 1 ff), ist ein anderer Berührungspunkt zwischen beiden Schriftlichkeitstypen zu fassen. Zweifello s wurde durch den Lehrbetrieb der ars dictandi auch die Herausbildung einer vulgärsprachlichen Kunstpro sa vo rangebracht (Fo lena u. a. 1964, 349 ff). — Eine eindeutige Diglo ssie, eine nicht mehr überbrückbare Trennung zwischen der gespro chenen Sprache und derjenigen der Schrift macht sich im Ursprungsland des Lateinischen sehr viel später als in den anderen Ländern der

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Ro mania bemerkbar (Meno cal 1985, 622; zu diesem und anderen Gründen vgl. auch Schnell 1978, 55 f). Verantwo rtlich für die Verspätung vo lkssprachlicher Schriftkultur sind auch die fehlende po litische Einheit Italiens und in ihrer Fo lge die andauernde dialektale Zersplitterung. Selbst als — scho n früh im 13. Jahrhundert — das To skanische führende Literatursprache wurde, war dies eher eine zufällige Entwicklung. Hinzu ko mmt, daß weder die Kirche no ch der weltliche Adel, im No rden ganz nach Frankreich o rientiert, eine Mo tivatio n hatte, die Vo lkssprache zu fördern (der Stauferho f in Sizilien ist ein So nderfall). Die ersten Schritte zur eigentlichen Ausbildung ov lkssprachlicher Schriftkultur unternehmen die Ko mmunen, und nach dem Ende der Staufer geht die kulturelle Initiative ganz an die neue Elite, das städtische Bürgertum über (Fo lena u. a. 1964, 323; 350; 370; Cardini 1978). — Das Auftreten vo n trobadors und jongleurs und der Impo rt französischer Pro saro mane haben gewiß zu den Anfängen italienischer Literatur das Ihre beigetragen; v. a. aber ist es die Sizilianische Schule, die die westlichen Errungenschaften der Lyrik vermittelt. Ihre eigenen Pro dukte sind scho n früh in Sammelhandschriften geo rdnet, Vo rläufern der gro ßen to skanischen, nach Auto renco rpo ra arrangierten Canzonieri (Folena u. a. 1964, 370; 372; 381; Huot 1987, 330 f).

schen Gedichte Dantes, und dank Bo ccaccio s Prestige fand die auf ihn zurückgehende Überlieferung im 14./15. Jahrhundert viele Leser (Fo lena u. a. 1964, 469 f). Petrarcas ‘Rime sparse’ zeigen ein ho hes Selbstbewußtsein des Auto rs als Schreibenden und Arrangeurs, der geschriebene Text erscheint als Spiegel der Erfahrung des Dichters (Huo t 1987, 332). Dieser Canzoniere ist, Fo lge des Entschlusses, seine lyrischen Gedichte in einer authentischen Sammlung anzulegen, im Auot graph erhalten, zusätzlich existieren 20 Werkblätter, meist Vo rlagen dafür (Fo lena u. a. 1964, 486 ff), so wie eigene Sammlungen ausgewählter Briefe. Bo ccaccio , der uns bereits als Ko pist vo n Dantes ‘Co mmedia’ begegnet ist, hat auch so nst klassische und mittelalterliche Texte abgeschrieben und ko mmentiert, auch Auto graphen eigener Werke sind uns erhalten. Zuerst durch Schreibzentren im Dienst der gro ßen flo rentinischen Handelsgesellschaften in bürgerlich-merkantilen Kreisen verbreitet, fanden seine in unterschiedlicher Dichte tradierten Werke nach und nach auch außerhalb des to skanischen Raums gro ße Beachtung. Der vo n Bo ccaccio gesetzte literarische Standard wurde letztlich auch für die Fixierung der italienischen Schriftsprache entscheidend (Fo lena u. a. 1964, 503 ff).

8.2.  Daß der ‘So nnengesang’ des Franz vo n Assisi (1225/26) das erste Gedicht in italienischer Sprache ist, das wir kennen, mag dem Zufall der Überlieferung zuzuschreiben sein; immerhin darf diese lauda als der erste Meilenstein in der Geschichte der italienischen Literatur bezeichnet werden, ein Text, der wo hl scho n früh schriftliche Verbreitung gefunden hat (Fo lena u. a. 1964, 335 ff), wie dann später auch ganze Laudensammlungen zwischen den Bruderschaften einzelner Städte ausgetauscht werden. — Nur einige wenige Aspekte der Bedeutung der drei gro ßen Auto ren für die italienische Schriftkultur können hier berührt werden. Die Verbreitung vo n Dantes ‘De vulgari elo quentia’, der ersten theo retischen Erörterung des Pro blems der Wahl der Dichtungssprache, setzte erst einige Zeit nach seinem To d ein und war insgesamt o ffenbar sehr beschränkt (Fo lena u. a. 1964, 441); am anderen Ende der Skala stehen die über 600 erhaltenen Handschriften der ‘Co mmedia’ (Fo lena u. a. 1964, 458). Wertvo ll sind bes. drei auto graphische Ko pien Bo ccaccio s, Teile eines Editio nspro gramms der italieni-

9.

Rückblick und Ausblick

Wenn Gumbrecht (1983, 166 f; 170 f), ausgehend vo n der seiner Meinung nach überzo genen These vo n den zwei nebeneinander existierenden Kulturen (Kleriker- und Laienkultur), die Ko nstituierung der Vo lkssprache als Schriftsprache ins 15. Jahrhundert verlegt und die Verschriftlichungsleistungen vo rausliegender Jahrhunderte nur als jeweils punktuelle Ansätze versteht, so trägt er zwar der Tatsache Rechnung, daß in nahezu allen Ländern viele — wenn auch nicht alle — der ersten Zeugnisse vulgärsprachlicher Schriftliteratur auf einen klerikalen Impetus zurückzuführen sind, beachtet aber weder, daß manche Gattungen wie z. B. die höfische Lyrik (sieht er sie nur in der Mündlichkeit angesiedelt?) vo n Anfang an in der Trägerschaft vo n Laien standen, no ch, daß andere Genres, wie z. B. der höfische Ro man, sich scho n sehr bald aus dem Klerikermilieu gelöst und eine vo n der lateinischen Kultur fast gänzlich abgetrennte Existenz geführt haben. Er erkennt auch nicht — um bei den Verhältnissen in Frankreich und Deutschland zu bleiben — die mannig-

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fachen Anstöße im 11. und v. a. im 12. Jahrhundert, die zu einer Emanzipatio n der laikalen Kultur geführt und eine Entwicklung in Gang gesetzt haben, vo n der es kein Zurück gab. Der vo lkssprachliche Ro man des Mittelalters, wieder z. B., mündet, nachdem er einige Metamo rpho sen durchgemacht hat, direkt in den Ro man der Neuzeit. Anders als Gumbrecht will, hat der vo rliegende Überblick gezeigt, daß die Vo lkssprache als Schriftsprache in Frankreich und Deutschland im 12., in Island, Spanien und selbst in Italien im 13. Jahrhundert (in England widriger Umstände wegen wo hl endgültig erst im 14. Jh.) festen Fuß gefaßt hatte, ja in Irland scho n viele Jahrhunderte früher etabliert war. Ob es, hier no ch ganz auf das Lateinische bezo gen, der „Umbruch der Lesekultur“ um 1150 war, basierend auf technischen Neuerungen, die „die Buchseite vo n einer Partitur zum Textträger“ machten (Illich 1991, 10 f), o b es, jetzt in der Vo lkssprache, am Ende des Jahrhunderts die Geburt des Erzählers, die Entdeckung der Fiktio nalität o der das Auftreten des Einzellesers waren, o b der Siegeszug der Schriftpro sa im 12./13. Jahrhundert in Island o der Frankreich, um nur einiges zu nennen — Errungenschaften wie diese markieren jeweils einen epo chalen Wendepunkt in der Entwicklung der euro päischen Schriftkultur, und man wird zu fragen haben, o b vo r diesem Hintergrund die Wendemarke der Erfindung des Buchdrucks nicht in ihrem Stellenwert zu relativieren ist (vgl. Illich 1991, 10 f; 122).

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Manfred Günter Scholz, Tübingen (Deutschland)

42. Der Buchdruck und seine Folgen Redaktioneller Hinweis: Aus terminlich-technischen Gründen muß der an dieser Stelle vorgesehene Artikel leider entfallen.

43.  Perspektiven der Schriftkultur

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43. Perspektiven der Schriftkultur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

1.

Einleitung Zum Begriff der Kultur und zur Rolle der Schrift Differenzierung von Schriftkulturen Universalisierung der Kommunikation Neue Formen des Schreibens Anforderungen an eine neue Schriftkultur Literatur

Einleitung

Die vielleicht wichtigste Kennzeichnung mo derner Gesellschaften und ihrer Perspektiven läßt sich in dem Begriff der Offenheit zusammenfassen. Mit einem in die Vergangenheit gerichteten Blick wird damit die Auflösung überlieferter no rmativer Orientierungen und stabilisierter Deutungsmuster festgestellt: Die Bewertungen vo n Handlungen und Ereignissen so wie ihr Verständnis haben sich für verschiedenste, miteinander ok nkurrierende Sichtweisen geöffnet. Die üblicherweise dem Bereich der Kultur zugerechnete Funktio n, einen für alle Mitglieder einer Gesellschaft mehr o der weniger eindeutigen und verbindlichen Bezugsrahmen des Handelns zu liefern, verliert an Substanz. Der Blick in die Zukunft erlaubt, nachdem die Katego rie des Fo rtschritts brüchig gewo rden ist, keine sicheren Pro gno sen über künftige Entwicklungen mehr. Die Ho ffnung, Zukunft aus der Gegenwart zu extrapo lieren, mußte der Einsicht weichen, daß die Perspektiven der Gesellschaft durch Offenheit und nicht durch die Selbstverständlichkeit einer linearen Weiterentwicklung gekennzeichnet sind. Damit entsteht die Unsicherheit, auf welche künftigen Ereignisse man sich einzustellen hat. „Der Vekto r der Geschichte ist abhanden geko mmen.“ (Sieferle 1984, 264) Eine Ursache für diese Offenheit kann in dem als Differenzierung beschriebenen histo rischen Pro zeß gesehen werden: Die mo derne Gesellschaft besteht aus einer Vielzahl unterschiedlicher Handlungsbereiche, die nach je eigenen Überzeugungssystemen arbeiten. Aus ihrem Zusammenwirken ergibt sich eine Ko mplexität, die für die Mitglieder der Gesellschaft kaum no ch überschaubar ist und ihnen daher als Offenheit und als Auflösung kultureller Bindungen erscheint. Die Funktio n der Schrift als einem zentralen kulturellen Bindeglied scheint in diesem Pro zeß ebenfalls an Bedeutung zu verlieren, wenn es in der

Gesellschaft kaum no ch kano nische Texte gibt, die einen einheitlichen Bezugsrahmen für Bildungsbio graphien liefern und wenn die Fo rmen schriftlicher Ko mmunikatio n so vielfältig gewo rden sind, daß sie kaum no ch Anschlußmöglichkeiten untereinander gewährleisten. Angesichts der vielfältigen Zugänge zu Schrift erscheinen glo bale Bestimmungen ihrer kulturellen Funktio n z. B. als repräsentativ, kano nisierend o der evo lutiv, wie sie etwa Assmann (1992) für ältere Kulturen fo rmulierte, für die heutige Gesellschaft nicht mehr tragfähig. Die Feststellung einer Offenheit der Entwicklungsperspektiven ermöglicht in einem zweiten Schritt die Idee der Planung vo n Entwicklungen. Erst in einer nicht mehr deterministischen und schicksalso rientierten Auffassung vo n histo rischer Entwicklung macht es Sinn, über eine absichtsvo lle Gestaltung der Gesellschaft nachzudenken. Man kann no ch weitergehen und vermuten, daß die durch die Offenheit erzeugte Unsicherheit hinsichtlich der Frage, wie es weitergeht, die Idee der Planung so gar erzwingt, da sie die Ho ffnung auf Gewißheit über die Grundlagen des Handelns und die Zukunft liefert. Wie realistisch diese Ho ffnung allerdings ist, bleibt abzuwarten. Eine Ko nkretisierung der Idee der Planung unsicher gewo rdener gesellschaftlicher Entwicklungen findet sich in dem Ko nzept der Informations- und Kommunikationsgesellschaft. Die Einheitlichkeit der auseinanderstrebenden Bereiche der Gesellschaft so ll durch ein universelles Ko mmunikatio nssystem gesichert werden, das in der Lage ist, einerseits die Offenheit der Gesellschaft zu gewährleisten, andererseits aber die damit verbundene Unsicherheit und die Gefahr, daß zu viele Ko mmunikatio nspro zesse mißlingen, zu vermindern. Im Unterschied zu der histo risch gescheiterten Idee, die gesamte Gesellschaft auf der Grundlage einer bestimmten Ideo lo gie zu planen, so ll hier ein fo rmales o K mmunikati o nsinstrument ein Bindeglied und ein Steuerungsmedium liefern. In diesem Pro jekt wird sich die Ro lle der Schrift und ihr Beitrag zur Kultur wesentlich ändern. In diesem Beitrag werden zunächst einige Aspekte traditio neller Begriffe vo n Kultur und Schriftkultur diskutiert. Im dritten Abschnitt wird das Ko nzept der differenzierten Gesellschaft und anschließend im vierten Abschnitt die Idee der Universalisierung der

IV. Schriftkulturen

574

Ko mmunikatio n in den mo dernen Techno lo gien vo rgestellt. Im fünften Abschnitt werden einige der neueren Schrifttechno lo gien im Spannungsfeld vo n Differenzierung und Universalisierung untersucht. Abschließend werden Pro bleme, die sich aus diesen Entwicklungen ergeben, diskutiert. Die Beschleunigung der medientechnischen Entwicklungen bringt es mit sich, daß pro gno stische Aussagen in diesem Bereich immer etwas riskant sind.

2.

Zum Begriff der Kultur und zur Rolle der Schrift

Der Kulturbegriff und die Ro lle, die der Schrift darin zugedacht wird, unterliegen gro ßen histo rischen Wandlungen, die einem jeweils spezifischen Abgrenzungsbedürfnis geschuldet sind. Kultur umreißt zunächst den Bereich der Welt, der für eine Gesellschaft durch Vertrautheit und Sicherheit gekennzeichnet ist. Vo r der Etablierung eines universalen Menschenbegriffes wurde mit dem Gegensatz vo n Kultur und Barbarei jegliches fremde menschliche Verhalten als kulturlo s ausgegrenzt. Als Beschreibungsmerkmal barbarischen Verhaltens diente auch dessen Sprache und das Fehlen einer Schrift. Erst die Kulturanthr o op ol gie erkannte die Vielfalt menschlicher, also auch fremder und nichtschriftlicher Verhaltensweisen als Kulturen an und ermöglichte so eine Verwendung des Kulturbegriffes im Plural (→ Art. 30). Auch wenn die damit erreichte Dezentrierung der Perspektiven eine wichtige Fähigkeit in der mo dernen Gesellschaft bedeutet, wurde der Kulturbegriff nie frei vo n der unterschiedlichen Bewertung des Vertrauten und des Fremden. Diese Auszeichnung der eigenen Kultur hängt mit zwei weiteren begrifflichen Oppo sitio nen zusammen. Einmal kann Kultur als fa k t i s c h gegebenes Verhalten o der aber n o r m a t i v als Leitvo rstellung des Handelns gedacht werden. Ihren Orientierungswert erhält sie insbeso ndere unter der no rmativen Perspektive. Damit verbindet sich allerdings auch immer ein Gegensatz zu den No rmen anderer Kulturen. Weiterhin liegt gerade die identitätsstiftende Funktio n vo n Kultur darin, einen Bereich als einheitlich gegenüber einer als different angesehenen Umwelt auszugrenzen. Die begriffliche Auseinandersetzung darüber, was zu einer Kultur gehört und was nicht, richtet sich, niemals emo tio nslo s, darauf, was als völlig Anderes zu betrachten

ist und was in den Kreis des Vertrauten einbezo gen werden kann. Die Auszeichnung e i n e r Kultur wird damit unvermeidlich, und ein pluralistischer Kulturbegriff, wie er einer in Subkulturen zerfallenden Gesellschaft angemessen wäre, wird immer eine Idealvo rstellung bleiben. Eine der wichtigsten Ausgrenzungen, die mit dem Begriff der Kultur vo rgeno mmen wird, drückt sich in der Oppo sitio n vo n Kultur und Natur aus. Dazu gehört auch die Auffassung, bezo gen auf die Weitergabe vo n Fähigkeiten innerhalb einer Spezies, die Traditio n dem Bereich der Kultur zuzuo rdnen, während die Vererbung als das Natürliche ausgegrenzt wird (Po sner 1991, 39). Lange Zeit galt als kulturelle Traditio n insbeso ndere das, was schriftlich weitergegeben wurde. Erst relativ spät wurde die Bedeutung mündlicher Traditionsbildung erkannt (Nevins 1932). Eine weitere Oppo sitio n bildet diejenige zwischen Kultur und Technik (z. B. Benjamin 1963). Vo r diesem Hintergrund führte die Technisierung der Kultur in der Ko mmunikatio nsgesellschaft zu einem tiefgreifenden Ko nflikt des Kulturbegriffes. Gerade die Sprache und die Schrift als wichtigste Medien der Kultur stehen im Zentrum des gegenwärtigen Technisierungsschubes: Kulturelle Pro zesse sind nun weitgehend auf technische Medien angewiesen. Damit entsteht die Frage, wie angesichts dieser Entwicklungen die Oppo sitio n zwischen Kultur und Technik redefiniert werden kann. Ein Versuch besteht darin, eine Binnendifferenzierung zwischen techniko rientierten und humanistischen Subkulturen innerhalb einer Gesellschaft (z. B. Sno w 1967) einzuführen. Dabei wird der ersten Gruppe ein regelo rientierter und axio matischer Diskursstil zugeo rdnet und der zweiten ein eher narrativer Stil. Mit dieser Unterscheidung wird allerdings die Tatsache verdeckt, daß die mo derne Technisierung alle Bereiche der Gesellschaft erfaßt. Eine weitere Binnendifferenzierung des Kulturbegriffes wurde neuerdings vo n Assmann & Harth (1991) thematisiert: Kultur als Lebenswelt und Mo nument. In zeitlicher Perspektive zeichnet sich die Lebenswelt durch Nähe zu den Zeitgeno ssen und das Mo nument durch Verbindung mit den Vo rfahren aus; der Gestus der Lebenswelt ist weniger stilisiert als jener des Mo numentes; sprachlich besitzt die Lebenswelt eher dialo gischen und das Mo nument eher mo no lo gischen Charakter. Anknüpfend an den Histo riker R. Ko selleck spricht Assmann (1991, 22) vo n einer

43.  Perspektiven der Schriftkultur

Krise des Mo numents in der mo dernen Gesellschaft durch Pro fanisierung, raschen histo rischen Wandel, Auflösung traditio neller Herrschaftssymbo lik etc. Die Schrift wird nun auch vo n dieser Krise betro ffen: In allen gängigen Auffassungen wird sie, im Unterschied zur eher mündlich-dialo gisch ko nzipierten Lebenswelt, eher als Mo nument gedacht: Der schriftliche Text als stabiler Referenzpunkt einer Kultur. Gerade auf die Unveränderlichkeit der älteren Fo rmen der Schrift zielen aber die neuesten technischen Entwicklungen des Schreibens. Sie so llen die Veränderbarkeit des Geschriebenen erleichtern und vermindern damit seinen Monumentcharakter. Eine weitere Frage in der Diskussio n des Kulturbegriffes bezieht sich darauf, o b Kultur einen ausgegrenzten Bereich der Gesellschaft ausmacht o der eine übergeo rdnete Struktur. Dabei geht es um eine Klärung des Verhältnisses der Begriffe Kultur und Gesellschaft. So sieht z. B. Wehler (1987) Kultur als eine relativ auto no me Dimensio n der Gesellschaft neben den Dimensio nen Arbeit und Herrschaft. Diese Auto no mie drückt sich z. B. in bestimmten kulturellen Institutio nen aus wie Schule, Kirche o der Veröffentlichungswesen. Tro tz dieser Auffassung wird auch bei Wehler deutlich, daß Kultur ein Band für die gesamte Gesellschaft darstellt und nicht in einem differenzierten Teilbereich aufgeht: „Kultur so ll, dem weiten Begriff der Kulturanthro po lo gie fo lgend, die ideellen und institutio nellen Traditio nen, Werte und Einstellungen, die Denkfiguren, Ideo lo gien und Ausdrucksfo rmen, jene symbo lisch verschlüsselte Erfassung und Deutung vo n Wirklichkeit umfassen, mit deren Hilfe nicht nur sprachlichschriftliche, so ndern schlechterdings jede Art vo n Ko mmunikatio n unterhalten und gespeichert wird, so daß alles Verhalten und Handeln in diesen Ko mplex symbo lischer Interaktio n eingebettet bleibt, durch ihn angeleitet wird.“ (Wehler 1987, 10). Dieses Leitbild vo n Kultur als einem gemeinsamen Rahmen der Ko mmunikatio n so ll mit den zuvo r aufgeführten Unterscheidungen nun als Ausgangspunkt für die Diskussio n der möglicherweise veränderten Ro lle vo n Kultur geno mmen werden. In diesem Kulturbegriff ko mmen der Schrift zweierlei Funktio nen zu, die zur Ko nstitutio n der Schriftkultur beitragen: Die Fähigkeiten des Schreibens und Lesens vermitteln erstens die Teilhabe an einem Zeit und Raum übergreifenden K o mmunikati o nssystem, das neue ko gnitive Strukturen der Gesellschaft ermöglicht. Zweitens stabilisieren die Kenntnis be-

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stimmter Schriften bzw. Texte und die gemeinsame Referenz auf sie die Weltsicht einer Kultur. Dabei wurde die erste Fähigkeit eher als Mittel zum Zweck angesehen, während die bedeutendere Vo raussetzung für die Mitgliedschaft in einer Kultur in der Kenntnis kano nischer Texte bestand. Diese Funktio nen vo n Schriftkultur, ein Band für verschiedenste Ko mmunikatio nsfo rmen innerhalb der Gesellschaft zu liefern, steht in der Ko mmunikati o ns- und Inf o rmati o nsgesellschaft ov r einer gänzlich neuen Herausforderung.

3.

Differenzierung von Schriftkulturen

Begreift man Kultur als Bezugsrahmen jeglicher Ko mmunikatio n, dann wird auch für ein Verständnis vo n Schriftkultur unterstellt, eine Gesellschaft ließe sich unter dem Aspekt der Schriftverwendung als einheitlich beschreiben. In jüngerer Zeit findet man dagegen immer mehr Untersuchungen, die vo n Brüchen in dem Bild e i n e r (Schrift-)Kultur berichten. Man kann eine Ausdifferenzierung unterschiedlicher Kulturen entlang mehrerer Achsen innerhalb einer Gesellschaft und zwischen verschiedenen Gesellschaften beo bachten. In den So zialwissenschaften bezieht sich diese Differenzierungsthese zunächst nicht auf die Schrift, so ndern auf die Entwicklung der mo dernen Gesellschaft insgesamt. Es erscheint jedo ch plausibel, daß vo n der Differenzierung auch die schriftliche Ko mmunikatio n betro ffen ist und künftige Schriftkulturen immer weniger in der o hnehin scho n pro blematischen Weise als einheitlich beschreibbar sein werden. 3.1. Funktionale Differenzierung In einer bestimmten so zialwissenschaftlichen Auffassung wird die Entwicklung mo derner Gesellschaften als ein fo rtschreitender Differenzierungspro zeß beschrieben (z. B. Luhmann 1985, 1986; Mayntz 1988; Jo as 1990). Danach bilden sich innerhalb der Gesellschaft immer mehr auto no me Teilbereiche — Recht, Po litik, Öko no mie, Wissenschaft, Religio n etc. — heraus, die nach eigenen Prinzipien strukturiert sind und über eigene Medien verfügen. Einen weitreichenden Differenzierungsbegriff findet man in der so zio lo gischen Systemtheo rie. Danach geht die Gesellschaft weitgehend in verschiedenen Teilsystemen auf, und insbeso ndere gibt es keine privilegierten Po sitio nen, vo n denen aus ein integrativer Blick auf die Gesellschaft möglich wäre.

IV. Schriftkulturen

576

Mit dieser Auffassung verbindet sich ein „Steuerungspessimismus“, der besagt, daß aufgrund der Auto no mie der Teilsysteme ein no rmativer Zugriff auf gesamtgesellschaftliche Pro zesse nicht möglich sei. Gegenläufige Bestrebungen in den verschiedenen neuen po litischen Bewegungen erscheinen als „illusio näre Entdifferenzierungsträumerei“. Der Schrift ko mmt damit auch keine beso ndere, integrative Ro lle zu; für eine übergreifende Schriftkultur, wenn sie gar als no rmatives Ko nzept gedacht wird, gibt es in der differenzierten Gesellschaft keinen Platz. Schriftverwendung findet man zwar praktisch in allen Teilsystemen der Gesellschaft, diese ko nstituieren sich aber über je beso ndere Arten des Schreibens: über spezifische Typen schriftlicher Texte, spezifische Fo rmen der Verbindung vo n Schriftlichkeit und Mündlichkeit, spezifische mediale Fo rmen des Schreibens. Die Tatsache, daß geschrieben wird, mag als verbindendes Element bestehen bleiben. Wie jedo ch geschrieben wird, unterscheidet sich so weitgehend, daß damit nur wenige K o mmunikatio nsmöglichkeiten zwischen den Teilsystemen eröffnet werden. In der Gesellschaftstheo rie vo n Jürgen Habermas bleibt mit dem Lebenswelt-SystemDualismus (Habermas 1981) zunächst ein Residuum für einen nichtdifferenzierten Handlungsbereich innerhalb der Gesellschaft. Die Lebenswelt erscheint als der Bereich der Gesellschaft, der Möglichkeiten sinnvo llen Handelns über Partialinteressen hinweg bietet. Der Begriff der Lebenswelt wurde vo n Habermas dabei nach dem Mo dell mündlicher, dial o gischer K o mmunikati o n ok nzipiert. Schriftlichkeit spielt hier nur eine untergeo rdnete Ro lle. Die Differenzierung der Gesellschaft bleibt auf diejenigen Bereiche begrenzt, die nach systemischen Mechanismen funktio nieren. Allerdings bildet die Bedro hung der Lebenswelt durch systemische Mechanismen eine Kernannahme dieser Überlegungen: Durch zunehmende Technisierung und Industrialisierung schrumpfen die Bereiche lebensweltlichen Handelns, die Lebenswelt wird technisiert bzw., metapho risch gesprochen, „kolonialisiert“. Die Technisierung des Schreibens müßte nach dieser Theo rie ebenfalls als Variante der Ko lo nialisierung der Lebenswelt gedeutet werden. Die Phäno mene, die anderno rts als Differenzierungspr o zesse beschrieben werden, erscheinen hier als Systemisierung bzw. Ko lo nialisierung der Lebenswelt. Abstrahiert

man vo n den theo retischen Bezugsrahmen, so erscheint die Diagno se der gesellschaftlichen Entwicklung in diesem Punkt übereinzustimmen. Betrachtet man die verschiedenen Differenzierungsko nzepte, so bleibt bei all ihrer unterschiedlichen Ko nzeptio n wenig Raum für eine glo bale Kennzeichnung einer Gesellschaft als Schriftkultur. Vielmehr zerfällt sie, zumindest in den funktio nal differenzierten Bereichen der Gesellschaft wie Recht, Po litik, Wissenschaft, Wirtschaft etc., in eine Vielzahl auto no mer Schriftkulturen mit nur begrenzten Verständigungsmöglichkeiten untereinander. 3.2. Individuelle Differenzierung Nicht nur die verschiedenen Funktio nsbereiche der Gesellschaft erfahren eine Differenzierung, so ndern auch die individuellen Lebensentwürfe und Bio graphien. Der rasche so ziale Wandel erfo rdert vo n den Gesellschaftsmitgliedern ein extrem ho hes Maß an geo graphischer, so zialer und kultureller Mo bilität und die Fähigkeit, sich in verschiedensten Funktio nsbereichen zu bewegen. Der So zio lo ge Ulrich Beck beschreibt dies als eine of rtschreitende Individualisierung und die Herausbildung ov n „Lebensstil-Enklaven“ (Beck 1988). Jedes Individuum lebt in unterschiedlichen „Kulturen“ und muß sich aus ihren „Schnittmengen“ eine eigene, spezifische Identität schaffen. Für die schriftliche So zialisatio n bedeutet dies, daß die Mitglieder der differenzierten Gesellschaft sich individuell beso ndere Mo delle der Schriftverwendung erarbeiten müssen. 3.3. Generationsmäßige Differenzierung Mit dem immer schneller werdenden gesellschaftlichen Wandel werden die Lernbio graphien einzelner Generatio nen immer unterschiedlicher. Dies betrifft auch die Techno lo gien des Schreibens. Die Apparate, mit denen eine Generatio n das Schreiben lernt so wie die damit verbundenen Ko mmunikatio ns- und Textfo rmen, werden nicht mehr die gleichen sein wie in einer nachfo lgenden Generatio n. So mit wird es in einer Gesellschaft immer generati o nsabhängig unterschiedliche o F rmen des Zuganges zu den jeweils aktuellen Medien des Schreibens geben. Die jüngere Generatio n hat dabei immer den unbefangeneren Zugang, da sie in die jeweils neuesten Medien sozialisiert ist.

43.  Perspektiven der Schriftkultur

3.4. Ethnische Differenzierung Ein weiterer To po s zur Beschreibung mo derner Gesellschaft besagt, daß sie zunehmend multiethnisch o der multikulturell werden (Rehbein 1985). Dies bedeutet, daß die Natio nalsprachenideo ol gie pro blematisch wird, da in einer Gesellschaft mehrere Sprachen gespro chen und auch geschrieben werden. Durch unterschiedliche ethnische Herkünfte können damit unterschiedliche Arten des Schreibens, der Schriftko mpetenz und ihrer Verteilung über die Geschlechter und Altersgruppen verbunden sein. 3.5. Internationale Differenzierung Möglicherweise no ch radikaler als die Differenzierungen innerhalb einer Gesellschaft bzw. eines Staates erscheinen die divergierenden Entwicklungen unterschiedlicher Staaten, wie sie vereinfacht mit der Dicho to misierung Erste Welt — Dritte Welt zum Ausdruck gebracht wird. Damit verbinden sich auch drastische Unterschiede in der Ro lle der Schrift und insbeso ndere bei den neuen Techno lo gien des Schreibens. Im Bereich der Teleko mmunikatio n und der Datenverarbeitung hat sich der Abstand zwischen den so g. entwickelten und den sich entwickelnden Ländern in den achtziger Jahren vermutlich verdo ppelt (Rada 1985). Die Entwicklung der technischen Ko mmunikatio nskultur stellt weitgehend eine Angelegenheit der Industriestaaten dar. Nur eine schmale gesellschaftliche Schicht in der übrigen Welt kann sich an sie anschließen. So mit erzeugt diese Technik zwar ein internatio nales Band, es besteht aber die Gefahr, daß im Ergebnis die wirtschaftliche und kulturelle Kluft zwischen den Staatengruppen noch größer wird. Nach den Diagno sen der Differenzierungstheo rien bleibt wenig Raum für eine Kultur, die für alle Bereiche der Ko mmunikatio n innerhalb einer Gesellschaft einen gemeinsamen Hintergrund abgeben könnte. Die Gesellschaft zerfällt in eine Vielzahl vo n Kulturen, auch so lche der Schrift. Der Bezug auf kano nische Texte und gleichartige Deutungsmuster verschwindet weitgehend, und es bleibt als Gemeinsamkeit lediglich das Schriftsystem.

4.

Universalisierung der Kommunikation

Der Gegenentwurf zu einer Gesellschaft aus Teilsystemen, die kaum no ch zu einer über-

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greifenden Ko mmunikatio n in der Lage sind, ko nstatiert die Herausbildung eines glo balen Ko mmunikatio nssystems. Diese These baut auf drei Beo bachtungen auf, die sich auf die wirtschaftliche Entwicklung, die Ko nzeptio n einer Info rmatio ns- und Ko mmunikatio nsgesellschaft und den Mo dernisierungspro zeß beziehen. Beginnend mit der Diagno se Daniel Bells (1975), daß die Industriegesellschaft durch eine „po stindustrielle Gesellschaft“ abgelöst werde, erfuhr Ko mmunikatio n eine ständig wachsende Aufmerksamkeit. Die Güter pro duzierende Industrie verliert danach ihre Ro lle als wichtigster Wirtschaftsfakto r und Mo ot r der gesellschaftlichen Entwicklung, und der Dienstleistungsbereich tritt an die erste Stelle. Damit erhält Ko mmunikatio n eine ganz neue Bedeutung, da sie im Zentrum des Ratio nalisierungsinteresses steht. In einer ähnlichen Ko nzeptio n wurde dem Wissen und den (auch schriftlichen) Medien des Wissens eine so zentrale Ro lle zugemessen, daß der Begriff der Wissensgesellschaft eingeführt wurde (Kreibich 1986). Ein wichtiger Unterschied zur Differenzierungstheo rie zeigt sich darin, daß ein partikulare Bereiche der Gesellschaft und deren Eigenlo gik übergreifendes Ko mmunikatio nssystem festgestellt wird. Diese Auffassung ko mmt auch in dem Mo dell der „pro grammierten Gesellschaft“ vo n To uraine (1972) zum Ausdruck, wo mit ganz im Gegensatz zum Steuerungspessimismus Luhmanns die Lenkbarkeit der Gesellschaft durch übergreifende Kommunikation angenommen wird. Die These der po stindustriellen Gesellschaft ließ sich bisher nicht wesentlich über No rdamerika hinaus verallgemeinern. Denno ch erhielt sie eine mo difizierte Fo rm in dem Ko nzept der „Info rmatio ns- und Ko mmunikatio nsgesellschaft“ (z. B. Wersig 1985; Kubicek & Ro lf 1985). Mit der Entwicklung der C o mputer- und der Telek o mmunikati o nstechno lo gie entstanden umfassende Pläne zur Technisierung der Ko mmunikatio n, die mittlerweile keinen Bereich der Gesellschaft mehr unberührt lassen. In diesem weltumspannenden Technisierungspro jekt entsteht ein Zwang zur No rmierung der Fo rmen und Mittel der Ko mmunikatio n, der histo risch o hne Vo rläufer ist. Der technische Begriff der Ko mpatibilität der Systeme deutet bereits an, daß es um die Schaffung universaler Strukturen geht. Die Angleichung betrifft zunächst zwar nur die Betriebssysteme, die Datennetze und die Ko dierungsverfahren. Für ein internatio nales Netzwerk der Ko mmunikatio n wird je-

IV. Schriftkulturen

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do ch auch die No rmierung der technisch vermittelten Ko mmunikatio nsfo rmen no twendig (→ Art. 9, 11). Damit entsteht ein universales Ko mmunikatio nssystem, das partikulare Bereiche der Gesellschaft und der Gesellschaften überschreitet. Eine weitere glo bale Entwicklung wird in dem Pro zeß der Mo dernisierung (Wehler 1975) gesehen, der, so Münch (1991, 13), nicht zuletzt nach den po litischen Umwälzungen in Osteuro pa „endgültig die Weltherrschaft angetreten“ hat. Go o dy (1990) stellt nun auch einen Zusammenhang zwischen der Mo dernisierung und der histo rischen Schriftentwicklung her. Danach liegt eine der wichtigsten Fo lgen der Schrift in der Herausbildung universeller Strukturen des Rechts, der po litischen Verfassung eines Staates, der Wissenschaft, der Religio n, des Geschichtsbewußtseins etc. Die nicht-schriftlichen Kulturen besitzen nach Go o dy dagegen einen partikularen Charakter. Diese Universalisierung betrifft nun nicht nur die innere Lo gik der mo dernen Schriftkultur, os ndern auch ihre weltweite Verbreitung. Damit wird der Schrift eine zentrale Ro lle in dem Pro zeß der Mo dernisierung zugedacht. Der Siegeszug der Mo derne wird begleitet, wenn nicht bedingt durch eine Glo balisierung der technisch vermittelten Kommunikationssysteme. Ganz anders als die Differenzierungstheo rien ko mmt das Szenario der Info rmatio nsund Ko mmunikatio nsgesellschaft zu dem Ergebnis, daß durch die Vernetzung und internatio nale Angleichung der Ko mmunikatio nsfo rmen eine Universalisierung der Schriftkultur entsteht und partikularisierende Tendenzen an Bedeutung verlieren. Vo r einer Diskussio n dieser beiden Perspektiven werden nun die neuen Fo rmen des Schreibens, die das Fundament der Ko mmunikatio nsgesellschaft liefern sollen, dargestellt.

5.

Neue Formen des Schreibens

Schreiben in der Ko mmunikatio nsgesellschaft wird sich in vielen Aspekten vo n herkömmlichem Schreiben auf der Grundlage der Handschrift und der Drucktechnik unterscheiden. Die Fo rmen, die sich dabei herausbilden, sind überwiegend nicht gänzlich neu, so ndern basieren auf bereits entwickelten Texttypen. So werden zahlreiche Fo rmen des Buchdruckzeitalters zunächst erhalten bleiben. Diese zeitlichen Verschiebungen zwischen Textstruktur und Textmedium ko nnten

auch bei der Einführung der Schrift beo bachtet werden, wo Fo rmen mündlicher Ko mmunikatio n wie Reim und Rhythmus in der literalen Gesellschaft no ch lange Verwendung fanden. Erst allmählich stabilisieren sich Texttypen, die den spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten eines neuen Mediums Rechnung tragen. Eines der zentralen Merkmale der Ko mmunikatio nsgesellschaft wird darin liegen, daß die Menge der zu verarbeitenden Info rmatio nen gewaltig steigen wird. Die Techno lo gie kann ihre spezifischen Po tentiale zur Bewältigung dieser Aufgabe erst dann entfalten kann, wenn die Texte ein höheres Maß an Strukturiertheit aufweisen. Damit wird ein sprachhist o rischer Trend of rtgesetzt, der scho n mit der Schrift begann und z. B. zu einem relativ festen Kano n an syntaktischen Mustern auf der Satzebene geführt hat (vgl. Givón 1979). Die Veränderungen des Schreibpro zesses so llen nun in vier Bereichen untersucht werden: — die Einführung neuer Texttypen; — neue Formen der Vernetzung schriftlicher Kommunikation; — verschiedene Formen der Unterstützung des Schreibprozesses; — neue Formen des Erwerbs der Schriftsprache. 5.1 Texttypen Die Einführung der neuen Typen elektro nischer Texte läßt sich in zwei Dimensio nen beschreiben: der Ebene, auf der ein Text betrachtet werden kann und der Struktur der Texte. 5.1.1. Textebenen Eine der wesentlichen Neuerungen, welche die Info rmatio nsverarbeitung mit einem Co mputer brachte, besteht darin, daß eine einzelne Info rmatio nseinheit, z. B. eine Datei, in unterschiedlicher Weise visualisiert werden kann. Die gängigen Bezeichnungen für diese Verfahren lauten Edito r-, Masken- o der Fenstertechnik. Termino lo gisch läßt sich dieses Phäno men durch die Unterscheidung zwischen Textbasis und Textdarstellung fassen. Faktisch handelt es sich allerdings in den meisten Fällen um eine Schichtung aus mehr als zwei Ebenen. Die Funktio n dieser Auflösung der Einheit zwischen dem wahrnehmbaren Text und seiner materiellen Fo rm besteht darin, für unterschiedliche Perso nengruppen und für unterschiedliche Zwecke angepaßte

43.  Perspektiven der Schriftkultur

Darstellungen einer einzelnen Textbasis zu ermöglichen. Auf der physikalischen Ebene lassen sich alle Daten des Co mputers im binären Code o ffener o der geschlo ssener Schaltkreise beschreiben. Während bei der herkömmlichen Schrift die physikalische mit der visuellen Ebene identisch ist, kann die materielle Seite der Daten im Co mputer nicht eingesehen werden; sie bleibt unsichtbar, da der binäre Co de bereits ihre Symbo lisierung darstellt. Aber selbst auf dieser Ebene o periert praktisch kein Benutzer. Die Zusammenfassung einzelner binärer Einheiten zu Gruppen, so g. Bytes, führt zu höherstufigen Co des wie dem Hexadezimal-Co de o der dem ASCII-Co de. Diese wiederum können zu speziellen Darstellungen gruppiert werden, in denen die sequentielle Ano rdnung der Zeichen auf einer tieferliegenden Ebene aufgeho ben wird: bei der Darstellung vo n Bildern o der bei Buchstaben mit Mo difikatio nen wie Kursiv- o der Fettdruck. Diese Techno lo gien der Operatio n mit unterschiedlichen Textebenen betrifft alle Ausgabemedien: insbeso ndere die Bildschirmdarstellung und die Druckausgabe bzw. die Parallelisierung beider Ausgabeverfahren im Deskto p-Publishing. Eine Textbasis so ll auf verschiedenste Weise darstellbar sein. No ch weiter geht die Trennung zwischen Textbasis und Textdarstellung bei der Verwendung vo n Masken und Fenstern, wie sie für mo derne Datenbank- und Hypertextsysteme üblich ist. Hier erhält der Benutzer eine Sicht auf die Textbasis, die evtl. nur einen Ausschnitt darstellt, die unterschiedliche Elemente speziell für sein Interesse zusammenstellt o der in einer bestimmten Weise verständlich macht, etwa bei der Verwendung vo n iko nischen Zeichen o der bei so g. natürlichsprachlichen Schnittstellen. Da hier ein einfacher Überblick über die Textbasis nicht mehr möglich ist, bedarf es spezieller Orientierungssysteme: so g. Bro wser o der Navigatio nshilfen. Der Auto r des elektro nischen Textes bietet mit der Auflösung der linearen Textstruktur dem Leser verschiedene Wege o der Orientierungen an, wie er sich durch den Text bewegen kann. Mit unterschiedlichen Sichten auf eine Textbasis, also Edito ren o der Masken, sind in den meisten Fällen auch unterschiedliche Zugriffsrechte und -verfahren verbunden: Möglichkeiten der Änderung der Textbasis und der mehr o der weniger umfassenden Einsichtnahme. Damit wird in gewissem Umfang eine so ziale Ordnung dadurch definiert, auf welcher Textebene ein Benutzer o perieren

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darf. Generell läßt sich für die meisten Systeme sagen, daß Operatio nen auf den maschinennäheren Ebenen weitere Eingriffsmöglichkeiten bieten als Operatio nen auf der Peripherie der Benutzeroberfläche. Die Techno lo gie, unterschiedliche Darstellungen für eine einzelne Textbasis zu ermöglichen, macht in beso nderer Weise die der Inf o rmati o nstechnik zugedachte Funkti o n deutlich, ein universelles Band für die differenzierten Bereiche der Gesellschaft zu liefern. Ein einheitlicher Referenztext bleibt erhalten, wo mit Ko mmunikatio nspro zesse einen gemeinsamen Bezugspunkt besitzen. Spezifischen K o mmunikati o nsweisen, Wissensv o raussetzungen, Interessen o der auch Zugangsberechtigungen kann mit der Einführung verschiedener Textebenen Rechnung getragen werden. Betrachtet man diese Zugangsweisen zu Texten allerdings als Ausdruck spezifischer Schriftkulturen, so kann man sagen, daß die Einführung unterschiedlicher Textebenen die Differenzierung der Kultur und die Individualisierung weiter vo rantreiben wird. Nachdem durch die Repro duktio nstechniken des Buchdruckes o der auch der handschriftlichen Ko pie der authentische Text zum schwierigen Pro blem philo ol gischer Editio nstechnik gewo rden ist, wird er nun hinter den Benutzero berflächen no ch weniger sichtbar. Schriftso zialisatio nen, die über die gemeinsame Lektüre bestimmter Werke entstehen, werden zunehmend individualisiert durch einen je besonderen Zugang zu einer Textbasis. 5.1.2. Textstrukturen Unterschiedliche Textebenen lassen sich insbeso ndere dadurch kennzeichnen, daß die Textdarstellungen do rt in der Regel verschiedene Strukturen besitzen. Dies bedeutet zum einen, daß nicht mehr ein bestimmter Strukturtyp, der lineare Text, die do minierende Darstellungsart ist. Zum anderen heißt dies, daß die Zuo rdnung eines Strukturtyps zu einer Textbasis varieren kann: Ein und dieselbe Textbasis kann auf unterschiedlichen Textebenen in unterschiedlichen Textstrukturen dargestellt werden. Für elektro nische Texte so llen sechs Strukturtypen unterschieden werden: lineare, listenförmige, mo dulare, hierarchische, regelbasierte und multimediale Textstrukturen. Bei den meisten elektro nischen Texten handelt es sich um Mischungen aus mehreren Strukturtypen. Lineare Texte lassen sich dadurch kennzeichnen, daß sie einen definierten Anfang und ein definiertes Ende besitzen und die da-

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zwischenliegende Strecke mehr o der weniger ko ntinuierlich und in einem Zeitverlauf zurückgelegt werden kann. Pro ot typisch für diese Struktur ist der klassische schriftliche Text. Mo derne Verfahren der Textverarbeitung, einzelne Datensätze vo n Vo lltextdatenbanken o der elektro nische Texte z. B. auf CDROM stellen Beispiele linearer Texte mit der neuen Technologie dar. Die mit diesen Metho den pro duzierten Texte ähneln in ihrer Struktur derzeit no ch den mit älteren Verfahren pro duzierten Texten. Sie besitzen die Syntax der herkömmlichen Schriftsprache, und sie weisen innertextuelle Beziehungen auf, die über den einzelnen Satz hinausreichen. So findet man Texte mit narrativen Strukturen, d. h. unter anderem mit gro ßen Spannungsbögen, die sich no ch kaum vo n herkömmlichen Texten unterscheiden. Nur eine sehr eingehende Phäno menanalyse vermag in den Texten Spuren zu finden, die auf die geänderte Pro duktio nsfo rm hinweisen. Insbeso ndere zwei Aspekte der veränderten Textpro duktio n seien hier genannt: Die Nicht-Linearität und die NichtAbgeschlossenheit der Textproduktion. Die mit diesen Verfahren hergestellten Texte weisen, wie bereits gesagt, im Ergebnis no ch Merkmale der Linearität auf, auch wenn sie in einem nicht-linearen Pro zeß entstanden sind. Man könnte aber die These aufstellen, daß die Texte sich langfristig stärker den Bedingungen und Möglichkeiten der Pro duktio n anpassen werden und die aus älteren Textpr o dukti o nsverfahren hergeleiteten N o rmen der Gestaltung an Bedeutung verlieren werden. Wenn dies zutrifft, so könnten verschiedene Entwicklungen eintreten: — Die Texte werden stärker durchkonstruiert und weisen weniger innertextuelle Variation (des Stils, der Lexik, der Syntax, der Argumentationspositionen etc.) auf; — die Spannungsbögen bzw. Makrostrukturen werden sich bzgl. Größe und Gliederung weniger an der kognitiven Leistungsfähigkeit einer Planung „in einem Guß“ orientieren, sondern vielfältigste Formen und Dimensionen annehmen; — die Texte greifen stärker auf Routineformeln (Coulmas, 1981) und „Textbausteine“ zurück. Listenförmige Texte lassen sich dadurch kennzeichnen, daß einzelne Einträge einer vo rdefinierten Liste zugeo rdnet werden. Dabei kann die Liste eine interne Struktur besitzen, z. B. eine Rangfo lge o der sie kann eine

IV. Schriftkulturen

einfache Menge sein. Die einzelnen Felder für Listeneinträge können vo rstrukturiert sein, indem etwa die Zeichenlänge o der der Zeichentyp festgelegt werden. Klassische Fo rmen listenförmiger Texte sind Karteikartensysteme o der Listendarstellungen auf einzelnen Papierbögen. Die wichtigsten listenförmigen Texte in elektro nischen Medien sind Datenbanken o der spezielle Anwendungen wie elektronische Formulare (→ Art. 11). Modulare Texte lassen sich dadurch kennzeichnen, daß einzelne Textelemente bzw. Textmo dule netzwerkartig durch ein Referenzsystem miteinander verknüpft sind. Der gesamte Texte besteht aus Kno ten, die in einer vo m Auto r festzulegenden Weise durch Kanten verbunden sind. Die einzelnen Kno ten bzw. Mo dule können selber wieder eine unterschiedliche Textstruktur besitzen. Es können lineare Texte sein, Listen o der auch verschiedene Medien. Weiterhin enthält jedes Mo dul eine bestimmte Anzahl vo n Verweisen auf andere Mo dule, wo durch die Kanten des Netzwerkes erzeugt werden. Der Leser kann mit einem bestimmten Mo dul beginnen, das er über das Eingangsmenü herausfinden kann. Mit der Unterstützung eines Navigatio nsinstrumentes kann er sich dann vo n do rt aus einen Weg entlang der vo rhandenen Kanten durch den gesamten Text frei wählen. Fo rmen mo dularer Texte in Printmedien gibt es nur in Ansätzen. So könnte man das Verweissystem mit Fußno ten in wissenschaftlichen Texten als eine Vo rfo rm mo dularer Texte bezeichnen, das allerdings den do minierend linearen Charakter des Haupttextes nicht aufbricht. Die wichtigste Fo rm in den elektro nischen Medien bildet der Hypertext (Barrett 1989; Co nklin 1987; Co y 1989; Rieger 1991; Kuhlen 1991). Als eine Funktio n vo n Hypertexten wird immer wieder angeführt, daß sie den Leser vo n dem Zwang einer linearen Abarbeitung eines gesamten Textes befreien so llen. Sie erfo rdern keine speziellen Lesetechniken wie Querlesen, wenn man sich einen Überblick über einen Text verschaffen will. Vielmehr stellt das System frei, in welcher Reihenfo lge und in welcher Gründlichkeit man einen Text durcharbeitet. Ähnlich wie bei den anderen Merkmalen elektro nischer Texte wird auch hier eine Individualisierung der Textrezeptio n angestrebt. Damit so ll auch dieses System auf die Ausdifferenzierung vo n Lesekulturen reagieren. So llte sich diese Textstruktur durchsetzen, so wird sie zu einer weiteren Individualisierung vo n

43.  Perspektiven der Schriftkultur

Bildungsbio graphien führen, da jeder Leser seinen eigenen Weg durch den Text sucht. Hierarchische Texte lassen sich dadurch kennzeichnen, daß einzelne Textelemente in der Relatio n übergeo rdnet-untergeo rdnet zueinander stehen. Die Textelemente selber können wiederum unterschiedliche Strukturen besitzen. Damit unterscheiden sich hierarchische Texte vo n mo dularen Texten dadurch, daß die einzelnen Elemente nicht gleichwertig nebeneinander stehen, so ndern durch die Kanten eine feste Ordnungsstruktur definiert wird. Fo rmen hierarchischer Texte in den Printmedien findet man überall do rt, wo gro ße Mengen an Info rmatio nen bereits einen ho hen Grad an Geo rdnetheit besitzen, bzw. in einer akzeptierten Taxo no mie erfaßt wurden, wie z. B. die Fachsystematiken der Biblio theken o der auch wissenschaftliche Systematiken. Beispiele für hierarchische Texte in den elektro nischen Medien sind die Suchsysteme, wie man sie etwa bei Video text o der Bildschirmtext findet. Anders als mo dulare Texte tragen hierarchische Texte nicht unmittelbar zur Individualisierung vo n Lesekulturen bei. Jede erfo lgreiche Arbeit mit einem hierarchischen Text erfo rdert in gewissem Umfang eine Kenntnis der Taxo no mie, nach der die Hierarchie gebildet wurde. Die Einführung dieses Texttypes trägt daher eher zur intersubjektiven Durchsetzung von Systematiken bei. Regelbasierte Texte lassen sich dadurch kennzeichnen, daß sie aus einer Fo lge vo n Regeln bestehen, die üblicherweise die Fo rm wenn ... dann ... sonst besitzen. Ein wichtiges Strukturmerkmal regelbasierter Texte kann darin gesehen werden, daß sie in so g. Schleifen abgearbeitet werden: Eine Regel findet so lange Anwendung, bis ein Abbruchkriterium erreicht wird und ein anderer Vo rgang eingeleitet wird. Regelbasierte Texte findet man in Printmedien do rt, wo ho chgradig or utinisierte Operatio nen o der kausale Theo rien über einen Gegenstandsbereich entwickelt wurden: Technische Handbücher o der Anleitungen, Gesetzestexte o der Verwaltungsvo rschriften, bestimmte wissenschaftliche Theo rien. Es handelt sich in diesem Medium jedo ch praktisch nie um vo llständig regelbasierte Texte, so ndern um überwiegend lineare Texte mit Regelelementen. Nur wenige Handlungs- und Wissensbereiche besitzen dieses ho he Maß an Fo rmalisiertheit. Ihre schriftliche Darstellung erfo lgt überwiegend in linearen Texten, die an

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den Leser höhere Anfo rderungen an Ko ntextualisierung und Analyse der Randbedingungen für die Anwendung bestimmter Verfahren stellen. Diese Situatio n änderte sich mit dem Aufk o mmen der Co mputerpro gramme als einem ersten Typ streng regelbasierter Texte. Diese haben allerdings nur die Funktio n der Maschinensteuerung, also der Erfassung einer o hnehin sch o n oh chgradig or utinisierten Operatio nenfo lge im Regelfo rmat. Eine weitergehende Bedeutung erhielten regelbasierte Texte mit der Idee so g. Expertensysteme (Jackso n 1987). Intuitives Expertenwissen o der Wissen in Fo rm eines schriftlichen Textes so ll mit dieser Techno lo gie in einer Weise verfügbar gemacht werden, daß es in einem Co mputer gespeichert und aus ihm wieder abgerufen werden kann. Dazu muß es no rmalerweise als explizite Regel fo rmuliert werden. Z. B.: Immer wenn A vorliegt, tue B. Der Experte kann z. B. ein Fachmann für die Reparatur einer ko mplizierten Maschine sein. Dessen Wissen so ll Perso nen zugänglich gemacht werden, die nicht über den gleichen Erfahrungshintergrund verfügen wie der Experte. Zur Entwicklung so lcher Systeme befragt ein so g. Wissensingenieur den Experten z. B. nach Strategien der Fehlerdiagno se und versucht sie in Wenn-dann-Regeln zu übertragen. In der Wissensakquisitio n wird also versucht, das intuitive Wissen und die praktischen Fähigkeiten des Experten zu elizitieren und in eine verbale und schließlich algo rithmische Form zu bringen. Nach den Vo rstellungen ihrer Entwickler so llen Expertensysteme eines Tages ein zentrales Medium zur Erfassung verschiedenster Arten vo n Wissen werden. Die damit stattfindende Umko dierung des Wissens hätte weitreichende Fo lgen (vgl. z. B. Weingarten 1993). Dies kann man an den Unterschieden zwischen regelbasierten Texten und linearen Texten verdeutlichen. Lineare Texte besitzen eine stärkere Orientierung auf paradigmatische Einzelfälle und streben eher eine Berücksichtigung möglichst vieler Fakto ren an. Sie besitzen auch eine größere Widerspruchsto leranz. Sie lassen dem Leser einen größeren Interpretatio nsraum, indem sie mehrere Lesarten eröffnen und zu ko ntextuellen Spezifikatio nen veranlassen. Generell kann man sagen, daß lineare Texte eine größere Abhängigkeit vo n ihren po tentiellen Nutzern besitzen. Regelbasierte Texte hingegen bewirken immer die Festlegung e i n e r Lesart und den Ausschluß anderer Lesarten. Zur Ko nstruktio n so lcher Texte muß ihr Gegenstandsbe-

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reich in diskrete Einheiten zerlegt werden, und es muß ein Mo dell entwickelt werden, daß einen vo n seinen Benutzern unabhängigen Wirkungszusammenhang darstellt. Es wird versucht, glo bale Darstellungen zu entwikkeln, die in allen möglichen Ko ntexten Gültigkeit besitzen. Sie erzeugen so mit einen Anschein größerer Objektivität und Widerspruchsfreiheit; die Eintragungen in den Text erscheinen als Fakten. Regelbasierte Texte sind weniger argumentativ strukturiert und verdeutlichen gegenüber dem Leser nicht eine Überzeugungsabsicht. Das Abwägen vo n Argumenten, das Offenlassen verschiedener Möglichkeiten und der Hinweis auf Zweifel bilden keine Eigenschaften regelbasierter Texte: Sie entscheiden immer, o hne Zweifel und meist auch o hne Begründung. (Letzteres wird gelegentlich versucht, durch den Einbau vo n Erklärungsko mpo nenten zu berücksichtigen.) Ändert sich auf diese Weise die Struktur dessen, was in der Gesellschaft als Wissen verstanden wird, so wird dies weitreichende Fo lgen haben. Die Verfügbarkeit über Wissen ändert sich, wenn es als regelbasierter Text in ein technisches Medium gebracht wird. Damit müssen neue gesellschaftliche Fo rmen der Steuerung des Zugangs zu Wissen erarbeitet werden. Insbeso ndere stellt sich in diesem Zusammenhang die letztlich juristische Frage, wer für Fo lgen aus Handlungen, die sich an den Regeln eines Expertensystems o rientieren, haftungsrechtlich verantwo rtlich ist. Weiterhin werden Qualifikati o nsanf o rderungen an alle, die auf das so ko dierte Wissen zurückgreifen müssen, neu definiert. Hierzu gehören auch neue Anfo rderungen an Ko mmunikatio nsfähigkeit. Eine neue Auslegungskunst wird no twendig. Dabei erhebt sich auch die Frage, o b die Auslegungsko mpetenz der Menschen in gleichem Umfang wachsen kann wie die Komplexität der neuen Technologien. Multimediale Texte lassen sich dadurch kennzeichnen, daß der Text als enger Verweisungszusammenhang zwischen Schrift, bewegtem o der stehendem Bild und anderen Zeichensystemen ko nzipiert wird. Ein multimedialer Text kann so strukturiert sein, daß die einzelnen medialen Elemente mo dular miteinander verknüpft sind: Jedes Medium wird in einem speziellen Mo dul angeo rdnet und enthält einen Verweis auf andere Medienmo dule, mit denen es in einem inhaltlichen Zusammenhang steht. Dies wird insbeso ndere do rt der Fall sein, wo auch beso ndere Hardwareko mpo nenten, etwa für Bild und

To n, für ein einzelnes Medium erfo rderlich sind. Es können aber auch schriftliche und iko nische Zeichen in einem Element in unmittelbarem Zusammenhang auftreten. Vo rläufer multimedialer Systeme in den Printmedien hat es nur in dem Zusammenhang vo n Standbild und Text gegeben. Anso nsten wurden hier nur Zeichensystemen gemischt, so fern diese im Printmedium no tierbar waren, wie z. B. musikalische Zeichensysteme. Mit den ständig sinkenden Ko sten für Speicherplatz auf dem Co mputer wurden die ersten umfassenderen multimedialen Systeme entwickelt, so g. Hypermedia o der Multimediasysteme (Jo nasso n & Mandl 1990). Die meisten ok mmerziellen Hypertextsysteme stellen gleichzeitig auch Hypermediasysteme dar, die als mo dulare Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Medien strukturiert sind. Im Zusammenhang vo n Multimediasystemen stellt sich am nachhaltigsten die Frage, o b ein Ende traditio neller Mo delle der Schriftkultur zu erwarten ist, wenn die Schrift ihren ausgezeichneten Platz verliert und nur no ch ein Medium in einem Netzwerk mit anderen darstellt. Bereits in Zusammenhang mit der Bilderflut vo n Fernsehen und Video wurde die Frage aufgewo rfen, o b die sprachlich-schriftliche Ko mmunikatio n mit ihrer argumentativen Orientierung durch eine bildhafte Erfassung der Welt abgelöst wird (Po stman 1987). Mit neuer Ko nsequenz könnte diese These vertreten werden, wenn nun die Schrift selber einen auto no men Bereich verliert und in einem Hypermedium aufgeht. Die neueren Entwicklungen vo n nichtschriftlichen Eingabemedien wie Maus, Jo ystick, berührungssensitiver Bildschirme, o der auch Geräten zur Erkennung gespro chener Sprache verstärken diesen Trend der Ersetzung der zeichenhaften Erfassung der Welt durch eine bildhafte und kinästhetische. Die technische Zukunftsvisio n der virtual realities (vgl. z. B. Waffender 1991), das sind Systeme, mit denen der „Leser“ auf verschiedenen Sinneskanälen in einen künstlichen Raum versetzt wird und sich do rt „bewegen“ kann, könnte mit der Funktio n, mögliche Welten zu erzeugen, zu einer weiteren Alternative zu Sprache und Schrift werden. 5.2. Interaktionsstruktur Der zweite Bereich des Schreibens, der durch die elektro nischen Medien tiefgreifend beeinflußt wird, betrifft die Interaktio nsstruktur schriftlicher Ko mmunikatio n, die durch das

43.  Perspektiven der Schriftkultur

Zusammenwachsen der o C mputertechn o ol gie mit der Teleko mmunikatio nstechno lo gie weitreichend verändert wird. Unter dieser Katego rie so llen drei Aspekte betrachtet werden: die Vernetzung der an der schriftlichen Ko mmunikatio n beteiligten Perso nen, die Zugriffsmöglichkeiten auf die schriftlichen Pro dukte und verschiedene Anwendungsformen. 5.2.1. Vernetzung Unter Vernetzung so ll hier die durch eine Hardwareko mpo nente und ein spezielles Pro gramm hergestellte Beziehung zwischen mindestens zwei Statio nen der Eingabe bzw. Ausgabe schriftlicher Info rmatio n verstanden werden. Beispiele für so lche Netzwerke sind der Datenaustausch zwischen mindestens zwei Co mputern o der einem Co mputer und einem Ausgabegerät, Telefaxgeräte, Btx, Mailbo x, Telebo x, Teletex, das Datexnetz etc. (Buba 1991). Die Netzwerke können unterschiedliche Reichweiten besitzen: LAN (Lo cal Area Netwo rk), MAN (Metro po litan Area Netw o rk), WAN (Wide Area Netw o rk), GAN (Gl o bal Area Netw o rk). Dadurch werden jeweils unterschiedlich ausgedehnte o K mmunikati o nsgemeinschaften aufgebaut. Außerdem können sie unterschiedliche Netzstrukturen besitzen: Sternnetz, Ringnetz, vo llvermaschtes Netz, Busnetz. Diese Netzstrukturen können weiter dadurch gekennzeichnet sein, daß sie einen wechselseitigen o der einen einseitigen Info rmatio nsfluß erlauben. Durch diese Netzstrukturen werden in beso nderer Weise so ziale Strukturen definiert (Weingarten 1989). So bedeutet ein Sternnetz eher eine hierarchische o K mmunikati o nsstruktur, da alle Info rmatio n über eine Zentrale fließt. Ein ov llvermaschtes Netz dagegen ermöglicht eher eine vo n jedem Teilnehmer selbst zu steuernde Fo rm der Ko mmunikatio n. Im No rmalfall wird damit auch eine Interaktio nsbeziehung zwischen mindestens zwei an der schriftlichen Ko mmunikatio n beteiligten Perso nen aufgebaut. Die Planung, ein für alle Zwecke der o K mmunikati o n geeignetes Übertragungsnetz, das so g. ISDN (Integrated Service Digital Netwo rk), zu entwickeln, bildet das Herzstück der Visio n, für die auseinanderstrebenden Bereiche der mo dernen Gesellschaft ein gemeinsames Band zu schaffen. Das größte Pro blem bei der Einrichtung eines Netzwerkes bildet die Ko mpatibilität o der No rmierung der für den Übertragungspro zeß wichtigen Hardware- und So ftwareeinrichtungen. Diese No rmierung stellt nicht nur ein technisches Pro blem dar, das unter

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kulturwissenschaftlicher Perspektive zu vernachlässigen wäre. Vielmehr werden insbeso ndere hierüber wesentliche Eigenschaften der Ko mmunikatio nsbeziehung definiert. Die Möglichkeit, sich an das Netzwerk anzuschließen, hängt vo n zahlreichen Fakto ren ab: dem Zugang zu den entsprechenden Ko mmunikatio nsgeräten; der Fähigkeit, sie technisch zu bedienen; der Fähigkeit, Ko mmunikatio nsabsichten mit den technischen Möglichkeiten auszudrücken. Dabei wird es sicherlich kein deterministisches Verhältnis zwischen technischer No rmierung und so zialer o der sprachlicher No rmierung geben: Viele technische No rmierungen betreffen die unteren Ebenen der Datenübertragung und sind für den no rmalen Benutzer nicht wahrnehmbar. Denno ch wird durch die technischen Einrichtungen ein Rahmen abgesteckt, an dem sich die ko mmunikativen Ausdrucksmöglichkeiten orientieren müssen. 5.2.2. Zugriffsverfahren Eine der wichtigsten Erfahrungen der Mo derne betrifft die ständige Veränderung aller Dinge des Alltags in der Zeitspanne eines Menschenlebens: „Alles gerät in Bewegung, nicht nur die Wertvo rstellungen, die po litischen Strukturen, die mo ralischen und gesetzlichen No rmierungen, die Inhalte der Arbeitsleistungen, os ndern auch die Landschaft, die Siedlungen, die Ausstattung der Wo hnungen, die Ernährungsgewo hnheiten, die Art der Kleidung und so gar die Fo rmen, in denen Empfindungen und Emo tio nen ausgedrückt werden.“ (Cavalli 1991,201)

Eine Kultur, die aus dauerhaften, auch schriftlichen Mo numenten (Assmann 1991) besteht, scheint damit den Anfo rderungen der Mo derne nicht mehr gewachsen zu sein. Eine Fo rm der Schrift, die das einmal Geschriebene unveränderbar läßt, wäre angesichts des raschen Wandels zum Untergang verurteilt. Auf diesem Gebiet kann der Co mputer seine größten Stärken entfalten: Alle mo dernen Datenträger erlauben eine nahezu beliebige Veränderung des einmal Geschriebenen. So wird z. B. durch die Unterscheidung zwischen ROM (read-only-memory) und RAM (random-access-memory) versucht, im ROM ein letztes Residuum für das Feststehende zu erhalten. Immer no ch gibt es Info rmatio nen, die zumindest für einen bestimmten Benutzerkreis unveränderbar bleiben so llen. Eine der schwierigsten Aufgaben der Info rmatio nsund Ko mmunikatio nsgesellschaft wird darin bestehen, zu regeln, wie der Zugriff auf In-

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fo rmatio nen gesteuert wird: Wer darf welche Info rmatio nen einsehen und ggf. verändern? Über diese Zugriffsverfahren werden letztlich die Interaktio nsstrukturen einer Kultur und ihr soziales Gedächtnis festgelegt. 5.2.3. Anwendungsformen Die Möglichkeiten der neuen Ko mmunikatio nssysteme werden derzeit in verschiedenen größeren Anwendungspro jekten erpro bt (einen Überblick findet man in Fo rester 1985 und Williams 1991): auto matische Fertigung, Bür o aut o matisierung, Electr o nic Banking, co mputerunterstütztes Lernen (Jo nasso n und Mandl 1990), Elektro nisches Publizieren etc. Der letzte Bereich so ll exemplarisch herausgegriffen werden, da sich mit ihm in beso nderer Weise kulturelle Leitvo rstellungen verbinden (s. a. Art. 9, 90). Elektro nisches Publizieren (EP), Co mputer Aided Publishing (CAP), Co rpo rate Electro nic Publishing (CEP), Deskto p Publishing (DTP) lauten die Stichwo rte für das Pro jekt, verschiedene Etappen des Publikatio nspro zesses inf o rmati o nstechnisch abzuwickeln (Böhle 1990; Kist 1988). Beispiele für Elektro nisches Publizieren sind „elektro nische Zeitschriften“, Online-Datenbanken, Bildschirmtext, Video text o der elektro nische Literatur. Elektro nisches Publizieren kann einmal den Weg vo m Auto r zum Verlag betreffen: Der Auto r übermittelt dem Verlag sein Manuskript auf einem elektro nischen Datenträger. Dazu bedarf es standardisierter Übergabefo rmate. Ein so lches Fo rmat ist strukTEXT, das der Börsenverein des Deutschen Buchhandels gemeinsam mit dem Bundesverband Druck erarbeitete und das auch als DIN-No rm verabschiedet werden so ll. Mit diesem Fo rmat so llen Strukturinfo rmatio nen, z. B. Textgestaltungsanweisungen, geräteunabhängig als Text im Text ausgedrückt werden. Jeder Auto r wird sich dann an diesen Vo rgaben o rientieren müssen. Die verlegerische Arbeit kann einen weiteren Bereich des Elektro nischen Publizierens darstellen, der als Grundlage nicht mehr das Manuskript und die Druckfahne besitzt, so ndern den flexibleren elektro nischen Datenträger. Damit ergeben sich neue Möglichkeiten der differenzierten Gestaltung o der auch Aktualisierung vo n Veröffentlichungen. Schließlich betrifft diese Entwicklung den Weg vo m Verlag zum Leser. Dieser kann vo n einer zentralen Datenbank über Teleko mmunikatio nseinrichtungen zu einzelnen Nutzern o der Nutzergruppen erfo lgen o der über die traditio nellen Vertriebswege auf Speicher-

medien wie CD-ROM, Disketten o der Magnetbändern. In beiden Fällen erfo rdert auch diese Etappe des Elektro nischen Publizierens die Durchsetzung vo n No rmen für die Hardware und die Software. Neben Versuchen, traditio nelle Druckerzeugnisse in elektro nischen Medien zu vertreiben, so etwa die Hamburger Go etheausgabe auf Disketten, werden auch gänzlich neue Publikatio nsstrukturen entstehen. Durch Benutzergruppen vo n Mailbo xen o der des Deutschen Fo rschungsnetzes werden z. B. neue Fo rmen „grauer Literatur“ entstehen, die nur für ein spezielles Publikum zugänglich sind (Böhle 1990; Nake, Heinze & Oeltjen 1990). All diese Entwicklungen werden eine gänzlich neue rechtliche Aufarbeitung des Publikatio nswesens erfo rdern. Das Elektro nische Publizieren wird zu einer weiteren Ausdifferenzierung vo n Lese- und Schreibkulturen führen. Die Printmedien werden nicht ersetzt, so ndern ergänzt werden. Jeder Leser wird aus der Vielzahl der auch elektro nisch angebo tenen Texte eine individuelle Auswahl treffen. Der für einen langen Zeitraum nach Fo rm, Inhalt, Materie und Leserkreis feststehende Text wird eher die Ausnahme bilden. Einen weiteren neuen Bereich vernetzter schriftlicher Ko mmunikatio n wird das so g. kooperative Schreiben darstellen (vgl. z. B. Williams 1991): eine Textpro duktio n, an der mehrere Perso nen, die über ein elektro nisches System miteinander vernetzt sind, beteiligt sind. Damit werden ganz neue Mo delle der Textplanung erfo rderlich, die zwangsläufig zu stärker durchk o nstruierten Texten führen werden. 5.3. Unterstützung des Schreibens Mit dem neuen Werkzeug des Schreibens werden auch vielfältigste Fo rmen der Unterstützung des Schreibpro zesses verbunden sein, die sich gegenwärtig allerdings erst in Umrissen abzeichnen (vgl. Williams 1991). Pro gramme zur Rechtschreibprüfung sind scho n praktisch mit jedem Textverarbeitungssystem verbunden. Thesauri sind ebenfalls verbreitet, allerdings no ch in sehr rudimentärer Fo rm. Textbausteine werden in allen fo rmalisierten Ko ntexten schriftlicher Ko mmunikatio n eingesetzt und werden auch den Trend zur Verwendung feststehender Textmuster verstärken. Weiterhin kann der Schreibpro zeß indirekt unterstützt werden, wenn der Schreiber eine Zugriffsmöglichkeit auf Datenbanken o der verschiedene Hilfesysteme besitzt. Ein weiterer Schritt zur unmittelbaren Unterstüt-

43.  Perspektiven der Schriftkultur

zung des Schreibpro zesses ist erst zu erwarten, wenn die Parsertechno lo gie, die maschinelle Satzgenerierung und -analyse, einen relevanten Teil der Grammatik erfaßt hat. Dann wird z. B. in einem gewissen Rahmen die auto matische Erzeugung eines Textes aus einer Wissensbasis möglich sein. 5.4. Schriftspracherwerb Der elementare Schriftspracherwerb stellt eine der letzten Do mänen der Handschrift dar, während ein Gro ßteil der gesellschaftlichen Umwelt maschinenschriftlich ko mmuniziert, insbeso ndere auf der Basis des Co mputers. Im Unterschied zu den angelsächsischen Ländern (s. z. B. Strickland, Feeley & Wepner 1987) herrscht in Deutschland no ch die Auffassung vo r, der Schriftspracherwerb sei no twendig mit der Handschrift, ihren mo ot rischen, kinästhetischen und ok gnitiven Aspekten verknüpft. Bereits jetzt kann man aber erkennen, daß der Druck vo n außen, auch hier die neuen Schreibtechno lo gien in der einen o der anderen Weise zu berücksichtigen, zunimmt: Immer mehr Pro gramme erscheinen auf dem Markt, die für den elementaren Schriftspracherwerb ko nzipiert wurden; immer mehr Kinder besitzen Vo rerfahrungen mit den co mputerbasierten Schreibtechno lo gien.

6.

Anforderungen an eine neue Schriftkultur

Eine glo bale Tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung im natio nalen und internatio nalen Rahmen kann darin gesehen werden, daß es einerseits eine fo rtschreitende Differenzierung der Gesellschaften auf verschiedenen Achsen gibt: funktio nal, individuell, generati o nsbez o gen, ethnisch, internati o nal. Mit diesen Differenzierungen werden auch jeweils unterschiedliche K o mmunikati o nsstile und damit Schriftkulturen verbunden sein. Auf der anderen Seite steht eine Universalisierung der Ko mmunikatio nsmittel in den neuen Techno lo gien. Durch die Vernetzung der Techno lo gien des Ko mmunizierens und auch des Schreibens werden sich internatio nal und in den ausdifferenzierten Bereichen einer Gesellschaft überall ähnliche Ko mmunikatio nsfo rmen finden lassen. Dies wird allerdings nur eine bestimmte Schicht der Ko mmunikatio n betreffen, die insbeso ndere innerhalb der funktio nal differenzierten Bereiche wie Wirtschaft, Po litik, Wissenschaft, Recht

585

liegt. Die mo dernen Ko mmunikatio nstechno lo gien werden damit auch nicht einfach eine Basis einer universalen Schriftkultur liefern, vielmehr werden sich neben dem glo balen Netz der Ko mmunikatio ntechno ol gie eine Vielzahl vo n Subkulturen des Schreibens entlang verschiedener Achsen herausbilden. Diese Subkulturen werden sich durch verschiedene Stile des Umgangs mit den Ko mmunikatio nstechno ol gien und ihren Pro blemen auszeichnen. Mit der Vermehrung und Zersplitterung der verfügbaren Info rmatio n und ihrer damit einhergehenden zunehmenden Irrelevanz werden sich insbeso ndere differenzierte Strategien entwickeln müssen, aus der Flut der verfügbaren Inf o rmati o nen handlungspraktisch relevante herauszufiltern. Dazu werden auch spezifische Fo rmen einer neuen Auslegungskunst gehören. So ziale Bewegungen für Info rmatio nsverzicht o der -askese werden immer wieder eine Reaktio n auf das Massenangebo t sein. Quer zu den Differenzierungen der Ko mmunikatio n bleibt der Versuch der Aufrechterhaltung vo n Argumentatio ns- und Verständigungsbereitschaft. Die o K mmunikati o nstechn ool gien werden keinen unmittelbaren kulturellen Zusammenhalt der Gesellschaft liefern, so ndern vielmehr einen gemeinsamen Bezugspunkt darstellen, demgegenüber Individuen und Gruppen sich abgrenzen oder öffnen.

7.

Literatur

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IV. Schriftkulturen

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Rüdiger Weingarten, Bielefeld (Deutschland)

587

V.

Funktionale Aspekte der Schriftkultur Functional Aspects of Literacy

44. Schriftlichkeit und Sprache 1. 2. 3. 4. 5. 6.

1.

Theoretische Grundlagen Universale Aspekte schriftlicher Sprache und Konzeption Diskurstraditionelle Aspekte schriftlicher Sprache und Konzeption Einzelsprachliche Aspekte schriftlicher Sprache und Konzeption Primat der Schriftlichkeit? Literatur

Theoretische Grundlagen

1.1. Schriftlichkeit: Medium und Konzeption Wer sich mit der Problematik der Schriftlichkeit im Hinblick auf Sprache und Sprachen beschäftigt, stößt unweigerlich auf begriffliche Schwierigkeiten, die damit zusammenhängen, daß die Termini ‘mündlich/schriftlich’ in doppeltem Sinne verwendet werden: zum einen beziehen sie sich auf das Medium der Realisierung sprachlicher Äußerungen, wo ‘mündlich’ = ‘phonisch’ und ‘schriftlich’ = ‘graphisch’ ist; zum anderen meinen die beiden Termini oft den Duktus, die Modalität der Äußerungen sowie die verwendeten Varietäten, kurz: die Konzeption, die die Äußerungen prägt (vgl. insbes. Söll 1985, 17—25; auch Behaghel 1927, 24, 27; De Mauro 1970; Chafe 1982). Der Begriff ‘konzeptionelle Mündlichkeit/Schriftlichkeit’ zielt also auf Aspekte der sprachlichen Variation, die in der Forschung häufig unscharf als ‘Umgangssprache/Schriftsprache’, ‘informell/formell’, ‘Grade der Elaboriertheit’ usw. erfaßt werden. Beim Medium sind die Begriffe ‘mündlich/ schriftlich’ dichotomisch zu verstehen (unbeschadet der Tatsache, daß jederzeit ein Medienwechsel, sei es beim Vorlesen, sei es beim Diktieren, stattfinden kann). Bei der Konzeption bezeichnen die Begriffe ‘mündlich/schriftlich’ demgegenüber die Endpunkte eines Kontinuums. Man vergleiche in dieser Hinsicht die Abstufungen zwischen Äußerungsformen,

wie ‘familiäres G espräch’, ‘Privatbrief’, ‘G esetzestext’ etc., wie sie auf Abb. 44.1 tentativ angesetzt sind (zu diesem Schema genauer Koch & Oesterreicher 1985). Der wissenschaftliche Vortrag ist also beispielsweise trotz seiner Realisierung im phonischen Medium konzeptionell ‘schriftlich’, während der Privatbrief trotz seiner Realisierung im graphischen Medium konzeptioneller ‘Mündlichkeit’ nähersteht. Die prinzipielle Unabhängigkeit von Medium und Konzeption steht nicht im Widerspruch dazu, daß einerseits zwischen dem phonischen Medium und konzeptionell mündlichen Äußerungsformen, andererseits zwischen dem graphischen Medium und konzeptionell schriftlichen Äußerungsformen eine ausgeprägte Affinität besteht (die Dreiecke in Abb. 44.1 symbolisieren die Stärke der Affinitäten). Ein familiäres G espräch verbleibt eben normalerweise im phonischen Medium, ein G esetzestext wird in aller Regel graphisch gespeichert. Nichtsdestoweniger sind für kulturgeschichtliche, pragmatische und sprachgeschichtliche Umbrüche gerade die gegenläufigen Kombinationen (medial graphisch/konzeptionell mündlich; medial phonisch/konzeptionell schriftlich) von besonderem Interesse (vgl. 3.1.). Ohnehin besteht ja für alle Kommunikationsformen grundsätzlich die Möglichkeit der „medium-transferability“ (Lyons 1981, 11); dies alles gilt selbstverständlich nur für G esellschaften, die über eine Schrift verfügen. Die rein mediale Umsetzung vom phonischen ins graphische Medium bezeichnen wir als Verschriftung. Ihr steht die Verschriftlichung gegenüber, die rein konzeptionelle Verschiebungen in Richtung Schriftlichkeit meint (vgl. 2. und 4.2.); Oesterreicher 1993. 1.2. Distanz und Schriftlichkeit Hinter dem, was hier als konzeptionelle Mündlichkeit/Schriftlichkeit bezeichnet wird, verbergen sich fundamentale Charakteristika

588

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Abb. 44.1: Schematische Anordnung verschiedener Äußerungsformen im Feld medialer und konzeptioneller Mündlichkeit/Schriftlichkeit (a = familiäres Gespräch, b = Telefongespräch, c = Privatbrief, d = Vorstel-

lungsgespräch, e = Zeitungsinterview, f = Predigt, g = wissenschaftlicher Vortrag, h = Leitartikel, i = Gesetzestext)

von Kommunikationssituationen. Sie lassen sich fassen mit Hilfe von Parametern wie ‘raum-zeitliche Nähe oder Distanz der Kommunikationspartner’, ‘Öffentlichkeit’, ‘Vertrautheit der Kommunikationspartner’, ‘Emotionalität’, ‘Situations- und Handlungseinbindung’, ‘Verhältnis des Referenzbezugs zur Sprecher-origo’ (vgl. Bühler 1965, 102 ff), ‘kommunikative Kooperation’, ‘Dialog/ Monolog’, ‘Spontaneität’, ‘Themenfixierung’ usw. Bis auf den erstgenannten sind alle diese Parameter skalar zu denken; ihr Zusammenwirken und ihr ‘Mischungsverhältnis’ ergeben das Relief der verschiedenen Äußerungsformen, die sich damit auf dem in 1.1. beschriebenen konzeptionellen Kontinuum situieren lassen (→ Art. 1). Dem Schriftlichkeits-Pol entsprechen dabei die Parameterwerte ‘raumzeitliche Distanz’, ‘öffentlich’, ‘fremde Partner’, ‘emotionslos’, ‘situations- und handlungsentbunden’, ‘wenig Referenz auf origo’, ‘keine Kooperationsmöglichkeit seitens des Rezipienten’, ‘monologisch’, ‘reflektiert-geplant’, ‘fixes Thema’ usw. Ausgehend von ‘raum-zeitlicher Nähe/Distanz’ läßt sich metaphorisch auch von ‘sozialer’, ‘emotionaler’, ‘referentieller’ Nähe und Distanz sprechen. Das Kontinuum zwischen ‘Nähe’ und ‘Distanz’ im so definierten Sinne steht für anthropologisch begründbare,

universale Kommunikationshaltungen. Sie sind prominentester Ausdruck des typischerweise gestaffelten Wirklichkeitsbezugs des Menschen (vgl. Schütz & Luckmann 1979/84; G raumann 1964). Die entsprechenden Kommunikationsbedingungen sind in pragmatisch-soziolinguistischer Perspektive auch als ‘Redekonstellationstypen’ beschrieben worden (vgl. Steger et al. 1974). Das Voranschreiten vom Nähe- zum Distanz-Pol kann in wesentlichen Punkten sogar als Interpretationsmaßstab für den phylo- und ontogenetischen Auf- und Ausbau menschlicher Sprachfähigkeit dienen (vgl. Ochs 1979; G ivón 1979, 207—233, 290—309). Diese universale Perspektive und die Terminologie ‘Nähe/Distanz’, die keinerlei mediale Assoziationen mehr weckt, rückt im übrigen die Tatsache in den Blick, daß selbst in oralen, also schriftlosen G esellschaften (vgl. etwa Ong 1982) Äußerungsformen ein wie auch immer geartetes kommunikativkonzeptionelles Relief aufweisen, das sich von extremer Nähe hin zu stärker distanzsprachlichen Formen erstreckt. Den medial nur phonisch realisierbaren Distanzbereich in oralen G esellschaften kann man auch als elaborierte Mündlichkeit bezeichnen (vgl. Koch & Oesterreicher 1985, 29—31; genauer unten 3.1.; → Art. 30).

44.  Schriftlichkeit und Sprache

589

1.3. Schriftlichkeit und die Ebenen des Sprachlichen

2.

Für die Erforschung und Darstellung der Probleme von Schriftlichkeit ist — wie für alles Sprachliche — die sprachtheoretische Unterscheidung von drei Ebenen grundlegend (vgl. Coseriu 1981, 7, 35—47), die auch die G liederung des vorliegenden Artikels bestimmt: — Die universale Ebene betrifft das Sprechen, also die allgemein-menschlichen Sprachvollzüge. Hinsichtlich der konzeptionellen Schriftlichkeit geht es hier um die Anforderungen, die unter den Bedingungen kommunikativer Distanz ohne jede historische Spezifikation für lexikalisch-semantische, syntaktische und textuell-pragmatische Versprachlichungsleistungen gelten und denen sich alle Sprachen bei der Verschriftlichung zu unterwerfen haben (Kap. 2.). — Auf der historischen Ebene sind zwei Bereiche zu unterscheiden. Zum einen müssen hier die Diskurstraditionen behandelt werden (Textsorten, Gattungen, Stilrichtungen, Gesprächsformen). Diese von Sprachgemeinschaften im Prinzip unabhängigen Traditionen weisen ein jeweils historisch zu bestimmendes und unter Umständen auch wandelbares konzeptionelles Profil auf (Kap. 3.). — Zum anderen interessieren natürlich vor allem die historischen Einzelsprachen, die schriftliche Varietäten besitzen bzw. ausbilden müssen, was bedeutet, daß sie bestimmte Sprachmittel auf den Gebrauch im Distanzbereich — im Prinzip willkürlich und daher wandelbar — festlegen (Kap. 4.). Charakteristisch für die Einzelsprachen und ihre Entwicklung sind auch bestimmte Optionen im Bereich des graphischen Mediums: Schriftsysteme, Phonie-Graphie-Korrespondenzen, Verschriftungsprobleme, Orthographie und Normierung. Auf diese wichtigen medialen Aspekte der Schriftlichkeit ist hier jedoch nicht einzugehen (→ Kap. III dieses Handbuchs). — Die dritte Ebene ist diejenige des aktuellen Diskurses, der als einmalige Äußerung zu betrachten ist. Diese Ebene ist für die Sprachwissenschaft nicht per se wichtig, sondern bietet gerade nur das Material für Erkenntnisse auf den anderen genannten Ebenen (Corpora).

Aus 1.2. ergibt sich, daß — zunächst einmal ganz unabhängig von der Existenz einer Schrift — ein Mehr oder Weniger an kommunikativer Distanz in a l l e n Sprachgemeinschaften notwendig ist. Die Versprachlichungsanforderungen, denen im Distanzbereich genügt werden muß, sind oft genug beschrieben worden (vgl. Ludwig 1980; Schlieben-Lange 1983, 46 ff; Chafe 1985; → Art. 2). Es geht vor allem um Kommunikation über große Zeiträume und weite Entfernungen hinweg sowie um die Möglichkeit, die Äußerungen aus der Einmaligkeit der Sprechsituation zu lösen, ihnen eine gewisse Stabilität, ja ‘Endgültigkeit’, und damit mehrfache Verfügbarkeit zu sichern (‘Wiedergebrauchsrede’ im Sinne Lausbergs 1979, 10—19). Die Schrift qua graphisches Medium ist nicht notwendige Bedingung — wenn auch ideales Instrument — zur Realisierung der kommunikativen Anforderungen der Distanz. Eine Sprachgemeinschaft besitzt nicht schon allein dadurch, daß sie ein Schriftsystem nutzen kann, bereits eine konzeptionell vollwertige Schreibsprache. Eine solche ist nämlich jeweils Produkt eines langwierigen historischen Prozesses, den wir mit Heinz Kloss als Ausbau bezeichnen können (1978, 37 ff). Ausbauprozesse begegnen uns immer dann, wenn Sprachen aus eigener Kraft oder unter dem Einfluß existierender Kultursprachen in die Schriftlichkeit hineinwachsen (vgl. 2.2.); solche Prozesse können aber auch institutionell initiiert und gesteuert werden, etwa in der Sprachplanung (vgl. Haugen 1983; zahlreiche Beiträge in Fodor & Hagège 1983—1990). Der G rad des Ausbaus eines Idioms ist nach Kloss (1978, 55 ff) sogar ein Kriterium dafür, ob diesem Idiom der Status einer ‘Sprache’ oder eines ‘Dialekts’ zukommt (vgl. auch Coseriu 1980; Muljačić 1985). Der sprachliche Ausbau eines Idioms hat zwei Aspekte. Zum einen muß das Idiom sukzessive ein Maximum an kommunikativen Funktionen und Diskurstraditionen im Distanzbereich übernehmen. Diese Probleme des extensiven Ausbaus behandeln wir in Kap. 3. Zum anderen muß das betreffende Idiom in seinen sprachlichen Ausdrucksmitteln so ausgestaltet werden, daß es den universalen Anforderungen konzeptioneller Schriftlichkeit genügen kann: wir sprechen hier von intensivem Ausbau. (Im G egensatz

Universale Aspekte schriftlicher Sprache und Konzeption

590

zu Haarmann 1988 beziehen wir die rein einzelsprachlich orientierten Aspekte der Selektion und der Kodifizierung (4.3.2./3.) nicht in den Begriff ‘Ausbau’ mit ein). In 2.1. sollen nun zunächst die universalen Merkmale zusammengestellt werden, die das Profil (konzeptionell) schriftlicher Sprache prägen und typische Zielvorgaben von intensiven Ausbauprozessen darstellen. Wir können dieser Skizze ein schärferes Relief verleihen, indem wir jeweils die universalen Merkmale (konzeptionell) mündlicher Sprache kontrastierend dagegensetzen. 2.1. Konzeptionell schriftliche Sprache: Profil und intensiver Ausbau 2.1.1. Textuelle und pragmatische Aspekte Ein Charakteristikum konzeptioneller Mündlichkeit stellen auf textueller und pragmatischer Ebene die sog. G esprächswörter und verwandte Verfahren dar, die auf Situationseinbettung, geringe Planung, Dialogizität und Emotionalität zugeschnitten sind: G liederungssignale, turn-taking-Signale, Sprecher-/ Hörer-Signale, hesitation phenomena, Korrektursignale, Interjektionen und Abtönungsverfahren (vgl. etwa Burkhardt 1982; Rath 1985, 1657—1660; Koch & Oesterreicher 1990, 51—76). In der situationsentbundenen, stark geplanten, eher monologischen und schwach emotionalen schriftlichen Sprache sind G esprächswörter entweder überflüssig oder müssen durch aufwendigere Elemente und Verfahren ersetzt werden, die dieselben Funktionen erfüllen. Was die Textgliederung angeht, so kann sich schriftliche Sprache nicht mit der linear-reihenden und vorläufigen Artikulation durch typisch mündliche G liederungssignale begnügen, sondern bevorzugt eine hierarchisch komplexe Textgliederung mit explizit-eindeutigen Signalen. Diese gilt es im Ausbauprozeß von Idiomen bereitzustellen (z. B. einerseits ... andererseits ...; erstens ... zweitens ... drittens ...; schließlich ...; zwar ... aber ...). G enerell zeichnet sich Schriftlichkeit durch einen nahezu ausschließlich mit sprachlichen Mitteln hergestellten Typ von Textkohärenz aus (Fritz 1982; Beaugrande & Dressler 1981, 50—117), der eine durchstrukturierte semantische Progression und eine explizite Verkettung zwischen Sequenzen im Text erfordert. Besondere Bedeutung kommt hier einer planungsintensiven Textphorik zu, bei der einerseits Kongruenzregeln strikt beachtet werden müssen, andererseits aber auch eine erhebli-

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

che Variation bei der Substitution koreferenter Ausdrücke möglich ist, etwa Renominalisierungen des Typs Heine ... Er ... Der Dichter ... (vgl. Raible 1972, 160—166). Ein wichtiges Mittel der Verkettung sind ferner die Satzverknüpfungen: in den schriftlichen Varietäten der verschiedensten Sprachen wird — mit diskurstraditionellen Schwankungen — die sog. Asyndese, aber auch die Häufung bloßer UND-Verknüpfungen möglichst selten eingesetzt, vielmehr wird die Differenzierung und Präzisierung der logischen Relationen zwischen Sätzen bei allen Ausbauprozessen vorangetrieben (Konjunktionen; vgl. auch 2.1.2.). Bezüglich der Makrostruktur distanzsprachlicher Texte fällt auf: typisch mündliche Verfahren wie das Präsens als Erzähltempus werden aufgegeben; die Redewiedergabe durch die direkte Rede weicht der wesentlich planungsintensiveren indirekten Rede usw. (vgl. Koch & Oesterreicher 1990, 73—81). G erade auf der Ebene des Textes treten nun allerdings auch die medialen Aspekte der Kommunikation deutlich hervor. In G esellschaften, die zwar über Schrift verfügen, aber die schriftliche Speicherung weithin nur als Bindeglied zwischen Diktieren und Vorlesen/ Vortragen nutzen (zu Antike und Mittelalter vgl. etwa Balogh 1926/27; Saenger 1982), werden die Modelle zur Formulierung komplexer Textstrukturen vorrangig durch eine lebendige G edächtniskultur bereitgestellt, aber natürlich durch einen beträchtlichen Schematismus erkauft (Formeln, Stereotype usw.). Demgegenüber ermöglicht eine Textproduktion und -rezeption, die sich ausschließlich im graphischen Medium vollzieht, eine wesentlich komplexere und langfristigere Planung und Lektüre mit vielfältigen, sich wiederholenden Korrektur- und Kontrollvorgängen, die den Zugriff auf externe Wissensspeicher erlauben (‘Sekundärliteratur’, Kommentare, Enzyklopädien, Lexika; G rammatiken). Diese Bedingungen setzen eine erhöhte Kreativität und Individualität frei und lassen die Produktion und Rezeption — natürlich auch syntaktisch und semantisch — hochkomplexer und doch variabler Texte zu (vgl. Eigler et al. 1990). 2.1.2. Syntaktische Aspekte Es ist bekannt, daß unter den Bedingungen kommunikativer Nähe nicht-‘wohlgeformte’ oder nicht-satzförmige Äußerungen ihre Funktion dank der schon in 2.1.1. erwähnten Kontextstützung und Redundanz uneinge-

44.  Schriftlichkeit und Sprache

schränkt erfüllen (vgl. Koch & Oesterreicher 1990, 82—101; Sornicola 1981; auch Havers 1931, passim; Hofmann 1951, 103 ff; 163 f). Im Distanzbereich, wo die Last der Information in stärkstem Maße auf dem sprachlichen Anteil ruht, müssen die syntaktische Wohlgeformtheit und das explizite, aber zugleich kompakte Satzformat respektiert und ausgebaut werden (vgl. Pawley & Syder 1983). Nicht zufällig vermeiden die schriftlichen Varietäten der verschiedensten Sprachen Kongruenzschwächen, Fehlstarts, Anakoluthe, Nachträge sowie holophrastische Äußerungen (Typ E inmal mit, bitte!) und Aposiopesen (Typ Wenn der kommt, ...!), die nur ‘empraktisch’ verständlich sind (vgl. Bühler 1965, 154—168; Hofmann 1951, 53—55). G leiches gilt für Segmentierungsphänomene, die eine beträchtliche Lockerung der syntaktischen Integration darstellen (vgl. etwa Restaurants, the situation is helpless in Chapel Hill; Mit dem kann ja keiner arbeiten, mit so ’nem Hammer). G efördert wird die syntaktische Integration und Präzision hingegen durch folgende Phänomene, die regelmäßig G egenstand des syntaktischen Ausbaus sind und die in frühen Phasen der Verschriftlichung zu Unsicherheiten führen: Differenzierung von Präpositionen und hypotaktischen Konjunktionen, Regularisierung von Tempus- und Modusgebrauch (z. B. consecutio temporum), Intensivierung der Möglichkeit von Subordination und Hypotaxe, z. B. vorgeschaltete und mehrfache Hypotaxe, Partizipialkonstruktionen (vgl. etwa Bossong 1979, 165—196; Raible 1992, 78—111). Zu denken ist hier auch an den in der Schriftlichkeit teilweise extrem praktizierten ‘Nominalstil’, bei dem durch syntaktische und lexikalische Mittel eine maximale Kondensierung der Information erreicht wird (vgl. Bally 1965, 365 f; Polenz 1988, 24—48). 2.1.3. Lexikalisch-semantische Aspekte Unter den Bedingungen kommunikativer Nähe ist das in der Äußerung verwendete Wortmaterial nur e i n Faktor, der — neben Situations- und Wissenskontext, Anwesenheit der Partner usw. — zur Bedeutungsgebung beiträgt. Dies erklärt auch die häufige Verwendung sogenannter passe-partout-Wörter und Präsentative sowie die geringe Variation in der Wortwahl (vgl. Koch & Oesterreicher 1990, 102—114). Im Distanzbereich, wo textexterne Faktoren — sieht man einmal von den überindivi-

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duellen Wissenskontexten ab — weit weniger wirksam werden können und wo auch die Redundanz mündlicher Kommunikation dysfunktional wäre, ist es notwendig, durch Differenzierung des lexikalischen Materials die fehlenden außersprachlichen Kontexte zu kompensieren und eine Vielzahl lexikalischer Einheiten für einen raschen, präzisen Zugriff auf Referenzobjekte bereitzustellen. Nur so können die gesamte gesellschaftliche Realität und die Vielfalt der in ihr distribuierten Wissensbestände flächendeckend erfaßt werden. Der Ausbauprozeß umfaßt daher gerade auch eine Verfeinerung der lexikalischen Paradigmatik (Wortschatzerweiterung, konsequente Nomenklaturen, reflektierte Synonymenscheidung usw.), eine Intensivierung der Wortbildung bzw. Entlehnung (vgl. 2.2.) sowie eine systematischere Nutzung von Abstraktionsmöglichkeiten (mehr Sachverhaltsabstrakta, konsequentere Begriffshierarchien: vgl. hierzu Bossong 1979, 87—164). Zu untersuchen wäre auch die Rolle, die bestimmte Typen von Metaphern und Metonymien bei der polysemischen Steigerung der Funktionalität des Fachwortschatzes spielen (vgl. etwa Hahn 1980, 393). Darüber hinaus ist eine derartige Diversifikation des lexikalischen Materials im Verbund mit intensiver Planung Bedingung der Möglichkeit lexikalischer Variation im Text und der in schriftlicher Kommunikation häufig zu beobachtenden hohen type:token-Relation (vgl. Söll 1985, 63—65). Mündliche Sprache weist nun in bestimmten durch Emotionalität gekennzeichneten Sinnbezirken durchaus einen beachtlichen lexikalischen Reichtum auf: verstärkende und drastische Metaphern, Hyperbeln usw. (vgl. Koch & Oesterreicher 1990, 114—120). Was diesen Punkt betrifft, so orientiert sich die schriftliche Sprache bei ihren eher flächendeckenden lexikalischen Differenzierungen gerade nicht am Kriterium der Emotionalität, sondern an dem einer versachlichten kontextunabhängigen Nutzung des in lexikalischen Einheiten komprimierten gesellschaftlichen Wissens. 2.2. Spontaner und fremdinitiierter Ausbau Die Überlegungen zum Ausbau dürfen keinesfalls in dem Sinne mißverstanden werden, daß mündliche Varietäten etwa per se ‘defizitär’ wären (vgl. etwa Bernstein 1960/61); sie sind nämlich im Nähebereich voll funktionsfähig, aber natürlich im Distanzbereich nicht einsetzbar (übrigens gilt dies umgekehrt auch

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für die schriftlichen Varietäten im Nähebereich!). Solche funktionellen Begrenzungen werden in all jenen historischen Situationen spürbar, wo bislang rein mündliche Idiome sich den Distanzbereich eröffnen müssen. Dies geht nie ohne tiefgreifende Veränderungen der entsprechenden Idiome im universalen (vgl. 2.2.) wie auch im einzelsprachlichen Bereich ab (vgl. 4.2.; 4.3.2./3.). Bestimmte Sprachen haben den intensiven Ausbauvorgang weitestgehend ‘aus eigener Kraft’, d. h. im Rahmen der Vorgaben des eigenen Sprachsystems geleistet (Altägyptisch, Altgriechisch, Chinesisch, Arabisch u. a.). In allen Kulturkreisen und Epochen tritt uns allerdings viel häufiger der Fall der Akkulturation entgegen, bei der eine Sprachgemeinschaft im Kontakt mit einer überlegenen Schriftkultur in einen ‘Ausbausog’ gerät. Dabei ist es unvermeidlich, daß aus der akkulturierenden Sprache lexikalische Elemente entlehnt oder durch calque nachgebildet werden (G räzismen im Latein; Latinismen in europäischen Sprachen; Arabismen im Spanischen, Türkischen, Persischen usw.). Auch syntaktische Konstruktionstypen werden imitiert, in Extremfällen sogar Präpositionen und Konjunktionen direkt übernommen (vgl. Raible 1992, 203 f). Eine derartige Sprachmischung manifestiert sich, zumindest in der Anfangsphase der Akkulturation, auch auf der Textebene: in bestimmten Passagen, ja sogar in ganzen Textteilen, kann einfach die akkulturierende Sprache verwendet werden. So erscheint etwa das Latein in frühen romanischen und deutschen juristischen und religiösen Texten (Urkunden, Predigten, Dichtungen usw.), das Altkirchenslawische in frühen rumänischen Dokumenten (vgl. Windisch 1993). Bestimmte textuell relevante Elemente verfestigen sich sogar langfristig als Versatzstücke in diastratisch/diaphasisch hohen Sprachvarietäten der akkulturierten Sprache (ergo, item; frz. primo, secundo, tertio; engl. i. e. = id est, e. g. = exempli gratia usw.). In bestimmten Fällen ist unbezweifelbar, daß durch Ausbauübernahmen ‘Lücken’ in den Ausdrucksmitteln der akkulturierten Sprache geschlossen werden (vgl. etwa Joseph 1987, 93 f). Nicht selten jedoch ergibt sich bei derartigen Übernahmen ein gewisser ‘Überschuß’: es werden aus der akkulturierenden Sprache Elemente übernommen, deren Funktion in der akkulturierten Sprache eigentlich schon abgedeckt ist (’Luxus-Entlehnungen’; vgl. Koch 1987).

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Das weitere Schicksal der Luxus-Entlehnungen in der akkulturierten Sprache kann sehr unterschiedlich sein. Sie können wieder aufgegeben oder in diaphasisch sehr hohe Register abgedrängt werden (z. B. der dem Lateinischen nachgebildete AcI im Französischen und Italienischen seit der Renaissance). Wenn sie sich halten, findet entweder eine mehr oder minder deutliche — etwa quasisynonymische — Funktionsdifferenzierung statt (z. B. engl. G allizismen wie mutton oder liberty neben sheep oder freedom), oder aber die Entlehnung marginalisiert oder verdrängt das autochthone Element (z. B. der G allizismus tanzen für dt. walzen oder die Monatsnamen lateinischer Herkunft für dt. Hartung, Hornung usw.). Zu betonen ist, daß keineswegs alle Entlehnungsprozesse zwischen Sprachen im Kontext des Ausbaus zu sehen sind. Auch im Bereich der Mündlichkeit kommt es selbstverständlich zu Sprachkontakten mit Übernahmen (Latinismen in germanischen Sprachen; lexikalischer Austausch in den Sprachen des Balkanbunds; viele der heute weltweit verbreiteten Anglizismen). 2.3. System, Norm und Ausbau Es wurde bereits hervorgehoben, daß nichtausgebaute Idiome nicht ‘minderwertig’ sind und den Ausbau im Prinzip auch aus eigener Kraft bewerkstelligen können. Im G egensatz zu den Verhältnissen auf einzelsprachlicher Ebene (vgl. 4.1.1.) sind auf der hier betrachteten universalen Ebene die Unterschiede zwischen mündlichen und schriftlichen (ausgebauten) Varietäten bzw. Sprachen nämlich vielfach nicht sehr tiefgreifend. Weithin betreffen sie nur Frequenzunterschiede in der Verwendung bestimmter Elemente oder Verfahren oder die mehr oder weniger starke Nutzung von im Sprachsystem angelegten Möglichkeiten, also nur Fakten der Norm im Sinne von Coseriu 1979 (vgl. Koch & Oesterreicher 1985, 28 f). Die fundamentalen Kategorien von Einzelsprachen werden also von entsprechenden Ausbauprozessen nicht tangiert. Echte Systemveränderungen könnte man am ehesten dort erwarten, wo neue lexikalische, eventuell sogar grammatikalische Elemente hinzukommen, da sich hierdurch die paradigmatische Binnenstruktur und damit der Systemwert der Elemente ändert. Die Komplexität der Verhältnisse zeigt sich beispielsweise an den hypotaktischen Konjunktionen der romanischen Sprachen. Es wäre verfehlt anzunehmen, daß die Möglichkeiten

44.  Schriftlichkeit und Sprache

der Hypotaxe als solcher im Vulgärlatein/ Frühromanischen qua gesprochener Sprache stark geschrumpft und erst in der Periode der Akkulturation dieser Sprachen durch das Lateinische wieder aufgeblüht seien (so Tekavčić 1980, 859, 912). Nicht einmal die Bildungstypen der hypotaktischen Konjunktionen erfahren eine grundsätzliche Innovation (vgl. etwa zum Altfranzösischen Stempel 1964, 385—459). Zu konzedieren sind allenfalls Erweiterungen des Inventars der Konjunktionen und damit kleinräumige Veränderungen im Oppositionsgefüge eines Subsystems.

3.

Diskurstraditionelle Aspekte schriftlicher Sprache und Konzeption

Die eben dargestellten Zusammenhänge, die sehr allgemeine Kennzeichen konzeptioneller Schriftlichkeit betreffen, müssen nun selbstverständlich historisch konkretisiert werden, und zwar in der Perspektive der jeweils gewählten oder erwarteten Sinngebungen und Zielsetzungen der Kommunikationsakte. Sie manifestieren sich in den Diskurstraditionen (G attungen, Textsorten, Stilen, G esprächsformen, Sprechakten usw.; vgl. 1.3.). 3.1. Konzeptionelle Dynamik von Diskurstraditionen Diskurstraditionen als historische G rößen unterliegen notwendigerweise dem Wandel: Herausbildung und Ausdifferenzierung neuer Diskurstraditionen und ihre (Ver-)Festigung, G eneralisierung bestehender Traditionen, Marginalisierung und Absterben von Traditionen. Hierbei spielen gerade konzeptionelle und mediale Veränderungen eine wichtige Rolle. Dazu nur drei Beispiele: — In der Antike kultivierte der Privatbrief eine nähesprachliche Orientierung im graphischen Medium (vgl. etwa Cicero, Ad Quintum fratrem, I, 1, 45: „[...] cum tua lego, te audire et [...], cum ad te scribo, tecum loqui videor[...]“). Im Mittelalter gerieten demgegenüber nahezu alle Briefgattungen in den Sog des auch in den Urkunden praktizierten extrem distanzsprachlichen Schemas des dictamen (salutatio — exordium — narratio — petitio/dispositio — conclusio; vgl. Koch 1987). Eine Wiederbelebung der Formel ‘Brief als G espräch’ erleben wir im 18. Jahrhundert, etwa bei G ellert und Lessing (vgl. G auger 1986, 28 f). In jüngster Zeit ist nun gar der

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Verfall einer Kultur des Privatbriefs als Folge einer medialen Innovation, des Telefons, beklagt worden. — Trotz ihrer Benennung als ‘Redekunst’ ist die abendländische Rhetorik letztlich immer auf distanzsprachliche Kommunikation im phonischen Medium ausgerichtet gewesen (vgl. Ong 1982, 9 f; 108—111; 116). Mühelos konnten daher Regeln der Rhetorik zur Abfassung — je schon graphisch gespeicherter — distanzsprachlicher literarischer Texte herangezogen werden und damit in die Poetik Eingang finden (vgl. Ueding & Steinbrink 1986, 23; 36 f; 66—69; 84—86; 91 ff; 138— 140; Lausberg 1973, §§ 35, 1156—1242). Bis in die Neuzeit hinein wurden die poetischen Regeln (Topik, Stilfiguren usw.) genutzt. Der dadurch häufig entstandenen distanzsprachlichen Artifizialität stellten sich ‘antirhetorische’ literarische Strömungen im Namen von Natürlichkeit, Spontaneität, Individualität und Authentizität entgegen (Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Romantik usw.). Ähnliche, immer auch als konzeptionell zu verstehende Argumente kommen regelmäßig bei der erbitterten Diskussion um literarische Strömungen und Stile zum Tragen (vgl. etwa den Manierismus, bes. Marinismus, Kulteranismus, Konzeptismus in Italien und Spanien; dazu Hauser 1964, bes. 268—352; ferner Ueding & Steinbrink 1986, 95—98). — Die elaborierte Mündlichkeit in oralen Gesellschaften (vgl. 1.2.) umfaßt distanzsprachliche Diskurstraditionen: Spruchweisheiten, Beschwörungs- und Zauberformeln, Rätsel, Sagen, Heldenlieder (vgl. Schlieben-Lange 1983, 78—80; Chafe 1982, 49—52; Akinnaso 1985, 333—346). Es handelt sich hier um einen ganz spezifischen, gedächtniskulturell und situationell verankerten Typ von Distanzsprachlichkeit, der nicht einfach mit dem uns vertrauten, letztlich schriftgestützten Typ identifiziert werden darf. In der Regel liegen uns heute, wenn überhaupt, Reflexe elaborierter Mündlichkeit nur in graphischer Fixierung vor. Am Beispiel der mittelalterlichen Heldenepik (vgl. das ahd. Hildebrandslied; den aengl. Beowulf; die air. Táin Bó Cuailnge; die afrz. Chanson de Roland; den sp. Cantar de Mio Cid) läßt sich zeigen, daß bei der Aufzeichnung, die ohnehin bereits einen Vitalitätsverlust signalisiert, das jeweilige konzeptionelle Profil der Diskurstraditionen durch schriftgestützte Elaborierung verändert wird (vgl. etwa Zumthor 1983; Wolf 1988; Schaefer 1992; Tristram 1988; Duggan 1973; Montgomery 1977).

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

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In ähnlicher Weise ließen sich natürlich die konzeptionellen und medialen Aspekte zahlreicher anderer diskurstraditioneller Verschiebungen diskutieren: im juristischen Bereich (G ewohnheitsrecht, G erichtsurteil, Urkunden usw.), in den dramatischen G enera (Komödie, Lesedrama, Theaterdialog/Filmdialog usw.), im Bannkreis des Konversationsideals des 16.—18. Jahrhunderts. (Literatur, Predigt, Wissenschaftsprosa) usw. 3.2. Diskurstraditionen und extensiver Ausbau In 2.2. haben wir den extensiven Ausbau beschrieben als zunehmende Befähigung eines Idioms, auch in Diskurstraditionen im Distanzbereich verwendet zu werden. G enaugenommen gilt sogar, daß der Prozeß der Verschriftlichung schubweise nach Distanzdiskurstraditionen erfolgt und nie Einzelsprachen oder einzelne Idiome (vgl. 4.) als ganze erfaßt (vgl. fürs Italienische etwa Krefeld 1988). So ist beispielsweise unverkennbar, daß bei der Verschriftlichung in der Romania ganz bestimmte Distanzdiskurstraditionen — quer durch die einzelnen Idiome — eine ‘Vorreiterrolle’ spielen (Eide, Predigten, Heiligenviten, weltliche Lyrik usw.; vgl. Koch 1993) und daß demgegenüber andere diskurstraditionelle Domänen mit deutlicher ‘Verspätung’ folgen, in diesem Fall also länger dem Latein vorbehalten bleiben (literarische Prosa, Historiographie, Wissenschaftsprosa usw.; vgl. Stempel 1972). Nicht zufällig bemißt Kloss (1978, 37—63) den Ausbaugrad einer Sprache an diskurstraditionell gestaffelten Parametern. In dieser Sicht lassen sich etwa Idiome wie das Färöische, Irische oder Sorbische nur als teilausgebaut ansehen (vgl. Haarmann 1988, 45), da ihnen ausgeprägt schriftliche Domänen wie kultur- bzw. naturwissenschaftliche Forscherprosa und naturwissenschaftlich-technische Zweckprosa fehlen, die von vollausgebauten Schriftsprachen abgedeckt werden (in diesen Fällen: Dänisch, Englisch und Deutsch). Extensiver Ausbau und Ausbaudefizite sind jedoch nie endgültig. So drängen bestimmte Sprachen, z. B. das heutige Katalanisch, in die letzten ihnen noch zum vollen Ausbau fehlenden Domänen. Umgekehrt haben heute schon einige voll ausgebaute kleinere europäische Schriftsprachen, etwa das Niederländische oder das Ungarische, ihren extensiven Ausbau, vor allem in der naturwissenschaftlich-technischen Forscherprosa, zugunsten des Englischen weitestgehend auf-

gegeben. Mehr und mehr sind von diesem Prozeß sogar Sprachen wie das Deutsche und das Französische betroffen (vgl. etwa Kalverkämper & Weinrich 1986; Hagège 1987, 149—163; Gauger 1991).

4.

Einzelsprachliche Aspekte schriftlicher Sprache und Konzeption

Das Nähe/Distanz-Kontinuum, das in Zf. 1. als universales G rundprinzip sprachlicher Variation vorgestellt wurde, muß notwendigerweise in irgendeiner Form in allen Sprachgemeinschaften wirksam sein. Dies bedeutet, daß auf der historischen Ebene das Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Distanz sich nicht nur in den praktizierten Diskurstraditionen (vgl. 3.), sondern auch in den einzelsprachlichen Fakten ausprägt. Diese konzeptionelle Relevanz der entsprechenden einzelsprachlichen Phänomene liegt jedoch nicht immer offen zutage, da sie vielfach als disiecta membra in Disziplinen wie der Sprachgeschichte, Dialektologie, Soziolinguistik, Varietätenlinguistik, Lexikographie, Sprachdidaktik und Sprachkritik thematisiert werden. 4.1. Schriftlichkeit und Sprachvariation Die Historizität von Einzelsprachen impliziert, daß diese keine homogenen G ebilde darstellen, sondern eine interne Variation aufweisen, die mit einer Vielzahl deskriptiver Normen korrespondiert. Individuen und G ruppen partizipieren an dieser Variation in der Weise, daß sie über eine gestaffelte Kompetenz verfügen, die aber natürlich nie die G esamtheit aller in der Sprachgemeinschaft vorhandenen Varietäten umfaßt. 4.1.1. Dimensionen der Sprachvariation Die Frage ist nun, w i e sich diese einzelsprachlichen Varietäten zu dem universalen konzeptionellen Nähe/Distanz-Kontinuum verhalten. Normalerweise unterscheidet man drei Varietätendimensionen: Diatopik, Diastratik und Diaphasik (vgl. Coseriu 1980). Jede dieser Dimensionen weist eine interne Skalierung auf: starke ↔ schwache diatopische Markierung, niedrige ↔ hohe diastratische bzw. diaphasische Markierung. Diese Skalierungen spiegeln jeweils die Abstufungen des konzeptionellen Kontinuums wider (vgl. den Anfang von Zf. 2.). Es ist kein Zufall, daß in allen Sprachgemeinschaften diatopisch

44.  Schriftlichkeit und Sprache

stark markierte Varietäten konzeptioneller Schriftlichkeit fernstehen. Der enge Kommunikationsradius von Mundarten und Dialekten steht im Widerspruch zu der für konzeptionelle Schriftlichkeit definitorischen maximalen Reichweite (daher bleibt Dialektliteratur marginal und versteht sich auch oft so; vgl. jedoch unten 4.2.2. zum Altgriechischen). G leichermaßen ist die Verwendung diastratisch und diaphasisch als niedrig markierter sprachlicher Erscheinungen im Bereich der auf Formalität, Prestige usw. angelegten konzeptionellen Schriftlichkeit nicht opportun. Zugeschnitten auf distanzsprachliche Kommunikation ist somit eine minimal diatopisch markierte und diastratisch/diaphasisch als hoch markierte Varietät: die ‘Schriftsprache’. Wenn man nun aber das Verhältnis der drei Varietätendimensionen zueinander betrachtet, so ist unübersehbar, daß sie in einer gerichteten Beziehung zueinander stehen: in Form einer ‘Varietätenkette’ funktionieren diatopisch stark markierte Elemente sekundär auch als diastratisch niedrig, und diastratisch niedrig markierte Elemente können ihrerseits sekundär in die niedrige Diaphasik einrücken (so werden Dialekte in der Regel signifikant häufiger von Unterschichtsprechern, aber durchaus auch als informelles ‘Register’ gebildeter, sozial höherstehender Sprecher verwendet). Letztlich ‘hängt’ die gesamte Varietätenkette, wie schon angedeutet, an den Abstufungen des konzeptionellen Nähe/DistanzKontinuums. Nachdem es in universaler Hinsicht einen ganz eigenen Typ konzeptionell geprägter Variation gibt (1a in Abb. 44.2; vgl. 2.1.), ist es naheliegend anzunehmen, daß sich die konzeptionelle Variation auch in einzelsprachlicher Hinsicht nicht nur aus den drei ‘Dia’-Dimensionen speist.

Abb. 44.2: Dimensionen der Sprachvariation

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Für bestimmte Sprachen wird inzwischen auch im einzelsprachlichen Bereich eine eigene Varietätendimension ‘gesprochen-geschrieben’ anerkannt (vgl. etwa zum Französischen: Martinet 1980, 158—163; Söll 1985, 34—43; zum Deutschen: Ludwig 1980, 323 f; zum Italienischen: Holtus 1983). Die hier relevanten sprachlichen Unterschiede sind keineswegs alle als „Stil“, als „Abwahlregularitäten“ (Steger 1987, 57) anzusehen, sondern tangieren zum Teil sogar das System der Sprache (vgl. im Frz.: gesprochen nur il a chanté, aber geschrieben il a chanté/il chanta; ähnlich im Dt.: gesprochen machst du/ machste, aber geschrieben nur machst du usw.). Vielfach wird versucht, derartige Fakten in der diaphasischen Dimension (2 in Abb. 44.2) unterzubringen (vgl. Albrecht 1986/90, I, 81; III, 69—71; auch Hunnius 1988). Zum einen besteht hier jedoch die G efahr, daß man die Unterscheidung Medium vs. Konzeption ganz auf die Unterscheidung Medium vs. Diaphasik reduziert. Zum anderen wird übersehen, daß, wie Söll (1985, 190 ff) gezeigt hat, die diaphasischen Registermarkierungen den sprachlichen Phänomenen gar nicht fest anhaften, sondern sich, entsprechend der konzeptionellen Ausrichtung der Kommunikation, jeweils verschieben: z. B. rückt bei dt. kriegen-bekommen-erhalten die Markierungsskala des G eschriebenen (‘familiär’ — ‘neutral’ — ‘gewählt’) im G esprochenen nach oben (etwa ‘neutral’ — ‘gewählt’ — ‘gestelzt’). Die sprachtheoretisch fundamentale Bezugsgröße ist in der Tat das in Zf. 1. beschriebene kommunikative Nähe/Distanz-Kontinuum. Es ist methodisch nicht akzeptabel, dieses tertium seinerseits einer partikulären Varietätendimension — hier der Diaphasik — unterzuordnen.

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Mithin spricht alles dafür, eine eigene Varietätendimension ‘gesprochen-geschrieben’ auch im einzelsprachlichen Bereich anzusetzen (vgl. Oesterreicher 1988, 376—378; Koch & Oesterreicher 1990, 13—15); sie ist in Abb. 44.2 als Ebene 1b wiedergegeben. 4.1.2. Ausgestaltungen des Varietätenraums Diese sprachtheoretische Modellierung des ‘Varietätenraums’ ist im Prinzip auf alle historischen Einzelsprachen anwendbar (zur historischen Konstitution solcher Varietätenräume s. u. 4.3.), wobei sich allerdings zum Teil erhebliche Unterschiede in der ‘Auslastung’ der einzelnen Varietätendimensionen ergeben. G anz unterschiedlich kann etwa das Profil des Distanzbereichs sein: rigorose Ausgrenzung diatopischer Variation etwa im Französischen gegenüber größerer Toleranz etwa im Deutschen und Italienischen; homogene vs. polyzentrische Norm der ‘Schriftsprache’ (vgl. etwa Französisch vs. Englisch und Spanisch mit ihren europäischen, amerikanischen u. a. Standards). Was den Nähebereich betrifft, so denke man an das unterschiedliche Relief der Varietätendifferenzen: etwa an die starke dialektale Differenzierung (4 in Abb. 44.2) im Deutschen, Italienischen, Finnischen und Japanischen gegenüber der relativen (!) Einheitlichkeit im Isländischen oder auch im Russischen oder an die vergleichsweise geringere Auslastung der Varietätendimension 1b im Deutschen und erst recht im Spanischen gegenüber der schon erwähnten besonders starken Auslastung im Französischen (vgl. zu den genannten Sprachen die Angaben in Haarmann 1975; Comrie et al. 1987; Koch & Oesterreicher 1990, 235—237). Die extremste Konstellation im Bereich 1b ist von Ferguson (1959) unter dem Stichwort Diglossie beschrieben worden: In bestimmten Sprachgemeinschaften besteht eine strikte Funktionstrennung zwischen einer ‘high-variety’ und einer ‘low-variety’, die zwar miteinander verwandt sind, sich aber auf allen Ebenen der Sprache außerordentlich stark unterscheiden. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß die H-Varietät genau nur als Varietät der konzeptionellen Schriftlichkeit fungiert (Predigt, Parlamentsrede, Universitätsvorlesung, Zeitungsartikel, Dichtung usw.), während die L-Varietät gerade die Varietät der konzeptionellen Mündlichkeit ist (G espräch mit Verwandten, Freunden und Kollegen, Anweisungen an Dienstboten, Worte in politischen Karikaturen usw.; → Art. 60). Beispiele für eine

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

derartige Diglossiesituation liegen vor in der arabischen Sprachgemeinschaft, im lateinisch-romanischen Mittelalter (vgl. 4.3.3.), ferner in der deutschen Schweiz. In diesen Zusammenhang kann man auch die Sprachsituation in G ebieten wie Jamaica, Haïti oder Cabo Verde stellen, in denen ein kreolischer ‘Basilekt’ einer damit verwandten europäischen Schriftsprache gegenübersteht, die als ‘Akrolekt’ fungiert (vgl. Romaine 1988, Kap. 5 passim; Holm 1988, 9); allerdings muß man sich hier bereits fragen, ob es sich überhaupt noch um Varietäten ‘einer’ Sprache handelt. Die von Ferguson beschriebene Funktionstrennung von H und L kann allerdings auch bei sehr verschiedenen, sogar nicht direkt miteinander verwandten Sprachen beobachtet werden: französisch-basiertes créole und Englisch in St. Lucia; Althochdeutsch und Latein vor 800; dakoromanische Volkssprache und Altkirchenslawisch im Mittelalter. In diesen Fällen sollte man nicht von ‘Diglossie’ sprechen, sondern von ‘Bilingualismus’, der als gesellschaftlich geregelter Bilingualismus mit Funktionstrennung natürlich sowohl vom gesellschaftlichen Bilingualismus ohne Funktionstrennung, z. B. in der heutigen mehrsprachigen Schweiz, als auch vom bloß individuellen ‘Bilinguismus’ zu unterscheiden ist (vgl. Schlieben-Lange 1991, 37—41; → Art. 60). 4.2. Prozesse der Verschriftlichung 4.2.1. Typisierung Der Einstieg in die Verschriftlichung von Sprachformen, d. h. das Eindringen von bisher auf den Nähebereich beschränkten Sprachformen in den Distanzbereich, ist ein vielgestaltiger historischer Prozeß, der nichtsdestoweniger bestimmte Typisierungen erlaubt (vgl. zu 4.2. insgesamt: Haarmann 1975, 140—207, 249—219; 1988; Scaglione 1984; Joseph 1987). Folgende Aspekte sind dabei zu berücksichtigen: (1) Die frühen Formen der Verschriftlichung sind nicht unbedingt mit den späteren Schriftsprachen zu identifizieren und werden deshalb als ‘Schreibtraditionen’ (scriptae) bezeichnet (vgl. G ossen 1967; G euenich 1985, 984 f). (2) Derartige scriptae sind in der Regel von kleinräumiger G ültigkeit, können aber in der historischen Entwicklung geographisch expandieren; dieser Vorgang, bei dem andere Idiome — mit oder ohne scripta-Ansätze — in den Nähebereich verwiesen werden, kann mit Kloss (1978, 60 f) als ‘Überdachung’ bezeichnet werden; das

44.  Schriftlichkeit und Sprache

Produkt dieses Prozesses wird häufig als ‘Koiné’ bezeichnet (im folgenden ‘Koiné1’). (3) Scriptae, die freilich nie mit einem lokalen nähesprachlichen Idiom völlig gleichgesetzt werden dürfen, können direkt auf einer diatopisch mehr oder weniger klar lokalisierten, einheitlichen Sprachform basieren (nach Haarmann 1975, 149: ‘monodialektal’; besser wohl: ‘monotopisch’), oder aber sie können eine Misch- und Ausgleichsform darstellen; auch dies wird häufig als ‘Koiné’ bezeichnet (im folgenden ‘Koiné2’). Beispiel für den seltenen Fall einer monotopischen scripta, die keiner Überdachung mehr bedurfte, ist die altisländische Schriftsprache bis in die 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts. Häufiger sind monotopische scriptae, die in einem Überdachungsprozeß geographisch weit expandieren zu einer Koiné1 (z. B. die hellenistisch-griechische Κοινή auf attisch-ionischer G rundlage im östlichen Mittelmeerraum, die ja dem Phänomen ‘Koiné1’ den Namen gegeben hat, oder das Latein, Sprache Roms, in der Westhälfte des Imperium Romanum). Eine solche überdachende scripta kann sich im Kontakt mit ihr verwandten regionalen Sprachformen des Nähebereichs geographisch diversifizieren und letztlich in mehrere eigenständige scriptae übergehen (z. B. das Altkirchenslawische auf makedobulgarischer G rundlage, das sich in eine russische, bulgarische und serbische Kirchensprache differenziert). Eine völlig andere, polyzentrische Konstellation treffen wir in G ebieten an, in denen sich eine ganze Reihe ursprünglich gleichberechtigter, jeweils mehr oder weniger monotopischer scriptae herausbildet, z. B. in althochdeutscher Zeit Alemannisch, Bairisch, Ostfränkisch usw. (vgl. G euenich 1985). In der Regel verdrängt jedoch eine dieser scriptae aus politischen und/oder soziokulturellen G ründen sukzessive mehrere andere scriptae und überdacht schließlich als Schriftsprache (Koiné1) ein größeres G ebiet (besonders markant im mittelalterlichen Nordfrankreich: das Franzische der Ile-deFrance, das sich gegenüber Pikardisch, Normannisch, Champagnisch, Lothringisch usw. ab dem 13. Jahrhundert durchsetzt und G rundlage der französischen Schriftsprache wird). Völlig anders verläuft die Entwicklung, wenn am Anfang der Verschriftlichung bereits eine Misch- und Ausgleichssprache, also eine Koiné2, steht, wo demnach weder Monotopik noch Polyzentrik der scriptae vorliegt (z. B. bei der mittelalterlichen kymrischen Schriftsprache; die im wesentlichen attisch-ionische

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griechische Κοινή war also gerade keine Koiné2!). In Fällen wie dem des Ungarischen bildet sich demgegenüber eine Koiné2 erst spät, im 16. Jahrhundert, aus schwankenden, regional beeinflußten, aber nicht polyzentrischen Schreibtraditionen. Bei all dem ist zu bedenken, daß auch Schriftsprachen auf monotopischer G rundlage im Laufe der Sprachgeschichte durch eine mehr oder weniger große Zahl diatopischer Elemente nicht zuletzt zum Zwecke des lexikalischen Ausbaus angereichert werden. 4.2.2. Instabilitäten und Komplikationen Vor einer endgültigen Überdachung und Koineisierung ergeben sich teilweise instabile Konstellationen, in denen sich diatopisch oder diachronisch markierte scriptae diskurstraditionell bestimmte Nischen bzw. besondere Entfaltungsräume sichern. So war im Altgriechischen zunächst die archaische, homerische (im wesentlichen ionisch geprägte) Dichtersprache auf Epik und HexameterDichtung, der äolische Dialekt auf monodische Lyrik und der dorische auf chorische Dichtung spezialisiert (vgl. Hiersche 1970, 77 f). In Schweden konkurrierten im 13./14. Jahrhundert eine altertümlichere (G esetzessammlungen), eine progressivere (Ritterdichtungen, Eriks-Chronik) und eine teilweise noch nordisch geprägte, dann zunehmend latinisierende Sprachform (religiöse Übersetzungsprosa) (vgl. Wessén 1968, 100—103). Auf dem Weg von der scripta zur vollausgebildeten (und ausgebauten: vgl. 2.1.; 3.2.) Schriftsprache ist mit einer Fülle von Komplikationen zu rechnen. Ein bemerkenswerter Fall diatopischer Diskontinuität liegt im Deutschen vor, wo, abgesehen von der anfänglichen Polyzentrik in althochdeutscher Zeit (vgl. 4.2.1.), die weiteren Etappen der Schriftsprachentwicklung unterschiedlich zentriert sind: eher ober- und mitteldeutsch im Mittelhochdeutschen (vgl. Rautenberg 1985), eher ostmitteldeutsch im Neuhochdeutschen (vgl. Eggers 1985). Bestimmte Sprachformen bleiben auf halbem Wege zur Selbständigkeit stehen, wobei es Unterschiede gibt im ‘Selbstbewußtsein’ der Sprechergemeinschaft sowie im ‘Abstand’ (vgl. 4.3.1.) zur nächstverwandten Schriftsprache, die als ‘Überdachungskonkurrentin’ auftreten kann, aber nicht muß (vgl. G alegisch — Portugiesisch/Spanisch; Sardisch — Italienisch; Letzeburgisch — Hochdeutsch). Bestimmte Sprachformen sinken aus der schon mehr oder weniger erreichten Schriftsprachlichkeit

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in den Nähebereich (und in die Dialektliteratur) zurück, z. B. Niederdeutsch, das noch bis ca. 1500 einen dem Niederländischen vergleichbaren Status hatte (vgl. Peters 1985; Sodmann 1985). In einzelnen Fällen erleben wir nach dem Absterben der schriftsprachlichen Tradition einen späteren Neuansatz (vgl. Haarmann 1975, 202—204, 320; 1988, 42 f), so etwa beim Weißrussischen eine erste Phase im 15.—18. Jahrhundert und dann eine ganz neue Schriftsprache auf der Basis nähesprachlicher Varietäten ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Einzig in seiner Art dürfte der Fall des in der Antike im Nähe- wie im Distanzbereich voll entwickelten Hebräisch sein, das schon ab dem 3. Jahrhundert n. Chr. im Nähebereich ausgestorben war (dafür dann Arabisch, Romanisch, v. a. Judenspanisch, Jiddisch usw.). Allein das Hebräische als Schriftsprache stellt die Kontinuität zum modernen Hebräisch des 20. Jahrhunderts her, das als gesprochene Sprache nach 1880 in Rußland und Polen und dann vor allem bei den jüdischen Siedlern in Palästina auf der G rundlage eben dieser Schriftsprache wiederbelebt wurde (vgl. Rabin 1988, 49—52). 4.3. Verschriftlichung, Varietätenraum und Standardisierung 4.3.1. Konstitution des Varietätenraums Die in 4.2. angedeuteten historischen Prozesse der Verschriftlichung haben nun massive Rückwirkungen auf den Varietätenraum, wie er in 4.1. zunächst in sprachtheoretischer Perspektive charakterisiert wurde. Streng genommen ist sogar davon auszugehen, daß sich der einer historischen Einzelsprache entsprechende Varietätenraum überhaupt erst durch Zentrierung auf bestimmte distanzsprachliche Varietäten hin konstituiert (vgl. Muljačić 1989). Man darf sich nicht der Illusion hingeben, daß das Kriterium der Interkomprehension oder überhaupt des Abstandes, d. h. der rein sprachlichen Ähnlichkeit zwischen Idiomen (vgl. Kloss 1978, 24 ff, 63 ff), die G renzen zwischen den historischen Einzelsprachen bereits vorzeichnete (man denke nur an die extremen Unterschiede zwischen Dialekten des Chinesischen und andererseits an die Interkomprehensibilität zwischen den skandinavischen Sprachen). Vielmehr ist es allein die — letztlich kontingente — Überdachung durch eine Schriftsprache, die etwa festlegt, daß einerseits zwei so verschiedene Sprachformen wie das Holsteiner Platt und das Hochalemannische gleichermaßen deut-

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

sche Dialekte, andererseits aber zwei so ähnliche Sprachformen wie das leonés und das nordportugiesische transmontano Dialekte zweier verschiedener Einzelsprachen (Spanisch und Portugiesisch) sind. Der ‘Sog’, den die Überdachung durch eine Schriftsprache auch auf nur mäßig mit ihr verwandte nähesprachliche Idiome ausübt, wird deutlich an dem Phänomen, das Kloss als ‘Scheindialektisierung’ bezeichnet (1978, 67—70; vgl. auch Muljačić 1985, 47, 52—55; Haarmann 1988, 21): in den Nähebereich zurückgefallene Idiome wie Ostfriesisch, Kaschubisch oder okzitanische parlers werden von den Sprechern durchaus wie diatopische Varietäten der sie überdachenden Standardsprache (Deutsch, Polnisch, Französisch) empfunden. 4.3.2. Standardisierung: Selektion Die Herausbildung einer Schriftsprache beinhaltet einen Prozeß der Standardisierung (dazu etwa Joseph 1987; Beiträge in Scaglione 1984). Es erfolgt in jedem Fall eine Selektion aus der G esamtheit der Sprachmittel, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der sich konstituierenden Sprachgemeinschaft vorhanden sind (hinzu kommt häufig die Kodifizierung: vgl. 4.3.3.). Bei der Selektion werden zusätzlich zu den diatopischen Festlegungen (vgl. 4.2.1.) auch Abwahlen getroffen, die den sozialen und situativ-kommunikativen Anforderungen der Distanzsprache Rechnung tragen (vgl. 4.1.1.): dadurch erhalten a l l e Sprachmittel überhaupt erst ihren Stellenwert im Varietätenraum, nämlich ihre Position auf den diatopischen, diastratischen und diaphasischen Skalen im Sinne von Abb. 44.2. Die Faktoren, die derartige Selektionsprozesse in unterschiedlicher gegenseitiger G ewichtung auslösen und steuern, sind durchweg außersprachlicher Natur: politischer Machtzuwachs, ethnische Selbstbehauptung, Zentralismus, ökonomische Stärke, kulturelle Strahlkraft, religiöses Engagement, Einfluß gesellschaftlicher G ruppen und Schichten usw.: vgl. bei der Konsolidierung des Frühneuhochdeutschen die Rolle der Reformation (vgl. Bach 1985; Eggers 1985); beim Französischen die diatopische Zentrierung auf die Hauptstadt Paris ab dem 13. Jahrhundert und die endgültig sehr hohe diastratische Festlegung des bon usage im Absolutismus des 17. Jahrhunderts (vgl. Settekorn 1988, 46—64; Winkelmann 1990, 336—342). Das sprachinterne Kriterium, nach dem als Schriftsprache diatopische Kompromißvarietäten bevorzugt werden, ist daher nirgendwo zwingend

44.  Schriftlichkeit und Sprache

(vgl. den Aufstieg diatopisch randständiger Varietäten wie des Londoner Dialekts bzw. des Kastilischen zur jeweiligen Standardsprache auf G rund politischer Faktoren: Königshof bzw. Reconquista; dazu Joseph 1984, 89). Die sprachexternen Faktoren sind natürlich auch für das unterschiedliche Tempo und die divergierenden Prinzipien von Selektionsprozessen verantwortlich zu machen (im Rahmen der europäischen Schriftsprachentwicklungen vergleichsweise mühsam und langwierig etwa die genaue Festlegung der italienischen Schriftsprache im Verlauf der sog. Questione della lingua (vgl. Vitale 1984; Muljačić 1988), noch krasser der Fall des Litauischen (vgl. Haarmann 1975, 345 f)). Dadurch daß Selektionsprozesse der geschilderten Art bestimmte Sprachmittel favorisieren, beinhalten sie immer auch ein Moment der Bewertung, das für die Herausbildung der präskriptiven Norm als Norm des Distanzbereichs entscheidend ist. Eine solche präskriptive Norm pendelt sich häufig schon dort ein, wo bestimmte Diskurstraditionen der Distanz (Urkunden, G esetzestexte, Literatur, öffentliche Rede usw.; vgl. 3.) auf einzelsprachlicher Ebene Modellcharakter entwickeln (Kanonbildung, imitatio usw.). Solche Konstantisierungsprozesse ohne institutionelle Eingriffe und metasprachliche Aktivitäten beobachten wir etwa bei der Herausbildung des klassischen Lateins als Norm der lateinischen Distanzsprache ab ca. 100 v. Chr. (vgl. die — meist impliziten — Hinweise dazu in Palmer 1961, 95—147). Man muß übrigens davon ausgehen, daß auch dort, wo es keine Schrift gibt, mit normativen Verfestigungen in Varietäten der elaborierten Mündlichkeit (vgl. 1.2.) zu rechnen ist (vgl. Ong 1982, 23, 47; Zumthor 1983, 137 ff; Akinnaso 1985, 339 f). 4.3.3. Standardisierung: Kodifizierung In schriftlichen G esellschaften gehört zur Standardisierung neben der Selektion vielfach auch die Kodifizierung der Selektionsergebnisse (zum Sonderfall metasprachlicher Richtlinien in einer noch mündlichen Kultur in Indien vgl. Falk 1990, bes. 116—118). An dieser Stelle setzen, teilweise sogar im Rahmen von Institutionen, Akademien, Sprachgesellschaften usw., die metasprachlichen Aktivitäten der normativen G rammatikographie und Lexikographie sowie der Orthoepie ein. Bei den europäischen Schriftsprachen hat hier die technische Innovation des Buchdrucks in starkem Maße als Katalysator gewirkt, da die

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neuen Vervielfältigungs- und Verbreitungsmöglichkeiten einen ökonomisch motivierten Standardisierungsbedarf schufen (vgl. G iesecke 1991). Es ist unbestreitbar, daß erst die Kodifizierung die zu Beginn von 2. und in 4.1. beschriebenen universalen Anforderungen an die Distanzsprache (maximaler Kommunikationsradius, Stabilität, Prestige usw.) optimal zu erfüllen erlaubt. Insofern ist es nicht zufällig, daß Modelle der Sprachplanung die Aspekte ‘Selektion’ und ‘Kodifizierung’, neben dem Ausbau (vgl. 2.2.), in den Vordergrund stellen (vgl. Haugen 1983; Beiträge in Fodor & Hagège 1983—1990). Andererseits liegt in der Standardisierung, insbesondere aber der Kodifizierung auch eine beträchtliche G efahr (→ Art. 56, 59). Die an sich positiv zu bewertende Stabilität von Schriftsprachen schlägt häufig in Konservatismus, ja Purismus um. Es kommt dann zu einer Erstarrung im Distanzbereich; Raum für ungehemmte Innovation bleibt nur noch im Nähebereich. Die Haltung der Selektionsund Kodifizierungsinstanzen in den einzelnen Sprachgemeinschaften kann in dieser Hinsicht jedoch sehr unterschiedlich sein. Unter diatopischem Aspekt (4 in Abb. 44.2) ist die Kodifizierung in den einzelnen Sprachen unterschiedlich rigoros (vgl. zu Ausgrenzung vs. Toleranz und Homogenität vs. Polyzentrik oben 4.1.). Auch was die Durchlässigkeit der präskriptiven Norm für diastratisch und diaphasisch niedrige sowie ‘gesprochene’ Elemente betrifft (Ebenen 1b, 2 und 3 in Abb. 44.2), so reicht das Spektrum der Möglichkeiten etwa vom liberalen Spanisch (vgl. Butt & Benjamin 1988, VI—VIII) über das immerhin noch flexible Deutsch bis zum nach wie vor rigoros kodifizierten Französisch (vgl. Settekorn 1988, 99—134; Winkelmann 1990, 346—352). Wo die präskriptive Norm eine jahrhundertelange Immobilität aufweist, führt die wachsende Diskrepanz zwischen Distanz- und Nähebereich früher oder später unweigerlich zu einer Diglossiesituation (vgl. 4.1.). Dies ist z. B. im romanisch-lateinischen Mittelalter zu beobachten, wo das Schriftlatein schließlich als mehr oder weniger erstarrte H-Varietät von den romanischen Volkssprachen als LVarietäten absticht (vgl. Pulgram 1950; Koch & Oesterreicher 1990, 129 f). Bekannt ist in der heutigen Zeit der Extremfall der arabischen Sprachgemeinschaft, in der das Arabische des Korans sich seit dem 7. Jahrhundert starr kodifiziert erhalten hat

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

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und insofern seit Jahrhunderten als H-Varietät zahllosen diatopisch extrem differenzierten L-Varietäten zwischen Marokko und dem Irak gegenübersteht (vgl. Comrie et al. 1987, 666 f, 674—677; → Art. 123, 131). 4.3.4. Reorganisation des Nähebereichs Man muß sich klarmachen, daß in all jenen Sprachgemeinschaften, in denen eine Schriftsprache stark abweichende diatopische Varietäten überdacht, zunächst eine diglossische Situation mit Schriftsprache = H und Dialekten = L entsteht. Dies muß etwa für die Sprachsituation in den niederdeutschen, mitteldeutschen und alemannisch-bairischen Teilen des deutschen Sprachgebiets ab dem 17. Jahrhundert angesetzt werden; ähnlich in Italien ab dem 16. Jahrhundert außer in den sprachlich der toskanisch basierten Schriftsprache näherstehenden G ebieten Mittelitaliens. Von Diglossie kann man in solchen Fällen allerdings nur so lange sprechen, wie die strikte Funktionstrennung zwischen Schriftsprache = H und Dialekten = L aufrecht erhalten bleibt, d. h. solange der Dialekt den Nähebereich vö l l i g beherrscht. In vielen Sprachgemeinschaften — übrigens auch in solchen ohne diglossische Ausgangssituation — läßt sich nun aber folgender Prozeß beobachten (vgl. Koch & Oesterreicher 1990, 138—141, 172—176, 206—208): bedingt durch sprachexterne Faktoren wie politische Einigung, Industrialisierung und Migration, Alphabetisierung und Massenmedien (Presse, Radio, TV), beeinflußt die Distanzsprache den Nähebereich direkt und massiv. In diesem typisch neuzeitlichen Prozeß der Reorganisation des Nähebereichs entstehen durch Assimilation von Elementen der Schriftsprache neue nähesprachliche Varietäten, die Regiolekte, die die eigentlichen Dialekte zurück- oder sogar verdrängen: Modified Standard, ‘Regionaldeutsch’, français régional, italiano regionale oder z. B. auch kyootuu-go in Japan (vgl. Comrie et al. 1987, 860). Auf der anderen Seite differenzieren sich aus der Schriftsprache diatopisch nicht markierte und diastratisch/diaphasisch niedrige Varietäten aus: z. B. ‘Volkssprache’, italiano popolare (‘unitario’), español popular usw.; ‘Umgangssprache’; français familier, colloquial E nglish, español coloquial. Teilweise entsteht sogar eine einzelsprachliche Varietät ‘gesprochen’ in dem in 4.1.1. definierten Sinne: das français parlé, aber auch italiano parlato, spoken English, ‘gesprochenes Deutsch’ usw.

Durch all diese im Nähebereich jetzt einsetzbaren neuen Varietäten wird der Funktionsbereich der Dialekte erheblich eingeschränkt. Dieser Vorgang erklärt auch das punktuell schon feststellbare völlige Absterben echter Dialekte (Kernzone Nordfrankreichs um Paris: vgl. Müller 1975, 110 f; Teile Norddeutschlands: vgl. Mattheier 1980, 166). Eine Reorganisation des Nähebereichs kann im übrigen auch dort auftreten, wo eine Schriftsprache eine ihr nicht unmittelbar verwandte Sprachform überdacht (z. B. Englisch: Irisch/Kymrisch/SchottischG älisch usw.; Französisch: Bretonisch/Elsässisch/Okzitanisch usw.; Spanisch: Baskisch/Indianersprachen in Amerika usw.). Hier entstehen in ganz analoger Weise Regiolekte auf der Basis der Schriftsprache (vgl. etwa zum Englischen in den ursprünglich keltischsprachigen G ebieten: Leisi 1974, 179 f; zum sog. francitan: Kremnitz 1991, 31; zum español andino: Pozzi-Escot 1972); diese können sogar die autochthonen Sprachformen aus nähesprachlichen Funktionen verdrängen und sie damit unter Umständen dem Sprachtod preisgeben (vgl. zum Manx-G älischen: Haarmann 1975, 418 f; nicht zu vergessen zahlreiche Indianersprachen in Nord- und Südamerika: vgl. Migliazza & Campbell 1988).

5.

Primat der Schriftlichkeit?

Nicht selten werden in der linguistischen, vor allem aber in der gesellschaftlichen Diskussion Mündlichkeit und Schriftlichkeit gegeneinander ‘ausgespielt’: einerseits pflegt die gebildete Öffentlichkeit und eine ihr zuarbeitende Sprachkritik Mündlichkeit als nachlässig, verderbt, ja primitiv abzutun. Andererseits wird in sozialromantischer Verklärung die Mündlichkeit als unverdorben, natürlich und unmittelbar gesehen, wird in einer antipuristischen Sprachnormenkritik Schriftlichkeit als repressiv abgewertet. Unabhängig von derartigen Wertungen betont man einerseits den entwicklungsgeschichtlichen Primat der Mündlichkeit; andererseits setzt man schon seit jeher ganz selbstverständlich den Vorrang der Schriftlichkeit voraus (‘Skriptismus’: vgl. Harris 1980, 6); neuerdings wird aber auch wieder der Primat der Schriftlichkeit ausdrücklich vertreten (vgl. Derrida 1967). Pauschalisierungen dieser Art halten einer sprachtheoretisch fundierten Überprüfung nicht stand. Zunächst einmal zwingt das in 1.1./2. anthropologisch begründete konzeptionelle Kontinuum zur vorbehaltlosen An-

44.  Schriftlichkeit und Sprache

erkennung der gesamten Skala zwischen Nähe und Distanz. Sodann stellt sich das Verhältnis von Schriftlichkeit zu Mündlichkeit anders dar, je nachdem, ob es um den konzeptionellen oder den medialen Aspekt geht, ob man auf universaler, diskurstraditioneller oder einzelsprachlicher Ebene diskutiert. So ist in medialer Hinsicht der Primat der Mündlichkeit unmittelbar evident. In konzeptionell-einzelsprachlicher Hinsicht ist bei den oben beschriebenen sprachgeschichtlichen Prozessen der Verschriftlichung mündlicher Sprachformen (4.2.) und der Reorganisation des Nähebereichs (4.3.4.) eine jeweils völlig gegenläufige Dynamik zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit wirksam. In konzeptionell-universaler Hinsicht schließlich ist der phylo- und ontogenetische Primat der Mündlichkeit qua kommunikativer Nähe ebenso unbestritten wie der kommunikative und soziokulturelle Primat der Schriftlichkeit qua kommunikativer Distanz.

6.

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Peter Koch, Berlini Wulf Oesterreicher, München (Deutschland)

45. Writing and Religion 1. 2. 3. 4.

1.

Oral and written language Religion and language Sacred texts References

Oral and written language

Written language is not simply spoken language written down. Writing, rather than simply reflecting oral language, is in fact a fundamentally different form of communication. The point is relevant in considering writing and religion since the role of sacred texts in a culture differs fundamentally from that of oral sacred language.

2.

Religion and language

Important to the religious life of most cultures is an awareness at some level of a relationship between language and the supernatural. For example, Jews, Christians and Muslims believe G od created the cosmos by speaking; some cultures have myths about the gods giving humankind the power of speech; most cultures maintain that revelation is through human language. Besides cases of divinities speaking directly to individuals, religions commonly hold that G od calls persons to

transmit the word in G od’s name. One concept in the ancient Near Eastern-Mediterranean world was that of a heavenly book. One version held that there was a celestial book i n which human deeds were recorded. Another held there was a book of wisdom or laws, which in some cases was given to a messenger figure, for example Moses at Sinai or Muhammed on his Ascension. Related to this is the concept of an authoritative revealed book, the word of G od as revealed to human beings. This book became the locus of authority for the individual and the society. To introduce some of the aspects of the relation of writing to religion, it is necessary to begin by describing briefly the role that language in general, especially certain sociolinguistic aspects, plays in religion. — Language varies. Speakers have more than one way to say what they want to say. This is one of the fundamental observations of sociolinguistics. A second tenet is that speakers use language for at least two purposes: to convey information, and to define the social situation they are engaged in, that is, to make statements about group loyalties, about the particular speech situation, or about the relationship to whomever is being addressed. Speakers can carry out these two functions

45.  Writing and Religion

simultaneously precisely because language varies. The selections they make among various alternatives define a social situation. Thus sociolinguists speak of social dialects which depend on factors such as social class, ethnicity, and religion. Wardhaugh (1986, 46) cites the example of Baghdad where the Christian, Jewish, and Muslim inhabitants all speak different varieties of Arabic. However, for the first two groups the variety they speak is solely within their own group, but the Muslim variety is the lingua franca among the groups. Christians and Jews, therefore, are likely to use two varieties of Arabic: their own at home, and the Muslim variety for trade and other inter-group situations. Language can also be used to establish membership in a group by the specialized use of certain forms. In certain religious traditions of Protestant Christianity, for example, frequent use of expressions such as “Thank you, Jesus” and “Praise G od,” as well as praying and preaching in highly identifiable intonation patterns would mark group membership. 2.1. Religious language Of course, it is clear that in any religious context, it is not the words themselves that are important as much as the combination of words and how they are used. An example would be from the early church, where “brother” came to mean a fellow believer and “saved” came to refer to a specific religious experience, while “blood” and “lamb” came to carry highly symbolic values. These specialized meanings persist, to the extent that one modern English translation of the Bible was bitterly criticized for substituting “death” and “suffering” for “blood” in contexts where this was clearly the meaning. Further, religious groups often develop special uses of certain genres. The forms and intonation patterns of Christian prayers are so well developed that it is not uncommon at all for believers travelling and worshiping in a language they do not know at all to be able say “Amen” at the correct moment. Michelle Rosaldo (1975, 177—203) gives examples from magical spells among the Ilongot people of the Philippines. Certain phrases, using ordinary words, are limited to spells. In addition, these words are spoken with stress patterns unique to spells. Similarly, Dale Fitzgerald (1975, 205—234) describes genres which have developed for use in certain rituals among the G a of G hana. The genres can be identified by the use of various formulae such as set

605

closing lines, as well as by rules of performance. 2.2. Rituals An important aspect of religion and language relates to ritual. Fitzgerald (1975, 206) defines a ritual event as “a human undertaking involving a complex of words and actions aimed at communication with spiritual entities or motivation of cosmic principles, whose purpose is transformative and whose manner of performance is culturally prescribed.” But not only is language used in ritual, the language itself becomes ritualized and embellished, as described in 2.1. with the development of specialized word combinations and genres. Also common are a variety of cult languages wherein archaic or borrowed forms may be used. When writing is introduced into a culture, one major effect is to stabilize the verbatim ritual words. Ong (1982, 64 ff.) cites Chafe’s work on the Seneca language (1982), and suggests that ritual language as compared with colloquial language is like writing because it has a certain permanence which colloquial language does not. An oral ritual can be presented again and again, and even if it is not verbatim, the content, style, and formulaic structure may well remain constant from performance to performance. An example is the Christian Eucharist. The exact words attributed to Jesus in establishing this ritual do not appear in the exact same way in any two places where they are cited in the New Testament. The oral traditions varied. I t took writing to stabilize the verbatim ritual words. Even in the Indian Vedas where intensive effort was devoted to verbatim memorization, it was only the creation of the written texts which allowed for some stabilization of word-for-word consistency and for the totality of hymns in a collection to persist over many generations.

3.

Sacred texts

The most significant aspect of the introduction of writing relates to the formation and use of sacred texts or scriptures. The expression “scripture” normally refers to religious texts which have been committed to writing. In the West the word “Scripture” traditionally was reserved for the Christian or Jewish Bible, but more recently “scripture” or “the scriptures” is used to refer to the sacred or religious

606

writings or books in any cultural or religious context. Westerners tend to think that these scriptures of other religions have the same significance as the Christian or Jewish scriptures do in their contexts. This is not the case. To begin with, there is a radical diversity in form and content among the scriptures of different religions or even within the same scriptural text or body of material. Thus one finds myth and legend, historical narrative, ritual books, legal codes, ecstactic or mystical poetry, apocalyptic visions, utterances of prophets and teachers, divine revelations, and hymns and prayers to a deity. It is also difficult to delimit what texts constitute scripture since there are many marginal texts which have certain spiritual qualities. For example, G raham (1987, 3) cites the “classics” (ching) and the four “books” (shu) in Chinese traditional culture, the Sanskrit epics of the Mahābhārata and the Ramayana in India, and the Nihongi and the Kojiki in Japan as books which inspire veneration and reverence and deal with the faith, morals, and values they sustain. But none is closely tied to liturgy or to more traditional religious contexts. Another problem for Westerners is that in some other religions certain scriptures are more highly regarded than others, even within the same religious tradition. In Mahayana Buddhism, an enormous number of texts are treated as sacred. But in some segments of the tradition one sūtra is given more important status than it is in other segments. — Another problem with understanding “scripture” is related to the medium. For in most traditions the texts were originally transmitted orally and only written down relatively recently. In particular in the Hindu tradition, the Vedas have been orally transmitted for three millennia, and even now that they have been committed to writing, the oral text is given primacy (→ art. 33). In other religions, too, reducing the oral traditions to writing was accepted only reluctantly. For example, Kelber (1983, 92 ff.) reports that the early church Fathers did not see the production of written texts as a process which would stabilize oral impermanence. As long as words were still in the oral medium, the speaker could control to some degree the context and the message. But once the words were written, then they could be interpreted by readers in a variety of ways, and so stability was lost. — It is important to note that a text only becomes “scripture” through an “active, subjective relationship to persons, and as part of

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

a cumulative communal tradition” (G raham 1987, 5). That is, no text, written or oral, can be seen as sacred or authoritative in isolation from a community. Similarly, it is within a community that scriptures are interpreted. The point is often made that the Jewish Bible and Christian Old Testament are identical as far as their words, but their interpretation varies. And although the Christian Bible and the Qur’ān are both called word of G od, Muslims see the Qur’ān as literally G od’s word, while Christians see much of the Bible as descriptive accounts of the early stages of their religion. Few feel bound by the laws of Leviticus, for example. So it is that a text which is seen as scripture by one group may be seen as perfectly ordinary text in another, or even taken as meaningless, nonsensical, or false. Consequently Jews would reject the Christian New Testament, Christians would reject the Qur’ān, and Muslims would reject the writings of the Buddhists and the Hindus. 3.1. Oral origins of scripture Writing is a recent phenomenon, and most sacred texts began as oral compositions. As a result, they frequently retain oral characteristics. Ong (1982, 37 ff) gives many examples from the Christian and Jewish scriptures. The oral features in the written texts range from formal features, such as the “ands” of the waw consecutive construction in much Hebrew narrative, to the use of clusters of features (when, for example, in oral literature a soldier is always a brave soldier, and the oak is always the sturdy oak, or when set expressions are used such as birds of the air or lilies of the field). Boomershine (1987, 146) has written that in the oral age, the medium was exclusively sound. For the Jews, writing was appropriated merely as a servant of oral hermeneutics until the late first century. But when in the Hellenistic world writing became the dominant communication system, oral traditions were collected and organized in manuscripts, and multiple biblical manuscripts were produced. There was a formation of a canon, cantillation was developed for the reading of manuscripts in public worship, the synagogue and congregation became the main places for public readings, and oral forms of commentary on the written manuscripts evolved. In both the Pharisaic and Christian Judaism traditions, the primary form for the experience of the written tradition was the reading aloud of manuscripts, which were read exactly as written. Thus not only did

45.  Writing and Religion

these texts retain their oral characteristics, but great importance continued to be given to the oral. Pharisaic Judaism did adopt a writing system as an integral part of biblical interpretation, but the oral law remained primary. The oral tradition which produced the Mishnah and the Talmud was organized around memorization of this oral law. Rabbinic Judaism did not develop written theological texts, and only appropriated writing in subordination to orality. 3.2. Texts and social status Writing affects the assignment of authority and power among individuals in a society, including religious authority. For one thing, almost every society which acquires writing immediately assigns great prestige to the written word. Priests and others who have access to it can control religious practice, and those who are literate use it for social and economic advantage. The Tonga people of the Zambezi River valley in Zambia provide a vivid example. As it was primarily the younger people who were educated and literate, it was they who achieved not only political power at the time of independence, but also religious power, because as literates, only they had direct access to the Christian Bible. They therefore could claim positions of authority in the church which normally would have been reserved for their elders. The entire structure of society was thereby altered. — It is well documented that in many formerly illiterate societies a primary motivation for learning to read has been to be able to read the Bible. The massive Christian missionary efforts of the nineteenth and twentieth centuries had as a major result the translation of the Bible in hundreds of previously unwritten languages, and consequent literacy programs. But it is not always clear that people want to read and write in their own languages since often the vernacular has a lower status than one of the European languages or a major lingua franca. The term “diglossia” is used by the sociolinguist Charles Ferguson (1959) and others to describe societies where two distinct varieties of language exist, one of which is used only on formal and public occasions while the other is used by everybody under normal everyday circumstances (→ art. 60). For example, in most Arabic speaking communities, the language used at home is a local version of Arabic, but the language used for lecturing or preaching and praying in the mosque is a standard form that is sufficiently different from the vernaculars to be taught in

607

schools almost as a foreign language. He called the two varieties “high dialect” (or H) and “low dialect” (or L). Joshua Fishman (1967) expanded these terms to refer to cases where two different languages served the H and L functions, as for example in Paraguay where G uarani is the L and Spanish is the H. This is significant for religion in cases where literacy is seen as a high status event, but the high status language form, whether a variety of the L language or a different language, is one that must be learned in school. Religious authority is then achieved through learning to read this high language form, not through the traditional channels of the society. I t also means that converts to Islam or Christianity must learn a new language form to be properly initiated into the mysteries of the religion, all because of the introduction of writing. 3.3. Assimilation of texts In purely oral societies, traditions are learned and passed on through oral means. Specialist priests, singers or historians memorize and repeat the traditions in oral performances. Many devices aid this memorization, such as the use of formulas and set phrases, and repetition or parallelism. But as writing penetrates a society, the mnemonic systems for preserving these traditions give way to physical texts that can be referred to independently of individual human transmitters. The qualitative differences of written from oral texts are especially evident in the treatment of ideas, which are subject to different kinds and levels of analysis once they have been reduced to fixed words on a page. Ong (1982, 8) points out that literacy makes the study of texts possible, and with it, the “abstractly sequential, classificatory, explanatory examination of phenomena or of stated truths that is impossible without writing and reading.” This means that writing changes not only the amounts and kinds of information and ideas a culture collects and generates, but its fundamental modes of assimilating and using them as well. Furthermore, when a cultural tradition is transmitted orally, the texts can be transformed to make them relevant to a particular situation. But literate societies have permanently recorded versions of the past and its beliefs. 3.4. Authority of texts With the exception of classical G reece and India, the writing down of texts imbues them with authority, even veneration. Somehow the

608

written word seems to bespeak authority and reliability. Perhaps it is its anonymity and independence of particular persons which gives it this aura. Certainly the very permanence and fixity of the written page lends credence to the idea that the sacred word has always existed and always will exist. For the believers, the written sacred text becomes solid and immutable. — It is interesting to observe the process by which authority is perpetuated and expanded. Revelation is always the Word of G od in human language. That is, G od does not speak or write as humans do, but calls on persons to transmit the word in G od’s name. In every religious society based on an inaugural event, the text is the only means of becoming contemporary with the initial event, which in turn recalls for believers the transcendent mystery of G od. The original text gradually gives birth to a collection of rereadings, glosses, commentaries, and normative texts. But those in authority always hark back to the founder’s message. Doing so exercises a function of legitimation and reproduction for the faith group in its exchanges with other symbolic systems and other systems of social organization. Thus for Christianity, in the beginning, the rule of faith was the preaching by the early witnesses of how Christ came as messenger of G od. Later, regulation was imposed through the ministry of the college of Bishops and through the regulatory pronouncement of theologians. In the case of Islam, a small community grew up which sought to apply the Qur’ānic precepts with reference to the prophetic teachings which explained them. But with the rapid expansion of the religion, there developed quickly the need within the community for a particular social class competent in exegesis, jurisprudence, and the transmission of hadith (the tradition other than the Qur’ān). Thus the ecclesiastical authorities of the Roman Catholic Church or the ’Ulama of Islam came to possess the virtual power of defining orthodoxy. In Protestantism the interpreters do not have such a recognized authority, but even they can fulfill their function only in the framework of a socio-historic context. 3.4.1. Textual interpretation A community attempts different kinds of reading of their scripture. One could be called archaeological, whereby exegesis attempts to indicate the original meaning, the absolutely normative meaning. A second type of reading

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

attempts to resolve the finality of the text by decoding its historical effects. It is this which allows the message to convert persons to the faith. The third type of meaning has more of an eschatological thrust. Instead of perpetuating the meaning, this type of exegesis assumes the task of discerning a totally innovative meaning of the text, normally seen to be revelatory, which is actively revealing the society to itself under the liberating shock of the message. — One result of this is that the believers look back to certain sources of their faith even though those sources may not have much in common with the currently understood meaning. For example, the Christian New Testament quotes extensively from the G reek translation of the Hebrew Old Testament, the Septuagint, but in many cases gives those texts an interpretation so radically different from what they had in their original context that knowledge of the Septuagint does not help interpret a quoted passage in the New Testament. 3.4.2. Indian and Zoroastrian texts Not all written texts acquire authority. For example, until the coming of Islam stimulated the writing down of the Avesta as a book, the most sacred Zoroastrian texts, those in Old Persian, were transmitted and used only orally, in recitation, whereas the less sacred commentaries (Zand) and other religious books in Pahlavi had long been written. But it is Hinduism which offers the most striking example of a highly developed scriptural tradition in which the importance of the oral word has been so central as to dominate and largely even to exclude the written word altogether over most of its long history. Instead of being primarily a written document containing or conveying sacredness, the Hindu scripture is somehow an embodiment of sacredness itself. The Vedas are neither human accounts nor tools of communication. They are not seen to be “inspired,” having a deity as their author. Nor could the term “holy” be applied since they do not express the word of G od. They are apauruseya — authorless. The Vedas themselves declare they are Nitya Vac — “the eternal word,” eternal not because no author has written them nor because no mind has thought them, but eternal because they are what is truly alive. Their value, then, is experienced only through hearing them. The numerous Vedic texts that have come down to the present in apparently highly accurate transmission date from per-

45.  Writing and Religion

haps as early as the end of the second millennium B. C., possibly earlier. To Hindus, they had been viewed as too holy to be committed to writing at all until very recently. In fact, it was only Max Müller’s six volumes of the Rig Veda in the nineteenth century which permitted the text to be considered a book in any way. Thus the Veda text is explicitly not a written text, but an oral one. The written texts which a student might have are meaningless without the accompanying authoritative, oral transmission from a qualified teacher. The living words are only valid when pronounced by those who have been given authority from a valid teacher to use them. Both their authoritative and functional form is that of the orally recited word. 3.4.3. Islamic, Jewish and Christian scriptures The situation in the Islamic tradition is quite different. It is probably fair to say that the importance of the Qur’ān in Muslim faith and practice is especially closely related to, and in significant part derived from, the emphasis on holy writ in Islam’s older sibling traditions of Judaism and Christianity. It is clear that Islam is not just one of the three major “book religions,” but in many ways the most radical of the three in terms of the exalted place that it assigns to its book, both ritually and theologically. — A major point of view of the Qur’ān is that throughout history G od has sent to nation after nation either a prophet or apostle to lead people to a correct understanding, and the apostles in particular are mentioned as genuinely having been given a divine revelation in the form of a book of scripture which is to be proclaimed to the people. These include the Torah given to Moses, the psalms given to David, and the G ospel sent to Jesus, as well as the Qur’ān revealed to Muhammed. The view is that in the earlier cases the community strayed eventually from the right path and allowed its scripture to be either lost, changed or debased. Consequently, the Qur’ān is a final divine revelation, the last in the scriptural series, the culmination and completion of the revelation of G od. The Qur’ān is the Kitab “writing” given by G od to humankind. This view is distinct from that of the Christian or Jewish tradition where the generic idea of scripture developed relatively late in the history of the religion. For Islam it is part and parcel of the history of prophecy and revelation from the beginning. Because the Qur’ān

609

in Arabic is G od’s direct discourse, in Islam there has been a consistent rejection of the notion of translation into other languages. This contrasts with Judaism where although there has been a tenacious insistence upon the study and use of the Hebrew language, the pragmatic need for the congregations who do not know Hebrew to understand the content of the Torah led first to the translation into G reek, the Septuagint, and the further development of the post-exilic targums, which are Aramaic paraphrases of the Torah. Christianity for its part translated the sacred texts into the vernacular languages from the very beginning, believing that the word of G od was compatible with the speech of everyday life in any culture. — Another contrast is in the attention lavished upon the physical text of the scriptural word. In all three traditions, calligraphic art developed, but “only in Islam has the calligraphic scriptural word become not merely the major expression of religious art, but the dominant visible motif in the art of the entire surrounding culture” (G raham 1987, 86). — An important contrast relates to the understanding of canon. The notion of a canon of scriptures collected over a period of time as G od dealt with his people in different ways is peculiar to Jews and Christians, for Muslims see revelation as having been sent in one final culminating time in the course of one prophetic career. Thus they do not understand a process of gradual communal canonization as do the Jews and Christians. — Jews, Christians and Muslims all believe that scripture contains the word of G od, but there are differences. For Muslims the Qur’ān is seen as the verbatim speech of G od given once and for all through a single chosen prophet. The very word Qur’ān is a verbal noun derived from the Arabic root Q-R-’, the basic sense of which is “to recite, read aloud.” The Qur’ān is the recitation G od gave to Muhammed. As followers recite it, they are reminded constantly of G od’s presence. — For Jews, the prime medium of encounter between G od and humans is the Torah, but as G raham (1987, 87) points out, “Torah not understood simply as scriptural text but as divine will, cosmic order, and human responsibility, to which the scriptural Torah is the guide.” For Christians, the encounter comes first and foremost through the person and life of Christ (which are accessible, but not exclusively so, in scripture). In Islam, on the other hand, it is in the concrete text, the very words of the Qur’ān, that Muslims

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

610

most directly experience G od. Scripture for Muslims is itself the divine presence as well as the mediator of divine will and divine grace. In the Qur’ān, G od speaks with his own voice, not through inspired human writers. Thus it is not an exaggeration to compare Qur’ān recitation with the Christian Eucharist, nor to say that the closest equivalent to the Qur’ān for the Christian is not the Bible but the person Jesus Christ, who is the word of God incarnate in the Christian tradition. It is clear that one of the primary results of introducing writing in a religion has to do with the assignment of authority. Either the written word itself becomes authoritative, or its existence sets the stage for authority to be assigned to those who have access to it and interpret it for the community.

4.

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Überblick Objektivierung und Vergegenständlichung Gesetzespositivismus Rechtsvereinheitlichung Funktionen der Urkunden- und Schriftform Publizitätsfunktion Gestaltungsfunktionen des Privatrechts Rechtswissenschaft Rechtsprechung Rechtsbewußtsein Literatur

1.

Überblick

Die Schriftform prägt das Recht in grundlegender und vielgestaltiger Weise. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir diese Prägungen leben, stand der Aufarbeitung des Phänomens auch in der Rechtswissenschaft lange entgegen. Die Rechtstheorie hat es ignoriert. Die Rechtsgeschichte hat die Rechtsgewohnheiten (custom, coutume) des Mittelalters mit Mo-

dellen des Schriftrechts erklären wollen. Weite Teile der Bedeutung der Verschriftlichung von Recht können wir uns nur schwer anschaulich machen (vgl. Knoop 1983, 162). Am ehesten gelingt der Versuch, indem wir uns die Konsequenzen eines gänzlich schriftlos gelebten Rechts erarbeiten. G rundsätzlich leistet die Schrift die Verstetigung und Bewahrung von Regeln und Absprachen durch deren Vergegenständlichung (2). Indem das Recht als Text von der es tragenden Rechtsgemeinschaft ablösbar und der nur noch von Technik und Organisation abhängigen massenhaften Verbreitung zugänglich wird, dient es zunächst einmal der Darstellung und Umgestaltung, der Vereinheitlichung und Intensivierung von Herrschaft: Schriftlichkeit ermöglicht G esetzgebung (3) und Rechtsvereinheitlichung (4). Die Schriftform führt verbesserte Beweis- und Publizitätsfunktionen herauf (5, 6). Sie erweitert das G estaltungspotential auch in außerherrschaftlichen Lebensbereichen (7). Ohne

46.  Schriftlichkeit und Recht

die Schrift als einem Außenspeicher für G edächtnisinhalte (Klein 1985, 10, 33) gibt es keine Wissenschaft vom Recht (8). G esetztes, wissenschaftlich vermitteltes und bearbeitetes Recht führt zu spezifischen Formen der Rechtsprechung (9). Schließlich bestimmt Schriftlichkeit das allgemeine Rechtsbewußtsein (10). Die nachfolgend erörterten Ausprägungen der Schriftlichkeit im Recht sind weder abschließend gemeint, noch können sie in der ganzen Vielfalt ihrer Wechselbezüglichkeit und ihrer Verschränkungen mit anderen Kulturelementen erfaßt und dargestellt werden. Zudem bleiben sie — was ohne Abstriche klargestellt sein soll — trotz aller erstrebten Aneignung weltumspannend angelegter anthropologisch-linguistischer Erkenntnisse über Verschriftlichung dem Erfahrungshorizont des kontinentaleuropäischen Rechts und seiner Geschichte verhaftet.

2.

Objektivierung und Vergegenständlichung

Als G edankeninhalt bedarf das Recht der Objektivierung in einem Medium. Als solches kommen in Betracht: das ritualisierte oder schlicht einvernehmlich-konsensuale Handeln (Levy-Bruhl 1963, 325; Weitzel 1985, 42 f), das Wort und die Schrift. Das gesprochene Wort ist flüchtig, an den Sprechenden und die Situation gebunden. Zur Objektivierung des „nur in den Köpfen der Mitglieder der G emeinschaft“ (Klein 1985, 30) lebenden Rechts bedarf es deshalb des wiederholten, meist formalisierten Rechtsgesprächs, typischerweise der Sühne- oder G erichtsverhandlung. Die Notwendigkeit zur Objektivierung des Rechts im Wort erwächst dabei grundsätzlich erst aus dem Rechtskonflikt und der Unklarheit über das Recht. Außerhalb dieser punktuell bleibenden Objektivierungen ist das schriftlose Recht oft noch in der Selbstverständlichkeit des G emeinschaftsbewußtseins verborgen. Es unterliegt mehrheitlich unbewußtem Wandel, selten bewußter Änderung. Die Schrift hält eine rechtliche Aussage auf Dauer fest und fixiert den Aussagewert stärker als das gesprochene Wort es tut. Die Aussage wird nicht aus dem sich ständig aktualisierenden kollektiven G edächtnis der schriftlosen G esellschaft ausgeschieden. Es bleibt auch das Unzeitgemäße gegenwärtig. Die Schrift ermöglicht so einen von den Realien abgelösten Sinngehalt von Recht. Die Bewah-

611

rung des Sinngehaltes einer Aussage ist allerdings auch im Schriftrecht ein großes Problem. Die Objektivierung von Recht in der Schrift bedeutet nicht, daß den Produkten der Verschriftlichung notwendigerweise G esetzescharakter zukommen müsse. Zu unterscheiden sind vielmehr Rechtsaufzeichnung und G esetzesrecht nach ihrem G eltungsgrund. Das G esetz gilt nicht kraft Schriftform, sondern allein kraft einer entsprechenden Willensäußerung eines irdisch-gegenwärtigen G esetzgebers. Dessen Wille bringt es als Norm ebenso zur Entstehung wie zum Erlöschen. Es entzieht sich allen außerhalb dieses Willens liegenden Legitimationen. Dieser G esetzespositivismus führt eine besondere Qualität des Schriftrechts herauf. Das nur aufgezeichnete Recht hingegen bleibt seinen schriftlosen Anfängen zumindest teilweise verhaftet. Die Rechtsaufzeichnungen werden in unterschiedlicher Weise partiell autoritativ angereichert. Und zwar ist gerade die Schriftform des ehedem schriftlosen Rechts der Rezeptor, von dem her die Autorität längst verblichener G esetzgeber oder die zunächst außerrechtliche Ordnungs- und Befehlsgewalt gegenwärtiger Herren die Rechtsgewohnheiten in einem langwierigen und langandauernden Prozeß durchdringt und letztendlich zum G esetzesrecht umgestaltet. Theoretisch kann man sich wohl ein durch das gesprochene Wort eines G ewalthabers existierendes, in diesem Sinne positives Recht schriftloser G esellschaften vorstellen. Realiter aber hat das Wort allein — jedenfalls in der nachantiken europäischen G eschichte und trotz gegenteiliger Ambitionen von Naturrecht und totalitärer Diktatur — dem Wollen von Einzelnen Rechtsgeltung nicht vindizieren können. Das Wort allein ist offenbar nur sehr schwer so zu organisieren, daß es den G eltungsanspruch des individuellen Wollens gegen die im G emeinschaftsbewußtsein religiös-sittlich und/oder traditional-konsensual begründeten Rechtsvorstellungen durchsetzen könnte. Das in der Schrift vergegenständlichte, doch nicht herrschaftlich-staatlich gesetzte Recht kennt viele Erscheinungsformen. I n der europäischen G eschichte sind die meisten von ihnen durch das Vorbild der römischen Kaisergesetzgebung beeinflußt, das nur für zwei oder drei Jahrhunderte verblaßt war. Das antike Vorbild ist eine nicht zu unterschätzende Besonderheit der zur Moderne hinführenden europäischen Entwicklung. Die frühmittelalterlichen Volksrechte (Schott 1988) sind —

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

612

von ein paar Satzungsversuchen abgesehen — ebenso Rechtsaufzeichnungen wie die Rechtsbücher des hohen Mittelalters und die seit 1454 auf königlichen Befehl hin niedergeschriebenen französischen coutumes. Im Zuge der Aufzeichnung wurde das bislang schriftlose nordfranzösische Recht bereinigt und gesichert, es wurde für gelehrte Juristen anwendbar und es konnte gelehrt traktiert werden — doch es blieb coutume. Die Autorität des Rechts verlagerte sich allmählich aus dem Wort der rechtskundigen Laien in den wissenschaftlich behandelten Text, doch blieb man sich dieses Zusammenhangs bewußt; dieses Recht unterlag nicht dem Befehl des Königs (Levy-Bruhl 1963, 326). Der um 1220 von einem rechtskundigen Laien (Schöffen) abgefaßte Sachsenspiegel galt dem 14. und 15. Jahrhundert als ein von Karl dem G roßen den Sachsen gewährtes privilegiales Sonderrecht. Dahinter steht der auch sonst im Spätmittelalter verbreitete G edanke einer unvordenklichen G esetzgebung. Kraft ihrer Schriftform gewann die Rechtsaufzeichnung Anschluß an das als G esetzesrecht geltende Corpus Iuris Civilis und dessen gelehrte Bearbeitung (Classen 1977, 349 ff). Die Berufung auf einen unvordenklichen G esetzgeber, der das ihm zugeschriebene Recht bestimmt nicht mehr ändern würde, schützte die gewohnheitsrechtliche G eltung dieser Normen: auch ein gegenwärtiger G esetzgeber konnte sie gegen eine seit Jahrhunderten anerkannte Autorität und Tradition nicht ändern. Dies galt im Prinzip auch für das Corpus Iuris Civilis selbst. Andere Rechtsaufzeichnungen entstanden durch das Sammeln, Bereinigen und Systematisieren von Rechtssprüchen. G enerell gesehen war das weltliche Recht nördlich der Alpen zwischen 1450 und 1750 ein auf der Schriftform von Rechtsaufzeichnungen beruhendes Wissenschaftsrecht. Noch das Naturrecht im sogenannten Absolutismus räumte dem Herrscher keine umfassende G esetzgebungsmacht ein. Indem die naturrechtlichen Systeme das wissenschaftlich-positiv geltende gemeine Recht ignorierten und die G eltung des Rechts philosophisch begründeten, sahen sie sich zur Unterscheidung von Inhaltsbefehl und G eltungsbefehl veranlaßt (Weitzel 1983). Die Inhalte des Rechts waren mit wenigen Ausnahmen in der Natur oder Vernunft, d. h. sittlich-moralisch oder auch empirisch-vergleichend vorgegeben. Über sie konnte der Herrscher nicht verfügen. Er konnte sie nur interpretierend gestalten (lassen), was in der Praxis eine ganze Menge bedeutete. Befehlen

aber konnte dieser G esetzgeber nur, daß die letztlich naturrechtlichen Normen in der jeweiligen societas als ius civile oder ius positivum gelten sollten, daß ihre Verletzung mit irdischen Sanktionen bedroht sei und daß die Gerichte dieses Recht anzuwenden hätten.

3.

Gesetzespositivismus

Das heutige Recht ist das Endprodukt jenes langwierigen Prozesses der Anreicherung von Schriftrecht mit autoritativen Elementen. Seine wesentlichste Erscheinungsform ist das G esetz, d. h. dieses Recht gilt auch und gerade inhaltlich kraft seiner Setzung durch einen G esetzgeber, nicht kraft Religion, Sitte, Moral, Tradition oder gesellschaftlicher Übung, die es gleichfalls stützen mögen. Es ist abstraktes, per definitionem von der Anerkennung durch die Rechtsunterworfenen unabhängiges Recht. Die Anerkennung ist ein Problem des politischen Systems, im übrigen etwas Faktisches. Das Recht ist generell und umfassend durch G esetz machbar, jederzeit änderbar und aufhebbar. All dies muß prinzipiell durch bewußte Entscheidung des G esetzgebers geschehen. Der Prototyp dieses Rechts ist die Kodifikation seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Für frühere Zeiten ist der Begriff Kodifikation meist fehl am Platze. Im Extremfall ist alles ältere, entgegenstehende wie gleichlautende (G ewohnheits-)Recht abgeschafft, werden gewohnheitsrechtliche und richterrechtliche Rechtsbildung ausdrücklich verboten. In systemtheoretischer Sicht spricht Luhmann 1988 von der Positivität als der „Selbstbestimmtheit“ des Rechts, die sich in einer sonstige Legitimationsgrundlagen ignorierenden „Entscheidungsbestimmtheit“ zeige. Das Konzept des G esetzespositivismus wirft die Frage nach dem Stellenwert der Rechtsbildung durch Rechtsprechung im gewaltenteilenden Rechtsstaat auf. Sie findet unterschiedliche Antworten, kann jedoch das G esamtbild, ebenso wie das gelegentlich noch auftretende G ewohnheitsrecht, nur am Rande verändern. Der grundlegende Wandel des Rechts durch Schriftlichkeit wird deutlich dann, wenn man den G esetzespositivismus direkt mit der G eltungsweise des nur im Wort objektivierbaren Rechts konfrontiert. Das schriftlose Recht des Mittelalters war herrschafts- und staatsfern. Es lebte überwiegend in genossenschaftlich strukturierten Personenverbänden. Der Herrscher konnte in konkreten Zusammenhängen gebieten, nicht aber abstrakt geltende Nor-

46.  Schriftlichkeit und Recht

men hervorbringen. Seine G ebotsgewalt war zudem gegenständlich beschränkt. Er konnte gebieten in militärischen und wohl auch in gewissen administrativen Angelegenheiten. Er konnte begünstigende Rechtsakte in Form von Privilegien erlassen und er konnte das von der — bei ihm versammelten — G erichtsgemeinde gefundene Urteil gebieten, d. h. seinen Vollzug anordnen und notfalls mit G ewalt durchsetzen. Das Recht selbst aber stand in der Kompetenz der jeweiligen Rechtsgemeinschaft, die es auch im Konflikt — als G erichtsgemeinde unter dem verfahrensleitenden Vorsitz eines Herrn — handhabte. Das Recht gründete im Konsens, in der jeweils konkreten (Vollrath 1981, 583) Anschauung darüber, was rechtens sei. Waren sich die Parteien einig, so bestimmte ihr Konsens, was — ihr — Recht sei. Lagen sie im Streit, so galt der im gerichtlichen Verfahren gewonnene Konsens der Rechtsgemeinde. Außerhalb des konkreten Konsenses gab es grundsätzlich keine Rechtsgeltung. Die Zwangsstruktur des Rechts war eine mittelbare, auf das Wollen der Rechtsunterworfenen angewiesene. Wer sich dem Wort der G erichtsgemeinde nicht stellte oder es nicht akzeptierte, gegen den konnte das Recht nicht positiv gestaltend, sondern „nur noch“ durch Ausschluß aus der Rechtsgemeinschaft vorgehen. — Das Urteil war sowohl konkrete Fallösung als auch punktuelle Objektivierung des Rechts. Recht und Urteil gründeten häufig in religiösen und sittlichen Wertungen sowie in Traditionen. Im Konflikt aber galt das Recht nur deshalb, weil die G erichtsgemeinde im formalisierten Verfahren eine entsprechende Überzeugung gebildet hatte. Auch Präjudizien spielten keine aus der Tradition herausragende Rolle. Man mochte sich gelegentlich früherer Urteile erinnern. Blieb der Fall gleichwohl im Streit, so mußte erneut, also jeweils konkret, das gegenwärtige Recht im Wort objektiviert werden. Mangels wissenschaftlicher Auswertung nahmen Urteile durchweg am Prozeß des kollektiven Vergessens und an der Umformung der Überlieferung teil, selbst wenn sie oder jedenfalls der Ausgang des Streites aufgezeichnet wurden. Allein die Schriftform von Entscheidungen führt also ein Präjudizienrecht nicht herauf (G oody 1986, 141 ff). Dessen Anfänge liegen im 12. und 13. Jahrhundert. — Das Recht bezog also seine Autorität aus dem konsentierten Wort je konkreter Rechtsgemeinden und Urteilergremien. Diese Laienurteiler nun haben sich der im 14. und 15. Jahrhundert verstärkt einsetzenden Ver-

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schriftlichung des Rechts durchaus nicht angeschlossen, sie haben das Schriftrecht vielmehr bewußt ignoriert, ja bekämpft (vgl. Ong 1987, 97). Erst spät waren sie bereit, ihre Sprüche schriftlich mitzuteilen. Sie haben keinerlei Anstrengungen unternommen, ihr Recht schriftlich und in verwissenschaftlichter Weise darzustellen oder zu lehren. Es waren gelehrte Juristen und außerhalb der Spruchverbände stehende Rechtskundige, die sich in interpretierender und systematisierender Weise des einheimischen Rechts konkurrierend annahmen. Es lag die Enthaltsamkeit der Schöffen nicht darin begründet, daß sie sich nicht hätten schriftkundig machen können. Man wird vielmehr von einer mentalen Distanz zur Schrift ausgehen müssen. Das Oberbayerische Landrecht von 1346 dachten sich Kaiser Ludwig der Baier und seine Söhne wohl als G esetz. Nach ihm sollte von wort ze wort, von stuk ze stuk gerichtet und bei Unklarheiten am Hof nachgefragt werden. Sobald aber die zu entscheidende Frage nicht wortwörtlich im Text geregelt war, klappten die Richter das Buch zu und befragten nach altem Stil die Urteiler. Im Buch sah man offenbar die Aufzeichnung eines durch Herrenwort festgelegten Auszuges aus dem (G ewohnheits-)Recht. Das Herrenwort konnte aber allenfalls dem exakt benannten, nicht dem nächstbenachbarten Fall gelten. Die Magdeburger Schöffen erklärten noch im 15. Jahrhundert, die Autorität des Rechts liege allein in ihrem Wort, nicht in irgendwelchen Rechtstexten (Weitzel 1991). Bei welchem G rade von Verschriftlichung der G esellschaft die mitteleuropäischen Laienurteiler von sich aus zum Schriftrecht gefunden hätten, läßt sich nicht sagen. Historisch konkret wurden die Schriftform des Rechts und der schließliche Übergang zum G esetz aus dem der Antike näherstehenden Italien rezipiert. Dort hatte man sich im 12. Jahrhundert die Denkfiguren des ius positivum und des legem ponere wieder angeeignet. In Mitteleuropa eilte trotz günstiger Allgemeinbedingungen der Rezeption — nämlich zunehmender Verschriftlichung und Kaisertradition — der G esetzesgedanke für Jahrhunderte der Wirklichkeit voraus, weil die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse, denen der Positivismus aufgesetzt werden sollte, ihn nicht trugen. Es gab allenfalls im engen Raum einiger Städte die Ansammlung politischer Macht, die die im herkömmlichen G erichtsverfahren festgelegte G ewaltenteilung, das Ständewesen sowie das am Corpus Iuris Civilis orientierte Richter- und

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

614

Wissenschaftsrecht hätte überwinden können. Erst das 18. Jahrhundert hat entsprechende Instrumente in der Hand von Landesherren hervorgebracht. Das 19. Jahrhundert wurde dann die hohe Zeit des Positivismus.

4.

Rechtsvereinheitlichung

Das heutige Recht gilt, verglichen mit dem der Vergangenheit, zumeist großräumig. In Europa stellt es sich grundsätzlich als ein innerhalb der G renzen der Nationalstaaten einheitliches Recht dar. Es ist dies das Ergebnis mehrerer Schübe der Vereinheitlichung von Recht. Eine wesentliche Voraussetzung für deren Erfolg war die Schriftform des Rechts (vgl. G oody 1986, 134 f). Mit ihrer Hilfe konnten die auf Erfahrung und mündlich vermittelter Rechtstradition beruhenden und deshalb meist kleinräumigen Recht-(Sprechung-)skreise überwunden werden.

5.

Funktionen der Urkunden- und Schriftform

Schriftliche Formen der Beweisführung sind vertrauenswürdiger, können auch leichter Räume und Zeiten überwinden als mündliche. Zeugenaussagen unterliegen Mängeln schon aus fehlerhafter Wahrnehmung. Soweit dieses Risiko bei G eschäftszeugen — im G egensatz zu Zufalls- oder Augenzeugen — eingeschränkt werden kann, ist die Leistungsfähigkeit von Zeugen doch an ihre Lebenszeit und ihr Erinnerungsvermögen gebunden. Hinzu kommt, daß das schriftliche Zeugnis leichter organisiert und verwaltet werden kann. Urkunden sind schriftliche, unter Beachtung bestimmter Formalien aufgezeichnete Erklärungen, die dazu bestimmt sind, als Zeugnis über Vorgänge rechtlicher Art zu dienen. Für das Strafrecht kann jedes Schriftstück beweiserheblich sein. In voll entwickelten Schriftkulturen werden Urkunden durch die Unterschrift des Ausstellers, durch Unterschriften weiterer am G eschäft beteiligter Personen oder gar durch Unterschrift und Siegel einer in amtlicher Weise mit der Ausstellung betrauten Person, im Privatrechtsverkehr des Notars, als authentisch ausgewiesen. G rundsätzlich aber werden im Privatrecht Rechtswirkungen schon durch mündliche Erklärungen erzeugt. Die Schrift hat also prinzipiell nur eine das Wort unterstützende Funktion. Die Urkunden- oder Schriftform von G eschäften wird folglich freiwillig beachtet oder

sie ist ausnahmsweise gesetzlich vorgeschrieben. Soweit das G esetz die Schriftform verlangt, können mit ihr mehrere Ziele verfolgt werden. Neben die Beweisfunktion der Schrift tritt ihre Warnfunktion. Der weniger spontane, gravierenden Rechtsfolgen vorbehaltene Schriftakt soll vor übereilten Festlegungen schützen. Das Erfordernis der Schriftlichkeit dient ferner dazu, umfangreiche Rechtshandlungen, an denen möglicherweise etliche Rechtssubjekte beteiligt sind, abschließend zusammenzufassen (Sammlungsfunktion), den maßgeblichen Text exakt festzustellen (Klarstellungsfunktion), ihn zu sichern, beweisfähig und gegebenenfalls publikationsfähig zu machen (Kirchhof 1987). Entwickelte Schriftkulturen kennen nicht nur die Beweisurkunde, sondern erkennen der Urkunde oder einer Registereintragung auch dispositive (konstitutive) Wirkungen zu. Sie bezeugt in diesem Fall nicht den außerhalb ihrer selbst vollzogenen Rechtsakt, sondern ihre Errichtung als solche stellt den verfügenden, die Rechtszuständigkeit ändernden Rechtsakt dar. Die dispositive Urkunde ist in Europa seit dem 13. Jahrhundert (wieder) bekannt. Im Mittelalter hat, ganz abgesehen davon, daß die Privaturkunde für Jahrhunderte verschwand, selbst die Beweisfunktion Einbußen erlitten. Die Urkunde wurde anderen zu symbolischen Handlungen benutzten G egenständen (Erdscholle, Strohhalm u. a.) gleichgeachtet. Und sicher wurden Schrift und Rechtstext gelegentlich auch zu Objekten magischer Vorstellungen (Rörig 1953; Ong 1982, 98).

6.

Publizitätsfunktion

Bestimmte Rechtsverhältnisse, insbesondere Eigentum, G rundpfandrechte, Verwaltungsund Vertretungsbefugnisse, müssen im Interesse des Rechtsverkehrs offengelegt werden. Das Recht bedarf ferner in Zweifelsfällen einer Vermutungsbasis, aufgrund deren es vornehmlich Eigentumsrechte zuordnen kann. Zu diesem Zwecke werden die verschiedensten öffentlichen Register geführt (G oody 1986, 154 ff). Solche Register kannten schon Ägypten und die römische Antike. In Mitteleuropa kann das G rundbuch inzwischen auf eine 800jährige G eschichte zurückblicken. In der hoch- und spätmittelalterlichen Stadt hat man Register und Bücher auch über Verpfändungen, Schulden, Handelsgesellschaften, den ehelichen G üterstand und anderes mehr geführt. Zwischen dem 6. und 12. Jahrhundert wurde die Publizität von G rundstücksge-

46.  Schriftlichkeit und Recht

schäften dadurch gewahrt, daß entsprechende förmliche Rechtshandlungen öffentlich, meist vor öffentlicher G erichtsversammlung vorgenommen werden mußten. Die Publikation von G esetzestexten war über viele Jahrhunderte hin ein Problem, das erst durch die volle Literalität der G esellschaft angemessen gelöst werden konnte.

7.

Gestaltungsfunktionen des Privatrechts

Die Schriftform des Rechts ermöglicht nicht nur den jeweiligen Herrschaftsträgern eine teilweise abundante normative Regelungstätigkeit. Sie eröffnet auch dem Rechtsverkehr unter Privaten die Möglichkeit, das Instrument des Vertrages in einer ohne die externalisierenden Wirkungen der Schrift undenkbaren Häufigkeit und Differenziertheit zu nutzen (vgl. G oody 1986, 147 ff). Sowohl in der massenhaften Nutzung als auch in der durch die Schrift ermöglichten Komplexität der einzelnen Vertragswerke ist ein gewaltiges soziales G estaltungspotential angelegt. Das private Schriftrecht organisiert wesentliche Lebensbelange eines jeden Individuums, das gesamte Wirtschaftleben, die gesellschaftlichen Großverbände.

8.

Rechtswissenschaft

Wissenschaftlicher Bearbeitung ist nur das Schriftrecht zugänglich. Die G egenständlichkeit der Rechtsregeln und Rechtsmeinungen, ihre „Speicherung“ außerhalb des G edächtnisses lassen das Recht in einem ganz neuen Umfang zum G egenstand der Reflexion und Kritik sowie theoretisch-systematischer Überlegungen werden (vgl. Klein 1985, 29 ff). Da jede Schicht der Reflexion über Recht wiederum schriftförmig zur Verfügung steht, wird das das Recht betreffende Wissen ständig erweitert oder doch zumindest umgeschichtet und umgestaltet. Die Konsequenzen der durch Verschriftlichung ermöglichten Rechtswissenschaft sind ebenso grundstürzend wie es die Verlagerung der Autorität des Rechts aus dem gesprochenen Wort in Texte ist. Beide Bereiche, Wissenschaft und G esetzgebung, sind zudem in ihrer Entwicklung und in ihrem jeweiligen Selbstverständnis vielfältig miteinander verbunden, wie sich z. B. an der Ausbildung der Vorstellung von der Rechtsordnung als einem geschlossenen, sich selbst tragenden und sich aus G rundnormen oder

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Rechtsinstituten selbst ergänzenden Lehrgebäude oder Normensystem unschwer plausibel machen läßt. Wissenschaftspositivismus und G esetzespositivismus sind in solchen selten vollends eingelösten, doch gerade als Simplifizierung breitenwirksamen Denkmodellen benachbarte Optionen. Rechtswissenschaft war schon in der Antike eine an Schrift gebundene Erscheinung. Restbestände eines an der Schriftform orientierten Verständnisses von Recht und von Rechtswissenschaft überlebten in Italien. Die neue Wissenschaftlichkeit des Rechts ging dann aus der Wiederentdeckung des vollständigen Corpus Iuris Civilis und der sich diesem Text in mehreren Stufen der Verständnisgewinnung, Harmonisierung und Exegese widmenden Rechtsschule von Bologna hervor. Um 1140 stellte, ebenfalls in Bologna, G ratian sein berühmtes Decretum, eine Sammlung von Regeln des Kirchenrechts, zusammen. Rechtswissenschaft ist in europäischer Tradition also von vornherein Textwissenschaft. — Es kann nachfolgend nicht darum gehen, sämtliche Konsequenzen der Verwissenschaftlichung des Rechts aufzulisten. Die wichtigsten sind die Ausbildung eines gelehrten Berufsstandes der Juristen und die damit einhergehende Rechtsferne des Durchschnittsbürgers; die Überantwortung des Rechts an einen fachkundigen, in Diensten stehenden Stab. Ferner: die Entwicklung abstrakter Rechtsfiguren und begrifflich gefaßter Zusammenhänge in allgemeinen Lehrsätzen, deren Ausbau zu einem auf Widerspruchsfreiheit angelegten Lehrgebäude (Dogmatik). Es geschah dies zuerst in etlichen den römisch-kanonischen Texten verpflichteten Rechtsschulen, die den Text zunächst als „Offenbarung“ nahmen, ihn späterhin aber auch mit der Praxis konfrontierten und so ein den realen Lebensbedingungen genügendes Wissenschaftsrecht ausbildeten. Das auf aristotelisch-thomistischer G rundlage räsonierende Naturrecht verabschiedete das Recht seinem G eltungsgrund nach von der Religion. Auch suchte es nach dem absoluten System. Das bürgerliche Zeitalter hat dann in der Ausbildung eines allgemeinen Verkehrsrechts Abstraktion und Systemdenken weiter verschärft, so daß eine Fülle konkreter Lebenserscheinungen unter höchst systemfunktionalen Allgemeinbegriffen (wie Rechtssubjekt und Rechtsgeschäft) erfaßt und „gedacht“ werden. Die Lehrgebäude setzen Außerjuristisches zunächst noch stillschweigend voraus, meinen dann aber zunehmend, alles Relevante „eingefangen“ zu haben und der Berücksich-

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

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tigung außerrechtlicher Faktoren nicht mehr zu bedürfen. Das Recht beschränkt sich nun nicht mehr darauf, das Leben zu ordnen, es verselbständigt sich ihm gegenüber und droht, es zu verfehlen. Es kommt gewissermaßen zu einer Überfunktion der externalisierenden Wirkungen der Schrift. Ausdruck der Bestimmung des juristischen Denkens allein durch allgemeine Begriffe und System ist die sog. Subsumtion des Rechtsfalles unter das G esetz, d. h. die — als Simplifikation wieder besonders breitenwirksame — Vorstellung, daß sich jeder konkrete Lebenssachverhalt den abstrakten Rechtsregeln durch rein logische Operationen unterordnen lasse und die Lösung des Falles auf diese Weise zwingend vom Regelsystem vorgezeichnet sei. In diesem Modell begegnen sich Rechtswissenschaft und Rechtsprechung. — Wo ein „Außenspeicher“ des Denkens fehlt, sind logische Schlußformen nur in praktischer Anwendung, nicht zur Lösung theoretischer Fragen ausgebildet (Klein 1985, 31 f; G oody 1986, 143 ff, 182; Vollrath 1990, 101 f). Die frühesten Schriftzeugnisse aus dem Umkreis der Laienurteiler weisen einen assoziativ-konkreten Denkstil auf. Das Rechtsdenken ist beiordnend, nicht über- und unterordnend, nicht auf die Ausbildung und Anwendung verallgemeinernder Obersätze gerichtet, sondern additiv, anschauungsgebunden zusammenstellend. Soweit das vergleichende Zuordnen spezifische Rechtsworte ausbildet, entwickeln diese keinen Eigenwert gegenüber den von ihnen beschriebenen Vorgängen. Sie treten nicht in einer das Rechtsdenken lenkenden und fortbildenden Weise zueinander in Beziehung, sondern drücken schlicht den aus unmittelbarer Anschauung eines Lebenssachverhalts gewonnenen Rechtsgehalt, einen eher summarischen Unrechtsvorwurf oder ein prozessual gerichtetes Streitprogramm aus. Die Rechtssprache ist wenig trennscharf, zeigt vielmehr einen Hang zur Anschaulichkeit und zu pleonastischen Worthäufungen (SchmidtWiegand 1986). Ansätze zur Wissenschaftlichkeit wird man den Produkten des spätmittelalterlichen Laienrechts gleichwohl nicht absprechen können. Zu dieser Zeit aber erwies sich die Schrift sofort als Träger eines bereits verwissenschaftlichten römisch-kanonischen Rechts. Da sich dieses als Kaiser- und Kirchenrecht legitimieren konnte, fehlten dem zersplitterten Stand der deutschen Rechtshonoratioren Zeit und Kraft, sich des methodisch so überlegenen Fremdrechts durch den Aufbau eines eigenen verwissen-

schaftlichten Schriftrechts zu erwehren. In England hingegen, wo das Kaiserrecht keine Legitimationsgrundlage abgab, bildete sich unter dem zentralisierenden Einfluß des Königtums ein einheimischer Juristenstand aus, der das überkommene Recht als Präjudizienrecht bewahrte und seinen Nachwuchs in zunftgebundenen Rechtsschulen, also außerhalb der Universitäten, heranzog.

9.

Rechtsprechung

Der kontinentaleuropäische Jurist versteht unter Rechtsprechung die „Anwendung“ des G esetzes auf den zu entscheidenden Einzelfall, d. h. ein Staatsfunktionär setzt einen abstrakt geltenden Befehl für einen konkreten Sachverhalt in Wirkung, nachdem er selbst festgestellt hat, der Sachverhalt passe unter die Norm. Erkenntnis und Zwang sind in einem Akt, dem Urteil, zusammengefaßt. Schulmäßig ergeht die Entscheidung nach den Regeln der Methodenlehre, vornehmlich nach Maßgabe des dem Rechtsanwender durch langjährige Ausbildung vermittelten Subsumtionsverfahrens. Die kritische Methodenlehre weist freilich zu Recht darauf hin, daß das Subsumtionsmodell die Realität des richterlichen Entscheidens nicht voll erfasse (Hartwieg & Hesse 1981; Behrends 1990, 35 ff, 69 ff). Rechtsanwendung ist partiell Rechts(fort)bildung. Das Richterrecht ist ein methodisch umstrittenes, gleichwohl erforderliches Instrument, um G esetzesrecht, vornehmlich die langlebigen Kodifikationen, den Erfordernissen des sozialen, technischen und wirtschaftlichen Fortschritts anzupassen. Schon insofern ist das G esetzesrecht von einer „hermeneutischen Textdynamik“, die der Rechtslaie eher unterschätzt (Schott 1988, 77). Die Auslegung oder Ausdeutung soll nach den Regeln anerkannter Methodenlehre erfolgen und in den Entscheidungen ausgewiesen werden, um der öffentlichen und der wissenschaftlichen Kritik zugänglich zu sein. Weicht die Richterschaft unter politischem Druck und/oder Indoktrination von diesen Regeln ab, so kann auch die Schriftform des G esetzes die Perversion ganzer Rechtsordnungen nicht verhindern (Rüthers 1968). Vor dem Hintergrund entsprechender Erfahrungen wird man dem von den Herrschenden über Jahrhunderte hin ins Feld geführten Argument mit Zurückhaltung begegnen, daß das Recht durch Verschriftlichung sicherer werde. Daß ein Übermaß an (Schrift-)Recht der Rechts-

46.  Schriftlichkeit und Recht

sicherheit nur Abbruch tut, ist heute nach langjährigen Diskussionen um die „G esetzesflut“ ein G emeinplatz. Aber auch sonst ist die Verschriftlichung eine zweischneidige Sache. Sie führt nämlich nicht nur die relativ stärkere Bindung des Richters durch den Text herbei, sondern auch jene Komplexität und herrschaftsnahe Fungibilität des Rechts herauf, die den Richter fachlich und moralisch zu überfordern drohen — mit nicht selten massenhaften Konsequenzen. Selbstverständlich sind Schriftlosigkeit und Kleinräumigkeit keine Heilmittel für heutige Probleme. Abschied aber sollte man nehmen von jener so selbstgewissen Vorstellung, daß Schriftlichkeit, positiviertes Recht und Methodenlehre den heutigen Prozeßparteien das Recht sicherer machten als Rechtsgewohnheit, G emeinschaftsgebundenheit der Urteiler und langfristige Wertekonstanz den Mitgliedern oraler G esellschaften das ihrige. — Schriftloses Recht kann nicht „angewandt“ werden. Es gilt nur im konkreten Konsens. Im Konflikt stellt das G erichtsverfahren diesen Konsens durch Einigungszwang wieder her (Weitzel 1985, 1992). Für eine Zeit, deren Rechtsregeln nicht schriftlich fixiert sind, läßt sich die Behauptung des eigenen als des richtigen und wahren Rechts nicht als Auflehnung gegen ein fortgeltendes „objektives“ Recht deuten. Erst die Schriftlichkeitserfahrung führt die Vorstellung herauf, Rechtsnormen seien zwingend heteronom und bestünden auch im Konflikt fort. In der Praxis des Mittelalters behauptet die aufbegehrende Partei, schlechthin das Recht auf ihrer Seite zu haben (Vollrath 1990). Sie kann deshalb ihr Recht auch im Wege der Fehde durchzusetzen suchen — jedenfalls dann, wenn ihr vom G egner das gerichtliche Verfahren verweigert wurde. Ein besonderer Problemkreis ist das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Prozeß. Während allgemein von einem Siegeszug der Schrift im Recht gesprochen werden kann, setzten die meisten Prozeßrechte auf die Mündlichkeit des Verfahrens oder auf Mischformen, wobei jedoch die zentralen Teile des Erkenntnisvorgangs allenfalls in Absolutismus und Polizeistaat der Schriftlichkeit überantwortet wurden. Heute dient Schriftlichkeit prinzipiell der Vorbereitung einer mündlichen Verhandlung, die gerade aufgrund guter Vorbereitung das zu beurteilende G eschehen konzentriert erfaßbar machen soll. Die mündliche Verhandlung ermöglicht die kompaktere Rekonstruktion der Tatfragen und eine zügige Erörterung verblie-

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bener Unklarheiten. Zudem korrespondieren der Mündlichkeit zwei weitere wichtige G rundsätze rechtsstaatlicher Verfahren: Öffentlichkeit und ein unmittelbarer Eindruck des Richters von Parteien, Zeugen und sonstigen Beweismitteln. Daß sich im Prozeß (wie auch in anderen Verfahren der G esetzgebung und Verwaltung) die Schriftlichkeit nicht vollends durchsetzen konnte, läßt etwas von den in reiner Schriftlichkeit angelegten G efahren für Recht und Rechtlichkeit erahnen.

10. Rechtsbewußtsein Die heutige Allgemeinvorstellung vom Recht entspricht dem Positivismus und Legalismus im Bereich der Normsetzung. Nicht nur der Jurist, auch der Rechtslaie wird auf die Frage, was denn nun „das Recht“ sei und wo man es finden könne, auf G esetzbuch und G esetzblatt verweisen. Der Bürger wird im Zweifel erklären, daß er sich mit dem statuierten Recht oft nicht identifizieren wolle, und daß die Verwirklichung des Rechts im Prozeß eine höchst unsichere Angelegenheit sei. Diese Distanz zum Recht ist heute nicht mehr auf die Rezeption von „Fremdrecht“ zurückzuführen. Prägend sind vielmehr die Verwaltung des Rechts durch Juristenstand und Bürokratie, die Weitläufigkeit und Komplexität der Materie, die nur sehr mittelbare Teilhabe am Zustandekommen von G esetzen und in Europa wohl auch die in etlichen „Reichen“ gemachte Erfahrung, daß morgen Unrecht sein kann, was heute noch Recht ist. Bei den meisten dieser dem Bürger das Recht entfremdenden Erscheinungen spielt dessen Erscheinungsform als Schriftrecht eine Rolle. Ein besonders häufig traktierter Ausschnitt aus diesem Problemkreis ist die Klage über die „Unverständlichkeit“ des Rechts, die meist und in erster Linie an der Rechtssprache festgemacht wird (Raible 1981; Herberger 1983; G roßfeld 1984). Dabei fällt auf, daß die einschlägigen Erörterungen keineswegs die gesprochene Sprache zum G egenstand haben — dieser Aspekt fällt vielmehr unter das Stichwort „Kommunikationsprobleme vor G ericht“ —, sondern von der Schrift- und G esetzessprache handeln. Es geht also um Schwierigkeiten, die nicht ausschließlich, aber doch in spezifischer Weise dem Schriftrecht eigen sind, erst von ihm her in die Kommunikation vor G ericht übergreifen und auch entwicklungsgeschichtlich gesehen in der Verschriftlichung von Recht angelegt sind. Teils ist dabei die sprachliche Fassung als solche

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

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G egenstand der Kritik, teils geht es um Verständlichkeitspostulate, die aus der Sicht des Juristen mit der Leistungsfähigkeit der Rechtssprache als einer Fachsprache kollidieren. Die Forderung nach Betroffenennähe, Anschaulichkeit und Überzeugungskraft der Rechts-, G esetzes- und Amtssprache steht dann gegen Prägnanz, Sachlichkeit und Knappheit des Ausdrucks als Erfordernissen einer Fachsprache, die einer vorwiegend mit dem Mittel der Abstraktion arbeitenden Wissenschaft und einem sich auf Imperative beschränkenden G esetzesstil dient (SchmidtWiegand 1986, 355 f; Schröder 1989, 46 ff, 56). — Dem positivierten Recht bleibt das Rechtsbewußtsein auch im Rechtskonflikt verhaftet. Auch hier rekurriert jedenfalls der Kontinentaleuropäer auf G esetz, Rechtsbuch und Kommentar. Durch Lektüre und Auslegung eines Textes hofft er, „sein Recht“ bestätigt zu finden. Schlußendlich müssen die Richter den Willen des G esetzestextes vollziehen. In einer Epoche grundsätzlicher Schriftlosigkeit ist Bezugspunkt und Bewältigungsmittel des Rechtskonfliktes nicht der interpretierbare Text eines G eltung beanspruchenden Schriftrechtes, sondern das gerichtliche Verfahren selbst, die dort im Wort offengelegte Rechtsauffassung der G erichtsgemeinde. Die allgemeine Vorstellung vom Recht und die Strategie der Konfliktbewältigung ist folglich eine ganz andere als in literaten G esellschaften. Der Blick richtet sich auf das das Recht objektivierende Verfahren und — wird das Recht, d. i. der gerichtliche Austrag verweigert — auf die Fehde. Das G ericht findet und schafft in diesem Sinne das Recht, es ist das Recht, dort, wo es sich im Streitfall zu bewähren hat. Es bezeichnet konsequenterweise das Wort recht (subst.) während des Mittelalters mit Ausläufern bis weit in das 17. Jahrhundert hinein in erster Linie nicht das objektive Recht, sondern subjektive Rechtspositionen und — worauf es hier ankommt — das G ericht und das gerichtliche Verfahren (Weitzel 1985, 1333 ff). Dem mittelalterlichen Sprachgebrauch war es völlig geläufig, daß der Richter „im Recht“ saß, und niemand war erstaunt, wenn es hieß, der Kläger reite „auf das Recht“. Daß eine Sache „rechtshängig“ sein kann, davon sind wir noch allemal überzeugt. Die G leichsetzung von Recht und G ericht ist eine G estimmtheit des Rechtsbewußtseins, der Verfahrensaspekt des schriftlosen Rechts. Heute ist er durch die Beziehung des Rechts zum G esetzestext verdrängt. Die

Ausrichtung des Rechtsbewußtseins auf das G ericht ist keine ausschließliche. So wie für uns das Recht auch noch eine schriftlose, vorund übergesetzliche Dimension hat, so kannte der mittelalterliche Mensch — vornehmlich in der Bibel — auch Bereiche des Rechts, die er mit Buch, Text und Schrift assoziierte. Die G ewichtung freilich war der heutigen genau entgegengesetzt, und es kam zur Verformung von Schriftrecht. Denn: überwiegende Mündlichkeit deutet Schriftrecht nach den für die Mündlichkeit geltenden Regeln (um). Und überwiegende Schriftlichkeit (miß-)versteht Mündlichkeit des Rechts nach den für das Schriftrecht geltenden Regeln.

11. Literatur Behrends, Okko et al. (ed.). 1990. Rechtsdogmatik und praktische Vernunft. Göttingen. Classen, Peter (ed.). 1977. Recht und Schrift im Mittelalter. Sigmaringen. G oody, Jack. 1986. La logique de l’écriture. Aux origines des sociétés humaines. Paris. G roßfeld, Bernhard. 1984. Sprache und Recht. Juristenzeitung 39, 1—6. Hartwieg, Oskar & Hesse, Hans Albrecht. 1981. Die Entscheidung im Zivilprozeß. Königstein. Herberger, Maximilian. 1983. Unverständlichkeit des Rechts. In: Recht und Sprache (Schriften der Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 199). Bonn, 19—39. Kirchhof, Paul. 1987. Die deutsche Sprache. In: Isensee & Kirchhof (ed.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 1. Heidelberg, 745—771. Klein, Wolfgang. 1985. G esprochene Sprache — geschriebene Sprache. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 59, 9—35. Knoop, Ulrich. 1983. Zum Status der Schriftlichkeit in der Sprache der Neuzeit. In: G ünther, Klaus & G ünther, Hartmut (ed.), Schrift — Schreiben — Schriftlichkeit. Arbeiten zur Struktur, Funktion und Entwicklung schriftlicher Sprache. Tübingen, 159—167. Levy-Bruhl, Henri. 1963. L’écriture et le droit. In: L’écriture et la psychologie des peuples (XXXIIe sémaine de synthèse). Paris, 325—333. Luhmann, Niklas. 1988. Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts. Rechtstheorie 19, 11—27. Ong, Walter J. 1987. Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen. [Engl. Original 1982]. Raible, Wolfgang. 1981. Rechtssprache. Von den Tugenden und Untugenden einer Fachsprache. In:

47.  Schriftlichkeit im Handel

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47.

Schriftlichkeit im Handel

1. 2.

Einleitung und Übersicht Die Bedeutung des Schreibens für den Kaufmannsstand in älterer Zeit Die Kaufmannssprache aus der Perspektive der Fachsprachenforschung Schreiben im Handel in der heutigen Zeit Literatur

3. 4. 5.

1.

Einleitung und Übersicht

Der Begriff des Handels meint entweder den gesamten G üteraustausch einer Volkswirtschaft (Handel im funktionellen Sinn) oder alle Institutionen, die Handel betreiben (vgl. G abler 1988, 2303). Aus der Perspektive von heutzutage interessierenden linguistischen Forschungsfragen, wie denjenigen nach dem faktischen Alphabetisierungsgrad der G esellschaft und nach dem Stellenwert schriftlicher Fähigkeiten im Alltag, ist von einem weiten Handelsbegriff auszugehen, der nicht nur das Schreiben der institutionellen oder professionellen Verkäufer, sondern auch dasjenige der privat schreibenden Kunden und Kundinnen zu berücksichtigen erlaubt. Dadurch kommen auch die Kommunikationszusammenhänge in den Blick, in denen die geschriebenen Texte stehen, sowie die Funktionen, die sie darin übernehmen. — Handel und Schreiben sind seit jeher verbunden. Historisch gesehen hat

619

Vollrath, Hanna. 1981. Das Mittelalter in der Typik oraler G esellschaften. Historische Zeitschrift 233, 571—594. —. 1990. Konfliktwahrnehmung und Konfliktdarstellung in erzählenden Quellen des 11. Jahrhunderts. In: Raible, Wolfgang (ed.), Erscheinungsformen kultureller Prozesse. Tübingen, 83—102. Weitzel, Jürgen. 1983. Merkantilismus und zeitgenössische Rechtswissenschaft. In: Press, V. (ed.), Merkantilismus und Städtewesen i n Mitteleuropa. Köln, 45—81. —. 1985. Dinggenossenschaft und Recht. Zum Rechtsverständnis im fränk.-deutschen Mittelalter. Köln. —. 1992. G ewohnheitsrecht und fränkisch-deutsches G erichtsverfahren. In: Dilcher, G erhard et al. (ed.), G ewohnheitsrecht im Mittelalter. Berlin, 67—86.

Jürgen Weitzel, Würzburg (Deutschland)

der Kaufmannsstand das Schreiben früh für weltliche und berufliche Zwecke eingesetzt (vgl. 2.). — Wissenschaftsgeschichtlich kann die Beschäftigung mit dem Thema ausgehen von Publikationen zur Kaufmannssprache aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich dabei um Beschreibungen von Wortschatz und Syntax, die sich normalerweise auf Texte der internen Kommunikation von Kaufleuten mit anderen Kaufleuten stützen, sich mit normativen G esichtspunkten auseinanderzusetzen haben und dabei versuchen, adäquate Beschreibungs- und Beurteilungskriterien zu entwickeln. Für den Vergleich mit der heutigen Situation „Schreiben im Handel“ sind Aspekte der Professionalisierung der Handelskorrespondenz im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts interessant. Die Charakteristika dieser Professionalisierung unterscheiden heute die geschriebenen Texte von Handelsfirmen von denjenigen privater Handelskunden (vgl. 3.1.). — Die neuere allgemeiner ausgerichtete Fachsprachenforschung geht in ihren Forderungen über die genannten Beschränkungen (auf Wortschatz und Syntax, auf interne Kommunikation und auf normative G esichtspunkte) hinaus. Fachkommunikation und fachliche Verständigung treten ins Zentrum. Für das Thema „Schriftlichkeit im Handel“ relevant sind Überlegungen zu verschiedenen Arten der Exaktheit von

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

620

Fachsprachen, zur Ablösung der Fachtexte von der Erfahrung der fachlich Handelnden und der Erfahrungstradition, Überlegungen zur Unterscheidung von interner und externer Kommunikation und zur Unterscheidung von schriftlichen Medien mit kommunikativer Funktion und solchen mit der Funktion individueller G edächtnisstützen (vgl. 3.2.). — Heute führt u. a. die zunehmende Verbreitung des Versandhandels zu vermehrter schriftlicher externer Kommunikation, Kommunikation also, die sich an Nicht-Fachleute richtet und auch von Nicht-Fachleuten ausgehen kann. Zentrale Textsorten in dieser externen Kommunikation sind Briefe und Notizen, wie sie im Rahmen des schriftlichen Einkaufs über den Versandhandel ausgetauscht werden. Zur schriftlichen Kommunikation im Handel liegen allerdings keine Arbeiten vor. Empirische Untersuchungen in diesem Bereich stellen ein Forschungsdesiderat dar. Es soll hier nur versucht werden, mögliche Richtungen solcher Untersuchungen exemplarisch mithilfe von Ergebnissen aus einem Pilotprojekt anzudeuten, dessen Ergebnisse durch (hier nicht referierte) Daten aus den Bereichen „Versicherungen“, „Fahrradwerkstatt“, „Elektroindustrieprodukte — Einkauf“ und „Einkauf und Verkauf in einer Apparateproduktionsfirma“ gestützt werden. Die Erhebungen sind in der deutschen Schweiz gemacht worden und umfassen Beobachtungsdaten an Texten und Kommunikationsvorgängen sowie Befragungsdaten aus schriftlichen und mündlichen Interviews. Zitierte Ausschnitte aus den mündlichen Interviews sind aus dem Schweizerdeutschen ins Hochdeutsche übertragen worden (vgl. 4.)

2.

Die Bedeutung des Schreibens für den Kaufmannsstand in älterer Zeit

Die Frage nach der Bedeutung des Schreibens für den Handel kann nicht generell beantwortet werden. Die Nutzung und Ausgestaltung des Schreibens ist für jeden geschichtlichen Kaufmannsstand und jeden Kulturbereich eine spezifische. — Das ist am Beispiel der Entwicklung von Handel und Verwaltung in der Merowinger- und der Karolingerzeit für die Teile des fränkischen G roßreiches gezeigt worden (vgl. Pirenne 1929, Rörig 1953, der sich in wesentlichen Punkten auf Pirenne bezieht): I n G allien, wo die römische Kultur und ihre weltliche Bildung Fuß gefasst haben und der Klerus kein Bildungsmonopol inne

hat, fordert schon „die örtliche Verwaltung mit ihrem Steuererhebungswesen, ihren Registern und sonstigem Schreibwerk ... fortgesetzt schreibkundige Laien. In der Wirtschaft waren es die seefahrenden Fernkaufleute, die ... mit Schriftlichkeit arbeiteten.“ (Rörig 1953, 30). Demgegenüber wird das Kanzleiwesen der Karolinger von geistlichen Händen geführt, und der aus der Spätantike stammende, schriftgewohnte Kaufmannsstand schwindet. Der Handel wird übernommen von nordeuropäischen Wanderhändlern, die die Schrift weder kennen noch brauchen. G enerell wird weltliches Schreiben seltener (ibd.). Erst im 12. Jahrhundert bemühen sich die Kaufmannsgilden wieder um eine Schulung, die ihren Bedürfnissen entspricht. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts beginnt die kaufmännische Oberschicht Schriftlichkeit zur Rationalisierung der Handelsbetriebe zu nutzen (39). Kaufleute verfügten über eine gute Allgemeinbildung und eine gute Berufsausbildung, „sie konnten lesen und schreiben und hatten so Zugang zu einem Netz von wichtigen mündlichen und schriftlichen Informationen.“ (Tenenti 1990, 223, vgl. 226; ähnlich auch Maas 1985, 60 f., und Maschke 1964, 332). I n dieser Zeit, in der die Kaufleute das Schriftmonopol des Klerus (wieder) brechen (Rörig sieht in der Beendigung der auf den Klerus begrenzten Schriftlichkeit auch das Ende das Mittelalters, vgl. 1953, 41), tritt der Typus Kaufmann in den Vordergrund, der am Ort in seinem Kontor arbeitet und von da aus sein G eschäft betreibt (39). In der Schreibstube entstehen als eine große G ruppe von Texten Briefe, die den kaufmännischen G eschäftsverkehr betreffen (kommunikative Funktion, vgl. Tenenti 1990, 230, Maschke 1964, 237 u. 307). Eine andere große G ruppe von frühen Handelstexten sind sogenannte „einfache Aktaufzeichnungen“ als G edächtnishilfen (mnemotechnische Funktion), die in Perioden der Entwicklung von begrenzter Schriftlichkeit zu allgemeiner Schriftlichkeit (in denen alle Mitglieder der G esellschaft an der Schriftlichkeit teilhaben) zu maßgeblichen Beweisurkunden und schließlich als schriftliche Akte konstitutiv werden z. B. für den rechtswirksamen G runderwerb der Stadt, der ohne G rundbucheintrag nicht gültig ist. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts werden Handlungsbücher und Journale angelegt mit Notierungen über Schulden aus Waren und G eldgeschäften und über deren Abtragung (vgl. Wendelstein 1952, 24). Die Buchführung hat

47.  Schriftlichkeit im Handel

allerdings noch nicht „das rechenhafte Aussehen“, „das wir von modernen Bilanzen kennen, sondern erfolgt „ungeschieden von der Registrierung familialer Probleme und Tagebuchnotizen“ (Maas 1985, 61 f). — Standardisierte Texte als Entsprechung einer Typik der G eschäftsfälle, wie sie für die heutige Handelskorrespondenz typisch sind, entwikkeln sich gemäß den Korrespondenzlehrbüchern erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. — Wenn auch Briefe das Hauptthema sowohl der älteren als auch der jüngeren Forschung sind, so darf doch nicht übersehen werden, daß es daneben andere Texte im Umkreis des Handels gibt: Die „Fachausdrücke des Verkehrs und Handels“ nennen zum Beispiel den Frachtbrief, Anlagen zum Frachtbrief, das Frachtbriefdoppel, das Havariezertifikat, den Heimatzettel, das Journal, das Kai-Receipt, Kreideanschriften an G üterwagen, den Lieferschein und viele andere mehr. Diese Texte sind durch ihre Formularstruktur nicht nur in ihrem Aufbau standardisiert, sondern auch auf Stichwörter reduziert und sind eben deshalb bisher kaum ins Bewußtsein der Forschung gedrungen, obwohl sie für die Konzeption von alltäglicher beruflicher Schriftlichkeit wichtig sind (vgl. Häcki Buhofer 1985).

3.

Die Kaufmannssprache aus der Perspektive der Fachsprachenforschung

3.1. Ältere Untersuchungen zur Kaufmannssprache und ihre aktuelle Bedeutung Die Kaufmannssprache gilt (zusammen mit der Bergmannssprache) als ein Beispiel für eine historische Fachsprache (vgl. Fluck 1985, 150). Eine breitere linguistische Beschäftigung mit den „Berufssprachen“, wie Fachsprachen oft genannt werden, setzt um 1900 ein. Wendelstein schreibt 1912, während die Studentensprache, die Soldatensprache etc. ihre Bearbeiter gefunden hätten, harre die Sprache des Kaufmanns noch der Darstellung. Soweit bisher kleinere Arbeiten erschienen seien und ihre Ergebnisse den Weg in die allgemeinen Einleitungen gefunden hätten, würden dem Kaufmannsstande „gar arge Versündigungen an der deutschen Muttersprache“ vorgehalten (1). Die Kritik nenne überflüssige Fremdwörter und hohle, nichtssagende Worte und sei sich zum Teil durchaus bewußt, daß der „Kampf gegen das sprachliche Unwesen“ im

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Kaufmannsdeutsch schon Jahrhunderte alt sei. Was die neuere Kritik betrifft, so geht sie vom Deutschen Sprachverein aus. Es ist verschiedentlich dargestellt worden, wie der 1885 von Hermann Riegel begründete Deutsche Sprachverein eine Art behördlicher Einrichtung geworden ist, die namentlich auf dem G ebiete der Handelssprache eine maßgebende Tätigkeit entfaltete. I n seinem Auftrag hat Alfred Schirmer das Verdeutschungswörterbuch „Der Handel“, das zuerst 1889 von Karl Magnus herausgegeben wurde, auf den neuen Stand nach der Jahrhundertwende gebracht. — Aus wissenschaftlicher Perspektive sieht Wendelstein 1912 die Problematik bisheriger Beurteilung darin, daß man die Kaufmannssprache als Ableger der G emeinsprache gesehen und deshalb alle Abweichungen von der allgemein üblichen Schriftsprache verurteilt hat (vgl. 2 f). Demgegenüber will Wendelstein die Kaufmannssprache als Berufssprache von ihrer Funktion und G eschichte her beschreiben und denkt dabei vor allem an die differenzierte Terminologie und die Veränderung der Wortbedeutungen durch die beruflichen Vorstellungsinhalte (vgl. 12). Die Beurteilung der Kaufmannssprache bleibt dennoch auch aus wissenschaftlicher Sicht ambivalent. Die vielgeschmähten kaufmännischen Fremdwörter und Formeln zeugen historisch und funktional betrachtet von der schriftsprachlichen Orientierung des Kaufmannsstandes an lateinischen Mustern: G eschäftliche Schreiben traten als Kanzleibriefe neben die Urkunde im engeren Sinne. Nach ihrem Muster und mit denselben Formelbüchern wurde um G eleit gebeten, Schadenersatz verlangt sowie der Kontrahent verklagt etc. (vgl. Wendelstein 1912, 18). „Korrespondenz und Buchführung (wurden) zunächst in der Schriftsprache des Mittelalters, dem Latein, geführt“, wodurch Wörter wie „quitt“, „Rente“, „Datum“, „Register“, „per“, „pro“, „Facit“, „Summa“, „Nota“, „minus“, „plus“, „Kopie“, „Termin“ eindrangen (Schirmer 1911, 31). — Die Entwicklung der Handelssprache im 19. Jahrhundert wird als ein Prozeß des kontinuierlichen Verfalls dargestellt. Erst gegen Endes des Jahrhunderts vollziehe sich eine „sowohl in der Wortwahl wie im Satzbau durchwirkende Sprachreinigung“ (Siebenschein 1936, 175). Siebenschein nennt das Sprachtempo, die Entpersönlichung des Briefstils und die Affektausschaltung als wesentliche Aspekte, unter denen sich schriftliche Handelstexte verändert haben, und illustriert die Entwicklung an Sammlungen von

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Handelsbriefstellern von 1835, 1858 und 1888. Seit 1835 werde allgemein das Sprachtempo höher und Kürze demzufolge immer wichtiger: Man enthält sich bereits Mitte des Jahrhunderts in Briefen der bloßen Vermutungen, „der gemütlich erzählenden Mitteilung über die beabsichtigte Verwendung der Ware, der selbstverständlichen Motivenschilderung der Bestellung“ und sagt nichts, „was für den Bestellungsempfänger und für seine Ausführung zu wissen nicht von Belang wäre“ (Siebenschein 1936, 151). Der Handelsbrief verliert auch „die Wärme persönlicher Lebensbeziehungen der G eschäftsfreunde“ (157). Die Entpersönlichung geht einher mit der Herausbildung der konventionellen Redeformel (vgl. 160). Als Formeln eignen sich vor allem Satzäußerungen, die für viele gleichartige Sprachhandlungen, wie Warenbestellungen oder Mahnungen gebraucht werden können, die man sich vorgedruckt vorstellen kann (183). Die Entwicklung geht also schon damals in Richtung Standardisierung — weg von situationsabhängigen Texten wie dem folgenden: „Ich bekenne mich zum Empfang Ihres Briefes vom 30. Juli und danke Ihnen für das mir gemachte Anerbieten. Obgleich ich noch einen ziemlichen Vorrat von Kokosgarn auf Lager habe, so will ich dennoch die mir offerierte Partie von 57 Ballen acceptieren, falls ...“ (Siebenschein 1936, 183)

Die zunehmende „Affektausschaltung“ zeigt sich an der Entwicklung der Mahnbriefe und der Briefe rund um das Konkursverfahren. Schon zwischen 1835 und 1858 verschwindet der Stil „überfließender Herzensgüte“ (164). Affekte werden in wenigen kurzen Floskeln abgetan (ibd.). Im Bankwesen, in dem „die Mahnung zu einem ständigen Korrespondenzfall“ wird, bilden sich Formeln heraus, die zu Standardbriefen kombiniert und aus G ründen der Zeitersparnis gedruckt werden (167). Mit der Verschickung von Rechnungsauszügen, auf denen eine Klebetikette „Unsere Bank wartet“ angebracht wird, sieht Siebenschein einen „Null- und Schwundpunkt“ des Mahnbriefes erreicht (170). — Aus der Sicht heutiger schriftlicher Kommunikation im Handel ist die skizzierte Entwicklung aus folgendem G rund interessant: Währenddem die „gemütlich erzählende Mitteilung“ auf dem Hintergrund der „persönlichen Lebensbeziehungen“ und die Verbalisierung von Emotionen aus der professionellen Handelskorrespondenz — soweit sie keinen Werbecharakter hat — verschwunden sind (vgl. z. B. G rossmann 1927, 4.3.), stellen

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

persönliche Mitteilungen und emotionale Äußerungen in vielen Fällen auffällige Charakterzüge heutiger individueller Handelsbriefe dar, mit denen sich KundInnen an eine Handelsfirma richten. Diese Merkmale sind jedoch nicht mehr Ausdruck von persönlichen Lebensbeziehungen der G eschäftsfreunde und insofern funktionslose Relikte bzw. Zeichen nicht entwickelter Professionalität. Ihre typische Verwendung ist die Kombination mit sachlichen und formelhaften Ausdrucksweisen, wie sie im Handel üblich sind, so daß die von privater Seite entstehenden Texte häufig durch diese Mischung, diese Kombination charakterisiert sind. Die „Affekte“ haben sich gewandelt: Keine „überfließende Herzensgüte“, auch kein belehrender Affektton, sondern der Ausdruck von Ärger, Empörung und Frustration steht im Zentrum und stellt oft den Anlaß des Schreibens dar. Daneben spielen aber auch Sprechakte wie Loben, Entschuldigen und Vertrösten eine Rolle (vgl. 4.3.). 3.2. Schreiben im Handel aus der Sicht neuerer fachsprachlicher Forschung Schreiben im Handel hat einen fachsprachlichen Aspekt, entspricht aber nicht dem Protoyp des fachsprachlichen Textes, wie er von der Forschung skizziert wird. Man führt für Fachsprachen üblicherweise auf, daß sie (1.) eine andere Art von Semantik hätten als natürliche Sprachen, indem sie sich an der außersprachlichen Wirklichkeit orientierten, währenddem die natürlichen Sprachen mit einzelsprachlichen Bedeutungen operierten, daß sie (2.) charakterisiert würden durch die explizite Setzung und Definition fachsprachlicher Termini und daß ihre Ausdrücke (3.) als eindeutig gälten gegenüber der Vagheit und Mehrdeutigkeit der Ausdrücke der natürlichen Sprachen (vgl. Schlieben-Lange & Kreuzer 1983, 7 f). — Die undifferenzierte Sicht von der generellen Exaktheit der Fachsprache wird heute allerdings relativiert (vgl. v. Hahn 1983, 99). Stattdessen adaptiert v. Hahn eine Unterscheidung von Pinkal 1980/ 81, die die Fachsprachenforschung, wie es generell dem Trend entspricht, auf die Verständigung hin öffnet. Exaktheit in der Fachkommunikation kann demnach gesichert sein durch kommunikative Wohlbestimmtheit der illokutiven Rolle — gleichgültig ob sie durch präzise oder vage Ausdrücke im Sinne semantischer Unbestimmtheit hergestellt wird — oder durch Situationseinbettung (vgl. v. Hahn 1983, 99 ff). Diese Relativierungen der Rede

47.  Schriftlichkeit im Handel

von der Exaktheit der Fachsprachen sind gerade auch bei schriftlichen Fachtexten zu berücksichtigen, die oft fälschlicherweise (vgl. 4.5.) nur als ex p l i z i t e Texte — ohne alltagssprachlich vage oder deiktische Elemente — gesehen werden, weil sie fachsprachlich und schriftlich sind (vgl. Häcki Buhofer 1985). So verweisen Schlieben-Lange & Kreuzer (1983, 13) bei schriftlichen Fachtexten einseitig nur auf die zunehmende Explizitheit: „Erst Schriftlichkeit macht die Ausformulierung bislang deiktischer und ostentativer Akte notwendig und ermöglicht damit eine neue Form der W i s s e n s ve r a r b e i t u n g, die sich von der Erfahrung des fachlich Handelnden abkoppeln kann.“ Daß die Schriftlichkeit neue Formen der Wissensverarbeitung ermöglicht, die sich von der Erfahrung der fachlich Handelnden ablösen, ist allerdings ein wesentlicher G esichtspunkt auch für die Abwicklung von Kaufs- und Verkaufsverhandlungen (vgl. 4.3.). Dieser Effekt der Ablösung der Wissensverarbeitung von der Erfahrung der fachlich Handelnden beruht jedoch nicht nur auf individuellen Leistungen der Ausformulierung bisher deiktischer oder ostentativer Akte (der Herstellung expliziter Texte), sondern auch auf einmalig ausgearbeiteten standardisierten Computerformularen, deren Struktur den MitarbeiterInnen bekannt ist und deren Leerstellen von Datatypistinnen (nach vorliegenden Unterlagen) gefüllt werden, sowie auf dem Zugriff, den die verschiedensten MitarbeiterInnen auf diese Daten haben. — Einen anderen G rund für die Explizitheit von Fachtexten sieht G iesecke 1983 in den Anforderungen, die an ein Kommunikationsmedium zu stellen sind, in Sozialsystemen mit anonymen, indirekten Rollenbeziehungen. G iesecke, der Veränderungen der gesellschaftlichen Rollenbeziehungen am Beispiel des Rezepts studiert, ist der Auffassung, daß fachsprachliche Texte heute als Folge anonymer indirekter Rollenbeziehungen wesentlich expliziter und kohärenter sind (vgl. 175 ff). Obwohl die Rollenbeziehungen heute im schriftlich abgewickelten Handel zweifelsohne anonym und indirekt sind — auch wenn die nicht-professionellen KundInnen sich darüber nicht immer im klaren sind —, sind wichtige schriftliche Texte im Handel nicht explizit und nicht kohärent: Im Versandhandel enthalten beispielsweise sowohl Bestellungen als auch Kontoauszüge viele Angaben, die alle für den Handel notwendigen Informationen darstellen, ohne aber zu expliziten und kohärenten Texten verbunden zu sein

623

(vgl. 4.5.). Solche Texte dienen eben einerseits der Kommunikation, fungieren aber anderseits auch als objektiviertes kollektives G edächtnis, auf das sich alle Beteiligten beziehen, wenn es aus irgend einem G rund notwendig wird. Sie haben also sowohl kommunikative als auch mnemotechnische Funktion. Auch Kunden fordern einen detaillierten Kontoauszug an, wenn sie das Hin und Her von Lieferungen und Retouren im Versandhandel nicht mehr überblicken (vgl. 4.4.). Zwar fordert G iesecke 1983 in methodischer Hinsicht, die zwei Funktionstypen von Schriftlichkeit klar auseinanderzuhalten. Für einen Teil der Texte, wie sie im Handel entstehen, ist aber gerade typisch, daß sie beide Funktionen vereinen (vgl. 4.4.).

4.

Schreiben im Handel in der heutigen Zeit

Hauptsächlich am Beispiel des Versandhandels sollen im folgenden einige Aspekte der schriftlichen Kommunikation im Handel anhand von Beobachtungs- und Befragungsdaten beleuchtet werden. — Handel per Post wird typischerweise schriftlich abgewickelt. Die Charakteristika der VersandhandelsKommunikation ergeben sich aus einer Reihe von Situationsmerkmalen, die die Verkäufersituation auf der einen und die Käufersituation auf der anderen Seite betreffen, nicht aber einer gemeinsamen Situation entstammen. Die trennenden Aspekte der Situation sind — nicht zuletzt durch die zeitlich-räumliche Trennung der schriftlichen Situation — wesentlich prägender als die gemeinsamen Situationsfaktoren: Die Anonymität wird auch kurzzeitig nicht aufgehoben, wie dies in einem mündlichen Verkaufsgespräch der Fall sein kann; der Aufbau persönlicher Beziehungen wird dadurch verhindert, daß die Kommunikationspartner auf Seiten der Verkaufsfirma ständig wechseln. (Das System, daß jede(r) Sachbearbeiter(in) den eigenen Kundenkreis betreut, wird nur bei sehr viel größeren Handelsgeschäften — G roßkunden bei Banken — angewandt). Die spezielle Verkaufssituation birgt die G efahr von Enttäuschungen. Eine Bearbeiterin von zurückgeschickten Waren meint: „Die Leute sind sehr oft enttäuscht, weil sie sich nach dem Katalog bestimmte Vorstellungen machen, in bezug auf Farbe, in bezug auf Form, nicht wahr, daß sie das G efühl haben, ja das ist doch nicht das, was ich gerne hätte, wenn sie’s im Laden grade sehen,

624

würden sie’s überhaupt nicht in die Finger nehmen ... da sind dann die Leute eben enttäuscht.“ Diese Ausgangslage führt — zusammen mit der Nicht-Professionalität der privaten Kunden — zu spezifischen Kommunikationsproblemen. Dabei spielen die auf den ersten Blick auffälligsten Charakteristika der privaten Kundentexte — die Fehler — keine Rolle (vgl. dazu 4.6.). Die folgenden Analysen sind nach Kommunikationssituationen geordnet; im Titel ist jeweils einer der wesentlichen Aspekte der Analyse genannt. 4.1. Die Ansprache der KundInnen im Katalog: Illusion einer persönlichen Kommunikationssituation Kataloge stellen den allgemeinen Ausgangspunkt der Kommunikation dar: Sie versuchen — wie es in der Werbung üblich ist — eine persönliche herzliche Atmosphäre zu schaffen, beispielsweise indem für den Quelle-Katalog Frau Schickedanz persönlich die Kunden und Kundinnen anspricht oder indem ein beiliegender Brief davon spricht, daß Blütenträume wahr werden: „Sollten sie uns noch nicht kennen, dann möchten wir Sie jetzt herzlich einladen, einer reizvollen Modenschau beizuwohnen.“ Daß diese persönliche Kommunikation in der weiteren Korrespondenz gegenüber der sachorientierten zurücktritt, ist für einen Teil der Kunden und Kundinnen, die in briefliche Korrespondenz mit der Handelsfirma treten, mit ein G rund für eine emotionale Verstimmung, die sie zum eigenen Schreiben veranlaßt. 4.2. Die Bestellung: Die Nummer im Zentrum In den Interviews zur Rolle der Schriftlichkeit im Arbeitsalltag des Versandhandelsbetriebs (Befragungsdaten) wird ein roter Faden schnell sichtbar. An den verschiedensten Arbeitsplätzen geht es immer wieder darum, daß die Zahlen richtig geschrieben werden: „Das ganze Versandsystem basiert ja nicht auf der Sprache, sondern auf Zahlen“ — sagt der Chef. Die wichtigste Zahl in diesem Zusammenhang ist die Bestellnummer. Im Bestellbüro wird darauf hingewiesen: „Sagen wir eine Bestellnummer, das ist ja die G röße und die Farbe alles drin enthalten.“ Die Nummern, die für die Bestellung verwendet werden, zeigen nicht auf die wahrnehmbare Umwelt, sondern verweisen auf eine zahlenmäßig konstruierte und durchgebildete Wirklichkeit. Wenn KundInnen Bilder aus dem Katalog ausschneiden und auf diese Weise zeigen, was

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

sie bestellen möchten, umgehen sie den Verweis auf die zahlenmäßig konstruierte und für sie absolut unmotivierte Wirklichkeit, die einem System folgt, das nur die Eingeweihten durchschauen. Die meisten Kundinnen und Kunden lassen sich aber in Richtung dieses streng standardisierten schriftlichen Bestellens disziplinieren. — Weil die Bestellnummer das A und O darstellt, müssen für die Datenerfassung, die außer Haus im Akkord geschieht, im Bestellbüro die Zahlen lesbar gemacht werden. Nur wenn es eine Nummer nicht gibt, dann müssen die Bearbeiterinnen versuchen, den gewünschten Artikel mithilfe der übrigen verbalen Angaben zu identifizieren — erst dann spielen Angaben wie „Trägerkleid“ auf der Bestellung eine Rolle. Wenn diese Angaben auch nicht weiterhelfen, z. B. weil nicht nur eine, sondern 11 verschiedene weiße Jacken im Katalog sind, kommen weitere schriftliche und zum Teil mündliche Kommunikationsakte in G ang; die Kunden bekommen einen Formbrief und schreiben noch einmal oder telefonieren. 4.3. Kundenbriefe nach der Bestellung: oft persönlich und emotional bestimmt Nach den verbalen Intitialhandlungen von beiden Seiten — Katalog und Bestellung — findet weitere verbale Kommunikation nur dann statt, wenn das G eschäft nicht problemlos abgewickelt werden kann. — Wenn beispielsweise die Firma nicht liefern kann, schickt sie den KundInnen einen Brief mit der Bitte um G eduld. Wenn deren G eduld jedoch erschöpft ist oder wenn eine Sendung bzw. die Rechnung dazu nicht ihren Vorstellungen entspricht, melden sich die KundInnen sehr oft, indem sie anrufen oder schreiben und ihrem Ärger darüber Ausdruck geben, daß die Ware nicht termingerecht geliefert wurde oder daß die Firma Lieferschwierigkeiten anführt, die bestellten Kleider aber gleichzeitig billiger im Ausverkaufskatalog führt etc. Inwieweit die Merkmale, die professionelle Handelsbriefe charakterisieren, auch für private Briefe zutreffen, zeigen Kundenbriefe, die in bezug auf folgende Merkmale analysiert worden sind: 1. Formalität der Briefstruktur, 2. Entpersönlichung, 3. Ausschaltung der Emotionen, 4. Elemente der gesprochenen Sprache, 5. handelssprachliche Fremdwörter und Formeln, 6. Maschinenschrift. Von 35 Briefen aus einem Korpus von 100 Briefen, die die Abteilung Kundendienst beantwortet, entsprechen ca. zwei Drittel der traditionellen Briefstruktur. Ein Drittel besteht aus Mit-

47.  Schriftlichkeit im Handel

teilungen, die ohne Anrede großenteils auf Rechnungs- oder Bestellformularkopien geschrieben werden. Etwa ein Drittel der Briefe enthält gesprochensprachliche Merkmale. Der weitaus größere Teil der Briefe enthält handelssprachliche Fremdwörter und Formeln, und etwa die Hälfte ist maschinengeschrieben. Etwa die Hälfte der Briefe ist nicht persönlich gehalten (insofern professionell). In der anderen Hälfte finden sich persönliche, häusliche Schilderungen wie die folgenden, deren Orthographie und Interpunktion den Originalen entsprechen: — „Mein Mann bekam einen Lachkrampf, als er die Söckli sah!!“ — „Also ich rief an, um ein Dutzend Handtücher zu bestellen, weil ich sie gerne zum Geburtstag am 12. Juni hätte, dachte ich, es geht schneller.“ — „(...) denn Sie wissen genau, dass es für Privatleute sehr schwierig ist, Gürtel für Gr. 52/54 im Detail zu erhalten“

Ebenfalls etwa die Hälfte der Briefe enthält sehr emotionale Passagen oder Elemente. Meistens beklagen sich die KundInnen, manchmal ist das auch der ausschließliche Zweck ihres Briefes. Der Ärger bildet jedenfalls den Anlaß ihres Schreibens. — „Ums Himmels willen!“ — „(...) ich finde, dass man als Kunde schon etwas besseres verdient hätte.“ — „Ich schreibe diesen Brief, weil ich nun endlich genug habe von Eurem Personal.“ — „Warum kann dies Bader und Sie nicht?????“ — „(...) bitte verzeihen sie, wenn ich Ihnen schreibe, aber ich bin erbost, enttäuscht und verärgert.“ — „Ich finde es schon eine Gemeinheit (...)“ — „Die Schreibfehler sin ein Ausdruck meines Ärgers.“

Wenn man als Versandhandelskunde die Ware nicht behalten will, so braucht man dies nicht zu begründen: Umtausch und Rückgaberecht innert 3 Tagen (in einwandfreiem Zustand und Originalverpackung) sind Vertragsbedingungen. 50% der Waren werden zurückgeschickt. Dabei sehen sich viele KundInnen zu einer Erklärung veranlaßt oder wollen ihre Meinung kundtun. Ihre Briefe oder Notizen enthalten (neben Unmutsäußerungen) häufig auch Entschuldigungen, Lob und Bedauern und sehen folgendermaßen aus: — „Ich habe nur 1 Ledercile und eine Hose bestellt und zweitens ist es zu klein. Ich bitte Sie um Verständniss, daher ich finanziell es gar nicht leisten kann. Ich werde bestimmt wieder mal was bei ihrem Versand bestellen. Nochmals viellmals Entschuldigung, vielen Dank für Ihre Bemühungen. Es grüsst Sie Hochachtungsvoll. P. S. Das andere passt ganz genau, vielen Dank.

625

Eine Detailanalyse von 30 Briefen aus einem größeren Korpus von 300 (nicht identisch mit dem ebenfalls in 4.3. angesprochenen) ergibt folgende Verhältnisse: Ein Viertel der KundInnen spricht neben der G rundangabe für die Retouren (kaufmannssprachlich für: zurückgeschickte Waren) auch ein Lob (für die Kleider im allgemeinen) aus, ebenfalls ein Viertel entschuldigt sich oder vertröstet auf ein anderes Mal. Wenige schlagen einen ironischen oder spöttischen Ton an, um ihre Kritik anzubringen. Die professionell tönende Handelsphraseologie ist bei diesen Briefen eher schwächer vertreten als beispielsweise in Reaktionen auf Mahnungen. Ein wesentlicher G rund dafür dürfte darin liegen, daß dafür keine Wendungen und Äußerungen aus Briefen der Verkäuferseite als Vorbild dienen und direkt übernommen werden können. 4.4. Mahnungen (sog. „Kontoauszüge“): Texte mit kommunikativer und mnemotechnischer Funktion Wenn die Firma Mahnungen verschickt und die KundInnen nicht mehr wissen, wofür sie diesen Betrag schulden, resp. der Aufassung sind, daß sie die Rechnung schon bezahlt haben oder nicht zur Zahlung verpflichtet sind, müssen sie sich telefonisch oder schriftlich melden. Die KundInnen fordern in solchen Fällen manchmal telefonisch oder in der Mehrzahl der Fälle schriftlich einen detaillierten Kontoauszug an, auf dem sichtbar ist, wann was geliefert, wann was zurückgeschickt wurde und woraus sich der aktuelle Kontostand zusammensetzt. Der Kontoauszug enthält Adresse, Datum, „Unser Zeichen“, öfters eine maschinenschriftlich angefügte Zeile „Wir bitten um Überprüfung und danken im voraus bestens“ oder „gemäß Telefon“ u. ä. Auf jedem Auszug heißt es auch „Im Falle einer Unstimmigkeit, wollen Sie uns bitte den G rund auf diesem Auszug mitteilen.“ Die Kontoauszüge haben kommunikative Funktion, indem sie die Kunden und Kundinnen darüber orientieren, daß sie mit den Zahlungen in Verzug sind. Wenn sie mit kommentierenden Notizen versehen werden, informieren sie ihrerseits wiederum die Firma über den KundInnenstandpunkt. Sie haben aber auch mnemotechnische Funktion, indem sie das gespeicherte Wissen der Verkaufsfirma über bestellte Artikel, Bestell- und Rücksendungsdaten, Preise etc. enthalten und ein ausgelagertes G edächtnis darstellen, das nicht an

626

einzelne Personen gebunden ist. Allenfalls kann die eine oder andere der Funktionen durch einen Zusatz akzentuiert werden — wenn der detaillierte Kontoauszug nicht kommentarlos geschickt, sondern der Computerausdruck nachträglich noch einmal in die Schreibmaschine eingespannt und oben angefügt wird: „Wie telefonisch besprochen schicken wir Ihnen zur Überprüfung“. Durch diesen — wenn auch stichwortartigen und anredelosen-kommunikativen Bezug zum Empfänger wird der kommunikative Zweck in den Vordergrund gestellt. Ähnlich ist auch das Bearbeiten von Kontoauszügen mit Leuchtstiften zu beurteilen: Es werden zuhanden der Kunden die wichtigen Positionen für das aktuelle kommunikative Problem markiert. Ohne diese kommunikativ ausgerichtete Hilfe entsteht manchmal die Situation, daß diese Blätter voller Daten zwar exakt sind, kommunikativ aber nicht wohlbestimmt, indem die Kunden nicht wissen, welche der für alle Zwecke gespeicherten Daten für sie in der jetzigen Situation relevant sind. 4.5. KundInnen-Reaktionen auf Mahnungen: Der individuelle Umgang mit anonymen, indirekten Rollenbeziehungen Dreißig ausgezählte Korrespondenzereignisse (aus einem Korpus von 200), in denen die KundInnen auf Mahnungen reagieren und mit der Buchhaltung Kontakt aufnehmen, weisen folgende Charakteristika auf: Obwohl die Kunden explizit dazu aufgefordert werden, ihre Bemerkungen zum Kontoauszug auf demselben Blatt anzufügen, schreibt die Hälfte der KundInnen einen Brief mit Datum, Adresse, Anrede, G rüßen und Unterschrift. Die andere Hälfte schreibt eine Notiz ohne Anrede, ohne G rüße, die lediglich meistens unterschrieben wird. Etwa ein Drittel der Notizen wird ganz oder teilweise im Telegrammstil abgefaßt. Das folgende Beispiel entspricht in Orthographie und Interpunktion dem Original: „Jup rot hat leider schwarze Flecken und Striche überall, vorne und hinten. Ich behalte ihn für die Hausarbeiten und bezahle nur Fr. 70. — dafür, ansonst retour.“

Phraseologische Wendungen oder Äußerungen, die für die Handelskorrespondenz typisch sind und häufig auch von KundInnenseite gebraucht werden, sind: „Vor geraumer Zeit“, „auf meinen Wunsch hin“, „da diese meinen Wünschen nicht entsprach“, „diesen Fehler zu berichtigen“, „innert angegebener

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Frist“, „es muß ein Fehler unterlaufen sein“, „um genaue Angaben bitten“, „meines Erachtens“, „zu meiner Entlastung“, „und verbleibe mit freundlichen G rüßen“, „Verständnis haben“, „Bitte prüfen Sie die Sache noch einmal“, „Ich hoffe, die enstandenen Mißverständnisse lassen sich somit beseitigen.“, „Hiermit schicke ich Ihnen eine Kopie von Ihrem Schreiben“, „Ich hoffe auf Ihr Verständnis und danke Ihnen zum voraus.“, „Besten Dank im voraus“. — Die Beziehungen zwischen Verkäufer und Käufer sind anonym. Währenddem die KundInnen in jedem Fall einen individuellen Brief (oder eine individuelle Notiz) schreiben, den sie von A bis Z für diesen Anlaß produziert haben, verfügt die Versandhandelsfirma über eine ganze Reihe von Standardbriefen, die photokopiert vorliegen, weder in bezug auf Anrede noch Unterschrift ergänzt werden und in Fällen, wie sie immer wieder auftauchen, verschickt werden können. Beispiele für solche Standardbriefe sind Bitten um eine genauere Adresse oder Adreßänderungsangabe („Aus administrativen G ründen benötigen wir neben Namen und Ortschaft auch eine Straßen- oder Hausbezeichnung.“), Anforderungen von schriftlichen Bestätigungen und Erklärungen, in Fällen, in denen Lieferungen bei den Kunden resp. Rücksendungen bei Quelle nicht angekommen sind, Erläuterungen zum Zahlungsmodus im Falle von Teilretouren („G emäß Beilage wird bei einer Teilretoure immer eine neue Rechnung mit Einzahlungsschein für die behaltene Ware erstellt.“) etc. — Nicht alle Kunden realisieren aber diese Anonymität in der Beziehung der Firma zu ihnen. Sie schreiben in der Anrede ihrer Briefe: „Sehr geehrte Frau Schickentanz“ (wobei zu sagen ist, daß sich Frau Schickedanz im Katalog mit Bild „persönlich“ an die Kundinnen wendet). Andere schreiben von „Ihrer Telefonistin oder sind es zwei?“ — obschon es sich um eine größere G ruppe von Telefonistinnen handelt. Eine Telefonistin erzählt: „Eben, eine Kundin hat ja einmal geschrieben, ich glaube, eure Telefonistin ist verliebt, es sei immer besetzt, die sei sicher verliebt, hat sie geschrieben. Die können sich das natürlich nicht vorstellen, daß es so viele (Kunden) hat, eigentlich aus der ganzen Schweiz nicht wahr.“ Kommunikationsprobleme ergeben sich vor allem daraus, daß die KundInnen sich dieser anonymen Rollenbeziehungen nicht genügend bewußt sind, viel seltener aus G ründen unangepaßter Fachterminologie o. ä. Obwohl die Rollenbeziehungen anonym und indirekt sind, sind

47.  Schriftlichkeit im Handel

große schriftliche Textgruppen im Handel nicht explizit und nicht kohärent: Beispielsweise enthalten sowohl Bestellungen als auch Kontoauszüge zwar viele Details, sind jedoch weder explizit noch kohärent, wie man das von der Theorie der schriftlichen Texte her erwarten könnte. G ründe dafür liegen darin, daß solche Texte sowohl der kommunikativen Übermittlung von Informationen dienen und bestimmte Sprechakte realisieren als auch gleichzeitig als kollektives, „ausgelagertes“ (objektiviertes) G edächtnis aufgebaut werden, auf das sich alle Beteiligten beziehen, wenn es aus irgend einem G rund notwendig wird. Sie haben sowohl kommunikative als auch mnemotechnische Funktionen. Wichtig ist aber, zu sehen, daß diese Texte alle Daten für alle denkbaren Probleme enthalten. Sie können deshalb auch gar nicht explizit sein, weil Explizitheit immer auf eine bestimmte kommunikative Problematik ausgerichtet ist. — Wer handschriftliche Notizen von Versandhandelspersonal und KundInnen sowie Kundenbriefe analysiert, stößt auf mehr als bloß vereinzelte Fehler. Diese Sicht auf die Fehler dominiert auch die Sicht derjenigen, die als Angestellte des Versandhauses mit Kundennotizen oder -briefen zu tun haben. Das geht aus G esprächen immer sehr schnell hervor. Für die Bewertung der Fehler sollte aber nicht nur in die üblichen Sprachverfallsklagen eingestimmt werden, sondern folgendes mit bedacht werden: Fehler sind nicht nur, aber auch Ausdruck individueller Textproduktion von A bis Z. Professionelle Texte sind zum großen Teil entweder standardisiert und werden kopiert — an ihrer Form wird von mehreren Personen und in mehreren Durchgängen gearbeitet oder sie werden von geübten, ausgebildeten Mitarbeitern geschrieben. Deshalb entstehen in diesen Texten weniger Fehler, resp. sie werden im Laufe des mehrstufigen Produktionsverfahrens ausgemerzt. — Andere als die hier besprochenen Handelssituationen zeigen ähnliche Funktionen und Merkmale des Schreibens (vgl. 1.). Weitere Untersuchungen in diesem Bereich müßten aber weiterführende Erkenntnisse über alltagssprachliche und fachsprachliche Aspekte des privaten und beruflichen Schreibens ermöglichen.

5.

Literatur

Alanne, Eero. 1964. Das Eindringen von Fremdwörtern in den Wortschatz der deutschen Handelssprache des 20. Jahrhunderts — mit besonderer

627

Berücksichtigung der neuesten Zeit. Neuphilologische Mitteilungen 65, 332—360. Fachausdrücke des Verkehrs und Handels. Der Weg der Ware von A—Z. Hg. vom Zentralverband der deutschen Seehafenbetriebe. 1955. Aumühle. Kreuzer, Helmut (ed.). 1983. Fachsprache und Fachliteratur. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 51/52. Fluck, Hans-R. 1985. Fachsprachen. Tübingen. [3. Aufl.]. G abler. 1988. Wirtschaftslexikon. Wiesbaden [12. Aufl.]. G iesecke, Michael. 1983. Überlegungen zur sozialen Funktion und zur Struktur handschriftlicher Rezepte im Mittelalter. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 51/52, 167—184. G rossmann, Hermann. 1927. Handbuch für Kaufleute. Berlin, Wien. Häcki Buhofer, Annelies. 1985. Schriftlichkeit im Alltag. Theoretische und empirische Aspekte — am Beispiel eines Schweizer Industriebetriebs. Bern [= Zürcher Germanistische Studien 2]. v. Hahn, Walther (ed.). 1981. Fachsprachen. Darmstadt. —. 1983. Fachkommunikation. Berlin. Hauschild, O. 1927. Sprache und Stil des Kaufmanns. Ein Ratgeber auf sprachwissenschaftlicher Grundlage. Berlin/Bonn. Hoberg, Rudolf. 1990. Sprachverfall? Wie steht es mit den sprachlichen Fähigkeiten der Deutschen? Muttersprache. 100, 233—243. Kleiber, Wolfgang. 1984. Deutsche Sprachgeschichte und Wirtschaftsgeschichte. In: Besch, Werner, Reichmann, Oskar & Sonderegger, Stefan (ed.). Sprachgeschichte — Ein Handbuch zur G eschichte der deutschen Sprache. Berlin, 1. Band, 70—85. Kolb, Stefan. 1989. Verfällt die Sprache? Metaphern für die Deutung von sprachlichen Symptomen des kulturellen Wandels. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 40, 177—185. Kübler, Hans-Dieter. 1985. Ende der Schriftkultur? Anmerkungen zu einem wissenschaftlichen Modethema. Wirkendes Wort 6, 338—362 Maas, Utz. 1985. Lesen — Schreiben — Schrift. Die Demotisierung eines professionellen Arkanums im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Zeitschrift für Linguistik und Literaturwissenschaft 59, 55—80. Maschke, Erich. 1964. Das Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Fernkaufmanns. In: Wilpert, Paul (ed.). Beiträge zum Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Menschen. Berlin. 306—335. Pirenne, Henri. 1929. L’instruction des marchands au moyen age. Annales de l’ histoire économique et sociale 1, 13—28.

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

628

Rörig, Fritz. 1953. Mittelalter und Schriftlichkeit. Die Welt als Geschichte 13, 29—41. Schirmer, Alfred. 1911. Wörterbuch der deutschen Kaufmannssprache auf geschichtlichen G rundlagen — mit einer systematischen Einleitung. Straßburg. —. 1952. Der Sprach- und Schriftverkehr der Wirtschaft. Wiesbaden. [2. Aufl.]. Schlieben-Lange, Brigitte & Kreuzer, Helmut. 1983. Probleme und Perspektiven der Fachsprachen- und Fachliteraturforschung. Zur Einleitung. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 51/52, 7—26.

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Annelies Häcki Buhofer, Basel (Schweiz)

48. Schriftlichkeit und Technik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

1.

Einleitung Der Zusammenhang von Schriftlichkeit und Technik bis zum Ende der Antike Schriftlichkeit und Technik bis zum 16. Jahrhundert Schriftlichkeit und Technik bis zum 17. Jahrhundert Schriftlichkeit und Technik in der Gegenwart Ausblick Literatur

Einleitung

„Schriftlichkeit“ soll hier als Oberbegriff für zwei unterschiedliche markierende Tätigkeiten auf beständigem Material verstanden werden. Zum einen beinhaltet der Begriff ein voll ausgebildetes geschriebenes Repräsentantensystem, bei dem sinnentleerte Elementarzeichen bedeutungstragende sprachliche Einheiten konventionell konstituieren (alphabetisches Repräsentantensystem), die sich über das Denken auf die außersprachliche Realität beziehen. Dieses System nenne ich im Anschluß an Feldbusch 1985 „geschriebene Sprache“. Zum anderen beinhaltet „Schriftlichkeit“ solche Repräsentantensysteme, die durch graphische und zeichnerische Markierungen auf reale Sachverhalte referieren, ohne aber alle Kennzeichen des voll ausgebildeten Systems aufzuweisen. Bei diesen „Vorformen“ geschriebener Sprache ist die Zuordnung zur Realität zum Teil nicht konventionell, sondern erfolgt über Analogie (z. B. Bauzeichnungen, Piktogramme). Zudem ist ihr Anwendungsbereich eingeschränkt. Vorformen und geschriebene Sprache selbst lösen sich nicht genetisch voneinander ab, sondern kön-

nen je nach den spezifischen Verwendungszwecken und -situationen nebeneinander existieren (z. B. heute: Toilettenmännchen vs. deutsche geschriebene Sprache). Sowohl die Vorformen als auch die geschriebene Sprache selbst besitzen für den Menschen gleichermaßen die Funktion, sich kommunikativ und kognitiv mit realen Sachverhalten auseinanderzusetzen, diese Erfahrungen zu strukturieren und entsprechend den individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen nutzbar zu machen. Schlägt man heute ein Lexikon oder ein Handbuch der Technik auf, so fällt allen Nichttechnikern sofort der geringe Anteil geschriebener Sprache auf; in den Büchern überwiegen eindeutig Piktogramme, G raphiken, Zeichnungen und Abbildungen. Weiterhin bestimmen mathematische Formeln und Tabellen das Bild. G eschriebener Sprache scheinen lediglich Hilfsfunktionen wie Überschriften, Quellenangaben und kurzen Erläuterungen vorbehalten zu sein. Die eigentlichen technischen Inhalte sind durch andere graphische oder numerische Zeichen dargestellt. Der Zusammenhang von geschriebener Sprache und Technik stellt sich also zunächst als sehr lose dar.

2.

Der Zusammenhang von Schriftlichkeit und Technik bis zum Ende der Antike

Historisch gesehen bestätigt sich dieser Eindruck. Technik im Sinne der Ursprungsbedeutung (griech. technikos ‘Handwerk, Kunstwerk’) entwickelte sich wahrscheinlich lange Zeit unabhängig von geschriebener Sprache.

48.  Schriftlichkeit und Technik

Skizzen und Zeichnungen, also Vorformen, dagegen müssen bereits von einem frühen Stadium der Technikentwicklung an bei der Planung und Arbeit zur Verfügung gestanden haben. Überliefert davon ist kaum etwas. Entweder wurden sie nicht für Wert befunden, auf einem materiellen und dauerhaften Träger aufbewahrt zu werden, oder sie wurden als G eheimnisse gehütet. Es waren primär die Erfordernisse des Handels, der Verwaltung, der Politik usw., die zur Herausbildung der geschriebenen Sprache führten (vgl. Feldbusch 1985), nicht die der Technik. Die gegenseitige Bedingtheit von Schrift- und Technikentwicklung, wie sie z. B. von Leroi-G ourhan (1964) angenommen wird, läßt sich anhand der Quellen nicht belegen. Möglicherweise kann von einer Parallelentwicklung gesprochen werden, denn tatsächlich entwickelte sich geschriebene Sprache bevorzugt in technisch hochstehenden G esellschaften. Dies ist leicht zu erklären, da aufwendige technische Projekte naturgemäß einen erheblichen Wirtschafts- und Verwaltungsaufwand bedingen, der ohne dauerhaft gespeicherte Organisation nicht bewältigt werden kann. Über die gewaltigen technischen Leistungen der Ägypter, die beeindruckende naturwissenschaftliche Kenntnisse voraussetzten, existieren nur indirekte geschriebene Zeugnisse (z. B. die Aufzeichnungen des griechischen Schriftstellers Herodot). Es ist eigentlich unvorstellbar, daß z. B. der Bau der Pyramiden ohne geschriebene Reflexionen vonstatten gegangen sein soll, doch ist ja der hohe Stand der ägyptischen Technik insgesamt eigentlich unvorstellbar. Es kann deshalb nicht völlig ausgeschlossen werden, daß die ägyptischen Baumeister und Priester ihre Kenntnisse und Fertigkeiten als G eheimwissenschaft ausschließlich mündlich tradierten. Etwas enger gestaltete sich der Zusammenhang von Schriftlichkeit und Technik in G riechenland (→ Art. 37). Die Aufzeichnungen des Empedokles aus Agrigent (492—432 v. Chr.) sowie die Arbeiten des Aristoteles dienten in hohem Maße der Entwicklung einer physikalischen Naturanschauung, waren also in erster Linie theoretisch orientiert. Aristoteles beschrieb und begründete die Wirkung des Hebels und beschleunigte dadurch die Verbreitung dieser Technik. Erfunden hatte er diese Technik nicht; sie wurde schon lange vor ihm angewendet, ist also nicht an Schriftlichkeit gebunden. Die Art seiner Darstellung und Beweisführung konnte jedoch kaum ohne geschriebene Sprache auskommen, da er nicht

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experimentelle, sondern philosophisch-mathematische Verfahren bevorzugte, sich demnach also auf einer qualitativ höheren Stufe mit den realen Sachverhalten auseinandersetzte. Die Erfindungen des Archimedes (287—212 v. Chr.) — z. B. die Wasserschraube und der Flaschenzug — sowie die mechanischen Vorrichtungen — z. B. Uhren — des Hero von Alexandria (Lebensdaten unbekannt, aber nach Archimedes) dagegen waren praktischer orientiert, die konkreten Anwendungsmöglichkeiten und damit der Umgang mit den realen Sachverhalten selbst, standen bei ihnen im Vordergrund. Infolgedessen treten die geschriebenen theoretischen Abhandlungen gegenüber Zeichnungen und Plänen deutlich zurück. In Rom (→ Art. 38) diente die geschriebene Sprache im Bereich der Technik besonders zur Aneignung, Verbreitung und Übertragung des in G riechenland entstandenen technischen Wissens. Viele technische Schriften können als „Lehrbücher“ angesehen werden. Dioskorides (1. Jh. n. Chr.) behandelt in seiner „Materia medica“ umfassend das chemische und physikalische Wissen seiner Zeit. Er stellte u. a. Anleitungen zur G ewinnung bzw. Herstellung von Zinkoxyd, Kupfervitriol und Bleiweiß vor. Noch ausführlicher in ihrer Darstellungs- und Themenbreite war die 37— bändige „Naturalis historia“ des Cajus Plinius Secundus (gestorben 79 n. Chr.). Sie kann als naturwissenschaftliche Enzyklopädie der Zeit angesehen werden und diente allen Anschein nach Zwecken der kaufmännischen Allgemeinbildung. Dies kommt u. a. darin zum Ausdruck, daß die Arbeit sich nicht auf die technischen und naturwissenschaftlichen Sachverhalte beschränkte, sondern z. B. kaufmännisch interessante Informationen über Preise und Verkehrswege enthielt. Beide Arbeiten waren in erster Linie rezeptiv; selbständige Forschungsbeiträge sind nicht enthalten (sieht man von einigen Erlebnisberichten ab). Eigenständige geschriebene Beiträge zur Technik entstanden in Rom vor allem auf dem G ebiet der Architektur. Marcus Vitruvius Pollios (um 27. v. Chr.) zehn Bücher „De Architectura“ stellten die G rundsätze des Bauens dar, behandelten Materialien, Pläne, Maschinenbau und Ingenieurwesen. Seine Werke erlangten ebenfalls Lehrbuchgeltung, die über Jahrhunderte andauerte. Bis zum Ende der Antike bleibt festzuhalten, daß die Technik offenbar nicht direkt auf geschriebene Sprache angewiesen war. Ihre Rolle beschränkte sich auf technische Rand-

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

630

bereiche wie Verwaltung, Ökonomie und Didaktik. Darüber hinaus diente sie der Verbreitung technischer und naturwissenschaftlicher Kenntnisse. Der technischen Anwendung dienten maßgeblich Vorformen geschriebener Sprache wie Skizzen und Zeichnungen. Es muß jedoch einschränkend bemerkt werden, daß diese Aussagen auf einer problematischen Quellenlage beruhen. So sind beim Brand der alexandrinischen Bibliothek zumindest viele der physikalischen Aufzeichnungen von Aristoteles verloren gegangen. Und Wilsdorf (1977) weist darauf hin, daß gerade das „technische Schrifttum“ stärker als das literarische untergegangen sei, da es „nicht zur pädagogisch ausgenutzten Literatur gehörte“.

3.

Schriftlichkeit und Technik bis zum 16. Jahrhundert

Nach dem allgemeinen Niedergang der Technikentwicklung durch den Untergang des römischen Reiches und die Völkerwanderung kamen den technischen Schriften Roms und G riechenlands in den mittelalterlichen Staaten neue Funktionen zu. Sie dienten nun nicht mehr als Lehrbücher, die die Erklärungen und Erläuterungen der Meister erleichterten bzw. überflüssig machten, sie waren nun die alleinigen Übermittler wichtiger Bereiche technischer Kenntnisse und Fertigkeiten. Es ist zwar schwer zu sagen, inwieweit die Schriften tatsächlich von den Technikern (Baumeistern, Handwerkern, Bergleuten) rezipiert worden sind, doch wird von verschiedener Seite darauf hingewiesen, daß „die Traktate über Technik in den scriptoria wiederholt kopiert“ wurden (vgl. Riché 1981, 173). Jedenfalls muß es Wege gegeben haben, das verschüttete technische Wissen wieder für die Praxis nutzbar zu machen. Auf der anderen Seite zeigen Beschreibungen mittelalterlicher Konzentrationen technischer Einrichtungen (Schmiede, Eisenschneider, Eisenschmelzer, Köhler usw., vgl. Borst 1979, 214 ff) ein schrift- und kulturloses Bild roher Handwerker und Arbeiter, die arbeiteten und schlemmten, gewiß aber nicht lasen. Offenbar wurden die technischen Kenntnisse immer noch (oder wieder) vorwiegend mündlich tradiert. Es sind aber auch Zwischenformen denkbar. Die Beschreibung eines umfangreichen Kirchenneubaus im 12. Jahrhundert (vgl. Borst 1979, 219 ff) stellt einen offenbar gebildeten und belesenen Baumeister vor,

der den gesamten Bau über mehrere Jahre hinweg leitete. Seine Tätigkeiten den Bauherren gegenüber waren mündliches Erklären und Beruhigen; anscheinend hatte er nicht einmal einen Bauplan vorgelegt, denn die Bauherren wußten lange Zeit nicht, was er denn eigentlich plante. Seine Tätigkeiten den Handwerkern gegenüber waren Anleiten, Anordnen, Zeigen, Delegieren und Vormachen. Lediglich an einer Stelle bleibt unklar, ob er den Steinmetzen graphische Vorlagen gab oder ob er ihnen Muster vorlegte. Der Kontext läßt jedoch letzteres vermuten. Der Baumeister verfügte offenbar über das bautechnische Wissen seiner Zeit, was auf die intensive Auseinandersetzung mit bereits verarbeitetem Wissen schließen läßt. Um es in die Praxis umzusetzen, mußte er sich jedoch ausschließlich der gesprochenen Sprache bzw. körperlicher Demonstrationen bedienen. Die Kenntnis und Reflexion geschriebener Erfahrungen existierte also somit allenfalls auf einer hohen und schmalen Ebene der technischen Hierarchie. Die Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks verbesserte die Quellenlage erheblich, da ja die Drucker streng nachfrageorientiert arbeiteten. Der Druck eines Buches zeigt somit den gesellschaftlichen Bedarf an. Die ersten gedruckten Titel belegen, daß die gesellschaftlichen Bedürfnisse zunächst weniger auf technische als auf religiöse, moralische, politische Schriften orientiert waren. Das erste gedruckte technische Buch ist wahrscheinlich das 1472 in Verona erschienene Werk „De Re Militari“ von Robertus Valturius. Das Buch befaßt sich mit dem militärischen Ingenieurwesen seiner Zeit, stellt militärisch-technische G eräte (z. B. Schiffe) vor und gibt Herstellungsanleitungen. Es diente vor allem politischen Zwecken (Aufrüstung) und war für die damaligen Techniker notfalls auch ohne Lesefähigkeit zu verwerten, da es im großen Umfang mit Bildern und G raphiken arbeitete, so daß die Rezipienten aufgrund der analogen Zuordnung vom Repräsentanten zum G egenstand angeleitet werden konnten. Die eingeschränkte Kenntnis des voll ausgebildeten Repräsentantensystems führte hier zu der zusätzlichen Verwendung von Vorformen. Von 1483 bis 1490 erschienen in Rom die bereits erwähnten zehn Bücher des Marcus Vitruvius Pollio „De Architectura“. Daß sie fast eineinhalbtausend Jahre nach ihrer Entstehung immer noch als oft nachgefragtes Lehrbuch der Architektur gelten konnten, zeigt entweder den langsamen Fortschritt der

48.  Schriftlichkeit und Technik

Bautechnik oder die Weitsichtigkeit des Verfassers. Immer wieder wurden technische Klassiker der Antike neu gedruckt. So erschien in Basel 1544 eine Art G esamtausgabe der Schriften des Archimedes mit dem Titel „Opera Omnia“, die sich in der Folgezeit großer Verbreitung erfreute. Seit dem 15. Jahrhundert erschienen auch in etwas größerer Zahl eigenständige technische Arbeiten. 1485 wurden in Florenz die aktuellen Fortschritte der Baukunst durch Leon Battista Albertis Werk „De Re Aedificatoria“ der Öffentlichkeit vorgestellt. In Straßburg veröffentlichte 1512 Hieronymus Brunschwig sein „Buch der wahren Kunst zu destillieren“, welches auch eigene chemikalische Forschungen neben älteren Erkenntnissen enthielt. Zwar zunächst kunsttheoretisch orientiert war Albrecht Dürers „Unterweysung der Messung“ (Nürnberg 1525), doch umfaßte es auch anwendungsbezogene Teile, die das (Kunst)handwerk und die Architektur betrafen. Über eine sehr alte Tradition verfügt in Mitteleuropa die Technik des Bergbaus. Trotz ihrer Aufwendigkeit konnte sie anscheinend lange Zeit ohne geschriebene Sprache auskommen. Zwar finden sich seit dem 9. Jahrhundert geschriebene bergbausprachliche Belege (vgl. Piirainen 1989), doch handelt es sich dabei um literarische (Bergmannslieder, Sagen, Erbauungsliteratur) und juristische (Bergrecht) Zeugnisse. Erst 1556 erschien in Basel die erste grundlegende und anwendungsorientierte Darstellung über Bergbau und Hüttenwesen „De Re Metallica“ von G eorgius Agricola. Sie enthält illustrierte Abschnitte über Maschinen- und Energieeinsatz (Wasserkraft), Förderungs- und Pumptechniken, Hochofentechnik sowie Anweisungen und Hilfestellungen zur Verwaltung, Betriebsorganisation usw. Das Buch konnte lange Zeit die Stellung eines G rundlagenwerks der Bergbautechnik einnehmen, wurde oft gedruckt und noch 1912 ins Englische übersetzt.

4.

Schriftlichkeit und Technik seit dem 17. Jahrhundert

Etwa seit dem 17. Jahrhundert kam der Schriftlichkeit im Bereich der Technik eine neue Funktion zu. Insgesamt diente die geschriebene Auseinandersetzung mit der Technik nun vor allem der Planung und Organisation zukünftigen Fortschrittes. Die Rezeption der Klassiker und über lange Zeit hinweg

631

erworbener Kenntnisse blieb zwar weiterhin wichtig, doch wurden nun neue, grundlegende technische und naturwissenschaftliche Erfindungen, Entdeckungen und Weiterentwicklungen rasch einem technisch und wissenschaftlich interessierten Publikum zugänglich gemacht und zur Diskussion gestellt. Nicht mehr das Bewährte, sondern das Neue, das Umwälzende stand nun im Zentrum des Interesses, und technische Veröffentlichungen trugen sehr nachhaltig zur Veränderung des Weltbildes bei. Vielleicht kann das 1638 in Leiden veröffentlichte Werk G alileo G alileis „Discorsi e Dimostrazioni Matematiche“ als erstes gedrucktes Buch mit dieser Wirkung bezeichnet werden. Zusammen mit den „New Experiments Physico-Mechanical touching the Air“ (Oxford 1660) von Robert Boyle und Robert Hookes „Micrographia“ (London 1665) wurden die G rundlagen einer neuen Mechanik gelegt, die schließlich das Industriezeitalter ermöglichten. Neu ist auch, daß innerhalb der Technik öffentliche Diskussionen wie vorher nur in der Politik und Religion geführt wurden. Die zweite Auflage von Boyles „Experiments“, die 1662 erschien, enthält eine Auseinandersetzung mit abweichenden Thesen und Angriffen Robert Hookes. Die nachträglich bewunderten wissenschaftlichtechnische Schriften Leonardo da Vincis scheinen dagegen zu seinen Lebzeiten weniger beachtet worden zu sein. Im 18. Jahrhundert nahm die Zahl technischer Publikationen erheblich zu. 1704 erschien in London das technische Nachschlagewerk „Lexicon Technicum, or an Universal English Dictionary of Arts and Scienes“ von John Harris. Ebenfalls 1704 in London veröffentlichte Sir Isaac Newton seine vieldiskutierte Abhandlung über Farben, Licht und optische G eräte „Opticks“. Immer wichtiger wurden, besonders im folgenden Jahrhundert, wissenschaftliche Zeitschriften und Sitzungsberichte, die sich technischen Themen geöffnet hatten. An erster Stelle sind hier die Londoner „Philosophical Transactions of the Royal Society“ zu nennen, aber auch die „Monatsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften“ erlangten erhebliche Bedeutung. Die Erfindungen und Entdeckungen Alexander Voltas, Sir G eorge Cayleys, G eorg Simon Ohms, Werner Siemens’ und Alexander Bells wurden durch Periodika bekannt gemacht. Diese Publikationsart erlaubte eine erheblich schnellere Veröffentlichung, die Möglichkeit kritisierender Stellungnahmen sowie ergänzende Anschlußberichte. Auch

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

632

kleinere Fortschritte, die keine Buchveröffentlichung gerechtfertigt hätten, konnten nun sofort verbreitet und diskutiert werden. Der technische Fortschritt wurde dadurch erheblich beschleunigt. Man kann annehmen, daß spätestens mit Beginn des 19. Jahrhunderts die technische Entwicklung eng an die geschriebene Sprache gebunden war. Kein Techniker, der auf der Höhe der Zeit seiner Disziplin sein wollte, konnte auf das Studium technischer Zeitungen und Zeitschriften mehr verzichten. Dies galt besonders für den industriellen Bereich, da hier sehr bald der konkurrenzbedingte Zwang zur stetigen technischen Innovation einsetzte. Auch die Öffentlichkeit konnte nun an der technischen Diskussion teilnehmen, weil die populären Zeitungen Neuerungen und Erfindungen begeistert vorstellten und feierten. Insgesamt wird die Produktion und Rezeption geschriebener Sprache im Bereich der Technik zur notwendigen Voraussetzung von Entwicklung und Innovation, da die Komplexität und Vielfalt des Erfahrungsmaterials nur noch mit Hilfe dauerhafter Fixierung, Verarbeitung und Planung effektiv genutzt werden kann.

5.

Schriftlichkeit und Technik in der Gegenwart

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts fördert die geschriebene Sprache die technische Diskussion und die rasche Ausbreitung technischer Innovationen. Die Techniker selbst, soweit sie nicht publizierten oder lasen, konnten immer noch weitgehend auf geschriebene Sprache verzichten. Sie hatten für ihre Zwecke ja ihre eigenen graphischen Systeme. Allerdings wurden die Techniker in industriellen G roßunternehmen schon bald zur Produktion zweier schriftlicher Textsorten genötigt. Sie konnten dem Firmeninhaber nun nicht mehr sagen und zeigen, was sie machten und machen wollten, sie mußten für ein anonymes Aufsichtsgremium technische Berichte und Anträge verfassen. Es muß aber gesagt werden, daß bis heute an die sprachliche Qualität dieser Textsorten keine hohen Ansprüche gestellt werden. Vor allem aber gab es bis dahin kaum ein technisches Produkt, für das der Techniker einen geschriebenen Text verfassen mußte, damit sein Benutzer überhaupt damit umgehen konnte. Viele Produkte bedurften einfach keiner Erklärung, und der Käufer einer Maschine oder

eines technischen G erätes wurde vom Hersteller oder Händler ausführlich in den Umgang damit eingewiesen. Selbst der gesprochenen Sprache kam dabei nur eine bedingte Rolle zu. Der meist nicht sehr eloquente Techniker zeigte, machte vor, demonstrierte. Rationalisierung, Massenproduktion, große unüberschaubare Absatzmärkte, anonyme Vertriebswege und komplizierter werdende Produkte stellten die Techniker vor zwei neue Aufgaben, die nur mit Hilfe des geschriebenen Repräsentantensystems bewältigt werden konnten. Neben der Vereinheitlichung der technischen G eräte und Hilfsmittel mußten auch die entsprechenden Benennungen vereinheitlicht werden, der Zwang zur Normung umfaßte also Wörter und Sachen. Und zweitens, da Techniker und Anwender kaum mehr in direkten Kontakt kommen konnten, mußte der Techniker dem Anwender schriftlich den Umgang mit dem jeweiligen technischen Produkt erklären. Die Techniker waren somit genötigt, sich mit Fragen auseinanderzusetzen, welche die Sprache selbst, die Sprachverwendung und Sprachgestaltung betrafen. 5.1. Terminologie und Normung Dabei stellten sie rasch fest, daß die Sprache anderen Bedingungen und Regeln als die Technik unterliegt. Synonyme, Homonyme, Mehrdeutigkeiten und Ungenauigkeiten erschwerten die Aufgabe der Normung erheblich. Die Techniker waren unzufrieden mit der Sprache: So stellen die modernen Sprachen noch jetzt den primitiven Zustand dar, dem etwa ein Fußweg durch den Urwald vergleichbar wäre. Alle Zufälligkeiten der früheren Entstehung und Umbildung, alle Unbequemlichkeiten aus einer Zeit, welche die Bedürfnisse der unseren noch gar nicht kennen konnte, werden mit der Hingabe zu konservieren versucht, die um so leidenschaftlicher ist, je ungenügender die sachlichen G ründe sind, auf die man sich stützt. (Ostwald 1911, 15 f)

Die Sprache müsse streng auf den Boden der Technik gestellt werden, sie müsse den Anforderungen der Zeit angepaßt werden. Es wurden private und staatliche Institutionen geschaffen, die diese Aufgabe übernehmen sollten. Bereits 1901 entstand in den USA das „National Bureau of Standards“, welches seitdem als Bundesbehörde für Sach- und Sprachnormung gleichzeitig zuständig ist. In Deutschland bzw. im deutschen Sprachraum arbeitet seit 1917 der „Normalienausschuß für den Maschinenbau“ (zunächst umbenannt

48.  Schriftlichkeit und Technik

in „Normenausschuß der deutschen Industrie“, seit 1926 „Deutscher Normenausschuß, DNA“) als unabhängige Körperschaft. Der DNA gibt durch Normblätter die bekannten „DIN“-Normen heraus (Abkürzung für „Das Ist Norm“ bzw. früher „Deutsche Industrie Normen“), deren Einhaltung jedoch auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruht. Betroffen von der Sprachnormung sind in erster Linie Wörter (auch Abkürzungen usw.), sehr selten komplexere sprachliche Einheiten. Der Normung unterzogen werden Bezeichnungen, die bereits innerhalb eines bestimmten Verkehrsraumes (eines Unternehmens, einer Branche, einer Region) G eltung besitzen; selten werden neue Wörter geprägt. Ziel ist es dann, Einheitlichkeit für einen größeren G eltungsbereich (Staat oder Sprachraum) zu erlangen. Die normenden Institutionen sondern überflüssige Synonyme aus und „transformieren“ die übriggebliebenen Wörter mittels Definition und Systematisierung in Termini, wobei die ehemaligen Wörter ihre ursprünglichen Vieldeutigkeiten und Ungenauigkeiten zumindest teilweise verlieren: Der Terminus ist als G lied der Terminologie leichter faßbar und bestimmbar als das Wort, denn seine Bedeutung ist der umrissene Begriff oder ein G egenstand der Außenwelt, und seine Ordnung ist das terminologische System (Feld). (Ischreyt 1965, 134)

Die Erfolge der normenden Institutionen auf dem G ebiet der Sprache sind schwer einzuschätzen. Weitgehend übernommen werden die Vorschläge oder Anweisungen von Lehrbüchern, wissenschaftlichen Publikationen, staatlichen oder staatsnahen Einrichtungen (Post, Eisenbahn usw.) und G roßunternehmen. Insgesamt kann also eine Verbreitung angenommen werden, die auch eine Ausstrahlung auf andere G ebiete hat. Allerdings sind die Erfolge der Sprachnormung sicherlich geringer als auf dem G ebiet der Sachnormung. Kaum ein Papierhersteller käme heute auf die Idee, andere Papierformate als die in den DIN-A Beschreibungen angegebenen Formate auf den Markt zu bringen, obwohl er es dürfte. Bei den Benennungen behalten sich jedoch viele Produzenten traditionelle oder werbeträchtige Namen vor. Noch geringer dürften die Normungserfolge in den gesprochenen Fachsprachen der jeweiligen Technikzweige sein. Viel diskutiert wurde in den 80er Jahren die DIN-Vorschrift für die Benennung von Schraubenziehern. Während der DINgerechte Terminus Schraubendreher immerhin in einigen technischen Lehrbüchern verwendet wurde, blieb der traditionelle Ausdruck

633

auf allen Ebenen der mündlichen Kommunikation erhalten. Technische Sprachnormung ist also in erster Linie eine Angelegenheit der geschriebenen Sprache. Im Rahmen der Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen kommt der über Sprach- und Staatsgrenzen hinausgehenden Normung eine besondere Bedeutung zu. Ansätze und Bemühungen zur internationalen Koordination gab es bereits in den zwanziger Jahren, der nationalen oder sprachraumangepaßten Normung vergleichbare Erfolge konnten aber bisher nur auf wenigen G ebieten erzielt werden. Eine führende Rolle nehmen hier die verschiedenen Institutionen der EG ein, ansonsten sind vor allem mehrsprachige Wörterbücher verschiedener Technikzweige das Ergebnis dieser internationalen Zusammenarbeit. 5.2. Transferprobleme Möglicherweise war es für Techniker schon immer schwierig, Nichttechnikern technische Zusammenhänge und Fertigkeiten sprachlich zu übermitteln. Jedenfalls liefert jeder Automechaniker, den man nach Einzelheiten eines Motorenproblems fragt, ein Indiz für diese Vermutung. Der Zwang aber, weitgehend unbekannten Anwendern technischer Produkte auf schriftlichem Wege Anweisungen und Erklärungen zu übermitteln, stellt noch heute Techniker vor unüberwindliche Probleme. Und es ist eine Binsenwahrheit, daß die meisten technischen Dokumentationen (= Fachausdruck für G ebrauchsanleitungen, Reparaturhinweise, Sicherheitsvorschriften usw.) vom Standpunkt der Anwender aus gesehen unverständlich sind. Die Ursachen für die Unverständlichkeit technischer Dokumentationen sind vielfältig. Fachausdrücke werden über die gesamte Produktentwicklung vom Pflichtenheft bis zur G ebrauchsanweisung durchgehend unerklärt verwendet. Denk- und Handlungsschritte, die dem Techniker selbstverständlich erscheinen, werden überhaupt nicht erwähnt. Besonders gern versuchen Techniker jedoch, mit ihren eigenen Repräsentationssystemen technische Zusammenhänge darzustellen. Nur Technikern verständliche Piktogramme und Zeichnungen werden ohne geschriebene Sprache und somit unerläutert benutzt, wobei nicht beachtet wird, daß die Entschlüsselung der Repräsentanten an einen gemeinsamen Erfahrungshorizont gebunden ist. Da aber eine fehlerhafte oder unverständliche Dokumentation

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

634

unmittelbare Auswirkungen auf die Brauchbarkeit und damit die Qualität eines Produktes haben kann, führte diese Aufgabe des Technikers schon immer zu Konflikten zwischen Anwender, Handel, Produzent und Techniker. Zu einer nenneswerten Zusammenarbeit mit sprachlich orientierten wissenschaftlichen Disziplinen ist es jedoch erst in den letzten zwanzig Jahren gekommen. Pädagogik, Psychologie und Rechtswissenschaft waren die ersten Disziplinen, die sich mit Fragen der technischen Dokumentation auseinandersetzten, wobei es bis heute zumindest in G roßbetrieben üblich ist, alle technischen Texte auf ihre juristische Unbedenklichkeit hin zu überprüfen. Die Psychologie schließlich entwickelte das Verständlichkeitsmodell, welches bis heute in der Praxis mit Abstand am häufigsten rezipiert und angewendet wird. Es handelt sich um das sogenannte „Hamburger Modell“ von Langer, Schulz von Thun und Tausch (1974), welches in mittlerweile vielen Variationen und Ableitungen als das sprachliche Rüstzeug vieler Techniker angesehen werden kann. Die Autoren ermittelten auf empirischem Wege als Dimensionen der Verständlichkeit geschriebener Texte „Einfachheit“, „G liederung“, „Kürze“ und „Stimulanz“. Trotz der offensichtlichen Brauchbarkeit dieses Modells leidet es darunter, daß andere Dimensionen einfach mitgedacht werden müssen. Zumindest fehlen „Natürlichkeit“, „Richtigkeit“, „Vollständigkeit“ und „Zielwirksamkeit“, denn sonst könnten mit dem Modell völlig unsinnige Texte hergestellt werden, die aber verständlich genannt werden müßten. Die Sprachwissenschaft beobachtet zwar im Rahmen der Fachsprachenforschung schon seit längerer Zeit die Sprache der Techniker (vgl. z. B. Fluck 1976), doch stand bei ihr in der Regel ein deskriptives (seltener didaktisches) Interesse im Vordergrund. Erst seit wenigen Jahren werden Versuche unternommen, linguistische Methodiken und Verfahren für den Transfer technischen Wissens nutzbar zu machen. Insbesondere die Arbeiten von G rosse & Mentrup (1982) haben hier Pionierarbeit geleistet. Seit einigen Jahren ist es jedoch zu einem regen Austausch zwischen Sprachwissenschaft und Technik gekommen, und es ist inzwischen nicht mehr ungewöhnlich, daß Techniker und Linguisten auf Tagungen und Kongressen gemeinsam nach Lösungen für Transferprobleme (aber auch für Normungsprobleme) suchen.

6.

Ausblick

G eschriebene Sprache hat also in der Technik immer mehr Funktionen eingenommen, obwohl andere Formen der Schriftlichkeit nach wie vor eine dominierende Rolle spielen. Da die geschriebene Sprache nun auch von den Technikern effektiv genutzt werden muß, sind diese gezwungen, sich zukünftig intensiver mit ihren Funktionen und Wirkungen auseinanderzusetzen. Das tradierte Unbehagen der Techniker der geschriebenen Sprache gegenüber führt gelegentlich zur Suche nach neuen Repräsentationssystemen, die der modernen technischen Entwicklung angepaßt sind. Elektronische Datenverarbeitungsgeräte werden hier an erster Stelle genannt. Doch wechselt mit dem Übergang vom Papier zur Festplatte nur das Material (vgl. Feldbusch 1988), Funktionen und Probleme der geschriebenen Sprache bleiben unverändert. Der Sprachwissenschaft erwächst hier im Bereich der Technik ein neues anwendungsorientiertes Aufgabenfeld.

7.

Literatur

Bausch, Karl-Heinz, Schewe, Wolfgang & Spiegel, Heinz-Rudi (ed.). 1976. Fachsprachen. Terminologie, Struktur, Normung (= DIN-Normungskunde 4). Berlin, Köln. Borst, Arno. 1979. Lebensformen im Mittelalter. Frankfurt/M./Berlin/Wien. Feldbusch, Elisabeth. 1985. G eschriebene Sprache. Untersuchungen zu ihrer Herausbildung und Grundlegung ihrer Theorie. Berlin, New York. —. 1988. G eschriebene Sprache im Computerzeitalter. In: Weber, Heinrich & Zuber, Ryszard (ed.), Linguistik Parisette. Tübingen, 291—298. Fluck, Hans-Rüdiger. 1976. Fachsprachen. Einführung und Bibliographie. München. G rosse, Siegfried & Mentrup, Wolfgang (ed.). 1982. Anweisungstexte. Tübingen. Ischreyt, Heinz. 1965. Studien zum Verhältnis von Sprache und Technik. Institutionelle Sprachlenkung in der Terminologie der Technik. Düsseldorf. Kovács, Ferenc (Red.). 1989. Wirtschaftswissenschaften, Terminologie, Fachsprache (= Lingua 803). Budapest. Langer, Inghard, Schulz von Thun, Friedemann & Tausch, Reinhard. 1974. Verständlichkeit in Schule, Verwaltung, Politik und Wissenschaft. München, Basel.

49.  Writing and Industrialization

Leroi-G ourhan, André. 1964. La geste et la parole. Technique et langage. Paris [dtsch. Übersetzung: Hand und Wort. Frankfurt am Main 1988]. Ostwald, Wilhelm von. 1911. Sprache und Verkehr. Leipzig. Piirainen, Ilpo T. 1989. Historizität der Fachsprachen am Beispiel der deutschen Bergbausprache. In: Laurén, Christer & Nordman, Marianne (ed.), Special Language. From Humans Thinking to Thinking Machines. Clevedon, Philadelphia, 80—88.

635

Pogarell, Reiner. 1988. Linguistik im Industriebetrieb. Eine annotierte Auswahlbibliographie. Aachen. Riché, Pierre. 1981. Die Welt der Karolinger. Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Cornelia und Ulf Dirlmeier. Stuttgart. Wilsdorf, Helmut. 1977. Technik. In: Irmscher, Johannes (ed.), Lexikon der Antike. Wiesbaden, 558—559.

Reiner Pogarell, Paderborn (Deutschland)

49. Writing and Industrialization 1. 2. 3. 4.

1.

Assumptions about literacy and industrialization Historical studies of the relation between writing and industrial development Functional roles for literacy in industrial contexts References

Assumptions about literacy and industrialization

It is a standard assumption in literate societies that levels of literacy in the state determine the economic productivity of that society. With the goal of a literate citizenry, free, universal public education has been government policy for well over a century in western democracies. Developing countries, too, frequently set the goal of a literate citizenry high in their priorities. Socialist movements of the 20th Century, whether in the Soviet Union, Cuba or Nicaragua, were accompanied by intensive programs to make everyone literate (→ art. 66, 68). An UNESCO policy document (1975) described literacy as crucial to “the liberation and advancement of man”, and initiated a plan for the eradication of world illiteracy by the year 2000 (→ art. 64). Modern western democracies aspire to eradicate illiteracy as a means of solving a range of other social problems such as poverty and unemployment and the schools are routinely charged with upgrading the literacy standards of their students in anticipation of the requirements of the work force (→ art. 73). These beliefs find expression in the policy documents and in the editorial pages of many, perhaps most, newspapers. Canada’s national newspaper is typical in asserting that “mal-

nutrition, ill-health and illiteracy form a triple scourge for developing nations,” that the illiterate are doomed to “lives of poverty and hopelessness” because they are “deprived of the fundamental tools to forge a better life,” primarily literacy, that “illiteracy is a $2-billion drag on the economy of Canada” and that “the social costs are enormous” (Globe and Mail, Oct. 13, 14, 1987). Belief in the importance of literacy has come to so dominate common consciousness that even a small decline in spelling-test scores is seen as a threat to the welfare of the society. Most literate peoples see literacy as central to both our economic prosperity and their conception of themselves as cultured, indeed as civilized, people. There is no question that literacy plays an important role in modern industrialized societies. Some 29% of the United States’ gross national product arises from “knowledge industries” which are directly tied to high levels of literacy (Miller 1988). And a 1980 survey of workers across an extremely wide range of occupations found that nearly 99% participate in some form of reading every day, the daily average being some two hours (Mikulecky 1982). Although literacy plays a central role in modern industrial societies it is not clear what role literacy and writing played in the evolution of such a society or the functions that it continues to serve in those societies. Literacy may contribute to industrial development in either of two ways. First, it may provide increased human talent which leads to increased productivity. Intellectual resources are now considered in most industrial societies to be as important to productivity as material re-

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

636

sources. Literacy embodied in higher education has become the primary means of judging talent and of assigning people to positions in the work force. Second, literacy permits the organization of complex processes of production involving both planning, resource management, and human resource management. The complex activities characteristic of modern societies whether in the manufacture of goods or the provision of services are unthinkable without the diverse forms of writing available whether in texts, manuals, blueprints, or profit and loss projections. But writing and literacy may play a role in society in a third way, namely, as a means of social control. Historically, writing has accompanied the formation of larger social structures whether in the form of cities or empires. The consequence is that of binding individuals into complex social structures involving the division of labor and specialization of functions along with the redistribution of power. For this reason Levi-Strauss sees writing as a means of “enslavement”: It seems to favour rather the exploitation than the enlightenment of mankind. This exploitation made it possible to assemble workpeople by the thousand and set them tasks that taxed them to the limits of their strength. If my hypothesis is correct, the primary function of writing, as a means of communication, is to facilitate the enslavement of other human beings. The use of writing for disinterested ends, and with a view to satisfactions of the mind in the fields either of science or the arts, is a secondary result of its invention — and may even be no more than a way of reinforcing, justifying, or dissimulating its primary function (1961, 291—292).

Others, such as G ellner (1990) see this redistribution of social roles as instrumental to the achievement of differentiated and cooperative social goals. Still others note how literacy is used to legitimize an unequal distribution of material and cultural goods. G raff (1986) has examined the role of literacy and schooling in forming and maintaining social stability particularly in periods of massive social change such as the transition from preindustrial to industrial societies. De Castell, Luke & MacLennan (1986) point out how this can happen. Literacy and schooling allow the standardization not only of language and procedures for doing things but also the “canon,” the body of knowledge taken as authoritative in society. All members of the society tend to defer to the authority of that canon and thereby preserve the social order.

2.

Historical studies of the relation between writing and industrial development

Historical research has shown that there is a close relation between literacy and commercial and industrial development. Cippola (1969, 8) found that “historically it appears that the art of writing is strictly and almost inevitably connected with the condition of urbanization and commercial intercourse.” The correlation invites the inference that literacy is a cause of development, a view that underwrote the UNESCO’s commitment to the “eradication of illiteracy” by the year 2000 as a means to modernization (Graff 1986). Yet in spite of the almost universal belief in the importance of literacy for industrial development the notion that there is a causal relation between the two has not been sustained by recent historical research. G raff (1979; 1986) reviewed the relationship between popular literacy and economic development from the Middle Ages through the 19th Century and concluded: Contrary to popular and scholarly wisdom, major steps forward in trade, commerce, and even industry took place in some periods and places with remarkable low levels of literacy; conversely, higher levels of literacy have not proved to be stimulants or springboards for ‘modern’ economic developments. (1986, 76)

Early industrialization was little dependent upon literacy or the school; the demands for labor were not intellectual but physical. In some cases industrialization reduced opportunities for schooling as when child labor was exploited and as a consequence rates of literacy fell. G raff (1986) has summarized these relations as follows: In much of Europe, and certainly in England — the paradigmatic case — industrial development (the “First Industrial Revolution”) was neither built on the shoulders of a literate society nor served to increase popular levels of literacy, at least in the short run. In other places (typically later in time, however), the fact of higher levels of popular education prior to the advent of factory capitalism may well have made the process a different one ... Literacy, by the 19th century, became vital in the process of “training in being trained.”

A similar point has been made in regard to the lack of scientific and economic development in other societies. Attempts to explain the low levels of industrialization in non-western countries by appeal to low levels of literacy have not stood up to close scrutiny. In

49.  Writing and Industrialization

China the number of highly literate people always greatly exceeded the number of employment opportunities available (Rawski 1978) and in Mexico while literacy levels have been found to be related to economic growth those effects were restricted largely to urban areas and to manufacturing activities (Fuller, Edwards & G orman 1987). Thus it has been impossible to state clear empirical relations between writing, literacy and industrialization. Literacy has played a critical role in some contexts and little role in others.

3.

Functional roles for literacy in industrial contexts

In view of the diverse relations between literacy and industrialization it is easy to overstate or misstate the functionality of literacy. Literacy is functional, indeed advantageous, in certain managerial, administrative and an increasing number of social roles. But the number of such positions which call for that level or kind of literacy is limited. Literacy is functional if one is fortunate enough to obtain such a position and not if not. Other, more general, functions served by literacy depend on the interests and goals of the individuals involved and the social opportunities available. To understand the role of writing in industrialization it is necessary to distinguish the variety of roles that writing and literacy may play. Industrialization depends upon a high degree of division of labor and of reconceptualizing a complex process into autonomous constituents. The kind of analysis required for such reconceptualization is plausibly related to writing. A modern flow-diagram, a product of writing, is an explicit representation of the kind of conceptualization involved in planning any industrial activity. Any detailed planning involving multiple interdependent constituents would appear to depend heavily upon the availability of writing. The division of labor involved in industrial activity is along functional lines. Each role makes distinctive use of writing. Planners, designers, managers, and supervisors make different use of writing than do the workers on the shop-room floor. To illustrate, the draftsman who prepares the blueprint requires somewhat different literacy skills than the builder using the blueprint. Other roles may make little or no use of written language. It is tempting to think of these diverse roles

637

as simply “levels” of literacy from simple to complex, for example. However, it is more appropriate to think of them in terms of function, namely, the goal to be served, resources available, and the knowledge of how to use the resources to achieve the goal. That is, the depth of understanding may vary more than the literacy levels themselves. Such considerations make it impossible to define any one kind of literacy as “functional” (Heap 1990). Studies of the use of writing in the work place (Mikulecky 1982) have shown that most of the roles in an industrial economy involve some use of writing. Workers at all levels of complexity from short-order cook to corporate president have been found to read materials of some form for some two hours per day. This reading is done increasingly from computer screens. However, it is also the case that the ability to read texts and documents of various sorts depends crucially upon the knowledge of the domain that the reader brings to bear on the document. It is a vastly different matter to read a blueprint than to read a pattern book or a philosophical essay. When errors in reading occur in the work place, the errors tend to be errors of interpretation rather than simple errors of decoding. Errors in interpretation result from incomplete understanding rather than from limited basic literate abilities (Scribner 1986). Such considerations have led to an increased concern with “functional” literacy, competence with the written documents likely to be confronted in one’s daily working and personal life. The concept of functional literacy is important in that it acknowledges what literacy is used for. The limitation of the concept is in the assumption that some kinds of competence are functional for everyone. What was functional for a person in Reformation G ermany who wished to read the Bible for himself is not necessarily functional for someone who is to read special order codes on an assembly line. Industrial development depends upon writing, then, in the planning, preparation and implementation of complex specialized activities but it does not necessarily depend upon a high level of literacy on the part of the work force. This would account for the low and indirect relation between the level of literacy in the society as a whole and industrial development. Indeed, some historians have argued that increasing levels of literacy are a product of industrial growth rather than the

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

638

cause of it. Increased productivity of workers, produced by industrialization, allows for increased wealth and leisure, leisure which is often devoted to reading. Historians have isolated several factors that contribute to the rise of literacy in a society including urbanization, availability of written materials, functionality in the society, leisure, and beliefs regarding the importance of reading (Harris 1989). Industrialization both depends upon and fosters the development of literacy. By making literacy functional to at least some of the specialized roles in industrial production it tends to contribute to the growth of literacy in a society for these roles come to be assigned increasingly on the basis of literate competencies. As industrial activities become increasingly based on information technology, the types and levels of literacy required for both designers and workers has begun to change, a change reflected in the increasing concern with the enhancement of literacy in developed societies.

4.

References

de Castell, Suzanne, Luke, Allan & MacLennan, D. 1986. On defining literacy. In: de Castell, Suzanne, Luke, Allan & Egan, Kieran (ed.), Literacy, society and schooling: a reader. Cambridge. Cipolla, Carlo M. 1969. Literacy and development in the West. Harmondsworth. Fuller, B., Edwards, J. H. & G orman, K. 1987.

Does literacy spark economic growth? In: Wagner, D. (ed.), The future of literacy in a changing world. New York. Gellner, E. 1990. Plow, sword, and book. London. G raff, Harvey J. 1979. The literacy myth: Literacy and social structure in the nineteenth-century city. New York. —. 1986. The legacies of literacy: Continuities and contradictions in Western society and culture. Bloomington. Harris, William V. 1989. Ancient literacy. Cambridge, Mass. Heap, J. 1990. Effective functioning in everyday life: A critique of concepts and surveys of functional literacy. In: Norris, S. & Phillips, L. (ed.), Foundations of literacy policy in Canada. Calgary. Levi-Strauss, Claude. 1961. Triste tropiques. New York. Mikulecky, L. 1982. Job literacy: The relationship between school preparation and workplace actuality. Reading Research Quarterly 17, 400—419. Miller, G eorge. 1988. The challenge of universal literacy. Science 241, 1293—1299. Rawski, E. 1978. Education and popular literacy in Ch’ing China. Ann Arbor. Scribner, Sylvia. 1986. Thinking in action: Some characters of practical thought. In: Sternberg, R. J. & Wagner, R. K. (ed.), Practical intelligence. Cambridge. UNESCO. 1975. Final report for the International symposium for literacy. Persepolis, Iran.

David R. Olson, Toronto (Canada)

50. Writing and Education 1. 2. 3. 4. 5.

1.

Introduction Academic discourse and essayist literacy Academic discourse and discourses of the Other Conclusion: Future research References

Introduction

Most people believe that children come to school to learn to read and write so that they can then use reading and writing in order to master complex knowledge from many fields. In fact, schools and universities are often perceived as the major — if not only — social institutions assigned the task of transferring

complex knowledge in systematic and methodical ways. This perceived role for schooling has led some researchers to argue that formal education takes place in an area of conflict between spoken and written language (e. g., Olson 1977 a, b). Yet even children who cannot read begin school with a great deal of sophisticated knowledge about language and literacy acquired through daily experience as they grow up in a culture (cf. studies in G oelman, Oberg & Smith 1984; Schieffelin & G ilmore 1986). Consequently, the area of conflict is far larger than the complicated relationship between spoken and written language, the processes of speaking and writing, or orality and literacy. Rather, it extends to the inter-

50.  Writing and Education

action of these differences with the often competing norms of the home community and the school for evaluating such varied matters as effective communication, educational success, and the appropriate use of standard and nonstandard linguistic varieties. — Thus, those wishing to understand the nature and role of writing in education must look far beyond the texts read or produced in school contexts. They must also consider the kinds of spoken and written discourse school requires and the relationships between these kinds of discourse and the patterns of language use that students at all levels bring to the classroom with them. Consequently, this article focuses on two major topics. First, it considers our growing understanding of the nature of both spoken and written language in school contexts and the extent to which these ways of using language can be seen as deriving from what has been termed “essayist literacy.” Second, it attempts to articulate some of the ramifications of privileging essayist literacy and the discourse practices it encourages to the exclusion of other ways of using spoken and written language. Specifically, it evaluates the extent to which the exclusionary nature of academic discourse helps account for the school’s inability to succeed at its assigned tasks. — In order to investigate these two topics, this article first provides information about research from the United States on language in educational institutions, much of which has focused on spoken and written language in the early primary grades or essay writing at the university level (1.1.). Next, it articulates the relationship between academic discourse and essayist literacy (2.) and considers the conventionalized nature of this kind of discourse and literacy (2.1.). It then demonstrates how an understanding of hyperliteracy, the goal of academic discourse, accounts for the failure of some researchers’ efforts to draw a strong dichotomy between spoken and written language (2.1.1.). Next, it shows that although the characteristics of academic discourse are most evident at the university level, initiation into this discourse begins with the uses of spoken and written language required in primary schools (2.2.). Following this discussion of language use in school, the article examines the relation between academic discourse and discourse practices found outside the school (3.) by considering first the ways in which school fails to take into account the knowledge about language and literacy children bring to school

639

(3.1.) and second the values school and society attribute to academic discourse. Section 4 concludes the article by offering directions for future research. The focus of the article will be on the situation found in the United States. 1.1. Research on language and writing in school settings in the U. S. Research on writing, literacy, and schooling in the United States has concentrated largely on the extreme ends of the educational process, focusing on the initial introduction to formal training in literacy during the early years and the specific kinds of writing required at college and university. Research on childhood socialization into schooling, language, and literacy originally focused on the register of “teacher talk” and other institution-specific routines or norms for using language in the classroom (Cazden, John & Hymes 1972; Cazden 1988) and the degree to which these ways of using spoken language foster or limit the participation of children from a variety of social, economic, and ethnic backgrounds. More recently, links have been demonstrated between these ways of using spoken language and access to education in the written language (Cook-G umperz 1986; Michaels 1991). Much of this research, sociolinguistic or ethnographic in nature, has been influenced by the work of Dell Hymes (1974, 1981) and John G umperz (e. g., 1982). — In contrast, the research on writing and teaching writing in higher education has a different history, drawing on the Western rhetorical tradition, cognitive psychology, linguistics, and literary criticism and theory (Bizzell & Herzberg 1991; Lindemann 1987). In the United States, unlike many countries, courses in written composition are required at the undergraduate level in colleges and universities, which are attended by a wide spectrum of the population. These courses attempt to help students develop the skills necessary for the essay writing required during their university careers. Even though the focus of these courses is no longer the interpretation of literary texts, the courses themselves are usually housed in English departments, largely for historical reasons. With rare exception, they are not taught as individualized tutorials but in classes of twenty to thirty students, some of whom are increasingly likely to be nonnative speakers of English. At larger universities with postgraduate programs, such courses are usually taught by graduate stu-

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

640

dents in order to pay for their education, by part-time faculty, and by the few professors specializing in the field of composition and rhetoric. At smaller schools, they are often taught by faculty trained in literature. Most colleges and universities currently have special remedial classes or programs for basic writers, students who need additional, intensive practice in essay writing early in their college career (Bartholomae 1985; Rose 1989; Shaughnessy 1977). Within the past decade, a growing number of schools have instituted programs in Writing-across-the-Curriculum; these programs are devoted to training students in the specialized discourse conventions of their chosen field of study (Russell 1991). Research in these areas — college-level writing courses, basic writing, and Writing-acrossthe-Curriculum — complements research on the acquisition of written language by children, providing an important perspective on how the nature of writing changes across a student’s educational career (and to some extent the life span) and especially the extent to which the acquisition of writing and literacy skills is similar for students from different kinds of social and educational backgrounds and for students specializing in different fields of study.

2.

Academic discourse and essayist literacy

The research on school-based writing in the United States clearly demonstrates the existence of a poorly understood but nevertheless real construct that researchers concerned with university-level writing courses often call academic discourse. G enerally, this term refers to the ways of using written and spoken language expected and rewarded in higher education. From a sociolinguistic perspective, academic discourse is a register (Halliday 1989); among the characteristics of this register are (i) the use of standard phonology or spelling and complex, hypotactic syntax; (ii) the explicit marking of logical relationships among propositions; and (iii) particular strategies for structuring the presentation of information and providing warrants for claims made. There is great debate among researchers about the extent to which academic discourse, and especially written academic discourse, parallels uses of writing in other professional contexts, such as law, business, medicine, journalism, and engineering. Obviously, members of each of these groups possess spe-

cialized kinds of domain knowledge, and the texts they produce differ from one another in crucial ways. Yet, during the process of schooling, these highly educated members of the culture have developed certain shared attitudes towards texts. In other words, they have certain expectations about extended written texts and their nature. Many of these expectations can be subsumed under what Scollon & Scollon (1980, 26) termed essayist literacy, which “involves the ability to read and write material that is decontextualized, high in the proportion of new information to old information, and internally logical. The relation of the text to the situation is deemphasized and a reading ‘public’ or at least a partially unknown audience is assumed, and therefore both readership and authorship are fictionalized”. To a great extent, then, learning to write in school settings at any level means learning to produce texts of this genre, and many of the activities that take place there directly or indirectly foster this goal. 2.1. Essential differences or conventionalized use? Despite the generalized expectations about texts that highly educated readers and writers share, the specific expectations they bring to texts are influenced largely by the discourse communities to which they belong (e. g., Bazerman 1988; Simon 1989). (The notion of discourse community derives from work on speech communities (e. g., Hymes 1974), interpretive communities (Fish 1980), and philosophical communities (Rorty 1979).) Many (e. g., Brodkey 1987) would argue that such conventionalized expectations about uses of spoken and written language ultimately constitute a given discipline. Similarly, successful acquisition of these conventions and hence membership in a community require extended opportunities to produce, analyze, and discuss texts characterized by such conventions. — Examining the nature of these conventions is especially important because it helps account for the sources of readers’ expectations about texts they read and writers’ schemata for producing the texts they write. Specifically, it aids us in understanding the degree to which such conventions result from the nature of written language, literacy in general, the specialized literate practices of a particular discourse community, or the language socialization that takes place during schooling. In his discussion of the asymme-

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tries between the acquisition of speech and print literacy, Perfetti posited four hypothetical observation points for the latter process: beginning literacy, intermediate reading, adult skilled reading, and hyperliteracy. He characterized this last stage as one in which “print experience has exceeded speech experience,” “speech experiences have become more like print,” and “speech is slightly more similar to print than print is to speech,” a “reversal of [the original] asymmetry” (1987, 359). Academic discourse clearly represents the stage of hyperliteracy. Education at the college and university level is overwhelmingly dedicated to teaching students to inhabit textual worlds, hypothetical worlds created and sustained through the language of academic discourse. As Perfetti predicted, the spoken language used in higher education is greatly influenced by the written texts produced there. Undergraduate students are encouraged to hold their own in class discussions by stating their opinions and supporting them with acceptable textual evidence, and postgraduate students in seminars and oral examinations are required to participate in the discourse of their discipline, assuming a kind of authority they do not, in fact, possess. In order to succeed, they must learn to “speak in paragraphs,” using a register inappropriate for most daily face-to-face interactions. 2.1.1. Hyperliteracy — the goal of academic discourse Considering hyperliteracy as the goal of academic discourse helps explain the failure of some researchers’ attempts to set up clear dichotomies between spoken and written language by considering only such extremes as casual conversation and highly revised, carefully edited academic prose (e. g., Olson 1977 a; Ong 1982). Far more interesting have been analyses that focused not on medium, but on factors such as the extent of planning (Ochs 1979), the interaction of oral and literate continua (Heath 1982), the commingling of the orality and literacy in particular contexts of language use (Tannen 1988), or other characteristics that distinguish among text types (Biber 1988). Such research has demonstrated that the expectations language users bring to a communicative event, whether one involving spoken language, written language, or both, extend far beyond any essential characteristics of language medium as Nystrand, Doyle & Himley (1986) make clear in their critique of Olson’s work. Similarly, research

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on collaborative writing, common in the social and natural sciences and in the workplace, illustrates the important role that talk plays in the production of collaboratively written texts (Lunsford & Ede 1990). 2.2. Socialization into academic discourse and hyperliteracy As the existence of composition courses in American institutions of higher learning demonstrates, newly arriving college or university students are not expected to have mastered academic discourse, nor are they expected to be hyperliterate. However, they are expected to have the tools necessary to acquire the ways of using speaking and writing that characterize language use in higher education. Specifically, it is assumed that they have developed a communicative repertoire — ways of using spoken and written language — broad and varied enough to aid them in learning to produce and use spoken academic discourse and that they have had certain kinds of experiences creating and interpreting texts in school settings. — The development of such a repertoire begins years earlier. Within the context of schooling, we can see its precursors in the language routines used in preschool and the elementary grades. For example, although it is 10:15 in the morning, a preschool teacher shows students a cardboard clock, sets the time to 5:45, asks “What time is it?”, receives the answer “5:45” and rewards the answer with “Very good.” The use of a question and answer format built on a sequence of three moves — initiation/ response/evaluation — characterizes much of school discourse, and such game-like performances help students rehearse many of the skills necessary for the development of essayist literacy and academic discourse. Likewise, when very young school children are asked to verbalize obvious information (e. g., the number of ducks in an illustration) or to make explicit the referents for deictic pronouns, when they are asked to pretend that classmates know little or nothing about the details of an object being described, or when they are told to focus on a single event while narrating a story, they are being coached in the ways that highly educated people structure and convey information when speaking or writing. As Michaels and her colleagues (e. g., 1991; Cook-G umperz 1986) have demonstrated, such performances are an important part of preparation for learning to read and write; more important, the likelihood of

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

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a child’s getting access to instruction in reading and writing depends largely on his or her ability to use spoken language to participate, with the teacher, in these classroom performances. Although much of the research on language in education has concentrated on young school children, similar kinds of performances, related in very complicated ways to the texts students read and write, take place even at the university level as part of socialization into academic discourse and essayist literacy (Walters 1984).

3.

Academic discourse and discourses of the Other

If children began school as tabulae rasae, if the ways of using spoken and written language associated with academic discourse and essayist literacy were found in every community, or if they were presented and taught by schools as one possible set of discourse practices, then these patterns of language use might not merit serious investigation. However, ethnographic and sociolinguistic research on language, literacy, and learning demonstrates exactly the opposite: children come to school socialized into specific ways of using spoken language, the conventions for using spoken and written language vary greatly across communities within a single culture, yet schools assume the intrinsic universality and superiority of their own conventionalized ways of using language. In fact, schools rarely, if ever, explicitly teach the patterns of language use associated with academic discourse or essayist literacy, nor does classroom practice or course content at any level generally encourage students to examine critically these discourse practices. In order to understand the consequences of this situation, we consider some of the kinds of knowledge about language and literacy children bring to school with them — knowledge usually not taken into account — and some of the ways in which school values its discourse practices uncritically. 3.1. The knowledge children bring to school By the time children arrive at school to begin formal training in written language, they have already acquired most of the grammar of the language(s) spoken in their home community. Depending on the community, the language(s), and the writing system(s) involved, the spoken variety of the language(s) they

speak may or may not resemble closely the standard, written language they seek to learn. The greater the linguistic distance between the two (Ibrahim 1983), the more likely that certain kinds of codebased problems will occur (Farr & Daniels 1986). — More complex, however, may be the distance between assumptions made by the school and the home community about the appropriate uses of spoken and written language. As part of acquiring spoken language, for example, children have learned particular ways of using language to negotiate daily life: to get a snack, to tell a story, to avoid punishment — in short, to make people aware of their wants and needs. Even if they have not mastered all of the varieties of spoken language used in their community, they can often distinguish among them in some systematic, if incomplete, way. Young school children in Tunisia, for example, usually classify languages they hear into three categories: Tunisian Arabic (their native dialect and the only variety many speak), Classical Arabic (any other variety of Arabic they hear on television, including both Modern Standard Arabic and other Arabic dialects), and French (any “foreign” language). Later, assuming that Egyptian colloquialisms heard on television are part of Classical Arabic, many of these children make mistakes in their Arabic compositions. — Similarly, children growing up in a literate community know a great deal about how their home community integrates literacy into its daily life. Although they usually arrive at school not knowing how to read or write, they may know how to hold a book so that it is right side up, how to turn the pages in the correct direction, and how to follow the text with their index finger as if reading. At a religious service I attend, I have watched a three-year old correcting a younger peer who had turned to the wrong hymn. Although neither could read the lyrics, one of the boys could correctly read the page numbers in the hymnal and had already learned that competent members of the group always locate the appropriate hymn even when they know the words to the song by heart, a literate practice that is part of the religious service. Yet literacy as promulgated through schooling rarely acknowledges such community differences in practice. — Additionally, children have learned from observation what kind of person reads or writes, when he or she is likely to do so, how he or she uses knowledge that may have been gained through writing, and

50.  Writing and Education

why. Those from certain social classes in some cultures will have seen a parent or caregiver, most likely a female, use a cookbook as a major source of information while cooking, or they will have observed a parent or older sibling, usually male, rely on instructions containing print and illustrations while assembling a new lawn mower. Those from other classes or cultures will have seen people cooking only from memory, never with a book, and using a trial-and-error method to assemble new things, ignoring written instructions if they happened to exist. In many cases, the cooking or assembling will have involved the assistance of friends or relatives and lively discussions about what should be done next. Schools, however, generally foster a private model of reading and writing that focuses on individual, text-based achievement while discouraging group negotiation of texts or tasks. — Children arriving at school may also bring with them a repertoire of behaviors and attitudes that relate in some way to literate behavior. As Heath (1983) demonstrated, children from White, Protestant, workingclass families in the American Southeast often begin school with assumptions about texts and truth because of the particular ways Bible story books and alphabet books are read in these homes. These assumptions differ markedly from those of their working-class Black classmates in whose homes children’s books are not likely to be present; they also differ from those of their middle-class classmates, Black or White, in whose homes many sorts of books designed especially for children are found. In fact, Heath documented how the discontinuities between home and school with respect to assumptions about literacy and its uses helped account for the disappointing performance and frequent failure of both the Black and White working-class students in primary and secondary schools. In contrast, the great similarities between the uses of language and literacy in the homes of the middleclass pupils and in school, an institution that is in many ways an extension of middle-class life, encouraged the success of these students. In other words, the ways of talking about texts that the middle-class children brought to school with them smoothed the transition from home to school, assisting them in their efforts to master the ways of using language associated with academic discourse and essayist literacy. — The work of Cazden, Heath, and Michaels among others has repeatedly demonstrated the ways in which children who

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do not come from middle-class backgrounds are at a disadvantage because their norms for using spoken language as well as their notions about texts, how they should be used, and how they should be constructed fail to match those required and assumed by the school. In order to succeed, these children must master new ways of using language, nearly always without explicit instruction, repress or “unlearn” ways of using language valued by the home community, and sort out exceedingly difficult issues related to language use and identity as individuals and members of various groups (Michaels 1991; Daniell in press; Walters 1992). As Brandt (1990, 109) has pointed out, it is only middle-class children who can “sustain themselves in their transition to school by clinging to language customs of family and community; this same process for others is called context-dependence, the dangerous source of certain failure”. Social class and ethnicity, phenomena that interact in complex ways in the United States, are not the only variables influencing students’ ways of using oral language and hence the likelihood that they can ultimately gain access to the power associated with academic discourse. Recent work on language and gender reminds university professors that females and males use spoken language differently and that these differences have an impact on how students are perceived, taught, and evaluated (Tannen 1991). Thus we see the ways in which academic discourse and essayist literacy can act to exclude rather than to include. 3.2. Values associated by school and society with academic discourse Perhaps in all societies with schools, formal education is generally regarded as the institution that, more than any other, corrects the inequalities of the existing social system and offers opportunities to all who participate in it. Not surprisingly, then, school and society value academic discourse and essayist literacy highly for reasons that reveal more about cultural ideology than the nature of these discourse practices. The inherent value of these ways of using language is assumed in the way that early work on ways of reasoning across cultures (Lévy-Bruhl 1910) or literacy (e. g., G oody & Watt 1963) assigned a preeminent place to the behaviors of highly educated Westerners like the authors themselves (Daniell in press; Walters 1990, 1992). Consequently, within the context of school, in-

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

644

struction takes place through academic discourse and essayist literacy without careful examination of these practices much as we look through a window at a scene, failing to notice the glass unless it is dirty. The research traditions that have most often focused attention on the glass — rather than the scene — have been the ethnographic and sociolinguistic research discussed throughout this essay and theoretical critiques of schooling (e. g., Aronowitz & G iroux 1985; Katz 1982; Ohmann 1976) often influenced by the work of such European thinkers as Bernstein, Bourdieu, Foucault, and members of the Frankfurt School. Both traditions repeatedly illustrate ways in which the practices of academic discourse and essayist literacy are associated with power and authority, with inclusion and exclusion. Additionally, writers such as Ehrenreich (1989) and G ouldner (1979) have speculated about the ramifications of these discourse practices for society at large. From a very different perspective, feminists (e. g., Cixous 1981) have pointed out the degree to which these discourse practices limit those who use them while silencing all others.

allocating functions to spoken and written language, thereby reiterating the impossibility of drawing strong dichotomies between spoken and written language on the basis of form alone. Although such research, necessarily resulting from close observation of situated individual and group practice, may become the basis for new ways of teaching writing and literacy skills, it well may not. The likelihood of such practical application of research depends largely on factors outside the classroom, including national political climate, public attitudes toward education, and the state of pedagogical theories of growth and development (Heath 1983). Regardless of the direct influence of future research on classroom practice, it will no doubt continue to demonstrate the ways in which school-based training in reading and writing take place in an area of conflict greater than the differences between spoken and written language. Ultimately, the conflicts extend beyond the classroom into the daily lives of learners, who are called upon to integrate school ways of using spoken and written language into the routines for language use they already possess by virtue of their life experience.

4.

5.

Conclusion: Future research

This article has attempted to demonstrate that the ways of using spoken and written language associated with schooling, academic discourse and essayist literacy, are finally conventionalized ways of using language. Despite their potential usefulness or efficiency, they do not represent the only possible set of discourse practices, a fact traditionally ignored by educational institutions, often at the expense of the very populations they ostensibly serve. Future research on writing in education will likely be concerned with describing in greater detail the nature of the practices associated with academic discourse and essayist literacy and the ways in which schools and universities socialize students into them. Particularly important will be finding ways of linking actual linguistic behaviors (e. g., preferred routines for turn-taking and comments about a student’s paragraph structure) with the development of assumptions about “good” or “appropriate” uses of written language (cf. Michaels 1991). Outside of educational institutions, research on various kinds of communities — socio-economic, ethnic, linguistic, occupational or professional, religious — will demonstrate the myriad ways of

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Keith Walters, Austin, Texas (USA)

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

646

51. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

1.

Schriftlichkeit und Philosophie Prolog Vom Epos zur Prosa Platons Vorbehalt gegen die Schrift Der Traum vom erfüllten Wort Von der Analytik zur Begriffsschrift Post scriptum Literatur

Prolog

Es ist ein sehr intimes Verhältnis, das zwischen Schriftlichkeit und Philosophie besteht. Denn einerseits ist das Philosophieren innig verbunden mit seinem schriftlichen Medium. Jeder philosophische Text erscheint wie eine Epiphanie der Philosophie selbst. Seine darstellerischen Anforderungen sind nichts, was der Philosophie selbst äußerlich bleiben könnte. Andererseits bleibt dieses Verhältnis im Verborgenen. Denn der Philosoph erhebt mit seinen Texten einen Erkenntnisanspruch, der auf eine Einsicht in das Wesen der Sache intendiert, die beide vom Text selbst unterschieden sind. Schriftlichkeit als Intimus der Philosophie ist deshalb schon immer ihr inimicus: geliebter G egner und entgegenstehender Freund. Seit ihren Anfängen befindet sich die Philosophie im unlösbaren Zwiespalt zwischen einem schriftfreien Zugang zu den Sachen selbst und einem Schriftgebrauch, der das Wissen an schriftliche Mittel bindet, sich in ihnen lesbar verwahrt und damit in den historischen Prozeß eines intertextuellen Philosophen-G esprächs einschreibt. Die Ideenevolution der Philosophiegeschichte hätte ohne schriftliche Fixierung nicht stattfinden können. Es gibt keine systematisch entfaltete Philosophie der Schrift. Nur als äußerliches Randphänomen taucht sie sporadisch auf, oft als unernstes „Spiel“ disqualifiziert. Und auch die tiefgreifenden Konsequenzen der Verschriftlichung des philosophischen G edankens sind nur in Ansätzen ausgelotet. Die folgenden Feststellungen können nur die Aufmerksamkeit auf eine intime, immer problematische, oft auch polemische Beziehung lenken, die heute noch genauso lebendig ist wie im Moment ihres anfänglichen Entstehens.

2.

Vom Epos zur Prosa

Die Philosophie entsteht nicht augenblicklich. Es war ein mühsamer Prozeß, in dem sie ihre

eigentümliche „diskursive Praxis“ (Foucault 1973, 171) herausbildete, in einer geschichtlichen Zeitspanne, die durch die Werke von Anaximander (611—546 v. Chr.) und Platon (427—347) umfaßt wird. Aber dennoch läßt sich dieser Prozeß rückblickend als eine einschneidende diskursive Revolution rekonstruieren. Die erhellenden Untersuchungen zur G eschichte des griechischen Denkens, orientiert an den philologischen G lanzleistungen von Diels (1879, 1903) und seinem Lehrer Zeller (1845—1852) bei der Sammlung und Ordnung eines chaotischen und verstreuten Haufens vorsokratischer „Fragmente“, haben diese Zäsur als einen Übergang vom mythischen Dichten zum rationalen Logos interpretiert und in seiner Komplexität vor Augen geführt (Jaeger 1934—1947; Jaeger 1953; G igon 1945; Fränkel 1955; Hölscher 1968; Snell 1975; Schadewaldt 1978). „Vom Mythos zum Logos“ (Nestle 1940) ist eine Standardformel der Philosophiegeschichtsschreibung. Auf der einen Seite steht die bunte Welt von göttlichen und menschlichen Abenteuern, von denen bilderreich gesungen und mündlich erzählt wird, ein bewegtes Universum von Handlungen und Ereignissen, dessen Quellen sich in minoischmykenischer Frühzeit verlieren (Nilsson 1933; Heubeck 1974). Dagegen steht auf der anderen Seite ein Kosmos, dessen Prinzipien und Ursachen (archai) es zu erkennen galt, gelenkt durch aufmerksame Beobachtung sichtbarer Naturerscheinungen und geistige Spekulation. „Peri Physeos“ ist der allgemeine Buchtitel für ein erwachendes philosophisches Denken (vgl. Schmalzriedt 1970). So umfassend und detailliert diese Wende auch untersucht worden ist, so sehr blieb ihre Erhellung doch begrenzt durch den Rahmen einer reinen G eistes-G eschichte, welche die mediale Revolution der gesellschaftlichen Kommunikation übersah, die hier am Werke war. Erst durch die bahnbrechenden Arbeiten von Parry (1928, 1971), Havelock (1938, 1963, 1976, 1982, 1992), G oody (1977) sowie G oody & Watt (1968) hat sich eine neue Perspektive auf die Anfänge der griechischen Philosophie eröffnet. Sie erscheinen ermöglicht und geprägt durch eine technologische Transformation, in der sich alphabetisiertes Schreiben von einer rein mündlich organisierten Tradition ablöst und dabei neuen diskursiven Regeln zu folgen lernt (vgl. Kullmann & Reichel 1990). Vom dichterischen Epos (von ops,

51.  Schriftlichkeit und Philosophie

die Stimme, die erst später phone heißt) zur schriftlichen Prosa: in diesem Umbruch bildet sich heraus, was wir seitdem als diskursive Praxis „Philosophie“ anerkennen. Für eine „oral-poetry-Forschung“ waren Parrys Untersuchungen der poetischen Form von Homers Dichtungen wegweisend. An seinen Epen, entstanden im 8., aufgeschrieben im 6. Jahrhundert v. Chr., konnte erhellt werden, wie das gesellschaftliche Wissen im G edächtnis gespeichert werden konnte und in einer langen Kette miteinander verflochtenen Hören-Sprechens traditions- und bewußtseinsbildend weitervermittelt wurde. Um ein soziales G edächtnis in schriftlosen G esellschaften zu stabilisieren, waren Mittel notwendig, die den psychologischen G esetzen der G öttin Mnemosyne gehorchen: regelmäßige metrische Sprechmuster, rhythmisierender Vortrag und mitschwingendes ZuhörenNachsprechen, variierende Wiederholungen und repetitive Formeln, rezitativ-rhapsodisches Vorsingen unter rituellen Bedingungen, begleitet durch das Spielen von Musikinstrumenten, all das also, was wir heute als „poetisch“ identifizieren (Lord 1960; Ong 1964, 1982; Zumthor 1983). Diesen metrisch-rhythmischen Erfordernissen fügten sich auch die formelhaften Nacherzählungen göttlicher und menschlicher Handlungen, an die man sich erinnern sollte, weil sie auch für das gegenwärtige Leben als exemplarisch bedeutsam galten. Man eignete sie sich mimetisch an und gewann so sittliche Orientierung. Mit der „Literate Revolution in G reece“ (Havelock 1982) findet eine einschneidende diskursive Umgestaltung statt. Die Einführung einer vollständigen Alphabetschrift — etwa um 720 bis 700 v. Chr. (Nilsson 1918; Carpenter 1933, 1938; → Art. 37) — machte es möglich, alles Sprechbare schriftlich zu fixieren. Die Wissensvermittlung konnte sich vom „homöostatischen“ (G oody & Watt 1986, 68; Latacz 1979; Rösler 1980), zwischen Erinnern und Vergessen spielenden Prozeß mündlicher Weitergabe von Person zu Person befreien (vgl. Kullmann & Althoff 1993). Als Effekte dieser skripturalen Ablösung lassen sich feststellen: das kulturelle G edächtnis wurde entlastet und die freigewordenen geistigen Energien konnten sich neuen Aufgaben zuwenden; die mnemotechnischen Stützen poetischer Sprechweise konnten sich durch eine schriftliche Prosa verobjektivieren lassen, die sich nicht mehr auf die mitreißende Kraft mündlichen Vortrags verließ, sondern stärker von der Sache selbst her zu argumentieren

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zwang; damit zerbrach langsam auch die eingespielte Verbindung zwischen Mythos und Wahrheit. Im Blick eines erwachenden Schriftbewußtseins, das nicht länger mimetisch eingebunden war in den präsenten Erlebniszusammenhang mündlicher Interaktion, gerieten die Epiker in den Verdacht, „Lügenschmiede“ (Heraklit, Fr. 28) zu sein. Ihre Dichtungen wurden als Fiktionen und bloße „Meinungen“ (doxai) erkennbar. Diesen Verschiebungen verdankt die Philosophie ihren Ursprung. Sie ist sophia als das G eschick, das erforderlich ist, um in einer Zeit der Krise, die das in der mündlichen Tradition erhaltene Wissen befallen hat, doch noch eine ernsthafte und bewahrenswerte Kommunikation zuverlässigen Wissens zu ermöglichen. Das erhellt sowohl die schriftstellerischen Qualitäten der „vor-sokratischen“ Prosa als auch die inhaltlichen Verlagerungen des langsam erwachenden Philosophierens, das sich seine eigene „Begriffswelt“ schuf (G adamer 1983). Stilistisch lassen die vorsokratischen Texte erkennen, wie sehr die frühen Denker des 6. und 5. Jahrhunderts eingebunden sind in „a transitional stage in the passage from proliteracy to literacy“ (Havelock 1982, 233). Ihre Texte sind eine Art verschriftlichtes Sprechen: rhythmisiert, formelhaft einprägsam, bilderreich und oft noch durchsetzt mit religiösmythischen Elementen. Aber dieser Duktus, der mehr zum Zuhören als zum stillen Lesen auffordert, zielt bereits auf ein begriffliches Denken, dem eine neue Syntax und Semantik geschaffen werden muß. Die Vorsokratiker waren zwar noch „oral thinkers“ (Havelock 1963, X), aber sie entwickelten und erprobten die Sprache für eine Zukunft, „when thought should be expressed in categories organized in a syntax suitable to abstract statement“ (ebd.). Anaximander (611—546), Schüler und „Hörer“ des Thales in Milet, bleibt in seinen Schriften noch der dichterischen Rede nahe; aber schreibend entwickelt er seine „abstrakte“ G rundsprache, deren Anfang und Ursprung (arche) sich von sinnlicher Konkretion befreit: apeiron, das Unbegrenzte, ist das G rund-Wort dieses ältesten Bücherschreibers der Philosophie, der damit zwar an die grenzenlose Unsichtbarkeit des Sprechflusses erinnern mag (vgl. Riedel 1990, 419), sie jedoch in die sichtbar begrenzte Form eines abstrakten Diskurses transformiert, der nicht mehr poetisch spricht und den G esprächszusammenhang nicht mitteilt, dem er entwächst. —

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

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Xenophanes (565—470), der noch Anaximander „gehört“ und sich als Rhapsode durchs Leben geschlagen hat, komponiert seine Texte poetisch; aber gegen die Fabeln von G öttern und Titanen setzt er die abstrakte Semantik eines „All-Einen“, das in einer prosaisch-aufklärerischen Sprache seinen Ausdruck findet. — Auch Heraklits „Logos“, an der Wende zum 5. Jahrhundert konzipiert als sinnerfülltes Wort und vernünftiges Weltgesetz, soll „gehört“ werden (Fr. 1 und 50); aber dennoch entzieht es sich der epischen Vielnamigkeit ausgesprochener Worte, sondert sich von ihnen ab (Fr. 108) und bildet einen Fixpunkt, der in allem Veränderlichen immer wieder das identisch „Eine“ sammelnd zu lesen (legein) ermöglicht. — Schließlich Parmenides: bei ihm, der die Wahrheit aus dem Munde der G öttin hört und sie in einem kunstvollen Lehrgedicht (um 480) niederschreibt, hat sich das philosophische Wissen endgültig auf die Urteilsform von Aussagen konzentriert, deren entpersonalisierte, überzeitliche und situationsenthobene Logik der Vernunft einen gangbaren Weg zum „Sein“ weist, der von den epischen Traditionen des mündlichen Erzählens und seinen Scheinwelten radikal getrennt ist.

3.

Platons Vorbehalt gegen die Schrift

Der endgültige Durchbruch zu einer vollentfalteten Schriftkultur, in der das fließende Lesenkönnen bereits im schulischen Elementarunterricht gelernt wird, findet in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts statt, besonders in Athen. Damit war die Ausbildung eines öffentlichen Publikums von Lesenden gesichert. Bücher sind auf dem Markt zu kaufen, und das schriftlich zirkulierende Wissen ist jedem frei verfügbar, der lesen kann (vgl. Kenyon 1932). Die streitbaren Sophisten wissen das ebenso zu nutzen wie Sokrates, der zwar nicht geschrieben, aber eine Methode des begriffskritischen Nachfragens entwickelt hat, die ohne Schriftlichkeit nicht ihre irritierende Raffinesse und verführerische Überzeugungskraft hätte erreichen können. Darauf kann die platonische Epistemologie aufbauen. Platons Schriften sind ein monumentales Plädoyer für das sich selbst bewußtwerdende Wissen (episteme), das auf unversöhnliche Weise mit der poetischen Sprechweise des oral-epischen Dichtens bricht. Um 427 geboren und aufgewachsen in einer literalen Kultur, deren Vorzüge er zur Ausarbeitung seiner Philosophie virtuos einzusetzen

weiß, schreibt Platon gegen alles an, was dem epistemischen Wissen noch im Wege steht, vor allem gegen die verderblichen Nachwirkungen einer mündlich überlieferten Dichtung. Attackiert werden ihr sinnlicher Bilderreichtum, ihre erzählerische Fülle, ihr mitreißender Rhythmus und ihre akustischen Effekte. Sie dienen nur dazu, auf suggestive Weise mimetische Sympathie zu evozieren und verstellen damit den Weg zu einem Denken, das befreit ist aus der Schattenwelt jener Dichtkunst, „die mit dem G ehör zu tun hat“ (Politeia 603 b). In Platons „Staat“ haben die Dichter kein Heimatrecht (Politeia, Buch X, Kap. 1—8). Ihre Poesie liefert nur Unwahrheiten, die weder ein wirkliches Wissen der Wahrheit noch ein selbstkritisches Nachdenken ermöglichen. Damit sind zugleich die beiden wesentlichen Konsequenzen der Schriftkultur herausgestellt, auf denen die platonische Philosophie ihr Ideengebäude errichten kann. Zum einen erzwingt das Schreiben eine Abtrennung des Wissenden vom G ewußten. Freigesetzt aus der Suggestion eines partizipierenden Hören-Sprechens fordert das Schreiben einen Akt der Distanzierung, der für das erkennende „Subjekt“ einschneidende Wirkungen hat. Denn es kann nun nicht mehr identifikatorisch am Interaktions- und Kommunikationsgeschehen teilnehmen, sondern sieht sich gezwungen, eine reflektierende und kritische Haltung zu jenem Wissen einzunehmen, das ihm schriftlich verobjektiviert entgegensteht. Reflexion, Kritik und Nachdenklichkeit sind Kennzeichen einer psyche, die sich in ihrer Differenz zum sprachlichen Prozeß auch über sich selbst als geistiges Selbst bewußt zu werden vermag. Die Seele tritt in einen stummen Dialog mit sich selbst ein (vgl. Sophistes 263 e) und gewinnt dabei Identität. Zum andern provoziert das schriftliche Zeichen die Suche nach einer Bedeutung, die so feststeht wie dieses selbst. Die materielle Identität des immer wieder lesbaren Wortes läßt ein bedeutetes Objekt „als solches“ (kath’ auto) denkbar werden, als ein selbständiges Etwas, das „ist“ und als solches erkannt werden kann. Während der epische Sprachgebrauch eine lebendige Erfahrung sich ständig verändernder Ereignisse, Handlungen, Situationen und Personen mitteilt und in stets neuen Kontexten zu G ehör bringt, lenkt jedes schriftliche Zeichen die Aufmerksamkeit auf das, was das Seiende als solches „ist“, das es bezeichnet, freigesetzt aus dem Fluß der Zeit. Platons hartnäckiges Nachfragen nach dem

51.  Schriftlichkeit und Philosophie

eigentlichen G egenstand „an sich“, der erkannt und sprachlich mitgeteilt werden kann, lebt von der Verobjektivierung des lebendigen Redens durch schriftliche Formen, die immer wieder als dieselben geschrieben und gelesen werden können. Angesichts dieser neuen Perspektiven scheinen Platons berühmt-berüchtigte Einwände gegen die Schrift, die er in seinem Dialog „Phaidros“ (274 b—278 b) Sokrates in den Mund legt, rückschrittlich zu sein. Schrift schwächt das G edächtnis und flößt den Seelen der Lernenden Vergessenheit ein, weil sie sich nur noch „von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden“. Sie bietet nur einen stummen Text und „stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still“. Sie ist nicht an anwesende G esprächspartner gerichtet, sondern „schweift gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht“. Und sie ist nicht in der Lage, falls sie beleidigt oder unverdientermaßen beschimpft wird, „sich zu schützen noch zu helfen“, sondern bedarf „ihres Vaters Hilfe“. Platon scheint hier ein konservatives Nachhutgefecht zu führen, das Havelock (1963, 56) als völlig „unlogisch“ disqualifiziert hat: „In fact, his preference for oral methods was not only conservative but illogical, since the Platonic episteme which was to supplant doxa was being nursed to birth by the literate revolution.“ Diese Einschätzung ist, wie von vielen Kommentatoren verdeutlicht wurde, sicher zu kurz gedacht (vgl. Derbolav 1972; Wieland 1982; G adamer 1983; G oody & Watt 1986). Auch wenn nämlich Platon ein tiefes Mißtrauen gegen den entfremdeten, äußerlichen, toten, schweigsamen und hilflosen Status des G eschriebenen hegt (vgl. auch Protagoras 329 a; Siebenter Brief 341 a—e), so favorisiert er dennoch nicht die „oral methods“ einer überwundenen epischen Tradition. Seine Kritik ist konstruktiv, indem sie vom philosophierenden Schriftsteller fordert, was er zu leisten hat, wenn er den Namen „Philosoph“ zurecht verdienen will: er muß die G renzen seiner Darstellung durchschauen und bereit sein, ihre schriftlichen Festlegungen immer wieder als solche infrage zu stellen. Das aber kann nur gelingen, wenn er aufgrund seines Wissens weiß, wovon er redet und schreibt, und als ein Freund der Weisheit über eine sachliche Erkenntnis verfügt, „welche mit

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Einsicht geschrieben wird in des Lernenden Seele, wohl imstande, sich selbst zu helfen, und wohl wissend, zu reden und zu schweigen, gegen wen sie beides soll.“ Phaidros: „Du meinst die lebende und beseelte Rede des wahrhaft Wissenden, von der man die geschriebene mit Recht wie ein Schattenbild ansehen könnte.“ Sokrates: „Allerdings, eben sie.“ (Phaidros 276 a) Dieses sokratisch-platonische Plädoyer hat zu differenten Interpretationen geführt, die sich in einem unversöhnlichen Streit befinden. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die davon ausgehen, daß Platon bei der Abfassung seiner Texte eine artifizielle Dialogform entwickelt hat, die der lebendbeseelten Rede des Philosophen einen adäquaten schriftlichen Ausdruck schaffen kann. Bereits Schleiermacher hat 1804 Platons Dialoge charakterisiert als künstlerische Versuche, seine schriftliche Belehrung „jener besseren so ähnlich zu machen als möglich, und es muß ihm damit auch gelungen sein“ (Schleiermacher 1969, 12). Dialogisch wird der Leser so geführt, daß er „entweder zur eigenen inneren Erzeugung des beabsichtigten G edankens, oder dazu gezwungen wird, daß er sich dem G efühle, nichts gefunden und nichts verstanden zu haben, auf das allerbestimmteste übergeben muß“ (ebd. 13). Die meisten Kommentatoren haben sich dieser Einschätzung angeschlossen. Wieland hat sie 1982 am eindringlichsten expliziert. Platons Dialoge „zeigen“ durch ihre künstlerische G estaltung, was sie schriftlich nicht direkt „sagen“ können. Auch wenn sich das wahre Wissen, um das es Platon geht, nicht unmittelbar als propositionaler G ehalt von Aussagen mitteilen läßt, so läßt es sich doch mit den Mitteln einer Dialogregie zeigen, ohne ins schriftlich Undarstellbare zu verschwinden. — Auf der anderen Seite stehen jene, die eine ungeschriebene Lehre Platons annehmen, die er nur esoterisch in mündlicher Lehrrede mitgeteilt haben soll, weil er jede schriftliche Darstellung philosophischer G edanken als grundsätzlich inadäquat verworfen habe. Sie berufen sich auf die „Schriftkritik“ Platons, sowie auf doxographische Berichte des Aristoteles und anderer antiker Autoren über eine Altersvorlesung Platons mit dem Titel „Über das G ute“. Akribisch wurde diese ungeschriebene Lehre zu rekonstruieren versucht (G aiser 1963; Wippern 1971) und von Krämer (1959) ausführlich dann von Szlezák (1985) für das Verständnis einzelner Dialoge und Dialogpassagen fruchtbar gemacht. Ihm erscheint die von Schleier-

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

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macher inaugurierte Theorie der Dialogform als ein mystifizierendes „Hindernis für eine adäquate Deutung von Platons Wertung von schriftlicher und mündlicher Philosophie“ (Szlezák 1985, 22), das es zu überwinden gilt. Dieser Streit läßt interpretatorisch den unlösbaren Zwiespalt deutlich werden, der das Philosophieren als solches konstituiert, sofern es sich selbstreferentiell auf sein eigenes schriftliches Medium bezieht. Platon hat ihn durch das Bild zweier konkurrierender Schwestern veranschaulicht: der schriftlichen Rede philosophischer Erkenntnisse, die in einem Lesepublikum frei und unkontrolliert flottiert, steht die dialektische Kunst des beseelten philosophischen G esprächs als eine „echtbürtige Schwester“ zur Seite. Sie genießt die Sympathie des platonischen Sokrates, der seine G esprächspartner immer wieder dazu auffordert, sie zu suchen und zu sehen, „wie sie entsteht und wieviel besser und kräftiger als jene sie gedeiht“ (Phaidros 276 a). Es charakterisiert die europäische Philosophiegeschichte, daß beiden Schwestern eine reiche Nachkommenschaft beschert worden ist. Die genealogischen Linien können hier nur skizziert werden.

4.

Der Traum vom erfüllten Wort

Isoliert aus dem kommunikativen Realkontext, in dem das philosophische Wissen gesprochen und gehört werden kann, erscheint jeder schriftlich aufgezeichnete G edanke wie ein stummes Denkmal. Niedergeschrieben ist er ausgebrochen aus einer G esamtheit von Anwesenheiten (Sprecher, Hörer, situationaler Ursprung, präsenter Sinn- und Bewußtseinshorizont, augenblickliche Kommunikationsintention) und übriggeblieben wie ein des Lebens verlustig gegangenes Unlebendiges, Schattenbild eines erloschenen Lichts. Seit Platon die Konsequenzen der Literalität zu Bewußtsein gebracht hat, zieht die Metapher des Todes die schriftkritische Traditionslinie der Philosophie. Um diesen „Tod“ verstehen und bewältigen zu können, muß die Philosophie an einer Idee des Lebens orientiert bleiben. Denn das lesbare Wort ist mehr als ein lebloses materielles Ding. Nur deshalb konnte es auch Platon anerkennen als „hypo-mnemisches“ Mittel für den, der schon weiß, und zu denken weiß, woran er durch das äußere Dasein der Schrift erinnert werden kann (Phaidros 276 d). Aristoteles hat daraus die folgenreiche systematische Konsequenz gezogen: das G eschriebene

(gramma) ist nur ein konventionelles Zeichen stimmlicher Verlautbarungen (phone), die wiederum seelische Zustände bezeichnen, die natürlicher Ausdruck von „Dingen“ sind (Lehre vom Satz I, 16 a). In dieser semiologischen Hierarchie ist das Schriftzeichen gleichsam am weitesten von dem entfernt, dem die Stimme noch nahe ist: den Dingen und den Seelenzuständen, die sich wie diese verhalten. Sie bilden jenes lebendige Zentrum einer ursprünglichen „Präsenz“, aus dem Platons Lehrrede der wahrhaft Wissenden „entstand“ und philosophiegeschichtlich dann „kräftig gediehen“ ist: Präsenz als eidos (Platon); als ousia/Substanz/Essenz (Aristoteles); als lebendiger G eist G ottes (Paulus und die christliche Tradition); als mystisches nunc stans; als Selbstpräsenz des cogito (Descartes); als Innerlichkeit des G eistes (Hegel); als Idealität des transzendentalen Lebens (Husserl); als Anwesen des Seins (Heidegger); als Idealität des gemeinten Sinns (G adamer). Es ist ein G rundzug der Metaphysik, ihren G egenstand als etwas vorauszusetzen und denken zu wollen, das als wahrhaft Seiendes vor jeder Re-präsentation „ist“ oder „gemeint“ werden kann. Angesichts dieser Intention jeder „Ersten Philosophie“ erweist sich jeder schriftliche Ausdruck als äußerliches Derivat, gefährlicher Ersatz und nachträgliches Supplement. G egenüber der privilegierten Nähe der Stimme zum Sein, zum Sinn des Seins, zur Idealität des Sinns, ist die Schrift durch Fremdheit und Exteriorität gekennzeichnet. Das erklärt die reservierte Haltung, mit der ihr philosophisch begegnet worden ist, besonders ausgeprägt in der „Epoche Rousseau“ (Derrida 1974, Zweiter Teil) und der romantischen Oppositionsbewegung gegen die Entfremdungstendenzen des modernen Lebens. Schrift wird meist nur als ein kontingentes Randphänomen zur Kenntnis genommen, exteriorisiert in die Distanz einer Abwesenheit, deren logo- und phonozentrisch präsupponierte Anwesenheit nur mit Mühe wiederbelebt werden kann. Von Schleiermacher, dem Begründer einer philosophischen, nicht mehr materialen-buchstabenfixierten Hermeneutik, bis hin zu G adamer (1960) sind schriftliche Texte einer „Wut des Verstehens“ (Schleiermacher 1799, 80) ausgesetzt, welche die philologische Achtung vor dem G eschriebenen verloren hat und ihre ganze Kraft aus der philosophischen Liebe zum Geist bezieht (vgl. Hörisch 1988). Es ist die Leistung Derridas, durch ein genaues dekonstruktives G egen-den-Strich-Le-

51.  Schriftlichkeit und Philosophie

sen präsenzmetaphysischer Texte von Platon, Aristoteles, Rousseau, Hegel, Husserl, Heidegger, de Saussure und Searle nachgewiesen zu haben, daß jede philosophische Intention auf die lebendige Präsenz in ihrem Innersten „grammatologisch“ organisiert ist (Derrida 1972, 1974, 1979, 1986, 1988). Die G eschichte der Philosophie, deren Entstehung und mögliches Ende mit der historischen Epoche einer allgemeinen Schriftkultur zusammengeht, läßt jedes Denken und beseelte Sagen der Präsenz nur als Effekte einer „Schrift“ möglich sein, die es von innen her und von Anfang an aufbrach, zerstreute, „disseminierte“. Die Dekonstruktion der Präsenzphilosophie greift in deren Zentrum durch den Akt einer Lektüre ein, die zu lesen vermag, daß jede philosophische Anstrengung, ihren G egenstand als vorschriftliches Sein und präsente Identität denken zu wollen, immer schon die verwerfliche Seite einer grammatologischen „différance“, als System und Spur von Differenzen, in Anspruch nehmen muß, auch wenn sie es noch so sehr zu vermeiden sucht. „Alles fängt mit der Reproduktion an. Immer schon, das heißt Niederschlag eines Sinns, der nie gegenwärtig war, dessen bedeutete Präsenz immer schon ‘nachträglich’, im Nachherein und zusätzlich (supplémentairement) rekonstituiert wird“ (Derrida 1972, 323).

5.

Von der Analytik zur Begriffsschrift

Wie viel diese Paradoxie eines bereits reproduzierten Anfangs der Schrift verdankt, läßt sich an der Entstehung und Entwicklung der formalen Logik ablesen. Sie diszipliniert ein Denken, dessen Ausbildung erst möglich wurde, als Aristoteles die Sichtbarkeit der Alphabetschrift zu seiner Modellierung nutzte. Seine Definition des Syllogismus, die er in der Ersten Analytik (Erstes Buch, Erstes Kapitel) lieferte, war keine Beschreibung dessen, was tatsächlich im mündlichen G edankenaustausch oder im ernsthaften Nachdenken praktiziert wird, sondern glich einem mathematischen Spiel mit isolierten „Elementen“, deren griechischer Ausdruck ursprünglich dasselbe meinte wie „Buchstabe des Alphabets“. Bereits Sokrates konnte deshalb die geistige G ymnastik des Argumentierens und Erklärens mit einem Buchstabenspiel vergleichen, in dem sich sinnvolle Namen oder Silben aus den „Urbestandteilen der Schrift“ ergeben (Theaitetos 201 e—204 b); und es war kein weiter, obwohl doch bahnbrechender Schritt,

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daß Aristoteles seinen Anspruch, eine zwingende syllogistische Logik zu entwickeln, anhand buchstäblicher Formeln durchführte: er benutzte Buchstaben als Variable, um die Prädikate, Subjekte und Sätze seiner logischen Schemata zu bezeichnen und abstrahierte von deren Inhalten; er entwickelte ein konsistentes technisches Vokabular, um die Folgerungsrelationen zwischen den grammata herzustellen, und löste sich damit von der reichen Mannigfaltigkeit der Umgangssprache; und er gab sich größte Mühe, eine Axiomatik zu erstellen, in der die vollkommenen Schlüsse der ersten Figur evident sind, auf die alle anderen Schlußfiguren reduktiv zurückgeführt werden können (vgl. Lukasiewicz 1951; Patzig 1959). Auch wenn es einleuchtet, „daß die Logik ursprünglich verstanden wurde als eine Wissenschaft von dem, was geschieht, wenn wir nicht nur für uns denken, sondern wenn wir reden und versuchen, einander zu überzeugen“ (Kapp 1965, 26; vgl. Mansion 1972; Solmsen 1972), so ist doch nicht zu übersehen, daß dieses Verständnis von Anfang an unter dem Zeichen der alphabetisierten Schrift stand. Die G eschichte der formalen Logik, die man in den Werken von Bocheński (1978) und Kneale & Kneale (1962) nachlesen kann, ist eine abenteuerliche Suche nach grammatologischen Aussageformen, die nichts mehr mit der mündlichen Umgangssprache, mit psychischen Vorgängen und einem konkreten Wissen weltlicher Sachverhalte zu tun haben wollen. Ihre Autonomie läßt sich allein mittels einer kombinatorischen Kunstsprache sichern, die rein schriftlich entworfen und ausgebaut werden kann. Das hat der Begründer der modernen symbolischen Logik am deutlichsten formuliert, „daß nämlich ein Alphabet der menschlichen G edanken ausgedacht werden könnte und durch die Kombination der Buchstaben dieses Alphabetes und durch die Analyse der aus ihnen entstandenen Worte alles aufgefunden und entschieden werden könnte“ (Leibniz um 1666, zit. nach Übersetzung von Bocheński 1978, 321). Am Schriftzeichen und seiner Kombinatorik läßt sich die logische Analyse sinnlich sichtbar leiten. Calculemus!, rechnen wir! — das ist der hoffnungsvolle Imperativ, der jede dialogische Auseinandersetzung zwischen Philosophen unnötig werden läßt. Ihm folgt auch Freges G rundlegung einer modernen Begriffsschrift 1879, die als Formelsprache des reinen Denkens schriftlich entworfen wird und sich von jedem mündlichen Einfluß

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

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vollständig befreit. Für die menschliche Stimme und die hörbaren Zeichen fürs Ohr findet sich in ihr kein Platz. Nur die scharfe Begrenztheit und deutlich sichtbare Differenzialität der geschriebenen Zeichen erlaubt es, „ohne Vermittlung des Lautes“ unmittelbar die Sache auszudrücken, um die es geht (Frege 1904, zit. nach Frege 1962, 88; vgl. 92 ff). Die Systeme der logischen Syntax und Semantik des 20. Jahrhunderts haben sich dieser Perspektive ebenso angeschlossen wie die geschriebenen Computer-Programme der Künstlichen Intelligenz, in denen die Ansprüche einer hörendsprechenden Verlautbarung des Wissens und des Sinns endgültig verstummt sind. Auch die G eschichte der Präsenzmetaphysik von Platon bis Hegel und, jenseits ihrer scheinbaren G renzen, von den Vorsokratikern bis Heidegger, ist damit an ihr Ende gekommen. Das „Spiel der Schrift“, das im Phaidros (276 e) als Kinderei der reifen Besonnenheit der erfüllten gesprochenen Rede gegenübergestellt wurde, hat sich kulturgeschichtlich vollendet. Es vollzieht sich kombinatorisch in den G renzen der generativen G rammatiken, programmierbaren „scripts“ und symbolischen Formalismen, die modellartig determinieren, was als Sprache gelten kann.

6.

Post scriptum

Das Philosophieren verletzte die Regeln seines eigenen Sprachspiels (vgl. G eier 1989), wenn es dagegen keine Einwände erheben würde. Es lebt vom Widerstreit. Es kann sich, rückblickend auf seine eigene Texttradition, weder auf die Qualitäten eines gesprochenen Wortes verlassen, welches seine eigene Erfüllung träumt; noch kann es sich der Kombinatorik einer Schrift verschreiben, die alle Schlupfwinkel zu erfassen versucht, deren Präsenz den Bereich der Sprache und des Wissens begründen sollte. Auch die aktuelle Auseinandersetzung um das, was Philosophie war und sein kann, zehrt noch vom anfänglichen Zwiespalt zwischen Sprechen und Schreiben, Hören und Lesen, phone und gramma. Die befestigte Herrschaft der Schriftkultur provoziert eine grammatologische Dekonstruktion jeder Philosophie, sofern sie sich phonooder logozentrisch orientiert und die ganze Sphäre der Präsenz im Sprechen und Sagen gegenwärtig halten will, und sie wird wiederum problematisiert durch ein Hören- und Sprechenlassen „akroamatischer“ Dimensionen (von griech. akroasthai: hören lassen, vernehmen, auf etwas hören im Sinne von „ach-

ten“), die durch keinen schriftlichen Text zum Schweigen gebracht werden können (Riedel 1990). Im unauflösbaren Spannungsverhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, das der griechischen Philosophie einen zweifachen Ursprung ermöglichte, bleibt die Philosophie ihrem aporetischen Impuls treu: sie ist Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit genau dessen, was in jeder anderen als der philosophischen Einstellung für selbstverständlich muß genommen werden. Das Vertrauen in die sinnbildende Kraft des mündlichen G esprächs ist davon ebenso betroffen wie jede Anstrengung, sich in der Abgeschlossenheit schriftlicher Systeme einzurichten. Beides, Mündlichkeit wie Schriftlichkeit, ist zum inimicus des Philosophierens geworden, mit dem es sich gegenwärtig auseinandersetzen muß.

7.

Literatur

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V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

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Manfred Geier, Hamburg (Deutschland)

52. Writing and Science 1. 2. 3. 4. 5. 6.

1.

What is science? Writing and the origins of western science The scientific revolution in the 17th century Science in other cultures Contemporary science and scientific thinking References

What is science?

Human beings evolved by developing sophisticated means of coping, indeed, of mastering the natural world. Such mastery requires a high level of knowledge about nature and its transformation into usable form. Levi-Strauss described mankind’s early technical achievements as an indication of the beginnings of genuine science: To transform a weed into a cultivated plant, a wild beast into a domestic animal ...; to make stout, water-tight pottery out of clay which is friable and unstable, liable to pulverize or crack ...; to work out techniques, often long and complex, which permit cultivation without soil or alternatively without water; to change toxic roots or seeds into foodstuffs or again to use their poison for hunting, war or ritual — there is no doubt that all these achievements required a genuinely scientific attitude, sustained and watchful interest and a desire for knowledge for its own sake. ... Neolithic, or early historical, man was therefore the heir of a long scientific tradition (1962, 14—15).

Writing, of course, played no obvious part in the evolution of this applied science. Knowledge accumulated in the practices and traditions passed on through talk and demonstration and apprenticeship. Although such science is perhaps the most important of all human achievements, the science that later evolved in an increasingly literate culture turned science in a new direction. Strict definitions of “western” science are difficult to give. Levi-Strauss called it “ab-

stract” science. Other writers refer to it as “theoretical” science. And still others regard science as western science and trace its ancestry to the classical period of ancient G reece. Three symptoms are characteristic of such science. First, its breadth. Whereas all cultures appear to have a great deal of specialized knowledge of plants, animals, weather, geography and so on, G reek science attempted to systematize such knowledge into comprehensive systems. To illustrate, many if not all cultures use plant products for food, medicine and the like. Herbals from the classical period and again in the 16th Century list important plants and the functions they may serve. What the G reeks did, in addition, was ask general questions as to what is a plant, what is common to all plants, what distinguishes one from all the others. Or to provide another example, all cultures preserve geographic knowledge of routes, terrain, coasts, rivers. What the G reeks did was to construct “world maps”, maps which could integrate the local knowledge contained in the experience of traders, wanderers, hunters and so on. Second, its logic. The effort at comprehensiveness required that the accumulated knowledge be organized in terms of general principles. The relations amongst those principles were those of logic. Local features were derived deductively from general premises. The clearest example was the syllogism. Whereas logic was simply concerned with validity, science was concerned with the truth of the premises and the truth of the inferences derived from them. The resulting knowledge had the form of hierarchical systems of knowledge, of classes and subclasses, of essential properties and characteristic properties in addition to logical principles relating them. Such principles did not allow exceptions but emphasized necessity. If all animals

52.  Writing and Science

reproduce and if barnacles are animals, they must reproduce. The relation was logical not primarily empirical (see Havelock 1982; Lloyd 1979; 1990). Third, its theoretical quality. G reek science did not only describe, it advanced its descriptions in terms of general principles. Ptolemy, for example, not only knew that the earth was round, itself an inference, but also that if it was round it could be characterized in terms of a sphere, the geometrical properties of which were known. Thus, the earth could be represented as having 360 degrees, the whole earth surface mapped out in terms of lines of longitude and latitude set out in terms of those degrees. Indeed, Ptolemy calculated that one minute of one degree of latitude at the equator (a nautical mile) was about 70 miles, an estimate that has turned out to be close to the measured distance of 60 miles. The G reek drive toward theoretical explanation led them to ask such basic questions as what is life, what is truth, what is reality, what is magic, and the like. While all cultures for example may appeal to magic for some explanations, the G reeks were the first to make a general category of magic and attempt to provide its correct description and consequently to rule it out as an explanation (Lloyd 1990).

2.

Writing and the origins of western science

What role did writing and literacy play in this development? Estimates vary. G oody (1987) has argued that writing was critical as a means of collecting and arranging data in such a way that anomalies and contradictions could become apparent. Havelock (1982) argued that writing made it possible to distinguish knowledge from the knower, treating knowledge as the archival base that could be appealed to what may extend beyond any living person’s personal knowledge. Olson (1994) argued that writing made it possible to think about language in such a way as to distinguish types of meaning — literal meaning, metaphorical meaning — which in turn allowed the formation of abstract principles with definitive meaning. Other writers are less sanguine. Lloyd (1990) and Harris (1989) have pointed out that most scientific (like most political discourse) in classical G reece was carried out orally, and that writing played a much smaller role in the G reek “miracle” than had usually been assumed. While literacy was exploited

655

by scientific thinkers, there is little clear evidence that the thinking itself was directly dependent upon writing. Thinkers tended to present their arguments orally; scribes may record the speeches and preserve them but the thinking appears to have proceeded without obvious appeal to texts. Yet, an important shift in understanding did occur. The altered understanding achieved in such sciences as medicine and astronomy were related, Lloyd (1979; 1990) suggests, to the developments in the uses of evidence and of methods of proof. But he traces this development not to the availability of the alphabet and writing, but to the forms of sceptical argument that had evolved in judicial and political contexts. He concluded: [The G reeks] were certainly not the first to develop a complex mathematics — only the first to use, and then also to give a formal analysis of, a concept of rigorous mathematical demonstration. They were not the first to carry out careful observations in astronomy and medicine, only the first — eventually — to develop an explicit notion of empirical research and to debate its role in natural science. They were not the first to diagnose and treat some medical cases without reference to the postulated divine or daemonic agencies, only the first to express a category of the ‘magical’ and to attempt to exclude it from medicine (1979, 232).

The critical notions here are those marked by the terms “concept”, “explicit notion” and “category”. What the G reeks invented was not argument but ideas about argument; not so much knowledge as an epistemology involving a set of categories or concepts for “representing” forms of argument — the concepts of logic, proof, research, and magic. Thus the Hippocratic writer writing on the sacred disease “rejects the notion of supernatural intervention in natural phenomena as a whole, as what might even be called a category mistake” (1979, 26). Magic belongs to a different category than natural causes. The concepts in question take on an oppositional quality, logos as opposed to mythos, natural as opposed to magical, literal as opposed to metaphorical. Thus the achievement is less a matter of research, proof or magic than an oppositional set of concepts that allow these things to be seen as proof, research or magic. They allow these things to be objects of further discourse: What is a proof? What is research? What is magic? What is knowledge? The precise role that writing played in the evolution of these concepts is not known although some writers suggest an instrumental link (Goody 1987; Olson 1994).

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

656

What is beyond dispute is that writing was responsible for bringing the knowledge of the G reeks down to our time. Renaissance science, the scientific tradition that culminated in the 17th Century scientific revolution, was in large part the product of the rediscovery of ancient writers.

3.

The scientific revolution in the 17th Century

The 17th Century achievement is well known. G ilbert analyzed and set out the properties of the lodestone (the magnet). G alileo worked out the basic properties of motion. William Harvey discovered the circulation of the blood; Boyle the properties of air. And Francis Bacon outlined a philosophy of science which substituted careful observation of nature for philosophical speculation no matter how venerable: “For G od forbid that we take a dream of the imagination for a pattern in the world”. What role did writing play in the origin and success of this movement? Eisenstein (1979) has carefully documented the ways in which the printing press advanced the use of writing in the formation of an “archival research tradition”. With the rise of print, thousands of copies identical to the original could be placed in the hands of hundreds of scientists who could examine the reports in the light of their own experience and offer corrections, replications, additions to the text. Hand copied texts were not only scarce, they were apt to be corrupted by copyist errors. To argue with a text, therefore, was to argue only with the version you had seen. Printing changed all that. Writing and printing permitted the accumulation and distribution of novel information. An example is in the maps produced by the voyages of discovery in the 16th century. The discovery of a new island or an error in an existing map was used to update the publication of the next edition of the map, chart or text. Thus science became democratized; any one could play as long as they could read the current archive. Olson (1994) has argued that the relation is even deeper. The new way of “reading the book of nature” as many 17th Century scientists such as G alileo and Boyle described natural science, may be seen as an outgrowth of the new way of reading scripture which had become instituted in the Protestant Reformation. That austere way of reading, according to the literal meaning, permitted the

systematic distinction between what was in the text and what was ascribed to the text by the tradition or by an overactive imagination. It was that distinction that was applied by the new scientists. Thus, writing and literacy not only disseminated and accumulated science; it was instrumental in the very thinking of the scientists themselves. Robert Boyle provides a good illustration of this new way of reading and writing. Boyle writes his experiments up in such a way as to turn the readers of his texts into “virtual witnesses” to his experiments (Shapin 1984) being careful to report only those things that the reader would have seen with his own eyes were he present. Statements should only point to the facts. When discourse went beyond that factual pointing, and into the domain of speculation or theory it was to be so marked. Boyle, like Bacon, was very sensitive to this point. Thus Boyle wrote: in almost every one of the following essays I ... speak so doubtingly, and use so often, perhaps, it seems, it is not improbable, such other expresssions, as argue a diffidence of the truth of the opinions I incline to, and that I should be so shy of laying down principles, and sometimes of so much as venturing at explications ... I dare speak confidently and positively of very few things, except of matters of fact (Proemial E ssay, note 10, 307; cited by Shapin 1984, 495—496).

4.

Science in other cultures

Every advanced culture has its own version of specialized knowledge that we may call science. The Egyptians’ achievements in surveying, flood control, architecture, all branches of applied science are well known because of their assimilation into western thought. Chinese culture is therefore of great interest because their scientific traditions developed quite independently of any contact with the west and their achievements are impressive indeed. Knowledge of chemicals used for ceramics, metallurgy, textiles (think of the difficulty of collecting and weaving silks from the excrement of worms!), as well as their mathematics and philosophy has made the study of Chinese science of particular significance both for understanding Chinese culture and thought in its own right (Needham 1954—59) as well as for comparison with that of the west. Lloyd (1990) has recently compared the evolution of ancient G reek science with ancient Chinese science. Both, he found, were

52.  Writing and Science

concerned with ethics, natural philosophy, medicine, astronomy, metallurgy and epistemology, especially on the reliability of perception and reason. Yet Lloyd finds striking differences. Whereas ancient Chinese science explored correlations, parallelisms and complementarities, the G reeks seem preoccupied with proof, contrasting proof with persuasion, and seeking for incontrovertability. Similarly, whereas the Chinese were sophisticated in the use and criticism of metaphor, they, unlike the G reeks, never thought that metaphor was in principle a deviant form of expression. Again, Lloyd traces these differences to social organization and to the availability of a general audience who were free to judge the plausibility of an argument. In such contexts, the balance may shift from authority to evidence in sustaining a conclusion. Secondly, Lloyd points out that writing cannot be the causal factor as the Chinese were as literate as the G reeks. In fact China is “very much a culture mediated by the written, more than the spoken word” (112) and yet only G reek science took the particular direction we recognize as the route to an empirical scientific tradition. Yet it may be argued that writing in general rather than the alphabet in particular contributed to the evolution of a scientific tradition whether in China or in G reece and that the particular G reek way of writing and reading contributed to the recognition of and preference for literal meanings in scientific discourse and to the judgment of poetic or metaphoric discourse as deviant.

5.

Contemporary science and scientific thinking

Scientific thinking is distinctive not only in what it takes for its content — nature rather than law or religion, for example — but in the assumptions it makes about the world and about knowledge. Scientific thinking began with clear distinctions between natural and magical explanation, between literal and metaphorical meanings. Only literal meanings play a role in logical reasoning, in deduction, in logical inference. Thus scientific thinking assigns a particular role to one form of meaning. This fact has led the philosopher Karl Popper to suggest that science is a branch of literature. Secondly, modern scientific thinking honors assumptions about the corrigibility of beliefs. Hacking (1975) pointed out that only in

657

the 17th Century did the distinction between knowledge and opinion cease to be categorical. Modern scientific thinking depends critically on an understanding of the “status” of a proposition, whether assumption, premise, principle, definition, inference, observation and the like. Equally important, it assigns roles to statements, roles such as claim versus evidence for a claim, and roles such as fact and theory. Furthermore, procedures, such as the accumulation of evidence, are available for changing the status of any proposition. A hypothesis when supported by appropriate evidence may become a fact or a theory. An assumption found to be critical to a whole set of arguments may become a principle or a definition. To think scientifically, therefore, is to become familiar with somewhat specialized epistemological categories and to use them in considering any scientific problem. The significance of such thinking for a general education is that once seen as applicable to scientific problems, students may find them useful for thinking about everyday problems as well. Thus science plays a crucial part in the development of general, critical thinking abilities.

6.

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David R. Olson, Toronto (Canada)

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

658

53. Schriftlichkeit und Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Veränderungen des Begriffs ‘Schriftlichkeit’ Literarische Schreibtätigkeit Die dritte Dimension der Literatur Literarische Schreibverfahren Neue theoretische Ansätze Literatur

Literatur ist das Produkt par excellence von Schriftlichkeit, und beide Begriffe sind so eng miteinander verflochten, daß es auf den ersten Blick sehr schwierig scheint, sie durch ein „und“ auseinanderzuhalten. Im übrigen besitzen beide Wörter auch eine gemeinsame etymologische Herkunft: wenn lateinisch littera ‘Buchstabe, Schriftzeichen’ bedeutet, so heißt litteratura ursprünglich ‘Alphabet, Buchstabenschrift’, dann auch ‘Schriftkompetenz’ und ‘G rammatik, Sprachkunst’ (prima litteratura), ‘Schrifttum, Schreiben’, und schließlich ‘Kultur, Wissen, G elehrsamkeit’. In der Schrift selbst erkannten die Völker der Antike die „Tradition der Traditionen“, die die Übertragung und Weiterentwicklung von Kultur und Wissen ermöglicht. Sogar mündliche Literaturformen (von Kulturen mit oder ohne Schrift) werden meistens paradoxerweise durch das schriftliche Medium festgehalten. Der Begriff ‘Literatur’ verweist also unzweifelhaft auf den Begriff ‘Schriftlichkeit’. Neben ‘Skribent’ und ‘Literat’ wurde im Laufe des 17. Jahrhunderts als Berufsbezeichnung das Wort ‘Schriftsteller’ gebildet, aus Wendungen wie ‘in [eine] Schrift stellen’, schreibend produzieren, schriftlich mitteilen, verfassen. Die Wortgeschichte von ‘Dichter’ verweist auf eine ähnliche Eigenschaft: ‘Dichten’ ist ein Entlehnungsverb aus dem lateinischen dictare, wortwörtlich „zum Nachschreiben vorsagen“, hat aber bis ins 17. Jahrhundert den allgemeineren Sinn „schriftlich abfassen“, „ein Schriftwerk verfassen“. Schriftlichkeit bedeutet nicht nur die bloße Voraussetzung der Literatur, sondern zugleich auch ihr eigentliches Medium und der privilegierte Raum der Schreibtätigkeit. Literatur ist, als wichtiger Ausarbeitungsprozeß der Sprache und der Kultur, die Kunst der geschriebenen Sprache, die Quintessenz der Schrift. Wie aber läßt sich der Zusammenhang beider Begriffe untersuchen, was haben sie, genauer und konkreter gesehen, miteinander zu tun?

1.

Veränderungen des Begriffs ‘Schriftlichkeit’

Im Laufe der Jahrhunderte hat sich das Verhältnis von Schriftlichkeit und Literatur unterschiedlich entwickelt, gestaltet durch den vereinten Einfluß technischer Entdeckungen und sozialer Veränderungen. In den mittelalterlichen Schreibstätten wurden handschriftliche Manuskripte handwerklich „kopiert“ und mit Zieraten versehen, wobei die Kopisten verschiedene, variierende, aneinandergrenzende Fassungen eines Werkes herstellten, bei jedem Akt des Abschreibens eigentlich neu schrieben (Cerquiglini 1989), sich aber nicht für den Schreibprozeß selbst interessierten. Erst ab dem 16. Jahrhundert gewinnt in Europa die schriftliche Literatur den Vorrang über die mündliche. Das Wort manuscript, aus dem lat. manu scriptum geformt, ist zuerst in England ganz am Ende des 16. Jahrhunderts belegt. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts tritt eine langsame, aber tiefgreifende Wandlung ein, mit der Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks, einer „mechanischen Schrift“ als Mittel zur Reproduktion von geschriebenen Werken (MacLuhan 1962; Benjamin 1955). Allmählich wird die handschriftliche Kopie, die die neue Erfindung noch lange Zeit überlebte, durch das gedruckte Buch ersetzt. Zugleich entsteht während der Renaissance die Vorstellung des geistigen Eigentums und des literarischen Ruhms. Während die Schreibtätigkeit früher mehr oder weniger anonym verlief, formt sich im Laufe des 17. Jahrhunderts, unter anderem durch Konflikte mit den Druckern, ein Autorbegriff, der ein paar Jahrzehnte später durch das Urheberrecht juristisch ergänzt wird (→ Art. 75). Die Typographie erlaubt es, das bewegliche, wandlungsfähige Werk der Kopisten ein für allemal in einer bestimmten Form zu fixieren. Der Begriff ‘Text’ ist schon im 12. Jahrhundert mit der Bedeutung ‘G ewebe, G eflecht’ belegt. Das Wort textus (lat.) bezeichnet Stellen aus der Heiligen Schrift, im G egensatz zu Schriftstücken wie Kommentare, G lossen, oder auch G esang. Als gedruckter Text erwirbt er den Sinn einer stabilen, in Raum und Zeit abgeschlossenen Einheit, die innerlich nach bestimmten Regeln stark

53.  Schriftlichkeit und Literatur

strukturiert ist, wobei die Literalität der Form für die Klarheit des Sinns bürgt. Eine Einheit, die sich, sobald sie (als Ware) verbreitet wird, vom Schreiber unabhängig macht. Parallel zur Ausbreitung des Buchdrucks entwickelt sich ein neuer Begriff des Textes. Besonders zur Zeit der Romantik kommen neue Begriffe und Vorstellungen wie die der Inspiration, des G enies, der Schöpfung, der Originalität zum Durchbruch, welche die literarische Schreibtätigkeit bezeichnen. Der Verleger, der für die literarische Produktion mehr und mehr Bedeutung erlangt, als Vermittler zwischen Autor und Leserpublikum, nimmt neben dem Drucker seinen Platz ein (→ Art. 6). Was die Literatur betrifft, so vollzieht der Buchdruck einen Bruch zwischen der individuellen, privaten Arbeit des Schriftstellers und dem fertigen, öffentlichen Produkt, das dem Publikum angeboten wird (Lebrave 1992). Die Autorisierung oder das imprimatur des Autors stellt, symbolisch und juristisch gesehen, den Übergang von einem privaten, handschriftlichen, Schreiben zu einer öffentlichen, gedruckten und identisch reproduzierbaren Schrift dar. Bei dieser G elegenheit verändert sich der Status von Handschriften (im eigentlichen Sinne, d. h. ein mit der Hand geschriebenes, einzigartiges Dokument) nachhaltig: Die übergebliebenen Handschriften der Werke von der Antike bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sind im Wesentlichen Reinschriften und werden als ö f fe n t l i c h e Texte aufgrund ihres kulturellen Wertes aufbewahrt. Im G egensatz dazu werden moderne Handschriften, d. h. nicht nur Reinschriften, sondern vor allem Arbeitshandschriften, als p r i va t e — oder zumindest nicht-öffentliche — Schriftstücke öffentlich anerkannter Schriftsteller aufgehoben und gesammelt. Im 19. Jahrhundert werden in Deutschland und Rußland, etwas später auch in Frankreich, die ersten literarischen Handschriftensammlungen und Autorenarchive (manchmal vom Autor selbst: G oethe, Hugo) gegründet, die aber noch kein wissenschaftliches Interesse erwecken. G leichzeitig entwickelt sich in Deutschland die klassische Philologie, die den wissenschaftlichen Bereich der Schriftlichkeit beherrschen wird. Sie entwirft eine strenge und genaue Methodik, um Handschriften zu entziffern und zu transkribieren, Schreibtechniken, -träger und -stoffe zu analysieren und zu datieren, eine Handschriftengenealogie (stemma) auszuarbeiten (z. B. Karl Lachmanns Lessing-Ausgabe, 1838—1840). Dabei

659

strebt sie danach, mittels vergleichender Sprachanalysen den ‘besten Text’ herzustellen; sie geht davon aus, daß ein Text, der durch die Verschiedenheit seiner Fassungen bekannt ist, als einzige sprachliche Einheit rekonstruiert werden muß. Jede Kopie wird im Vergleich zu einem als perfekt postulierten Urtext als fehlerhaft betrachtet, und jede Variante wird als die Verschlechterung eines unzugänglichen Originals bewertet (→ Art. 54). In der klassischen Philologie steht der Text im Vordergrund. Hundert Jahre später (1938) ediert Beißner Wielands Handschriften. Bei der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe (1942) interessiert er sich aber nicht nur für den Text, sondern zieht auch seinen Entstehungsprozeß in Betracht und bemüht sich, im kritischen Apparat das Schreibverfahren teilweise zu rekonstruieren. Von da an werden kritische Editionen hergestellt, die neben der bloßen Deskription der Handschriften andere Informationen miteinbeziehen, die für den Entstehungs- und Schreibprozeß des Textes relevant sind (u. a. Zellers C. F. Meyer-Ausgabe; Allemanns Celan-Ausgabe; Sattlers HölderlinAusgabe). In den meisten Fällen bietet die Ausgabe einen durch wissenschaftliche und kritische Bearbeitung gesicherten Text. Bei äußerst komplizierten Handschriften aber, wie z. B. im Falle Hölderlins oder Hofmannsthals, wo zahlreiche Korrekturphasen sich überlagern, ist es manchmal unmöglich, eine endgültige Textgestalt wiederherzustellen. Innerhalb der modernen deutschen Editorik entwickelt sich seit dem Anfang der siebziger Jahre und besonders in den letzten Jahren eine lebhafte Diskussion über die methodologischen Ansätze zur Wiedergabe des Textes, zur Rolle des technischen Apparates, und zur Darstellung des Entstehungsprozesses (Peter Szondi; Dietrich Sattler; Hans Zeller; Winfried Woesler; G erhard Seidel; G unter Martens; Herbert Kraft; Klaus Kanzog; Heinrich Meyer u. a.). Im Frankreich der sechziger Jahre beschäftigen sich die Strukturalisten mit der Theorie des Textes; er wird als eine geschlossene, von internen Regeln regierte und legitimierte Einheit definiert. Durch die Beschreibung von sprachlichen und formalen Prozessen, die innerhalb des Textes funktionieren, wird der Text als ein System analysiert, das durch seine interne Struktur Bedeutung produziert. Diese Neuorientierung, die sich mit der „Literatur als Text“ beschäftigt (Barthes, Kristeva), macht ihn zum G egenstand einer auf Struktur und Funktion zentrierten Analyse, die sich

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

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kaum auf den Autor bezieht. Der epistemologische Anspruch einer in sich geschlossenen Totalität, die semiologische Autonomie des Zeichens, entziehen dem Text, dessen eigener Ursprung sich in den Spielen der Intertextualität versteckt, jegliches Außerhalb. Begriffe wie Produktivität und Kreativität sind innerhalb der textuellen Struktur selbst zu suchen. Diese Eigenschaften der Texttheorie erlauben es, das System der internen Organisation von der synchronen Ebene auf die diachrone zu projizieren und sich dem zeitlichen Prozeß des Schreibens und der Produktion literarischer Texte zu widmen. Auch andere theoretische Richtungen oder Ansätze spielen eine bestimmte Rolle in der Veränderung des Begriffs ‘Schriftlichkeit’ während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Rezeptionsästhetik in Deutschland (Jauß, Stierle), werkimmanente Interpretation, new criticism, Kultursoziologie in Frankreich (Bourdieu, Passeron), Linguistik und Pragmatik, Dekonstruktivismus (Derrida), Kommunikationstheorie, die sich alle mit dem P r o d u k t literarischen Schreibens — manche auch mit der Problematik des Lesens — befassen. Die kognitiven Wissenschaften, zunächst vorwiegend in Nordamerika, analysieren den Schreibprozeß von einem theoretischen, prozeduralen Standpunkt aus, ohne sich jedoch auf empirische Untersuchungen Schreiber zu stützen (Flower & Hayes 1980). Seit Beginn dieses Jahrhunderts interessiert sich die Literatur selbst für experimentelle Schreibweisen und -prozesse: Von Bretons und Soupaults ‘automatischer Schreibweise’ (écriture automatique), unter dem Einfluß psychologischer Entdeckungen (Les Champs magnétiques, 1919; Faksimile Ausgabe von Lachenal & Ritter, 1985), von Apollinaires Calligrammes, die den graphischen Aspekt der geschriebenen Sprache in die poetische Form miteinbeziehen, über die Konkrete Poesie bis zu zeitgenössischen Literaturformen wird das Medium der Schrift als ästhetische Komponente reflektiert (z. B. Arno Schmidts „Verschreibkunst“). In der modernen und postmodernen Literatur wird der Schreibprozeß häufig selbst zum Thema des Werkes, und viele Schriftsteller haben sich über ihre eigene Schreibtätigkeit geäußert und ihre Verfahrensweise thematisiert. Neuere technologische Entwicklungen der Schreibmittel verursachen neue Umwälzungen im Bereich der Schriftlichkeit, deren Umfang noch kaum abzuschätzen ist: die Schreibmaschine oder mechanische Schrift in der er-

sten Hälfte des 20. Jahrhunderts, deren konkrete Auswirkung auf die literarischen Schreibverfahren noch kaum systematisch untersucht wurde (Kittler 1986); der Computer (elektronische Schrift) in den letzten Jahren (Anis & Lebrave 1991). Dank dieses hochentwickelten Mediums wird es nun möglich, ein nicht handschriftliches Schreiben zu produzieren und zu vervielfältigen. Mehr noch: die Textverarbeitungsprogramme und desktop publishing erlauben es, die endgültige materielle Form des Textes direkt zu gestalten, nach Belieben umzugestalten, und jede Veränderung erneuert das Verhältnis des Schreibenden zum G eschriebenen; der aus dem 19. Jahrhundert ererbte Begriff ‘Text’ wird durch die Eigenschaften des elektronischen Schreibens — flüchtig, unbeständig, unstofflich — in Frage gestellt. Die Papierseite, traditionelle Einheit der Schreib- und Lesetätigkeit, wird durch das kontinuierliche Abrollen und den zugleich fragmentarischen Raum des Bildschirms ersetzt. Dabei gewinnt das G eschriebene an Beweglichkeit, aber auch an Labilität, denn der Qualität der Form entspricht nicht unbedingt die Qualität des Inhalts. Der Text wird zu einem fließenden, unbeständigen, unvollendeten, variierenden, unendlich veränderbaren und vernetzbaren Produkt (Anis & Lebrave 1991; Lebrave 1992). Die G renzen zwischen Entwurf und emendierter Fassung verfließen; sie können sehr ähnlich aussehen, und bei fehlenden graphischen Indizien sehr schwer zu unterscheiden sein. Was die neuen Verbreitungsmittel des Schriftlichen betrifft, spielt das Fotokopieren eine nicht zu unterschätzende Rolle; neuere Überlieferungsträger wie Mikrofilme, Disketten oder Videoplatten verstärken ebenfalls indirekt die Vorherrschaft des G edruckten (→ Art. 9, 43, 90).

2.

Literarische Schreibtätigkeit

Die literarische Schreibtätigkeit ist zwar eine geistige, aber auch eine handwerkliche Arbeit: „Der G eist führt die Hand“ (Proust), manchmal vielleicht auch umgekehrt. Wenn Schreiben zuerst und vor allem cosa mentale ist, so wird das doch nur dank der Hand möglich — und dies gilt auch, obwohl indirekter und abstrakter, für die Schreibmaschine und den Computer. Nur mittels der Handbewegung wird der G edanke in Schriftzeichen übertragen. Aber die Schrift als Materialität, die Untersuchung der konkreten Beziehungen zwischen Schreibtätigkeit (écriture) und Nieder-

53.  Schriftlichkeit und Literatur

schrift als graphischer Handlung (scription) bleibt bis jetzt ein blinder Fleck der Forschung. Literatur ist Sprachkunst, d. h. daß, im Unterschied zu anderen Künsten, geschriebene Sprache zugleich M e d i u m und P r od u k t der Literatur ist. Zwar unterscheidet sich die literarische Schreibtätigkeit in ihren Komponenten und Prozessen prinzipiell kaum von der allgemeinen Schreibtätigkeit. Die Arbeitshandschriften von Schriftstellern — d. h. von beruflichen, bzw. erfahrenen Schreibern — zeigen aber eine besonders bemerkenswerte Dichte, Vielfalt und Systematik dieser Schreibverfahren. Ist es nicht gerade die Freiheit und Meisterschaft im Umgang mit Schreibverfahren, die künstlerische Erfindungen ermöglicht? 2.1. Der graphische Raum Schreiben ist vor allem eine körperliche, sensomotorische Tätigkeit: auf einem zweidimensionalen Raum werden graphische Spuren hinterlassen. Spuren der G ehirntätigkeit, die durch Handbewegungen in Verbindung mit der Sehkraft entstehen. Ob literarisch oder nicht, bestehen Schriften aber nicht nur aus verbalen Spuren: Handschriften enthalten auch rein graphische und topologische Dimensionen, die die räumliche und zeitliche Entwicklung des Schreibprozesses widerspiegeln und ein Netz von nicht-verbalen Zeichen um den entstehenden Text bilden, die von ihm nicht zu trennen sind. Wechselnder Rhythmus des Schreibflusses, Veränderungen des Duktus, Wechsel des Schreibinstruments oder des Linienabstands enthalten wichtige Hinweise auf die verschiedenen Schreibphasen. Die immer häufigere Veröffentlichung von Faksimiles in kritischen Editionen legt besonderen Nachdruck auf die Bedeutung der graphischen Dimension, die durchaus eine semiotische Analyse wert ist. Aufschlußreich ist schon die Art, wie mit der kleinsten Einheit der Schrift, dem Buchstaben, unterschiedlich umgegangen wird: was, außerhalb der orthographischen Normen, groß oder klein geschrieben wird (Proust schreibt z. B. seine Randbemerkungen „CAPITAL, CAPITALISSIME“ in G roßbuchstaben; so wird die Superlativ-Form durch das Schriftbild unterstrichen); indem einzelne Buchstaben mitten im Wort umgestaltet werden, statt das ganze Wort zu streichen — wie z. B. bei Francis Ponge (in Cinq Sapates, Le Volet: „entre ses lignes vo/lu/it le jour“, „voit“ und „luit“ koexistieren beide auf der Handschrift, in zwei Schichten), oder bei G uillaume

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Apollinaire („o/ar/deur“: „o-“ wird einfach durch „ar-“ ersetzt, und „odeur“ wird zu „ardeur“ umgestaltet). So findet eine minimale graphische Änderung statt, die aber den Sinn tief verändern kann. Das Vertippen kann auch bedeutungsvoll sein (Kittler 1986 — über Kafka), und manchmal zu neuen Wortbildungen führen, wie es in den Typoskripten Ingeborg Bachmanns zu beobachten ist. Mitten im Wort bleibt die Feder stehen, Interpunktionszeichen bleiben aus, ein unvollendeter Satz wird unterbrochen (G résillon, Lebrave & Viollet 1991). Auch die Benutzung verschiedener Schriften hat ihre Bedeutung: Heinrich und Thomas Mann benutzen bald die deutsche, bald die lateinische Schrift, je nach dem, ob es sich um private oder literarische Schriften handelt. Seit dem 5. Jahrhundert ersetzte der codex nach und nach das volumen (→ Art. 8). Seitdem bildet die Seite eine räumliche BasisEinheit, die den Ablauf des Schreibens und Lesens in gewissen G renzen bestimmt, und nicht selten auch als textuelle Einheit beim Schreibprozeß funktioniert. Die globale G estaltung dieses Raums — Verteilung und Entfaltung der Schrift auf der Papierfläche, Linienführung und -richtungen — kann sehr verschiedenartig sein. Z. B. wird von Robert Walser eine Seite von Rand zu Rand so dicht beschrieben, daß das G eschriebene der emotionalen und geistigen Spannung zwar Ausdruck verleiht, aber kaum noch entzifferbar ist (Hay 1989); auf einer Seite von Bataille sind die Wörter und Notizen in allen möglichen Richtungen niedergeschrieben, ineinander so verwickelt, daß sie schwer zu entwirren sind. Innerhalb der Seite gibt es zahlreiche Interferenzbereiche zwischen verbalen und nonverbalen Zeichen. Hierbei gehören Durchstreichungen mit ihrem graphischen Charakter zu den augenfälligsten. Das Ausmaß der Durchstreichungen (ein einzelner Buchstabe, ein Wort, ein Satz, ein Absatz oder auch eine ganze Seite), ebenso wie ihre Form (einfacher waagerechter Strich, Schlangenlinie, gestrichelte Linie, mehr oder weniger dichte Schraffur, X-förmiges Durchstreichen oder Schwärzen der betreffenden Stelle) kann äußerst verschieden sein. Joyce streicht in den Notizbüchern zu Finnegans Wake die Wörter einer Liste einzeln aus, jeweils nach Einfügung in den Text aufgrund von Sigeln, die er ihnen zugeordnet hat; Flaubert dagegen durchkreuzt jede zuvor vollständig abgeschriebene Seite mit einem X.

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Auf manchen Seiten von Bataille oder von Leiris ist der Text fast vollständig in Blöcke abgegrenzt, die mit Kreuzbalken bedeckt sind, so daß die Streichungen im Vergleich zum Text den weitaus größeren Raum einzunehmen scheinen (nur einige nicht gestrichene Wörter bleiben bestehen) und die Aufmerksamkeit auf ihr ästhetisches Aussehen lenken. Jedes auf der Seite notierte Zeichen gehört zum Bereich des G eschriebenen: die Verwendung von nonverbalen graphischen Zeichen kann zahlreiche Funktionen erfüllen, die alle an den Schreibprozeß gebunden sind. Zunächst wäre das ganze Arsenal von Verweiszeichen zu nennen, welche die Reihenfolge des Lesens im Verhältnis zu der des Schreibens verändern: Striche, Kreuze, Sternchen, Zahlen. Andere graphische Zeichen spielen in semiotischer Hinsicht eine komplexere Rolle. So findet man bei manchen Dichtern, wie z. B. bei Novalis, oben auf der Seite ein Skandierschema, dessen rein graphische Verzeichnung der „wörtlichen“ Ausarbeitung des G edichts vorangeht. Bei Hölderlin ist einem G edichtentwurf eine musikalische Komposition beigegeben. In den Cahiers von Valéry wiederum, ebenso wie in seinen G edichtentwürfen, finden sich häufig auf derselben Seite, mit dem Text vermengt, sowohl Zeichnungen als auch mathematische Formeln. Viele Schriftsteller verzieren ihre Manuskripte mit Zeichnungen; diese können zur Entspannung entstanden sein, durch ein Laufenlassen der Feder, es kann sich um ein Verfahren handeln, das die Vertextung ergänzt oder wiederholt (Stendhal) oder aber auch um eine ihr vorangegangene Suche, z. B. in Form einer räumlichen Darstellung, die den Aufbau des Textes erleichtert (vgl. G résillon, Lebrave & Fuchs 1991). Bei manchen Autoren erlangt die Zeichnung eine autonome Funktion, die zu der des Textes parallel ist (Hugo, Puškin, Hesse). Die Seite ist in erster Linie als „weiße“ Oberfläche definiert, welche die graphischen Spuren aufnimmt. Als solche bietet sie dem Schreiber eine unendliche Zahl topologischer Möglichkeiten. Sie ist der Schauplatz der Schreibtätigkeit, des Entstehungsprozesses und der Inszenierung des Schreibens. Denn für das literarische Schreiben in seinem Werden bedeutet das Weiß der Seite den Ort einer unüberschaubaren Zahl virtuell möglicher Variationen von zukünftig G eschriebenem. Das System der Ränder erlaubt einen hohen G rad an Flexibilität, was die G estaltung der

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Seite in ihrer räumlichen Ausdehnung und den Schreibprozeß in seiner zeitlichen Ausdehnung anbelangt (Neefs 1989). Victor Hugo stellt hierfür eines der bekanntesten Beispiele dar: er teilt die Seite durch Faltung in der Mitte in zwei senkrechte Spalten, wobei er die linke Hälfte den Hinzufügungen und Veränderungen vorbehält, die sich aus der rechten Hälfte ergeben. Andere Schriftsteller nutzen die vier Ränder, die den in der Blattmitte plazierten Text umgeben, sei dieser nun maschinengeschrieben (Mandelstam) oder schon gesetzt, in Form eines Abzuges (Balzac). Heine begrenzt die Strukturen eines Textes (Gedanken und E infälle), indem er horizontale Leerräume ausspart, die gattungsgebunden sind. Bei Joyce wiederum bedeutet z. B. der Absatz, dieses „Atemholen des Auges“, eine graphische Struktur, die entscheidend ist für die rhythmische Konstruktion des Textes (Ferrer & Rabaté 1989). Die Beziehung zwischen literarischem Schreiben und graphischem Raum bleibt jedoch nicht auf die Seite beschränkt. Manche graphischen Akte gehen nämlich über die rein räumliche Dimension des Schreibens hinaus und bestimmen auch seinen zeitlichen Ablauf. Eine gewisse Zahl von graphischen Makrostrukturen betrifft die G esamtheit des Schreibprozesses, seine Projizierung auf die Zeitachse. Es handelt sich um Tabellen (Zola), um Schemata, um Pläne — manchmal nicht unähnlich denen, die in der Architektur benutzt werden (Frisch, G rass), um geometrische Modelle oder mathematische Algorithmen (Perec), um farbige Abbildungen — so z. B. das komplexe System aus Sigeln und Farben, das W. Benjamin kreiert, um die für sein unter dem Titel Passagenwerk (posthum) veröffentlichtes Opus bestimmten Notizen zu ordnen (Espagne & Werner 1984); schließlich sind hier auch die Skalen in Form bunter Zeichen zu nennen, die Böll für seinen Roman Gruppenbild mit Dame entwickelte, „eine vielfarbige Tabulierung auf drei Ebenen“ (Bienek 1969). Diese graphische, topologische und manchmal auch programmatische Dimension des literarischen Schreibens ist in ihrer konkreten Realisierung natürlich nur in den Manuskripten sichtbar, in dem Dossier, das den Entstehungsprozeß festhält. Im gedruckten Buch hingegen findet sich keinerlei Spur mehr von dieser unbegrenzten Variabilität, welche die Schreibfläche den einzelnen Bewegungen des Schreibens bietet, ebensowenig wie von deren räumlichen Konstellationen. Alle Spuren der

53.  Schriftlichkeit und Literatur

materiellen, der handwerklichen Herstellung des literarischen G eschriebenen sind hinter der glatten und regelmäßigen Ordnung von ausschließlich typographischen Zeichen verschwunden. 2.2. Der zeitliche Raum Die schriftliche Produktion literarischer Werke ist nicht nur unter dem räumlichen Aspekt zu sehen, sondern auch, wie schon weiter oben erwähnt, unter dem zeitlichen. Es geht hier wohlgemerkt nicht darum, die Hauptcharakteristika herauszuarbeiten, die ganz allgemein das G eschriebene vom G esprochenen unterscheiden, sondern darum, diejenigen Charakteristika vor Augen zu führen, welche die besonderen Bedingungen schriftlicher P r o d u k t i o n und ihre mannigfaltigen Auswirkungen betreffen (→ Art. 77, 85, 137). Als Hauptcharakteristikum schriftlicher Produktion ist die (zumindest virtuelle) zeitliche und, im Prinzip, irreversible Beständigkeit ihrer Spuren anzusehen. Übrigens gerade wegen ihres graphischen und verräumlichten Charakters können diese von Dauer sein. Aus diesem G rund — und im Unterschied zum mündlichen Diskurs, an den sie unweigerlich durch das Momentane der Produktion gebunden sind — können die Spuren der schriftlichen Ausarbeitung vom Produkt selbst losgelöst betrachtet werden. Die Elemente der Sprache ko-existieren simultan im graphischen Raum, während die des mündlichen Diskurses den G esetzen der zeitlichen Abfolge unterworfen sind. Dank der Dauerhaftigkeit ist es also möglich, das G eschriebene zu modifizieren, auf das Schon-G eschriebene zurückzukommen: eine Eigenschaft, die es dem Schreiber ermöglicht, im voraus zu planen, zu programmieren, kurzum, die Schreibtätigkeit in einen chronologischen Ablauf zu stellen, in eine Abfolge verschiedener Phasen — während solche Operationen im mündlichen Diskurs meist von mnemotechnischen Stützen abhängig sind. Die schriftliche Produktion ist — im G egensatz zur mündlichen Produktion, die auf dem Zusammenspiel von einem Sprecher und mindestens einem G esprächspartner basiert — ein Akt von individueller und höchst privater Natur; das Produkt selbst hingegen kann veröffentlicht, d. h. publik gemacht werden und läßt sich dann so vertreiben, daß ein jeder es sich im Prinzip aneignen kann. Durch diese Materialisierung wird die geschriebene Botschaft somit unabhängig von ihrem Urheber, während die mündliche Pro-

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duktion untrennbar mit ihm verbunden bleibt, da sie nur im Moment des Ausgesprochenwerdens existiert, und dem „Meer des Vergessens“ ausgesetzt ist. Im Unterschied zum mündlichen Ausdruck, wo Produktion und Rezeption gleichzeitig stattfinden, fällt der Prozeß der schriftlichen Produktion zeitlich nicht mit dem der Rezeption des Produkts zusammen: die Mitteilung des G eschriebenen wird aufgeschoben, weil der Schreiber physisch vom Leser getrennt ist — sowohl in der Zeit als auch im Raum —, von einem Leser, von dem er sich nur eine abstrakte Vorstellung machen kann. Wegen dieser Besonderheiten müssen alle Fakten, die an die Wechselrede gebunden sind, expliziert und mediatisiert werden. Im übrigen steht es dem Schreiber frei — da er ja weder mit Zeitdruck noch mit der unmittelbaren Anwesenheit eines G esprächspartners konfrontiert ist — auf das SchonG eschriebene zurückzukommen und während der Zeitspanne, die den ersten Entwurf vom fertigen Produkt trennt, Veränderungen vorzunehmen. So kann die Reihenfolge, in der ein Text geschrieben wurde, völlig von der des letztlich veröffentlichten Textes abweichen (wie es bei Proust der Fall ist, der zum selben Zeitpunkt das erste und das letzte Kapitel der Recherche du temps perdu schreibt). Diese Besonderheiten fordern bei der Untersuchung der schriftlichen Produktion dazu auf, die rein textuellen Elemente von den an den Schreibprozeß gebundenen graphischen Operationen genau zu unterscheiden. Und schließlich dient das G eschriebene, wiederum im Unterschied zum G esprochenen, als materielle Stütze für das G edächtnis und ermöglicht die Erstellung von Dokumenten, wie Listen oder Übersichten. Diese Hauptfunktion als G edächtnisstütze, als dauerhafte Verzeichnung, gehört vermutlich sogar zu den Ursprungsfunktionen der Schrift. 2.3. Schreiben und Lesen Die Dauerhaftigkeit der Schreibspuren bietet die Möglichkeit, auf das Schon-G eschriebene zurückzukommen. Diese Umkehr ist von anderer Art als das Schreiben selbst, denn sie beinhaltet eine weitere Tätigkeit, die, zumindest bei so erfahrenen Schreibern wie den Schriftstellern, eng mit dem Schreiben verbunden ist: das Lesen. Das Lesen kann selbst wieder eine neue Schreibphase auslösen. Die beiden Tätigkeitstypen sind nicht voneinander zu trennen, so daß Aragon von seiner Arbeit als Schriftsteller sagen konnte: „Ich

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

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schreibe nicht, ich lese“. Sie entsprechen auf der mentalen Ebene zwei unterschiedlichen Rollen: der Schreiber wird zu seinem eigenen Leser, wobei die beiden Tätigkeiten nahezu simultan oder aber abwechselnd vor sich gehen können (Lebrave 1992). Diese beachtenswerte Tatsache hat eine theoretische und eine praktische Auswirkung: einerseits wird die traditionelle Rollenteilung in „Sender“ und „Empfänger“ in Frage gestellt. Andererseits hinterläßt die Arbeit des Neuschreibens, die möglicherweise auf das Lesen des Schon-G eschriebenen folgt, auf dem Manuskript Spuren, die man anhand graphischer Indizien von denen der Erstfassung unterscheiden kann: sie finden sich nämlich zwangsläufig außerhalb des ersten Bewegungszuges, an den Rändern oder in den Zeilenzwischenräumen. Aufgrund der Intervention der Lesetätigkeit kann man zu Recht unterscheiden zwischen den sogenannten „Schreibvarianten“, oder unmittelbaren Varianten, die im Schreibfluß entstanden und in die Linearität der Zeile einbezogen sind, und den „Lesevarianten“, oder auch „Neuschreib-Varianten“, die auf eine Lesephase des Schon-G eschriebenen folgen und deshalb davon zeitlich und graphisch abgehoben sind. Jeder Neuschreib-Phase entspricht eine neue Schicht; die chronologische Reihenfolge der einzelnen Schichten ist anhand graphischer und sprachlicher Indizien zu rekonstruieren. 2.4. Schreiben und Sprache Schreiben heißt sprachliche Handlungen und Darstellungen mittels eines Schriftsystems hervorbringen, die Sprache in Bewegung setzen oder, genauer, wie Benveniste es ausdrückte, „durch einen individuellen G ebrauchsakt zum Funktionieren bringen“. Dichterische Arbeit, literarisches Schaffen, das ist in erster Linie Arbeit an der Sprache. Erst die Sprache macht es möglich, G edanken auszudrücken, d. h. ihnen Form zu geben. Aufgrund der Tatsache, daß das G eschriebene fähig ist, die materiellen Spuren seiner eigenen Hervorbringung dauerhaft festzuhalten, stellt es ein Werkzeug dar, das sich hervorragend eignet für das stufenweise Ausarbeiten (diese „allmähliche Verfertigung der G edanken ...“) eines literarischen Textes, Ausarbeiten als Suche nach einer ästhetischen Form. Da Handschriften die verschiedenen Umformungen des sprachlichen Materials bewahren, diese „hoch-komplizierten Maschinen“ wie es bei Flaubert heißt, bilden sie

Spuren des Ausarbeitungsprozesses der G edanken durch die Sprache ab. G leichzeitig zeigt das G eschriebene die Zufälligkeiten und die Ausrutscher, die logischen Unstimmigkeiten, die G rammatik- oder Syntaxfehler in Fällen, in denen der Schreiber das Angleichen an eine veränderte Sprachkonstruktion vergessen hat. So wie andere Schreibpraktiken auch, nur in viel stärkerem Maß, geht die Arbeit des literarischen Schreibens meistens durch schrittweise Annäherung vor sich. Der graphische Ausdruck der Veränderungen kann zwar die verschiedensten Formen annehmen, doch insgesamt gesehen lassen sich die an der Sprache ausgeführten Operationen — Zusätze, Streichungen, Umstellungen, Ersetzungen — auf eine einzige zurückführen, nämlich die der Substitution, die als zeitlich orientiert zu verstehen ist. Im klassischen Sinn wird A durch B ersetzt; doch der Einschluß der Null gestattet es, auch Streichungen, Zusätze und Umstellungen als Ersetzungsmechanismen darzustellen: A ∅ A AB

→ → → →

∅: B: B: BA:

Streichung Zusatz Ersetzung Umstellung.

Darüber hinaus können manche Substitutionen — grammatische, syntaktische oder semantische Varianten — auch das Ergebnis anderer Modifikationen sein, in Anpassung an die internen G esetzmäßigkeiten der geschriebenen Sprache; solche Substitutionen, die in gewisser Weise von anderen abhängen, werden „gebundene Varianten“ genannt, die der Masse der „freien“ Varianten gegenüberstehen. Die dichterische Arbeit ist der Ort eines ständigen Wechselflusses zwischen G edanken und Sprache; das Schreiben erfindet dabei neue Formen und Kombinationen. Das Charakteristische des literarischen Schreibens besteht darin, daß es alle Möglichkeiten der Sprache auslotet, die üblichen Sprachformen neu zusammenstellt, sie umstellt oder ihre Regeln durchbricht, dies alles in einem ständigen Wechsel zwischen Kompetenz und Performanz: so setzt sich Heine mit der Schaffung seiner berühmt gewordenen PortemanteauWörter wie famillionär, Justemillionär, Millionarr oder revolutionärrisch über die grammatischen Regeln und über die grundlegenden G esetze der Wortzusammensetzung hinweg (Grésillon 1984).

53.  Schriftlichkeit und Literatur

In kognitiver Hinsicht läßt sich beim schriftlichen Ausdruck dennoch ein bestimmter Typ von G esetzmäßigkeiten hinsichtlich der Produktion nicht umgehen, vor allem aufgrund der Tatsache, daß der Bewegungsfluß der schreibenden Hand unter Umständen nicht im Einklang steht mit dem Fluß der G edanken, so daß die Hand „Verspätung“ hat und Zusammenstöße oder Verschreibungen produziert. Mit diesem Wissen über die Verlegung zwischen Denk- und Handbewegungen im Hintergrund konnte J.-L. Lebrave die bei manchen Schriftstellern (vor allem bei Heine) häufige, ja systematische Verwendung von Hyperonymen oder „Proto-Ausdrücken“ (wie z. B. das Adjektiv „groß“) in der Erstfassung analysieren, Ausdrücke, deren semantischer Wert erst im Laufe der nachfolgenden Schreibphasen genauer bestimmt wird. Diese Technik erlaubt dem Schreiber, seinen G edanken- und Schreibfluß ungebremst fortlaufen zu lassen. Hier hat man es wohl mit einer der „Produktionsfiguren“ zu tun, von denen R. Barthes im Zusammenhang mit der Frage „Wie läuft das, wenn ich schreibe?“ spricht; es handelt sich um konkrete Figuren, deren Erforschung noch kaum begonnen hat. Auf die grundlegende Frage „Was heißt ‘schreiben’?“ oder besser „Was heißt ‘ein literarisches Werk schreiben’?“ — diese Frage haben zahlreiche Schriftsteller gestellt und sich gestellt, von Coleridge bis Novalis, von Flaubert bis Maïakovski, von Valéry bis Wolf — kann die Forschung noch keine zufriedenstellende Antwort geben. Eine Theorie der schriftlichen Produktion und der geschriebenen Sprache muß aber erst noch erarbeitet werden. Dies setzt Erforschung von verschiedenen konkreten Praktiken voraus, um ihre Regelmäßigkeiten und die Operationen, die ihnen zugrunde liegen, zu erfassen; erst dann kann geprüft werden, ob und in welchem Maß sie generalisierbar sind.

3.

Die dritte Dimension der Literatur

Will man die Beziehungen, die ureigensten Verbindungen zwischen Schreiben und Literatur untersuchen, kommt man nicht umhin, die Entstehungsgeschichte des Werks zu erforschen, denn in der publizierten Form ist — außer in Ausnahmefällen — seine skripturale Dimension, das „Schreiben“ im eigentlichen Sinn, völlig verschwunden. Die „dritte Dimension“ der Literatur (ein Ausdruck, der sich seit L. Hay 1984 eingebürgert hat) zu erforschen, heißt eben gerade, ihr die Dimen-

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sion des Schreibens wiederzugeben. Bisher ging die Literaturkritik in erster Linie von einem Literaturbegriff aus, dessen Inhalt die G esamtheit der gedruckten und veröffentlichten Werke waren. Nun wird eine neue Vorgehensweise erkennbar. Das Interesse gilt jetzt dem Werk in seinem Entstehen, dem Schaffensprozeß des Textes während des Schreibens und durch das Schreiben. Das literarische Werk wird dabei nicht mehr einfach als ein in sich geschlossener Text mit statischer und ausnahmslos vollkommener Form verstanden, sondern als das Ergebnis einer Arbeit, die in einem Zeitablauf steht, in einer Perspektive, welche die interne Dynamik ihrer eigenen Entstehung beinhaltet, in Form der geschriebenen Spuren. Es geht nicht darum, den Ausgangspunkt des Textes zu suchen, auch nicht darum, seinen Endzustand automatisch als Vollendung anzusehen (G enette 1987), denn es gibt keine Stufe, die von vornherein als die beste anzusehen wäre. Es geht vielmehr darum zu versuchen, den literarischen Schreibprozeß in seiner G esamtheit zu erfassen, durch die stufenweisen Umwandlungen hindurch; es geht darum zu sehen, was sich „hinter dem Spiegel“ des Textes abspielt, und schließlich darum, dem Text seine „Textur“ zurückzugeben, seine Dichte, seinen Umfang, seine Dynamik — die Dimension seiner Entstehung. Diese zu untersuchen hat sich Anfang der 70er Jahre in Frankreich eine critique génétique (Entstehungskritik) genannte Forschungsrichtung zur Aufgabe gemacht; sie stellt, für konkrete Einzelfälle ebenso wie in Form einer Theorie, die Frage nach dem Schreiben innerhalb der Literatur. Ihr Untersuchungsgegenstand ist die G esamtheit der Dokumente, die vom Schreibprozeß eines literarischen Werkes zeugen und die ihn zum Objekt wissenschaftlicher Forschung macht. Das Manuskript erlangt dadurch einen zweifachen Status: zum einen den einer G esamtheit analysierbarer materieller Dokumente, zum anderen den eines wissenschaftlichen Konstrukts, das als Vor-Text (avant-texte; Bellemin-Noël 1972) bezeichnet wird. Diese G esamtheit von Dokumenten, die das Schreiben des Werkes in statu nascendi belegt, kann sich aus Einheiten verschiedenster Art zusammensetzen, z. B. aus Lesenotizen, Plänen, Szenarien, Titellisten, Skizzen, eigentlichen Entwürfen, Reinschriften, Korrekturfahnen. Wie geht der Übergang von einem handschriftlichen Dossier zu einer Serie von Vor-

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Texten vor sich? Mittels einer Methode, die theoretisches Vorgehen mit technischen Operationen verbindet. Es geht zunächst darum, die einzelnen Teile des Entstehungsdossiers zusammenzutragen, denn diese sind unter Umständen verstreut oder schwer zugänglich (z. B. in Privatsammlungen); dann wird eine Materialanalyse vorgenommen, mit der technischen Hilfe der Kodikologie (Untersuchung des Papiers, der Wasserzeichen, der Tinte) und einer optisch-numerischen Analyse der Schrift, um so die Authentizität der einzelnen Manuskriptteile feststellen zu können, sie zu identifizieren und zu datieren. Danach kommt eine Phase oft langwieriger und diffiziler Arbeit, nämlich das erschöpfende Dechiffrieren, unter Berücksichtigung der Schrift und der Schreibbewegung (vor allem bei Durchstreichungen), der nonverbalen Zeichen und der Aufteilung der Schreibfläche. Danach folgt die Phase der Transkription; es handelt sich dabei um eine richtiggehende Rekonstruktionsarbeit, bei der das zuvor Dechiffrierte und die aufeinanderfolgenden Redaktionsabschnitte so exakt wie möglich dargestellt werden. Es gibt mehrere verschiedene Transkriptionsarten, deren Regeln und Anforderungen je nach den unterschiedlichen Zielsetzungen festgelegt werden, und die G egenstand einer weitgreifenden Diskussion sind, einer Diskussion, die sich gleichermaßen auf die Transkriptionsmodalitäten, die Zeichenkonventionen, die editorischen Prinzipien und das anvisierte Publikum richtet (vgl. Sattler 1975— 77; Zeller 1986; Scheibe, Hagen et al. 1988; Kraft 1990; Kanzog 1984, 1992). Die Entwicklung der elektronischen Technik eröffnet neue Möglichkeiten, einerseits dadurch, daß sie dank spezieller EDV-Programme zur Transkription und Bearbeitung variantenreicher Texte die Wiedergabearbeit erleichtert, andererseits, indem sie die gleichzeitige Visualisierung unterschiedlicher Entstehungsstufen auf dem Bildschirm erlaubt, nicht zuletzt die Reproduktionen des Originalmanuskripts durch den Scanner. All das vereinfacht das Hin- und Her-Wechseln zwischen den verschiedenen Stufen (z. B. durch Hypercard und Mehrfenstertechnik). Dank der Videodiskette wird es auch möglich, eine bestimmte Menge von Dokumenten, welche die Entstehung eines Werks betreffen, aufzubewahren, und zwar nicht nur schriftliche Dokumente, sondern auch Zeichnungen, Filmund Tonmaterial. Der Begriff des Hypertextes erhält hier seine volle Bedeutung, indem er

jede Art von Dokument, das bei der Entstehung des Textes eine Rolle spielt, in sich begreift und so erlaubt, Zusammenhänge zwischen ihnen herzustellen. Diese neuartigen technischen Möglichkeiten erweitern das Feld der Entstehungsforschung in nicht unerheblichem Maß und geben neue Anstöße. Die Arbeit des Schreibens wird so — angefangen von der ersten Skizze bis hin zu den letzten korrigierten Fahnenabzügen — in ihren verschiedenen Phasen erfaßt, identifiziert und chronologisch dargestellt. Nach Abschluß all dieser Voruntersuchungen kann dann die eigentliche Entstehungsanalyse beginnen: Rekonstruktion der einzelnen mit der Entstehung verbundenen Operationen und Phasen; deren Auslegung; Rekonstruktion der Mechanismen, die der Ausarbeitung des Textes zugrunde liegen, Rekonstruktion der verschiedenen Schreibverläufe und, Visualisierung der Entwicklung der G edanken, die sich hinter den handschriftlichen Spuren erkennen läßt. Erst dann kann man von VorTexten sprechen. Indem sie auf systematische Weise die Arbeit des Schreibens in seiner erschöpfenden Dimension berücksichtigt, bemüht sich die Entstehungsanalyse, dem G eschriebenen, das für immer auf das Papier gebannt ist, etwas von seiner ursprünglichen Bewegtheit zurückzugeben, der schriftlichen Aussage wieder ihre Tiefe und ihren vollen Umfang zu erstatten, dem Text die zeitliche Dynamik seiner Ausarbeitung, dem Schreiber seine G esten als Schöpfer wiederzugeben. Es geht nicht nur darum, eine Logik der Entstehung zu rekonstruieren, die jedem Werk eigen ist, sondern auch darum, mit Hilfe spezifischer Konzepte eine Theorie des literarischen Schreibens auszuarbeiten und — ausgehend von den beobachteten Praktiken — Hypothesen aufzustellen bezüglich des Funktionierens der Schreibtätigkeit im allgemeinen und ihrer tatsächlichen Realisierung. Im Unterschied zu den amerikanischen Schriftproduktionsmodellen (Flower & Hayes 1980; Hayes & Flower 1980 u. a.; → Art. 85), die eher deduktiv vorgehen, versucht die critique génétique progressiv und induktiv ein Modell des Schreibens zu entwickeln.

4.

Literarische Schreibverfahren

Die graphischen Spuren enthüllen immer nur einen Bruchteil der betreffenden mentalen Operationen; das Projekt, das vor dem geistigen Auge des Schreibers steht, das dem

53.  Schriftlichkeit und Literatur

Schreiben vorausgeht und es begleitet, bleibt im großen und ganzen für den Forscher unerreichbar. Außerdem hat man nie die G ewähr, über die Totalität der vom Entstehungsprozeß zeugenden Spuren zu verfügen. Dennoch ist es möglich, die Arbeit des Schreibens in seiner Materialität zu untersuchen, die Verschiedenheit der oft unvorhersehbaren Schreibverläufe, die manchmal auch widersprüchlich sind — von Ausweitungen zu Kürzungen, von Wiederholungen zu Aporien, von Rückgriffen zu Umstellungen. Der Text wird geschaffen durch das vereinte In-Bewegungsetzen von Hand, Sprache und G edanken; die ersten Entwürfe, die aus diesen Bewegungen entstehen, verraten die Momente des Zögerns, des Abbrechens, die Entdeckungen, die neuralgischen Punkte, die vielfache Dynamik, und dies alles unabhängig von den Materialien und den Vorgehensweisen bei der Arbeit. Die Transkriptionstechniken und die Methoden der Entstehungsanalyse können zwar für jede beliebige Einheit von Vor-Texten angewandt werden, aber jede dieser Einheiten stellt in Wirklichkeit eine einmalige Konfiguration dar. Einige Beispiele aus der Forschung geben einen Eindruck von der Vielfalt der untersuchten Problemstellungen. Sie betreffen vor allem die Formen des Ausdrucks von Subjektivität und der Ich-Hier-JetztOrigo, die Schwierigkeiten der Versprachlichung von offensichtlich widersprüchlichen kognitiven G esichtspunkten, das Experimentieren mit besonderen Schreibtechniken. Manche Vorentwürfe Heines bieten auf den ersten Blick ein Bild voller Durchstreichungen und sind „überladen“ mit zahlreichen Umformulierungen. Doch stellt man bei der „De-Konstruktion“ des Schreibprozesses fest, daß die Varianten keine wesentlichen sprachlichen Fragen betreffen. 1854 schreibt Heine für den Band Lutetia die Artikel um, die etwa zehn Jahre zuvor in der Augsburger Allgemeinen Zeitung anonym erschienen waren. Die hauptsächlichen Veränderungen am Text sind bedingt durch den zeitlichen Abstand und die Änderung der Sprecherhaltung (Übergang vom Status des anonymen Verfassers zu dem des Autors, der sich zu erkennen gibt), besonders weil Heine zwischen verschiedenen Positionen des Subjekts schwankt (Diskurs in der Ich-Form vs. Kommentar, mit dem Subjekt im Hintergrund). Die Syntax der betreffenden Aussagen hingegen steht schon beim ersten Entwurf fest und wird kaum verändert (Grésillon & Lebrave 1982). Durch die dreiunddreißig Textanfänge von Kindheitsmuster hindurch, einem autobiographischen Roman von Christa Wolf (1976), kann man mitverfolgen (Viollet 1987), wie durch das Ausprobieren der verschiedenen in der Sprache verfügbaren Formen ein sprachliches G leichgewicht gesucht

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und etabliert wird, das die Komplexität der Beziehung zu sich selbst, zur Zeit und zum Schreiben wiedergeben soll. Dabei wird die Verwendung des Pronomens ich, die in den ersten Entwürfen noch recht häufig ist, im Laufe der einzelnen Versuche durch andere Pronominalformen ersetzt, um schließlich völlig zu verschwinden zugunsten der Kombination von du und sie. Die Vor-Texte von Flauberts Hérodias zeugen unter anderem von dem kognitiven Problem, das die schriftliche Konstruktion eines Raumes aufwirft: bevor sie den deskriptiven Raum konstituieren, welcher der Erzählung als Rahmen dient, gehen Skizzen und Wortfetzen ineinander über, weil der Schreiber noch nicht weiß, von welchem G esichtspunkt aus er diesen Raum konstruieren will. Die Entstehungsanalyse G( résillon, Lebrave & Fuchs 1991) weist auf die Bewegung des Schreibens hin: nach langem Zögern zwischen zwei Möglichkeiten (entweder aus dem Blickwinkel der Hauptperson der Erzählung (Antipas) oder aus der Perspektive einer nicht an der Handlung beteiligten Drittperson) entscheidet sich der Schreiber für beide Möglichkeiten, die doch nacheinander konstruiert werden. Die Analyse ermöglicht hier die Wahrnehmung der kognitiven Bewegungen, die der Arbeit des Schreibens zugrunde liegen. Das Dossier zur Entstehung von Bretons und Soupaults Champs magnétiques weist zwei Besonderheiten auf: zum einen geht es hier um einen Text, der von zwei verschiedenen Schreibern „gemeinsam“ geschrieben wurde, zum anderen ist dies, im Prinzip, das Ergebnis eines präzisen Schreibprotokolls, der sogenannten écriture automatique. Trotz des gemeinsamen Protokolls und trotz der selbstauferlegten Beschränkung auf die Produktion von nur einer einzigen „automatischen Schrift“ zeigen die Vor-Texte, daß die Schreibweise zum einen nicht so automatisch ist, wie sie es zu sein vorgibt, denn sie trägt die Spuren von Fehlstarts, Streichungen, Umstellung von Satzstücken, und zum anderen sind effektiv zwei schreibende Subjektivitäten am Werk, wobei jede auf ihre Weise das Schreibprotokoll umsetzt. Untersucht man die Vor-Texte einer Proust-Jugendnovelle, La Confession d’une jeune fille, auf ihre Entstehung hin, so lassen sich durch den Schreibprozeß hindurch die verschiedenen Transformationsetappen erkennen, vom eher autobiographischen Register zu dem der Fiktion: alles, was zumeist durch sprachliche Mittel in den Vorentwürfen noch einen E r z ä h l e r kennzeichnet, wird im Laufe der einzelnen Ausarbeitungsschritte getilgt, modifiziert oder transponiert, bis es schließlich der Erzählform entspricht, welche die fiktionale Perspektive darstellt — die einer E r z ä h l e r i n (Viollet 1991).

Eine allgemeine Theorie der literarischen Produktion hat nicht nur nach den inneren G esetzmäßigkeiten der Entwicklung eines Textes zu fragen, sondern auch nach der Art

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

668

und Weise, wie ein Werk entsteht, nach den verschiedenen Mitteln der G estaltung (Konzeptionsarten, Ordnung und Abfolge der einzelnen Etappen, Kombination der verschiedenen Teile des Entstehungsdossiers) — kurzum, eine solche Theorie muß versuchen, ausgehend von den beobachteten Regelmäßigkeiten, eine Typologie der Prozesse literarischer Entstehung zu entwickeln. Auf dem jetzigen Stand der Forschung unterscheidet man zwischen zwei verschiedenen makrogenetischen Strategien, dem sogenannten p r o z e d u r a l e n Schreiben und dem p r og r a m m i e r t e n Schreiben (Hay 1984). Das prozedurale Schreiben ist dadurch gekennzeichnet, daß der Text seine Form allmählich bekommt, durch stufenweise Annäherungen mittels des Schreibprozesses selbst — der Text generiert sich sozusagen aus dem Schreiben heraus; das programmierte Schreiben hingegen besteht aus einer Folge von Expansionsschritten, bei denen das Schreiben durch auf der Zeitachse eingeteilte Phasen vorausgeplant ist oder auf einem logischen Plan hierarchisch geordneten Stadien folgt (z. B. Lesenotizen, Daten zu den Personen, Pläne, Skizzen, Vorentwürfe und andere Ausarbeitungsphasen, Reinschrift). Zu den Schriftstellern, die das programmierte Schreiben praktizieren, gehören z. B. Emile Zola, Friedrich Schiller, Max Frisch, Heinrich Böll, Alfred Andersch; Vertreter des prozeduralen Schreibens sind Schriftsteller wie Marcel Proust, James Joyce, Hans Erich Nossack, Martin Walser oder Uwe Johnson. Die beiden Formen existieren gleichberechtigt nebeneinander; beide gehen schrittweise vor; sie schließen sich auch nicht unbedingt aus und kommen in einigen Fällen kombiniert vor, so etwa bei Flaubert, bei dem ein Planfragment vertextet sein kann. Manuskripte stellen einen bevorzugten Raum für Konflikte dar, für Konfrontationen zwischen verschiedenen Kräften oder Spannungen, ausgelöst durch sich manchmal widersprechende Regeln. Manche sind durch den Schreibprozeß selbst bedingt, durch das Einpassen der G edanken in die formalen Strukturen der Sprache; andere sind literaturspezifisch, abhängig von der Wahl des G enres, der Erzähllogik; andere wiederum sind historischer, politischer, sozialer oder kultureller Natur. Deshalb kann es vorkommen, daß (in einem gewissen Maß) die Manuskripte zeigen, was der veröffentlichte Text verschweigt (G résillon 1991) — sei es, daß die Zensur (so z. B. im Fall Heines) den Autor

aus politischen G ründen veranlaßt hat, gewisse kritische Äußerungen zu streichen oder sie erst überhaupt nicht zu formulieren (Werner 1986), sei es, daß sich der Autor aus sozialen Beweggründen selbst zensiert hat, wie dies der Fall bei Proust ist, im Zusammenhang mit Homosexualität (Viollet 1991). Bei der Untersuchung der Manuskripte wird man also unweigerlich mit der Frage nach dem Status der schreibenden Instanz konfrontiert, nach der Autonomie des Schriftstellers, nach der Art und Weise, in der sich seine intellektuelle und schöpferische Freiheit in einen bestimmten Kontext einfügt.

5.

Neue theoretische Ansätze

G egenstand der critique génétique ist die Beziehung zwischen Schreiben und Literatur. Die critique génétique erweitert das Feld der Literaturwissenschaften durch die Integration der Schreibprozeß-Analyse, durch die Erforschung der heuristischen Dimension des G eschriebenen. Die critique génétique hat zwar augenscheinlich gewisse G emeinsamkeiten mit der Philologie (→ Art. 54), aufgrund ihrer technischen Operationen (Dechiffrieren, Transkribieren, Identifizieren, Datieren der Manuskripte, Klassifizieren der Variationszentren) und der Strenge und G enauigkeit ihrer Methodenlehre. Aber ihr eigentlicher Zweck besteht nicht darin, kritische Editionen zu erstellen, einen kanonischen Text zu rekonstruieren, dem ein kritischer Apparat untergeordnet ist; sie versteht sich nicht als teleologische Ausrichtung, bei der sich das Schreiben ausnahmslos auf Perfektion und Vollendung hinentwickelt, und ihr Verfahren konzentriert sich nicht auf den veröffentlichen Text, sondern auf die Eigendynamik des Schreibens. Die theoretischen Auswirkungen dieser Mittlerrolle, welche die critique génétique zwischen Schreiben und Literatur einnimmt, sind noch kaum untersucht. Indem sie die Sehweise umformt, eröffnet sie einen neuen Forschungsbereich, wo die G egenüberstellung mit den empirischen Fakten die Theorie erschüttert, die G renzen verschiebt, so manchen Begriff antastet, wie den des Textes, des Werks, des Autors oder des Lesens und die Perspektiven der Literaturkritik tiefgreifend verändert. Die Untersuchung der Vor-Texte gibt dem Begriff des Textes seine Textur zurück, seine Dichte, seine Beweglichkeit, und dies dank der zeitlichen und der materiellen Dimension

53.  Schriftlichkeit und Literatur

seiner eigenen Schaffung. Man betrachtet ihn nicht mehr als ein endgültiges Produkt, ne varietur, abgeschlossen in Zeit und Raum, sondern als eine Form unter anderen möglichen Formen, veränderlich und zufällig, als das Palimpsest all seiner virtuell präsenten Vor-Texte, variierend mit der Dynamik seiner Metamorphosen. Durch die Einbeziehung der Dimension seiner eigenen Ausarbeitung findet der Begriff des Werks zu seiner vollen Tragweite zurück. Das Werk ist dann nicht nur opus sondern auch opera — „work in progress“ mit seinen vielfachen Verläufen, seinen Fragmenten, seinen Aporien, seinen unbeschriebenen Seiten — G esamtheit der möglichen Formen, die manchmal sehr verschieden sind vom veröffentlichten Werk ... Nur selten läßt das G eschriebene etwas von den Schaffensprozessen erahnen, von den Schreiboperationen, die es hervorgebracht haben: das Nachdenken über die Kohäsion des Werkes berücksichtigt dann die Entwicklung seiner Entstehung, das Suchen und Versuchen, das ihm zugrunde liegt. Bei der Beschäftigung mit den Schreibprozessen trifft man unweigerlich auf eine schreibende Instanz, ein immer einzigartiges Subjekt, dessen Hand dem Papier Spuren einprägt. Der Begriff des Autors wird angereichert und ergänzt durch den des Schreibers, dessen Hand eine gewisse Zahl von Operationen ausführt; während diese Hand mittels der geschriebenen Sprache den G edanken eine konkrete und wohlbestimmte Form gibt, zeichnet sie gleichzeitig die Spuren der Spannungszustände auf, die diese Tätigkeit begleiten. Die Entstehungsanalyse der Vor-Texte ermöglicht auch eine G egenüberstellung des eigentlichen Schreibaktes und dessen Inszenierung durch den Autor, die mit ihr einhergehen kann. Der Schreiber selbst ist immer sein eigener — und sein erster — Leser: Lesen und Schreiben funktionieren nicht als antagonistische Tätigkeiten, sondern sind im Schaffensprozeß eng miteinander verbunden und befruchten sich gegenseitig. So bleibt die Betrachtung des Werkes unter dem Blickwinkel seiner Entstehung nicht ohne Auswirkungen auf den Begriff des Lesens: sie erlaubt eine Vervielfachung der Bedeutungsnetze; durch die Einbeziehung der räumlichen und der zeitlichen Dimension bietet sie dem Leser die Möglichkeit, die ‘Spiele’ des Textes zu erfassen, teilzunehmen am Aufbau der literarischen Fiktion.

669

Die critique génétique schließt keine der anderen Perspektiven aus; alle Richtungen der Literaturkritik (Narratologie, Linguistik, Semiotik, Psychoanalyse, Soziokritik, kognitive Wissenschaften) können mit ihr verbunden werden, denn die Dimension der Entstehung ist offen für eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten. Zwar muß auch die Literaturtheorie sorgfältig zwischen der Arbeit des Schreibens und dem Text selbst unterscheiden, doch der Zugang zur Dimension der Entstehung läßt die Begriffe der Intratextualität, der Intertextualität und der Extratextualität in neuem Licht erscheinen, als Mechanismen literarischen Schaffens. Das Entstehungsdossier zeugt schließlich auch von dem Prozeß unendlicher Erzeugung zwischen Produktion und Rezeption, der den literarischen Raum kennzeichnet, und zeigt, wie sehr diese beiden Begriffe ineinandergreifen. Durch das In-Beziehung-Setzen von Literatur und Schreiben wird die Forschung mit neuen Fakten konfrontiert, werden theoretisch scheinbar abgesicherte Begriffe ins Wanken gebracht. Die Frage „Was heißt schreiben?“ ist neu zu formulieren, demzufolge aber auch die Frage „Was ist Literatur?“ Handschriften fördern neue Kenntnisse über das literarische Schreiben zu Tage. G leichzeitig fördern sie allgemeines Wissen über Schreibprozesse schlechthin. Schließlich vermitteln sie neue Zugänge zu G esetzlichkeiten des menschlichen Denkens überhaupt. Die Übernahme des Begriffs der Produktion wird kommenden Theorien nicht nur erlauben, die Logik der Entstehung zu rekonstruieren, sondern auch ihre eigenen Praktiken in das Konzept der Literatur einzuschließen, auf dem Weg zu einer Poetik des Schreibens, die etwas anderes ist als die Poetik der Texte.

6.

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Catherine Viollet, Paris (Frankreich)

54. Schriftlichkeit und Philologie 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.

Schriftlichkeit Grenzfälle Interferenzen Transliteration Übersetzung Überlieferung Lachmann Anti-Lachmann Editionsformen Graphematik Variantenkritik Buchdruck Standardisierung Literatur

1.

Schriftlichkeit

Die Beschäftigung mit Schriftsystemen als nachgeordneten Systemen zu Sprachsystemen, die Beschäftigung mit dem kulturtragenden Phänomen der Schriftlichkeit und den Verfahren der Verschriftlichung verbindet sich in verschiedener Hinsicht mit den G esichtspunkten der Philologie. G emeint ist damit die Philologie im engeren Sinn, d. h. die Beschäftigung mit überlieferten Texten. Das Studium der Schrift als solcher fällt in die Kompetenz der Paläographie. Zusätzliche Rubriken sind Handschriftenkunde, Bücherkunde, G e-

schichte der Bibliotheken, G eschichte des Buchdrucks, Inschriftenkunde. Das Auftreten der Schriftlichkeit läßt sich sehr unterschiedlich dokumentieren. Das Chinesische z. B. erscheint als ein vollständig entwickeltes System gegen Ende der Shang-Dynastie (14.—11. Jh. v. Chr.). Im Rahmen der Entwicklung orientalischer Schriften erscheint die arabische Tradition schlagartig mit dem Koran. Das Bibelgotische und dessen Schrift ist die Erfindung des arischen Bischofs Ulfila (311—383). G eschriebenes Deutsch erscheint erstmals in G lossen (8./9. Jh., z. B. in den G lossen von Kassel). Im G egensatz dazu läßt sich das Romanische (Ineichen 1993) in einem über Jahrhunderte währenden Prozeß aus dem Lateinischen ablösen, mit einer Schwelle der Verschriftlichung, regional verschieden, zwischen dem 7./9. Jahrhundert (im Rumänischen entsprechend mit den kyrillisch geschriebenen slavo-rumänischen Texten im 14./15. Jh.).

2.

Grenzfälle

Neben den natürlichen Sprachen gibt es zu allen Zeiten auch erfundene Sprachen (Bausani 1970). Neben universalistischen G esichtspunkten (in den sog. Welthilfssprachen des

54.  Schriftlichkeit und Philologie

19./20. Jh. s, z. B. Esperanto) findet man in diesem Zusammenhang vor allem sprachmystische Motivationen. Dazu kommen im Bereich der Verschriftlichung die G eheimschriften (→ Art. 145). Die mittelalterlichen G eheimschriften — liest man bei Bischoff (1954) —, die in Buchhandschriften gar nicht so selten begegnen, stehen nicht hoch im Kurs; sie gelten mit Recht gegenüber der abstrusen Chiffrierkunst der Renaissance und des Barock und gegenüber den scharfsinnigen Systemen der neueren Zeit als primitiv. So sind sie neben der Erforschung der „Anfänge der modernen diplomatischen G eheimschrift“ bisher recht stiefmütterlich behandelt worden. Heutzutage erfolgt die Verschlüsselung von Texten (Kryptographie) unter Zuhilfenahme von mathematischen Verfahren maschinell. Vor einiger Zeit wurde in der chinesischen Provinz Hunan (Steinfeld 1990) eine spezifisch für die Belange der Frauen eingerichtete Frauenschrift (chin. nüshū) entdeckt. Die Untersuchung der Kombinationen von sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichen — in der Reklame, bei Wandschmierereien — fällt in die Kompetenz der Semiotik. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Trommelsprache in Schwarzafrika und an die Pfeifsprache (engl. whistle speech) bei Indianern in Amerika. Dazu gehört ursprünglich wohl auch die Funktion des Alphorns in den europäischen Zentralalpen. Ein G renzproblem ist die Notierung der Töne in Tonsprachen (z. B. Chinesisch, afrikanische Sprachen).

3.

Interferenzen

Bei mangelnder Schriftlichkeit spricht man von Kulturen der Oralität (z. B. in Afrika). Verschriftlichte Sprache ist nicht mehr nur Sprache, sondern ein Kommunikations- und Informationsverfahren besonderer Art. Anzumerken ist dazu, daß die Verschriftlichung von Sprachen verschiedenen Typs in neuerer Zeit auch ein Fall der Sprachenpolitik sein kann. In der Sowjetunion ist Kyrillisch für nichtrussische Sprachen (in Zentralasien) teilweise unter Zwang eingeführt worden (→ Art. 66). Für das Türkeitürkische führte Atatürk 1928 an Stelle des arabischen das lateinische Alphabet ein. Für Ostasien charakteristisch, aber durch kulturelle Beeinflussung zu erklären, ist die Verwendung von Zeichen — unabhängig von der Aussprache — aus dem Chinesischen (konkret z. B. sino-japanisch, sino-koreanisch) (→ Art. 27). Umgekehrt gibt

673

es neuerdings für das Chinesische als Romanisierung, d. h. als Umschrift mit lateinischen Buchstaben, die — linguistisch hervorragend konzipierte — Peking-Umschrift (sog. Pinyin). Das Stichwort für die hier angesprochene Problematik heißt „Transliteration“ (→ Art. 143).

4.

Transliteration

Die Transliteration ist heute ein mehr oder weniger standardisiertes Verfahren für Umschriften aus fremden Schriftsystemen in europäische Schreibweisen, genau wie die phonetischen Notierungen im Rahmen des „International Phonetic Alphabet“ (IPA, bzw. frz. API), das in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts konzipiert wurde (→ Art. 142). Das Problem bestand jedoch schon in vorwissenschaftlicher Zeit, und zwar zumal im Zusammenhang mit der Rezeption der arabischen Wissenschaft im europäischen Mittelalter (vgl. z. B. Ineichen 1966—67, 1968). Sprachgeschichtlich geht es dabei um die Entwicklung von Terminologien mit eigenem Status gegenüber dem Wortschatz der einzelnen Vulgärsprachen. Rein philologisch gesehen stellt sich dasselbe Problem im Rahmen besonderer Kulturkontakte auch bei der Überlieferung von Texten des Mittelalters, und zwar besonders in Randlagen der Romania. Dies gilt zunächst für einige italienische Texte in griechischer Überlieferung aus Süditalien (Parangeli 1960). Dies gilt sodann für Texte, die (aus der ganzen Romania nachweisbar) in hebräischer Schrift überliefert sind (Freedman 1972), und schließlich (aus Spanien) für solche, die arabische Lettern verwenden. Erinnert sei dabei an die älteste spanische Liebeslyrik bzw. an die jeweilige Schlußstrophe der G edichte (sog. ḥarǧa, span. jarcha) und an die Legenden der Morisken (sog. Aljamía, 16. Jh.). Die arabische Tradition des Spanischen bietet umstrittene Probleme nicht nur philologischer Art. Was die Ḥarǧas betrifft, entnimmt man aus Heger (1960), daß die spanisch-arabische Mischsprache über die arabische Schrift nicht genau identifizierbar ist. Dies trifft für die in ihrer Struktur stark arabisch geprägte Prosa des Aljamiado nicht zu, doch gibt es technische Probleme der graphischen Repräsentation. In Anlehnung an die arabische Schreibweise liest man gewöhnlich z. B. esta nuweyt a tu fillo garant amoríyo, was hispanisierend esta nueit a tu fillo grant amo-

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

674

río genau so akzeptabel wäre. (Vgl. Ineichen 1986; die arabisierende Schreibweise vertritt in Spanien Alvaro Galmés de Fuentes).

5.

Übersetzung

Es ist nicht abwegig, im vorliegenden Zusammenhang auch auf die interferierenden Übersetzungstraditionen hinzuweisen. Als Beispiel das Wort „Perspektive“ (Ineichen 1975). Es entspricht mlt. perspectiva, das europäisch mittelalterlich sowohl „Perspektive“ (perspectiva pingendi) als auch „Optik“ bedeutet, was wissenschaftsgeschichtlich nicht ohne Interesse ist. Mlt. perspectiva geht auf ar. al-manāẓir zurück, das „die Ansicht der Welt“ bedeutet und in Spanien mit lat. aspectus übersetzt wurde. Ein G rieche in Palermo war demgegenüber in der Lage, das Arabische zu identifizieren und es auf gr. ὀπτική „Optik“, im späteren G elehrtenlatein optica (16. Jh.) zurückzuführen. Stark interferierende Zentren erfordern — heute wie damals — nicht nur die sprachliche, sondern auch die Kompetenz der jeweiligen Schriftlichkeit. Bei der Übersetzung geht es jedoch nicht nur um Wörter, sondern um ganze Texte, deren Vertreter in den jeweiligen Übersetzungen ihrerseits wiederum traditionsbildend sind. Dabei wechselte die Konzeption bzw. die Vorstellung von den Verfahren und der Funktion der Übersetzung in einer im europäischen Sinn polyglotten Kultur ständig. Dazu ist bislang, von Folena (1991) im Bereich des Romanischen abgesehen, wenig gesagt worden. Die wissenschaftlichen Übersetzungen aus dem Arabischen sind als Sonderfall zu betrachten. Philologisch muß man deshalb unterscheiden zwischen der Übersetzung als solcher und der über die Übersetzungen laufenden ständig variierenden G estaltung von Stoffen. Man denke dabei an Tristan, aber ebenso z. B. an den Trojaroman — Historia Destructionis Troiae eines G uido „de Columnis“ —, der in fast alle europäischen Sprachen übersetzt worden ist. Die rumänische Fassung, belegt 1766 und 1812, geht auf die zweite russische Übersetzung zurück, die zur Zeit Peters des G roßen entstand und auf einer lateinischen Kurzfassung beruht, die auch deutschen Übersetzungen des 15. Jahrhunderts zugrundeliegt.

6. Die

Überlieferung Untersuchung

der

handschriftlichen

Überlieferung (Paquali 1934), die seit dem 14. Jahrhundert auch Autographen umfaßt, ist nicht nur philologisch im engeren Sinn begrenzt. Im weiteren Sinn erfaßt die Philologie ein Datenfeld für historische Erkenntnisinteressen verschiedenster Art: Kultur und G esellschaft, Politik, Wissenschaft, Sprache. Besonders wichtig ist dabei nicht nur die jeweils neue Produktion, sondern die Zirkulation schon bestehender Werke, bzw. der „Bücher“ als Informationsträger. Für das moderne Europa grundlegend war die über das Mittelalter vermittelte Kenntnis der klassischen Antike. Dazu kommt die Kenntnis der Ausrüstung wichtiger Skriptorien und Privatbibliotheken, z. B. diejenige von Petrarca (1304—1374) (vgl. Billanovich 1964) oder das Verzeichnis von Leonardo da Vinci (1452— 1519) über 116 Bücher, die er in einer Kiste eingeschlossen hielt (Cod. Madrid 8936). Das Interesse für die Überlieferung konzentriert sich jedoch zumeist auf literarische Texte. Man spricht in diesem Zusammenhang manchmal von einer charakterisierten und einer charakterisierenden Tradition. Erstere bezieht sich auf die G estaltung, die zweite auf die Umstände der Reproduktion und der Verbreitung des Textes. Man spricht von Textkritik (Quentin 1926, Maas 1927), wenn die Untersuchung des Umfangs und der Eigenart einer Überlieferung im Hinblick auf die Herstellung eines lesbaren Textes, d. h. einer Edition unternommen wird. Man hat sich dabei in irgend einer Form mit Karl Lachmann (1793—1851), dem Begründer der modernen Textkritik, auseinanderzusetzen. Lachmann war Altphilologe und Germanist.

7.

Lachmann

Die Lachmannsche Methode — erstmals dargestellt in den Prolegomena zu Lukrez, 1816 — beruht auf dem Prinzip, daß zwei oder mehr Handschriften nur dann die gleichen Fehler aufweisen können, wenn sie von der selben Vorlage abstammen. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, die Handschriften in Familien zu klassieren und ihr gegenseitiges Verhältnis mit Hilfe eines Stammbaums (stemma codicum, frz. arbre généalogique) darzustellen. Die Fehler dienen der Textkonstitution, und zwar nach dem Mehrheitsgesetz unter den unmittelbaren Textzeugen in den einzelnen G ruppierungen. Diese Fehler sind nicht einfach Varianten, sondern Leitfehler, d. h. signifikante Fehler, die die überlieferten Lesarten entweder verbinden oder trennen. Der wiederhergestellte Text beruht demnach auf einer Hypothese über den Zustand des

54.  Schriftlichkeit und Philologie

sog. Archetyps (ω), auf den die Überlieferung zurückgeht. Mit dem Archetyp ergibt sich eine Annäherung an das verlorene Original. Das stringente Ergebnis des Verfahrens ist die kritische Edition. Bei der handschriftlichen Überlieferung geht man davon aus, daß Fehler beim Abschreiben mechanisch entstehen. Das ist (erfahrungsgemäß noch heutzutage) nicht nur zufällig; es gibt Tücken der Vorlagen, die bestimmte Ergebnisse favorisieren (Haplographie, saut du même au même u. a.). Dazu kommt die bewußte Mischung von Traditionen (Kontamination, d. h. horizontale Überlieferung) und die Verwendung — in den Skriptorien — von Handschriften mit Varianten, d. h. von Handschriften als Variantenträgern (editio variorum). Diese technische Problematik hat einen geistesgeschichtlichen Hintergrund. Die Auffassung der Autoren und Schreiber ist moralisch. Nach dieser Auffassung kann jeder Text verändert und in jeweils neuen Fassungen angepaßt und verbessert werden. Dies gilt auch noch für die Humanisten, die sehr überlegte Herausgeber waren. Trotzdem geht die Vorstellung von der Authentizität des Originals und die G estaltung des Textes nach dem Willen des Autors letztlich auf die humanistische Philologie zurück. Anders hier Boetius (1973, 73): „Ideologische und kommerzielle Faktoren hatten dazu geführt, daß bis ins 20. Jahrhundert hinein kaum eines der von der Literaturgeschichte kanonisierten G esamtwerke ohne tendenziöse oder umfangmäßige Verstümmelung publiziert worden war. Vom Bewußtsein dieses Mangels her bezog die Editionstheorie ihre Impulse.“ Diese Vorstellung entspricht ganz einfach nicht den historischen G egebenheiten. Und sie gilt auch nicht für die Fachtexte der Naturwissenschaften, der Medizin und der Philosophie (vgl. auch Dain 1949). Für die Verfahren der Textkritik im einzelnen muß hier auf die einschlägige Literatur verwiesen werden. Die Methode Lachmanns ist nicht unbestritten; sie ist jedoch in der zweiten Nachkriegszeit in Italien — zumal mit den Initiativen von G ianfranco Contini (1912—1990) — maßgeblich ausgebaut worden (vgl. Avalle 1972).

8.

Anti-Lachmann

Damit gibt es im Bereich der handschriftlichen Überlieferung eine Methode für den Umgang mit den Texten, in gewissem Sinn

675

auch ein Modell für die G egebenheiten der Textsituation, die objektiv ist. Es fragt sich deshalb von Fall zu Fall, inwieweit die Methode operant ist oder nicht. Dazu gehörte auch eine Art Kasuistik (z. B. Ineichen 1964, d. h. anhand von Beispielen), die die Individualität in einem allgemeineren Rahmen erörtern könnte. Diese Diskussion ist europäisch. Man beachte jedoch, daß „Regeln für die Edition von Texten“ (u. ä.) in allen Philologien existieren. Die absolute G egenposition zu Lachmann ist diejenige des Franzosen Joseph Bédier (1913, dann 1928). Nach dem Prinzip des Bedierismus stützt man sich nach Prüfung der Überlieferungsverhältnisse für die Herstellung eines lesbaren Textes auf die Fassung der besten Handschrift. Aber die Frage nach der Ermittlung der jeweils besten Handschrift ist objektiv nicht entscheidbar. Man könnte auch hier von Kasuistik sprechen, z. B. in der G ermanistik im Falle von Wolframs Willehalm (Schanze 1968), mit 10 Handschriften, wo die Zweigliederigkeit des Stemmas die Interpretation nach dem (o. g.) Mehrheitsgesetz ausschließt. Mit der bedieristischen Skepsis wird man gleichzeitig auf Formen der Überlieferung verwiesen, in denen die Textherstellung nach stemmatischen Texten sicher nicht operant ist. Dies ist besonders bei nicht-literarischen Texten der Fall, nicht etwa, weil in diesem Bereich oft nur wenige oder zumeist bloß einzelne Exemplare die Überlieferung vertreten, sondern weil die Überlieferung sog. offen ist. Es gibt dann keinen Archetypus im Rahmen einer bestimmten Tradition, sondern immer wieder neue Initiativen und Interventionen im Rahmen eines bestimmten Kanons. Ein Beispiel dafür ist der wohl im ersten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts entstandene Vocabularius E x quo, der mit knapp 250 Hss. auch bereits in frühen Drucken überliefert ist (G rubmüller, bei Kuhn 1968, Schnell 1988) und im gleichen Zeitraum zahlreiche Revisionen erfahren hat (vgl. Stahl 1989). Dieses seinerzeit sehr gebräuchliche lateinisch-deutsche Vokabular dokumentierte grundlegendes Sprach- und Sachwissen, vor allem im Hinblick auf die Bibel.

9.

Editionsformen

Neben der kritischen Edition gibt es auch mehr oder weniger interpretative Editionen, die verschiedenen Bedürfnissen entsprechen und handlich sind. Das G egenteil davon ist

676

die diplomatische Edition, d. h. praktisch der möglichst getreue Abdruck einer bestimmten Handschrift oder anderer Textzeugen. Dies ist der Fall bei Dokumenten aller Art und bei Überlieferungsgeschichtlich besonders wichtigen Handschriften. Sehr schöne und minierte Handschriften werden heute als Luxusstück photomechanisch reproduziert. Andererseits bleibt zu bedenken, daß die Überlieferung auch formale Varianten mitträgt und daß ganze Texte in ihrem sprachlichen Habitus verändert werden können. Es gibt dialektalisierte und effektiv dialektale Texte, purgierte (wie z. B. in der Tradition und besonders in der Übersetzungstradition des Decameron von Boccaccio) und zu verschiedenen Epochen neu gestaltete (wie z. B. die Reiseberichte des Marco Polo). An die Stelle der Textedition treten hier die Interessen der Sprachgeschichte, der historischen G rammatik, der Dialektologie und der Sprachgeographie. Die Rubrik heißt dann „Sprachwissenschaft und Philologie“ (z. B. Eichner & Rix 1990).

10. Graphematik Eine Abteilung für sich bilden die Corpora von mittelalterlichen Urkunden, d. h. von nicht literarischen Texten, die genau lokalisiert und auch datiert werden können, dabei aber stilistisch — außer bei festgefügten juristischen Formeln — nicht markiert sind. In der Romanistik gibt es für diese Art von Schreiben, die mit den Formen der literarisierten Sprache nicht identisch ist, den Begriff der Scripta (vgl. G ossen 1967). Auf dieser Basis lassen sich die historischen Befunde diachron mit anderen Sprachzuständen vergleichen. In diesen Zusammenhang gehören auch die Probleme der G raphematik. Es geht dabei darum, den Lautwert bestimmter Schreibungen zu bestimmen, soweit sie in der Überlieferung auftauchen. Sie sind chronologisch und regional verschieden und einzelsprachlich gebunden. (Als Beispiele die Schreibung lh für das mouillierte l im Altokzitanischen, wie sie in der Folge auch ins Portugiesische übernommen wurde, ferner die diakritischen Zeichen oder Einführung der arabischen Ziffern). Es geht dabei um die Anpassung der Schreibung an die jeweiligen Besonderheiten der Lautung. Im Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung trifft man auf höchst erfinderische und linguistisch instruktive Initiativen. Dies gilt vor allem für ältere Denkmäler. Es

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

gibt auch Untersuchungen mit Hilfe der maschinellen Datenverarbeitung, z. B. Piirainen (1968) zum Frühneuhochdeutschen. Mit der Standardisierung der Sprachen fixiert sich auch deren Schrift. Die Orthographie wird bisweilen dann historisch, wie z. B. im Englischen oder im Französischen, und das Sprachbewußtsein entwickelt parallel ein sog. Schriftdenken.

11. Variantenkritik Die Variantenkritik, d. h. nicht die Varianten der Lesart, sondern diejenigen der Form, gehört in den ausschließlichen Bereich der Vulgärsprachen. Sie ergibt sich daraus, daß diese Sprachen in ihrer handschriftlichen Phase noch nicht standardisiert waren. Eine Variantenkritik lateinischer Texte gibt es deshalb nicht. In den formal noch sehr flexiblen Sprachen des Mittelalters in Europa beruht die Variantenkritik außerdem darauf, daß sich das lateinische Buchstabenalphabet wie gesagt von Fall zu Fall an die sprachlichen G egebenheiten anpassen ließ. Die formalen Varianten sind deshalb vor allem linguistisch interessant. Textkritisch stößt man dabei auf das Problem der G estaltung des kritischen Apparats, der über die G egebenheiten der Überlieferung im Verhältnis zum etablierten Text Rechenschaft gibt. Wichtig sind dabei die Varianten der Lesart. Die Varianten der Form werden zumeist ausgeschieden, zumindest dann, wenn sie keine besondere erklärende Kraft besitzen. Bei der Interpretation hält man sich zumeist nur an den etablierten Text. Raffinierter ist jedoch der Einbezug einschlägiger Varianten.

12. Buchdruck Mit der Erfindung des Buchdrucks um die Mitte des 15. Jahrunderts veränderte sich die geschilderte Überlieferungs- und Informationssituation in Europa grundlegend. Die Besonderheit der Erfindung G utenbergs war der Druck mit beweglichen Lettern. Drucke mit geschnitzten Holzplatten gab es in China schon im 9. Jahrhundert. (Das erste erhaltene gedruckte Buch ist die chinesische Übersetzung der buddhistischen Diamant-Sutra, a. 868; vgl. auch G ascoigne 1986). Mit dem Buchdruck verschwand die handschriftliche Überlieferung jedoch nicht sogleich. Heute zumeist verlorene Handschriften wurden zwar abgedruckt (sog. editio princeps); aber es gab

54.  Schriftlichkeit und Philologie

auch noch handschriftliche Kopien, sogar solche von Liebhabern (z. B. das Ambraser „Heldenbuch“ des Kaiser Maximilian, 1504—1515 durch den Bozener Zolleinnehmer Hans Ried geschrieben). Im islamischen Orient begann erst die osmanische Druckerei des 18. Jahrhunderts in einigen Bereichen das handschriftliche Buch zu ersetzen. In Rußland — heute mit einer eigenen Sammlung in der Leningrader Akademiebibliothek — gab es handgeschriebene Bücher (rukopisennye Knižki) noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Man begrenzt die erste Epoche des Buchdrucks, d. h. diejenige der Wiegendrucke (Inkunabeln), mit dem Jahr 1500. Der Buchdruck verbreitete zunächst ungezählte religiöse Werke und diente mit den lateinischen und griechischen Autoren den Interessen des Humanismus. Im vulgärsprachlichen Bereich kam er dem G eschmack des Publikums entgegen. Neu war dabei die große Verbreitung des Buches und dessen Verfügbarkeit für ein lesendes Publikum. Das war vorher nur sehr selten der Fall. Das erfolgreichste Werk des Mittelalters, der Rosenroman (um 1240), hat einen Überlieferungsbestand von 215 Handschriften. Die „G öttliche Komödie“ Dantes hat über 600 Handschriften. Sonst sind die Inventare der erhaltenen Handschriften gewöhnlich eher gering.

13. Standardisierung Der Buchdruck wirkte sich auch auf die Standardisierung der Schriftsprachen im 16. Jahrhundert aus. Es geht dabei um die Entstehung der Nationalsprachen, die jeweils einzelsprachlich behandelt werden muß. Mit der Fixierung dieser Sprachen hört in Europa die für das Mittelalter charakteristische typologische Durchlässigkeit der Systeme definitiv auf. Damit ändert sich gleichzeitig der Begriff der Überlieferung. Es entsteht ein gegenseitiges Verhältnis zwischen dem Buch und den verfügbaren Autographen, die oft verschiedene Phasen der Ausarbeitung dokumentieren. Es gibt Material aus Nachlässen, in denen Entwürfe, Vorstufen, Zwischenfassungen, Fragmente usw. auftauchen. (Ein bekanntes Beispiel aus der Linguistik ist der Cours von Saussure). Man weiß auch von Eingriffen noch während der Drucklegung. Die Editionstechnik beruht hier auf anderen G rundlagen.

14. Literatur

677

Avalle, d’Arco Silvio. 1972. La critica testuale. In: G rundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters, Heidelberg, Winter 1972, Bd. 1, 538—58. Bausani, Alessandro. 1970. G eheim- und Universalsprachen: Entwicklung und Typologie. Stuttgart, Kohlhammer. Billanovich, G iuseppe. 1964. La bibliothèque de Pétrarque et les bibliothèques médiévales de France et de Flandre. In: Fourrier, 195—215. Bédier, Joseph. 1928. La tradition manuscrite du Lai de l’Ombre. Réflexions sur l’art d’éditer les anciens textes. Romania 54. Bischoff, Bernhard. 1954. Übersicht über die nichtdiplomatischen G eheimschriften des Mittelalters. Mitteilungen des Instituts für Österreichische G eschichtsforschung 62, 1—27. Boetius, Henning. 1973. Textkritik und Editionstechnik. In: Arnold, Heinz Ludwig & Sinemus, Volker (ed.), G rundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft. München, Bd. 1, 31975, 73—88. Castellani, Arrigo. 1957. Bédier avait-il raison? La méthode de Lachmann dans les éditions de textes du Moyen âge. Fribourg (Suisse). Dain, Alphonse. 1949. Les manuscrits. Paris. Eichner, Heiner & Rix, Helmut (ed.). 1990. Sprachwissenschaft und Philologie. Jacob Wackernagel und die Indogermanistik heute. Wiesbaden (Kolloquium der Indogermanischen G esellschaft vom 13.—15. Oktober 1988 in Basel). Folena, G ianfranco. 1991. Volgarizzare e tradurre. Turin. Fourrier, Anthime (ed.). 1964. L’humanisme médiéval dans les littératures romanes du XIIe siècle. Paris (Colloque organisé par le Centre de Philologie et de Littératures romanes de l’Université de Strasbourg, 1962). Freedman, Alan. 1972. Italian Texts in Hebrew Characters: Problems of Interpretation. Wiesbaden. G ascoigne, Bamber. 1986. How to Identify Print. A complete guide to manual and mechanical processes from woodcut to ink jet. London 21988. G ossen, Carl Theodor. 1967. Französische Skriptastudien. Untersuchungen zu den nordfranzösischen Urkundensprachen des Mittelalters. Wien, Österreichische Akademie der Wissenschaften. Heger, Klaus. 1960. Die bisher veröffentlichten Ḥarǧas und ihre Deutungen. Tübingen (Beihefte zur Zs. f. romanische Philologie 101). Ineichen, G ustav et al. (red.). 1964. G eschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur, Bd. 2: Überlieferungsgeschichte der mittelalterlichen Literatur. Zürich. Ineichen, G ustav. 1966—67. La translitterazione dei termini arabi e la stratificazione degli arabismi

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

678

nel Medio evo. Bollettino dell’Atlante Linguistico Mediterraneo 8—9, 197—203. —. 1968. L’autorité de ‘Moamin’. In: Festschrift Walther von Wartburg. Tübingen, 421—30. —. 1975. Über „Optik“ und „Perspektive“: ar. almanāẓir. Vox Romanica 34, 58—62. —. 1986. Rezension zu Antonio Vespertino Rodriguez: Leyendas aljamiadas y moriscas sobre personajes bíblicos. Madrid 1983. Consuelo LópezMorillas: The Cor’an in sixteenthcentury Spain: Six morisco versions of sura 79. London 1982. —. 1993. L’apparition du roman dans des contextes latins. In: Selig, Maria, Frank, Barbara & Hartmann, Jörg (ed.): Le passage à l’écrit des langues romanes, Tübingen, 83—90. Kuhn, Hugo, Stackmann, Karl & Wuttke, Dieter (ed.). 1968. Probleme altgermanistischer Editionen. Wiesbaden. Maas, Paul. 1927. Textkritik. Leipzig, Teubner, 41960. Parangeli, Oronzo. 1960. Storia linguistica e storia politica nell’Italia meridionale. Firenze, 91—183. Pasquali, G iorgio. 1934. Storia della tradizione e

critica del testo. Firenze, Le Monnier, 21952. Piirainen, Ilpo P. 1968. G raphematische Untersuchungen zum Frühneuhochdeutschen. Berlin (Studia Linguistica Germanica 1). Quentin, dom H. 1926. Essai de critique textuelle (Ecdotique). Paris. Schanze, Heinz. 1968. Zur Brauchbarkeit des Handschriftenstemmas bei der Herstellung des Kritischen Textes von Wolframs Willehalm. In: Kuhn et al., 23—33. Schnell, Bernhard, Stahl, Hans-Jürgen, Auer, Erltraud & Pawis, Reinhard (gemeinsam mit Klaus G rubmüller). 1988. „Vokabularius Ex quo“. Überlieferungsgeschichtliche Ausgabe. Tübingen. 6 Bde., ab 1988. Stahl, Hans-Jürgen. 1989. Text im G ebrauch. Rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen zur Redaktion Me des ‘Vocabularius ex quo’ und zum ‘Vokabular des alten Schulmeisters’. Tübingen. Sternfeld, Eva. 1990. Die Frauenschrift aus Hunan. In: China der Frauen. München, Frauenoffensive, 24—26.

Gustav Ineichen, Göttingen (Deutschland)

55. Sekundäre Funktionen der Schrift 1. 2. 3. 4. 5.

1.

Primär und sekundär Magie der Schrift Anagramme Schriftbilder Literatur

Primär und sekundär

Auf die verwirrenden Vagheiten der Ausdrücke „Schreiben“, „geschriebene Sprache“, „G eschriebenes“, „Schrift“, „Schriftsystem“, „Schriftsprache“, deren terminologische Präzisierung sich als linguistische Notwendigkeit erwiesen hat (Ludwig 1983), wird hier nicht eingegangen. Es soll der orientierende Hinweis genügen, daß der Sinn all dieser Ausdrücke von einer grundlegenden Annahme beherrscht wird: schriftliche Phänomene und Strukturen funktionieren als Mittel der Repräsentation. Etwas anderes wird als sprachliche oder versprachlichte Präsenz vorausgesetzt, die schriftlich wiedergegeben und sichtbar gemacht wird. Die aristotelisch-„logozentrische“ Bestimmung, daß Schrift (grammata) nur ein willkürliches Zeichen für das ist, was „in“ dem G esprochenen ist und letzt-

lich im Eidos der Dinge seinen G rund hat (vgl. Derrida 1974, 24 ff; Simon 1989, 9—17), konnte unter dieser Voraussetzung ebenso traditionsbildend werden wie das nacharistotelisch-„phonographische“ Verständnis, das seit der Renaissance bis heute die Schrift auf eine Abbildungsfunktion hinsichtlich lautlicher Äußerungen reduziert (vgl. Maas 1986). Was auch immer als Präsenz vorausgesetzt wird (Logos oder Phone), „primär“ kommt Schrift nachträglich und äußerlich hinzu, um ihm eine sichtbare Version zu verleihen. Als „sekundär“ gilt dagegen all das, wodurch diese Repräsentationsrelation unterlaufen, überlagert oder zurückgedrängt wird. Es erschöpft sich nicht darin, Schrift als eine Art materielles Double gesprochener Signifikanten oder unsinnlicher Signifikate zu funktionalisieren. Stattdessen werden ihr Funktionen zugeschrieben, die in einem spezifischen Sinn „nicht-sprachlich“ sind. G lück (1987, 204) hat sie in „Zeichensystemen anderer Ordnung“ angesiedelt und dabei auf Magie, Religion, Ästhetik und Spiel hingewiesen. In diesen „anderen Ordnungen“ leistet Schrift etwas Anderes als im linguistischen Universum der sprachlichen Repräsentation. Von ihm legen

55.  Sekundäre Funktionen der Schrift

die Schriftpraktiken und -formen Zeugnis ab, die hier vorgestellt und erörtert werden. Auch wenn man sich davor hüten muß, die „sekundären Funktionen der Schrift“ unter einen gemeinsamen Begriff zu subsumieren, so lassen ihre vielfältigen Formen doch eine Art „Familienähnlichkeit“ (Wittgenstein 1960, 324) erkennen: sie alle versuchen der Schrift eine Energie zu bewahren oder zu verleihen, die vom ursprünglichen „mimetischen Vermögen“ (Benjamin 1972) des Menschen ihre Impulse bezieht. Das Spektrum reicht von magischen Kultschriften bis zu den Schriftbildern einer nachauratischen Kunst. Der Schlüssel zu ihrer Lesbarkeit ist nicht die „Repräsentation“, sondern die „Ähnlichkeit“. Immer handelt es sich um die Entdeckung oder Konstruktion geheimnisvoller Korrespondenzen, Konstellationen und Analogien im Medium der Schrift, in deren Fundus die Kraft des Mimetischen hineingewandert ist und graphisch in Erscheinung treten kann.

2.

Magie der Schrift

Dem aufgeklärten Bewußtsein gilt jedes schriftliche Zeichen nur als konventionelles oder arbiträres Mittel zur Bewahrung sprachlicher Verhältnisse. Besonders die Erfindung einer alphabetischen Lautschrift war in dieser Hinsicht wegweisend. Doch im Schatten dieses Bewußtsein zirkuliert schon immer eine andere Vorstellung, die mit der magischen oder mystischen Kraft des G eschriebenen rechnet. Sie vertraut auf verborgene Korrespondenzen, die den Kosmos regieren, und glaubt auch über die schriftlichen Mittel zu verfügen, sie zu G esicht bringen oder hervorrufen zu können. Drei Beispiele müssen hier zur Verdeutlichung genügen: Runenmagie, Kabbala und I Ging. Erst seit dem 17. Jahrhundert bezeichnet „Rune“ ein Zeichen der ältesten nordeuropäischen Schrift. In seiner Etymologie verweist Rune dagegen auf ein „G eheimnis“, wie es z. B. in Geraune und Alraune noch mitklingt. Über die Herleitung der Runenschrift gibt es zwar nur Mutmaßungen; als gesichert kann jedoch gelten, daß die Runenritzer selbst an eine göttliche Herkunft glaubten. In dem Edda-G edicht Hávamál (Str. 138 f) wird Odin als ihr Erfinder genannt. Er mußte sich opfern, um mit den Runen geheimes Wissen und Zauberkraft zu erlangen. Dieses Vertrauen in die magische Kraft der Runenzeichen (vgl. Agrell 1927; Flowers 1986) drückt sich in den Runennamen aus, die mehrheitlich in kulti-

679

sche Bereiche weisen (Jungandreas 1974; Düwel 1983, 106—110). Es findet seinen Niederschlag im Selbstbewußtsein der Runenritzer, die sich oft als erilaR (Runenmagier) in ihre Texte einschreiben. Aufs G anze überwiegt in den etwa 5000 gefundenen Runendenkmälern eine kultisch-magische Intention gegenüber profaner Mitteilungsabsicht (Krause 1935). Alu (Zauber, Ekstase) und laþu (Einladung, Zitation magischer Mächte) konnten als magische Wortformeln nachgewiesen werden. Erhellend ist der Fund aus einem Steinkistengrab bei Kylver (G otland) um 400 n. Chr., auf dem das ältere 24-Zeichen-Futhark (die „sinnlose“ Reihung aller Runenzeichen) zum Schutz gegen G rabfrevel und zur Bannung toter Wiedergänger diente. Oberhalb dieser Reihe kann man zudem die Inschrift „sueus“ lesen, deren Spiegelbildstruktur als Hinweis auf eine magische Formel interpretiert worden ist (Düwel 1983, 19). All das verweist darauf, daß das Schreiben und Lesen der Runen anfänglich durch einen magischen Willen gelenkt worden ist, der auf die geheimnisvolle Stärke der geschriebenen Zeichen in ihrer Materialität vertraute und in ihnen mehr sah als die bloße Fixierung sprachlicher Aussagen: aaaaaaaa RRR nnn x b m u ttt: alu (Liebeszauberinschrift auf dem Amulett von Lindholm, 6. Jh., zitiert nach Düwel 1983, 112). Wie einflußreich ein magisches Schriftbewußtsein auch innerhalb religiöser Systeme bleiben kann, welche die Welt entzaubern, Beschwörer und Zeichendeuter als widergöttlichen „G reuel“ verurteilen (5. Buch Moses, XVIII, 12) und das G eschriebene auf eine Repräsentationsfunktion mitteilbarer G laubenssemantik reduzieren, läßt sich an der kabbalistischen Tradition aufzeigen, deren Texte seit dem 12. Jahrhundert innerhalb der jüdischen Theognostik zirkulieren (Scholem 1957; 1963; 1970; Benedikt 1986). Kabbala, wörtlich verstanden als „Überlieferung“ göttlicher Dinge, ist zunächst nur Kommentar zu biblischen Büchern, besonders zum Pentateuch, der „schriftlichen Tora“. Mit dem „Sepher Jetzirah“ als unergründlichstem und dem Buch „Sohar“ als zentralem Werk bezieht sich die Kabbala auf ihre Vor-Texte jedoch nicht als bloße Verschriftlichungen religiöser Überzeugungen. Vielmehr konzentriert sie sich auf die Buchstaben und Namen der biblischen Schriften, denen ein symbolischer oder auch magischer G eheimsinn zugeschrieben wird. Durch kombinatorische Buchstabenspiele und „isopsephische“ Zah-

680

lenwertberechnungen (vgl. Weinreb 1978) gilt es ihn zu entziffern. Die Tora wird gelesen als eine Textur, wobei es besonders der Namen G ottes ist, den es als absolute Signatur aller Dinge zu entdecken gilt. Die Kraft der G ottheit verkörpert sich in einer buchstäblichen G estalt, die in höchster Konzentration ursprünglich magische Vorstellungen mit mystischer Spekulation verbindet. Prägnant hat der spanische Kabbalist Josef G ikatilla die Tora ein „G ewebe“ Ariga genannt, das durch verborgene Permutationen und Kombinationen aus dem Tetragrammaton JHWH gebildet ist (Scholem 1963, 61 ff; 1970, 107). Es verstreut sich auf komplexe und subtile Weise in die Schichten einer Schrifttextur, die zum Urbild alles G eordneten erklärt worden ist. Die reiche Fülle kabbalistischer Literatur, die oft genug auch Scharlatane, esoterische Okkultisten (Nettesheim 1987; Crowley 1973; Wilson 1988; Regardie 1988; 1991; Fortune 1990) und verworrene Köpfe in ihren Bann gezogen hat, läßt zugleich die G efahr erkennen, denen die kabbalistischen Textaufschmelzungen ausgesetzt sind. Das Spiel mit den graphemischen Elementen des corpus symbolicum kann sich in den unfaßbaren Ungrund trügerischer Zahlen-, Buchstaben- und Wortspiele verlieren, deren spekulativer G ehalt nur ein Trugbild ist. Es qualifiziert das chinesische „Buch der Wandlungen“ (I Ging), daß es einen umgekehrten Weg eingeschlagen hat (vgl. Wilhelm 1924; Wilhelm 1958; 1972). Statt dekompositorisch etwas zu suchen, das in der unauslotbaren Komplexität von Texturen verborgen eingewebt ist, wird konstruktiv aus einfachsten Bausteinen etwas aufgebaut, dem dann Schicht auf Schicht hinzugeschrieben werden kann, bis sich am Ende ein universales Schriftgebäude ergibt, eine Art analogisierender Weltformel. Am geschichtlichen wie strukturellen Ursprung des I Ging, dessen Kern nach chinesischer Überlieferung vom legendären Kaiser Fu-hsi (etwa um 3000 v. Chr.) erfunden wurde, steht der binäre Schematismus von Ja/Nein, der orakelnden Zwecken diente. Der ältesten erhaltenen Explikation dieses Ja/Nein zufolge, dem Orakelkommentar Hsi-tz’u, wurde das Ja als volle Linie geschrieben und mit dem ungradzahligen Yang in Verbindung gebracht, dem taoistischen Symbol für Helligkeit, Sonne, Ausdehnungskraft und Männlichkeit; das Nein dagegen, als gebrochene Linie geschrieben, wurde mit dem gradzahligen Yin verbunden, dem Symbol für Dunkelheit, Schatten, Ein-

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Abb. 55.1: Die 8 Trigramme des I Ging

saugen und Weiblichkeit (vgl. G ranet 1963, 86—109). Aus der Kombination dieser beiden Elemente ergaben sich zunächst 4 G rundzeichen, die Hsiang, durch Hinzufügung einer dritten Linie dann die 8 Trigramme, die als Korrespondenzen kosmischer Ordnungen interpretiert wurden und, nach den verschiedenen Himmelsrichtungen ausgerichtet, eine magische Figur bilden (Abb. 55.1). Um eine größere Komplexität zu gewinnen, wurden diese 8 Zeichen miteinander kombiniert, wodurch sich 64 Hexagramme ergaben, deren Strukturrelationen als ein Spiegelbild globaler mikro- und makrokosmischer Ordnung in ihrer Wandelbarkeit gesehen wurden. Es überrascht nicht, daß die kompositorische Struktur des I Ging all jene begeistern kann, die auf der Suche nach fundamentalen semiotischen Rastern sind, um die Komplexität der Wirklichkeit auf elementare Formeln zu reduzieren. Bereits Leibniz war fasziniert durch die strukturellen Korrespondenzen zwischen dem I Ging und seinem eigenen Entwurf eines eleganten Binärsystems auf der Basis von Null und Eins (vgl. Wilhelm 1972, 12 ff); Jung (1929) las es als „synchronistisches“ Symbol und verband es mit seinen Archetypen (vgl. Murphy 1980); Isomorphien zwischen I Ging und Kabbala stellte Surany (1982) fest; Fiedeler (1976) benutzte es zum Entwurf einer genetischen Anthropologie; am verblüffendsten ist jedoch die Koinzidenz, die Schönberger (1981) zwischen den 64 Hexagrammen und dem biologischen Schriftmodell des genetischen Codes feststellen konnte (vgl. Wilhelm 1975). G ermanischer Runenzauber, kabbalistische Buchstaben-, Zahlen- und Wortmanipulationen, chinesische Hexagrammkonstruktionen: diese Beispiele lassen erkennen, daß es falsch wäre anzunehmen, „die Fähigkeit zu lesen

55.  Sekundäre Funktionen der Schrift

und zu schreiben brächte die eher magischen Elemente von Ritus und G lauben zum Verschwinden“ (G oody 1986, 46). Stattdessen drängt sich die Einsicht auf, daß durch die Entwicklung schriftlicher Techniken das magische Bewußtsein einen gewaltigen Innovationsschub erhielt. Denn das Spiel mit den graphischen Elementen verführt in Dimensionen geheimnisvoller Entsprechungen, die nicht den konventionalisierten Regeln sprachlicher Repräsentation unterworfen sind. Dornseiff (1916; 1922) und Bertholet (1950) haben umfangreiches Material aus den verschiedensten Schriftkulturen zusammengetragen und gesichtet, in denen immer auch Texte wirksam sind, die mit der Materialität einzelner Buchstaben, strukturierter Alphabete und disseminierter Wortkörper arbeiten, um ihnen eine magische, mystische oder symbolische Kraft und Bedeutung zu verleihen. Dabei mögen sich die verschiedenen Techniken zwar unterscheiden. G emeinsam ist ihnen, daß sie den geschriebenen Sprachkörper als solchen manipulieren, unter Vernachlässigung seiner logozentrischen oder phonographischen Funktion, indem sie ihn zerstückeln und neu zusammensetzen, um solche Strukturgebilde herzustellen, die der magischen Intention, Wirklichkeit mit ihren verborgenen Korrespondenzen und Analogien beeinflussen oder beherrschen zu können, entgegenkommen. Die magische Vermutung eines „globalen und integralen Determinismus“ (Lévi-Strauss 1973, 23; vgl. Kippenberg & Luchesi 1978), den es durch manipulative Operationen eines mimetischen Vermögens zu kontrollieren gilt, findet in der Möglichkeit, mit schriftlichen G estalten strukturell basteln und spielen zu können, ein unerschöpfliches Betätigungsfeld. Das erklärt, warum magische Texte stets durch verstärkte Merkmale formaler G eordnetheit ausgezeichnet sind, die über eine bloß linguistische oder grammatische Struktur geschriebener Mitteilungen hinausgehen (vgl. G eier 1982). Das Spektrum kann von einer einfachen ABC-Reihung über durchstrukturierte Zeichenkombinationen bis zu hochkomplexen „Texturen“ kabbalistischer Spekulation reichen: stets sind es überstrukturierte Formen, die sich im Medium der Schrift wie in einem Vexierbild verborgen halten und durch graphemische Manipulationstechniken gestaltet und erprobt werden können. Die alte mimetische Begabung, Ähnlichkeiten und Entsprechungen entdecken zu können, welche die Kontingenz oft zufälliger und undeterminierter Tatsachen durch Über-

681

strukturierung zu begreifen ermöglichen, ist in die Schriftpraxis hineingewandert. In ihren magischen und mystischen Produktionen bleibt etwas lesbar, das in dem Maße unsichtbar werden mußte, in dem Schrift ihrer „primären“ Funktion, gesprochene Sprache zu repräsentieren, unterworfen wurde.

3.

Anagramme

Für ein automatisiertes Lesebewußtsein, dem das G eschriebene primär wie ein durchsichtiges Fenster erscheint, hinter dem es den linearisierten Bewegungen versprachlichter immaterieller Bedeutungen zu folgen vermag, ist es äußerst störend, wenn sich das G eschriebene als solches aufdrängt und die selbstverständliche Leichtigkeit des flüssigen Lesens unterbricht. Aber diese Irritation, die das lesende Auge verwirrt innehalten und auf die Schrift „starren“ läßt, kann auch eine Konzentration evozieren, die den Blick auf die Schriftgestalten wenden läßt und sie in ihrer Dinglichkeit zu begreifen sucht. Einer solchen Konzentration verdanken die Anagramme ihre Entdeckung oder Erfindung. Rätselhaft werden durch Umstellung einzelner Buchstaben aus Wörtern andere Wörter, aus Texten andere Texte, die sich, wie ein verborgenes G eheimnis, in ihnen versteckt zu haben scheinen. Die buchstäbliche Ordnung wird zerstört, um einen neuen Ausdruck zu erhalten, auferstanden wie Orpheus aus der Asche. Aus Beil wird Lieb und Leib, aus Christoffel von Grimmelshausen wird German Schleifheim von Sulsfort, und in der skeptischen Frage des Pilatus — quid est veritas? — ist anagrammatisch bereits die verteidigende Antwort der Jünger Jesu enthalten: est vir qui adest. Auch wenn die Herkunft des Anagramms sich in der Frühzeit schriftlicher Kombinationskunst verliert, so spricht doch vieles dafür, daß es anfänglich in magischen oder orakelhaften Kontexten wirksam war, vielleicht als Zauberformel zur Beschwörung eines verrätselten Namensträgers oder als Bestandteil der religiösen Vorstellung, daß eine Anrufung G ottes nur unter der Bedingung wirksam ist, daß die Bestandteile seines Namens unter den Text gewebt sind. In der Kabbala wurde das anagrammatische Herauslesen verborgener Beziehungen in den Wörtern und Texten ebenso praktiziert wie in der althebräischen Lyrik und in arabischer Zauberliteratur. Die Manieristen in der europäischen Literatur, fasziniert durch Schrift-Alchimie und esote-

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

682

rische Kombinationskunst, spielen damit äußerst erfindungsreich (vgl. Hocke 1959); und auch moderne Autoren (Zürn 1954; Pastior 1985; Thomkins 1986) nutzen das Anagrammatisieren, um sich von kombinatorischen Effekten des G eschriebenen verzaubern zu lassen, manchmal bis an die G renze verrückter Halluzinationen. Unica Zürn (1982, 18) stellt die Orakelfrage: „Werde ich dir einmal begegnen?“ — und das fünffache Anagramm dieses Satzes gibt ihr die Antwort: Nach drei Wegen im Regen bilde im Erwachen Dein Gegen-Bild: Er — der Magier! — Engel weben dich in den Drachenleib. — Ringe im Wege — lange, beim Regen, werd ich Dein.

Anagrammatische Praktiken haben nicht nur in der Literatur zu verwunderlichen Entdeckungen geführt. Auch die philosophische Reflexion der Sprache spielte anfänglich mit der Möglichkeit, Buchstaben umzustellen und Wortkörper zu anagrammatisieren, um der Spur ihrer Herkunft und ursprünglichen Bedeutung folgen zu können. Wie ein inspirierter „Begeisterter“, der „Orakel“ von sich zu geben scheint (396 d), durchforscht der namenkundige Sokrates in Platons „Kratylos“ zahlreiche Wörter, um anagrammatisierend ihre kunstreiche Richtigkeit zu demonstrieren (vgl. G eier 1986). Ein „ganzer Schwarm alter Weisheit“ taucht auf, auch wenn Sokrates davor warnt, diese Wortspiele allzu ernst zu nehmen: „Lächerlich ist es freilich zu sagen, aber ich glaube doch, es hat seine Wahrscheinlichkeit“ (402 a). — Diese Spannung zwischen Lächerlichkeit und Wahrscheinlichkeit kennzeichnet auch die berühmt-berüchtigten Anagrammstudien Saussures, der zahlreiche poetische Texte anagrammatisch zu entziffern suchte, indem er in ihrer manifesten Erscheinung immer wieder zersplitterte Wortkörper freizulegen versuchte, „einen latenten Hintergrund, ein verborgenes G eheimnis, eine Sprache unter der Sprache“ (Starobinski 1980, 130; vgl. Wunderli 1972). Angeregt durch Saussures graphemische Bastelei hat Toporov (1981) sich den Ursprüngen indoeuropäischer Poetik zugewandt und demonstriert, wie das Poetische in einem Rahmen schriftlicher Operationen entstanden ist, die Wortkörper zerstören und neuschöpfen und in einem „G rundmythos“ von göttlicher Opferung und Wiederauferstehung fundiert sind. Die dekonstruktive Brisanz des Anagrammatisierens hat Baudrillard (1982, 297—361) verdeutlicht, verbunden mit einer radikalen Kritik an jenem linguistischen Denken, das

auf eine lineare Ordnung der Diskursivität fixiert ist. Dagegen gilt es einen „symbolischen Tausch“ im Innern des G eschriebenen zu praktizieren, der durch drei Verfahrensweisen charakterisiert ist: erstens durch eine gezielte Dissemination der sprachlichen Zeichen, deren repräsentierende Identität aufgelöst und ex-terminiert wird, um mit den einzelnen Partialobjekten ein poetisch genußreiches Spiel zu ermöglichen, das Texturen produzieren läßt, in denen der aufgelöste Signifikant vernichtet und auffindbar ist, disseminales Trugbild und seminale Spur; zweitens durch die Mißachtung und Aufhebung des linearen Charakters sprachlicher Äußerungen, deren Reversibilität sich jener linguistischen Strukturation entzieht, die, bezogen auf den Signifikanten als primär lautlicher Erscheinung, der Zeit unterliegt und unumkehrbar ist; drittens schließlich durch die Beschränkung auf einen begrenzten Corpus des G eschriebenen, der sich nicht in der grenzenlosen Produktion von Signifikanten-Material austobt, sondern sich kontrolliert und bescheidet, um in einem Prozeß exakter Konsumtion und zyklischer Auflösung poetisch oder symbolisch wirksam sein zu können. — Als Beispiel einer „sekundären“ Funktion der Schrift entfaltet das Anagramm eine materielle Stärke und Kraft, die gegen die „primäre“ Repräsentationsfunktion der Schrift ihr Veto einlegt, um den Fluß des Sprechens anzuhalten und die poetischen Energieströme im symbolischen Tausch geschriebener Elemente zirkulieren zu lassen.

4.

Schriftbilder

Ein ähnlicher Einspruch, der den Raum der beharrlichen Schrift gegen die zeitliche Linearität des verklingenden Lautzeichens zu retten versucht, wird sichtbar im Formenreichtum der visuellen Poesie. Sammlungen und Sichtungen dieser schriftkünstlerischen Praxis, die kulturgeschichtlich mit der G eburt des G raphismus beginnt und bis zu den visuellen Textexperimenten der konkreten und nachkonkreten Literatur reicht, finden sich in vielen Arbeiten (Massin 1970; Dencker 1972; Ernst 1976; Weiss 1984; Faust 1987; Adler & Ernst 1987; Ernst 1991). Die materielle Körperlichkeit der Schriftzeichen hat immer schon Techniken einer figurativen Kunst provoziert, die das Schriftzeichen in seiner graphischen G estalt ästhetisch ernstnimmt (→ Art. 14). Auch wenn die Schrift nicht älter ist

55.  Sekundäre Funktionen der Schrift

als die Sprache, so sind sekundäre Funktionen doch älter als die Subordination des G raphismus unter die Ansprüche des Hör-Sinns. Der reiche Schatz figurativer Schriftkunst, der in frühen asiatischen und orientalen Hochkulturen gefunden wurde und in der griechisch-römischen Antike einen ersten Höhepunkt erreicht hat, ließ deshalb die berechtigte Frage stellen, „ob nicht westliche und östliche Formen der visuellen Poesie eine gemeinsame Wurzel in dem Bestreben des frühzeitlichen Menschen haben, Welterfahrung in einem Schrift und Bild umgreifenden synthetischen Medium auszudrücken“ (Adler & Ernst 1987, 21). Auf diese Frage gaben die Untersuchungen von Leroi-G ourhan (1980, 237 ff, 387 ff) eine positive Antwort, der die ersten auffindbaren Spuren eines graphischen Symbolismus (etwa 50 000 Jahre vor unserer Zeit) als Ausdruck rhythmischer Werte gelesen hat, die selbständig sind gegenüber der phonetischen Sprache und sich in einem Schriftraum realisieren, der eine symbolische „Domestikation“ menschlicher Welterfahrung erlaubt. Unübersehbar ist, daß diese frühzeitliche Intention des homo sapiens auch in jenen Schriftkulturen wachgeblieben ist, die sich den Anforderungen einer Repräsentation lautlich mitteilbaren Sinns unterworfen haben. Sie konstituiert eine eigenständige Tradition von Schrift-Bildern, deren Erscheinungsweise äußerst vielfältig ist und von einem großen ästhetischen Erfindungsreichtum zeugt. Der Bogen reicht von hieroglyphischen Intextbildungen nach Art eines Mesostichons (im horizontal lesbaren Text verbirgt sich zugleich ein vertikal zu lesender Text) über Technopägien (griech. Umrißgedichte, welche die Konturen eines G egenstandes abbilden), mittelalterliche carmina figura, Vexierbilder, Kreuzwortlabyrinthe und G ittergedichte bis hin zu den Seh-Texten der konkreten Poesie. So versteht G omringer (1974, 93) seine „Konstellationen“ als eine G ruppierung von wenigen Worten, „so daß ihre gegenseitige beziehung nicht vorwiegend durch syntaktische mittel entsteht, sondern durch ihre materielle, konkrete anwesenheit im selben raum“ (vgl. auch G omringer 1977). Die minimalistischen Arbeiten G appmayrs haben diesen Anspruch konsequent in Form von „Zeichen“ (1962—1970) und „Texten“ (1978) gestaltet, deren Worte und Zahlen vor dem Leser wie G egenstände stehen, die in ihrer visuellen Präsenz sich durchaus nicht mit dem

683

Abb. 55.2: „Poesis artificiosa“ (Pachasius 1674), in: Adler & Ernst 1987, Text als Figur, Weinheim, 168

decken müssen, was in ihnen repräsentiert erscheint. Radikaler als die Vertreter der konkretenvisuellen Poesie verfuhren die Schriftkünstler der klassischen Moderne. Indem sie G eschriebenes als zivilisatorisches Abfallprodukt für ihren bildnerischen G estaltungswillen verwerteten, befreiten sie es nicht nur aus seiner phonographischen Funktionalität, sondern weitgehend auch von seinem semantischen G ehalt. Schriftmaterial wurde als solches ins Bild integriert. Als kontingentes Faktum einer Kultur, die von einer Ökonomie der Überproduktion von Schriftmüll beherrscht zu werden droht, liegt es im Bereich der Hände und kann benutzt werden wie jedes andere Realitätspartikel. Bereits in den Collagen des „synthetischen“ Kubismus, in frühen Werken von Picasso und Braque, dann auch bei G ris, als es nicht mehr um die „analytische“ Zerlegung, Schichtung und Überschneidung gegenstandsbezogener Bildsegmente, sondern um einen formalen Neuaufbau des Bildes aus größeren, flächenhaften Elementen ging, wurden bedruckte Papierstücke als Bildelemente benutzt, bevorzugt Zeitungspapier. Schon 1910 finden sich gemalte Druckbuchstaben oder Ziffern in der abstrakten Bilderwelt der Kubisten, bald darauf auch zerstückelte Wortmalereien von Journalen oder Plakaten. Braques „Stilleben mit Fruchtschale und G las“ vom September 1912 gilt als Erstlingswerk der „papiers collès“, in denen Schriftzeichen als G estaltungs-

684

material eingewoben sind (vgl. zur G eschichte der Collage Wescher 1980). Während die beschrifteten Papiere in diesen kubistischen Schriftbildern meist nur dazu dienten, die Wirklichkeit, wie sie in den Druckerzeugnissen der Presse fixiert ist, in der abstrakt gewordenen Bildwelt „anklingen“ zu lassen, kommt ihnen innerhalb der futuristischen Collage eine stärker politische, agitatorische Rolle zu. „Die Wirklichkeit der aktuellen Stunde, das von den Futuristen verherrlichte moderne Leben, brach dank des Schlagzeilen- und Schlagwort-Charakters auf aufgeklebten und gewissermaßen plakatierten Textfragmente in die Welt der Bilder ein“ (Schmalenbach 1967, 94). Die eingefügten Schriftfragmente gehen neuartige thematische Verbindungen und Beziehungen ein und werden in den Bewegungsrausch der futuristischen Bilder eingezogen. Begeistert nahm die dadaistische Bewegung diese Impulse auf. Bereits für die 1. DadaSoiree, 14. 2. 1916 im Züricher Zunfthaus zur Waag, steht Arp mit „Erläuterungen eigener Werke“, bei denen es sich um „Papierbilder“ handelt, auf dem Programm. Die dynamische Ästhetik der Futuristen kann jedoch nicht mehr begeistern. Die dadaistische Inszenierung lebt stattdessen von einem anarchischen Überlebenswitz, der mit den heterogenen Bruchstücken einer sich zerstörenden Zivilisation sein Spektakel treibt. Auch schriftliches Material wurde benutzt als Überbleibsel eines gesellschaftlichen Zerfalls, der die Schriftkultur zum Müllhaufen werden ließ. Die Schriftbilder des MERZ-Künstlers Schwitters folgen dieser Tendenz auf eigenwillige Weise. Sie sind frei vom Telos gegenständlicher Abbildung, vom Wunsch nach expressivem Ausdruck, von der Intention auf politischen Sinn. Schwitters sammelt, nagelt und klebt. Besonders bedrucktes Papier jeglicher Herkunft dient ihm als Material: Fahrscheine, Zeitungsausschnitte, Lebensmittelkarten und Rechnungen, G arderobenquittungen und adressierte Briefumschläge. G anz oder zerrissen, geglättet oder zerknittert, zugeschnitten oder zerfasert werden all diese Fundstücke fürs Bild verwendet und gegenseitig „gewertet“. Und doch dient auch diese Verwertung von Schriftresten als Bildmaterial noch einer Art von „magischer“ Beschwörung. Im Müll der kaputtgegangenen Schriftkultur findet sich das sinnlos gewordene Material zum Aufbau eines Neuen, das durch ästhetische Wertung seiner Teile graphische

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Korrespondenzen sichtbar werden läßt, die

Abb. 55.3: Kurt Schwitters: Merzzeichnung 83 / Zeichnung F (1920), in: Schmalenbach 1967, K. Schwitters, Köln

mimetisch die Zerstörungen beschwören und zugleich überwinden wollen. „Kaputt war sowieso alles, und es galt, aus den Scherben Neues zu bauen. Das aber ist Merz.“ (zit. nach Schmalenbach 1967, 99; vgl. G eier 1980; vgl. Abb. 55.3). Die semiologische Entleerung des aufgelesenen Schriftmaterials zu einer graphischen Marke, sein Festkleben als bloßes Diesda, das in seiner Präsenz unmittelbar optisch aufgenommen wird, ohne zu einer Lektüre zu verführen, versteht sich als eine künstlerische Rettungsaktion, welche die Schrift als solche materialistisch bewahren will, und sei es auch nur in G estalt jener verbrauchten und vergammelten Überbleibsel, die für Schwitters eine „unerhörte Magie“ ausstrahlten, als „lebendige, geisthaltige, machthaltige Körper, in denen gleicherweise Leben und Tod hausten“ (Schmalenbach 1967, 117). Mit anderen Worten: noch im Zustand seiner katastrophalen Zerstörung bleibt der Schriftkörper ein Fundus, in dem das mimetische Vermögen neue,

55.  Sekundäre Funktionen der Schrift

lebendige Korrespondenzen zum Vorschein bringen kann, auch wenn die alten Kräfte magischer oder symbolischer Schriftpraxis schon lange von der Bühne der G eschichte abgetreten sind.

5.

Literatur

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V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

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Manfred Geier, Hamburg (Deutschland)

687

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit Social Aspects of Literacy

56. Orthographie als Normierung des Schriftsystems 1. 2. 3. 4.

9.

Kalligraphie und Orthographie Der orthographische Mythos Das phonematische Prinzip Verschriftung und Grammatik: das morphematische Prinzip Majuskel, Minuskel, Interpunktion und Satz Schreibschrift und Druckschrift: die Digitalisierung der Schrift Typographie: Konventionalisierung des Alphabets Regulativer und funktionaler Sinn orthographischer Normen Literatur

1.

Kalligraphie und Orthographie

5. 6. 7. 8.

Wie die Kalligraphie zum Prinzip der Ideographie, so gehört die Orthographie intrinsisch zur Alphabetschrift. Während jedoch der Begriff jener klar um rissen scheint, m uß der der Orthographie gegen eine Mythenbildung freigelegt werden, die wiederum m it dem Prinzip der Alphabetschrift aufs innigste verbunden ist. Kalligraphie ist die ästhetische Individualisierung des konventionellen Sinns, der m it einem Ideogram m verbunden ist. Ihre Werkzeuge sind Tusche, Pinsel und Papier, ihre Dom äne som it die Schreib- bzw. Kursivschrift. Die Variation des ideographischen Schem as, die Reduktion der Graphie bis auf ein Minim um an Differenzen, das es dem Schriftkundigen noch im m er erlaubt, aus der m it den Spuren des Pinselstrichs m arkierten Geste das Zeichen zu entschlüsseln, fordert über die graphischen Analogien die Einbildungskraft des Lesers heraus, den Spuren auf selbstgewählten Wegen nachzugehen. Die Schrift wird wieder in das Bild integriert, nicht als Unter-, Über- oder Nebenschrift, sondern als in dessen Sym bolik einbezogene Graphie (→ Art. 14). Anders die Orthographie. Ihr Nim bus ist denkbar schlecht. Der Orthographiekundige

steht nie im Ruf des Künstlers, allenfalls in dem des Beckm essers. Rechtschreiblektionen sind die von Schülern und Lehrern gleicherm aßen gehaßten Obligationen der Einführung in den Gebrauch der Alphabetschrift. Staat freilich ist m it der Erfüllung der Norm nicht zu m achen, doch verfehlt m an sie, so blam iert m an sich. In der Kalligraphie beweist m an Geschm ack, in der Orthographie m acht man Fehler. Einen orthographischen Fehler nennt m an die Abweichung von einer geltenden Regelung der Schreibweise von Wörtern oder Sätzen. Darunter werden Sachverhalte gefaßt wie (BF) die Abweichung von einer bestim m ten „vorgeschriebenen“ Buchstabenfolge: fogel statt Vogel, Mor statt Mohr oder Moor, Maschiene statt Maschine, nummerieren statt numerieren; (GZ) die Zusam m enschreibung anstelle erwarteter Getrenntschreibung und vice versa: infrage statt in Frage, Monitor Anschluß statt Monitoranschluß, irgendetwas statt irgend etwas; (GK) die Verwendung von Minuskeln anstelle von regulär erwarteten Majuskeln und vice versa: karl statt Karl, das singen statt das Singen, Trotzdem statt trotzdem; schließlich (I) ein von „der Norm “ abweichender Gebrauch von Interpunktionszeichen wie Kom m a, Anführungszeichen, Klammern usw.

Nicht als orthographische, sondern als gram m atische Fehler gewertet werden dagegen Abweichungen wie wegen den statt wegen des/ dem oder ein Sack statt einen Sack o. ä., obwohl sie als Fälle von (BF) interpretierbar wären. Gram m atische Wohlgeform theit eines schriftlichen Ausdrucks ist offensichtlich auf einer anderen, und zwar grundlegenderen Ebene definiert als orthographische. Das Reden über orthographische Sachverhalte setzt stillschweigend die gram m atische Wohlgeform theit der betrachteten Ausdrücke je schon voraus. Und in der Rede über Gram m atik ist die Orthographie in der Regel geschenkt. Mithin stellt sich die Frage nach dem Bezugssystem , welches die Grundlage bildet

688

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

für die Definition dessen, was m an orthographische Korrektheit, Wohlgeform theit oder Richtigkeit nennt.

Logik und Gram m atik, doch geht es in der Orthographie nicht wie in der Gram m atik um die notwendigen, sondern gerade um die hinreichenden Bedingungen der Lesbarkeit von Wörtern und Sätzen, weil eben orthographische Wohlgeform theit eines Ausdrucks die gram m atische zwingend voraussetzt. Ob angst groß oder klein zu schreiben ist, englischsprechend getrennt oder zusam m en, ob ur oder uhr gem eint ist, läßt sich je nur aufgrund des syntaktischen Kontextes entscheiden. Auf der Ebene der hinreichenden Bedingungen der Lesbarkeit aber bildet — hierin knüpft Saussure explizit an die sprachphilosophische Tradition an — das signe linguistique eine untrennbare Einheit. Die skizzierte Auffassung von Orthographie m uß einen Kategorienfehler enthalten: Entweder gilt das Arbitraritätsprinzip, dann kann es keinen im signifiant des gesprochenen Wortes liegenden Grund für den Vorrang dieser oder jener Schreibweise geben, oder aber es gilt das phonem atische Prinzip, dann ist die Wahl der zu schreibenden Buchstabenfolge ausschließlich eine Frage der korrekten phonem atischen Analyse des betreffenden Ausdrucks. Phonem atisches Prinzip und konventionelle Geltung der orthographischen Kodierung sind m iteinander nicht kom patibel. Insofern handelt es sich bei dieser Auffassung von Orthographie, die intrinsisch m it der Existenz von Institutionen wie Duden, Académ ie française o. ä., verbunden ist, um einen Mythos in dem Ryle beschriebenen Sinn (Ryle 1963, 17 ff). Zweifellos aber existiert für jeden Schriftkundigen gleich welcher alphabetisierten Sprache eine m ehr oder weniger scharfe Grenzziehung zwischen akzeptierten und nicht akzeptierten Schreibweisen, wobei der Spielraum , innerhalb dessen Schreibalternativen akzeptiert werden, bezüglich der o. g. Bereiche offenkundig variiert. Im Deutschen ist er bei der Groß- und Kleinschreibung, insbesondere aber bei der Getrennt- und Zusam m enschreibung offenkundig größer als bei der Interpunktion oder Buchstabenfolge, denn diese kann kontextunabhängig durch Listen, also extensional geregelt werden. Notwendig ist dam it eine Interpretation von „Ortho-Graphie“, die diesem Faktum Rechnung trägt, ohne in den beschriebenen Kategoriefehler zu verfallen. Im Rahm en einer Theorie der Orthographie ist som it ebenso eine Klärung des phonem atischen Prinzips gefordert wie eine Klärung des konventionellen Charakters der Orthographie. So klar die Unterscheidung von Graphie und geschriebener Sprache

2.

Der orthographische Mythos

Orthographie betrifft nach herrschender Auffassung (Nerius et al. 1987, 18 ff) nur die Form schriftsprachlicher Ausdrücke, ihre Dom äne scheint som it der signifiant, nicht der signifié. Dies erm öglicht handliche Unterscheidungen zwischen „geschriebener Sprache“, welche Ausdruck und Bedeutung um faßt, „Schreibung“ bzw. Graphie, die Produktion der „Form seite“ der geschriebenen Sprache, und schließlich der „Schrift“ als des technischen Mittels der Schreibung. Die Orthographie konstituierenden Grundsätze sind dieser Auffassung gem äß (1) der arbiträre Charakter orthographischer Norm en, (2) der Prim at des phonem atischen Prinzips. Legitim iert werden orthographische Norm en m it der Notwendigkeit einer Vereinheitlichung des Schriftgebrauchs, ohne die eindeutige Lesbarkeit des Geschriebenen nicht gewährleistet sei. Sie gelten als konventionelle Regelungen, die von befugten Autoritäten festgelegt und m odifiziert werden können, als Regeln m ithin in dem von Black beschriebenen regulationsense (Black 1962, 109 ff). Orthographiereform wird folglich gedacht als Kodifizierung von durch Expertenkom m issionen erarbeiteten Vorschlägen. Grundlage aller Regelungen ist der communis opinio gem äß, die hierin noch im m er dem spätestens bei Adelung kodifizierten Deutungsschem a von Orthographie folgt (Nerius et al. 1987, 79 ff; Adelung [1971] II, 661 ff), vor allem das phonem atische Prinzip, dem zufolge die Wahl des jeweils zu schreibenden Buchstaben vom „entsprechenden„ Laut des gedachten Ausdrucks abhängt. Schreiben wird in dieser Tradition als Funktion gedeutet, welche die Elem ente der Definitionsm enge {Buchstaben} auf die der Wertem enge {Laute/Phonem e} abbildet. „Beim Erlernen der Schrift wird der Lernende so vorgehen, daß er die anzuzeigenden Schriftzeichen auf lautliche Gegebenheiten der gesprochenen Sprache bezieht“ (Nerius et al. 1987, 79). So selbstverständlich diese Auffassung auf den ersten Blick scheint, sie ist eine vom Prinzip der Alphabetschrift erzeugte Illusion. Denn die Unterscheidung von signifiant und signifié ist eine Abstraktion, welche zwar die form ale Behandlung von Sprache erm öglicht,

56.  Orthographie als Normierung des Schriftsystems

scheint, so unklar ist sie, und m an tut gut daran, sich dem Phänom en vom eingebürgerten Gebrauch des Wortes Schrift her zu nähern.

3.

Das phonematische Prinzip

Unm ittelbar einsichtig ist aus den eingangs angeführten Beispielen der intrinsische Zusam m enhang von Orthographie und Alphabet. Am Anfang einer jeden adäquaten Theorie der Orthographie m uß daher die Interpretation der Relation von geschriebenem und gesprochenem Wort stehen, m . a. W. der Status des phonematischen Prinzips. Übereinstim m ung besteht darin, daß sich das in Europa seit Beginn des 1. Jahrtausends v. Chr. gebräuchliche Alphabet durch die Übertragung der phönizischen Konsonantenschrift auf das Griechische herausgebildet hat (Heubeck 1979, 73 ff). Wenn dieser Prozeß selbst auch weitgehend unbekannt und nur durch wenige Dokum ente belegt ist, so ist doch klar, daß das entscheidende Mom ent hierbei die strukturellen Differenzen zwischen sem itischem und indoeuropäischem Sprachtypus gewesen sind (→ Art. 20, 25). Die Silbenstruktur der sem itischen Sprachen erlaubte es, m it einem heute als „Konsonantenschrift“ bezeichneten Schriftsystem Texte dieser Sprachen für den Leser hinreichend lesbar zu schreiben, weil die zu interpolierenden „vokalischen“ Elem ente in der Regel aus dem Kontext zu erschließen waren. Diese Konsonantenschrift war strukturell also noch eine Silbenschrift, auch wenn das Buchstabenrepertoire sich schon in der Größenordnung des späteren Alphabets bewegte. Griechische Wörter waren m it diesem Schriftsystem nicht eindeutig zu schreiben. Ihre Silbenstruktur kannte sowohl die Aneinanderreihung m ehrerer konsonantischer Elem ente — anér, andros, ... — als auch das Auftreten derselben Konsonantengruppe in verschiedener vokalischer Um gebung. Dies zwang zu einer Analyse und zu einer Repräsentation der Binnenstruktur der Silbe bis zu einem Grad, der es gestattete, m it einem m odifizierten „phönizischen“ Repertoire nun auch griechische Wörter eindeutig lesbar zu schreiben, und dieser Grad bestand darin, Werte für nichtkonsonantische Silbensegm ente durch diskrete Zeichen darzustellen. Noch Platon spricht geradezu form elhaft von der Darstellung des Gem einten (legomenon) durch „Silben und Buchstaben“; die Bedeu-

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tung des m it dem griechischen Alphabet vollzogenen Schritts in Kontrast zur phönizischen Schrift war also noch gegenwärtig (Kratylos 424 c ff, Theaitetos 202 e ff). Die Unterscheidung von Konsonant und Vokal, in allen Darstellungen dieser Entwicklung wie selbstverständlich als Kategorieninventar vorausgesetzt, ist freilich erst durch eben diese Entwicklung erzeugt worden — m it allen schon von Platon referierten Schwierigkeiten der Unterscheidung von Vokalen und Halbvokalen, Konsonanten und Sonanten, Halbvokalen und Sonanten usw. Resultat der Verschriftung griechischer Dialekte ist ein die genannten Buchstabenkategorien um fassendes Alphabet, das von der Literatur übereinstim m end als das erste „vollständige“ Alphabet in der Evolution der Menschengattung beschrieben wird (FöldesPapp 1984, 143 ff; Haarm ann 1990, 282 ff). Doch gehört auch diese Deutung zum Inventar des orthographischen Mythos. Denn das einzige Kriterium , von dem her die hier erreichte Analyse des gesprochenen Wortes als hinreichend beurteilt werden konnte, war die Lesbarkeit der m it diesem Repertoire geschriebenen Wörter. Und „vollständig“ war das griechische Alphabet nur insofern zu nennen, als — nach einigen Ergänzungen wie Φ oder Ω — alle griechischen logoi m it ihm so geschrieben werden konnten, daß jeder Ausdruck von jedem anderen an der betreffenden Stelle nicht zu l e s e n d e n hinreichend eindeutig zu unterscheiden war. Man hat die phonem atische Analyse nicht weiter getrieben als es für diesen Zweck notwendig war, warum sollte m an auch. Bekanntlich läßt sich ja das Phonem seinerseits als Kom plex distinktiver Merkm ale darstellen. Relevant für die Definition des Alphabets war indessen allein die bedeutungsdiskri m inierende Funktion der durch Buchstaben repräsentierten Wortsegm ente, also etwas, das nicht sinnlich wahrnehm bar, sondern allein verstehbar war und ist. Funktionen sind abstrakte Entitäten, nichts sinnlich Gegebenes. Im Prinzip des Alphabets realisiert sich eine Weise schriftlicher Artikulation des Gedachten, die dem Prinzip der doppelten Artikulation der Rede analog ist, ohne diese doch abzubilden (Maas 1985 a, 7 f). Hieraus folgt ein für das Verständnis von Orthographie wesentlicher Grundsatz: Buchstaben werden und wurden erst recht nicht bei der Entwicklung des Alphabets dazu verwendet, Laute zu bezeichnen, sondern a u ss ch l i e ß l i c h dazu, l e s b a r e W ö r t e r o d e r Tex t e z u s ch r e i b e n. Für Hum boldts De-

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

finition der Schrift ist eben dieser Gedanke leitend:

krete, für sich wahrnehm bare Zeichen. Erst in dieser Projektion gewinnt „der“ Laut seine Bestim m theit. Orientiert an der System atik der kantischen Ästhetik hatte Hum boldt dies bereits klar gesehen: Die Buchstabenschrift, so beschreibt er deren Rückwirkung auf die Sprache, läutere und erhöhe deren sinnlichen Ausdruck, „indem sie den im Sprechen verbundenen Laut in seine Grundtheile zerlegt, den Zusam m enhang derselben unter einander, und in der Verknüpfung zum Wort anschaulich m acht, und durch die Fixierung vor dem Auge auch auf die hörbare Rede zurückwirkt.“ (GS V, 114). Wenn das phonem atische Prinzip also einen Sinn haben soll, dann m eint es nicht die Bezeichnung von Phonem en durch Buchstaben, sondern vielm ehr die rekursive Definition des m ündlichen durch das geschriebene „Elem ent“ und dam it die Aufzählung einer Graphem m enge von hinreichender kom binatorischer „Mächtigkeit„. Diese steht am Beginn jeder Verschriftung eines Dialekts durch eine Alphabetschrift. Im phonem atischen Prinzip ist som it ein Konstitutionsprinzip der Alphabetschrift benannt, keineswegs aber ihr grundlegendes Funktionsprinzip.

„Unter Schrift im engsten Sinne kann m an nur Zeichen verstehen, welche bestim m te Wörter in bestim m ter Folge andeuten. Nur eine solche kann wirklich gelesen werden. Schrift im weitläufigsten Verstande ist dagegen Mittheilung blosser Gedanken, die durch Laute geschieht.“ (GS V, 34.)

Erst Schrift „im engsten Sinne“ kann der subsidiären Interpretation durch die parole, d. h. durchs Vorlesen entraten. Ihr ist der m itgeteilte Gedanke ohne diesen „Um weg“ zu entnehm en. Daraus resultiert eine weitere Konsequenz für die Interpretation des phonem atischen Prinzips: Die Fixierung des Alphabets ist nicht als Prozeß zu verstehen, durch den Buchstaben auf „Laute“ abgebildet wurden. Das Gegenteil ist der Fall. Eine historisch greifbare Analogie liefert die Verschriftung der althochdeutschen Dialekte. Diese wurde bekanntlich durch Mittellatein schreibenden und sprechende Mönche geleistet. Die Verschriftung eines nur oral existierenden Dialekts kann im m er nur von einer beherrschten Schriftsprache her geschehen. Die Verschriftung etwa des im 10. Jahrhunderts gesprochenen Altfränkischen erforderte daher zunächst eine Assim ilation der zu schreibenden Ausdrücke an die betreffende „m ittellateinische“ Aussprache, um sie überhaupt m ittels des lateinischen Alphabets gem äß den für das Schreiben m ittellateinischer Texte geltenden Analogien verschriften zu können, erforderte also ein „latinisierendes“ Buchstabieren des zu schreibenden fränkischen Ausdrucks (vgl. Rädle 1974, 222). Ein analoger Vorgang wiederholt sich in jedem ontogenetischen Erwerb der Alphabetschrift in Form eines speziell dafür ausgebildeten Sprachspiels, das der Didaktiker „Lautieren“ nennt. Die Kinder lernen, das gesprochene Wort, z. B. in, bei „langsam er und deutlicher“ Aussprache in „seine„ Elem ente i + n zu „zerlegen“ — als Vorbedingung dafür, das geschriebene Wort entsprechend dieser „Laut-Analyse“ — welche natürlich vom Schriftkundigen anhand des geschriebenen Wortes konstruiert wurde — schreiben zu können. Solches ist aber nicht die Bezeichnung der Laute dieses Ausdrucks durch Buchstaben, vielm ehr die Abbildung von bedeutungsdiskrim inierenden Fragm enten des gesprochenen Worts auf die Menge der Buchstaben des jeweils verwendeten Alphabets. Man projiziert für sich allein sinnlich nicht wahrnehm bare, weil kontinuierliche Fragm ente des gesprochenen Worts auf dis-

4.

Verschriftung und Grammatik: das morphematische Prinzip

Mit der Ausbildung des griechischen Alphabets ist die Entwicklung der griechischen Schrift und der Alphabetschrift überhaupt keineswegs im Prinzip abgeschlossen, sie beginnt vielm ehr erst dort. Erst nach und nach werden die in diesem Schrifttypus angelegten Möglichkeiten erschlossen. Im Rahm en eines sich beständig differenzierenden Gebrauchs der Alphabetschrift bildet sich allererst das heraus, was m an „Orthographie“ nennen kann und spätestens im Hellenism us dann auch so genannt hat (Quintilian, I 7, 1) — im Zuge einer allm ählichen Gram m atikalisierung und Logisierung der Schriftsprache. Dies hängt m it drei Entwicklungsstadien der Alphabetschrift zusam m en: (1) m it der Entwicklung von Kursivschriften, (2) m it der Differenzierung von Majuskeln und Minuskeln als Folge von (1), (3) m it der parallel dazu verlaufenden Ausbildung einer Interpunktion. Auch das gegen die Kapitalschrift sich ausprägende Phänom en der Kursivschrift wird in der Literatur kaum seiner Bedeutung gem äß erfaßt (→ Art. 12). Der herrschende Topos spricht vom Verfall der harm onischen Pro-

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portionen der Kapitalen im flüchtigen Gebrauch des Alltags. Doch liegt der phänom enologisch relevante Tatbestand gerade in dieser Flüchtigkeit. Mit der „kursiven“ Verbindung von Buchstaben wird die Nichtverbindung zum Zeichen, das anstelle von Sonderzeichen wie vertikaler Strich oder Punkt zur Andeutung von Wortgrenzen verwendet werden kann und zunehm end verwendet wird. Mit der Kursivschrift wird, m . a. W., das m orphem atische Prinzip der Alphabetschrift exteriorisiert, und da es in diesem Schrifttypus das phonem atische im pliziert, konnte es auch erst nach diesem in eine Schreibkonvention ausgelagert werden. Hierm it beginnt eine gram m atische Bearbeitung der Sprache, die in rein oralen Sprachgem einschaften undenkbar wäre. Mit der Entwicklung des Schreibsystem s „... Wortlücke — Buchstabenverbindung — ... — Buchstabenverbindung — Wortlücke ...“ wird die Alphabetschrift zum Medium der rekursiven Definition des Wortes als gram m atischer Kategorie, so wie m it dem elem entaren Schreibsystem „... — Buchstabe — Buchstabe — Buchstabe — ...“ bereits die bedeutungsdifferenzierenden Ele m ente der Schriftsprache rekursiv definiert worden waren. Beleg dafür ist die „ausgeschriebene„ Handschrift, die jeder routinierte Schreiber im Laufe seines Lebens ausbildet. In ihr werden die vom phonem atischen Prinzip geforderten Differenzierungen der Wortgestalt bis auf ein Maß reduziert, das im Festhalten der m orphem atisch relevanten Strukturen die Lesbarkeit des Geschriebenen noch eben gewährleistet. So ist sie der ontogenetisch je wieder austarierte Kom prom iß zwischen der Individualisierung des Wortes durch den Schreiber und den kognitiven Anforderungen der Lesergemeinschaft.

5.

Majuskel, Minuskel, Interpunktion und Satz

Gelegentlich hat m an die geom etrische Proportionalität der griechischen Buchstaben gegen das „schlechte Form niveau“ der phönizischen Schrift ausgespielt (Földes-Papp 1984, 152). Freilich verbirgt sich hinter diesem Kontrast wohl weniger eine überlegene Ästhetik der Griechen als eine Entwicklung des Schriftprinzips, für deren Verständnis erst die EDV den einschlägigen Begriff geliefert hat: der zu beschreibende Raum wird in zunehm endem Maße form atiert. Die für unser Auge „harm onische“ Form der Kapitalis ergibt sich

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daraus, daß alle Elem ente des Buchstabenregisters einer gedachten oder auch vorgezeichneten Folge regelm äßiger Rechtecke einzuschreiben waren. Stein ist für solche Inschrift natürlich das ideale Substrat (→ Art. 12). Die Kursivschrift des alltäglichen Gebrauchs hebt entsprechend ihrem internen Prinzip diese Buchstabenform atierung teilweise wieder auf. In flüchtiger Schreibung tauchen zunächst unsignifikante Ober- und Unterlängen auf. Dam it wird der Schreibbereich in vorerst noch undefinierte Räum e erweitert, die ihrerseits jedoch im Zuge der Schriftentwicklung gegenüber dem bereits festgelegten Mittelbereich als Ober- bzw. Unterzone form atiert werden. Über die Kapitalkursive und Halbunziale führt dies zur Ausbildung der Minuskel, gegen die nunm ehr das traditionelle Register den Wert der Majuskel annim m t und zum m arkierten Fall wird, der zur Schreibung von Text- und Satzanfängen, später dann zur Indizierung von Eigennam en usw. verwendet wird. Dam it ist innerhalb der Alphabetschrift eine weitere Differenz ausgebildet, die es nunm ehr gestattet, nicht nur das Wort selbst nach dem Prinzip der Bedeutungsdifferenzierung zu schreiben und form al zu kennzeichnen, sondern auch bestim m te Wörter entsprechend ihrer syntaktischen Position oder ihrem sem antischen Wert auszuzeichnen. Resultat dieser Entwicklung ist eine Schrift, der es in der Kom bination ihrer verschiedenen „Register“ gelingt, das Auftreten von Hom onym en weitestgehend zu verhindern und selbst Polysemien zu kennzeichnen. Spätestens m it der Etablierung der m ittelalterlichen Minuskelschriften stehen daher m it der festgelegten Buchstabenfolge, m it der Getrennt- und Zusam m enschreibung und m it der Groß- und Kleinschreibung drei der eingangs genannten vier konstitutiven Elem ente der späteren Orthographie bereit. Parallel dazu bildet sich schon seit der Antike die Interpunktion m it Punkt und Kolon heraus. Seit dem 15. Jahrhundert treten Sem ikolon, Kom m a, Ausrufezeichen, Anführungszeichen usw. hinzu. Vernachlässigt m an der Wortschreibung zuzurechnende Zeichen wie Bindestrich oder Apostroph, so ist dam it das Repertoire dessen, was Orthographie im heutigen Sinn ausm acht, vollständig um rissen. Wie das Spatium die syntaktische Kategorie Wort form al kennzeichnet, so die Interpunktionszeichen syntaktische Kategorien, aus denen der geschriebene Text gebildet wird — freilich beileibe nicht alle. Als zentrale syn-

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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taktische Kategorie, die form al gekennzeichnet wird, bildet sich in the long run — im Deutschen ist diese Entwicklung erst im 19. Jahrhundert abgeschlossen — der Satz heraus. Denn sieht m an vom einstelligen Aufzählungskom m a ab, das gleichrangige Konstituenten gleich welcher Ordnung trennt, so handelt es sich beim gesam ten Interpunktionsinventar von (zweistelligem ) Kom m a, Sem ikolon, Doppelpunkt, Parenthesen usw. um ein Repertoire, das zur Kennzeichnung der Form von Sätzen bzw. von satzwertigen Konstituenten dient. Wort und Satz werden so in zweitausendjährigem Gebrauch der Alphabetschrift als form ale Kategorien des Textes ausgeprägt, d. h. — in der hier freilich irreführenden saussureschen Term inologie — als Kategorien der parole. Diese Praxis ist Voraussetzung für eine jede gram m atische Behandlung der Sprache qua langue, die intrinsisch von der Ausbildung der Schrift abhängt (Stetter 1992). Allein die Buchstabenfolge eines zu schreibenden Wortes bestim m t sich innerhalb syntagm atischer und paradigm atischer Relationen, in Differenz zu den Buchstabenfolgen aller an derselben Stelle nicht zu schreibenden Wörter. Getrennt- und Zusam m enschreibung, Großund Kleinschreibung und Interpunktion werden dagegen ausschließlich von den syntagm atischen Relationen der Wörter des jeweiligen Textes bestim m t. Die Orthographie von nichttextualen Wortfolgen, z. B. die von Wörterbüchern, ist daher ein spezielles Problem , das nur auf der Grundlage der „norm alen„ d. h. der innertextuellen Verwendung von Wörtern geklärt werden kann. Ein besonderes Textprinzip als für Orthographie konstitutiv anzunehm en (Nerius et al. 1987, 61 ff) erübrigt sich daher. Aus den m it BF, GZ, GK und I gegebenen kom binatorischen Möglichkeiten der Schreibung von Wörtern und Sätzen ergibt sich alles weitere. Und alles folgt dem Prinzip der Differenz.

6.

Schreibschrift und Druckschrift: die Digitalisierung der Schrift

Dam it sich freilich der heute übliche Begriff von Orthographie als einer relativ hom ogenen Norm der Schreibung von Wörtern und Sätzen einer Sprache ausbilden konnte, war ein Entwicklungssprung im Schriftgebrauch erforderlich, der allererst die Voraussetzungen für die Ausbildung einer derartigen, als Konvention deutbaren Norm schuf. Er wird her-

beigeführt durch die technologische Revolution des Buchdrucks (Giesecke 1991). Innerhalb eines Jahrhunderts reduziert dieser die Vielfalt der in den m ittelalterlichen Scriptorien entwickelten, sowohl standort- wie schreiber- und adressatenabhängigen Kodierungssystem e auf eine Norm , die von diesen drei Variablen relativ unabhängig ist (ebd. 489 ff). Bedenkt m an das Grundprinzip einer jeden Schrift, daß ihre Zeichen nicht dazu dienen, irgendwelche Ausdrucksform en zu bezeichnen, sondern lesbare Wörter und Texte zu schreiben, dann m ußten sich auf dem m it der karolingischen Minuskel erreichten Niveau der Handschrift logographische Tendenzen in dieser m it der Dauer ihres Gebrauchs vervielfältigen. Die spätm ittelalterlichen Handschriften enthalten eine — aus welchen praktischen Motiven auch im m er entstandene — Fülle von Abkürzungen und Ligaturen, die der Buchdruck aus technischen wie kom m erziellen Gründen auf ein überschaubares und in höchstem Maß standardisiertes Kodierungsrepertoire zurückführen m ußte. Von Kodierung ist hier zurecht zu reden, denn im Gegensatz zum Schreiber braucht der Drucker in jedem Fall eine schriftliche Vorlage. Jede Abkürzung, die für den routinierten Schreiber Zeitersparnis bedeutete, wird für den Drucker zur zeit- und kostenträchtigen Sondertype. Es liegt in der Logik dieser Entwicklung, daß das Alphabet als die kleinste bekannte Menge diskreter Zeichen, m it welcher jeder Text zu schreiben war, eine neue Bedeutung gewinnen m ußte. Denn das Druckverfahren, die Herstellung der Druckform aus Elem enten des Setzkastens, schließt die m it der Schreibschrift intrinsisch verbundene Entwicklung des Kursiven aus. Erst m it dem Druck wird so die Digitalisierung der geschriebenen Inform ation definitiv. Dam it wird ein Begriff von Orthographie m öglich, der unter „Rechtschreiben“ ein Handeln gem äß einer Norm versteht, welche Schreiben als ein Verfahren in einem diskret form atierten Raum auffaßt, das für jede zu inskribierende Position eine Regel bereithält, welches aus einem gegebenen Inventar von Zeichen hier zu wählen sei, um ein bestim m tes Gem eintes zu artikulieren. Die historische Form , in der sich dieses Prinzip realisiert, ist die allm ähliche Hom ogenisierung der Schrift über Wortlisten. Diese sorgen für die Ausm erzung von Schreibvarianten innerhalb nicht m ehr nur einer Sprachgem einschaft, sondern einer Population, deren Identität durch den Gebrauch ein und derselben

56.  Orthographie als Normierung des Schriftsystems

Schriftsprache definiert wird. Der Begriff von Orthographie ist verfehlt, faßt m an sie lediglich als „graphische“, konventionelle Gestaltung des signifiant auf. Sie ist nicht weniger, freilich auch nicht m ehr als die Norm ierung der Worte und Satzform en einer Literatursprache, und als solche nicht erdacht oder kodifiziert von Gram m atikern wie Schottel, Adelung oder Duden, sondern „ausgeschwitzt“ von der Gem einschaft der Schreibenden beim Schreiben und, im Fall des Deutschen und vergleichbarer europäischer Sprachen, kodifiziert im Wechselprozeß m it diesen von den Druckern des 16. bis 18. Jahrhunderts (Kohrt 1990).

7.

Typographie: Konventionalisierung des Alphabets

Das phonem atische Prinzip war grundlegendes Konstitutionsprinzip der Alphabetschrift. Dies bedeutet, daß es, war ein Dialekt nach welchem Alphabet auch im m er einm al verschriftet, seine die Schreibpraxis konstituierende Funktion verlieren m u ß t e. An seine Stelle tritt die Schreibung in Analogie und in Differenz zu in der betreffenden Schriftsprache bereits geschriebenen Wörtern. Der klassische Topos, unter dem dies bedacht wird, ist der des Schreibgebrauchs. Bereits Quintilian bringt ihn gegenüber der phonem atisch begründeten Schreibung als eigenständiges Prinzip ins Spiel (I 7, 30 f). Selbst wenn m an wie dieser phonem atische Kodierung und Schreibusus als korrelative Prinzipien betrachtet, so m ußte letzterer doch überall dort den Vorrang gewinnen, wo nicht m ehr nur ein Dialekt, sondern — wie im Deutschen — eine Vielzahl m ehr oder weniger divergierender Dialekte auf ein und dieselbe Schrift abzubilden waren. Das Unternehm en der lutherschen Bibelübersetzung setzte nicht nur einen Prozeß des Sprachausgleichs auf lexikalischer und folglich sem antischer Ebene in Gang (Arndt & Brandt 1983, 32 ff, 150 ff), sondern als dessen Im plikation einen analogen Prozeß auf der Ebene der Orthographie. Noch Adelung belegt es in seiner kuriosen Apologie des kursächsischen Dialekts der „oberen Classen“ (Adelung [1971] II, 682 ff) auf jeder Seite. So gem ein, wie dieser Dialekt in Leipzig auf dem Markt klingt (Fleesch statt Fleisch, Bodden statt Boden), m acht er sich doch nicht im Munde der Gebildeten aus, weil diese — eben nach der Schrift sprechen. Und so läuft das verm eintlich phonographi-

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sche Prinzip seiner Orthographietheorie — „schreib wie du sprichst“, und zwar „der allge m einen besten Aussprache ge m äß„ (ebd. S. 679) — auf eine Tautologie hinaus: Schreibe so, wie m an schreibt. Denn allein die technische Reproduzierbarkeit schriftlicher Zeichengestalten konnte die allgem eine Identität einer Sprache verbürgen. Zunächst m ußte deshalb die Schreibung von Wörtern und Sätzen innerhalb desselben Textes hom ogenisiert werden, dann innerhalb der von einem Drucker gefertigten Texte, in Konsequenz dessen schließlich auch die Schreibung der Texte der Lesergem einschaft insgesam t. Der phonem atische Wert des Geschriebenen m ußte dabei eine um so geringere Rolle spielen, je m ehr das laute durch das leise Lesen verdrängt wurde. Selbst für das Vorlesen aber m ußte m aßgebend nicht die phonem atische Nähe der Kodierung zum jeweiligen Dialekt werden, sondern die Identifizierbarkeit des sem antischen Werts des betreffenden Wortes. War diese gegeben, so wurde schon „richtig„ vorgelesen, sei es nun auf Kursächsisch oder in Kölner Dialekt. Dies erst bringt die Idee von Orthographie in ihrer heutigen Gestalt auf den Weg. Denn gefordert ist nun ein Kodierungsverfahren, das die Hom ogenitätsforderung des Drucks in Einklang bringt m it dem in einer m ultidialektalen Schriftgesellschaft schwindenden Gewicht des phonem atischen Kodierungsprinzips. Die m oderne Orthographie verdankt sich zweifellos dieser Konstellation, denn allein sie erklärt den Prim at der konventionellen Geltung orthographischer Norm en, der m it ihrem Begriff konstitutiv verbunden ist.

8.

Regulativer und funktionaler Sinn orthographischer Normen

Die konventionelle Fixierung der Orthographie des Neuhochdeutschen ist paradigm atisch m it den Nam en Adelung und Duden verbunden. Adelungs Umständliches Lehrgebäude schließt die Epoche der Form ierung einer relativ hom ogenen nationalen Literatursprache definitiv ab, der Nam e Duden steht nicht nur für den m it der II. Orthographischen Konferenz von Berlin 1901 erreichten Abschluß der im 19. Jahrhundert geführten Debatte zwischen rom antischer Philologie und den — natürlich erfolgreichen — pragm atischen Traditionalisten, die bei allen Detailkorrekturen doch am Kom prom iß festhalten wollten, wie er einm al bei Adelung und

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

der sich an ihm orientierenden Schreib- und vor allem Druckpraxis festhalten wollte. Noch m ehr steht er für das Program m einer nunm ehr sozusagen „flächendeckenden“, industriell betriebenen Regulierung des Schriftgebrauchs, das m an wohl als Korrelat der erst im 20. Jahrhundert erreichten weitgehenden Dem otisierung der Schrift (Maas 1985 b) betrachten muß. Diese Norm ierung der Orthographie erfolgt im Medium des Buchdrucks — und sie erfolgt über Bücher von im m er größerem Um fang. Adelung weit hinter sich lassend um faßt der Große Duden heute bereits 10 Bände, die laut Verlagsm arketing „unentbehrlich“ sind zum „korrekten“ Gebrauch der deutschen Schriftsprache. Der Nam e Duden ist zum eingetragenen Warenzeichen eines Wirtschaftszweiges geworden, der vergleichbar der Norm ierung von technischen Produkten nach DIN nunm ehr standardisierte Norm en der Produktion von Geschriebenem bzw. von Gedrucktem hervorbringt, verbunden allerdings m it der offenkundigen, eben darum aber nie bem erkten Paradoxie, daß die Vereinheitlichung des Schreibens dieses offenkundig im m er kom plizierter m acht. Der Duden wird im m er dicker, nicht im m er dünner. Wiederum zeigt sich eine rekursive Struktur, deren Besonderheit hinter der gewachsenen Selbstverständlichkeit des Phänom ens philosophisch erschlossen werden m uß. Denn sie m arkiert einen kulturellen Sprung. Daß das Schreiben von Büchern sich an Büchern orientiert, bedeutet ja, daß eine solche Praxis eine andersartige voraussetzte und je wieder voraussetzt. In ihr hatte sich das Knowinghow des Schreibens in der sich an Beispielen und Analogien orientierenden Koordination der Druckerpraxis so deutlich ausgeprägt, daß es sich schließlich als Knowing-that, als System von Regeln, in Bücher fassen ließ. Freilich stehen die Nam en Adelung und Duden für verschiedene Phasen der Fixierung des orthographischen Norm ensystem s. Zurecht hat m an darauf hingewiesen, daß zu unterscheiden ist zwischen den m ehr oder weniger m ythographisch ausgerichteten Beschreibungen dieses Prozesses innerhalb der orthographischen Historiographie und dem realen historischen Prozeß (Kohrt 1990, 106 ff). Weder Adelung noch Duden schaffen ein neues orthographisches System , sie zeichnen — m ehr oder weniger getreu — eines auf, das sich aus der koordinativen Praxis des Drucks ergeben hatte. Bei Adelung ist dies noch m it dem Versuch verbunden, das auf-

gezeichnete System gram m atisch zu interpretieren, also abzubilden auf ein „zugrunde liegendes“ System syntaktischer oder m orphologischer Regeln, die der Gram m atiker freilich nicht m ehr als Produkte des Schriftgebrauchs durchschaut. Aus dem Hauptwort, welches groß geschrieben wird, weil es sem antisch wichtig ist (Arndt & Brandt 1983, 155 f), wird das Substantiv, das groß zu schreiben ist, weil es ein Substantiv ist. Wesentlich ist in diesem Zusam m enhang insbesondere Adelungs Insistieren auf dem Grundsatz der Schreibung „gem äß der erweislich nächsten Abstam m ung“ gewesen, die gram m atische Form alisierung des m orphem atischen Prinzips (Adelung [1971] II, 704 ff). Kohrt hat in diesem Zusam m enhang zurecht von einer doppelten Kodifizierung der Orthographie des Deutschen gesprochen, näm lich durch die extensionale Regelung von Schreibweisen durch Listen einerseits und durch intensionale Regelform ulierungen andererseits (Kohrt 1990). Dieser Prozeß erfaßt die Buchstabenfolge m it der kontinuierlichen Verdeutlichung des m orphem atischen Prinzips ebenso wie die Groß- und Klein- und die Getrennt- und Zusam m enschreibung. Allein die Interpunktion entzieht sich, da vollständig syntaktisch determiniert, diesem Verfahren. Noch das Design der neuesten Duden-Ausgaben kann in der Ausdifferenzierung eines besonderen Regelteils, welcher der Wortliste vorangestellt wird, gleichsam als Modell für den historischen Prozeß dienen. In ihm spiegelt sich getreu das Grundproblem einer Norm ierung post festum. So wird als eine der Grundregeln der Getrennt- und Zusam m enschreibung ein sog. „sem antisches“ Prinzip form uliert: Zwei Wörter sollen dann zusam m engeschrieben werden, wenn sich aus ihrer syntagm atischen Kom bination ein „neuer„ sem antischer Wert ergibt, der nicht als logische Multiplikation der Werte der einzelnen Wörter aufzufassen ist. Exem plifiziert wird diese Regel an Beispielen wie sitzen bleiben vs. sitzenbleiben, gehen lassen vs. sich gehenlassen etc. (Duden 1, R 205). In Analogie dazu m üßte beispielsweise die Konjunktion sodaß zwingend zusam m engeschrieben werden, denn in Er starb (= p1), so daß er nicht ausgeliefert werden konnte (= p2) wird p2 nicht als Folge einer Modalität von p1 dargestellt, sondern als Folge von p1 selbst. Die Wortliste des Duden verzeichnet jedoch im Widerspruch hierzu die Schreibweise so daß, die folglich in Texten, die nach dem Duden korrekturgelesen wurden, als die statistisch

56.  Orthographie als Normierung des Schriftsystems

häufigere erscheint. Entgegen der m ythographischen Tradition der Orthographie setzt sich klarerweise nicht die Regel, sondern die Einzelfallregelung durch. Denn das Token ist unter den Typ ungleich leichter zu subsum ieren als der Fall unter die Regel, und insbesondere spielt sich hier die sinnliche Präsenz des Geschriebenen gegen die Abstraktheit des Verstehens aus. Dam it ist jedoch die Frage nach der Geltung von Regelungen aufgeworfen. Wozu orthographische Regeln, wenn m an sich doch nicht konsequent an sie hält? Offensichtlich gibt es Grade der Lizenz im Um gang m it ihnen, die auf soziale Tatbestände wie Bildungsgrad, Berufsfeld etc. abbildbar sind. Studenten oder Freiberufler nehm en den Duden weniger ernst als Sekretärinnen oder Studienräte (Stetter 1991). Orthographische Norm en erfüllen som it offensichtlich die Kriterien des „regulativen“ Regeltyps (Black 1962, 115 ff): Sie werden von einer Instanz inkraft gesetzt, die dazu legitim iert ist oder die doch als dafür legitim iert gilt. Der Verstoß gegen sie ist m it Sanktionen verbunden, die Beherrschung der Orthographie ist notwendige Bedingung für höher qualifizierende Abschlüsse. Die von der Norm ierung betroffenen Subjekte können andererseits gegen sie verstoßen und — wie etwa im Fall des Kom m as zwischen Hauptsätzen — durch m ehrheitliches Verweigern der „Gefolgschaft“ eine Revision der Norm erzwingen. Orthographische Konferenzen und Rechtschreibreform kom m issionen sind der m anifeste Beleg für die Herrschaft des regulation-sense über das orthographische Knowing-how. Doch ist der Sinn orthographischer Regeln dam it in grundlegender Hinsicht verkannt. Die konventionalistische Deutung der Orthographie ist neben der Verkennung des phonem atischen Prinzips und seiner tatsächlichen Funktion für die Konstitution der Alphabetschrift das zweite wesentliche Mom ent des orthographischen Mythos. Wenn gilt, daß sich ein orthographisches Knowing-how als Bedingung dafür herausgebildet haben m ußte, daß Schrift überhaupt durch Schrift geregelt werden konnte, dann m uß der Kodifizierung der Norm durch Adelung, Duden oder durch wen auch im m er ein solches Schreiben-können zugrunde gelegen haben und je wieder zugrunde liegen. Die schriftliche Kodifizierung des Usus ist dam it ipso facto — will m an beim Begriff der Konvention bleiben — als Kodifizierung einer Konvention in dem von Lewis beschriebenen Sinne ausgewiesen, als Aufzeichnung einer Praxis, die

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m an als Herstellung eines koordinativen Gleichgewichts deuten kann, treffender gesagt als Problem lösung (von Savigny 1983; Stetter 1991). Als Modell dafür m ag die Großschreibung der Substantive im Deutschen gelten, eine Regelung, deren Revision auch heute noch von Sprachdidaktikern, den professionellen Sachwaltern institutionalisierter Orthographiereform , für m öglich gehalten und angestrebt wird. So hat Mentrup explizit für eine Rückkehr zur sog. gem äßigten Kleinschreibung m it dem Argum ent geworben, daß die Substantivgroßschreibung in einem historisch rekonstruierbaren Prozeß per Konvention eingeführt worden sei, eben über die allm ähliche Ausweitung des Eigennam enbegriffs in den Verzeichnissen der Drucker des 16. bis 18. Jahrhunderts. Folglich m üsse dieser Prozeß auch per Konvention um kehrbar sein (Mentrup 1980). Die Beschreibung des Faktum s ist durchaus zutreffend, doch der Schluß daraus ist nicht gerechtfertigt. Denn er verkennt den sachlichen Grund, der der konventionellen Praxis, in der es ja keinerlei legitim ierte Regelungsinstanz gab, allein Geltung verschaffen konnte. Adelungs Bedeutung liegt nicht in seinen Deutungen, die in der Tat phonozentrisch zu nennen sind, sondern in seinem Blick für Funktionalität und Ökonom ie des orthographischen System s, der sich gegen alle phonographischen Tendenzen seiner Theorie, die der Schrift von vorn bis hinten abgelesen ist, durchsetzt. Recht betrachtet gibt für ihn der phonographische Grundsatz „Schreib wie du sprichst“ nichts als die Folie ab, gegen die er die Bedeutung des m orphem atischen Prinzips und des Gebrauchsprinzips ausspielt. Die Funktionalität der Substantivgroßschreibung liegt allerdings nicht — wie im m er wieder behauptet worden ist — in einer besonderen syntaktischen Struktur des Deutschen im Unterschied zu anderen europäischen Sprachen, sondern in zwei anderen, von der neueren Forschung klar identifizierten Tatbeständen: Zum ersten verbessert die Großschreibung der Substantive eindeutig, wenn auch nicht in erheblichem Maße, die Lesbarkeit der m it dieser Norm geschriebenen Texte; so ist nachgewiesen worden, daß niederländische Leser in Substantivgroßschreibung kodierte niederländische Texte schneller lasen als in der ihnen vertrauten m it Substantivkleinschreibung (Gfroerer, Günther & Bock 1989). Zum anderen und vor allem sind m it der generellen Großschreibung von Substantiven die m eisten Problem e der Eigenna-

696

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

m enschreibung suspendiert, die logisch ungleich kom plexer sind: Sei Kölner Dom Eigennam e der gotischen Kathedrale von Köln — was selbst keineswegs eindeutig ist —, so wäre derselbe Ausdruck doch in einer so alltäglichen Verwendung wie DER KÖLNER DOM IST GRÖSSER ALS DER AACHENER zweifelsfrei nicht als Eigennam e verwendet, sondern als sortales Prädikat, wäre also in einem bereinigten System der gem äßigten Kleinschreibung als kölner dom zu schreiben. Eine analoge Funktionalität orthographischer Norm en ist nachgewiesen worden etwa für die Distribution von zweiregistrigen, graphisch obstruenten Minuskeln (Naum ann 1988, 194 ff) oder von Doppelkonsonanten an Silbengrenzen oder für das Zusam m enspiel von Satzm ajuskel und Satzschlußzeichen. Die beiden ersteren Regelungen dienen offensichtlich der Strukturierung des Wortbildes. So ist etwa die phonem atisch unm otivierte Distribution des sog. Dehnungs-h m otiviert entweder durch einen kom plexen Silbenendrand sonantischer Graphem e, der ohne das h den vokalischen Silbenkern als kurz zu lesenden ausweisen würde, oder aber verm eidet wie bei ge-hen das Aufeinandertreffen eines vokalischen Silbenausgangs und -anfangs (Butt & Eisenberg 1990). Alle diese Phänom ene sind so als Ausfluß des m orphem atischen Prinzips zu deuten, dessen logische Priorität durch diesen Befund bestätigt wird. Das Schreibsystem Satzm ajuskel ... Satzschlußzeichen erzwingt eine logische Linearisierung des geschriebenen Textes über die Elim inierung aller syntaktisch nicht als Satz interpretierbarer Syntagm en, die in m ündlicher Rede gang und gäbe sind. Von der Schrift her werden sie als Anakoluthe oder als Ellipsen aus dem Bereich des Wohlgeform ten ausgegrenzt, obwohl sie doch im Mündlichen „norm al“ sind (Stetter 1989). So ist etwa der Nachweis einer statistisch relevanten Korrelation von Anakoluthen und Blickkontakten der m ündlich kom m unizierenden Personen ein klarer Beleg für die Funktion. Die Sicherung des Verständnisses qua Rückkoppelung storniert die Notwendigkeit, den Satz zu „vollenden„. Die gram m atische Wohlgeform theit des Satzes wird som it als Funktion der m edialen Bedingungen des Schreibens deutbar, die Ausprägung des graphem atischen Zusam m enhangs von Satzm ajuskel und Satzschlußzeichen als eine orthographische Problem lösung, die die generelle Erfüllung der gram m atischen Norm reflexiv zu sichern hilft. In diesem Sinne m uß allgem ein gelten, daß

dem regulation-sense orthographischer Norm en ein instruction-sense zugrunde liegt. Zurecht hat Eisenberg m it Blick auf die Substantivschreibung daher schon früh vor arbiträren Eingriffen in ein System gewarnt, dessen Funktionalität und System atik wenig erforscht ist, geschweige denn verstanden wäre (Eisenberg 1981). Zu erarbeiten bleibt som it eine Philosophie der Orthographie, die die intrinsische Funktion orthographischer Norm en im Zusam m enhang der Konstitution von Schrift und Gram m atik ebenso im allgem einen Bewußtsein verankerte wie ihre Funktionalität für das jedesmalige Schreiben.

9.

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Christian Stetter, Aachen (Deutschland)

Codification by Means of Foreign Systems The act of adopting writing Cultural conditions for writing Foreign systems as models Adaptations from foreign systems Continuing sociolinguistic processes References

The act of adopting writing

When a people adopt writing for their previously unwritten language they perform not only a linguistic act, but also a m ore inclusive sociocultural act with enorm ous potential ram ifications. Adopting writing m ay at first be a political or religious act, for exam ple, or m ay express ethnic identity, or indicate the direction in which people want to change. Even if they are not initially perform ing a com m ercial act, writing often develops com m ercial functions as well, and in tim e m ay

also have literary and academ ic dim ensions. Som etim es people com e to find it indispensable, although they earlier lived without sensing any need for it. If writing becom es well entrenched it adds another set of com m unication system s to the repertoire available in a language. It can also greatly m odify the existing com m unication by which knowledge and affect are shared. Adopting a writing system , adapting it and using it thus all becom e intertwined in a com plex process of culture change. 1.1. Definitions Because the term writing m eans m any different things in English, and the nature of writing is a m atter of theoretical dispute, the following definitions are m ade explicit for this paper. Writing is here lim ited to system s of m arks m ade on surfaces to sym bolize lan-

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

guage on som e level or levels, m ost com m only m orphem ic, syllabic, dem isyllabic (onset/ rim e), phonem ic, or com binations of these such as m orphophonem ic or m orphosyllabic. The sym bolization m ust be com plete enough so that experienced writers can write whatever they can say in the language and experienced readers can reproduce the sam e stream of speech when they read it aloud. The m arks used in writing will here be called graphs. Som e graphs represent sounds and others add non-phonetic inform ation, a m ixture which varies in proportion in different writing system s (DeFrancis 1989, 49). A writing system is a set of graphs plus the conventions which govern its use. Script (as in Arabic script) also refers to a writing system , but highlights the difference in appearance and historical relationships between one system and another.

tural self-perceptions and aspirations. Even when they are strongly m otivated to adopt it, however, pragm atic m otives are not necessarily their m ain ones. Desire to keep records, write letters, or educate m em bers of the group in their own language m edium m ay not even enter into the decision at all. Writing for econom ic purposes, which seem s to have been a m ajor m otive for the initial developm ent of writing in ancient Mesopotam ia, does not m otivate people who have no need for elaborate record keeping in culturally less com plex societies. Writing introduced for other reasons m ay later lead people to perceive advantages in keeping records, however.

1.2. Theoretical assumptions Current debate centers around the relationship of literacy to culture and culture change. One view sees writing prim arily as a technology which has developed in an evolutionary sequence (Gelb 1963) and which has a determ inative effect on cultures which adopt it (Goody 1986). Another view stresses literacy as intricately interconnected with the rest of culture in m ultiple ways which m ust be individually analyzed to determ ine the processes at work (Street 1984). The present discussion assumes the second position.

2.

Cultural conditions for writing

For a people to adopt writing from a foreign source they m ust first have observed writing, of course. Today even illiterate people everywhere in the world know that writing exists, but until the past few decades the first tim e m any people observed writing and reading they were awed by its m ystery. People who carried letters from one European to another in different parts of the world have been known to hold the letters up to their ears, trying to hear the m essage which the recipients heard in them . For m any such people knowledge of the existence of writing eventually becam e com m onplace, however, and rem ained so for years or even generations before som e of them adopted it for them selves, if they ever did. 2.1. Bases for acceptance People are likely to be open to adopting writing when it resonates with their current cul-

2.1.1.  On the other hand, people always seek power or advantage of som e kind through adopting writing. A politically and culturally subordinate people m ay want the power enjoyed by those who dom inate it and who seem to exercise their power through writing. Or a social group like a priestly class m ay enhance its power within the com m unity through writing. Frequently the power of writing has been understood as m agical or religious, and writing frequently spreads with religion. The use of the Arabic writing system is roughly coterm inous with the dom inance of Islam through the Middle East, northern Africa, and central, south and southeast Asia. The expanse of Indic-derived writing is largely coterm inous with Hinduism in south and central Asia and with Buddhism in south and southeast Asia. Writing on the Chinese m odel has not spread m uch beyond the area of Confucianism and Mahayana Buddhism in eastern Asia. The boundary between Rom an and Cyrillic system s in Eastern Europe reflects the historic spheres of influence of the Rom an Catholic and Russian Orthodox churches. Protestant and Catholic m issionaries have been the m ost active agents in stim ulating the spread of Rom an script to languages in Africa, the Am ericas, Vietnam , the Philippines and large parts of the Pacific. In som e instances, m ost notably in system s adopted from Arabic, writing carries an elem ent of sacredness. The Aleut (Alaska) who adopted a highly successful Cyrillic writing system prepared by m issionaries also treated writing in a som ewhat cerem onial way, ascribing m ystic properties to the sym bols (Ransom 1945, 334 f). 2.1.2.  Another great m otivator for writing, usually intertwined with a desire for power, is need for a strong sym bol of linguistic or

57.  Codification by Means of Foreign Systems

ethnic identity. Many peoples who are proud of their unwritten language and their culture want to advance its prestige by writing it. When som e cultural self-perceptions com bine with a search for power, new writing m ay becom e part of a cultural revitalization m ovem ent, adopted to enhance a society’s standing and to strengthen identity. In Southeast Asia various m inority people without traditional writing have m yths explaining that their ancestors lost writing which was originally given them , a carelessness which now restricts their descendants to inferior political, social and econom ic conditions (e. g. Stern 1968 a). Som e m yths also proclaim that writing will som e day be restored, enabling people to assum e their places as co-equals am ong their ethnic neighbors. 2.2. Bases for opposition Peoples differ in how they com pare their language and culture to the ones around them , however. Som e people who speak languages which have not yet been written are culturally insecure, asham ed of som e aspects of their language and culture. Som e m inority people do not want to be heard by outsiders when they speak their own language for fear of ridicule. People with a poor view of their language would often rather read and write in a m ore prestigeful language, if at all, and m ay not even believe their language can be written. Opposition to writing is not always due to cultural insecurity, however. Many peoples who do not have feelings of inferiority with regard to their spoken language have lived in close proxim ity to written languages for generations without ever wanting to read and write their own. Som e of them m ay even be literate in one or m ore foreign languages, but the idea of writing theirs m ay seem bizarre or presum ptuous or sacrilegious or im possible. In som e societies or in som e levels of m any societies, furtherm ore, people can typically live norm al lives without reading or writing at all, and see no value in literacy. 2.2.1.  Frequently the sociolinguistic role of a language excludes writing it. In diglossic situations, for exam ple, people who speak the lower language generally prefer to write in the high language if they have the education to do so. In Thailand a written (and spoken) Standard Thai dom inates the unwritten Paktay dialects spoken by several m illion people in the southern peninsula. Speakers feel the

699

southern dialects to be varieties of Thai, even those which are not m utually intelligible with it, and they write in Thai if they know how. In the northern and northeastern parts of Thailand where the Kam m üang and Lao languages are spoken, furtherm ore, although the diglossia is sim ilar to that in the south the writing situation is m ore com plex. Both of these languages were form erly written in their own scripts, but during this century Standard Thai writing has been enforced and accepted as the writing for the whole country, and dissem inated through m ass education. The older scripts for the regional languages are now used only for restricted functions such as religion, and even there are often supplanted by Standard Thai (Sm alley 1988; 1994, 67—114). In m ore recent years, furtherm ore, sporadic attem pts have been m ade to write these regional languages once again, but now in Thai script. This m ove to adopt a “foreign” Thai system of writing their languages has so far aroused little following partly because people now feel that the regional language is not appropriate for writing. 2.2.2.  These speakers of regional languages in Thailand value their spoken languages even when they do not want to write them , but m any speakers of Haitian, on the other hand, resisted writing their language for generations in part because they thought of it as a debased French with no value. All Haitians speak Haitian constantly, and it has a rich oral literature, but all educated Haitians read and write French, and those without enough education to do so have rem ained largely illiterate. The feeling that Haitian is inferior and unworthy is m aintained by m any people of all classes, but in recent decades an increasing num ber of dissenters has undertaken to write Haitian (Valdm an 1968). Opposition has softened, until finally in 1975 the governm ent approved written Haitian as a m edium of education. 2.3. Changing perspectives When people first adopt a writing system they usually do not use it for as m any different functions as they eventually will. Writing m ay be adopted by one segm ent of the population for religious purposes, but as it gains other uses other people m ay be attracted to it also. Letter writing is probably not often a m ajor reason for which a writing system is first adopted, but is frequently a sign that writing

700

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

has taken hold and is spreading into other parts of people’s lives. On the Nukulaelae Atoll (Western Polynesia) alm ost all people wrote letters regularly within twenty years after it was introduced for religious purposes (Besnier 1991, 572). Whatever the original reasons for which their ancestors adopted writing, the Hanunóo (Philippines) have an ancient Indic-derived writing system which they scratch into bam boo to write letters. For ordinary letters scraps of bam boo are used, but love letters are beautifully inscribed on lengths which have been carefully selected and polished (Conklin 1949). Writing grew from an exclusively religious activity to m ore general utility am ong the Aleut prim arily through use of a village bulletin board on which notices were posted (Ransom 1945, 340). Initial indifference to writing m ay change with changing circum stances as well. For som e seventy years m issionaries, teachers, anthropologists and other foreigners proposed writing system s and wrote and translated m aterials into the Navajo (USA) language. By 1950, however, Navajo leaders showed little interest and m uch opposition to Navajo literacy. They believed English to be the proper language to write, and they rejected as ridiculous the various adaptations of the Rom an alphabet required for Navajo because the results did not look like English. However, by 1960 a shift occurred am ong young Navajo who realized that their identity as Navajo was slipping. Native-speaking Navajo writers then began to em erge, and various schools began teaching the Navajo writing system (Young 1977).

or how writing relates to language. The new writing system s they create are products of stim ulus diffusion rather than of direct adoption and adaptation of a foreign system (→ art. 58), but they are nevertheless stim ulated by observing the phenom enon in the hands of other people. Much m ore com m only, som e individuals are literate in a foreign language and follow the form and function of writing in what they know as best they can, trying to m ake the system fit theirs well enough for som eone else to read it. Alternatively, preliterate native speakers with little or no education som etim es adopt a ready-m ade system which is offered from the outside, observing writing already applied to their own language. This happens m ost com m only when a foreign linguist, educator, governm ent official, or m issionary develops a writing system and begins to teach it. Acceptance of a ready-m ade system is contingent on the sam e factors as in (2.).

3.

Foreign systems as models

If people sense a need for writing their hitherto unwritten language they usually seek to adopt a system which som e of them already know from another language. In m odern tim es such system s are alm ost exclusively in the Rom an, Cyrillic, Indic, Arabic or Chinese traditions. The kind and num ber of m odels present in an area and the way in which the dom inant people of the area exercise their power often affect how writing is adopted. 3.1. Observation and response Before adopting writing people observe it from any one of three different perspectives. On rare occasions illiterate people have developed writing for their own languages without prior knowledge of how writing is done

3.2. Roles of the dominant peoples When m em bers of a dom inant group devise a writing system for a subordinate language they usually want to advance their own political, econom ic or religious concerns. They m ay believe that passing their writing system on to another language will help create a class of literate workers in governm ent or industry, for exam ple. On the other hand, som etim es they genuinely hope that writing will help the subordinate people them selves in som e way. Usually m otives are m ixed. Or, at still other tim es outsiders like scholars, officials or m issionaries devise ways of writing local languages to help them selves learn the languages or to do research on them . Even such action som etim es stim ulates native speakers of the language to write it for them selves, however (Jahani 1989, 23 f). On the other hand, dom inant people, especially in governm ents, m ay oppose writing local languages in order to keep the people subordinate or because they consider the language unworthy. Som e other governm ents allow writing in local languages only if the writing follows their own writing tradition. Lao and Thai governm ent officials have at tim es strongly discouraged the use of any script but Lao and Thai script, respectively, for som e m inority languages within their countries (Sm alley 1976 b). Such governm ent opposition som etim es creates resentm ent, of course, leading to greater separatist sentim ent and greater desire for writing.

57.  Codification by Means of Foreign Systems

Early in this century Arabic script was replaced with Rom an script by the Soviet governm ent in som e languages of the USSR in order to cut off influence from literature written in Islam ic countries to the south. About 1940 policy shifted to use of the Cyrillic system as a part of a governm ent process of Russification (Henze 1977, 375 ff; → art. 64). The sam e attitude prevailed when the nationalist governm ent of m ultilingual Bénin introduced a “national alphabet” to be applied to all the languages of the country in an attem pt to create national unity. Vernaculars could be written, but how they were written was prescribed (Tchitchi & Hazoum é 1983). US policy toward indigenous writing system s has fluctuated, but the long-term effect, at least until the 1970s, was generally to squelch the use of local languages and their writing system s. Such was the fate of the Aleut system , which had becom e well established in Aleut culture, with thousands of readers when the area was taken over by the United States. Am erican schools and other governm ent forces then worked assiduously to eradicate the writing and the language. In both tasks they were largely successful (Krauss 1973, 803). 3.3. The missionary factor Especially in the last two centuries, but part of a tradition which dates back at least to Gothic in the fourth century, Christian m issionaries have designed writing system s for m any languages around the world. Som e of the m issionaries were outstanding students of the languages and cultures in which they worked (Wonderly & Nida 1963; Ferguson 1977). Missionary writing system s ranged from excellent to im possible, but good or bad these system s were the start of writing for several hundred languages. Often m issionaries spent years, even decades of experim entation on their task, of which the m any attem pts in Yoruba history recounted by Awóníyì (1978) was typical for the 19th century and the early 20th. Over the last half of the twentieth century this m issionary drive to create writing system s has usually been rendered more efficient by modern linguistics. Most m issionaries lived as fam ilies in a language area for m any years, and their own use of writing was conspicuous. Bibles and hym n books were central to their m ission work. They wrote letters, serm ons and journals, and kept records. They also fostered Western-style form al education (Ferguson

701

1977). Som etim es this exam ple led local people to take up writing independently. In parts of Polynesia, in fact, the m issionaries did not so m uch actively initiate writing system s at first as unconsciously m odel the use of writing in their own languages and then capitalize on it when it developed in the local language. They prom oted it for religious purposes once it did start to spread (Parsonson 1967). Elsewhere, and m ore typically, som e m issionaries set about to introduce literacy by devising writing system s and teaching them in school program s or in literacy classes (Laubach 1970). Usually such activity was m otivated by a desire for people to read the Bible and other religious m aterial in the language. In m any cases, however, people also gained a new appreciation of their own local language in the face of encroaching ones spoken and written by m ore powerful peoples (Sanneh 1989). 3.4. Multiple models Decision concerning what foreign writing system to adopt m ay be autom atic if only one is known in an area. Thus the Rom an system is generally adopted in the Am ericas, the Pacific, and parts of Africa. Even then, however, the different conventions occurring in English, French or Spanish, or occasionally in other languages, provide variations. Elsewhere radically different m odels often coexist. Arabic and Rom an system s com pete in parts of Africa. Indic, Rom an, Chinese and Arabic system s som etim es com pete in areas of south and southeast Asia. Arabic, Chinese, Indic and Cyrillic system s also provide alternative models in parts of central Asia. 3.4.1.  In som e such cases different segm ents of a population speaking the sam e language choose to follow different m odels and the population becom es divided by writing system s. Som etim es rival system s even becom e so strongly entrenched that the two populations assum e that they speak different languages in part because their writing is different. Hindi (in Indic writing) and Urdu (in Arabic writing) constitute a m ajor exam ple. Their paths separated before the 18th century. 3.4.2.  Occasionally a language is written in m ore than one way because its population lives in m ore than one country. Malay was traditionally written in Arabic script, and when the Malay states under British rule changed to a Rom anized script the Malay-

702

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

speaking people of southern Thailand kept their Arabic-based writing.

lished by m issionary S. P. Kleinschm idt, who was also the founding scholar of Eskim o linguistics. The writing was adapted from Danish (Krauss 1973).

3.4.2.1.  Iu Mien (China, Thailand, Laos, USA) was traditionally written in Chinese script for religious purposes and for keeping lineage records. Knowledge of such Chinesebased writing dim inished in Thailand am ong those who im m igrated there, and under m issionary influence som e Iu Mien people adopted a Rom an system , others a Thai system . The Thai-based system has generally been winning out both because of governm ent policy and because bilinguals can m ore easily transfer to and from reading Thai in the sam e script. On the other hand, the 10,000 Iu Mien who went to the United States as refugees after the Vietnam ese/Pathet Lao victory in Laos in 1975 m uch prefer a Rom an script because it has transfer value to and from English instead. In 1982 they therefore set up a com m ission to revise the Rom anized system . In the m ean tim e Iu Mien in China were not as advanced in writing their language for non-ritual purposes although they vastly outnum bered their fellow speakers elsewhere. When som e of them learned of the revised Rom an script proposals they expressed interest, and a delegation from the United States went to China to confer with them in the hope of arriving at a com m on system for the two countries. The result was a com prom ise Rom an writing system using, in part, Rom an conventions established by the Chinese government for minority people (Purnell 1987). 3.4.2.2.  Various dialects of Eskim o stretch from Siberia across Alaska and Canada to Greenland. Siberian Eskim o is now written in Cyrillic script and since 1927 has benefited from a strong program of governm ent education in Eskim o, albeit one with assim ilationist goals. Eskim o dialects in Alaska, on the other hand, are generally written in Rom an script and only in the 1970s did pilot educational program s begin after a longstanding policy of discouraging native languages. Various efforts have also been m ade to write Canadian dialects of Eskim o in Rom an script, but the system which has won out for the Inuit dialect is a syllabary with geom etric-shaped graphs adapted from Cree by the m issionary E. J. Peck. It enjoys a strong following am ong Inuit because it sym bolizes their unique identity. Greenlandic Eskim o dialects are the strongest of all, with 50,000 speakers. Their writing system was estab-

3.4.3.  In looking for a m odel, however, som etim es people m ay deliberately adopt a writing system different from the m ost easily accessible ones in the area. In Laos in the early 1950s, for exam ple, m issionaries were sim ultaneously preparing writing system s for two different languages, Hm ong and Khm u’. Native speakers of those respective languages participated in and observed the process with significantly different expectations and desires. Even Christian Khm u’ wanted their writing to be m odeled after Lao, the language of the dom inant Buddhist people written in an Indic-based system . Even non-Christian Hm ong, on the other hand, wanted their language written in a Rom an system . These preferences arose from their respective self-perceptions. The Khm u’ felt inferior to the politically and econom ically dom inant ethnic Lao and hoped that writing would give them status by one of the sam e m easures which m ade the Lao seem superior. They were also in the process of cultural assim ilation and wanted a system which would m ake assim ilation easier. Hm ong felt like equals, if not superior to the Lao, although politically subjugated. They wanted their writing to sym bolize their separate identity and their independence from the Lao, a condition to which som e of them aspired. They felt that a Rom an system would also help identify them with the course of m odernization and a m ore universal identity. How strongly a writing system can sym bolize identity when chosen from am ong m ultiple m odels m ay be seen when Jews write Yiddish (a Germ anic language) or Ladino (a Rom ance language originating with Jews in Spain) in Hebrew script. Spanish-speaking Arabs in Spain, likewise, wrote Spanish in Arabic script in the 11th century. 3.4.4.  Although som e peoples choose a foreign writing system which sym bolizes their aspiration to em ulate the power of those who already use it, other peoples prefer a unique system of their own. This is especially true of m any peoples of south and southeast Asia, where traditional writing system s, although often related, have significantly different appearances. The system used by the Leke m illennial sect am ong the Phlow (Pwo Karen of

57.  Codification by Means of Foreign Systems

Burm a and Thailand), although derived from Mon and Burm ese writing, is so different in appearance that people who do not use it call it “chicken scratch” writing. It is used exclusively for religious purposes and is understood to be the writing of the golden age to com e. Belief in its m essianic future is bolstered by its unique appearance (Stern 1968 b). 3.4.5.  Although people norm ally resist changing writing system s which have been well established am ong them , som etim es they m ay willingly replace one by another based on a different m odel if they develop sufficient new cultural perspectives. 3.4.5.1.  Probably the m ost dram atic and best-known successful change of this kind was from Arabic script to Rom an for Turkish in 1928—1929. The Arabic writing system never had fit the Turkish language well, particularly as Turkish has m any vowels, which Arabic writing does not accom m odate easily. But the reasons for the success of this change went far beyond that. It was part of a concerted effort to change the country’s self-im age from being the defeated head of the defunct Ottom an Em pire with its Arab culture to being a part of Europe (Heyd 1954). 3.4.5.2.  An even m ore com plex exam ple occurred in the history of Vietnam ese writing. At som e tim e probably long before the 10th century people began writing Vietnam ese in Chinese script. In so doing the Chinese m orphosyllabic system of representing syllables which are further differentiated by m orphem es (De-Francis 1984) was taken over as a logographic system , representing m orphem es or words. Then at som e tim e before the 13th century Vietnam ese people devised a system which used Chinese characters to create a m orphosyllabic system analogous to the actual Chinese system (→ art. 27). Later Rom an Catholic m issionaries experim ented with a Rom an system which was first norm alized in a m ajor Vietnam ese dictionary published in 1651. This writing was used prim arily by m issionaries for learning the language and secondarily by Vietnam ese Catholics until after 1861 when the French colonial conquest began and the French governm ent pushed its use as a general m edium . Then for a tim e the three system s for writing Vietnam ese were used by different parts of the Vietnam ese population until the Rom anized sys-

703

tem began to win out at the beginning of the 20th century when a new generation of anticolonial nationalist leaders espoused it as a part of their m odernization em phasis (DeFrancis 1977).

4.

Adaptations from foreign systems

Motivational factors aside (2.), for m axim um viability a writing system should sym bolize language in som e optim ally efficient way (Sm alley 1964 b, 1976 a; Berry 1977; Venezky 1977). A graph should generally represent the sam e linguistic phenom enon wherever it occurs in the written form of the language. In actual writing system s, however the m atch is never perfect, nor is it ever necessary to graph every linguistic feature, no m atter how little functional load it carries. Writing, furtherm ore, is always a norm ative device, ignoring sm all differences between speakers and dialects (Coulmas 1989, 47). Other things being equal, a system which is easy to learn is m ore likely to win out than one which is difficult. A system is usually relatively easy to learn if it not only represents the spoken language well, but also has as few graphs as possible to m em orize within the constraints im posed by excessive underdifferentiation. Graphs which differ enough in appearance so as not to be easily confused also contribute to an efficient system . Diacritics, on the other hand, m ay create problem s because they tend to be om itted in writing and overlooked in reading. When a system is sim ilar to the dom inant system in the area, furtherm ore, the people gain transfer value so that any bilingual who learns to read either language for the first tim e also learns to read the other, with adjustm ents. In our m odern technological world, also, system s for which type fonts, typewriters and word processing program s are available have a considerable advantage, although lack of them can be overcom e if the com m unity is large enough and has resources to pay for adapting technology to its idiosyncratic script. 4.1. Types of adaptation Adopting a foreign writing system for a language always entails adapting usage from that in the original language(s), at least at som e points, for no two languages are ever com pletely the sam e. At the very m inim um , som e graphs represent a slightly different pronunciation in the new language from what they do in the m odel language. Beyond that, how-

704

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

ever, the degree to which the adopted writing system is m ade to fit the new language often depends largely on cultural factors. Adaptations are som etim es accepted or rejected prim arily because of how people perceive the nature of language differences.

often m akes reading and writing a language difficult for its speakers, they m ay seek to change it. In Gipende (Zaïre) the Rom anized writing initially prepared and taught by m issionaries represented three different frequently-used phonem es /k/, /kh/ and /g/ all with the sam e graph k. As native speakers tried to read their language som e com plained about the confusion this created and the writing was changed to fit the language better by writing the three sounds differently (Sm alley 1964 a). On the other hand, som e new writing system s are m ore efficient than their m odels. When Thom as Wildcat Alford, a Shawnee (USA), adapted a writing system for his language from a m issionary-created writing system for other Indian groups he im proved on the m odel by distinguishing length of vowel, a feature not recognized in the m odel writing system (Walker 1981, 155 ff).

4.1.1.  One com m on form of adaptation is to change the shape of graphs or to add new graphs for representing sounds which occur in the newly written language but not in the language from which the m odel writing is drawn. In Vietnamese, for example,  and  represent sounds which do not occur in the m odel languages. In other languages diacritics m ay be used to m ake distinctions, like á and à for tones or differences of vowel quality. 4.1.2.  A m uch m ore profound adaptation was m ade by the Greeks when they adopted writing from the Phoenicians (8th century B. C.), a m ajor step in the developm ent of Western civilization. Phoenician writing, like that of other ancient Sem itic languages, represented only the consonants of the spoken language, but differences in the structure of Greek required that the vowels also be written. Som e of the Sem itic consonants like ’aleph which were not needed for Greek consonants were therefore transform ed into representations of Greek vowels like alpha, and others were added (Jeffery 1963, 1 ff; → art. 25). 4.1.3.  Japanese writing was adapted from Chinese on entirely different levels of language structure, the m odern system having evolved over several centuries beginning in the seventh. Japanese writers first adopted as logographs m any graphs which were m orphosyllabic in Chinese (cf. 3.4.5.2.), but Japanese language structure is so different from Chinese that such a system could not reflect m any aspects of it. Two syllabic system s were therefore developed over tim e to supplem ent the logographs. One of them is often used to write gram m atical elem ents which do not occur in Chinese. The other is often used to write words borrowed from other languages than Chinese, and to spell out words which are used so infrequently that the logographic form has been given up. All three system s are typically used together in the sam e docum ent (Miller 1967, 90 ff; → art. 27). 4.1.4.  Because insufficient adaptation from the m odel language into the new language

4.2. Resistance to adaptation When a foreign writing system is adopted the result m ay fit the language to which it is applied well or badly. Most often any given linguistic elem ent is represented with a unique graph like m or sequence of graphs like sh or ng. If the linguistic unit is a significant one, this m akes for a good fit. Other elem ents m ay be overdifferentiated or underdifferentiated, which m ay or m ay not cause difficulty. Phonem ic overdifferentiation occurs when the sam e linguistic unit is written with different graphs in different contexts, like English /s/ in sent and cent. To write the two words the sam e way would represent m orphem ic underdifferentiation, however. Graphs for Arabic pharyngealized consonants are often taken over into other languages written in Arabic script in order to use them to spell words borrowed from Arabic even though the borrowed words are pronounced without the pharyngealization in the borrowing language (Jahani 1989, 44). Phonem ic underdifferentiation, in turn, can be illustrated by Sem itic writing without vowels, still com m only a problem when Arabic is a m odel for writing non-Sem itic languages. Underdifferentiation m ay cause difficulties with reading, and overdifferentiation difficulties with spelling, but either m ay be required at points by conditions of acceptability in the thinking of the users of the newly written language. People who resist adaptation from the m odel language they are adopting are frequently expressing insecurity about the differences between their own language and the

57.  Codification by Means of Foreign Systems

m odel language. They m ay also be expressing an absolutist view of writing, a belief that whatever way the m odel language represents a linguistic elem ent is intrinsically right, and that any departure therefrom , even in a different language or dialect, is wrong. 4.2.1.  For m any years any attem pts to write Tok Pisin (New Guinea Pidgin) followed English so closely that Tok Pisin pronunciation could not be adequately accom m odated and the spelling was rife with inconsistencies. When phonem ic-based writing was first introduced, however, it was unacceptable to m any speakers because it did not look enough like English (Wurm 1977). Conventions for adapting the Rom an system to the radically different sound system s of African languages, furtherm ore, were subject to extended debate am ong European linguists, colonists, educators and m issionaries in the nineteenth and early 20th centuries, with several different recom m ended system s put forward at different tim es (Tucker 1971). But in spite of m any exam ples of hesitation, Rom an system s are frequently greatly adapted, whereas Thai graphs have so infrequently been used for other languages that they always seem wrong when they are used to represent som ething other than what they represent in Standard Thai. 4.2.2.  Adaptation is usually incom plete in various ways, even where the writing system fits the spoken language reasonably well. People m ay strongly resist adapting loan words, for exam ple, especially nam es. They m ay want them spelled as in the source language instead of the way in which they are locally pronounced. Thus, people are likely to want to spell Joseph rather than Zozep even if /zozep/ is the way they pronounce the nam e. Punctuation, likewise is likely to be rather slavishly im itated from the m odel language. The adopting language m ay have no need for quotation m arks because the beginning and end of a quotation is gram m atically m arked, but people will be inclined to use quotation m arks as in the m odel language. Capital letters at the beginning of a sentence m ay have no com m unicative value but be im portant to people because they think that to spell without capitals would be “wrong” wherever the model language has capitals.

705

5.

Continuing sociolinguistic processes

If writing becom es established and fills a culturally significant role over tim e, sociolinguistic processes by which the writing system and the rest of culture reflexively interact with each other m ust continue beyond the initial adoption of the system . We can point to only a few typical factors here. 5.1. Viability The ultim ate viability of a writing system depends on at least the following conditions: 5.1.1. Cultural authentication The need for authentication is clearest when m ultiple m odels are involved, and especially when people change from one writing system to another, as in Turkish. There an elaborate reconstruction of history and m ythology successfully led people to think that their roots were in European culture rather than in Arabic culture (→ 3.4.5.1.; Fishm an 1971, 11 f). Com petition between Hm ong writing system s often clusters around authenticity, but different Hm ong use different criteria. Advocates of a Rom an script point out that Rom an system s are the m ost nearly universal in the world, m aking Hm ong part of m odern world culture. Advocates of the Lao script used to point out that Lao was their national language, and the use of that script sym bolized their participation in the nation, and brought governm ent acceptance, whereas the Rom an was foreign. Advocates of independently created system s not based on preexisting m odels insist that their system s are the only truly Hm ong system s, having been invented by Hm ong or revealed to the Hm ong by God (Smalley, Vang & Yang 1990, 159 f). 5.1.2. Continuing use of the language Although the Massachuset language was the language of the first full Bible ever printed in the western hem isphere, it has ceased to be spoken. The potential for its writing system to be a functioning part of the culture died with the langugage. Such has been the fate of num erous other system s in different parts of the world as well. Only rarely is a language kept alive prim arily through its writing, as was Hebrew for centuries. 5.1.3. Continued perception of benefit If people do not continue to see benefit in writing their language writing it becom es a historical curiosity. As conditions change,

706

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

however, survival m ay require changes in what is valued. It certainly m eans that local people them selves find literacy useful for som e purposes. Functions prom oted only by m issionaries or adm inistrators are not enough in the long run.

sociolinguistic relationship between dialects. Dialects m ay spread or shrink, rise or fall in prestige, or change their role in an area according to which one was written. In the ninth century Cyrus and Methodius introduced writing based or their own Macedonian Slavic dialect to people who spoke Moravian Slavic farther north. The resulting Old Shurch Slavonic, as it is now called, thus becam e the foundation for Slavonic literary writing over the whole Slavic language area, even though Macedonian Slavic was itself marginal to the area (Matejka 1984). In som e situations num erous local dialects shade into each other over an expanse of territory with relatively equal status, although perhaps never as com plete equals. Adopting a writing system for any one of these dialects m ay change its status relative to the others, and create a new role for it (→ 3.4.2.2. Inuit).

5.1.4. Culturally appropriate ways of transmitting the writing system to new readers Cherokee literacy in Cherokee and in English had declined with the institution of coercive Am erican schools which displaced passive Cherokee learning processes. Literacy in both Cherokee and English had earlier spread rapidly through Cherokee learning styles which involved periods of passive observation, then incubation followed by intense private individual experim entation and practice (Walker 1981, 171 ff). Aleut writing was m ost often passed along from uncle to nephew or father to son after the Russian Orthodox schools ceased to exist (Ransom 1945, 334 ff). 5.1.5. Active writers The writing which people do in a com m unity m ay consist of anything from letters to charm s to long form al works, but its continuation in som e form is necessary for viability. If a com m unity is only using texts preserved from the past viability of writing m ay be ebbing. This does not m ean, however, that a large percentage of the population m ust be writing, or even literate. Thoroughly viable writing has often been reserved to a class of priests or scribes or an educated elite, although m ore so in the past than at present in many countries. 5.1.6. Support and use of writing by influential members of the community If literacy is considered children’s activity or the province of people m arginal to a society it m ay not have m uch of a chance. A m ajor reason why Aleut writing and literacy spread quickly and becam e deeply em bedded in Aleut culture was the close collaboration and leadership given by an Aleut chief, Ivan Pen’kov, who worked closely and creatively with Ioann Veniam inov, the Russian priest who developed the system (Black 1977). He also continued to prom ote writing am ong his people after Veniaminov left. 5.2. Dialect ranking Dialect differences affect writing system choices, and writing in turn often affects the

5.3. Normalization Once people have accepted both the idea of and initial attem pts at writing, then a process of corporate experim entation, of trial and error takes place. As people write they find problem s with writing. Som e aspects of the system m ay not m ake sense to them , or they m ay not rem em ber what was intended. Variations in spellings arise. Som e of these jell into personal variants of people who write extensively; others are adopted by groups of people, so that different schools of writing m ay em erge. Som e of the differences m ay be based on different dialects. This whole phenom enon is well illustrated in Balochi (Pakistan, Iran, Afghanistan), where spellings in Arabic script reflect dialect differences, idiosyncratic personal differences, differences in how the writers treat loan words, differences as to whether they use Persian or Urdu or Arabic or other languages of the area as m odels, differences in what Arabic graphs to use when there are alternatives. All of this is com plicated by the fact that Balochi is spoken in several different countries (Jahani 1989). Som etim es norm alization begins when one writer dom inates what is written in the language, and his (or her) usage is followed by others. Or som e m ajor piece of writing or an im portant docum ent such as the Bible translated into the language m ay be used as m odel. Occasionally a published dictionary has served the purpose. Norm alization is frequently built on the conventions created in the principal city in which the language is spoken. Som e degree of norm alization is inherent in all writing, even the m ost idiosyn-

57.  Codification by Means of Foreign Systems

cratic. Writers do not reflect all variations of their own pronunciation, for exam ple. But norm alization also m utes differences between individuals and between dialects. Then as writing becom es norm alized the spoken dialect on which the writing is based m ay also develop a m ore norm alized or standardized variety, and assum e a higher position. It becom es m ore like the written form than are the colloquial levels of speech, which also continue to be used. 5.4. Modernization In this century the process of successfully adopting a writing system for a new language has usually been linked with the nearly universal process of m odernization. Modernization m ay contribute to the desire for a writing system in the first place, and once it is in place, a writing system m ay fuel m odernization as it opens up new inform ation and new form s of com m unication to a wider range of people in the society. The written form of the language often becom es m ore “translatable,” as well, developing vocabulary and com m on gram m atical form s som e of which m ore closely m atch those of the dom inant language(s). Writing can also lead to m odern dependency on writing which often gradually supplants traditional oral culture. 5.5.  And so in these and countless other ways the ram ifications of adopting a foreign system of writing keep spreading, keep penetrating into the adopting society and cultures. And so the use of writing is shaped by that culture and the situation in which the society or individuals within it find them selves. In m any societies all over the world writing and the rest of culture have thus becom e intricately inextricable in a reflexive process of ongoing change.

6.

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William A. Smalley, Hamden, Connecticut (USA)

58. Native Creation of Writing Systems 1. 2. 3. 4. 5. 6.

1.

Introduction Independent invention Stimulus diffusion Structural reformation Historical clusterings References

Introduction

For a people to adopt a foreign system of writing and adapt it to their own language is a widespread phenom enon in the m odern world (→ art. 57); for people to devise a new writing system for their language without adopting an existing one is rare. Such system s are structurally different from ones previously

known to the designer, and usually their graphs are new as well. Even if som e shapes are taken from other system s they have values unrelated to their values in the original system. Fig. 58.1 is a partial sam pling of such invented system s. The few of them which are further discussed in this article were selected to highlight different aspects of the process of creating new writing system s under different sociocultural conditions in different parts of the world. Sources m ay be found in Diringer (1962, 1968), Gelb (1963), Dalby (1970), Jensen (1970), Walker (1981), Huttar (1987), DeFrancis (1989), Sm alley & Wim uttikosol (in press), or Sm alley, Vang & Yang (1990). No docum entation on Xiong Jé, Xao Xiong

58.  Native Creation of Writing Systems

Date — 3000 — 1200 300 100 ?1200 1446 1700 1821 1900s 1900s r1906 r1906 1910 1929 1900s r1913 c1910 c1920 1833

Language Sumerian Chinese Mayan Ogham Yi (Lolo) Korean Naxi (Moso) Cherokee Yupik Eskimo Yupik Eskimo Fox 1 Fox 2 Ndjuka Chuckchee Chin Woleai Bamum F—G Somali Vai

1920s Bassa 1921 1930s 1930s c1950 1950s 1956 c1960 1960s 1959 1959 1965 1970 1971 ?1970 1976 r1983 r1990

Mende Loma Kpelle Manding Fula Bete Wolof Fula Khmu’ Hmong Hmong Hmong Hmong Hmong Hmong Hmong Hmong

709

Name of System Location Mesopotamia E Asia Cen. America NE Europe SW China Han’gul Korea SW China

Inventor

Sejong

Type Prior Literacy morphosyllabicnone morphosyllabic?none morphosyllabic?none alphabetic syllabic ?Chinese alphabetic Chinese syllabic ?Chinese

N. Carolina Alaska

Sequoyah Uyakoq

syllabic syllabic

none none

Alaska

Quiatuaq

syllabic

none

Afaka Atumisi Tenevil Pau Chin Hau

alphabetic alphabetic syllabic ?syllabic ?alphabetic/d syllabic syllabic

alphabetic alphabetic none ?none

Great Lakes Great Lakes Suriname Siberia Burma Caroline I. Cameroun Somalia Liberia

Njoya Osmania

Isman Yusuf alphabetic syllabic Momolu Duwalu Bukele Liberia Vah Thomas Flo alphabetic Lewis Sierra Leone Ki-ka-ku Kisimi Kamara syllabic syllabic Liberia Wido Zobo syllabic Liberia Gbili Souleymane Kantéalphabetic Guinea Mali Adama Ba alphabetic Ivory Coast Bruly-Brouabe syllabic Senegal Assane Faye alphabetic/d Mali Dita Oumar Dembélé alphabetic/d Shong Lue Yang Vietnam/Laos Vietnam/Laos Pahawh Hmong 1 Shong Lue Yang alphabetic/d Pahawh Hmong 2 Shong Lue Yang alphabetic/d Laos Pahawh Hmong 3 Shong Lue Yang alphabetic/d Laos Pahawh Hmong 4 Shong Lue Yang alphabetic/d Laos Xiong Jé Script Xiong Jé Laos alphabetic Xao Xiong Script Xao Ying Xiong Laos Sayaboury Script Laos alphabetic/d Embroidery Script Laos alphabetic/d

none alphabetic none alphabetic ?none ?none alphabetic alphabetic alphabetic alphabetic alphabetic none none PHH 1 PHH 2 PHH 3 alphabetic alphabetic ?alphabetic ?alphabetic

Fig. 58.1: Some natively created writing systems grouped by location and/or era. Code: c = approximately; r = reported (date of creation unknown); s = created during the decade; ? = uncertain; /d = demisyllabic type.

or Em broidery scripts for Hm ong has yet been published.

2.

Independent invention

Although the Sum erian, Chinese and Mayan writing system s listed in Fig. 58.1 are outside the scope of this article (→ art. 18, 26, 28), their differences from system s discussed here

are im portant for understanding the phenom enon of writing system s created by native speakers. These presum ably original writing system s evolved over centuries through a long sequence of increm ental changes. People who participated in their developm ent presum ably had no opportunity to observe writing at work in any other language. In each case, also, the rebus principle was the significant

710

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

key to m aking a transition to true writing. Under this principle logographic sym bols for full words or m orphem es were extended to phonological sym bols, usually of syllables. Thus the sym bols used for ‘bee’ and ‘leaf’ would be com bined to spell ‘belief’ in rebus writing (DeFrancis 1989, 50). The later system s, on the other hand, were generally done within the life spans of particular individuals. The rebus principle was often not apparent in their work and they all knew at least that writing existed. The original three system s were therefore truly independent inventions in a sense which those which followed were not.

for all the words required by that topic. None of these first attem pts were full writing system s as they could not be used successfully to write anything anyone wanted to say on any topic. The sixth system , however, developed about 1910, did break radical new ground and provided full writing. It was accom panied by a culture of writing, especially in the court but also am ong others in the kingdom who learned to do it. Finally in 1921 Njoya sim plified the graphs of the sixth system to produce Bam um G, without changing the structure. In 1913 Njoya began to set up a printing press, but destroyed it in 1920 because he was angry at restrictions im posed by the French colonial adm inistration. He was exiled by the French in 1931, and died in 1933 at the age of 66 (Schmitt 1963).

3.

Stimulus diffusion

Som e of the inventors listed or assum ed in Fig. 58.1 were preliterate people who had no prior idea of how writing could be done, just that it was possible because they observed it used by others. They went on from that to invent the technique by which they could do it in their own language, a process of stim ulus diffusion. In so doing they had to discover the underlying principle of writing, that m arks m ade on surfaces can sym bolize speech, and undertake som e degree of inform al linguistic analysis and application as well. 3.1. King Njoya’s Bamum writing The developm ent of Bam um writing followed the pattern of developm ent in the three ancient original system s m ore closely than any of the others discussed here. Njoya was born about 1867 and becam e king of the Bam um (Cam eroun) at the age of 9—12 years. This was before European colonists or even explorers had begun to penetrate where he lived. Although not him self literate he knew about Hausa writing in Arabic script and wanted Bam um writing to be different. He even insisted that since Hausa was written right to left in Arabic fashion Bam um could only be written left to right, top to bottom , or bottom to top. Njoya produced his first approxim ation of writing about 1895, followed in quick succession by a series of four m odifications, none of them significantly different in structure, but obviously attem pts to deal with problem s he was facing (Fig. 58.2). The system s were largely logographic, their usefulness for com m unicating on any topic depending prim arily on whether the sm all stock of logographs available provided enough graphs

3.1.1. Development of the Bamum system Dugast & Jeffreys (1950) docum ented 510 graphs for Bam um A. This num ber is probably not com plete because it was collected half a century after the system was devised and had ceased being used. All the exam ples of Bam um A in Fig. 58.2 happen to be logographs, but a few other kinds of graphs existed as well, ones which pointed the way toward developm ents to com e. Proper nam es and num bers with m ore than one syllable were written syllabically by the rebus principle (2.). In addition, one graph was a sem antic distinguisher, not a logograph. I t was prefixed to proper nam es to show that they should be read syllabically, or used to distinguish hom onym s by m arking the m ore elevated m eaning. The hom onym which referred to the person or object with higher prestige, status or function was given the prefix. An English analogy would m ark chair when referring to the head of a departm ent but not when referring to a seat. Apparently Njoya found the num ber of graphs required for the earlier stages of his attem pts at writing to be a problem , for the next four system s were distinguished prim arily by a net reduction in their inventory, although a few new graphs were added each tim e to fill in gaps which were also becom ing evident. 437 graphs have been docum ented for Bam um B, 381 for Bam um C, 295 for Bam um D, and 205 for Bam um E. The reduction was accom panied by slowly increasing use of the rebus principle, so that texts show an increasing interm ixture of graphs used to represent syllables rather than words.

58.  Native Creation of Writing Systems

711

Fig. 58.2: Some sample graphs of Bamum writing in the seven stages of its development (after Dugast & Jeffreys 1950: 90). Stages A—E were not full writing, although some of them were used to communicate on limited subjects. In Bamum A—D graph 4 symbolizes ‘spear’.

By the tim e Njoya reached Bam um E he was also increasingly troubled by tone contrasts and actually included a few logographs for words distinguished only by tone. Spoken tone distinctions (high and low) are shown within brackets after the glosses in Fig. 58.2. Thus Njoya struggled between conflicting needs for enough graphs to represent the distinctions in the language, on the one hand, and too m any graphs to learn easily on the other. Njoya’s breakthrough cam e with Bam um F, which achieved full writing even though it still had weaknesses. Bam um F had 80 graphs including ten num erals, plus one diacritic and

one determ iner. 56 of the graphs were logographs representing m onosyllabic words, but served m ore im portantly also as rebus sym bols for syllables as well. 15 graphs represented syllable pronunciations alone without any logographic value. 6 graphs represented individual vowel phonem es, while 2 represented phonem es /m / and /z/. The diacritic, in turn, had m ultiple functions, m ost often sym bolizing a syllable-final glottal stop, as in several of the exam ples in Fig. 58.2. In other cases, however, it m arked a graph as representing a word or syllable with a different onset or rim e, as in exam ples 6, 7 and 9. In a few cases it distinguished syllables or logo-

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

graphs by tone. The distinguisher rem ained as in Bam um A, m arking the m orphem e whose referent had higher status.

Sequoyah experim ented and puzzled for twelve years over how to write Cherokee, trying one approach after another. He neglected his farm and other duties, suffering ridicule and even persecution from fam ily and neighbors because he did so. He visited a school at the Moravian m ission to observe the students reading English, but could m ake nothing of what they were doing. He collected sam ples of English language writing but they did not help him understand the principles, either. He started drawing pictures, each to represent a different word, but had to give that up as too cum bersom e. Up to this point we see him engaged in a process sim ilar to the one followed by Njoya, but do not have exam ples of the writing he tried and discarded because none of that was m ade public. We have no indication, furtherm ore, that Sequoyah used the rebus principle. We do know, however, that finally Sequoyah found the crucial idea he needed to m ake writing possible when he began to draw graphs to sym bolize parts of words, usually syllables. He produced a system of som e 200 graphs which he successfully dem onstrated in 1821 by teaching it to his daughter and then reading back m essages which people dictated to her. He then went on to reduce the num ber of graphs, ending up with 85 in 1824. The Cherokee Council adopted the system in 1827 and type fonts were cast for printing it. The first num ber of a newspaper, the Cherokee Phoenix appeared in 1828. Within a rem arkably short tim e m ost adult Cherokee apparently becam e literate in the system (Mooney 1900, 112 ff; Foreman 1938).

3.1.2. Viability and significance Even Njoya’s final writing system did not achieve the elegance of som e of the system s to be described later. It was inconsistently m ade up of graphs representing different levels of language in som ewhat haphazard ways. Tones were distinguished in only four syllables and num erous other theoretically possible syllables were m issing. In spite of its lim itations, however, it was a workable system which was taught in schools and widely used. A staff of scribes wrote several m ajor docum ents, including a History of the Bamum and their Customs, a code of m arriage, a book on religion, and one on Medicine and Local Pharmacology. Births, m arriages, deaths and legal judgm ents were registered in the script. Clearly Njoya’s work represents a m onum ental accomplishment. Num erous historical, social, cultural and linguistic factors contributed to the form ation of the Bam um system and its use. Fundam ental to them was the diffusion of the idea of writing, com bined with Njoya’s desire that any Bam um writing should be distinct from the dom inant Hausa. Critical also was the inventor him self, his personal inclinations and abilities. As king, furtherm ore, he had the power to authenticate the system and to see it im plem ented, supported by the highest levels of Bam um social structure. His position also insured som e financial resources and a staff of scribes. Colonial authority, on the other hand, curtailed his work. He destroyed the printing press because of his frustrations with the French, and was eventually banished by them . From then on his writing system no longer had official support and has gradually declined. 3.2. Sequoyah and the Cherokee script A partially different experience with the process of discovering how writing can be done is illustrated by Sequoyah, creator of the highly successful Cherokee (USA) syllabary. In 1809 he and som e of his friends idly speculated on how Whites could send “talking leaves“ across long distances with m essages which were understood at the receiving end. The chance conversation led him to think deeply about the im portance of this rem arkable ability and what it could m ean to the Cherokee people to be able to do the same thing.

3.2.1. The Cherokee system The graphs which spread widely with Cherokee literacy were not entirely the sam e as those Sequoyah designed, however. NonCherokee technicians who cast the type for printing m odified them considerably to look m ore like capital letters of Rom an script. Fig. 58.3 shows three lines of a table of graphs as printed, with som e of their values. Fig. 58.4 shows tracings of sam ple pairs of graphs apparently written in Sequoyah’s own handwriting. The second graph in each pair is sim ilar to the printed shapes, but the corresponding first graph in each pair is strikingly different. Sequoyah’s system was a syllabary, m ore consistently so than the Bam um . The basic Cherokee spoken syllable has the form CVt, or consonant and vowel with tone. In its most

58.  Native Creation of Writing Systems

Fig. 58.3: Samples of graph shapes as modified for printing (after White 1962, 512). Only one value is given for each graph, but a number of them actually have phonemically distinct values beginning with voiced and voiceless consonants. The vowel quality represented as v is //.

Fig. 58.4: Samples of graph shapes apparently written in Sequoyah’s hand (traced and reduced from Walker 1981, 148, photographed from a manuscript at the Thomas Gilcrease Institute of American History and Art, Tulsa, Oklahoma).

expanded form the syllable consists phonem ically of CCVt:tC. Reduced syllables of the type CC, without a vowel, and perhaps Vt, without a consonant, also occur in context. Cherokee has 6 vowels, 2 vowel lengths, 18 consonants and consonant clusters, and 4 tones, leaving aside the com plications of final consonants and reduced syllables. Theoretically it therefore has 864 syllables which Sequoyah finally wrote with 85 graphs, one of which is phonem ic /s/, not syllabic. This underdifferentiation in the writing results from not distinguishing vowel length or tone, and not usually distinguishing voiced/voiceless contrasts (e. g. /ke/ and /ge/ are represented by the sam e graph, as are /nu/ and /hnu/, etc.). Except for /s/, syllable-final consonants and reduced syllables are written as though they were full syllables. /di2i1ne2e3ł—di4i3/ ‘dolls’, for exam ple, is written as though it were /dinelodi/, or som e other perm utation thereof. Nevertheless, although the writing is thus theoretically highly am biguous, in practice experienced readers have little or no problem reading it (Walker 1975, 190 ff; 1981, 146 ff). 3.2.2. Viability and significance Several ingredients were critical in the m ixture of forces which produced the Cherokee syllabary and m ade it a success. A nation was trying to work out its identity and role in

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relation to a colonial power which was both intriguing in the new opportunities it exem plified and threatening in its tending to overwhelm the nation’s existence. An individual had the curiosity, tim e, determ ination, perseverance and intelligence to figure out how writing could be done. A social hierarchy headed by the Cherokee Council officially approved and prom oted the system , giving it authenticity and providing m eans for dissem inating it. People quickly saw value in the writing as m eeting som e of the needs they felt. It provided an ethnic sym bol of high prestige, brought respect from the colonizers, m ade possible widespread com m unication within the nation, strengthened preservation of inform ation about traditional culture, and helped people to understand better the im pinging culture, especially its religion. A few m em bers of the dom inant colonial society also helped by casting type, setting up printing facilities, and advising on other technical tasks. The system was also adopted and prom oted by som e of the Christian m issions. Cherokee learning style, furtherm ore, enabled thousands of people to learn to use the system without form al education, but sim ply by observation, experim entation, som e tutoring, and incubation (Walker 1981, 171 ff). These social forces prevailed in spite of underdifferentiation in the system (→ art. 57), aided by the fact that in som e respects the underdifferentiation was helpfully consistent, unlike Bam um . Where a single graph represented m ore than one syllable they were not random ly associated, but usually began with phonetically sim ilar voiced and voiceless consonants. Tones and vowel length apparently have low functional load in Cherokee, so that not m uch was lost by not distinguishing them in writing. Writing final consonants and reduced syllables as though they were full syllables is frequent in syllabic writing and m ay be seen as a step toward phonem ic writing. All in all, readers had little difficulty either learning the Cherokee system or using it, far less difficulty in learning it than m any people have with the greater inconsistencies of English writing. Other social forces, however, dim inished the use of the Cherokee syllabary in due course. The dom inant Am erican culture has been harsh on the cultures, languages, and writing system s of Native Am ericans, rendering them increasingly m arginal. Although use of the Cherokee syllabary has picked up again since the 1970s its role is only a shadow of what it form erly played in the Cherokee nation (White 1962; Walker 1975, 195 ff).

714

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

3.3. Shong Lue Yang’s Pahawh Hmong Even the sketchy picture we have of Sequoyah’s twelve-year effort to understand how writing works cannot be m atched for the sam e stage in the work of Shong Lue Yang, who nevertheless devised the even m ore rem arkable writing system with which he suddenly em erged to public view in 1959. In fact, he em erged with system s for both his own Hm ong language and for the Khm u’ language of his m other (both spoken in Vietnam and Laos). Shong Lue could not previously read or write any language, but he had doubtless observed the phenom enon of writing at least in Chinese, Vietnam ese, Lao and French. He believed in the potential im portance of writing for his people, especially as the Hm ong had long-standing m yths which declared that God would som e day provide writing for them . Shong Lue’s writing therefore carried m essianic im plications, and the very fact that an illiterate Hm ong person could produce a writing system was proof to him self and m any of his neighbors that it and he were of divine origin (Vang, Yang & Sm alley 1990, 11 ff). Later Shong Lue radically restructured his Hm ong writing system three tim es, producing a significantly different system in each (4.1.). When Shong Lue began teaching his Hm ong and Khm u’ writing system s in the m ountains of northwestern Vietnam in 1959, that part of the world had been in turm oil for years, repeatedly buffeted by war which began when the Japanese occupied Indochina in 1940 at the beginning of World War II. The Hm ong and the Khm u’ had been caught up in the twenty-year conflict, the Hm ong divided and fighting on both sides. Along with his writing system Shong Lue taught a m essianic m essage of unity so that God could restore the Hm ong and Khm u’ people to ethnic and national greatness. As word of the writing spread people began walking from m iles around to learn from Shong Lue, who enlisted a cadre of literacy teachers and another of religious leaders to help him . This m ovem ent soon attracted the attention of Vietnam ese com m unist authorities who declared that he had learned his system from the CIA, and tried to capture him . He fled to Laos, into the care of the Hm ong m ilitary fighting with the United States, where again he attracted a large following. In tim e the Hm ong m ilitary leadership becam e jealous and suspicious of him , and eventually jailed him . He was rescued by followers, but soldiers

Fig. 58.5: Examples of Pahawh Hmong 1 graphs for rimes (vowels and tones). Phonemic values of the vowels are shown to the right, where n represents nasalization (after Smalley et al. 1990, 66).

found and assassinated him and his wife in 1971. No exam ple of Shong Lue’s Khm u’ system is known to have survived the persecution suffered by som e of his followers after the assassination, but the Hm ong system is well docum ented, and som e of the later revisions are still in use in Laos, in Hm ong refugee cam ps in Thailand, and am ong som e Hm ong im m igrants to the USA (Sm alley et al. 1990). Shong Lue called his writing the Pahawh Hm ong ‘Hm ong alphabet’. We describe only the first stage in this section, which is restricted to system s resulting from stim ulus diffusion, because his further restructurings cam e after he was already literate in this first system. 3.3.1. Pahawh Hmong 1 system A few exam ples of the graphs which Shong Lue designed for Pahawh Hm ong 1 are shown in the tabular form in which he taught them (Fig. 58.5 and 58.6). The shapes shown here were norm alized by som e of his followers for reproduction by m odern technology, and look som ewhat different from his own rather uneven handwriting. In Fig. 58.5 the colum ns correspond to 7 tone distinctions and the rows to 3 of the 13 phonem ic vowels, vowel clusters, and nasalized vowels of the language. In Fig. 58.6, on the other hand, neither row nor colum n has any linguistic significance, but the table sim ply shows the arbitrary order in which Shong Lue taught the graphs. The exam ples in Fig. 58.6 are therefore nine out of 30 haphazardly related initials, two of which did not occur in his own dialect but were required for another. Hm ong spoken syllable structure has the form CVt, in which the initial C m ay consist of 0 to 4 phonetic segm ents (like /ntsh/), and the V consists of 1 or 2 phonetic segments.

58.  Native Creation of Writing Systems

Fig. 58.6: Examples of Pahawh Hmong 1 graphs for initials (consonants and zero). Corresponding phonemic values are shown to the right (after Smalley et al. 1990, 67).

In Pahawh Hm ong 1 every spoken syllable is sym bolized by a sequence of two graphs, one for the initial (consonant or consonant cluster) and one for the rim e (vowel and tone), no m atter how m any segm ents m ay be spoken. It is an alphabetic system in that it sym bolizes phonological segm ents sm aller than the syllable, but is dem isyllabic in that the segm entation is not into individual phonem es, like m any alphabets. Pahawh Hm ong syllables are read from left to right, but a unique feature of the system is that within each syllable the graph for the rim e precedes the graph for the initial, in reverse order from the spoken order. The rim e is treated as the nucleus of the syllable and the initial an appendage to the rim e, as though the structure of the spoken syllable were ‛Vt, written Vt‛. Pahawh Hm ong 1 fits perfectly both m ajor Hm ong dialects spoken in Laos and Vietnam , and it is com pletely consistent when used correctly, phonologically neither overdifferentiated nor underdifferentiated.

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of the worth of their language am ong the languages of the world. More educated and m ore powerful people, on the other hand, tended to see the m ovem ent as an em barrassing superstition, and to dism iss the writing as of no significance. Two other m ajor differences were the m ythological fram ework which underlay Hm ong thinking about writing and the fact that the writing was alm ost an end in itself, with little em phasis on what was written or was to be written. Shong Lue Yang left no documents except a few letters. Pahawh Hm ong 1 required m em orizing 151 graphs, not to speak of associated logographs like num erals. This was not an insurm ountable task, as proved by the m any people who did learn it, but Shong Lue soon found ways to lower the m em ory load. He did so, however, not by deleting graphs and thus creating underdifferentiation, but by restructuring the system (4.). Pahawh Hm ong 1 fits the language for which it was developed m ore perfectly than any other alphabet known to have been created by a person who could not previously read or write. The Pahawh Hm ong, furtherm ore, is the only alphabet (as opposed to syllabary) which a nonliterate person is known to have produced. I t is no longer used, having been supplanted by sim pler subsequent system s, but rem ains the m ost sacred of the system s to the followers of Shong Lue Yang because it was the original revelation.

3.3.2. Viability and significance

4.

Som e of the sam e circum stances which gave rise to the Bam um and Cherokee syllabaries helped to produce the Pahawh Hm ong as well. These included the difficult relations with colonial powers (this tim e Vietnam ese and Lao) and the rem arkable individual who produced the system . Som e other factors were significantly different, however, starting with the fact that Shong Lue’s system never got official sanction from higher authorities am ong his people, but aroused persecution and resulted in his death. The authorities saw him as a severe threat because of his m essianic m essage and because som e thought his system was a code for com m unicating with the enem y. Shong Lue Yang’s appeal was prim arily to peasants and the lower ranks of soldiers. Many hum ble Hm ong people saw great value in his writing system s, not necessarily utilitarian value, but religious value, and a sym bol

Unlike the system s in 3., a m ajority of the writing system s tabulated in Fig. 58.1 were produced by people whom we know or assum e were already literate in som e language. They nevertheless devised writing system s which were new creations in som e significant sense, not just adaptations of the system s they already knew. The outstanding exam ple of such a restructuring becom ing a m ajor writing system for a m ajor language is the Korean Han’gul, a m arvelously ingenious system (→ art. 27). Shong Lue Yang, now literate in Pahawh Hm ong, m ade three such restructurings of the Pahawh Hm ong after beginning to teach it in 1959. He introduced Pahawh Hm ong 2 in 1965, following it with the third version in 1970 and the fourth in 1971. The second version was widely taught until he was assassinated in 1971. It quickly replaced the first because it was sim pler, and is still used by

Structural reformation

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

som e Hm ong in Laos and Thailand. The third system was devised when he was in prison and therefore did not get a strong start before his death or during the subsequent period when his followers were persecuted. It was revived, however, in refugee cam ps in Thailand in 1975, where m any Hm ong fled when the Vietnam ese won the war in Laos. It has since becom e the “standard“ Pahawh Hm ong system by agreem ent am ong som e of Shong Lue’s principal disciples. Shong Lue gave the fourth system to his prim ary student just a short tim e before he was assassinated. It has never been used except as an auxiliary system , although it is the simplest of them all. 4.1. The changes Each revision of the Pahawh Hm ong brought at least one m ajor structural change to the system of rim es, as illustrated in Fig. 58.6, which m ay be com pared graph for graph with Fig. 58.5. Each restructuring reduced the num ber of graphs to be rem em bered or otherwise lowered the m em ory load without producing any underdifferentiation. In Pahawh Hm ong 1 every rim e had a different graph, requiring 91 shapes, none of which were visually related in any system atic way. Stage 2 still required 91 graphs, but a degree of visual relationship, of m nem onic sim ilarity, was introduced for each vowel quality. Every vowel graph now consisted of a prim ary graph shape plus a diacritic (including 0 diacritic), and every vowel pronunciation had two such prim ary graph shapes plus any one of four diacritics. The num ber of shapes to be rem em bered was thus reduced from 91 to 26 + 4, or 30. In this Stage 2, however, the diacritics did not represent tones as such because they were not system atically placed in the respective tone colum ns. For exam ple, the first colum n for stage 2 in Fig. 58.7 had three different diacritics, although all graphs in the colum n represent syllables with the sam e tone. Diacritics were as inseparable from the prim ary graph shapes as the dot is from the prim ary graph shape in a Rom an i. The apportionm ent of shapes to the vowel qualities was likewise not consistent. For som e vowel qualities of stage 2, the first shape occurred four tim es, the second three, but for som e others (not shown), the line division was 3/4. The shapes of the graphs, furtherm ore, bore little resem blance to those in Pahawh Hmong 1. The treatm ent of the onsets in stage 2 was parallel to that of the rim es, but m ore conStage 2

Fig. 58.7: Examples of Pahawh Hmong graphs for rimes, stages 2—4. Phonemic values of the vowels are shown to the right in stage 2 (after Smalley et al. 1990, 69, 56, 72).

Fig. 58.8: Examples of Pahawh Hmong graphs for onsets, stages 2—4. Corresponding phonemic values are shown to the right (after Smalley et al. 1990, 57).

sistent, as shown in Fig. 58.8. One basic shape was used for each line, and this tim e the sam e diacritic was used consistently the length of each colum n. Again, neither part of the graph had any independent reference, however. Each graph rem ained a unitary sym bol, but the num ber of shapes to rem em ber was reduced from 60 to 20 + 3. These sam e onset graphs continued to be used unchanged through all the subsequent versions. The increasing linguistic sophistication to be seen in later treatm ents of the rim es did not extend to the onsets.

58.  Native Creation of Writing Systems

In the third stage the inconsistencies in the stage 2 treatm ent of rim es were rem oved. The sam e diacritic now appeared down the length of each full tone colum n and the two basic graph shapes for each vowel were apportioned consistently 4/4 across the line. (An additional tone colum n was added for an eighth tone which had not been included before, but which is usually m orphophonem ically predictable, and which had little bearing on the fit of the writing system to the language.) The effect of these changes was not sim ply to tidy up the system , however. Structurally the effect was to split the graph for the tone from the graph for the vowel. The effect for the learner this tim e was not to reduce the num ber of shapes to be learned but to render the relationship of shapes to sound less arbitrary, and therefore easier to remember. In the fourth stage only one graph was used to represent each vowel quality, which required the use of 8 diacritics (including 0) to distinguish the tones. This reduced the graphs to 13 + 8 and created a one-to-one correspondence between vowel final and graph as well as between tone and graph. That m ade the whole vowel system som ething m ore like what a Western linguist m ight have designed, although it still left vowel sequences like /ia/ and /ua/ graphically unsegmented. 4.2. Evaluation From Shong Lue Yang’s point of view, stages 2—4 where probably sim plifications, rendering the Pahawh Hm ong easier to learn and rem em ber. From a linguistic point of view they also showed a steadily deepening understanding of how the Hm ong sound system works and of how writing can sym bolize speech. As he used and taught Pahawh Hm ong 1 Shong Lue becam e increasingly sensitive to additional possibilities beyond his original creation. Even the inconsistencies in the ways rim es were handled in stage 2 m ay have helped bring further changes. The table in which they were presented alm ost forced realignm ent of the diacritics with colum ns, as had already been done with onsets. As tim e went on, also, Shong Lue had a few students who were already literate in other languages or the Rom an Hm ong, and asked questions or m ade suggestions based on their prior experience. These certainly stim ulated Shong Lue, but until the fourth stage his solutions did not m ove in the direction of structures to

717

be found in surrounding languages. Rather, they were logical extensions and perfections of his original insight. The treatm ent of tones in the fourth stage, on the other hand, although it was also a further logical extension, did partially resem ble the way tones are handled in Vietnamese. Unfortunately we do not know what the Khm u’ system Shong Lue developed was like, but working sim ultaneously on the two languages m ay have helped him find solutions in each. Khm u’ phonology is sharply different from Hm ong phonology, so that the dialect which Shong Lue probably knew had no tone but had num erous syllable-final consonants plus a larger inventory of vowel contrasts. Probably som e 2000 people now use the Pahawh Hm ong, m ost of them the third stage, although the m ajority of Hm ong who are literate prefer a Rom an version. People who do use the Pahawh Hm ong tend to be very loyal to it, even those who do not follow Shong Lue Yang’s m essianic vision. They see it as a sym bol of Hm ong identity, a Hm ong creation not adapted from a foreign writing system . Adherents also say it is easier to learn than the Rom an system , and experienced readers and writers certainly use it fluently and easily. Typing and word processing is possible in it, having been developed over m any years of ingenious experim entation by a few disciples.

5.

Historical clusterings

A notable fact about natively created writing system s is that som e of them cluster in space and tim e, as is obvious in Fig. 58.1. After the three original inventions, all the system s but one shown before the 19th century are in the Chinese culture sphere. Japanese could also be added to that list because from one point of view the Japanese syllabic system s are new creations, although the Japanese writing system seen as a whole m ay be better classified as an adaptation from Chinese (→ art. 27). Other writing system s were likely invented also am ong peoples in present-day China. Two of the system s in Fig. 58.1 cam e in the 19th century, followed by the bulk in the 20th. Even though other undocum ented system s m ay have been invented in other countries as well, it is still clear that the spread of literacy which accom panied European colonialism , m issionization and m odernization has been a m ajor stim ulus to this increase in the invention of new systems.

718

Fig. 58.9: Sayaboury script vowels. Phonemic values are shown in the intersections of the matrix (Smalley & Wimuttikosol 1991).

5.1. Other Hmong systems One m ajor cluster in Fig. 58.1 which extended through at least twenty years is located in Laos, overlapping into Vietnam . It consists of the four Pahawh Hm ong system s and the Khm u’ system (3.3., 4.) plus four other Hm ong system s. We know nothing about the Khm u’ and little of the Xao Ying Xiong script (Morrison 1992—1994), but the rest are all alphabetic system s of the dem isyllabic type, sym bolizing onset and rim e in various ways. Unlike the Pahawh Hm ong, however, they do so in the sam e order as in speech. They all distinguish tones with separate graphs, two of them placing the tone graph after the vowel graph, and the third across the vowel graph. All of them sym bolize the full range of sound contrasts in the two dialects of Hm ong used in the area, phonologically fitting the language equally well. All of them show influence from the Rom an system m ore com m only used to write Hm ong, but each has significant structural differences from it also, as well as unique graphs. As one exam ple of a unique structural feature, the Sayaboury Script uses only five graph shapes in arbitrary com binations to build com pound graphs for the thirteen vowels and vowel clusters (Fig. 58.9). Each graph shape on the vertical axis followed by each graph shape on the horizontal axis gives fifteen possible com pound graphs, thirteen of which sym bolize the vowels shown at the intersections of the matrix. Each of these Hm ong writing system s has its own sm all following, none of them rivaling the Pahawh Hm ong or com ing anywhere near the widespread use of the Rom an system . The Sayaboury script has strong m essianic im plications, rem iniscent of the Pahawh Hm ong. Texts in the script describe what it will be like when God gives the Hm ong their own coun-

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

try. The Xao Ying Xiong script probably also has a m essianic perspective behind it, but whether or not the Em broidery script is supported by such an ideology is not known. The extraordinary preoccupation with writing system s am ong Hm ong people is clearly a cultural phenom enon with deep roots. The Hm ong have lived their lives for hundreds of years in the shadow of m ore powerful people with writing — Chinese, Vietnam ese, Lao, French, and Thai. Som e of them ascribe part of their politically subordinate status to the lack of writing, and see writing as a source of power for the dom inant peoples. They have m yths which state that they once had writing, but lost it due to their carelessness, and that God will at som e tim e restore writing to them and bring them and their language to a status equivalent to surrounding peoples. At the tim e when these writing system s appeared the people had been subjected to years of brutal warfare, suffering enorm ous casualties, displacem ent and flight. They were divided, fighting on both sides in this war. Thousands of them were cooped up in resettlem ent areas and refugee cam ps for years with m uch idle tim e on their hands. One of their responses to these m any intertwining factors has been for individuals or groups to com e up with the writing system s which they believed would bring unity am ong them and give them status am ong the nations. Unfortunately, however, each new system adds new grounds for disagreement among them. 5.2. West African systems A rash of writing system s invented by native speakers in West Africa began with the Vai (Liberia) system in 1833 and continued later at intervals from about 1929 to 1960 (Dalby 1967, 1968, 1969). Seen chronologically and geographically, the Vai system seem s to have stim ulated those developed in the 1920s and 1930s in Mende, Lom a, Kpelle, and Bassa, all languages of Liberia and neighboring Sierra Leone, although none of the inventors could read the Vai. All of these system s were syllabaries except the one for Bassa, which was an alphabet invented by a m edical doctor trained in the USA. None have had the widespread use which the Vai system has enjoyed, however, nor have they penetrated as deeply into the respective cultures of their speakers. They have been used prim arily for correspondence by the people who know them. Then in the 1950s and 1960s natively devised writing systems were produced in some

58.  Native Creation of Writing Systems

Fig. 58.10: Examples from the Vai syllabary (after Scribner & Cole 1981, 33).

of the next outer tier of countries of which Liberia is the hub: Guinea, Senegal, Mali and Ivory Coast. Except for Bete (Ivory Coast) these were all alphabets, doubtless reflecting the greater degree of alphabetic literacy in Arabic, African and European languages current in the area by that tim e. They appear to have been used only by the inventors and by a lim ited num ber of other people. More widely used writing system s for each of these languages were already in place when the new systems were devised. The Vai system was the first in this West African cluster, and the people who use it have been m ore system atically studied for the place of writing in their life, culture and psychology than any other group which has a system invented in m odern tim es (Scribner & Cole 1981). The Vai script is a syllabary produced by Mom olu Duwalu Bukele and som e of his friends who attributed his inspiration to a dream , although when he woke up he could not rem em ber m ore than a few of the characters revealed to him . He and his friends m ade up the rest, and although the system has been revised som ewhat through the years it rem ains essentially as they conceived it. Som e exam ples of its present form are shown in Fig. 58.10. It now has 212 graphs, and fits the language rather well except that it does not distinguish spoken tones or syllabic nasal /ñ/. The Vai are a generally rural people, like m ost other people for whom writing system s have been created by m em bers of their com m unity. Three types of form al education take place in their com m unities. Knowledge required for adult Vai living is taught to children reaching puberty by traditional m ethods in bush schools. Knowledge of the Qur’an, particularly the ability to recite it and read Arabic is taught to children in Qur’anic schools. Western type education is available for children in som e com m unities in governm ent or m ission schools. Each of these types of educational institution has its language: Vai, Arabic and English respectively. The Vai-

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speaking bush schools do not teach the Vai script, however. That is learned m ostly by young m en in their late teens or early twenties tutored by people who are already literate. Learning Vai script is always a personal affair between the knower and the learner, not seen as a com m unity or institutional responsibility. It takes place in inform al encounters, often for only a few m inutes at a tim e. A m ajor learning strategy is to take a docum ent like a letter and m em orize it graph by graph, copying the graph repeatedly as part of the process. After a few such docum ents are studied in this way m ost if not all the graphs have been m em orized. Vai literacy is thus literacy without education; if the Vai literate has any schooling it is gained in another language and another script. A Vai person m ay therefore be literate in any one or m ore of three scripts, or none at all. Each script, furtherm ore, is associated with a different language, and is used for largely different functions. Percentages of the adult m ale population estim ated to be literate in the different languages and their scripts are Vai 20%, Arabic 16% and English 6%, with som e people able to read m ore than one script so that the total com es to 28%. In spite of this association between language and script, however, som e people do write Arabic prayers or English correspondence in Vai script, just as som e also write Vai in Arabic or Rom an script. The Vai script is used m ost often for correspondence, but also for record keeping like lists of donors at funerals, business ledgers and technical plans. A few people keep clan histories or diaries, or record traditional lore. It is not used m uch for acquiring new knowledge or culturally valued inform ation. And in spite of its value to the m inority who know and use it, the m ajority of the population gets along very well without literacy in any language at all. According to Scribner & Cole (1981, 31) any visitor to Vai country is told, “There are three books in this world — the European book, the Arabic book, and the Vai book; God gave us, the Vai people, the Vai book because we have sense.” When we think of the often uneducated but brilliant perseverance and analytical insight which produced the several system s we have discussed in this article, and others like them , that statem ent seem s to be a m ost sensible conclusion to draw about each of these peoples for whom one of their num ber invented a new writing system.

720

6.

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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William A. Smalley, Hamden, Connecticut (USA)

59. Orthographieentwicklung und Orthographiereform 1. 2. 3. 4. 5. 6.

1.

Zur Charakterisierung der Orthographie Möglichkeiten der Orthographieentwicklung Grundsätze, Ziele und Bestimmungsfaktoren von Orthographiereformen Durchgeführte und geplante Orthographiereformen Auseinandersetzungen um Orthographiereformen Literatur

Zur Charakterisierung der Orthographie

1.1. Der Begriff Orthographie Unter Orthographie verstehen wir die Norm der Schreibung einer Sprache, d. h. die Norm

der graphischen Repräsentation sprachlicher Einheiten. Schreibung und dam it auch ihre Norm , die Orthographie, beziehen sich som it auf die Form seite der geschriebenen Sprache, die ihrerseits eine bilaterale Größe darstellt und außer der Form seite auch eine Inhaltsseite um faßt, die wir Bedeutung nennen. Die graphische Repräsentation sprachlicher Einheiten schließt alle graphischen Form einheiten ein, die Schreibung beschränkt sich deshalb keineswegs auf die elem entaren Schreibungseinheiten, die Graphem e, zu ihr gehören ebenso auch die graphischen Repräsentationen der höheren Einheiten des Sprachsystem s, der Morphem e, der Wörter, der Sätze und der Texte. Mit anderen Worten, zur Schreibung gehört nicht nur die graphische Wiedergabe

59.  Orthographieentwicklung und Orthographiereform

von Morphem en und Wörtern m ittels Buchstaben, zu ihr gehören auch solche graphischen Gegebenheiten wie die Getrennt- und Zusam m enschreibung, die Groß- und Kleinschreibung, die graphische Worttrennung am Zeilenende und die Interpunktion. Das gleiche gilt für die Orthographie m it dem Unterschied, daß die Schreibung zunächst alle m öglichen graphischen Realisierungsform en sprachlicher Einheiten um faßt, während die Orthographie diese Möglichkeiten unter norm ativem Aspekt auf die in einem bestim m ten Zeitabschnitt in einer Gem einschaft allgem ein anerkannten und m ehr oder weniger verbindlichen graphischen Realisierungsform en einschränkt (→ Art. 56). Neben diesen norm gerechten graphischen Form en sprachlicher Einheiten kann es dann im Sprachgebrauch einer Gem einschaft auch solche Form en geben, die außerhalb der Norm stehen, z. B. die orthographischen Fehler, aber auch bewußte Norm abweichungen unter graphostilistischen oder werbepsychologischen Aspekten. Zwischen der Norm entsprechung und der Norm abweichung gibt es auch in diesem sprachlichen Bereich eine Übergangszone der Variabilität, die in verschiedenen Sprachen je nach dem Grad der Striktheit der Kodifizierung ihrer Orthographie unterschiedlich groß sein kann, wobei es allerdings zu den Wesensm erkm alen m oderner Orthographien gehört, daß ihre Variabilität im allgem einen relativ gering ist (vgl. Gabler 1983). Die Orthographie oder Rechtschreibung stellt als Norm der Graphie oder Schreibung eine sprachliche Norm dar, die einerseits durch die generellen Merkm ale einer Sprachnorm , andererseits aber auch durch eine spezifische Ausprägung dieser Merkm ale gekennzeichnet ist. 1.2. Merkmale der Orthographie Zu den generellen Merkm alen sprachlicher Norm en gehört, daß sie ein Teil der sozialen Norm en einer Gesellschaft sind, in diesem Fall Norm en, die das sprachlich-kom m unikative Handeln der Menschen regeln. Solche Norm en sind im Prinzip Verallgem einerungen, die aus der sprachlich-kom m unikativen Tätigkeit einer Gem einschaft gewonnen werden und gleichzeitig dieser Tätigkeit wieder als Richtschnur zugrunde liegen. Die Wechselseitigkeit dieses Prozesses ist in der Orthographie in besonderer Weise ausgeprägt. Norm en sind Auswahlgrößen aus der Gesam theit der Möglichkeiten, die die Sprache in einem bestim m ten Zeitraum für die Bildung sprach-

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licher Äußerungen besitzt. Diese Auswahl geht einher m it einem höheren Grad der Anerkennung und Verbindlichkeit der ausgewählten sprachlichen Mittel gegenüber anderen Varianten, die in der entsprechenden Gem einschaft und dem betreffenden Zeitabschnitt nicht (nicht m ehr oder noch nicht) als norm gem äß angesehen werden. Sprachliche Norm en sind som it im m er präskriptive Größen. Sie existieren als Richtschnur sprachlichkom m unikativen Handelns in einer Gem einschaft einerseits intern im Bewußtsein der Angehörigen dieser Gem einschaft, sie können aber auch extern als Norm explikationen, Norm form ulierungen, Norm kodifikationen (vgl. Kohrt 1990, 115) aufgezeichnet sein, wobei eine Norm wie die Orthographie in besonderer Weise an eine Kodifikation gebunden ist, während andere Norm en weniger kodifikationsabhängig sind. Dam it sind wir bei der spezifischen Ausprägung der Norm merkmale in der Orthographie. 1.2.1.  Die Orthographien der m odernen Kultursprachen sind heute norm alerweise kodifizierte, d. h. ausgearbeitete, in Regeln gefaßte, in schriftlicher Form niedergelegte Norm en, deren Verbindlichkeit oftm als durch staatliche Festlegungen gestützt wird. Die Kodifizierung der heute noch geltenden deutschen Orthographie z. B. erfolgte durch die Festlegungen der sogenannten I I. Orthographischen Konferenz im Jahre 1901, wobei m an sich auf voraufgehende Kodifizierungen, aber auch auf Tendenzen im Schreibusus stützte. Die so fixierte Kodifizierung der Orthographie wurde durch staatliche Verfügung 1903 für Schule und Behörden verbindlich und bestim m te dadurch in entscheidendem Maße den weiteren Usus. Die Notwendigkeit einer relativ strikten Kodifizierung der Orthographie ergibt sich offensichtlich nicht zuletzt daraus, daß die vielfältigen Anforderungen, die die m oderne Gesellschaft an die schriftliche Kom m unikation stellt, nur erfüllt werden können, wenn die geschriebene Sprache über eine relativ genau festgelegte Form verfügt, die eine weitgehende Gleichheit für alle Sprachbenutzer erm öglicht und sichert und Störungen der schriftlichen Kom m unikation, die aus der Verwendung uneinheitlicher graphischer Form en resultieren könnten, ausschließt. Der Grad der Differenziertheit und die Genauigkeit der Kodifizierung der Orthographie können dabei nicht nur zwischen verschiedenen Sprachen variieren, sondern auch in Hinsicht auf die verschiedenen Teilbereiche

722

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

der Orthographie. Ebenso können sie sich natürlich im Laufe der Zeit verändern, wobei außerdem zwischen Norm änderungen selbst und bloßen Norm form ulierungsänderungen (vgl. 1.2.2.) sorgsam unterschieden werden muß. Die Kodifizierung der Orthographie erfolgt in Form von Regeln, auch wenn das in vorliegenden Kodifizierungen nicht in jedem Fall deutlich wird. Orthographische Regeln sind als Einzelvorschriften Handlungsanweisungen, die zur Produktion norm gerechter schriftlicher Äußerungen führen sollen bzw. die angeben, wie bestim m te sprachliche Einheiten norm gerecht geschrieben werden. Entsprechend der vorher gegebenen Inhalts- und Um fangsbestim m ung der Orthographie (vgl. 1.1.) sind sie Ausdruck verallgem einerter Beziehungen zwischen der graphischen Ebene und den anderen Ebenen des Sprachsystem s (vgl. 1.3.) und keineswegs, wie traditionell häufig angenom m en (vgl. Althaus 1980, 788), auf die Beziehungen der elem entaren Einheiten der graphischen und der phonologischen Ebene, der Graphem e und Phonem e, beschränkt. In gleicher Weise wie die Beziehungen zwischen der graphischen Ebene und den anderen Ebenen des Sprachsystem s differenziert sind und Stufen unterschiedlichen Generalisierungs- bzw. Verallgem einerungsgrades um fassen, kann m an auch bei den orthographischen Regeln einen unterschiedlichen Generalisierungsgrad und eine hierarchische Ordnung feststellen. Auf der Grundlage der allgem einsten Beziehungen zwischen der graphischen Ebene und den anderen Ebenen des Sprachsystem s, die wir orthographische Prinzipien nennen (vgl. Nerius et al. 1989, 68 ff), geben die orthographischen Regeln verschiedene hierarchische Stufen dieser Beziehungen an. Sie reichen dabei, um die von Kohrt (1987, 402) eingeführte Term inologie aufzunehm en, von generellen, d. h. die Schreibung m ehr oder weniger großer Klassen von sprachlichen Erscheinungen betreffenden Regeln bis zu singulären Regeln, die die Schreibung einzelner sprachlicher Elem ente, z. B. einzelner Wörter, betreffen, wobei die singulären Regeln norm alerweise Anwendungsfälle und Bündelungen genereller orthographischer Regeln sind. Dem entsprechend können auch Orthographiereform en auf unterschiedlicher Hierarchiestufe in das Regelungsgefüge eingreifen und m ehr oder weniger generelle Änderungen der Orthographie bewirken. In den Fällen, in denen die Hierarchie der Regeln bis zur Festlegung der Einzelwortschreibung in einem

Wörterverzeichnis oder Wörterbuch führt, haben wir es gewisserm aßen m it einer doppelten Kodifikation durch generelle und singuläre Regeln zu tun. Dies trifft allerdings nicht für alle Teilgebiete der Orthographie zu, sondern gilt nur für die Schreibung usualisierter Lexem e, die norm alerweise in einem Wörterbuch aufgeführt werden. Andere orthographische Teilbereiche, bei denen sich z. B. Schreibentscheidungen erst aus dem Kontext ergeben, wie bestim m te Fälle der Groß- und Kleinschreibung oder die Interpunktion, sind nur durch generelle Regeln kodifiziert. 1.2.2.  Die Orthographien der m odernen Kultursprachen besitzen im allgem einen in der jeweiligen Sprachgem einschaft einen besonders hohen Verbindlichkeitsanspruch. Dies gilt zum indest seit der Herausbildung einheitlicher Orthographien m it entsprechenden Kodifikationen, deren Verbindlichkeit in der Regel für große Teile der öffentlichen schriftlichen Kom m unikation auch von staatlichen Institutionen getragen und durchgesetzt wird. Die Mißachtung dieser Norm wird in Schule und öffentlicher Kom m unikation nicht toleriert und m it Sanktionen belegt, was dann natürlich auf den allgem einen Schreibusus ausstrahlt. Die in Regelwerken und Wörterbüchern kodifizierte Orthographie hat so den Charakter einer verbindlichen Richtschnur gewonnen und alles Schreiben ist, von wenigen Ausnahm efällen abgesehen, zum Rechtschreiben geworden bzw. wird nur dann ernst genom m en und ohne Mißbilligung akzeptiert, wenn es orthographisch korrekt ist. Usus und Norm entsprechen som it einander in relativ hohem Maße. Die externe, kodifizierte Norm wird dom inierend für die interne Schreibnorm des einzelnen, und es entsteht auf diese Weise in der Gem einschaft gerade in bezug auf diese Norm ein starkes Norm bewußtsein, das seinerseits wieder zur Stabilität der Orthographie beiträgt. Die Bem ühungen um Orthographiereform en haben dies als einen wichtigen Faktor ins Kalkül zu ziehen. Abweichungen von der kodifizierten Orthographie gelten als Fehler, die m an im allgem einen tunlichst verm eiden sollte, auch wenn z. B. im Deutschen im Detail gar nicht im m er klar ist, welche Kodifikation denn nun verbindlich ist. Der diesbezügliche Beschluß der Kultusm inisterkonferenz der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahre 1955 lautet: „Die in der Rechtschreib-Reform von 1901 und den späteren Verfügungen festgelegten Schreibweisen

59.  Orthographieentwicklung und Orthographiereform

und Regeln sind auch heute noch verbindlich für die deutsche Rechtschreibung. Bis zu einer etwaigen Neuregelung sind diese Regeln die Grundlage für den Unterricht in allen Schulen. In Zweifelsfällen sind die im ‘Duden’ gebrauchten Schreibweisen und Regeln verbindlich“ (Bundesanzeiger 15. 12. 1955). Sind z. B. variative Schreibungen Zweifelsfälle? Während beispielsweise die Kodifizierung von 1901 die Schreibungen ‘in bezug auf’ und ‘in Bezug auf’ zuläßt, verzeichnet der Duden seit der entsprechenden Entscheidung von Konrad Duden im sogenannten Buchdruckerduden von 1903 nur noch die Schreibung ‘in bezug auf’. Ähnliche Fälle gibt es nicht wenige, und auch dadurch ergeben sich Ansatzpunkte für Orthographiereform überlegungen, ganz abgesehen davon, daß der Rechtschreibduden auch Kodifizierungen von orthographischen Teilgebieten enthält, für die in der offiziellen Regelung der deutschen Orthographie 1901 gar keine Festlegungen getroffen wurden, z. B. für die Getrennt- und Zusam menschreibung und für die Interpunktion. In bezug auf die Norm der lautlichen Repräsentation der sprachlichen Einheiten, die Orthophonie, ist das allgem eine Norm bewußtsein offensichtlich nicht gleicherm aßen stark ausgebildet, die Orthophonie besitzt keinen so hohen Verbindlichkeitsanspruch wie die Orthographie. Die Ursachen für dieses besondere Merkm al der Orthographie liegen offensichtlich in der Funktion und Bedeutung der geschriebenen Sprache in der m odernen Gesellschaft, die ein hohes Maß an Stabilität und Einheitlichkeit dieser Norm erfordern. 1.2.3.  Der gleiche Grund ist auch für die im Vergleich zu vielen anderen sprachlichen Norm en relativ geringe Variabilität der Orthographie verantwortlich. Zwar gibt es hier gewisse Unterschiede zwischen verschiedenen Teilbereichen der Orthographie, aber die Zahl der variativen Schreibungen bei konstanter Bedeutung und konstanter Lautung der entsprechenden sprachlichen Einheiten, also der fakultativen Varianten, die nicht als Norm abweichungen anzusehen sind, ist insgesam t z. B. in der deutschen Orthographie sehr klein (vgl. im einzelnen Gabler 1983). Solche Varianten können in der graphischen Repräsentation der verschiedenen sprachlichen Einheiten und dam it in den verschiedenen orthographischen Teilgebieten auftreten, eine gewisse zahlenm äßige Relevanz besitzen sie aber im Deutschen vor allem in der Frem dwortschreibung als Resultat der Tendenz der allm ähli-

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chen Anpassung frem der Phonem -Graphem Beziehungen an heim ische (Photo — Foto, Friseur — Frisör) und in der Getrennt- und Zusam m enschreibung infolge des Übergangs von Wortgruppen zu Wörtern (auf Grund — aufgrund, an Hand — anhand, Dank sagen — danksagen, unverrichteter Dinge — unverrichteterdinge). Neuerdings treten solche Varianten auch des öfteren in der Groß- oder Kleinschreibung term inologischer oder phraseologischer Wortgruppen auf (künstliche Intelligenz — Künstliche Intelligenz, schneller Brüter — Schneller Brüter, kalter Krieg — Kalter Krieg, weißer Tod — Weißer Tod). Das Auftreten orthographischer Varianten kann verschiedene Ursachen haben; in ihnen können sich sprachliche Entwicklungen auf anderen Ebenen des Sprachsystem s oder Grenz- und Übergangsfälle zwischen verschiedenen Kategorien oder Klassen widerspiegeln, sie können aber auch Resultat einer unzureichenden Kodifizierung und Regelform ulierung sein, wie das etwa bei der Kodifizierung der Großund Kleinschreibung von Eigennam en in der orthographischen Regelung des Dudens der Fall ist. Insgesam t aber sind Varianten in der Orthographie nach allgem einem Verständnis unerwünscht. Offensichtlich wird es im Interesse einer eindeutigen und raschen Inform ationsentnahm e aus geschriebenen Texten als unzweckm äßig und störend angesehen, wenn die Orthographie m ehr als ein absolutes Minim um an Varianten enthält, selbst wenn solche Varianten das Verständnis des Textes keineswegs generell behindern. Das gesellschaftliche Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Stabilität ist aber offenbar so groß, daß die Variabilität in der Orthographie seit der Kodifizierung der einheitlichen deutschen Orthographie nie m ehr einen größeren Um fang erlangen konnte. Im Grunde kann m an sogar sagen, daß der jüngere Kodifizierungsprozeß der deutschen Orthographie nicht zuletzt die fortgesetzte Reduzierung der orthographischen Variabilität zum Ziel gehabt hat. Das ist natürlich auch für Orthographiereform überlegungen von großer Bedeutung, und eine Reform , die diesen Prozeß etwa um kehren wollte, hätte sicher wenig Realisierungschancen. 1.2.4.  Die bisher angeführten besonderen Merkm ale der Orthographie, ihre Existenz als eine externe kodifizierte Norm , ihr hoher Verbindlichkeitsgrad und ihre geringe Variabilität, haben natürlich auch Auswirkungen auf die Veränderung dieser Norm . Nicht zuletzt

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

in diesem Punkt weist die Orthographie eine besondere Spezifik unter den sprachlichen Norm en auf. Das bezieht sich sowohl darauf, daß die vorgenannten Merkm ale selbst erst im Laufe der geschichtlichen Entwicklung ihre volle Ausprägung erlangt haben, als auch darauf, daß diese in der m odernen Orthographie voll ausgeprägten Merkm ale die Entwicklungsm öglichkeiten der Orthographie sehr stark beeinflussen und prägen. Der norm ale Wechselwirkungsprozeß von Usus und Norm , wie er sich in der Entwicklung vieler anderer sprachlicher Norm en zeigt, stellt sich auf diesem Teilgebiet der Sprache in besonderer Weise dar, und im Laufe der Zeit wird hier die externe kodifizierte Norm im m er m ehr dom inierend für den Usus, so daß die Schreibung in einem erheblichen Maße gewisserm aßen erstarrt und die Dynam ik einer allm ählichen, unm erklichen Veränderung verliert (vgl. auch Abschnitt 2.). Auf jeden Fall ist dieses Faktum eine wesentliche Ursache für die Bem ühungen um Reform en der Orthographien heutiger, m oderner Kultursprachen.

Im allgem einen ist es aber unbestritten, daß für eine Orthographiereform eine angem essene linguistische Konzeption und eine entsprechende sprachwissenschaftliche Vorarbeit notwendig sind. In diesem Zusam m enhang ist es nun von erheblicher Bedeutung, daß sich die Auffassungen zu den grundlegenden Fragen von Wesen, Funktion und Struktur der Orthographie in der internationalen Linguistik in der jüngeren Vergangenheit nicht unbeträchtlich gewandelt haben. Zwar gibt es auch heute noch Linguisten oder linguistische Richtungen, die eine stark phonographisch orientierte Auffassung vertreten (vgl. z. B. Wiese 1987), doch haben sich inzwischen in der Linguistik viele Stim m en zu Wort gem eldet, die in der Schreibung keineswegs nur eine der Lautung nachgeordnete oder von ihr abhängige Repräsentationsform sehen, sondern eine relativ autonom e sprachliche Kom ponente m it eigener Funktion und Struktur (vgl. im einzelnen Nerius et al. 1989, 42 ff). Dabei wird deutlich, daß die prim äre Aufgabe der Schreibung nicht die Visualisierung der Lautung ist, sondern daß sie in erster Linie der Materialisierung und als Überm ittlungsträger von Bedeutungen dient. Zwar spielt der Bezug zur Lautung bei allen Sprachen m it Buchstabenschrift als eine Möglichkeit zur effektiven Realisierung dieser Aufgabe eine Rolle, aber dieser Bezug ist weder Ziel noch Zweck der Schreibung, sondern nur ein Mittel zum Zweck. Dieses Mittel haben z. B. alle europäischen Sprachen gewählt, während andere Sprachen der Erde sich anderer Mittel zur graphischen Materialisierung und Überm ittlung von Bedeutungen bedienen, wie etwa die asiatischen Sprachen Chinesisch, Japanisch oder Koreanisch. Ausgehend von solchen oder ähnlichen Überlegungen sind dann in der jüngeren Linguistik verschiedene Konzepte entwickelt worden, die die Struktur der Orthographie in ihrer Eigenständigkeit und relativen Autonom ie, aber auch in ihrem Bezug zu den Gegebenheiten der anderen sprachlichen Ebenen des System s der Standardsprache darzustellen versuchen. Für die deutsche Orthographie läuft beispielsweise das vom Autor und seiner Forschungsgruppe entwickelte Konzept (vgl. Nerius et al. 1989, 61 ff) darauf hinaus, daß, beginnend m it der Feststellung der grundlegenden Beziehungen der graphischen Ebene zu den anderen Ebenen des System s der Standardsprache, die wir orthographische Prinzipien nennen, in einer hierarchischen Abfolge diese Beziehungen in orthographischen Re-

1.3. Funktion und Struktur der Orthographie Eine andere, substantielle Grundlage der Orthographiereform bem ühungen liegt in den theoretischen Positionen der Träger dieser Bem ühungen zum Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache, zum Wesen, den Funktionen und der Struktur der Orthographie. Lange Zeit dom inierte dabei in den m eisten europäischen Ländern, für deren Sprachen solche Bem ühungen unternom m en wurden, eine phonographische Auffassung, die in der Schreibung ein m ehr oder weniger unvollkom m enes Abbild der Lautung sah und es als ein wesentliches Ziel einer Orthographiereform betrachtete, die von der Lautung — aus welchen Gründen auch im m er — in unterschiedlichem Maße abweichende Schreibung dieser stärker anzupassen. Solche Auffassungen haben auch in einzelnen europäischen Sprachen, wo die übrigen Rahm enbedingungen für eine Orthographiereform das erm öglichten, durchaus zu entsprechenden Orthographieänderungen geführt (vgl. 4.). Ebenso hat es auch Orthographiereform en gegeben, wie die des Dänischen von 1948, die gar nicht prim är von linguistisch-theoretischen Überlegungen ausgingen, sondern bei denen ganz andere Gesichtspunkte ausschlaggebend waren (vgl. ebenfalls 4.).

59.  Orthographieentwicklung und Orthographiereform

geln unterschiedlichen Generalisierungsgrades im m er weiter spezifiziert werden und auf diese Weise die Struktur der Orthographie bis hinunter zu den Einzelfallschreibungen aufgedeckt wird. Gem äß dem Grundcharakter jeder Buchstabenschrift, näm lich dem Bezug zur Lautung, und dem Sinn und Zweck jeder Schrift überhaupt, näm lich der graphischen Repräsentation von Bedeutungen, werden dabei zwei Grund- oder Hauptprinzipien angenom m en, ein phonologisches und ein sem antisches, die auf einer niedrigeren Hierarchiestufe aus jeweils einer Reihe von Einzelprinzipien bestehen, die ihrerseits generelle Beziehungen von Gegebenheiten der graphischen Seite der Sprache zu solchen der lautlichen bzw. der sem antischen betreffen, die dann wiederum auf weiteren nachgeordneten Hierarchiestufen in orthographischen Regeln konkretisiert und ausform uliert werden. So ordnen wir dem phonologischen Hauptprinzip ein phonem atisches Prinzip, das die Beziehungen von Phonem en und Graphem en bei der Wortschreibung betrifft, ein syllabisches Prinzip, das die Beziehungen von Silben und graphischen Wortsegm enten bei der Worttrennung erfaßt, und ein intonatorisches Prinzip zu, das die Beziehungen zur Satzintonation ausdrückt und für die Interpunktion eine — heute allerdings nur noch geringe — Rolle spielt. Dem sem antischen Hauptprinzip ordnen wir ein m orphem atisches, ein lexikalisches, ein syntaktisches und ein textuales Prinzip zu, die jeweils die Wiedergabe sem antisch-struktureller Gegebenheiten der entsprechenden Ebene in der Orthographie zum Ausdruck bringen, z. B. in der Morphem - bzw. Wortschreibung, in der Groß- und Kleinschreibung, der Getrennt- und Zusam m enschreibung und der Interpunktion. Dieses Beispiel soll verdeutlichen, daß in solchen Konzepten m anifestierte Auffassungen über Funktion und Struktur der Orthographie natürlich einen wesentlichen Einfluß auf sprachwissenschaftlich m otivierte Überlegungen und Vorschläge für eine Orthographiereform haben, wobei eine größere Angem essenheit des linguistisch-theoretischen Konzepts auch eine größere Akzeptanzwahrscheinlichkeit und Realisierungschance für die entsprechenden Reform vorschläge eröffnet. Das ist allerdings — wie noch zu zeigen sein wird — m it der Einschränkung verbunden, daß die Durchführung von Orthographiereform en keineswegs allein und m itunter nicht einm al in erster Linie von linguistischen Gesichtspunkten abhängt.

725

2.

Möglichkeiten der Orthographieentwicklung

Die im Abschnitt 1. dargestellte Charakterisierung der Orthographie bezieht sich vornehm lich auf den gegenwärtigen Zustand der Orthographie einer lange verschrifteten Sprache wie der deutschen. In diesem Abschnitt soll nun der Frage nachgegangen werden, wie sich dieser Zustand entwickelt hat und wie er sich weiterentwickeln könnte. Die genannten Merkm ale der heutigen Orthographie, ihre relativ genaue Kodifizierung, ihr hoher Verbindlichkeitsanspruch und ihre relativ geringe Variabilität, waren natürlich nicht schon am Beginn der Herausbildung der Orthographie in gleicher Weise ausgeprägt wie heute, sondern sind ihrerseits das Ergebnis eines historischen Entwicklungsprozesses. Jedenfalls gilt das für Sprachen m it m ehr oder weniger langer Schrifttradition. Anders liegen die Verhältnisse bei neu verschrifteten Sprachen, deren Orthographien gewisserm aßen in einem Akt neu geschaffen werden, was hier aber außerhalb der Betrachtung bleiben soll (→ Art. 57, 58). Die Entwicklung der Orthographie einer Sprache m it langer Schrifttradition wie der deutschen vollzieht sich in einem ständigen Prozeß der Wechselwirkung zwischen Schreibgebrauch und Norm kodifizierung. In diesem Prozeß ist zunächst der Schreibgebrauch dom inierend, in dem sich über die Adaption des lateinischen Schriftsystem s für eine allm ählich im m er größer werdende Zahl von Einzelfällen bestim m te Schreibungen etablierten. Diese gewisserm aßen listenartige, sicher auch stark analogisch geprägte Entwicklung von Einzelfallschreibungen trug noch m ehr oder weniger experim entellen Charakter als ein Problem lösungsvorschlag „für das Erlesen von schriftlich fixierten Texten“ (Maas 1991, 22). Darüber hinaus waren solche Schreibungsvorschläge zunächst sehr stark regional unterschiedlich und spezifisch für die einzelnen Schriftzentren, Kanzleien, Schreibstuben usw. Da Schreibung aber norm alerweise der graphischen Fixierung und Überm ittlung von Inhalten für andere dient, ergab sich im Zuge der Entwicklung der schriftlichen Kom m unikation sehr bald die Notwendigkeit einer gewissen Angleichung der graphischen Form en sprachlicher Einheiten und der Entwicklung von Schreibungskonventionen zwischen den Partnern des Schriftverkehrs. Diese Entwicklung erfuhr einen sehr

726

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

starken Schub m it der Erfindung und Verbreitung des Buchdruckes, durch den Schrifterzeugnisse in beliebig großer Zahl vielen Lesern zunächst in der engeren Region, aber bald auch darüber hinaus zugänglich gem acht werden konnten und sollten. Dafür genügte dann bald die gleichsam experim entelle Fortsetzung der bisherigen Schreibüberlieferung in m ehrfacher Hinsicht nicht m ehr. Um die allm ählich im m er größere Räum e und breitere Kreise erfassende schriftliche Kom m unikation zu sichern und zu erleichtern, wurde es notwendig, die Schreibungskonventionen aufzuzeichnen und dam it den Druckern Vorlagen zu liefern, wie sie denn die Schreibung in ihren Druckerzeugnissen gestalten sollten. Diese erste orthographische Kodifikation bestand zunächst vor allem in Wortlisten und kleineren Schreibanweisungen, an deren Herstellung die Drucker selbst m aßgeblich beteiligt waren und die anfänglich sehr stark regional, örtlich oder sogar durch die jeweilige einzelne Druckerei geprägt waren. Der so eingeleitete Prozeß der orthographischen Kodifikation und Etablierung externer Schreibungsnorm en griff rasch weiter um sich und wurde bald nicht m ehr nur und nicht m ehr in erster Linie von den Druckern getragen, sondern ging in die Hände der sich im Zuge dieser Entwicklung der Schriftlichkeit herausbildenden Zunft der Sprachgelehrten und Sprachlehrer über. Sie übernahm en es, in ihren Sprachlehren und Schreibanweisungen die jeweiligen Schreibgewohnheiten zu kodifizieren und gegebenenfalls auch an dieser oder jener Stelle zu vereinfachen, zu system atisieren und zu präzisieren. Die Ausarbeitung solcher kodifizierten Orthographien, die z. B. im Rahm en der Sprachdarstellungen des 16. und des beginnenden 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet vorgelegt wurden und nicht selten deren wichtigster Bestandteil waren, geschah in der Regel nicht im Interesse oder im Auftrag der Druckereien, sondern war vor allem für den Unterricht im Lesen und Schreiben gedacht. Denn m it der Entwicklung und Verbreitung des Buchdrucks und dam it des Schriftverkehrs ging natürlich die Notwendigkeit der Ausbildung der Leseund Schreibfähigkeit größerer Teile der Bevölkerung einher, und dafür brauchte m an Unterrichts m aterialien, Sprachdarstellungen, Schreib- und Leselehranweisungen und also auch und vor allem eine kodifizierte Schreibungsnorm oder Orthographie. Es versteht sich, daß die über Lehre und Unterricht verbreitete Schreibungsnorm , die ja, wie an-

gedeutet, weitgehend aus dem jeweiligen Schreibgebrauch verallgem einert worden war, nun ihrerseits wieder bestim m end auf diesen und dam it auch auf die Praxis der Druckereien zurückwirkte. Dieser hier in sehr allgem einer Form angedeutete Entwicklungsprozeß der Orthographie in seiner Wechselwirkung zwischen Schreibgebrauch und Norm kodifizierung vollzog sich in seiner frühen Phase auf dem deutschen Sprachgebiet stark regional gebunden. Es gab unterschiedliche Zentren des Schriftverkehrs und des Druckereigewerbes m it m ehr oder weniger großen, u. a. auch durch den regionalen Sprachgebrauch beeinflußten Unterschieden in den graphischen Norm en. Die im Abschnitt 1. für die m oderne Orthographie entwickelten typischen Merkm ale dieser Norm waren noch relativ schwach ausgeprägt. Die Kodifizierungen der Orthographie wiesen inhaltlich und strukturell erhebliche Differenzierungen auf, die Variabilität der Schreibungsnorm en im deutschen Sprachgebiet war noch bis weit ins 17. Jahrhundert hinein sehr beträchtlich, und der Verbindlichkeitsgrad war noch relativ gering und weitgehend konventionell gestützt, d. h. nicht durch behördliche Verordnungen gesichert. Der weitere Entwicklungsprozeß der deutschen Orthographie wird dann stark beeinflußt durch die sich im 18. und 19. Jahrhundert vollziehenden Entwicklungen auf kulturellem , ökonom ischem und schließlich auch politischem Gebiet, die in die Schaffung eines einheitlichen deutschen Nationalstaates m ündeten. Die Orthographie folgte dieser Orientierung auf den nationalen Raum durch eine zunehm ende Überwindung ihrer regionalen Unterschiede und eine im m er stärkere Vereinheitlichung. Hand in Hand m it dieser Vereinheitlichung ging auch die im m er deutlichere Ausprägung der im Abschnitt 1. herausgearbeiteten typischen Merkm ale der Orthographie. Das bedeutet eine zunehm end genauere und detailliertere Kodifizierung dieser Norm , das Bem ühen um die Beseitigung nicht nur der regionalen Unterschiede in der Orthographie, sondern um die entschiedene Minim ierung orthographischer Varianten überhaupt sowie die allgem eine Durchsetzung und schließlich für große Teile der öffentlichen schriftlichen Kom m unikation auch am tlich festgelegte Verbindlichkeit der so fixierten Orthographie. Das vorläufige Ende dieses Prozesses bildeten in Deutschland, wie schon erwähnt, die Ergebnisse der sogenannten II.

59.  Orthographieentwicklung und Orthographiereform

Orthographischen Konferenz im Jahre 1901 und ihre Nachfolgeentscheidungen. In der zunächst durch eine relativ freie Wechselwirkung von Schreibgebrauch und Norm kodifikation bestim m ten Entwicklung der Orthographie wird im Prozeß der Herausbildung einer einheitlichen, nationalen Orthographie und erst recht nach ihrer Verwirklichung die Norm kodifikation im m er m ehr dom inierend. Die kodifizierte Norm bestim m t vor allem über die Schule und den öffentlichen Schriftverkehr den allgem einen Usus, an ihr orientiert m an sich, und sie befolgt m an, um sich nicht in der Öffentlichkeit zu blam ieren oder andere Nachteile in Kauf nehm en zu m üssen. Mit dieser Dom inanz der Norm kodifikation nim m t natürlich auch der Spielraum der freien Veränderlichkeit der Orthographie im Schreibgebrauch im m er m ehr ab, und die Dynam ik einer unm erklichen Veränderung dieser Norm geht weitgehend verloren. Vollständig verschwindet sie allerdings nicht, und ein gewisser Spielraum der Veränderung im Usus bleibt auch nach der Kodifizierung und Durchsetzung einer nationalen Orthographie erhalten. Solche im m anenten Veränderungstendenzen treten zunächst als Varianten von Einzelfallschreibungen ins Leben, und ihr Auftreten kann, wie schon im Abschnitt 1.2.3. angedeutet, unterschiedliche Ursachen haben. Ihre Möglichkeiten und Grenzen hängen u. a. auch m it dem Grad der Genauigkeit und Striktheit der Kodifizierung der jeweiligen Orthographie zusam m en, dam it, ob sie alle orthographischen Teilgebiete gleicherm aßen präzise regelt oder ein gewisses Maß an Variabilität und Flexibilität zuläßt. Grundsätzlich aber ist der Spielraum für Veränderungstendenzen aus dem Schreibgebrauch im Zeitalter der nationalen Orthographie sehr klein, weil die im m er wieder reproduzierte, durch Sanktionen gestützte, m it offizieller Verbindlichkeit ausgestattete kodifizierte Norm solche Veränderungen nicht zuläßt. Entsprechend den im Abschnitt 1. herausgearbeiteten typischen Merkm alen dieser Norm sind Veränderungen der Orthographie jetzt weitgehend nur noch durch eine Um kodifizierung der Regelung im orthographischen Regelwerk oder im Wörterverzeichnis des orthographischen Wörterbuchs m öglich bzw. werden durch diese legitim iert. Dabei können und sollten natürlich auch m ögliche Tendenzen im Schreibgebrauch aufgegriffen, einbezogen und gegebenenfalls verallgem einert werden. Ebenso sollten Entwicklungen auf anderen Ebenen des Sprachsystem s be-

727

rücksichtigt werden, die Auswirkungen auf die Schreibung haben, wie etwa der Übergang von einer Wortgruppe zu einem einfachen Wort (auf Grund — aufgrund usw.), um eine Abkopplung der Orthographie von der lebendigen Sprachentwicklung zu verhindern. Schließlich können durch eine solche Um kodifizierung aber auch m ögliche, durch frühere Kodifizierungen verursachte, funktional und strukturell inadäquate Fehlentwicklungen der Orthographie korrigiert werden. Eine solche Änderung einer relativ genau kodifizierten, durch ein hohes Maß an Invarianz gekennzeichneten, in einer Gem einschaft allgem ein befolgten und gegebenenfalls sogar staatlich verbindlichen Orthographie nennen wir eine Orthographiereform . Dabei ist der Begriff Orthographiereform zunächst unabhängig von dem Grad und dem Um fang der Um kodifizierung, davon, auf welcher Stufe der Regelhierarchie die Änderung erfolgt, ob es sich um eine Um kodifizierung m ehr oder weniger genereller oder nur singulärer Regeln handelt. Es ist jedoch weitgehend üblich, den Begriff Orthographiereform erst zu verwenden, wenn auch einzelfallübergreifende Regelungen in die Änderung einbezogen sind. In diesem Zusam m enhang ist es notwendig, zwischen einer Um kodifizierung der Norm und einer bloßen Neuform ulierung der Regelung zu unterscheiden, auch wenn natürlich eine Um kodifizierung im m er gleichzeitig auch eine Neuform ulierung des entsprechenden Regelbereiches bedeutet, während um gekehrt eine Neuform ulierung keine Änderung der Regelung darstellt. Tatsächlich gibt es aber auch hier fließende Übergänge. So hat z. B. der Rechtschreibduden in seinen verschiedenen Auflagen im Prinzip im m er nur die offiziellen Regeln von 1901 neu form uliert, er hat sie dabei aber gleichzeitig ausgeweitet, differenziert und präzisiert und dam it in einzelnen Punkten doch verändert. Die Dim ensionen waren aber in der zeitlichen Streckung nicht so groß, daß m an hier von Orthographiereform en zu sprechen pflegt, zum al der Duden natürlich auch eine offizielle Legitim ation für solche Reformen gar nicht besitzt. Die sich im historischen Prozeß m erklich verändernden Entwicklungsm öglichkeiten der Orthographie sind in diesem Abschnitt vornehm lich am Beispiel des Deutschen dargestellt worden. Andere altverschriftete Sprachen weisen darin grundsätzliche Gem einsam keiten m it dem Deutschen, aber natürlich auch viele spezifische Besonderheiten auf.

728

3.

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Grundsätze, Ziele und Bestimmungsfaktoren von Orthographiereformen

Im voraufgehenden Abschnitt wurde dargelegt, daß die m ehr oder weniger strikt kodifizierten und m it offizieller Verbindlichkeit ausgestatteten Orthographien entwickelter Kultursprachen sich im wesentlichen nur über Um kodifizierungen der Regelungen oder Orthographierefor m en weiterentwickeln können. Bei den Begründungen und Zielen für solche Reform en m uß zwischen linguistischen oder sprachbezogenen und außerlinguistischen, nicht unm ittelbar sprachbezogenen Gesichtspunkten unterschieden werden. Beide Argum entationsstränge wirken m eistens zusam m en und bestim m en in ihrer Kom plexität die Möglichkeiten und Grenzen von Orthographiereformen. In der linguistisch m otivierten Argum entation für oder gegen eine Orthographiereform spielen natürlich die Auffassungen der jeweiligen Vertreter zum Wesen, zur Struktur und den Funktionen der Orthographie, aber auch zum Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache generell eine wesentliche Rolle. Für diejenigen Sprachwissenschaftler, die davon ausgehen, daß die Orthographieentwicklung sich auch heute noch im wesentlichen eigendynam isch vollzieht (vgl. Stetter 1991, 40 ff; → Art. 56), ist eine Orthographiereform überhaupt unnötig. Andere vertreten vielleicht im m er noch eine stark phonographisch orientierte Orthographieauffassung, wie sie z. B. fast allen deutschen Orthographiereform bem ühungen des 20. Jahrhunderts bis in die 50er Jahre zugrundelag, und m öchten die Orthographie in Richtung auf eine eindeutigere Entsprechung von Schreibung und Lautung verändern. „Historische Sprachforscher des 19. Jahrhunderts wollten die dam alige deutsche Orthographie zu dem Stand des Mittelhochdeutschen zurückentwickeln, da sie diesen Schriftstand für ursprünglicher und weniger verderbt hielten. In um gekehrter Richtung zielen Alsleben et al. (1963) auf eine Reform ab, die zu einer ‘technischen Lautschrift’ führt“ (Augst 1988, 1140). Der Autor selbst vertritt wie auch andere Verfasser des jüngsten deutsch-österreichisch-schweizerischen Refor m vorschlages zur deutschen Orthographie (vgl. Blüm l, Glinz, Mentrup, Nerius & Sitta 1991; Internationaler Arbeitskreis für Orthographie 1992) eine funktional determ inierte Auffassung zu den Grundsätzen und Zielen einer

Orthographiereform . Danach sollte eine Orthographiereform in früheren Kodifizierungen fixierte, funktional und strukturell inadäquate Schreibungen behutsam korrigieren und die Orthographie in Übereinstim m ung m it der Entwicklung auf anderen Ebenen des System s der Standardsprache in Richtung auf eine optim ale Funktionserfüllung weiterentwickeln. Das bedeutet eine ausgewogene Berücksichtigung der Interessen des Schreibenden im Rahm en der Aufzeichnungsfunktion und der Interessen des Lesenden im Rahm en der Erfassungsfunktion der Schreibung. Bei der Aufzeichnungsfunktion geht es um die Überführung gedanklicher Inhalte oder lautlicher Form en in schriftliche Form en, während es bei der Erfassungsfunktion um den gegenläufigen Prozeß geht, näm lich die Überführung schriftlicher Form en in gedankliche Inhalte und/oder lautliche Form en (vgl. dazu im einzelnen Nerius et al. 1989, 23). Beide Funktionen sind gleicherm aßen wichtig, und nur ihre ausgewogene Berücksichtigung sichert ein optim ales Funktionieren der geschriebenen Sprache. Es darf nicht einer der beiden Partner der schriftlichen Kom m unikation, der Schreibende oder der Lesende, durch eine Orthographiereform bevorzugt oder benachteiligt werden. Eine solche Position zielt darauf ab, eine größere Einfachheit und dam it leichtere Erlernbarkeit und Handhabbarkeit der Orthographie zu erreichen, ohne die Aufgaben der Rechtschreibung in Hinsicht auf die Überschaubarkeit des Geschriebenen und die rasche Bedeutungserfassung zu gefährden. Eine von diesem Grundsatz ausgehende genaue Prüfung der verschiedenen Teilgebiete der Orthographie m uß dann im einzelnen zeigen, welche Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen für Änderungen der Orthographie hier jeweils bestehen und welche konkreten Änderungsvorschläge danach unterbreitet werden können. Die auf diese Weise angezielte Verbesserung der Orthographie für die Sprachteilnehm er wird auch sichtbar in einer Erhöhung der System atik und einer stärkeren Generalisierung orthographischer Regeln, in einer Beseitigung von Ausnahm en und Sonderregeln sowie von Widersprüchen zwischen generellen und singulären Regeln, allgem ein som it in einer größeren Eindeutigkeit und Übersichtlichkeit der Beziehungen der graphischen Ebene zu den anderen Ebenen des System s der Standardsprache (genauer dazu Nerius & Scharnhorst 1981, 25 ff).

59.  Orthographieentwicklung und Orthographiereform

Solche oder andere prim är linguistisch m otivierte Überlegungen zu den Grundsätzen und Zielen einer Orthographiereform m üssen nun im Zusam m enhang m it außerlinguistischen Argum enten für oder gegen eine Orthographiereform gesehen werden, die nicht selten die Möglichkeiten und Grenzen der Änderungen von Schreibungsnorm en weit stärker prägen als die linguistischen Gesichtspunkte. Auch die linguistisch beste Orthographieänderung ist nicht durchsetzbar, wenn nicht das Um feld der außerlinguistischen Faktoren das erm öglicht oder begünstigt. Zu solchen Faktoren, die die Möglichkeit, die Art und den Um fang von Orthographiereform en maßgeblich beeinflussen, gehören vor allem: (a) Pädagogisch-didaktische Gesichtspunkte der Lehr- und Lernbarkeit der Orthographie Solche Gesichtspunkte sind von jeher und in vielen Sprachen als Argum ente für eine Orthographiereform ins Feld geführt worden, und zwar in der Regel m it dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer Erleichterung der Erlernung, Verm ittlung und Handhabung der Orthographie, die m an als zu kom pliziert und schwierig ansieht. Fast im m er gehören die Lehrer in starkem Maße zu den Befürwortern einer Orthographiereform , und besonders von ihnen wird gefordert, die Orthographie zu vereinfachen, dam it der zu ihrer Verm ittlung erforderliche Lehraufwand gesenkt und für andere Zwecke des Unterrichts eingesetzt werden kann. (b) Soziale Gesichtspunkte bzw. die Interessen bestimmter sozialer Gruppen Diese Gesichtspunkte spielen sowohl bei der Reform befürwortung als auch bei der Reform ablehnung eine Rolle. Auf der einen Seite steht hier die Unterstützung von Orthographiereform bem ühungen durch solche Gruppen, die von einer dam it verbundenen Vereinfachung der Schreibungsnorm en eine größere Chancengleichheit für alle Teile der Bevölkerung und den Abbau sprachlicher Barrieren innerhalb der Sprachgem einschaft sowie generell einen breiteren Zugang zur Schriftlichkeit und dam it eine Erhöhung der Sprachkultur erwarten. Auf der anderen Seite steht hier die Ablehnung einer Orthographiereform durch solche Gruppen, die die geltende Orthographie in einem hohen Grad zu beherrschen glauben und die durch eine Änderung der Schreibungsnorm en bestim m te Privilegien

729

oder auch gewisse soziale Vorteile gefährdet sehen, wobei diese Position expressis verbis allerdings nur selten angeführt wird. (c) Das Verhältnis zur Schrifttradition Dies ist ein sehr wichtiger Gesichtspunkt, der auch in den Auseinandersetzungen um Orthographiereform en (vgl. Abschnitt 5) eine große Rolle spielt. In der Tat ist natürlich die Kontinuität der Schrifttradition und die Erhaltung der Zugänglichkeit zu früheren Schrifterzeugnissen ein wichtiges Gut, das nicht leichtfertig aufgegeben werden darf. Allerdings ist dieser Gesichtspunkt konkret und em pirisch nur schwer verifizierbar, auf jeden Fall kann er aber nicht Unveränderlichkeit der Schreibungsnorm en bedeuten, denn das würde ja eine Entwicklung der Sprache auf diesem Gebiet ausschließen und dam it einen Bruch der Kontinuität darstellen. Vorwürfe wie Kulturbruch oder die Verm utung der Unzugänglichkeit früherer Schrifterzeugnisse sind nicht selten öffentlichkeitswirksam e Argum ente gegen Orthographiereform en, auch wenn es zum eist bloße Behauptungen sind. Die an sich norm alerweise für Orthographiereform en bedeutende Rolle des Verhältnisses zur Schrifttradition ist aber kein grundsätzlicher oder genereller Hinderungsgrund für eine Orthographiereform . Wenn die Reform absichten bzw. der dahinter stehende politische Wille stark genug sind, kann dieser Faktor auch durchaus außer Kraft gesetzt werden. So bedeutete z. B. die Um stellung des Türkischen auf die Lateinschrift 1928 eine von der politischen Führung bewußt gewollte Abkehr von der bisherigen arabischen Schrifttradition und eine Hinwendung der Türkei zu den europäischen Kulturnationen. Auch die Abschaffung der Substantivgroßschreibung des Dänischen 1948 war nicht prim är linguistisch oder pädagogisch-didaktisch m otiviert, sondern stellte vor allem eine Anpassung an die Schreibungsnorm en der anderen nordischen Sprachen und eine Abkehr von der bisherigen Gem einsam keit m it dem Deutschen dar. (d) Ökonomisch-technische Gesichtspunkte Auch durch diesen Faktor werden der Um fang und die Grenzen von Orthographiereform en m itbestim m t. Aufwand und Nutzen m üssen auf diesem Gebiet in einem für die Gem einschaft vertretbaren und verkraftbaren Verhältnis stehen, was im allgem einen zur Verhinderung radikaler Schreibungsänderungen beiträgt.

730

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

(e) Umstellungsschwierigkeiten und Umstellungsaufwand

Dazu gehören z. B. die Reform en der norwegischen (1907), der russischen (1918), der niederländischen (1947 und 1954) und der dänischen Orthographie (1948). Mit der norwegischen und ebenso m it der dänischen Orthographiereform wurde u. a. die Substantivgroßschreibung in diesen Sprachen abgeschafft und durch eine den m eisten anderen europäischen Sprachen vergleichbare Regelung ersetzt. In den Orthographieänderungen des Niederländischen handelt es sich um eine partielle Neugestaltung der Phonem -Graphem -Beziehungen für heim ische Wörter und für Frem dwörter, darunter z. B. die Ersetzung von ph durch f in Frem dwörtern (vgl. Pée 1977; Hipp 1977). Durch die Reform der russischen Orthographie wurden drei Buchstaben getilgt und ein weiterer bis dahin relativ häufig vorkom m ender Buchstabe, das sogenannte Härtezeichen, in seiner Anwendung sehr stark eingeschränkt (vgl. Zigm und 1967). Alle diese Änderungen waren keine Kleinigkeiten; die entsprechenden Vorschläge haben in den einzelnen Sprachgem einschaften z. T. eine lange Geschichte und sind in heftigen Auseinandersetzungen geprüft und schließlich durchgesetzt worden, was hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden kann. Sie belegen jedoch, daß bei entsprechender Konstellation der Rahm enbedingungen auch solche Änderungen in den europäischen Kultursprachen möglich sind. Neben den tatsächlich vollzogenen Orthographiereform en in den angeführten Sprachen gab und gibt es in vielen europäischen Sprachen auch weitere Bem ühungen um die Planung, Vorbereitung und Durchführung von Orthographiereform en, die unterschiedlich weit gediehen und unterschiedlich erfolgversprechend sind. Von besonderem Interesse ist hier natürlich die Situation in den großen, jeweils in m ehreren Staaten gebräuchlichen Sprachen Englisch, Französisch und Deutsch. Im Englischen hat es seit der Durchsetzung einer relativ verbindlichen, einheitlichen Orthographie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine tatsächliche Orthographiereform nicht gegeben. Durch die Wörterbücher, m aßgeblich zunächst z. B. durch das Dictionary of the English Language (1755) von Sam uel Johnson, wurde lediglich eine allm ähliche Reduzierung der orthographischen Variabilität vorgenom m en, d. h., es wurde das Nebeneinander verschiedener Schreibungen eines Wortes beseitigt, ohne daß jedoch ein Eingriff in die orthographische Regelung erfolgte. Gewisse, allerdings auch auf Einzelwortschreibungen beschränkte Änderungen

Dieser Gesichtspunkt ist vor allem psychologischer Natur und ebenfalls schwer m eßbar. Auch er spricht eher für behutsam e und partielle Orthographieänderungen in einem relativ bescheidenen Um fang, der die Sprachteilnehm er nicht von vornherein abschreckt. Der zu erwartende Vorteil der Neuregelung gegenüber dem bestehenden Zustand m üßte für die Mehrzahl der Sprachteilnehm er so offensichtlich sein, daß das natürliche Beharrungsverm ögen überwunden und die Mühe des Umlernens in Kauf genommen wird. Diese und gegebenenfalls noch weitere Faktoren m achen in ihrem Zusam m en- und Gegeneinanderwirken im Verein m it den notwendigen sprachwissenschaftlichen Überlegungen eine Orthographiereform zu einer kom plexen und kom plizierten Aufgabe, die um so schwieriger wird, je tiefgreifender die Differenzen sind, die sich aus der proportionalen Berücksichtigung aller ihrer Bestim m ungsfaktoren ergeben können. Nicht selten hat deshalb das Gegeneinanderwirken dieser und anderer Faktoren linguistisch an sich wünschenswerte Orthographierefor m en in einzelnen Sprachen bisher verhindert.

4.

Durchgeführte und geplante Orthographiereformen

Ungeachtet der angeführten Kom plexität und Kom pliziertheit der Bedingungen sind doch im 20. Jahrhundert in einer ganzen Reihe von europäischen Sprachen Orthographiereform en durchgeführt worden (vgl. die Übersicht von Schmitt 1955, 61 auf Tab. 59.1). Diese Übersicht, die m it dem Indonesischen sogar über die europäischen Sprachen hinausgeht, ist jedoch auch in bezug auf die Sprachen Europas noch keineswegs vollständig. Darüber hinaus hat es auch für das Rum änische 1904, das Russische 1918, das Slowakische 1922 und das Bulgarische 1946 m ehr oder weniger tiefgreifende Orthographiereform en gegeben. Oftm als handelt es sich bei diesen Änderungen um verhältnism äßig geringfügige Eingriffe in die Schreibungsnorm en und keineswegs um größere Um kodifizierungen der orthographischen Regelung. Aber einige durchaus nicht ganz unbeträchtliche Orthographiereform en m it z. T. erheblichen Auswirkungen auf den Schreibgebrauch in den jeweiligen Sprachen waren doch darunter.

59.  Orthographieentwicklung und Orthographiereform

Jahr TagMonat Sprache 1901

deutsch

1906 7.April schwedisch 1907 19.Febr.

norwegisch

1910

spanisch

1911 1.Sept. portugiesisch

Beispiele der vorgenommenen Änderungen Deutschland, Öster- Abschaffung th in deutschen Wörtern; Brot statt reich, Schweiz Brod, gib statt gieb gott, blint, kastat, vit, hav, Schweden giva statt godt, blindt, kastadt, hvit, haf, gifva Norwegen offizielle Abschaffung der Großschreibung, auch aus der Presse (auf den Schulen bereits 1877 abgeschafft) endgültige Trennung von der dänischen Rechtschreibung å statt aa auf den Schulen eingeführt, løpe statt løbe, slite statt slide, leke statt lege Abschaffung des Akuts auf Spanien und hispano-amerikanische der Präp. a und auf den Konjunktionen e, o und u Republiken Portugal (nicht commércio, português, Brasilien) comprender, assunto, ortografia; statt: commercio portuguez, comprehender, assumpto, orthographia Länder

1917 21.Dez.

norwegisch

Norwegen

1920 29.Nov.

portugiesisch

1921 1.Juli

lettisch

Portugal (nicht Brasilien) Lettland

1931 30.April portugiesisch

1934

Sept. niederländisch

1936 24.Juni

polnisch

731

Portugal und Brasilien

Niederlande (nur auf den Schulen) Polen

å statt aa (auf den Schulen schon seit 19. 2. 1907), takk statt tak, vann statt vand, fjell statt fjeld und wahlfreie Formen: stein statt sten, hauk statt høk (kleine Änderungen) Übergang zur Lateinschrift č, š, ž, v statt tsch, sch, w Brasilien nimmt die 1911 (u. 1920) in Portugal eingeführten Änderungen an. Außerdem in beiden Ländern neu eingeführt: c statt sc, z. B. ciência statt sciência, mãi statt mãe, azues statt azuis, dever-se-á statt dever-se-há leren statt leeren; geloven statt gelooven; bos statt bosch j zwischen Mit- und Selbstlaut durch i ersetzt, außer nach e, s, z. z. B. linia statt linja

Tab. 59.1: Orthographiereformen im 20. Jahrhundert (Schmitt 1955, 61)

Bemerkungen

kgl. cirkulär (rättskrifningsreformen 1906) kgl. resolusjon

resolução da Comissão da reforma ortografica nomeada pelas portarias de 15 de fevereiro e 16 de março de 1911 kgl. resolusjon

Dr. Julio Dantas (Kultusminister) Acôrdo ortográfico entre a Academia das Ciências de Lisboa e a Academia Brasileira de Letras

spelling Marchant am 21. 4. 36 vom Rechtschreibausschuß der Poln. Akademie d. Wissenschaften beschlossen und am 24. 6. 36 vom Poln. Unterr. Minist. bestätigt

732

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

JahrTagMonat

Sprache

Länder

1938 7. Jan.

norwegisch

Norwegen

1947 1. Mai

niederländisch

Niederlande und Belgien

1949 1. Jan.

indonesisch [malaiisch] (bahasa Indonésia) dänisch

Indonesien

1949 1. April

1955

Sept.?

niederländisch

1955?

?

spanisch

Bemerkungen Beispiele der vorgenommenen Änderungen z. B. språk statt sprog, bein kgl. resolusjon statt ben, lauv statt løv, røyk statt røk offizielle Einführung der in Holland: Gesetz spelling Marchant, siehe vom 14. 2. 47 1934 u statt der holländischen Schreibweise oo

Abschaffung der (1780 ein- schon am 22. 3. 48 geführten) Großschreibung, bekanntgegeben (undervisningsministeriets beå statt aa, kunne, ville, kendtgørelse af skulle statt kunde, vilde, 22. 3. 48) skulde Niederlande und Vereinfachung der Schreib- schon am 25. 8. 54 von der spellingBelgien weise der Fremd- und commissie beschlosLehnwörter: f statt ph in sen griech. Wörtern, aber th nur teilweise durch t ersetzt Spanien und hi- z. B. fue, fui, dio, vio statt schon am 6. 6. 52 spano-amerikanische fué, fui, dió, vió; aún stets von der Real Acamit Akut in der Bedeutung demia Española be„noch“, auch vor dem Republiken schlossen. Wird in der diesjähr. AusZeitwort gabe des Wörterbuches d. Akad. berücksichtigt Dänemark

Tab. 59.1: Fortsetzung wurden im Laufe der Zeit im am erikanischen Englisch eingeführt, initiiert zunächst durch den Am erikaner Noah Webster in seinem Am erican Spelling Book (1783) sowie seinem Am erican Dictionary of the English Language (1828). Solche Schreibungsänderungen erfolgten auch später noch bei wenigen Einzelwörtern, woraus sich dann Unterschiede zwischen der britischen und am erikanischen Rechtschreibung einzelner Wörter ergeben, wie theatre (brit.) vs. theater (am erik.), colour (brit.) vs. color (am erik.), honour (brit.) vs. honor (am erik.), defence (brit.) vs. defense (am erik.) u. a. (vgl. Arnold & Hansen 1989, 58). Das heißt nicht, daß es für das Englische keine Bem ühungen um eine größere oder um fassende Orthographiereform gegeben hätte, doch war die Konstellation der im Abschnitt 3. angeführten Bestim m ungsfaktoren einer Reform offensichtlich bisher im m er so konträr, daß diese Bem ühungen ohne spürbaren Erfolg blieben. Forderungen nach einer

Rechtschreibreform des Englischen sind allerdings sehr häufig erhoben worden (vgl. Zachrisson 1931/32); 1949 und 1953 stand sogar die Bildung einer entsprechenden Untersuchungskom m ission auf der Tagesordnung des Unterhauses, doch konkrete Maßnahm en erfolgten nicht. G. B. Shaw, im Gegensatz zu vielen anderen Schriftstellern ein entschiedener Befürworter einer Orthographiereform , stiftete einen Teil seines Verm ögens für die Schaffung einer neuen englischen Rechtschreibung; es wurde daraufhin auch ein Proposed British Alphabet geschaffen, das jedoch nie ein größeres Echo fand, sicher auch, weil es sehr stark von der traditionellen Schreibung abweicht. Um fangreiche Aktivitäten für eine Reform der englischen Orthographie entwickelte auch die 1908 gegründete Sim plified Spelling Society, die ein „Nue Speling“-System ausarbeitete und in Schulversuchen erprobte. Eine tatsächliche Änderung der englischen Orthographie erreichte sie jedoch

59.  Orthographieentwicklung und Orthographiereform

ebenfalls nicht. Nahezu alle Reform versuche der englischen Orthographie zeigen ähnlich wie die älteren Reform vorschläge zur deutschen Orthographie eine sehr stark phonographische Orientierung und verfolgen das Ziel, die beträchtlichen Differenzen von Schreibung und Lautung im Englischen zu verringern, was zwangsläufig zu erheblichen Eingriffen in die traditionelle Schreibung geführt hätte. Auch dieser Aspekt hat neben den schon erwähnten anderen Faktoren sicher zur Erfolgslosigkeit der bisherigen Bem ühungen um eine Reform der englischen Orthographie beigetragen. Im Französischen erfolgte die Entwicklung der Orthographie vor allem über die Fixierung der Schreibungsnorm en in den verschiedenen Auflagen des Wörterbuches der Académ ie Française, der in Frankreich die entscheidende Kom petenz in sprachlichen Fragen und so auch für die Kodifizierung der Orthographie zukom m t. Die Zahl der hier, vor allem in früheren Auflagen dieses Wörterbuches, vorgenom m enen Änderungen von Wortschreibungen ist nicht gering, so daß der Eindruck, die französische Orthographie habe sich überhaupt nicht verändert, durchaus unzutreffend ist. N. Catach (1978, 32— 46) stellt fest, daß von den in allen Auflagen des Akadem iewörterbuches von 1694 (1. Auflage) bis 1935 (8. Auflage) enthaltenen 17 532 Eintragungen 55,34% in ihrer Schreibung im Laufe der Zeit verändert wurden, während 44,66% orthographisch unverändert geblieben sind. Natürlich sind die Art und der Um fang der Änderungen im einzelnen sehr unterschiedlich, durchweg aber handelt es sich um Änderungen von Einzelfallschreibungen, nicht um allgem eine Reform en der Orthographie. Eine größere Orthographiereform im oben bestim m ten Sinn der Um kodifizierung genereller Regeln (vgl. Abschnitt 2.) hat es seit der Durchsetzung einer einheitlichen französischen Orthographie nicht gegeben, obwohl in der Vergangenheit und speziell auch im 20. Jahrhundert eine beträchtliche Zahl von Reform vorschlägen vorgelegt und in der Öffentlichkeit m it großem Engagem ent diskutiert worden ist (vgl. im einzelnen Keller 1991). Die Schwierigkeiten, die sich aus der Vielfalt und dem teilweisen Gegeneinanderwirken der verschiedenen Bestim m ungsfaktoren einer Orthographiereform (vgl. Abschnitt 3.) für die Durchführung einer solchen Reform ergeben, zeigen sich in Frankreich sehr deutlich am Schicksal des jüngsten Reform vorschlages aus dem Jahre 1990, der ei-

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gentlich die erste, wenn auch sehr bescheidene Orthographiereform ausm acht, die in Frankreich realisiert worden ist. Dieser Vorschlag stam m t vom „Conseil supérieur de la langue française“ und heißt offiziell „rectification„. Er enthält einige kleinere Veränderungen gram m atischer und orthographischer Regularitäten, darunter die Festlegungen, daß Kom posita ohne Bindestrich geschrieben werden (piquenique, vanupied), daß der Akzent Zirkum flex auf u und i entfällt (aout, voute) und daß einige Einzelfallschreibungen verändert werden sollen (z. B. oignon zu ognon). Der Vorschlag wurde von der Académ ie Française bestätigt und vom Prem ierm inister im Dez. 1990 im Gesetzblatt veröffentlicht und dam it in Kraft gesetzt. Danach erhob sich in der Öffentlichkeit und speziell in den konservativen Zeitungen ein erheblicher Widerstand gegen diese Orthographieänderung, der die Akadem ie und die Regierung zu einem Rückzug veranlaßte. Der Vorschlag wurde zwar nicht direkt außer Kraft gesetzt, aber die neuen Regelungen und Schreibweisen gelten vorerst als fakultativ. Auch für die deutsche Orthographie hat es nach der Reform von 1901 und der Kodifizierung der einheitlichen deutschen Orthographie eine Vielzahl von Reform vorschlägen gegeben (vgl. dazu im einzelnen Nerius 1975; Reichardt 1981; Jansen-Tang 1988). Verschiedene dieser Vorschläge schienen auch gute Realisierungschancen zu haben; eine offizielle Veränderung der deutschen Orthographie ist aber dann letztlich doch nicht vorgenom m en worden. Dafür kann ähnlich wie im Englischen und Französischen ein ganzer Kom plex von Ursachen angeführt werden, der im wesentlichen auf unterschiedliche Konstellationen und Gewichtungen der im Abschnitt 3. genannten Bestim m ungsfaktoren einer Reform in der öffentlichen Auseinandersetzung um dieses Problem zurückgeht, zu denen dann nach dem II. Weltkrieg noch das politische Problem der Spaltung Deutschlands als weiterer Hinderungsfaktor hinzutrat. In der Entwicklung der Reform vorschläge selbst, die im 20. Jahrhundert gewisserm aßen wellenartig, in bestim m ten zeitlichen Abständen hervortraten, widerspiegelt sich sowohl die Reaktion der Öffentlichkeit auf die Reform program m e als auch die Entwicklung der linguistischen Erkenntnisse über die Struktur und Funktion der Orthographie. Während in den älteren Vorschlägen bis in die fünfziger Jahre Änderungen der Phone m -Graphe m -Beziehungen, u. a. das Problem der graphischen

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Kennzeichnung der Vokallänge, im Vordergrund standen, traten in den jüngeren Refor m progra m m en andere orthographische Teilgebiete an die Spitze, so vor allem die sehr kontrovers diskutierten Fragen der Großund Kleinschreibung sowie Problem e der Interpunktion, der Getrennt- und Zusam m enschreibung und der Worttrennung am Zeilenende. Diese neue Etappe wird eingeleitet durch die sogenannten Stuttgarter Em pfehlungen aus dem Jahre 1954, einem seinerzeit in der Öffentlichkeit sehr heftig diskutierten Vorschlag einer „Arbeitsgem einschaft für Sprachpflege“, die aus Sprachwissenschaftlern und Vertretern des Schriftgewerbes bestand und Mitglieder aus verschiedenen deutschsprachigen Staaten um faßte. Wichtigster Punkt der Em pfehlungen war die Einführung der sogenannten gem äßigten Kleinschreibung, d. h. die Beschränkung der Großschreibung auf Satzanfänge, Eigennam en und Anredepronom en. Daneben standen Vorschläge zur Vereinfachung der Getrennt- und Zusam m enschreibung, der Worttrennung am Zeilenende und der Interpunktion, aber auch Vorschläge zur Anpassung von Phonem -Graphem -Beziehungen bei Frem dwörtern an die der heim ischen Wörter, z. B. die Ersetzung von ph durch f, th durch t und rh durch r, sowie als bedeutsam e Vorschläge im Bereich der Phonem -Graphem -Beziehungen heim ischer Wörter die Ersetzung von ß durch ss und von tz durch z. Nur im Anhang und als zusätzliche Überlegung wurde auch eine Regeländerung der graphischen Kennzeichnung der Vokallänge erwogen. Die durch die Stuttgarter Em pfehlungen eingeleitete Neuorientierung der Reform bem ühungen im Deutschen wurde fortgesetzt und verstärkt durch die sogenannten Wiesbadener Em pfehlungen aus dem Jahre 1958. Dieser im staatlichen Auftrag von einem durch die Regierung der Bundesrepublik Deutschland berufenen „Arbeitskreis für Rechtschreibregelung“ erarbeiteten Vorschlag verzichtet völlig auf Reform wünsche aus dem Bereich der Phonem -Graphem -Beziehungen bei heim ischen Wörtern und konzentriert sich ganz auf andere Gebiete der Orthographie. Genannt werden hier ebenfalls an der Spitze die Einführung der Kleinschreibung außer am Satzanfang, bei Eigennam en und Anredepronom en sowie eine Vereinfachung der Kom m asetzung, der Getrennt- und Zusam m enschreibung und der Worttrennung am Zeilenende. Hinzu kom m en die Forderung nach Beseitigung orthographischer Varianten

(rechtschreiblicher Doppelform en) und die Möglichkeit, in allgem ein gebräuchlichen Frem dwörtern griechischen Ursprungs ph, th, rh durch f, t, r zu ersetzen. Die Wiesbadener Em pfehlungen haben die weitere Diskussion um eine Reform der deutschen Orthographie nachhaltig beeinflußt und standen bis Ende der sechziger Jahre im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. In der langen Reihe der Reform vorschläge zur deutschen Orthographie nim m t der jüngste deutsch-österreichisch-schweizerische Vorschlag von 1991 (vgl. Blüm l et al. 1991; Internationaler Arbeitskreis für Orthographie 1992) eine Sonderstellung ein. Hier wird eine kom plette Neufassung der gesam ten orthographischen Regelung des Deutschen vorgelegt, in der an den entsprechenden Stellen die Um kodifizierungen, d. h. die Reform vorschläge enthalten sind. Während bisherige Reform vorschläge sich fast im m er auf die Anführung der Änderungen der geltenden Regelung beschränkt haben, ist hier ein neues Gesam tregelwerk der deutschen Orthographie erarbeitet worden, so daß sich Neuform ulierung und Um kodifizierung der Regelung m iteinander verbinden. Die Änderungsvorschläge zielen auf eine stärkere System atisierung und Generalisierung der Regeln, eine Beseitigung oder Reduzierung von Sonderfällen und Ausnahm en und dam it eine leichtere Erlernbarkeit und Handhabbarkeit der Orthographie. Im einzelnen werden u. a. folgende Änderungen der geltenden Regelung der deutschen Orthographie vorgeschlagen: In der Worttrennung am Zeilenende soll das heute schon dom inierende syllabische Prinzip so weitgehend generalisiert werden, daß es auch in den Fällen angewendet werden kann, die heute noch nach dem m orphem atischen Prinzip getrennt werden m üssen, näm lich bei einigen zusam m engesetzten Frem dwörtern griechischer oder lateinischer Herkunft sowie bei einzelnen verdunkelten Zusam m ensetzungen heim ischer Wörter (Pädago-gik oder Pä-da-go-gik, Chir-urg oder Chirurg, In-ter-es-se oder In-te-res-se, He-li-kopter oder He-li-kop-ter, Ma-gnet oder Magnet; Klein-od oder Klei-nod, war-um oder warum usw.). In der Interpunktion wird vorgeschlagen, das Kom m a zwischen Hauptsätzen, die durch eine koordinierende Konjunktion verbunden sind, wegfallen zu lassen und so den einzigen hier bestehenden Sonderfall bzw. die einzige Ausnahm e von der Regel zu beseitigen, daß zwischen Satzbestandteilen oder Sätzen, die

59.  Orthographieentwicklung und Orthographiereform

durch koordinierende Konjunktionen verbunden sind, kein Kom m a steht. Ebenso wird vorgeschlagen, daß die notorischen Kom plikationen und Spitzfindigkeiten der Kom m asetzung bei Infinitiv- und Partizipialkonstruktionen dadurch beseitigt werden, daß hier grundsätzlich kein Kom m a m ehr gesetzt wird bzw. in bestim m ten Fällen eine Freigabe der Kommasetzung erfolgt. Auch in der Getrennt- und Zusam m enschreibung wird eine stärkere System atisierung und Generalisierung der Regelung und die Befreiung dieses orthographischen Teilgebietes von sekundären und gleichzeitig sehr inkonsequent realisierten Aufgaben wie der graphischen Kennzeichnung von Bedeutungsunterschieden oder der unterschiedlichen Handhabung der Regelung bei attributiver oder prädikativer Stellung der entsprechenden sprachlichen Elem ente angestrebt. Im Kern läuft das auf eine gewisse Zunahm e der Getrenntschreibungen hinaus. Die Orientierung auf eine klarere System atisierung wird ebenso bei der Regelung der Phonem -Graphem -Beziehungen sichtbar, wo sich die Änderungsvorschläge vor allem auf eine Regularisierung der Schreibung von Varianten eines Stam m es im Sinne der Beseitigung von Sonderfällen und Abweichungen richten. Das betrifft Beispiele wie überschwänglich wegen Überschwang statt überschwenglich, nummerieren wegen Nummer statt numerieren, schnäuzen wegen Schnauze statt schneuzen, belämmert wegen Lamm statt belemmert usw. Lediglich bei der s-ss-ßSchreibung ist ein Eingriff in die Regelung vorgesehen, und zwar in dem Sinne, daß ß künftig nur noch nach langem Vokal steht, nach kurzem aber durch ss ersetzt wird, was in vielen Fällen eine Stärkung des m orphem atischen Prinzips durch Gleichschreibung innerhalb des Paradigm as bedeutet, wo heute eine differenzierte Schreibung erforderlich ist (neu: Fass — Fässer, Wasser — wässrig, müssen — musste statt Faß, wäßrig, mußte, dagegen unverändert Fuß — Füße). In den Phone m -Graphe m -Beziehungen von Frem dwörtern zielt der Vorschlag auf eine behutsam e Förderung und Weiterführung der graphischen Integration, d. h. der Anpassung der Frem dwortschreibung an die Phone m -Graphe m -Beziehungen m hei ischer Wörter. Diese Förderung soll im Sinne einer gezielten Variantenführung erfolgen, durch die die schon vorhandenen, in die heim ischen Regularitäten integrierten Varianten favorisiert und neue Varianten allm ählich und be-

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hutsam eingeführt werden, ohne daß die bisher gebräuchlichen Form en plötzlich „falsch„ würden. Das betrifft Beispiele wie grafisch neben graphisch, Mikrofon neben Mikrophon, Biografie neben Biographie, Diskotek neben Diskothek, Rabarber neben Rhabarber, Kommunikee neben Kommunique usw. Zu dem in den Reform debatten besonders kontrovers diskutierten Gebiet der Groß- und Kleinschreibung legt der Vorschlag drei Regelungsvarianten vor, eine Neuform ulierung der Status-quo-Regelung, eine „m odifizierte Großschreibung“, die die Substantivgroßschreibung beibehält, sie aber im Vergleich zur heute geltenden Regelung stärker einzugrenzen versucht, und eine Kleinschreibungsvariante, die die Substantivgroßschreibung aufgibt und die Majuskeln auf Überschriften, Satzanfänge, Eigennam en und Anredepronomen beschränkt.

5.

Auseinandersetzungen um Orthographiereformen

Bem ühungen um die Veränderung einer geltenden Orthographie finden in aller Regel in der jeweiligen Öffentlichkeit große Aufm erksam keit, stoßen auf lebhaftes Interesse und lösen oftm als heftige Diskussionen aus. Nicht nur Linguisten, sondern viele Menschen aus unterschiedlichen Kreisen fühlen sich berufen, hier m itzureden und m elden sich in der Diskussion zu Wort. Verbände, Vereine, linke und rechte Parteien und Gruppierungen verschiedenster Art sowie Einzelpersonen dieser oder jener beruflichen und gesellschaftlichen Stellung beteiligen sich an solchen Auseinandersetzungen. Nicht zu unrecht fühlen sich sehr viele Menschen von Orthographiereform bem ühungen angesprochen, denn die geschriebene Sprache ist natürlich ein Besitz der ganzen Sprachgem einschaft, so daß auch ihre Sache hier verhandelt wird. Nicht ganz so selbstverständlich ist es, daß fast jeder, der sich die Orthographie m ehr oder weniger und m eist m it großer Mühe angeeignet hat, sich nun auch für einen Experten auf diesem Gebiet hält und seinem Urteil eine ausschlaggebende Bedeutung beim ißt. Nicht selten führen die oben genannten (vgl. Abschnitt 1.2.) besonderen Merkm ale dieser Norm im Verein m it den beträchtlichen Anstrengungen, die der einzelne unternehm en m ußte, um die Orthographie einigerm aßen zu beherrschen, dazu, in dieser Norm einen höheren Wert zu sehen, der Eingriffe oder Veränderungen von

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außen verbietet. Eine solche Auffassung verbindet sich zwar in der Regel m it einer weitgehenden Unkenntnis der Geschichte und bisherigen Entwicklung der Orthographie, tritt aber dennoch in den öffentlichen Auseinandersetzungen mu Orthographierefor m en ziem lich häufig auf. Dam it hängt auch zusam m en, daß dieser Norm vielfach die dynam ische Elastizität, die m an anderen sprachlichen Norm en selbstverständlich zuerkennt, nicht m ehr zugebilligt wird bis hin zu dem Widerspruch, daß m an zwar kleine, gewisserm aßen unm erkliche Änderungen der Orthographie im Einzelfall zu tolerieren bereit ist, gleichzeitig aber eine so präzise und verbindliche Regelung jedes Einzelfalles wünscht, daß für unm erkliche Änderungen gar kein Platz m ehr ist. In den Auseinandersetzungen um Orthographiereform en, und zwar sowohl um die, die in einzelnen Sprachen durchgeführt wurden, als auch um solche, die vorgeschlagen, der Öffentlichkeit unterbreitet oder zur Durchführung em pfohlen wurden (vgl. die im Abschnitt 4. angeführten Fälle), wird ein breites Spektrum von Argum enten und Standpunkten vertreten. Es reicht vom rationalen Diskurs bis zur em otionalen Bekundung, von der kenntnisreichen Beurteilung bis zur unqualifizierten, unsachlichen Meinungsäußerung, Unterstellung oder sogar Verunglim pfung. Natürlich ist auch hier wie bei der Erörterung der Bestim m ungsfaktoren von Orthographiereform en (vgl. Abschnitt 3.) zu unterscheiden zwischen linguistischen und außerlinguistischen Argum enten. In den Meinungsäußerungen von Sprachwissenschaftlern dom inieren und widerspiegeln sich in der Regel ihre theoretischen Positionen zum Wesen, zur Struktur, zu den Funktionen und zur Entwicklung der Orthographie. Danach differenzieren sich die Befürworter und Gegner einer Orthographiereform , und danach bestim m en sich die Auffassungen über die Art, den Um fang und die Grenzen einer solchen Reform . Die Skala reicht hier von einer stark phonographischen Orientierung der Orthographie über abgestufte und funktional differenzierte Eingriffe in verschiedene Teilgebiete der Orthographie bis zur weitgehenden Ablehnung von Orthographieänderungen in einzelnen Teilgebieten oder überhaupt. In der allgem einen öffentlichen Auseinandersetzung spielen sprachwissenschaftliche Argum ente zwar m itunter auch eine Rolle — die Diskussion der Sprachwissenschaftler reflektiert sich natürlich in der Öffentlichkeit

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

— sie treten jedoch m eist zurück hinter pädagogische, soziale, auf die Schrifttradition und -kultur bezogene, psychologische, ökonom ische, technische und gelegentlich sogar sprachpolitische Argum ente. Aus diesen Meinungsäußerungen lassen sich eben die Bestim m ungsfaktoren von Orthographierefor m en ablesen, die oben im Abschnitt 3. angeführt wurden und die offensichtlich in allen Sprachgem einschaften, i n denen solche Reform bestrebungen hervortreten, eine m ehr oder weniger große Rolle spielen. Auffällig ist aber nicht nur die relative Übereinstim m ung der Diskussionen und Argum entationen um Orthographiereform en in verschiedenen Sprachgem einschaften bei allenfalls partiell unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, auffällig ist auch die seit Beginn solcher Auseinandersetzungen auftretende ständige Wiederholung im m er der gleichen Argum ente, wie das z. B. Küppers (1984) für die Auseinandersetzung um eine Reform der deutschen Orthographie seit 1876 sehr deutlich gezeigt hat. Dabei gibt es zu den Pro-Argum enten fast durchweg auch jeweils Contra-Argum ente, so daß m an die Auseinandersetzungen um Orthographiereform en gewisserm aßen in einem Katalog von Argum enten generalisieren kann, die im m er wieder auftreten. Dazu gehören auf der einen Seite die von einer Orthographiereform erhoffte Vereinfachung der Rechtschreibung m it entsprechenden Auswirkungen für den Schulunterricht, was breiten Kreisen des Volkes den Zugang zur geschriebenen Sprache erleichtern, die Chancengleichheit verbessern und die allgem eine Sprachkultur erhöhen soll. Dazu gehören auf der anderen Seite die m it einer Orthographiereform verbundenen Befürchtungen, daß dadurch ein Bruch der Kontinuität der Schrifttradition und dam it der kulturellen Entwicklung herbeigeführt oder eine wesentliche Leseerschwernis verursacht würde, daß unzum utbare Um stellungsschwierigkeiten und unerschwingliche Kosten aufträten u. a. m . Geerts et al. (1977, 202—207) belegen das m it einer langen Liste von Argum enten für und gegen eine Orthographiereform des Niederländischen, gegliedert in “m ore em otional argum ents” und “m ore objective argum ents”, die m an ohne weiteres auf viele andere Länder übertragen könnte. Nicht selten stellen solche Meinungsäußerungen bloße Behauptungen dar, die keiner ernsthaften Prüfung standhalten; es gehört jedoch ebenfalls zu den charakteristischen Merkm alen der öffentlichen Auseinandersetzungen um Orthographiereform en, daß hier häufig

59.  Orthographieentwicklung und Orthographiereform

vorgefaßte Meinungen bekräftigt und gegenteilige Argum ente ignoriert werden. Zu solchen Merkm alen gehört auch die speziell bei den Gegnern von Orthographiereform en oftm als festzustellende Überbewertung der geltenden Orthographie als Wert an sich sowie die häufig anzutreffende Unkenntnis der tatsächlichen Entwicklung und Geschichte der jeweiligen Orthographie. Transporteur der allgem einen öffentlichen Auseinandersetzungen um Orthographiereform en ist von Anfang an vor allem die Presse, die selbst z. T. nicht unwesentlichen Einfluß auf die Gestaltung und Richtung dieser Auseinandersetzungen nim m t. Dies kann auf eine sachliche und objektive Erörterung der Problem atik zielen, nicht selten sind aber auch unsachliche, unqualifizierte oder sogar böswillige Darstellungen (Belege dazu finden sich z. B. bei Küppers 1984 sowie bei Zabel 1989). Zu einer offenen Auseinandersetzung gibt es jedoch keine Alternative. Eine Orthographiereform erfordert in einer dem okratisch verfaßten Gesellschaft im m er auch die Überzeugung eines großen Teiles der Öffentlichkeit. Sie m uß davon überzeugt werden, daß der Nutzen einer Neuregelung den Kaufpreis der Veränderung rechtfertigt. Neben dieser Bedingung sind, wie vorangehend dargestellt, bei einer Rechtschreibänderung noch eine Vielzahl weiterer Bedingungen und Faktoren angem essen zu berücksichtigen, so daß eine Orthographiereform im m er eine schwierige und kom plizierte Aufgabe sein wird, für deren Erfolg entsprechende Konstellationen erforderlich sind und an deren Erfolg viele Kräfte mitwirken müssen.

6.

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Dieter Nerius, Rostock (Deutschland)

60. Schriftlichkeit und Diglossie 1. 2. 3. 4. 5.

1.

Einleitung Sprachkultivierung Gesellschaftliche Aspekte Schriftsysteme und Diglossie Literatur

Einleitung

Wo Schrift verwendet wird, besteht ein Kontrast zwischen gesprochener und geschriebener Sprache. Seit Dante ist der Gedanke, daß es sich hierbei um die Scheidung einer lingua artificialis von einer lingua naturalis handelt, ein Topos der wissenschaftlichen Sprachbetrachtung (Baum 1987), der in einer Reihe von Begriffen Ausdruck gefunden hat. Literatur-, Schrift-, Standard- oder Hochsprache wird konzeptuell und zunehm end auch deskriptiv von Mundart, Regiolekt und Um gangssprache unterschieden. Paul (1909, 412) stellt der „natürlichen“ Um gangsprache die „künstliche“ Schriftsprache gegenüber, wie auch Jespersen (1933) den unnatürlichen Charakter letzterer betont. Bloom field (1933, 291) konstatiert das Entstehen schriftsprachlicher (literary) Dialekte in Sprachen m it Schrifttradition. Als Folge der jeweiligen soziohistorischen Genesebedingungen der Schriftverwendung

stellt sich das Verhältnis zwischen m ündlichen und schriftlichen Varietäten in verschiedenen Einzelsprachen unterschiedlich dar. Während die Etablierung einer schriftlich fixierten Norm vor allem in Westeuropa im engen Zusam m enhang m it Alphabetisierung, Dialekteinebnung und Sprachkonvergenz geschah, kam es in anderen Fällen zu einer Polarisierung. Die Aufm erksam keit der Forschung richtete sich hier früh auf das Griechische, dessen archaisierende, an der klassischen Literatursprache orientierte Katharevousa stark m it der Dim otiki des m ündlichen Um gangs kontrastierte. Krum bacher (1902) bezeichnete das Verhältnis zwischen beiden als „Diglossie“, und Psichari (1928, 66) unterschied „zwei Sprachen, die gesprochene und die geschriebene, genau wie m an von gesprochenem und geschriebenem Arabisch spricht„. Dem gem äß wurde auch die Situation des Arabischen als Diglossie dargestellt (Marçais 1930). Seither hat der Begriff weite Verbreitung in der Literatur über m ediale, funktionale und soziale Sprachdifferenzierung gefunden und ist wegen seines von Autor zu Autor variierenden Inhalts und der Unschärfe seiner Ränder zum Gegenstand eines extensiven Metadiskurses geworden (Tollefson 1983; Krem nitz 1987; am ausführlichsten Britto 1986).

740

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Eine wichtige Stufe der Entwicklung des Begriffs war Fergusons (1959) Herausarbeitung der Gem einsam keiten vier sehr disparater Paare gehobener (H) und niederer (L) Varietäten — im Arabischen, Griechischen, Schweizerdeutschen und Frankokreolischen in Haiti. Die dam it eingeleitete Verschiebung des Fokus von der Sprache zur Sprachgem einschaft wurde von Fishm an (1967) weitergeführt, der den Begriff auf die funktional kom plem entäre Distribution genetisch verschiedener Sprachen in einer Gem einschaft ausdehnte. Kloss (1976) schlug daran anknüpfend vor, zwischen „Binnendiglossie“ genetisch verwandter H und L und „Außendiglossie“, wo eine solche Verwandtschaft nicht gegeben ist, zu unterscheiden. Weitere begriffliche Verfeinerungen betreffen einerseits die relative Affinität (Fasold 1984, 54; Britto 1986, 19 f) und andererseits die Anzahl der betreffenden Varietäten; denn in dem Maße, wie gesellschaftliche und räum liche (Khubchandani 1983) Koexistenz von H und L gegenüber ihrer genetischen Verwandtschaft theoretisch an Bedeutung gewannen, rückten auch Fälle in den Blick, die die Berücksichtigung von m ehr als zweien verlangten und dam it die Erweiterung der H-L-Dichotom ie. Der von Mackey (1986) vorgeschlagene Begriff ‘Polyglossie’ trägt dem Rechnung. Im Laufe der Theorieentwicklung hat der Begriff ‘Diglossie’ eher an Schärfe verloren. Daß er dennoch weiterhin verwendet wird, zeugt von der Kom plexität gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit, die es erforderlich m acht, diverse Form en dieses Phänom ens zu unterscheiden, aber auch wünschenswert sein läßt, ihre Verwandtschaft begrifflich deutlich zu m achen. Da detaillierte Analysen von Mehrsprachigkeit überall auf der Welt im m er wieder andere Eigenschaften als für Diglossiesituationen wesentlich erscheinen ließen, ist ‘Diglossie’ zu einem Oberbegriff geworden, der — im Unterschied zu individueller — gesellschaftliche Mehrsprachigkeit beinhaltet, die sich durch funktionale Kom plem entarität der Varietäten auszeichnet. Obwohl das selten them atisiert wird, hat sich bei dieser Begriffsentwicklung die Schriftlichkeit als eines der stabilsten Kriterien erwiesen. Sie ist der Kern jeder Binnendiglossie und stets ein wesentlicher Aspekt von Außendiglossie.

setzung und Pflege einer m it dem Anspruch auf überregionale Gültigkeit verbundenen Norm wird durch sie wesentlich erleichtert. Dam it entsteht die wesentliche Voraussetzung einer funktionsspezifischen Sprachdifferenzierung diglossischen Charakters. Die schriftlich verwendete Variante ist stets H, und typischerweise nur H. Ferguson (1959, 336) kennzeichnete H als „Vehikel einer um fangreichen und geschätzten Literatur„.

2.

Sprachkultivierung

2.1.  Schrift ist das wichtigste Instrum ent der Sprachkultivierung. Die Etablierung, Durch-

2.2.  Der Erwerb eines schriftlichen Kodes durch eine Sprachgem einschaft kann auf verschiedene Weise zu einer Divergenz zwischen geschriebener und gesprochener Sprache führen, die weit genug ist, um als Diglossie eingestuft werden zu können. 2.2.1.  Die durch starkes, oft puristisches Norm bewußtsein bewirkte Konservierung der Schriftsprache einer kulturellen Blütezeit läßt den Abstand zwischen den genetisch verwandten H und L kontinuierlich größer werden. Arabisch, dessen H auch als arabi nahawi ‘gram m atisches Arabisch’ bekannt ist, wird oft als Beispiel zitiert. Da dessen Koineisierung jedoch voranschreitet (Mitchell 1982), entspricht heute das Singhalesische diesem Typ noch m ehr. In dieser Binnendiglossie wird H überhaupt nicht m ündlich verwendet, sondern ist auf schriftliche Kom m unikation beschränkt (De Silva 1982). Zwischen H und L gibt es deutliche gram m atische Unterschiede. Die Verbalm orphologie von H ist differenzierter, was für das Verhältnis von H und L generell auch in anderen Sprachen typisch ist. Auch auf der syntaktischen Ebene weist H Differenzierungen auf, die es in L nicht gibt, so etwa einen Unterschied zwischen involitiver und passiver Aktionsart. Das Lexikon ist H und L größtenteils gem einsam , was ebenfalls ein allgem eines Merkm al von Binnendiglossie ist. 2.2.2.  Durch aktive Sprachplanung induziert wurde eine Diglossiesituation im karolingischen Reich. Durch die Sprachreform Karls des Großen, nach der Latein (H) ad litteras auszusprechen war, wurden in der Schriftsprache begonnene Entwicklungen aufgehalten bzw. rückgängig gem acht, was deren Abstand zu den rom anischen Vernekularvarietäten (L) vergrößerte. Dam it war seine Reduktion auf eine nur noch geschriebene Sprache und der gleichzeitige Ausbau der verschiedenen L zu eigenständigen Sprachen eingeleitet. Während der m ehrere Jahrhunderte dauernden Übergangszeit war die Ro-

60.  Schriftlichkeit und Diglossie

m ania durch Binnendiglossie gekennzeichnet (Wright 1991). 2.2.3.  Die Übernahm e einer frem den Schriftsprache führt gewöhnlich zu Außendiglossie, wofür die Geschichte zahlreiche Beispiele kennt. Das persische Reich unter Darius wurde auf Aram äisch verwaltet. In der hellenistischen Zeit diente die griechische Koiné rund um s Mittelm eer als H verschiedener Außendiglossien, während sie gleichzeitig in Griechenland durch die attizistische Bewegung gegenüber der klassischen attischen Literatursprache in die L-Position geriet, was den Beginn der jahrhundertelangen griechischen Binnendiglossie m arkierte (Browning 1969, 49). Die Länder an der südlichen und östlichen Peripherie Chinas mi portierten m angels einer eigenen die chinesische Schrift und m it ihr die chinesische Schriftsprache, Wényán, um sie viele Jahrhunderte als ausschließliches, später als wichtigstes Medium schriftlicher Kom m unikation zu verwenden (Coulm as 1989 b; → Art. 27, 32). Heutzutage sind die m odernen europäischen Kultursprachen in vielen Teilen der Welt das einzige oder wichtigste schriftliche Medium und erfüllen dam it die H-Funktionen einer Außendiglossie. 2.2.4.  Eine klassische Sprache ist eine standardisierte Schriftsprache, die keine Prim ärsprecher m ehr hat. H ist in vielen Fällen eine klassische Sprache oder durch große Affinität zu einer solchen gekennzeichnet. Lateinisch, Kirchenslawisch, Sanskrit u. a. haben diese Rolle relativ zu genetisch m it ihnen verwandten Varietäten gespielt. Eine Diglossie im engeren Sinne ist gegeben, wenn die klassische Sprache der einzige schriftliche Kode ist, dessen sich eine Gemeinschaft bedient. 2.2.5.  Häufig ist das Varietätenrepertoire von Sprachgem einschaften jedoch kom plexer. Lateinisch wurde jahrhundertelang neben den sich herausbildenden m odernen europäischen Sprachen verwendet, wobei sich seine Funktion von der des einzigen über die des dom inanten zu der eines subsidiären schriftlichen Kodes verschob. Als Diglossie einzustufen sind im Laufe einer solchen Entwicklung die Stadien, wo einerseits H seiner Prim ärsprechergem einschaft bereits verlustig gegangen ist und andererseits L noch nicht standardisiert und in nennenswertem Um fang geschrieben wird, so daß es Funktionen von H übernimmt und den Status von H bedroht.

741

Die Koexistenz m ehrerer schriftlicher Kodes ist für viele Gesellschaften belegt. Obwohl die Koiné in der hellenistischen Welt den Status der allgem ein respektierten Schriftsprache genoß, wurden andere Varietäten weiter schriftlich verwendet, wie z. B. das Dorische Süditaliens von den Pythagoräern. In der m ittelalterlichen Rom ania wurden neben Latein auch Französisch und Provençalisch für literarische Zwecke verwendet. Im Großfürstentum Litauen waren zwischen dem Ende des 16. und dem 18. Jahrhundert Lateinisch, Polnisch und Weißrussisch koexistente Literatursprachen. Solche Situationen m ultipler Schriftsprachlichkeit als Diglossie einzustufen (Mackey 1986), kann den Begriff nur weiter aushöhlen. Das Spezifische der Diglossiesituation ist, daß Sprachkultivierung und -standardisierung an eine Varietät gebunden ist, die in funktionaler Kom plem entarität zu (einer) anderen gebraucht wird, wobei sie insbesondere die Funktionen der schriftlichen Kommunikation erfüllt. 2.3.  Ein Charakteristikum der Diglossie, näm lich daß H von der Sprachgem einschaft als Verkörperung der korrekten Sprachform em pfunden wird, während m it L keine klare explizite Norm assoziiert ist, ist auch für unverschriftete Sprachen beobachtet worden. Bloom field (1927) stellte fest, daß die Menom ini deutliche Vorstellungen von der korrekten Verwendung ihrer Sprache hatten, was er als Vorhandensein eines im pliziten Standards deutete. Daraus die allgem eine Schlußfolgerung zu ziehen, daß durch die Konservierung eines solchen Standards eine Diglossiesituation ohne Schrift entstehen kann, ist jedoch nicht gerechtfertigt; denn Menom ini hatte nur 1700 Sprecher, zu wenige, um die für Diglossie charakteristische große Variabilität von L entstehen zu lassen. Zudem gibt es ohne Schrift keine Gewähr, daß ein Standard wirklich konserviert und nicht ständig angepaßt wird. Daher kann auch die vedische Tradition, deren Beruhen auf m ündlicher Überlieferung oft hervorgehoben wird, nicht als Beleg dafür herangezogen werden, daß Diglossie ohne Schrift entstehen kann. Gerade die sprachlichen Verhältnisse auf dem indischen Subkontinent m achen deutlich, daß Diglossie in einem Sinne, der nicht jede beliebige Form gesellschaftlichen Multilingualism us um faßt, ein Ausfluß der Schriftsprachlichkeit ist. Schon Caldwell (1856, 81) bem erkte „die Eigenart der indischen Sprachen, daß der li-

742

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

terarische Stil, so bald sie kultiviert werden, die Tendenz zeigt, zu einem vom Dialekt des täglichen Lebens unterschiedenen schriftsprachlichen Dialekt m it eigener Gram m atik und eigenem Vokabular zu werden„. Offenkundig haben die indischen Gram m atiker das Modell des Verhältnisses zwischen Sanskrit und den Prakrits auf andere Sprachen projeziert (Krishnam urti 1979, 5). Zwischen den m ündlichen und schriftlichen Erscheinungsform en der m eisten indischen Kultursprachen besteht daher eine so weite Kluft, daß sie als diglossisch beschrieben werden (Deshpande 1986; Dil 1986; Krishnam urti 1986; Singh 1986).

der ganzen Sprachgem einschaft getragenes Verhältnis von H und L ist. Insbesondere Britto (1986) weist die Identifikation von H und L m it Soziolekten — sei es als Kastendialekte in Indien, sei es in Analogie m it elaborierten und restringierten Kodes — zurück und insistiert auf der funktionsspezifischen Differenzierung und Distribution von H und L. Dabei besteht der Kontrast allerdings genauer zwischen H und einer Menge {L1,...,Ln}, was sich wie folgt darstellen läßt.

3.

Anders als H entspricht L nicht einer einzigen hom ogenen Norm . Deshalb ist die Forderung nach der Verschriftung von L in vielen Fällen unrealistisch. Denn wegen der großen Variationsbreite von L kann z. B. „im Tam ilischen niem and außer vielleicht dem Schreiber selber eine in L geschriebene Passage richtig vokalisieren“ (Britto 1986, 180). Offenkundig ist soziale Stigm atisierung kein verallgem einerbares Kennzeichen von L. Sowohl in Situationen, wo H überhaupt nicht gesprochen wird wie im Telugischen (Radhakrishna 1972) als auch in solchen, wo H und L um m anche m ündlichen Funktionen konkurrieren wie in der Schweiz (Rupp 1983, 31 ff), hat L keine soziale Markierung. Die Wertschätzung von H im pliziert nicht unbedingt die Geringschätzung von L. Diglossie kann daher nicht generell als Ausdruck sozialer Konflikte gedeutet werden. Das soziale Problem , das sie trotzdem birgt, ist, daß die Kluft zwischen aktiver und passiver Schriftsprachbeherrschung tendenziell größer ist als in Sprachen, in denen m ündliche und schriftliche Varietäten stark konvergent sind.

Gesellschaftliche Aspekte

3.1.  Diglossie ist in Indien u. a. deshalb eine so häufige Erscheinung, weil Schriftkenntnis und Schriftsprachgebrauch viele Jahrhunderte auf eine schm ale Elite beschränkt waren. H wurde dem entsprechend auf der Grundlage der von dieser Elite gesprochenen Varietät kultiviert. Wegen der horizontalen Schichtung der Gesellschaft war die Möglichkeit der Beeinflußung von L durch H gering, wie auch H gegen die Vernekularisierung durch L weitgehend immun war. Daß zwischen Diglossie und Analphabetism us ein Zusam m enhang besteht, ist wahrscheinlich, obwohl gängige Definitionen darauf keinen Bezug nehm en. Wexler (1971, 337) hat allerdings zu bedenken gegeben, ob nicht nur dann von Diglossie gesprochen werden sollte, wenn die Sprachgem einschaft ein geringes Literalitätsniveau aufweist. Um gekehrt ließe sich die aus der soziologischen Lehre Basil Bernsteins bekannte Dichotom ie von „elaboriertem “ und „restringiertem “ Kode als Diglossie der literalen Gesellschaft kennzeichnen. 3.2.  Dieser Zusam m enhang ist m anchm al zum Anlaß genom m en worden, Diglossie als eine Situation sozialer Ungerechtigkeit zu betrachten, die es zu überwinden gilt (Sotiropoulos 1977). Krem nitz (1987) hebt den Sprachkonflikt hervor, der virtuell jeder Diglossiesituation innewohne. Aus dieser Sicht ist L nicht nur die Varietät, m it der bestim m te Funktionen m ündlicher Kom m unikation erfüllt werden, sondern auch ein m it niedrigem sozialen Status assoziierter, stigm atisierter Kode, der dem prestigereichen H gegenübersteht. Dem entgegen ist jedoch auch betont worden, daß Diglossie ein sehr stabiles, von

3.3.  Wie Schriftsprache generell unterscheidet sich H von L auch dadurch, daß es durch explizite Instruktion gelernt werden m uß. Verfechter m uttersprachlicher Erziehung sehen darin das Desiderat begründet, Diglossiesituationen zu beseitigen. Dafür, daß die Verwendung der Muttersprache der Schüler im engeren Sinne eine effizientere Erziehung erm öglicht, fehlen jedoch, wie Britto (1986, 234) betont, und wie zum indest im Bezug auf traditionell m ehrsprachige Milieus festgestellt werden m uß, verallgem einerbare Beweise. Nur die Einzelfallstudie kann zeigen, wie praktikabel und aussichtsreich die Verwendung der Muttersprache (L) als Unterrichts-

60.  Schriftlichkeit und Diglossie

m edium und -gegenstand ist. Dessen ungeachtet kann der große Abstand, den Schüler in einer Diglossiesituation zwischen ihrer Muttersprache L und der Schriftsprache H überwinden m üssen, für die Im plem entierung eines allgem einen, egalitären Erziehungssystem s eine zusätzliche Schwierigkeit sein. Beseitigen läßt sich eine solche jedoch nicht unbedingt durch die schriftliche Verwendung von L, sondern allenfalls durch einen langfristigen Prozeß der Konvergenz von H und L und die dam it einhergehende Standardisierung von L.

4.

Schriftsysteme und Diglossie

4.1.  Bisher ist wenig darüber bekannt, welche Folgen die Verwendung verschiedener Schriftsystem e für die m it ihnen verschrifteten Sprachen haben. Wichtige Fragen, die sich in diesem Zusam m enhang stellen, sind, ob verschiedene Schriftsystem e sich unterschiedlich auf Sprachstandardisierung auswirken und ob sie das Verhältnis zwischen geschriebener und gesprochener Sprache auf unterschiedliche Weise affizieren. Trotz Diringers (1968) oft wiederholter Charakterisierung des Alphabets als einer „dem okratischen Schrift“, die wegen ihres kleinen Zeicheninventars und der daraus unterstellterm aßen folgenden Einfachheit der Literalisierung der Gesellschaft förderlich ist, sind das durchaus offene Fragen. Gleichwohl sind in diesem Zusam m enhang Hypothesen geäußert worden, die auch die Entstehungsbedingungen von Diglossien betreffen. De Silva (1976, 35 f) hat die Auffassung vertreten, daß ein grundsätzlicher Unterschied zwischen ideographischen bzw. logographischen und phonetischen Schriftsystem en bestehe. Das Verhältnis zwischen gesprochenem und geschriebenem Chinesisch entspreche deshalb nicht dem zwischen H und L in einer Diglossiesituation des indischen Typs. Das Hauptargum ent ist, daß sich die chinesische Schrift wegen ihrer lockeren Abbildungsbeziehung zur Ebene der phonetischen Repräsentation nicht zur Fixierung einer Hochlautung eigne und som it keinen klassischen Standard konservieren könne. Andere Gelehrte haben jedoch die Kultivierung der chinesischen Schriftsprache durch die Gram m atiker explizit m it der der indischen verglichen (Krishnam urti 1979, 4). Ein Beweis dafür, daß Eigenschaften der respektiven Schriftsystem e dabei eine wesentliche Rolle spielen, steht aus. Die Annahm e, alphabetische oder Silbenschriftsystem e wirken

743

sich grundsätzlich anders als logographische System e auf die Varietätendifferenzierung aus, zeugt von einer Überschätzung der Lautwandel arretierenden Möglichkeiten ersterer und einer Unterschätzung der Bedeutung des Lautbezugs letzterer. Außerdem wird den lautlichen Unterschieden zwischen L und H dadurch gegenüber anderen Ebenen der Gram m atik bei der Bestim m ung eines Diglossieverhältnisses zu viel Gewicht zugem essen. Wényán ist von gesprochenen Varietäten des Chinesischen ebenso weit entfernt wie H von L in irgendeiner der diglossischen Sprachen Indiens (Coulm as 1989 a, 198). Wie HSinghalesisch, H-Telugu oder H-Bengalisch ist es eine Buch-Sprache, die den Vernekularvarietäten übergeordnet ist und von diesen verschiedene Funktionen erfüllt. Die jahrhundertelange Verwendung von Wényán in Ostasien kann deshalb als Innendiglossie in China selbst und als Außendiglossie in den benachbarten Sprachgem einschaften, insbesondere Vietnam s, Koreas und Japans beschrieben werden (Coulmas 1989 b, 1991). 4.2.  Viele Sprachen werden oder wurden gleichzeitig m it zwei Schriftsystem en dargestellt, eine Praxis, die als „Digraphie“ (Dale 1980) oder „digraphische Schriftlichkeit„ (DeFrancis 1984) bezeichnet wird. Aus der Antike gut bekannt sind die sich zeitlich überschneidenden hieroglyphischen und keilschriftlichen Konventionen der Hethiter. Vor dem Aufstieg Rom s wurden Lateinisch, Etruskisch und andere Sprachen der italienischen Halbinsel sowohl m it lateinischen als auch m it den von einem westgriechischen Alphabet abgeleiteten etruskischen Lettern geschrieben. Aus dem Mittelalter sind viele spanische Texte in arabischer Schrift überliefert. Die parallele Verwendung zweier Schriftsystem e oder Schriften ist m eist nicht m it Diglossie gleichzusetzen, da die Differenzierung gewöhnlich keine funktionsspezifische ist, sondern religiösen oder politischen Gruppen als Sym bol ihrer Identität dient, wie im Serbokroatischen (Lateinisch/katholisch vs Kyrillisch/orthodox), im Sindhischen (Arabisch/islam isch vs Devanagari/hinduistisch) oder Nordkorea (Hangul) vs Südkorea (Hangul-Hanja) und Taiwan (traditionelle Zeichen) und China (vereinfachte Zeichen); → Art. 61. Ähnlichkeiten m it Diglossie weist Digraphie nur in den seltenen Fällen auf, wo die prim äre Differenzierung keine soziale, politi-

744

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

sche oder religiöse ist, sondern sich nach Funktionen richtet, wie etwa der ausschließliche Gebrauch von Katakana für den Telegraphenverkehr, der der norm alen japanischen Mischschrift aus Kana und chinesischen Zeichen gegenübersteht. In diesen funktionsspezifischen Varietäten schriftliche L und H zu sehen, liegt nahe, ist aber keine tragfähige Analogie, da der alleinige Gebrauch der Kana nur dem Medium geschuldet ist und keine system atische Differenzierung des japanischen Schrifttums darstellt. Letztlich ist Digraphie typischerweise eine zu Diglossie querliegende Erscheinung, da die schriftliche Verwendung nur von H und nicht von L ein wesentliches Charakteristikum von Diglossie ist.

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5.

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61.  Schriften im Kontakt

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61. 0. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

0.

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Florian Coulmas, Tokio (Japan)

Schriften im Kontakt Disziplinäre und terminologische Voraussetzungen Zweisprachigkeit und Zweischriftigkeit Sprachverschiedenheit und Schriftverschiedenheit Sprachgemeinschaften und Schriftgemeinschaften Schriftkontakt und Diglossie Schriftkontakt und Religion Schriftkontakt und Öffentlichkeit: das Prestige von Schriftarten „Fremdgrapheme„: Schriftkontakt im Schriftsystem Perspektiven Literatur

Disziplinäre und terminologische Voraussetzungen

Die wissenschaftliche Erforschung von linguistischen Sachverhalten, die in m ehreren oder vielen Einzelsprachen vorliegen, und der daraus gewonnenen Generalisierungen erfolgt im wesentlichen im Rahm en von vier Teildisziplinen: 1. der em pirisch fundierten Universalienforschung m( ultilaterale Strukturanalysen), 2. der vergleichenden Sprachwissenschaft (Kom paratistik), 3. der Sprachtypologie (vorwiegend m ultilaterale Strukturanalysen) und 4. der kontrastiven (konfrontativen) Sprachwissenschaft (vorwiegend bilaterale Ausdrucksanalysen, z. B. als „Fehlerlinguistik“ oder als „Rekonstruktion von Lernervarietäten“). Diese Forschung konzentriert sich auf die Analyse sprachlicher Struktureigenschaften und auf Lexikonanalysen. Erst in jüngster Zeit werden auch pragm atische und kulturelle Kom plem ente sprachlicher Differenzen als Forschungsgegenstand entdeckt und in soziolinguistisch, ethnom ethodologisch und inter-

aktionstheoretisch orientierten Studien bearbeitet (Überblick in Glück 1991). Sie werden vielfach als interkulturelle Vergleiche bezeichnet. Solche Verwendungsaspekte sind auch für das Studium von Schriften in Kontakt von einiger Bedeutung. Die geschriebene Sprachform spielt in den genannten traditionellen Teildisziplinen ebenso wie in den neueren Forschungsrichtungen keine große Rolle als besonderer Arbeitsgegenstand. Andererseits hat insbesondere die historisch-vergleichende Sprachforschung Schriftdenkm äler bearbeitet, und auch die beiden anderen genannten Teildisziplinen haben sich eher auf gedrucktes Material als auf Transkriptionen von Gesprochenem gestützt. Hierin liegt ein m ethodisches Problem , das nicht näher erörtert werden kann. Schriftkontaktphänom ene wurden im m erhin als Sonderproblem e wahrgenom m en, und zwar vor allem in der Forschung zur Schrifthistoriographie, in der schriftbezogenen Soziolinguistik, in der Forschung über Schriftpolitik und Schriftsoziologie und in der Sprachkontaktforschung. Einige term inologische Vorklärungen erscheinen notwendig. Der Ausdruck Schrifttyp bezeichnet den Zusam m enhang eines Schriftsystem s m it seiner wesentlichen, dom inierenden Bezugsebene im Sprachsystem der so verschrifteten Sprache. Für alphabetische Schriftsystem e ist dies vor allem das phonologische System , für syllabographische Schriftsystem e ist es vor allem die Ebene der (Sprech-)Silbe, für logographische Schriftsystem e ist es vor allem die Ebene der Morphem e. Der Ausdruck Schriftart bezieht sich auf die Gestalt- und Strukturunterschiede zwischen Schriftsystem en, die dem selben Schrifttyp angehören, z. B. die Unterschiede, die zwischen den verschiedenen Alphabetschriften (etwa der lateinischen und der geor-

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

gischen Schriftart) im Hinblick auf die Gestalten ihrer Schriftzeichen und im Hinblick auf ihre strukturelle Differenziertheit bestehen. Der Ausdruck Schriftsystem bezieht sich auf einzelsprachlich spezifische Verschriftungen (die geschriebene Form von Einzelsprachen), denn Sprachen, die in ein und derselben Schriftart (z. B. der lateinischen) geschrieben werden, können sich hinsichtlich des Schriftzeicheninventars, das sie verwenden, ihrer Repräsentationsfähigkeit und -regularitäten und allgem ein hinsichtlich dessen, was als „Prinzipien der Orthographie“ bezeichnet wird, erheblich voneinander unterscheiden. Schriftsprache bezeichnet schließlich das Vorhandensein einer Sprache in geschriebener Form (d. h. ihre Kodifikation und die Festlegung eines Schriftsystem s) und ihre praktische Verwendung durch die jeweilige Sprachgem einschaft, die dam it zu einer Schriftgemeinschaft wird. Schriftkontakt bezeichnet alle Fälle, in denen zwei (oder m ehrere) Schriftsystem e m iteinander in Kontakt sind, sei es interlingual, sei es intralingual (vgl. 8. „Frem dgraphem e“). Em pirische Realität hat Schriftkontakt (a) in Sprachprodukten, d. h. zwei- oder m ehrschriftigen Texten oder Texträum en (4., 5.) und (b) in individuellen Sprachfähigkeiten, d. h. Personen (-gruppen), die zwei- oder m ehrschriftig sind. Der Term inus ‘Sprachkontakt’ wird dam it differenziert: Schriftkontakt bezieht sich auf die geschriebene Form von Sprachen, Sprachkontakt wird hypernym isch verwendet, und Zwei- und Mehrsprachigkeit soll den Fall bezeichnen, daß Sprachkontakt sich auf gesprochene Sprache beschränkt (vgl. die einschlägigen Artikel im Metzler Sprachlexikon 1993).

Sprache ausm achen (d. h.: es reicht nicht festzustellen, daß z. B. Deutsch und Polnisch lateinisch verschriftet sind). Es m uß deshalb vergleichend untersucht werden, worin die jeweiligen Spezifika liegen (z. B. in der Repräsentation des Vokalism us, der Affrikaten, der Flexionsaffixe, der Wortkategorie usw.). In der Forschung über sprachliche Universalien, Sprachtypologie und Sprachen im Kontakt m uß deshalb kategorial differenziert werden zwischen Sachverhalten, die Charakteristika der gesprochenen Sprachform sind, und solchen, die charakteristisch für die geschriebene Sprachform sind. Erst die Vergleichung beider System e erm öglicht kom plette Sprachvergleiche und vollständige typologische Aussagen. Im folgenden werden deshalb die Ausdrücke Bilingualismus und Multilingualismus als übergreifende Term ini dann verwendet, wenn der Fall bezeichnet werden soll, daß ein Individuum oder eine Gruppe zwei bzw. m ehrere Sprachen sowohl in ihrer gesprochenen als auch in ihrer geschrieben Form beherrscht und verwendet. Für den Fall, daß sich diese Fähigkeit auf die gesprochene Sprachform beschränkt, werden die Ausdrücke Zweisprachigkeit und Mehrsprachigkeit vorgesehen (die ohnehin so verwendet werden). Die Ausdrücke Zweischriftigkeit (digraphia: Coulmas 1989 a, 237) und Mehrschriftigkeit bezeichnen den Fall, daß sich Zwei- oder Mehrsprachigkeit auf die geschriebene Form von Sprachen bezieht. Es lassen sich dann folgende Fälle typisierend unterscheiden: 1. Analphabetische Zweisprachigkeit: Beherrschung ausschließlich der gesprochenen Sprachform zweier Sprachen. 2. Dominant oraler Bilingualismus: Beherrschung einer der beteiligten Sprachen in beiden Sprachform en, der anderen Sprache nur in ihrer gesprochenen Form. 3. Dominant zweischriftiger Bilingualismus: Beherrschung einer Sprache in beiden Sprachform en, der anderen Sprache nur in ihrer geschriebenen Form ; dieser Typus wird gelegentlich auch als „Gelehrtenm ultilingualism us“ bezeichnet bei Menschen, die viele Sprachen lesen, aber nicht hörend verstehen oder sprechen können. 4. Doppelseitiger Bilingualismus: Beherrschung zweier Sprachen in beiden Sprachformen. 5. Monolinguale Zweischriftigkeit liegt vor, wenn eine Sprache doppelt verschriftet ist, d. h. in zwei Schriftsystem en vorliegt und beide von m onolingualen Mitgliedern der

1. Zweisprachigkeit und Zweischriftigkeit Die Forschung über sprachliche Universalien, Sprachtypologie und Sprachen im Kontakt hat bislang den Sachverhalt nur unzureichend berücksichtigt, daß Schriftsprachen in zwei Erscheinungsform en existieren, näm lich in einer geschriebenen und einer gesprochenen Sprachform . Die europäischen Sprachen sind auf der Basis des lateinischen, kyrillischen, griechischen oder hebräischen Alphabets verschriftet; in Asien ist die Vielfalt der Schriftarten erheblich größer. Darüber hinaus besitzt die geschriebene Sprachform jeder einzelnen europäischen Sprache spezifische Besonderheiten, die das Schriftsystem der betreffenden

61.  Schriften im Kontakt

Sprachgem einschaft beherrscht werden, z. B. im Falle von Südslaven, die sowohl das lateinisch als auch das kyrillisch basierte Serbokroatisch lesen und schreiben können. 6. Alphabettechnische Zweischriftigkeit: Beherrschung einer Sprache in beiden Sprachform en, der anderen Sprache nur in technischer Hinsicht bei Monolingualen, die die geschriebene Form einer anderen Sprache buchstabieren und in Lautsequenzen überführen können, ohne daß sie diese Sprache beherrschen würden. Diese Form der Zweischriftigkeit entwickelt sich unter dem Einfluß der audiovisuellen und elektronischen Medien und der Werbung in einigen Industrieländern und vielen „Schwellenländern“ zu einem verbreiteten Phänomen. In den m aßgeblichen Studien zur Entstehung und historischen Entwicklung von Schriftsystem en (Mieses 1919; Loukotka 1946; Kulundžić 1951; Cohen 1958; Gelb 1958; Février 1959; Friedrich 1966; Istrin 1965; Diringer 1968; Jensen 1968; Coulm as 1989 a) werden auch Schriftkontaktphänom ene dokum entiert. Dies ist regelm äßig der Fall, wenn es um die Beschreibung sogenannter Bilinguen geht, die für die „Entzifferung„ vordem nicht lesbarer Schriften bzw. nicht rekonstruierbarer Sprachen oft von entscheidender Bedeutung waren. Das bekannteste Beispiel ist der zweisprachige bzw. dreischriftige (ägyptisch-hieroglyphisch, ägyptisch-dem otisch und griechisch) Stein von Rosette (vgl. Andrews 1981). Ein m odernes Beispiel zeigt Abb. 61.1. Solche Bilinguen sollte m an besser zweischriftige (bzw. mehrschriftige) Zeugnisse nennen, denn der Term inus ‘bilingual’ ist auf die gesprochene Sprachform festgelegt. 2. Sprachverschiedenheit und Schriftverschiedenheit Schriftkontakt wurde oft dann zum Forschungsgegenstand, wenn es den Wechsel von Schriftarten, Schrifttypen oder Schriftsystem en (Orthographiereform en) zu beschreiben galt. Beispiele sind der Alphabetwechsel in der Türkei von 1926/28 (von der arabischen zur lateinischen Schriftart, vgl. Heyd 1954; Bazin 1983; Abb. 61.2), die sowjetischen Sprach- und Alphabetreform en der 20er und 30er Jahre (von der arabischen, m ongolischen, ujghurischen, kyrillischen zur lateinischen Schriftart (Abb. 61.3—5), zwischen 1936 und 1941 dann zur kyrillischen, vgl.

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Abb. 61.1: Oben: Warnschild auf den israelisch besetzten Golanhöhen. — Unten: Wegweiser auf dem Sinai (Ägypten)

Glück 1984; Baldauf 1991), die khalkha-m ongolische Alphabetreform von 1941 (von der traditionellen m ongolischen auf die kyrillische Schriftart in der äußeren Mongolei, vgl. Bese 1983), die Um stellung des Vietnam esischen (von einem dem Chinesischen entlehnten, „sinovietnam esischen“ logographischen System (chũ nôm ) auf die lateinische Schriftart (quôc ngũ) im 19. Jahrhundert, vgl. de Francis 1977a; → Art. 27), im Indonesischen (von verschiedenen regionalen und ausländischen Schriftsyste m en zur lateinischen Schriftart nach 1945, vgl. Alisjahbana 1976) und Som alischen (vom indigenen System des Far Soom aali und der arabischen Schriftart per Dekret (1972) zur lateinischen, vgl. Andrzejewski 1983). In allen genannten Fällen handelt es sich um politisch gewollte und staatlich organi-

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 61.2: Das türkische Lateinalphabet von 1928 (aus Baldauf 1991, 441)

sierte Übergänge von einer Schriftart zu einer andern, die m ehr oder weniger um fassend von Fachleuten für Schrift- und Sprachplanung vorbereitet und im Rahm en von Alphabetisierungs- und Grundbildungskam pagnen um gesetzt wurden. Für die betroffenen Sprachund Schriftgem einschaften bedeuteten sie einen kulturellen Einschnitt, denn für eine wenigstens zwei Generationen um fassende Übergangszeit existierten faktisch zwei Schrift-

arten nebeneinander, und alle Personen, die in der traditionellen Schriftart alphabetisiert waren, m ußten Schriftzeicheninventar und Schriftsystem der Reform verschriftung lernen, oder sie verloren tendenziell die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben. Da in allen genannten Fällen die Massenalphabetisierung zuvor weitgehend analphabetischer Sprachgem einschaften der erklärte Zweck der Reform war, betraf diese Konsequenz nur relativ

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Abb. 61.3: Das „Unifizierte neue türkische Alphabet“ des sowjetischen „Allunionkommittes für das neue türkische Alphabet“ (VCK NTA) (aus Baldauf 1991, 546)

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 61.4: „Das ist der letzte und entscheidende Kampf„. Titel der tatarischen Zeitschrift cajan, Dez. 1928. Das kyrillische (!) „e oborotnoe“ hat das arabische [wa:w] schon k. o. geschlagen, das [ra:] wird (links unten) von Helfern in traditioneller Tracht verarztet, und das [ħa] ist dabei, den Kampf zu verlieren (aus Baldauf 1991, 195)

kleine Gruppen von Gebildeten, die som it m onolinguale Zweischriftigkeit entwickeln m ußten. Die junge Generation, die im Reform system alphabetisiert wurde, erwarb ihrerseits dabei nicht die Fähigkeit, Texte in der traditionellen Schriftart zu lesen und konnte

sich allenfalls das traditionelle System zusätzlich aneignen. Ein heute 75 Jahre alter Azerbajdžaner oder Tadžike kann im Laufe seines Lebens vierm al Lesen und Schreiben gelernt haben: als Kind in arabischer Graphie, als Jugendli-

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Abb. 61.5: Titel der baschkirischen Zeitschrift „janylyq“, September 1927. Die arabische Schrift wird in die Wüste geschickt; aus der Packtasche des Kamels rieseln arabische Schriftzeichen auf den Weg (aus Baldauf 1991, 265)

cher dann in lateinischer, als Erwachsener in kyrillischer und als Greis wieder in lateinischer bzw. arabischer Graphie. Ein gleichaltriger Moldauer aus Transnistrien (dem Gebiet auf dem rechten Dnjeprufer) hat in der Schule im alten kyrillisch-rum änischen Alphabet schreiben gelernt (sofern er eine Schule besucht hat), m ußte zwischen 1924 und 1930 in lateinischer Graphie lesen und schreiben, 1930 bis 1933 wieder in kyrillischer (m an wollte in der Sowjetunion auf Distanz zur „bürgerlichen“ rum änischen Lateingraphie gehen), zwischen 1933 und 1937 im Zuge der als revolutionär propagierten Latinisierung der m eisten sowjetischen Graphien noch einm al in lateinischer, von 1937—1990 erneut kyril-

lischer Graphie. 1957 erfolgte eine Orthographiereform für das Moldauische. Auf seine alten Tage kann er, falls Transnistrien im Bestand der Republik Moldau bleibt, seine (in Rum änien zwischenzeitlich reform ierte) lateinisch-rum änische Schulorthographie aus der Jugendzeit wieder hervorkram en (vgl. Glück 1987, 114). Sogar der Wechsel zwischen bloßen Schriftvarianten (identische Schriftzeicheninventare, die sich lediglich in den Schriftzeichengestalten voneinander unterscheiden) kann vergleichbare Effekte haben; es handelt sich dann jedoch definitionsgem äß nicht um einen Fall von Schriftkontakt. Ein Beispiel dafür ist das Deutsche, für das 1941 die Um stellung der

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Ausgangsschrift der Grundschulen (von der Sütterlinschrift auf die lateinische Ausgangsschrift) und der Abschaffung der Fraktur als Druckschrift dekretiert worden ist (vgl. Hopster 1985, Rück 1993). Heute haben in Deutschland fast alle Schüler und viele Studenten Schwierigkeiten, Frakturdrucke und in „deutscher Schrift“ von Hand geschriebene Texte zu lesen, da diese Schriftvarianten in den Schulen kaum noch gelehrt werden. Ein inzwischen historisches Beispiel für graphische Markierung alloglotter Lexem e war der Usus, in deutschen Frakturtexten Wörter und Wortgruppen aus anderen Sprachen, auch wenn sie gängige „Frem dwörter“ waren, in Antiqua zu drucken, z. B.  Dr.  |  couvert     billet;      cabinet     |  complicirten .

m annisch dem Standarddeutschen strukturell und lexikalisch nicht näher als das Niederländische, und die „Dialekte“ des Chinesischen oder des Arabischen sind nach dem Kriterium der strukturellen und lexikalischen Distanz zweifellos eigenständige Sprachen (lediglich das Maltesische hat sich — aus außerlinguistischen Gründen — vom Arabischen abspalten können; vgl. Aquilina 1970). Andererseits m üßte m an die skandinavischen Sprachen oder die m ittelasiatischen Turksprachen nach diesem Kriterium als Dialekte voneinander einstufen. Im Sinne des Thüm m elschen Paradoxons läßt sich sagen, daß Verschriftetheit, sofern sie Alphabetisiertheit nach sich zieht, eines der wesentlichen Merkm ale von „Sprache“ ist. „Wen ich verstehe, der redet m eine Sprache; wen ich nicht verstehe, der redet eine m ir frem de Sprache“, schrieb von der Gabelentz (1891/1901, 55). Gegenseitige Verständlichkeit wird in der neueren Soziolinguistik vielfach als zentrales, wenn auch kategorial unklares Kriterium für die Unterscheidung zwischen Sprachen, Varietäten und Dialekten von Sprachen verwendet (vgl. Am m on 1987, 318 ff). Auch die Kriterien der Verschriftetheit einer Sprache und die Zugehörigkeit einer Sprachgem einschaft zu einer oder m ehreren Schriftgem einschaften spielen in diesen Diskussionen eine Rolle: „both script and orthographic diversity can dilute the linguistic status of a language and its varieties“ (Mackey 1989, 8). In einigen Fällen gilt, daß gegenseitige Verständlichkeit zwischen verschiedenen Teilgruppen einer Sprachgem einschaft nur in der m ündlichen Sprachform vorliegt, dann näm lich, wenn diese Teilgruppen unterschiedlichen Schriftgem einschaften angehören, ihre Sprache dem nach zweischriftig ist. Ein Beispiel sind das lateinisch verschriftete Maltesisch und die (schriftlosen) m aghrebinischarabischen Dialekte, deren Sprecher, soweit sie alphabetisiert sind, sich der m odernen („hoch-“) arabischen Schriftsprache oder des Französischen bedienen. In Indien gibt es 14 zweischriftige und drei dreischriftige Sprachen; das Santali ist fünffach verschriftet (Mackey 1989, 8 f, Coulm as 1989 a, 199, 240). Im entgegengesetzten Fall gilt, daß eine Schriftsprache gegenseitige Verständlichkeit zwischen Gruppen herstellt, die sich m ündlich nicht (oder nur m it Mühe) verständigen können. Das wichtigste Beispiel dafür ist wiederum das Chinesische, das nur im Hinblick auf seine Schrift als Sprache ganz Chinas

3. Sprachgemeinschaften und Schriftgemeinschaften Vielfach sind Sprachgem einschaften und Schriftgem einschaften nicht m iteinander identisch, d. h. daß innerhalb einer Sprachgem einschaft verschiedene Schrifttypen, Schriftarten oder Schriftsystem e verwendet werden können oder daß eine Schriftgem einschaft zwei oder m ehrere verschiedene Sprachgem einschaften übergreift. Letzteres ist stets der Fall, wenn eine Schriftsprache exozentrisch verwendet wird, z. B. im Fall des Französischen im Maghreb oder in Westafrika. Es gibt aber auch weniger klare Fälle, nam entlich den, in dem unklar ist, ob Sprachverschiedenheit sowohl die gesprochene als auch die geschriebene Sprachform betrifft. Das ist z. B. beim Chinesischen nicht der Fall, und im Falle der Gegensätze zwischen dem Schweizerdeutschen und dem Standarddeutschen ist zwar unstrittig, daß dieselbe geschriebene Sprachform verwendet wird, aber sehr um stritten, ob die gesprochenen Sprachform en des Alem annischen in der Schweiz als Dialekte des Deutschen oder als eigenständige Sprache aufgefaßt werden sollen (vgl. Glück & Sauer 1992). In Fällen dieser Art ist das Thüm m elsche Paradoxon zu beachten. Es besagt, daß m an Sprachen, um sie beschreiben zu können, voneinander unterscheiden können m uß, daß m an aber andererseits, um sie voneinander unterscheiden zu können, beschrieben haben m uß (Thüm m el 1977). Dabei spielen linguistische Kriterien faktisch nur eine untergeordnete Rolle. So steht das schweizerische Ale-

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verstanden werden kann und m it Recht als „graphisches Esperanto“ bezeichnet worden ist (vgl. de Francis 1977 b, 1984; Glück 1987, 106 f; Coulm as 1989 a, 91—110, 1989 b). Es gibt also zwei- bzw. m ehrschriftige Sprachgem einschaften, und es gibt zwei- bzw. m ehrsprachige Schriftgemeinschaften. Die Beispiele für m ehrfach verschriftete m oderne Sprachen und dam it m onolinguale Zweischriftigkeit ihrer Sprecher bzw. Schreiber sind Legion. Lateinisch und kyrillisch verschriftet ist das Serbokroatische; die dialektalen Differenzen haben m it der graphischen Differenzierung nur wenig zu tun. Bis in dieses Jahrhundert hinein war es sogar dreischriftig: noch vor dem ersten Weltkrieg wurden in Bosnien Zeitungen in arabischer Graphie und serbokroatischer Sprache gedruckt (Abb. 61.6). Das Rum änische wurde bis 1990 als Moldauisch auch kyrillisch geschrieben, das Finnische bis 1940 als Karelisch. Lateinisch (in Westeuropa und — soweit erlaubt — in der

Türkei), kyrillisch (in der früheren Sowjetunion) und arabisch (in Syrien, im Irak, im Iran) wird das Kurdische gedruckt und geschrieben. Lateinisch, kyrillisch und in einem autochthonen Syllabar, das auf die (bekanntere) Missionarsverschriftung des Cree zurückgeht, druckt und schreibt m an das Eskim o in Grönland, Kanada, Ostsibirien und Alaska. Kyrillisch-arabische Zweischriftigkeit charakterisierte bis 1991 z. B. das Azerbajdžanische (in der Republik Azerbajdžan und im Iran); in Azerbajdžan wurde 1991 das Lateinalphabet eingeführt. Das Tadžikische wurde in der früheren UdSSR kyrillisch geschrieben, im Iran bzw. in Afghanistan arabisch; 1991 wurde in der Tadžikischen Republik das arabische Alphabet eingeführt. Das Mongolische (Burjatisch, Kalm ykisch, Khalkha-Mongolisch) wird in der Russischen Republik und der Mongolischen Republik kyrillisch, in der Autonom en Region (Innere) Mongolei in China im traditionellen m ongolischen Schriftsystem geschrieben. Als Bei-

Abb. 61.6: Titelblatt der in Sarajevo (Bosnien) erschienen Zeitung jenji misbah („Neuer Rosenkranz“), herausgegeben vom „Verein der bosnisch-herzegovinischen Umma“ (muslimische Gemeinschaft), vom 16. Juli 1914 (in serbischer Zeitrechnung 3. Juni 1914, in muslimischer Zeitrechnung 22. [Monatsname unleserlich] 1332)

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

spiel für partielle lateinisch- chinesische Zweischriftigkeit kann schließlich die staatlich autorisierte „Lateinum schrift“ für das Chinesische (pinyin) angeführt werden, die z. B. im Fernm eldebereich und in der Kartographie verbindlich ist.

Die Rolle von H-Varietäten im Sinne Fergusons spielten und spielen die sogenannten Weltsprachen auch und gerade im geschriebenen Medium . In bezug auf das Lateinische schrieb der Historiker Arno Borst zusam m enfassend: „Man hat m it einigem Recht das christliche Gem einschaftsgefühl des Mittelalters eine Art Nationalism us genannt, m it [...] einer Art von Nationalsprache, dem Latein. Dieses Latein selbst sollte die Sprache des Gottesvolkes sein, die Sprache einer räum lich nicht gebundenen Ideengem einschaft; doch sie war die „Muttersprache des Abendlandes„ [...], neben der sich die heranwachsenden Volkssprachen langsam und m ühsam erhoben. Das m ittelalterliche Latein [...] war eine Fach- und Sondersprache, gelehrt und zerem oniös, nur einem kleinen Kreis zugänglich, keine allem Menschlichen offene, blutvolle Sprache eines gebildeten Publikum s; erst ganz allm ählich erwuchs ein solches Publikum , und erst m it ihm wurden im Hum anism us die Volksdialekte zu lebendigen Literatursprachen. Selbst sie, erst recht aber die außereuropäischen Idiom e wurden im m er wieder als barbarisch, die Nachbarvölker und vollends die Frem dvölker häufig als Teufelskinder und Monstren em pfunden; und noch die m ündig gewordenen Laien in ihren Sprachen und Nationen hegten die gleichen Vorurteile. Die beieinanderliegenden Widersprüche wurden selten bewußt, daß m an die Juden verfolgte und ihre Sprache als älteste und heiligste feierte [...]“ (Borst 1959, Bd. II,2, S. 926). Das Englische außerhalb der anglophonen Welt, das Französische im Maghreb und in Westafrika werden von den anderssprachigen Völkern, von denen sie verwendet werden, nicht nur (m ehr oder weniger britischen und am erikanischen bzw. französischen Norm en entsprechend) gesprochen, sondern — soweit sie alphabetisiert sind — in großem Um fang auch gelesen und geschrieben. Alphabetisierung bedeutet für die Sprecher der Mehrheit aller Sprachen der Erde den Erwerb einer allochthonen Verkehrssprache, denn die Mehrheit der Sprachen der Erde ist nicht verschriftet, und ein erheblicher Teil der Sprachen, die verschriftet sind, sind keine funktionierenden Schriftsprachen. In der Bilingualism usforschung ist diese Erscheinungsform der Diglossie bisher kaum zur Kenntnis genom m en worden. Es ist offensichtlich, daß in solchen Fällen vollentwickelter doppelseitiger Bilingualismus eine Ausnahme und nicht Regel ist.

4. Schriftkontakt und Diglossie Der Fall, daß Schriftgem einschaften zwei oder m ehrere Sprachgem einschaften um fassen, ist im m er dann gegeben, wenn eine Sprachgem einschaft eine allochthone Sprache als Schriftsprache benutzt, die als Medium der m ündlichen Kom m unikation keine oder eine (funktional und sozial) stark eingeschränkte Rolle spielt (z. B. als Wissenschaftsoder Liturgiesprache), und daß die Sprache der m ündlichen Kom m unikation nicht (oder eingeschränkt auf ‘niedere’ Funktionen im Sinne des Diglossie-Begriffs) als Schriftsprache verwendet wird (werden kann); (→ Art. 60). Auch hier sind die historischen und m odernen Beispiele Legion; sie belegen den Fall des dom inant zweisprachigen Bilingualismus. Latein und Griechisch waren in der antiken Welt die beherrschenden Schriftsprachen; Latein blieb bis ins 18. Jahrhundert in ganz West-, Mittel- und Nordeuropa die vorherschende Sprache in ‘hohen’ Funktionen. Dasselbe gilt für das Arabische in der islam ischen Welt vom Maghreb bis nach Indonesien und Westchina und das Pali im buddhistischen Kulturraum , v. a. Nord- und Hinterindien. Russisch war die „internationale Sprache“ in der UdSSR; m it dem Auseinanderfallen der Union büßt es diese Funktion ein. Gleichzeitig verkleinert sich das Verbreitungsgebiet der kyrillischen Schriftart (Moldau, Azerbajdžhan, Tadžikistan; in den übrigen m ittelasiatischen Republiken und an der m ittleren Wolga wird über Alphabetwechsel debattiert). Am harisch ist „internationale Sprache“ in Äthiopien; das am harische Alphabet wird für die Verschriftung anderer Sprachen verwendet. Das Chinesische ist in Ostasien v. a. über seine Schrift seit jeher dom inierend als Quellsprache für Entlehnungen, weshalb Coulm as für das Japanische, dessen Lexik zu etwa 50% aus sinojapanischen Elem enten besteht und dessen Schriftsystem auf Tausenden von Kanji (oft um interpretierten chinesischen Schriftzeichen) und zwei Syllabaren beruht, von „a written Sprachbund“ spricht (1989, 133).

61.  Schriften im Kontakt

5. Schriftkontakt und Religion Ganz andere Problem e bearbeiten die Studien zu Zusam m enhängen zwischen religiös-politischen Differenzierungen, Sprachen und Schriftarten. In den drei Buchreligionen ist ein direkter Zusam m enhang zwischen der Sprache der jeweiligen Offenbarung und der Schriftart, in der sie festgehalten wurde, etabliert: die Kreuzsprachen der Christen (Hebräisch, Griechisch und Lateinisch), Sprache und Schrift der Gesetzestafeln vom Sinai bzw. die der Thora bei den Juden, Sprache und Schrift des Korandiktats bei den Muslim en (Moham m ed war Analphabet und brauchte Schreiber, um den heiligen Text fixieren zu können). Bei den Christen sind die Kreuzsprachen jedoch nur der gem einsam e historische Nenner; ansonsten gilt, daß so gut wie jede autokephale Kirche eine besondere Schriftart entwickelt und tradiert hat: die georgische und die arm enische, verschiedene syrische Schriftarten, die Varianten der Kirillica bei den orthodoxen Kirchen der Slaven, das Koptische bei der ägyptischen, Ge’ez bei den äthiopischen Christen usw. Noch das reichlich exotische Deseret-Alphabet der Morm onen im 19. Jahrhundert ist eine Bestätigung der Faustregel, daß es pro Schism a eine Schriftschaffung gibt (Glück 1987, 261 f). Bei den zentralasiatischen Buddhisten sind Tibetisch und Mongolisch die heiligen Sprachen, in Hinterindien ist es das Pali. Jedoch wurde in der Geschichte der Buchreligionen linguistische Ketzerei stets viel schärfer sanktioniert, wenn sie die Schriftart betraf, als dann, wenn es nur darum ging, ob m an die Glaubenswahrheiten auch in einer anderen als der jeweiligen heiligen Sprache m ündlich verkünden dürfe. Beispiele sind die Käm pfe gegen Lateinverschriftungen für „islam ische“ Sprachen (erfolglos z. B. in der Türkei, in der UdSSR, in Som alia, in Indonesien, in Bosnien, in Albanien; erfolgreich z. B. in Ägypten, in Marokko, im Iran; vgl. Meynet 1968, Baldauf 1991), das Festhalten an der hebräischen Schriftart für „jüdische“ Sprachen von Mittelasien bis Spanien (vgl. Birnbaum 1971) oder der Gegensatz zwischen „katholischer„ Antiqua, „evangelischer“ Fraktur und „orthodoxer“ Kirillica auf dem Balkan, in Ostm itteleuropa, im Baltikum und in Finnland. „Eine besonders sinnfällige Frem dheitshürde ist [...] die frem de Schrift, obwohl gerade diese Hürde, sofern es sich um eine Buchstabenschrift handelt, besonders leicht zu über-

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winden ist“, schreibt Weinrich (1985, 209) in diesem Zusammenhang. Ein schlagendes Beispiel dafür ist die gesam te Geschichte der Glagolica im Südabschnitt der Grenze zwischen dem lateinischen und dem kyrillischen Schriftraum (und — an der Grenze zu Bosnien — bis in dieses Jahrhundert auch zum arabischen Schriftraum , vgl. Abb. 61.6). Sie diente dem niedrigen röm isch-katholischen Klerus in Slovenien und Kroatien jahrhundertelang als äußeres Mittel der Abgrenzung gegen die serbische Orthodoxie einerseits, die allochthone ‘katholische’ Lateinschrift der Italiener und Deutschen andererseits. Einige Autoren, z. B. Trubeckoj (1954), legen großen Wert auf die Feststellung, daß die Glagolica zu denjenigen Alphabeten gehöre, die das Ergebnis einer freien, auf linguistischen Analysen beruhenden Erfindung seien und keine Weiterentwicklung eines bereits bestehenden Alphabets. Eine — historisch zweifellos gegebene — Schriftkontaktsituation wird dam it allerdings nur für die graphem atische Struktur dieses Schriftsystem es bestritten; daß die Schriftzeichengestalten der Glagolica anderen Vorbildern folgen, ist dam it nicht in Frage gestellt. Die m eisten Autoren nehm en an, daß die ältere Glagolica des westslavischen Bereichs im wesentlichen dem Vorbild der zeitgenössischen griechischen Minuskel folgt (z. B. Karskij 1928, 358 ff). Dazu treten Entlehnungen aus älteren vorderorientalischen Alphabeten und „freie“ Erfindungen. In der slavistischen Fachdiskussion ist im m er wieder versucht worden, die Dialektbasis für diese Verschriftung genau ausfindig zu m achen; es ist klar, daß sie im Süden des dam aligen Sprachgebiets liegt, aber ebenso klar ist, daß die einzelnen slavischen Dialekte sich zu jener Zeit noch nicht stark voneinander unterschieden haben. Trubeckoj (1954) vertritt die Meinung, daß die Suche nach einem zugrundeliegenden Dialekt m üßig sei. Die Glagolica spiegele eindeutig eine generalisierende phonologische Analyse wieder, die für den gesam ten dam aligen Sprachraum brauchbar gewesen sei. Die Kirillica ist ist zwischen dem Ende des 9. Jahrhunderts und der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts in Bulgarien entstanden. Von ihrem Bestand her sind die beiden Alphabete nicht völlig identisch. Die Schreiber beachteten jedoch in beiden System en im wesentlichen dieselben orthographischen Regeln. Ein Erklärung für das spätere Auftauchen eines weiteren, in seinen Schriftzeichengestalten so stark abweichenden System s liegt

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

darin, daß der bulgarische Hof das Bedürfnis em pfand, über eine repräsentative Monum entalschrift zu verfügen, die m it der griechischen Unziale vergleichbar war. Hierfür war die runde Glagolica kaum geeignet. Folgt m an dieser Überlegung, so ergibt sich, daß die Kirillica keineswegs eine zweite Verschriftung des Slavischen darstellt, sondern eine auf die graphische Seite beschränkte Einführung eines anderen Schriftzeicheninventars, bei der m an sich bei den Schriftzeichen-Phonem -Zuordnungen an das glagolitische Vorbild hielt. Die führte dazu, daß das Altkirchenslavische zweischriftig wurde. Modern gesagt: die phonologische Analyse, die der Glagolica zugrundeliegt, wurde für die Kirillica fast unverändert übernom m en. Das bereits existierende System wurde nach dem Vorbild der griechischen Unziale neu belegt, und die diesem Vorbild „fehlenden Zeichen für speziell slavische Laute [wurden] durch etwas vereinfachte und stilisierte Form en der entsprechenden glagolitischen Buchstaben“ ersetzt (Trubeckoj 1954, 14, vgl. auch ebd. 38 ff; Karskij 1928, 258 ff). In den ältesten Quellen sind Mischungen beider System e belegt (z. B. im Psalterium Sinaiticum und in Codex Assem anianus, wo im kyrillischen Text glagolitische Schriftzeichen vorkom m en). Dies kann als Argum ent für die Regraphem atisierungsthese Trubeckojs genom m en werden. Auch in späteren Zeugnissen finden sich in kyrillischen Texten glagolitisch geschriebene Wörter, Phrasen und ganze Satzteile (vgl. Karskij 1928, 211—213). Für die älteste Periode nim m t Karskij an, daß die Schreiber in der Regel beide System e beherrschten, denn auch nach dem Verschwinden der Glagolica im größten Teil des slavischen Sprach- bzw. Schriftgebiets finden sich im m er noch häufig kyrillisch geschriebene Randbem erkungen auf glagolitischen Dokum enten, was zeigt, daß die Glossisten solche Dokum ente lesen konnten (ebd. 363). Die Glagolica ist eines der bedeutendsten historischen Beispiele dafür, wie Schriftartdifferenzen zur religiös-nationalen Abgrenzung und Selbstdefinition eingesetzt werden können. Die röm isch-katholische und die protestantischen Kirchen haben ihre sogenannten Missionsverschriftungen fast im m er im Lateinalphabet vorgenom m en. Eine Reihe subsaharischer Sprachen, die zuvor arabisch verschriftet waren, wurden durch Missionsverschriftungen rom anisiert; dies hat oftm als zu Zweischriftigkeit geführt, weil die gleichsprachigen Muslim e bei der arabischen Verschrif-

tung blieben, z. B. in Falle des Haussa (Gregersen 1977). Ein m odernes Beispiel ist die Arbeit des Sum m er Institute of Linguistics, das ausschließlich lateinisch basierte Verschriftungen vornim m t (vgl. Grim es 1984). Die russisch-orthodoxe Mission verwandte die Kirillica zur Verschriftung vieler wolgafinnischer, türkischer und sibirischer Sprachen, die m osaische Mission verbreitete die hebräische Quadratschrift (z. B. Tatisch, BucharaJüdisch, Karaim isch, verm utlich Chazarisch, vgl. Birnbaum 1971), und wenn im islam ischen Bereich Vernakularsprachen verschriftet wurden, dann in arabischer Schriftart (iranische und kaukasische Sprachen, neuindische Sprachen, Turksprachen, Bantusprachen, Niger-Kordofanische Sprachen, austroasiatische und austronesische Sprachen, vgl. Majidi 1984, 1985). In Mittelasien geschah dies vor allem auf Kosten der „buddhistischen“ m ongolischen und tibetischen Schriftarten (Henze 1977), in Indien, Hinterindien und Indonesien auf Kosten der dort zuvor gebräuchlichen Schriftarten, die von gleichsprachigen Nicht m usli m en weiterhin verwendet wurden, soweit nicht koloniale Lateinverschriftungen sie ersetzten. Zu erwähnen sind hier auch sekundäre Verschriftungen etablierter Schriftsprachen, die auf religiösen oder politischen Motiven beruhen wie im Falle der glagolitisch-kyrillischen Doppelverschriftung des Altbulgarischen. Andere Beispiele sind die Neuverschriftung des Deutschen und des Spanischen im Hochm ittelalter in hebräischer Schriftart und die daran gebundene Herausbildung des Jiddischen und des Ladino als eigenständiger Sprachen (Birnbaum 1971), englischsprachige Zeitungen in arabischer Schriftart (für indische „Kulis“ in Süd- und Ostafrika um die Jahrhundertwende) und türkischsprachige Zeitungen in griechischer und arm enischer Schriftart für turkisierte, aber nicht konvertierte Griechen und Arm enier in der Westtürkei um die Jahrhundertwende (Glück 1987, 116 f), die Um stellung arabisch verschrifteter Sprachen auf das Lateinalphabet (das „Alphabet der Weltrevolution“), wie sie in den 20er und 30er Jahren bei einer Reihe von Sprachen sowjetischer Völker vorgenom m en worden ist. Bei den Konnationalen jenseits der Staatsgrenzen im Iran, in Afghanistan und im vorrevolutionären China galt die Lateinschrift als „kom m unistische Schrift“, alles so Gedruckte als kom m unistische Propaganda (und jeder, der es lesen konnte, als höchst verdächtig). Dieser Vorgang wieder-

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holte sich nach der Um stellung der sowjetischen Lateinverschriftungen auf die Kirillica 1936—1941 (vgl. Baldauf 1991). 6. Schriftkontakt und Öffentlichkeit: das Prestige von Schriftarten Viele bilinguale oder bilingual-diglossische Sprachgem einschaften sind als solche nicht nur dadurch charakterisiert, daß verschiedene Sprachen gesprochen werden, sondern auch dadurch, daß diese Sprachen in unterschiedlichen Schriftarten verschriftet sind. Für den Sachverhalt, daß eine zweisprachige Bevölkerung zwei verschiedene Schriftarten beherrscht, wurde der Ausdruck Zweischriftigkeit eingeführt. Ein relativ kom plexes Beispiel bietet Marokko, wo vier Einzelsprachen in der m ündlichen Kom m unikation koexistieren, näm lich 1. das m aghrebinische Arabisch („arabe dialectal“) m it sozio- und dialektaler Gliederung (vgl. Diem 1974; Fischer & Jastrow 1980, 249—265), 2. das „Hocharabische“ als gesprochene Sprachform (z. B. in Koranrezitationen, im Fernsehen und in vielen Film en ägyptisch gefärbt, in den Radionachrichten und anderen öffentlichen Dom änen) und „Zeitungsarabisch“ als geschriebene Sprachform 3. das Berberische m it sozio- und dialektaler Gliederung (die verschiedenen Ansätze zur Verschriftung des Berberischen spielen sozial keine Rolle), 4. das Französische. Nur das „Hocharabische“ und und das Französische werden geschrieben. Die Zweischriftigkeit ist allgegenwärtig im Straßenbild, an und in öffentlichen Gebäuden, an Zeitungsständen, auf Verpackungsaufdrucken usw. Weitere Beispiele sind die kyrillisch-lateinische Zweischriftigkeit im Baltikum und die Dreischriftigkeit im abchasischen Landesteil der Georgischen Republik, wo das Kyrillische (für das Russische), die georgische Sprache und Schriftart und ein kyrillisch-lateinisches Mischalphabet fürs Abchasische verbreitet sind. Alphabete sind vielfach sozialpsychologische Objekte m it verschiedenem Prestige. In den nichtlateinischen Schrifträum en z. B. (Ost-) Europas und des Mittelm eerraum es besitzt das lateinische Alphabet hohes Prestige, und die nichtlateinisch alphabetisierte Bevölkerung dieser Schrifträum e besitzt in der Regel hinreichende Kenntnisse, um lateinische Texte i. S. der oben erläuterten alphabettechnischen Zwei- bzw. Mehrschriftigkeit zu „verstehen“, d. h. etwa Produktnam en (z. B.

Abb. 61.7: Hinweisschild auf eine Baustelle an der Straße zwischen Alexandria und Marsah Matruh (Ägypten)

Abb. 61.8: Hinweisschild im botanischen Garten in Suxumi (Abchasien)

Marlboro, Toyota, Siemens, Volvo) m it Lautwerten zu versehen und sie aussprechen zu können. In den arabischen Ländern sind viele Reklam einschriften zweischriftig, d. h. daß Lernhilfen allgegenwärtig sind (z. B. 〈grub〉 ‘Krupp’,

〈bibsi kula〉

’Pepsi Cola’, 〈rinu〉 ‘Renault’). Diese Schrifträum e sind zunehm end überlagert von lateinischen Schriftvorkom m en, und ihre Bevölkerung ist alphabettechnisch gesehen weitgehend (soweit sie überhaupt alphabetisiert ist) zweischriftig. Diese Form der Zweischriftigkeit ist zu unterscheiden von Alphabetisiertheit im betreffenden Schriftsystem . Sie bezieht sich ausschließlich auf die technische Seite der Laut-Schriftzeichen-Zuordnung und im pliziert keine Beherrschung der frem den Sprache. Bei der Erörterung der soziologischen und politischen Ursachen für diese Ent-

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 61.10: Österreichischer Bierdeckel

Abb. 61.9: Fluggastinformation der Lufthansa

wicklungen ist die alphabet- und sprachpolitische Geschichte einiger Sprachen in diesem Raum im 20. Jahrhundert zu berücksichtigen. Ähnliche Verhältnisse bestehen in Indien und in den nichtlateinischen Schrifträum en Ostund Südostasiens.

Die kontrastive (konfrontative) Sprachwissenschaft hat die geschriebene Form von Sprachen bisher weder theoretisch ernstgenom m en noch im Bereich der Em pirie erforscht (abgesehen von einigen Arbeiten zur „Fehleranalyse“, die sich auf geschriebene Texte stützen, und Arbeiten zum „Schreiben in der Frem dsprache“, z. B. Lieber & Posset 1988). Es scheint ihr entgangen zu sein, daß sich die faktischen Verhältnisse einschneidend verändert haben. Die öffentliche Verwendung und Präsentation verschiedener Schriftarten in ehedem geschlossenen Schrifträum en hat im Laufe der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts dram atisch zugenom m en. Hinweisschildern an Straßen und Gebäuden (Abb. 61.7,8), auf Flughäfen und Bahnhöfen, in Flugzeugen und anderen Verkehrsm itteln (Abb. 61.9), Schriftvorkom m en in der Werbung (Abb. 61.10) und im Fernsehen, Beschriftungen von Produktverpackungen, Gebrauchsanweisungen, am tliche Dokum ente, z. B. Banknoten, Brief m arken, internationale Führerscheine usw. sind vielfach vielsprachig und vielschriftig. (Abb. 61.11—13). In vielsprachigen und vielschriftigen Ländern ist die Verwendung einzelner Schriftsprachen in am tlichen wie privaten (wirtschaftlichen) Funktionen vielfach durch explizite sprachenrechtliche Bestim m ungen geregelt, d. h. daß Gebote und Verbote gelten. Die bisher um fassendste Studie zu solchen Fragen trägt den aussagekräftigen Titel „La guerre des langues dans l’affichage“ (Leclerc 1989).

61.  Schriften im Kontakt

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Abb. 61.11: Chines. Banknote. Recto chinesische und lateinische (pinyin) Wertangabe, verso Name der Notenbank in mongolischer, tibetischer, arabischer und lateinischer Schriftart

Um 1985 waren in Europa und Nordam erika pseudokyrillisch beschriftete Kleidungsstücke en vogue, bei denen nicht einm al die Gestalt der Schriftzeichen korrekt war. Besonders bei Produktbezeichnungen und in der Reklam e findet sich gegenwärtig eine Vielzahl von graphischen Cam ouflagen, die auf den Aufm erksam keitwert des Frem den spekulieren (z. B møbel, knæckebrød, toys„я„us). Französische Schreibungen dom inieren international z. B. bei Produktnam en im Kosm etik- und Modebereich, englische Schreibungen z. B. in Bereichen wie elektronischen Produkten, UMusik und Tourism us, während im gastronom ischen Bereich in Deutschland eine ganze Reihe von Sprachen Quelle von Frem dschreibungen geworden ist. In diesem Kontext ist auch das Problem des Prestiges einzelner Schriftarten zu erörtern, das keineswegs gleichzusetzen ist m it dem Prestige einzelner Schriftsystem e. Es gibt offenbar (i. S. des Diglossiebegriffs Fergusons) auch bei Schrift-

system en sozialpsychologische Bewertungsroutinen nach H (high) und L (low), also Hund L-Schriften. Die lateinische Schriftart ist offenbar weltweit eine H-Schriftart, während andere Schriftarten und -system e im lateinischen Schriftraum Europas sehr unterschiedlich und situationsspezifisch eingeteilt werden. So werden chinesische Schriftzeichen auf der Speisekarte eines Restaurants in Europa sicher anders wahrgenom m en (als kalligraphischer Schm uck) als in einem Com puterhandbuch (dort wird m an sie für eine technische Erläuterung in japanischer Sprache halten). Eine Reihe westafrikanischer Sprachen wurde auf ausdrücklichen Wunsch (der Elite) ihrer Sprecher bei ihrer Verschriftung nicht nur auf die lateinische Schriftart festgelegt, sondern auch (m öglichst weitgehend) an das Schriftsystem der jeweiligen Kolonialsprache angenähert, was nur sozialpsychologische Gründe haben kann, näm lich den Wunsch nach Partizipation am Prestige des

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 61.12: Ägyptische Banknote. Verso arabische, recto englische und (pseudo-)hieroglyphische Beschriftung

Vorbilds. Für einige afrikanische Sprachen gibt es deshalb verschiedene Lateinverschriftungen, die an den Schriftsystem en der (ehem aligen) Kolonialsprachen orientiert sind, z. B. für das Haussa (in Nigeria am Englischen, in Niger am Französischen orientiert). Der bedeutende Afrikanist Carl Meinhof hielt dies für ein wünschenswertes Prinzip und schlug z. B. vor, [ʃ] in den englischen Kolonien als 〈sh〉, in den französischen als 〈ch〉 und in den portugiesischen als 〈x〉 zu schreiben (Gregersen 1977, 424).

7. „Fremdgrapheme„: Schriftkontakt im Schriftsystem Der Fall des intralingualen Schriftkontakts wird oft m it dem Stichwort „Frem dgraphem „ bezeichnet. Gem eint sind Schriftzeichenentlehnungen aus einer anderen Schriftart und einige Typen von Frem dwortschreibungen, bei denen Schriftzeichenverbindungen auftreten, die nach den graphotaktischen Regularitäten des entlehnenden Schriftsystem s unzulässig sind und die deshalb als frem d wahr-

61.  Schriften im Kontakt

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Abb. 61.13: Äthiopische Banknote. Verso amharische, recto englische und amharische Beschriftung

genom m en werden. Vielfach werden bei der Verschriftung einer Sprache, bei einem Alphabetwechsel oder einer Alphabetreform als notwendig betrachtete Ergänzungen des Basisalphabets vorgenom m en, wodurch gem ischte System e entstehen können. Ein Beispiel sind die glagolitische und die kyrillische Schriftart, die aufgrund offensichtlicher phonologisch begründeter Bezeichnungsnotwendigkeiten von Anfang an eine Reihe zusätzlicher Schriftzeichen aus vorderasiatischen Alphabeten inkorporierten (z. B. hebr. ‫ ש‬als kyrill. ш /ʃ/). Das Koptische stellt eine Neuverschriftung des (Alt-) Ägyptischen auf griechischer Basis dar (seit dem 2. Jh. n. Chr.). Aufgrund phonologischer Bezeichnungsnotwendigkeiten blieben sieben Schriftzeichen

des Dem otischen erhalten. Im lateinischen Schriftraum sind die Integration runischer Schriftzeichen zur Bezeichnung zweier interdentaler Frikative ins Schriftsystem des Isländischen zu nennen. Viele kyrillische Verschriftungen von Sprachen in der früheren Sowjetunion weisen Frem dgraphem e aus dem Lateinalphabet auf, z. B. 〈h〉 zur Bezeichnung des behauchten Vokaleinsatzes im Azerbajdžanischen, Baškirischen, Uighurischen und Kazachischen (Tabellen in Musaev 1965). Unkom pliziertere bilaterale Fälle von exoglossischen Schreibungen sind z. B. graphische Gallizism en im Englischen (to play a rôle, élite) oder im Deutschen (Claqueur, Fauxpas, Portemonnaie, vis-à-vis, prêt-à-porter). Es handelt sich hierbei darum , daß Lexem e oder

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Lexem verbindungen in der Graphie der Quellsprache in die entlehnende Sprache übernom m en werden; inwieweit die phonetische Realisierung solcher Entlehnungen davon berührt wird, steht hier nicht zur Debatte. In vielen Sprachen sind diese Fälle in der Weise geregelt, daß die quellsprachliche Schreibung nach den Regularitäten der entlehnenden Sprache regraphem atisiert wird, d. h. entlehnt wird eine (assim ilierte) Lautform , der dann eine passende geschriebene Form zugewiesen wird. So wird z. B. in den slavischen Sprachen, im Schwedischen (z. B. resebyrå ‘Reisebüro’, miljø ‘Milieu’), Arabischen (z. B. [si:nem a:] ‘Kino’, [bru:va, pro:va] ‘((Theater-)Probe)’, Türkischen (z. B. otobiz ‘Autobus’, tiyatro ‘Theater’) verfahren. Beispiele sind für das Russische etwa folgende Fälle: dt., frz. [y] (dt. 〈ü〉, frz. 〈u〉) wird zu russ. /ju/ ю, z. B. resumé — ресюмé, sujet — сюҗeт, Tüll — тюль, Dünen — дюны; dt., engl. [u] 〈u〉 nach Konsonanten, die als [+ pal] interpretiert werden, zu /K′_u/ ю, z. B. Lumpenproletariat — люмпен-пролетариат, Luxemburg — Люксем бург, New York — Ныю Йорк; dt., engl. (griech.-lat.) [h] 〈h〉 wird zu russ. /g/ г und /x/ x, z. B. Halstuch — галстук, Heinrich Heine — Гейнрик Гейне, Goethe — Гёте, Hegel — Гегель, Hooligan — хулиган; engl. /dʒ/ /tʃ/ 〈g〉, 〈ch〉 vor Vokal zu russ. /dʒ/ дж, /tʃ/ ч, z. B. Georgia — Джордҗия, Chelsea — Чельси. Man hat im Schriftsystem dieser Sprachen das Prinzip der Verm eidung von Frem dgraphem en und Frem dschreibungen gewählt. Im Deutschen, Englischen und Französischen herrscht das entgegengesetzte Prinzip der Erhaltung der quellsprachlichen Schreibung bei Entlehnungen aus lateinisch basierten Graphien vor. Die m eisten Autoren, die sich in neuerer Zeit m it der Analyse des graphem atischen und phonotaktischen System s des Deutschen befaßt haben, sind den darin liegenden Problem en durch Nichtbeachtung aus dem Wege gegangen und haben sich auf den unhaltbaren Standpunkt gestellt, daß m an die sog. Frem dwörter aus dieser Analyse ausklam m ern könne. Er ist aus zwei Gründen unhaltbar: erstens sind „Frem dwort“ oder „frem des Wort“ keine extensionalen Kategorien, auf deren Basis eine nachprüfbare Klassifizierung des deutschen Wortschatzes in einheim ische und frem de Wörter m öglich wäre, und zweitens widerspricht er aller Em pirie, denn er schließt einen erheblichen Teil des deutschen Kernwortschatzes einfach aus der Analyse

aus. Es ist m ir nicht bekannt, daß in den graphem atischen Diskussionen zum Englischen, Französischen oder Russischen ähnliche Standpunkte vertreten würden. Für das Deutsche hat Heller (1981) für den im „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ dokum entierten Wortschatz fast 200 „Frem dgraphem e“ erm ittelt; diese Zahl erhöhte sich bei der Auswertung eines Frem dwörterbuchs auf etwa 300. Besonders häufige Fälle sind z. B. die th-, rh- und ph-Schreibung, die ausschließlich in Lexem en griechischen Ursprungs vorkom m t (z. B. Phosphor, Rheuma, Theke), die eu-Schreibung in Gallizism en (z. B. Amateur, Chauffeur, Milieu; die Duden-Regelungen, wann das konkurrierende 〈ö〉 zu schreiben ist, sind weitgehend willkürlich), 〈ou〉, 〈ai〉, 〈au〉, 〈eau〉 in Gallizism en (Tour, Roulade; Portemonnaie, Palais; Niveau, Plateau) und schließlich die unübersichtlichen und für Menschen ohne Kenntnisse der Quellsprache undurchsichtigen Regelungen der c-Schreibungen (z. B. clever, Computer; City, Service; Cello, ciao (neben ‘tschau’ im Rechtschreibduden 1991). Die sog. „rechtschreiblichen Eindeutschungen“ (z. B. Streik, Keks, Frisör) sind von vergleichsweise geringer Zahl. Besondere Schwierigkeiten treten im m er dann auf, wenn solche Frem dschreibungen m ündlich realisiert werden m üssen, etwa von Nachrichtensprechern im Radio oder im Fernsehen, wenn sie Eigennam en aus Sprachen vorlesen m üssen, die sie nicht beherrschen (z. B. Ortsnam en wie Szczecin, Zabrze, Krk oder Personennam en wie Wałęsa, Hlavácěk, Hrdlička). Sehr viel kom plizierter werden die Verhältnisse, wenn solche Schriftkontakte und graphischen Lehnbeziehungen zwischen verschiedenen Sprachen diachronisch betrachtet werden. Dies soll am folgenden Beispiel illustriert werden. mI griechisch-lateinischen Schriftrau m scheint es sich so zu verhalten, daß ein einm al etabliertes Schriftzeichen in solchen Fällen, in denen es bei Neuverschriftungen nach phonologischen Gesichtspunkten überflüssig ist, gewisserm aßen als Verfügungsm asse beibehalten und bei Bedarf regraphem atisiert wird. Ein Beispiel für zyklische Regraphem atisierung ist das lateinische Schriftzeichen 〈q〉. Es geht zurück auf das griechische Koppa (Qoppa) 〈〉, das seinerseits aus dem phönizischen Qof 〈ϕ〉 /q/ abgeleitet ist. In den ältesten griechischen Inschriften wird es zur Repräsentation von /k/ vor den hinteren runden Vokalen verwendet, z. B. attisch εὐδιός

61.  Schriften im Kontakt

‘gerecht’ (Allen 1968, 15), καόν ‘schlecht’ (Sturtevant 1939, 221). Nach der Einführung des attischen Alphabets (403/402 v. u. Z.) wurde 〈〉 nicht m ehr in Graphem funktion verwendet, behielt aber als Zahlzeichen (für 90) seinen Platz in der Alphabetreihe zwischen П (für 80) und P (für 100). „It survived in the West Greek alphabet, and thence as the Q of Latin (cf. Quintilian i.4.9.)“ (Allen 1968: 15). Im Lateinischen wurde das Koppa regraphem atisiert als 〈Q〉 /k°/ m it der späteren Minuskelform 〈q〉. Hirt (1927/I, 227 ff) geht davon aus, daß im Indogerm anischen eine labialisierte Reihe bei den velaren Okklusiven (Labiovelare, „Gutturale m it u-Nachschlag“) anzusetzen sei, die weiterhin vielfach nach der Palatalitätskorrelation differenziert sei. Er zitiert eine Vielzahl von Belegen. Lediglich im Lateinischen und in germ anischen Sprachen ist sie teilweise erhalten geblieben. Allen (1968, 30) setzt auch für das Protogriechische Labiovelare an und gibt Beispiele für entsprechende Schreibungen aus m ykenischen Inschriften. Radke (1967, 411 f) zitiert altertüm liche lateinische Beispiele für solche Schreibungen, z. B. pequnia ‘Geld’, qottidie ‘täglich’. Im Gotischen existierten für die Phonem e /q/ und /h°/ (aus idg. /k°/) besondere Graphem e: 〈⋃〉 und 〈⊙〉. Im Altnordischen, Altenglischen und Dänischen ist dieser Sachverhalt noch in den Schreibungen 〈hv〉 bzw. 〈hw〉 angedeutet. Die Frage der m onophone m atischen Interpretation von /k°/, regelm äßig durch 〈qu〉 repräsentiert (entsprechend für 〈gu〉 /g°/, etwa in lingua /liŋg°a/ ‘Zunge, Sprache’), wird fürs Lateinische seit langem diskutiert und ist um stritten. Sturtevant (1920/1968) vertritt die m onophonem atische Wertung u. a. m it dem Argum ent, daß /k°/ nie positionslang sei, was /kv/ wäre; ähnlich Niederm ann (1953, 87), Brandenstein (1951, 487), Bonioli (1968, § 21) und Allen (1978, 16—20). Die entgegengesetzte biphonem atische Interpretation von 〈qu〉 als /kv/ wird vor allem in der älteren Forschung vertreten, z. B. von Seelm ann (1885: 337 ff), und Kent (1932, § 47). Voegelin & Voegelin (1961, 65) klassifizieren 〈q〉 in diesem Sinne als eines „of the three allographs for /k/“ und nehm en diesen Fall als Beleg dafür, daß die Graphie des klassischen Latein „overdifferenciates — it carries a burden of excess baggage“ (ebd. 87). Das strukturelle Hauptargum ent für die m onophonem atische Wertung der Phonem entsprechung von 〈qu〉 im Lateinischen ist

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die Tatsache, daß /k°/ und /g°/ keine positionslangen Silben ergeben, was für alle anderen Kom binationen eines Konsonanten m it /v/ regelm äßig gilt, z. B. advērsus ‘gegen’, sīlva ‘Wald’. Gestärkt wird dieses Argum ent durch Belege aus Schriften antiker Gram m atiker, nach denen 〈v〉 in 〈qv〉 und 〈gv〉 „nec vocalis, nec consonans“ (‘weder vokalisch noch konsonantisch’) sei (vgl. Bonioli 1962, 83). Die Fachdiskussion hat in der Frage der Entstehung des 〈G〉 ein Zentrum . Die Anhänger der These von der „etruskischen Entlehnung„ sehen im lateinischen 〈G〉 ein wesentliches Argum ent für die m onophonem atische Wertung von /q/. Die Inschrift des lapis niger, die älteste Inschrift in lateinischer Sprache, folgt näm lich nach etruskischem Vorbild der Konvention, 〈k〉 vor 〈a〉, 〈o〉 und am Wortende, 〈c〉 vor 〈e〉 und 〈i〉 und 〈q〉 vor 〈u〉 zu schreiben (vgl. Jensen 1968, 514 f). Die These von der „etruskischen Entlehnung“ wird inzwischen der These von der „Parallelentlehnung“ aus dem etruskischen und westgriechischen Alphabeten vorgezogen. — Im Lateinischen scheint die labiale Koartikulation im 2. bis 4. Jahrhundert n. Chr. geschwunden zu sein, wenn auch nicht im gesam ten Sprachgebiet. Sie hat sich im Italienischen, Spanischen und Portugiesischen in der Position vor /a/ erhalten, z. B. ital. quando [k°ando] ‘wann’, uguale [ug°ale] ’gleich’, span. cual [k°al] ‘welch’, lengua [leng°a] ‘Sprache’ usw.). Im Französischen sind die Verhältnisse kom plizierter. Die Restitution der labialen Koartikulation geht auf sprachpflegerische Bem ühungen hum anistischer Gelehrter wie Petrus Ram us (1515—1572) zurück. In vielen Fällen korrespondiert 〈qu〉 m it /k/, z. B. in qualité ‘Qualität’, quotidien ‘täglich’, in anderen Fällen wurde die Schreibung 〈c〉 für das lateinische 〈qu〉 verwendet, z. B. carré (lat. quadratum ) ‘Viereck’, comme (lat. quom odo) ’wie’, cinq (lat. quinque) ‘fünf’. In weiteren Fällen schließlich wurde die /k°/-Variante reetabliert, z. B. in quarto ‘viertens’, aquarium ‘Aquarium ’, quintal ‘Zentner’ (vgl. Bonioli 1962, 86). Eine praktische Konsequenz aus der m onophonem atischen Interpretation zog der englische Hum anist Thom as Gataker (1574— 1654). In einer 1646 erschienenen Schrift argum entiert er, daß die Schreibkonventionen der Antike innere Stim m igkeit besitzen m üßten, weil die lateinischen Quellen schließlich von den Leuchten der klassischen Literatur und Gelehrsam keit verfaßt seien (De diphthongis sive bivocalibus Deqe Literarum

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

qarundam sono germ ano, natura gem ina, figura nova, idonea, scriptura veteri, veraqe, zitiert nach Drerup 1930/32, 135 ff). Folglich seien Eins-zu-Eins-Korrelationen von Buchstaben und Lautwerten anzusetzen. Für das fragliche Problem schlägt er eine ganz unklassische Lösung vor: weil 〈q〉 das darin enthaltene [u] bereits ausdrücke, brauche es nicht länger als 〈qu〉 geschrieben zu werden. Entsprechend schreibt Gataker qasi, qod, qis, qanqam usw. Ähnlich sah im 18. Jahrhundert der deutsche Orthographietheoretiker Friedrich Gottlieb Klopstock (1724— 1803; „Schreib, wie du sprichst!“) die Sache und plädierte für Schreibungen wie 〈Qal〉, 〈Qelle〉, 〈qer〉. Einige seiner Zeitgenossen wollten das 〈q〉 lieber abschaffen und durch eine bigraphem atische Lösung 〈kw〉 ersetzen; auch die Schreibung 〈gw〉 war in der Debatte (vgl. Jellinek 1913, 291; Jellinek 1930, 20; Müller 1989, 32 ff). Das Problem ist nicht gänzlich inaktuell. Der Buchstabe 〈q〉 bzw. 〈Q〉 wird fürs Deutsche üblicherweise als Bestandteil eines kom binierten Graphem s 〈qu〉 bzw. 〈Qu〉 analysiert, dessen erster Bestandteil bei der Erstellung von Graphem inventaren für das Deutsche ein Problem darstellt (vgl. Günther 1988, 77; Eisenberg 1988, 142, 144). Es existiert jedoch im Prinzip die Alternative der m onophonem atischen Wertung, denn m an kann entweder, wie das üblich ist, eine Phonem folge /kv_V/ ansetzen, oder m an analysiert einen labialisierten Okklusiv /k°_V/, der m it dem nichtlabialisierten /k/ kontrastiert, also entweder /kva:l/ oder /k°a:l/. Entsprechend ließe sich auf der phonologischen Ebene in gewissen Fällen statt der Folge /gv_V/ ein /g°_V/ ansetzen (/lŋgvistk/ vs. /lŋg°istk/), die allerdings auf der Graphem ebene keine Entsprechnung hat (〈g〉: 〈gu〉 vs. 〈k〉:〈qu〉). Die Annahm e von Labiovelaren als Phonem en des Deutschen hätte den Vorzug, daß die Notierung einfacher würde, aber den Nachteil, daß das Phonem system kom plizierter würde, weil diese Korrelation nur bei den velaren Okklusiven angenom m en werden könnte. Sie hätte außerdem den Mangel, daß sie in phonetischer Hinsicht nicht überm äßig realistisch ist. Würde m an dennoch diese phonologische Interpretation wählen, dann m üßte der Buchstabe 〈q〉 als Bestandteil des kom binierten Graphem s 〈qu〉 bestim m t werden (entsprechend 〈g〉 in Fällen wie 〈Linguistik〉), während m an 〈q〉 (und entsprechend 〈g〉 in den genannten Fällen) als po-

sitionsbedingte Variante von 〈k〉 auffassen m üßte, der die Repräsentation der Phonem folge /kv/ (und entsprechend /gv/) obliegt. 〈q〉 wäre dann eine allographische Variante von 〈k〉. Im Falle des 〈q〉 hat m an es m it einer historisch langfristigen und eine Vielzahl einzelsprachlicher Schriftsystem e in unterschiedlicher Weise betreffenden Entwicklung zu tun. Um 〈q〉 als Frem dgraphem zu qualifizieren, m uß der jeweilige Bezugspunkt der Entlehnung (oder Nicht-Entlehnung) konkretisiert werden; es gibt eine Reihe lateinisch basierter europäischer Schriftsystem e, in denen das 〈q〉 nicht vorkom m t, z. B. in den m eisten slavischen Sprachen mit lateinischer Graphie. 8. Perspektiven Die Ausführungen über Schriftkontakt im Schriftsystem des vorigen Abschnitts endeten in sehr speziellen Fragestellungen, deren system atische Bearbeitung aussteht. Ihr Zweck ist eine exem plarische Dem onstration des Sachverhalts, daß Problem e des Schriftkontakts nicht nur bei Sprachvergleichen auftreten, sondern auch für Analysen der Struktur von Einzelsprachen von Bedeutung sind. Das Studium von Schriften im Kontakt hat som it neben den vier im einleitenden Abschnitt dieses Artikels genannten linguistischen Teildisziplinen eine weitere Dom äne im Zentrum linguistischer Forschung: die Gram m atik von Einzelsprachen, nam entlich Phonologie/Phonematik, Morphologie und Lexikologie. Der Gegenstand der Forschung über Schriften im Kontakt ist also weit gefächert: von der em pirischen Universalienforschung über die vergleichende und typologische Forschung zur kontrastiven und zur einzelsprachbezogenen Gram m atik. Einige der Fragestellungen, die Schriftkontakte betreffen, sind traditionelle Them en in den genannten Forschungsgebieten, jedoch in der Regel in Form ulierungen bzw. in Methodologien gekleidet, die das Spezifikum m eist undifferenziert behandeln, das Spezifikum , daß Sprachen in geschriebener Form in Kontakt zueinander treten. Andere Fragestellungen sind unbearbeitet, werden bislang als außerhalb des Gebietes der Sprachforschung liegend oder in system atischer Hinsicht uninteressant betrachtet. So bleibt es der weiteren Forschung überlassen, Schriften im Kontakt als em pirisches und theoretisches Arbeitsfeld weiter zu verm essen und als eigenständiges Forschungsgebiet zu etablieren.

61.  Schriften im Kontakt

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Helmut Glück, Bamberg (Deutschland)

62.  Demographics of Literacy

767

62. Demographics of Literacy 1. 2. 3. 4. 5. 6.

1.

Introduction Statistical indicators of world literacy Functional literacy: what can be measured? Methodological issues in literacy assessment Perspective References

Introduction

During the past decades there has been an increasing societal concern about literacy developm ent throughout the world. Though there is a great diversity in both the distribution and degree of (il)literacy in different parts of the world, there has been an increasing general awareness of the num bers of illiterates and the consequences of being illiterate for personal life. Literacy policies initiated by the local authorities in various countries have brought about literacy cam paigns, including basic education, in order to reduce the proportion of illiterates. Initiatives began to focus on the functional dim ensions of, and the personal needs for, literacy. It was acknowledged that literacy program s should recognize the different realities of diverse groups of learners. Since the past decade there is also a clear tendency to com bine the forces for literacy education world-wide in order to pursue regional program s and to increase technical cooperation. One of the consequences of the increasing focus on literacy developm ent has been the encouragem ent of research. Advancem ents in research during the past decades gave way to new definitions and m odels of literacy, incorporating personal and social needs. From this new line of research our insight into the distribution, the consequences and the causes of illiteracy has greatly been enlarged. At the sam e tim e, research helped to docum ent and reflect on the effectiveness of literacy education. In the present article the dem ography of literacy is dealt with. First of all, a review will be given on statistical indicators of literacy throughout the world. After a historical perspective on the collection of literacy data, the distribution of literacy in developing and industrialized societies will be exam ined. Furtherm ore, the question will be raised how literacy can be defined. After a historical perspective on definitions of literacy it will be explored how the com petence of functional

literacy can be m odeled. In addition, m ethodological issues in literacy assessm ent will be reviewed. Both validity problem s and m easurem ent problem s will be highlighted. Moreover, specific problem s related to the cross-cultural assessm ent of literacy will be discussed. Finally, a perspective on literacy assessment will be presented.

2.

Statistical indicators of world literacy

2.1. The spread of literacy Literacy can be seen as an im portant m arker of social and cultural change. Num erous parallels can be found between the history of literacy and changes in econom ic developm ent, industrialization and political dem ocracy. Thus, literacy is often seen as a m ean to transform underdeveloped societies into developed ones. However, it is not necessarily true that developm ent depends directly on high rates of productivity from system s of form al education. According to Graff (1994), societies have followed, just like individuals within societies, varying paths toward achieving rising levels of popular literacy and econom ic developm ent. While in Sweden people had high literacy levels even before the industrial revolution, in Great Britain the literacy levels were low during the period of fast econom ic growth and tended to increase as a consequence of technological growth. A substantial part of literacy research has focused on surveying literacy levels in a certain com m unity. The term ‘illiteracy’ is usually reserved for those lacking in knowledge of written language, without being able to read and write a short statem ent on their everyday life. From global surveys (i. e. Unesco 1983; 1990 a, b) it is estim ated that today there are alm ost one billion illiterates in the world (alm ost 27 percent of the adult population). Fig. 62.1 displays the geographic spread of illiteracy throughout the world. There is also a great gender disparity in relation to literacy. Over 60 percent of the world’s illiterates are wom en. This disparity is m ost apparent in developing societies. Fig. 62.2 shows the illiteracy rates by region and sex as estim ated by Unesco in 1990. The prospects of literacy are not very hopeful, if we com pare statistics on literacy levels in the

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

768

Fig. 62.1: Illiteracy rates around the world (source: Unesco Office of Statistics, 1985)

Table 62.1: Estimated number of adult illiterates (in millions and in proportions) in developing countries in the period 1985—2000 Sub-saharan Africa Arab States Latin America/the Carribean East Asia South Asia

1985 133.6 (59.1) 58.6 (54.5) 44.2 (17.6) 297.3 (28.7) 374.1 (57.7)

course of tim e. In relative term s, com paring the num ber of illiterates to the total adult population, the illiteracy rate is going to drop, reaching 22 percent in the year 2000. However, in spite of the fact that large-scale literacy program s have been initiated, including com pulsory schooling, the absolute figures of illiterates have continuously increased. At the sam e tim e, the gender disparities concerning illiteracy in different regions have constantly widened. 2.2. Literacy in developing societies There is a high correlation between illiteracy on the one hand, and poverty and infant m ortality on the other. More than 95 percent of all illiterates live in the so-called developing societies (for an overview, see Unesco 1990 a,

1990 138.8 (52.7) 61.1 (48.7) 43.5 (15.2) 281.0 (24.0) 397.3 (53.8)

2000 146.8 (40.3) 65.8 (38.1) 40.9 (11.3) 233.7 (17.0) 437.0 (45.9)

b, Nascim ento 1990). It is estim ated that, in developing countries taken as whole, one out of three adults will be illiterate. The highest proportions of illiterate people have been noted in Southern Asia (54 percent), SubSaharan (53 percent), the Arab States (49 percent), Eastern Asia (24 percent), and Latin Am erica and the Carribean (15 percent). It is expected that in the year 2000 the illiteracy rates will drop to a low level in Latin Am erica and in East Asia, while in the other regions the m agnitude of illiteracy will persist. Table 62.1 gives the absolute and relative num bers of adult illiterates in developing societies, estimated by Unesco (1990 b). In 48 of the 102 countries classified as ‘developing’ the illiteracy rate exceeds 40 percent. 29 of these are Sub-saharan countries

62.  Demographics of Literacy

769

tries is that the older generations have the highest illiteracy rates. This can be explained from the fact that they have not had the sam e educational opportunities as younger generations nowadays have. Today’s world statistics also show that m ore than 100 m illion children up to age 12 have never had a chance to participate in elem entary education, and are at risk to becom e the illiterates of the next century. In the least developed societies, 52 percent of all school-aged children are not enrolled in a school program . The proportion of children lacking any form of schooling is in Southern Asia 39 percent, in the Arab States 30 percent, in Eastern Asia and Oceania 19 percent and in Latin Am erica and the Carribean region 18 percent. Over all, only four out of ten children in developing countries succeed in com pleting prim ary school. In a num ber of industrialized countries com pulsory education has not yet achieved. Moreover, m any students in prim ary education show m ore or less severe problem s in acquiring the basic skills of reading, writing, num eracy and problem solving. 2.3. Literacy in industrialized societies

Fig. 62.2: Illiteracy rates by region and sex (source: Unesco Office of Statistics, 1990)

and four densely populated South Asian countries. India (29.1%) and China (23.1%) m ake up a large part of the total num ber of illiterates in the world. It has also becom e evident that there is an enorm ous gender disparity. About two-third of the illiterate population is fem ale. In the least developed societies the proportion of illiterate wom en is estim ated to be alm ost 80 percent. 28 countries in Africa and 17 countries in Asia even show a fem ale illiteracy rate above 90 percent. There are also large differences in illiteracy rates between urban and rural populations. In m ost developing countries illiteracy rates are twice as high as in urban areas. Finally, there are differences by age. The general pattern in developing coun-

In industrialized societies there is also evidence of continuous literacy problem s. Because of increasing societal dem ands, the literacy standards in industrialized societies have becom e higher. While the width of literacy has greatly been enlarged during the past century, to be literate has becom e m ore and m ore urgent for the individual. Rapid social and technological changes have sharply increased the literacy dem ands on the part of the citizen during the past decades. Meanwhile, econom ic crises have resulted in increased dem ands on literacy levels (Resnick & Resnick 1977, Mikulecky 1990). Even in the case of com pulsory prim ary education, m any people do not reach a level of com petence in literacy which is sufficient to cope with everyday dem ands. Literacy problem s appear to occur am ong various groups in the society, both indigenous and non-indigenous, urban and rural. In m ost industrialized countries the occurrence of such problem s am ong native speakers was totally ignored (Freynet 1987, Bhola 1989). The general educational policy em phasized m ainly on getting children into school and preventing drop-outs at school. Only in recent years was it realized that the establishm ent of a universal school-

770

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

ing system does not guarrantee a sufficient literacy level for all. Gradually, it was accepted that adult basic education with the provision of literacy incorporated is needed. The result was that m any reports on basic needs am ong adult populations in different countries came out. In Europe illiteracy is generally regarded as a serious problem , while in m ost European countries there is a well-established system of com pulsory education. It is interesting to note that in Eastern European countries, including the USSR, effective short-term cam paigns have been em phasized alongside the developm ent of schooling (Bron and Bron-Wojciechowska 1983, Kabatchenko & Yasnikova 1990). In the Mediterranean countries (Greece, Italy, Portugal, Spain) the em phasis was m ainly on getting children into school, preventing drop-outs at school and providing illiterate adults with basic educational resources. In m ost Western European countries, on the other hand, the developm ent of adult literacy has been m arginal. In the United Kingdom the adult literacy cam paign of 1976, drawing m ore than 150,000 adults, turned out to be an im portant awareness-raising effort. However, in such countries as Belgium , Germ any, France, Switzerland and Luxem bourg, the occurrence of literacy problem s am ong native speakers was totally ignored (Freynet 1987). Only in recent years was it realized that the establishm ent of a universal schooling system does not guarrantee a sufficient literacy level for all. Gradually, it was accepted that adult basic education with the provision of literacy incorporated is needed. The result was that m any reports on basic needs am ong adult populations in different countries cam e out (see Giere 1987, Hautecoeur 1990, Freynet 1987, Ham ilton 1987, Fuchs-Bruninghoff, Kreft & Kropp 1986, Goffinet & Van Dam m e 1990, Lim age 1990, Ham m inck 1990). The estim ated proportions of people with literacy problem s in the various countries ranged from 5% (The Netherlands) to 23% (Greece). Research am ong populations in the United States has shown that a relatively high level of illiteracy is com patible with high levels of technological advancem ent and econom ic developm ent. A literacy survey was carried out in the seventies, showing that 23 m illion adults lack basic literacy com petencies and a further 34 m illion function at a low literacy level (Northcutt 1975). In a m ore recent re-

port by the National Assessm ent of Educational Progress it was found that 96 percent of respondents between 21 and 25 years were at least able to locate a single fact in a news article or write a brief description of a job they would like to have. However, substantial num bers had not m astered m ore com plex literacy tasks such as interpreting the m ain argum ent from a lengthy newspaper or using a catalog to calculate the cost of several item s and fill out an order form . Moreover, there was a great disparity as regards ethnicity. Whites were m ore likely than Blacks or Hispanics to have m arked increasingly difficult literacy tasks. In Canada the Southam Literacy Survey took place in 1987 in which a sam ple of people aged 16 to 69 was tested in reading, writing and num eracy. Four levels were distinguished. Canadians at level 1 and 2 are described as having skills too lim ited to deal with everyday literacy dem ands. Those at level 3 have a literacy com petence enabling them to handle literacy dem ands within in a lim ited range. Those at level 4 have sufficient skills to m eet everyday requirem ents. 62 percent of the population scored at level 4, 22 percent at level 3 and 16 percent at the bottom levels 1 and 2. However, the survey can be criticized in that transient populations and immigrants were not included. In Japan the illiteracy rate turns out to be less than one percent. Thus it is shown that it is possible to achieve high literacy levels with a non-alphabetic writing system . That is why Coulm as (1994) concluded that structural features of the writing system are of less im portance for the prom otion of literacy than socio-econom ic and cultural factors. The vast m ajority of Japan’s illiterates can be divided into two groups of people: the Buraku people, a Japanese m inority group which has been discrim inated for a long tim e, and Korean residents. Both groups are m arginalized and discrim inated and exhibit above average illiteracy rates.

3.

Functional literacy: what can be measured?

3.1. Historical perspective Traditionally, Unesco recom m ended the following definition in relation to literacy com petence: “a person can be called (il)literate if he/she can(not) read and write with under-

62.  Demographics of Literacy

standing a short sim ple statem ent on his/her everyday life”. One can easily see that this definition is tautological in the sense that it it is not clear what is involved in such term s as ‘understanding’, ‘sim ple’ or ‘statem ent on every day life’. As such, this definition does not m ake clear how a particular classification as regards literacy can be assessed. There has been a longstanding tradition in defining written language and written com m unication in its own right. Olson (1977, 1980) pointed out that written com m unication can be characterized by a prim acy of logical and ideational functions, while in oral com m unication inform al characteristics predom inate. In oral com m unication the listener has access to a wide range of contextual cues, which m ay clarify the intentions of the speaker, whereas in written com m unication such cues are alm ost com pletely absent. Cum m ins (1984) distinguished between contextem bedded and context reduced-com m unication. However, as Tannen (1982) has m ade clear, oral and literate m odes of expression do not fully coincide with speech and writing. For exam ple, a personal letter which is presented in written form focuses on interpersonal relationships and shared knowledge, while a lecture is orally presented in the literate m ode, etc. During the past years there has been a continuing interest in defining written language. Harris (1986) presented a diachronic analysis of the nexus between script and speech with special em phasis on writing as representation. Scinto (1986) and Coulm as (1989) provided m onographs on the psychology and the nature of written language. Olson & Torrance (1991) brought together a series of papers on (dis)continuities between orality and literacy. Gradually it was acknowledged that the character of written language is m ultifaceted. The focus of written language and literacy has m oved from concern with structural aspects of reading and writing to the acceptance of broader definitions, taking into account the functions of written language in social contexts (cf. Stubbs 1980, Guthrie & Kirsch 1983). The term ‘functional literacy’ was introduced in order to refer to the dem ands of literacy in the com plex world (cf. Gray 1956). This type of definition was prim arily used in the context of em ploym ent and econom ic developm ent. In the 1960s the term was used by Unesco as follows: “... the process and content of learning to read and write to the preparation for work and vocational training,

771

as well as a m eans of increasing the productivity of the individual”. Literacy was now viewed as a com plex of skills which could be defined in term s of the print dem ands of occupational, civic, com m unity and personal functioning. Instead of school-based assessm ents, new profile m easures began to accentuate the vocational and econom ic im pact of literacy skills. For instance, in national assessm ent profiles for young adults in the United States a distinction was m ade between reading, writing, num eracy and docum ent processing skills (cf. Kirsch & Jungebluth 1986, Venezky 1990). Another new trend concerns self-assessm ent of literacy problem s (Ham ilton 1987). People are asked to report reading and writing difficulties and the practical problem s such difficulties have caused in everyday life. As such, the personal values of literacy can be incorporated. A related question with respect to the definition of literacy concerns the role of advanced inform ation and com m unication technologies. According to Levine (1986, 1990, 1994), the nature and role of literacy has changed as a consequence of the bureaucratisation of work, the penetration of social life by written m aterials and the greater com plexity of such m aterials. Recent research has given new attention to the effects of the availability of new writing technologies. As Levine has noted, the enorm ous range of potential applications for com puters has inevitibly led to a redefinition of what is understood by basic literacy. 3.2. Literacy and ideology Instead of defining literacy from an econom ic or technological point of view, several authors em phasized the social context of literacy, taking into account socio-cultural aspects of developm ent and the concerns of different com m unities and individuals. Street (1984, 1985, 1993) spoke of a transition from an ‘autonom ous’ to an ‘ideological’ view of literacy. The autonom ous view refers to m ainly Western theories defining literacy in term s of universal cognitive or technical skills that can be learned independently of specific contexts or cultural fram e works. A case in point is the basic assum ption hold in recent studies that literacy im plies the capacity to use language in a decontextualized way. The ideological view, on the other hand, defines literacy practices from the perspective of cultural and power structures in society. According to Street, m any of the claim s m ade in the au-

772

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

tonom ous view of literacy can only be understood in term s of the will to m aintain and justify the dominance of those in power. Auerbach (1992) distinguished four distinct pedagogical tendencies that can be derived from the ideological analysis: the notion of variability and context-specificity in literacy practices, the notion of literacy acquisition as a learner-centered process, developed prim arily in opposition to m echanical pedagogy, the politicization of content in literacy instruction, and the integration of the voices and experiences of learners with critical social analysis. Taking an ideological view as a starting point, ethnographic studies have been carried out paying attention to the role of literacy practices in reproducing or changing structures of dom ination (Fingeret 1983, Giroux 1983, Rockhill 1987, Luke 1988, Shannon 1989, Schwab 1990, Van Dijk 1990, Lind 1990). However, these challenges of the autonom ous m odel have been relativized by Stuckey (1991) who claim ed that literacy cannot be seen as the ultim ate m ediator or arbitor of social problems. Recent studies attem pted to articulate what is actually involved in people engaging in cultural activities (Barton & Ivanic 1991). From these studies it has becom e clear that literacy/illiteracy can no longer be seen as a sim ple dichotom y. Literacy is a lifelong, context-bound set of practices in which an individual’s needs vary with tim e and place. As such, one could also speak of m ultiple literacies and the im portance of language policies which enhance cultural diversity. Research has also shown that the literacy practices through which individuals are socialized into various institutions can be extrem ely variable (cf. Schieffelin & Ochs 1986).

m unicative functions can be com bined according to the principles of discourse.” According to Canale & Swain (1980), com m unicative com petence is com posed of four com petencies: gram m atical com petence, discourse com petence, strategic com petence and sociolinguistic com petence. Gram m atical com petence covers the m astery of phonological rules, lexical item s, m orpho-syntactic rules and rules of sentence form ation. Discourse com petence refers to the knowledge of rules regarding the cohesion and coherence of various types of discourse. Strategic com petence involves the m astery of verbal and nonverbal strategies to com pensate for breakdowns and to enhance the effectiveness of com m unication. Sociolinguistic com petence is related to the m astery of sociocultural conventions within varying social contexts. A sim ilar definition has been proposed by Bachm an (1990). He adds psychophysiological m echanism s, covering issues of prosody and processing speed. The theoretical fram ework of com m unicative com pentence has alm ost exclusively focused on oral language. However, as has been proposed by Verhoeven (1994 a) it could m odel written language use as well. Fig. 62.3 shows how the construct of functional literacy could be defined by taking the fram e work of com m unicative com petence as a starting point. Gram m atical and discourse com petence refer to those abilities involved in controlling the form al organization of written discourse. The com petence to code and decode written text com prises the technical abilities which are related to writing and reading. Strategic com petence refers to the ability to perform planning, execution and evaluative functions to im plem ent the com m unicative goal of the written text. Sociolinguistic com petence com prises the literacy conventions which are appropriate in a given culture and in varying social situations, and the m ass body of cultural background knowledge, including knowledge of the power structure in a given society. The present m odel m akes it possible to operationalize functional literacy in m ore or less concrete term s. Coding and decoding abilities relate to grasping the essentials of the written language code itself. It has been claim ed by m any educators that orthographies differ in degree of learnability. From com parative studies of writing system s (Downing 1973, Kavanagh & Venezky 1980,

3.3. Modeling the competence of functional literacy Taking a socio-cultural approach of literacy as a starting point, the question is what psycholinguistic abilities underlie a functional literacy level in the individual. By incorporating the sociolinguistic concept of com m unicative com petence (cf. Hym es 1971), a m ore elaborated conceptualization of literacy behavior can be arrived at. In the context of language teaching Canale & Swain (1980) defined com m unicative com petence as “a synthesis of knowledge of basic gram m atical principles, knowledge of how language is used in social settings to perform com m unicative functions, and knowledge of how utterances and com -

62.  Demographics of Literacy

773

Fig. 62.3: The construct of functional literacy

Sam pson 1985, Coulm as 1991) it can be concluded that logographic system s which require the acquisition of an extrem ely large num ber of associations between sym bols and word m eaning through rote m em ory are hard to learn. With regard to syllabic system s the acquisition of the syllabic Kana system of Japanese has been intensively studied. Research findings suggest that the acquisition of Japanese generally proceeds without problem s. Though the num ber of sym bols to be learned is m uch larger than in alphabetical codes, the degree of consistency between oral and written syllables in Kana is extrem ely high. Alphabetic codes have the advantage of a sm all num ber num ber of sym bols m apping the phonem e inventory of a language. However, from an extensive body of research (cf. Perfetti 1985, Adam s 1989, Shankweiler & Liberm an 1989), it has been shown that alphabetical codes are difficult in the sense that phonem es as the constituent units can hardly be perceived. The acquisition of phonographic system s appears to be affected by the ‘goodness-of-fit’ between oral and written language units which is relatively high for Finnish and relatively low for English. Given the continuities between oral and written language, the abilities involved in gram m atical and discourse com petence constitute basic com ponents of functional literacy. Though the linguistic devices used to com prehend or produce written language are not com pletely identical to those involved in oral discourse, a close relationship can be expected. Gram m atical and discourse abilities becom e very critical for people from ethnic

m inorities who have to learn to read and write in an unfam iliar (second) language. People acquiring literacy in a second language are faced with a dual task: besides the written code they have to learn the gram m atical and discourse com petence of the second language. Research has shown that a m inim um level of gram m atical and discourse level in a language is needed in order to be able to learn to read and write successfully (Gudschinsky 1976, Verhoeven 1987 a, 1990). Strategic com petence refers to m etacognitive abilities which are involved in planning, executing and evaluating written text. Planning and evaluation (revision) turn out to be crucial abilities in writing (Hayes & Flower 1980), whereas m onitoring plays an im portant role during the execution of the reading process (Clay 1979, 1991). With respect to strategic abilities involved in literacy tasks, it is generally believed that a certain level of num eracy skills is required (see Kirsch & Jungebluth 1986). Exam ples of basic num eric operations that are thought to be critical for using print are basic addition and subtraction, and comparison. Sociolinguistic com petence enables the individual to cope with literacy situations in everyday life. Sociolinguistic com petence com prises both literacy conventions and cultural background knowledge which are interrelated. Literacy conventions refer to the types of docum ents that are used in the social institutions of a society, such as letters, form s, legal briefs, political tracts, religious texts, novels and poem s. Docum ents often require specialized knowledge about particular doc-

774

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

um ent form ats. Moreover, different types of docum ents m ay also call for different types of cultural background knowledge (Bleich 1988, Kress 1989) as well as different values and beliefs (Bruner 1990, Gee 1990). Hirsch (1987) has stressed the im portance of background knowledge by providing a corpus of com m on literary, historical and scientific allusions needed to effectively understand adult prose in the Am erican society. It is im portant to see that the notion of sociolinguistic com petence m akes literacy a relative m easure, depending on the social and cultural context. For instance, being able to fill in a form m ay be functional in one context, but less relevant in another. With respect to m odeling the com petence of functional literacy, the particular sociolinguistic position of ethnic m inorities should be recognized (cf. Fishm an 1980, 1989; Verhoeven 1987 b). In a m ulti-ethnic society m inority groups m ay use various written codes serving at least partially distinct sets of functions. The written code with the highest status will prim arily be used in societal institutions, whereas the written code of the m inority language can be used for intragroup com m unication and expressing one’s ethnicity. Besides, another written code m ay be used for religious identification. In order to do justice to the literacy needs of ethnic m inorities, the com petence of functional literacy should be defined in term s of their m ultilingual and m ulticultural background. With an eye on assessm ent it is im portant to evaluate to what extent people belonging to an ethnic m inority are literate in the ethnic group language, in the language of wider com m unication, or in another language. It is essential to assum e that literacy skills in all these languages are seen as relevant human resources.

be interpretation problem s after literacy data have been collected. Another m ethodological issue in literacy assessm ent concerns the cross-cultural com parison of reading and writing competencies.

4.

Methodological issues in literacy assessment

For various reasons, reliable dem ographic inform ation on literacy patterns in different societies is difficult to obtain. For som e groups or countries, no updated inform ation is available or no such data have ever been collected. If any data have been collected, these are hard to interpret for various reasons. First of all, there is the problem of test reliability and test validity. The question is how valid literacy is defined in the test and how consistent the assessm ent procedure is. Besides these m easurem ent problem s there can

4.1. Measurement problems The now available statistics on the distribution of (il)literacy should be relativized for various reasons. First of all, the reliability of figures can be doubted. In order to assess the need for literacy provision, m ost countries relied on census data. There is a reliability problem deriving from the lack of consistency in the precise phrasing of the literacy questions in successive censuses, and from biased answers to such questions due to a variety of reasons. As a rule literacy has been m easured on the basis of self-evaluation. As shown by Nascim ento (1990) this m ethod of self-evaluation facilitates the introduction of an element of subjectivity into replies. Most im portantly, there is a validity problem . The kind of assessm ent techniques used, and research m ethodology followed is partly dependent on the aim at which literacy data are to be collected. In case awareness-raising of literacy problem s in a certain com m unity is aim ed at, indirect m easures, such as selfassessm ent, or census data on literacy use and educational achievem ent, m ay be sufficient. A substantial am ount of research on the distribution of literacy derives from periodically collected population census data which include answers to questions on literacy com petence and literacy use. People are asked to report reading and writing difficulties and the practical problem s such difficulties have caused in every day life. Traditionally, threshold m easures of literacy were used to divide people into discrete classes of literacy achievem ent, such as grade level of reading and writing, the num ber of years of schooling, or the sim ple dichotom y between ‘literate’ vs ‘illiterate’. In num erous cases the census question on literacy is lim ited to whether the person is able to read and write, without reference to the object of reading and writing or the sociocultural context of literacy. It should be clear that such distinctions are not accurate and will provide little insight into the actual abilities and the educational needs of adults (see Wagner 1990, Becker-Soares 1992). The question then is how the strengths and weaknesses of literacy in school-based and everyday written language tasks can be eval-

62.  Demographics of Literacy

uated in a valid way. In order to assess literacy in term s of its functional utility in social context, a com petence-based approach evaluating literacy in a m ore direct way is m ore appropriate. Reading and writing can be assessed separately. As far as reading is concerned, a distinction can be m ade between decoding skills and com prehension skills. For writing, spelling and text writing can be distinguished. School types and non school types of written language m aterials associated with particular adult contexts can be sam pled to develop tasks that can be adm inistered to various populations, after they have been field tested. By m easuring the responses m ade the proportions of adults that are able to perform these literacy tasks can be estim ated. As such, it is possible to identify a range of uses and purposes that adults have for reading and writing various m aterials. Varying literacy levels can be distinguished, e. g. nonliterate (no literacy skills), low literate (able to code or decode words), interm ediate literate (able to perform sim ple literacy tasks) and high literate (able to perform com plex literacy tasks). With respect to ethnic m inorities it m ay be relevant to evaluate oral gram m atical and discourse skills in the language of wider com m unication as well. In case a person is unable to speak the official language the im plication is that he will not be literate in that language. It m ay be clear that the label ‘illiterate’ has no import in this case. The com petence-based approach m ay gain benefit from using item response theory m ethodology (see Kirsch 1990). In that case a variety of literacy tasks are represented in a lim ited num ber of categories, e. g. narrative, expository and docum ent. Tasks representative for these types of literacy can be scaled using item response theory, a m athem atical m odel for estim ating the probability that a person will respond correctly to a particular task. Both difficulty param eters of the tasks and proficiency levels for individuals and groups can then be estim ated. As such, the conception of m ultiple literacy scales instead of the traditional single scale m akes it possible to assess the m ultifaceted construct of literacy. Moreover, the com parability of literacy results across groups, age and tim e will be enhanced. Not only enables this m ethodology us to com pare subsam ples in a society, it also provides the possibility of cross-cultural com parison of literacy levels. Another m easurem ent problem concerns sam pling. In m any surveys certain groups,

775

such as ethnic m inorities, transient people, or disabled people are, if represented at all, underrepresented. Besides overall assessm ent it m ay be im portant to have insight in groups of people who are at risk of being functional illiterate, e. g. ethnic m inorities, dialect speakers, school leavers, long-term unem ployed, unskilled workers, prisoners. As far as ethnic m inorities is concerned, the choice of language of literacy tasks can be questioned. In a m ultilingual society different ethnic groups m ay use various written codes at different com petence levels, because these codes have at least partially distinct sets of functions. The extent to which m em bers of an ethnic m inority group in written com m unication will have a need to use their own language besides the m ajority language is prim arily dependent on the written tradition of the ethnic language and the background situation of the ethnic group (cf. Verhoeven 1994 b). Finally, after literacy data have been collected, there is an interpretation problem . The prim ary aim of collecting census data on literacy levels has been to convince policy m akers of the urgence of the need of literacy cam paigns. Not only are census data hard to collect. It m ay also be the case that census data for tactic reasons have been overor underestim ated. As Hinzen (1989, 507) pointed out, in the eyes of policy m akers literacy figures should be high enough to prove success and educational achievem ent, and at the sam e tim e low enough in order to be grouped as a region m eriting a larger share of developmental aid. 4.2. Cross-cultural considerations An interesting question is to what extent literacy levels in different societies can be com pared. Planning agencies have sought to increase the com parability of literacy data over tim e and across societies. The com parability of data of different surveys requires the equality of definitions and classifications. The application of literacy profiles following item response m ethodology has greatly enlarged the possibilities of cross-cultural com parison of literacy levels. The claim is m ade that item response theory provides sam ple free item analyses. Sam ple free in this context points to no statistically significant effect or any differences in the values of groups of inform ants on task param eter estim ates. If on a task inform ants from different cultural backgrounds yield equivalent estim ations of item param eters, it can be concluded that for each

776

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

of these groups the task can be scaled along one and the sam e dim ension. As such, a crosscultural validity check of the test m aterials is made possible. Quite recently a large-scale com parative study was conducted by the International Association for the Evaluation of Educational Achievem ent (Elley 1992). In this study the average achievem ent levels in reading literacy have been assessed of 9- and 14-year-old children from various educational system s all over the world. More than 200,000 children from 32 countries participated in this study. Reading literacy was defined as the ability to understand and use those written language form s required by society and/or valued by the individual. Three types of reading literacy m aterials were included in the tests for the two age groups: narrative prose, expository prose and docum ents. The correlations between scores on the three scales turned out to be high. The general form at of the tests was m ultiple-choice. For each student total scores were com puted in the three dom ains. By m eans of latent-trait-analysis scales were produced for each dom ain with a m ean score of 500 and a standard deviation of 100. Besides the test scores other inform ation was collected: student questionnaires on the students’ hom e and school circum stances, teacher questionnaires on the teacher’s background, instructional practice and beliefs, school questionnaires on school circum stances and policies, and national case study questionnaires on national policy, enrollm ent patterns and economic conditions. For the 9-year-olds it was found that Finland, United States, Sweden, France, Italy, New Zealand and Norway scored relatively high, while Iceland, Hong Kong, Singapore, Switzerland, Ireland, Belgium , Greece and Spain still scored above average. Scores below average were obtained by children Germ any, Hungary, Slovenia, The Netherlands, Cyprus, Portugal and Denm ark. The lowest scores were obtained by children in Trinidad, Indonesia and Venezuela. However, the differences between countries should be considered cautiously because of the fact that som e populations had underage children and others had overage children. Moreover, the num ber of years of literacy instruction in the populations varied. The results for the 14-year-olds showed that the rank order of countries was m ore or less sim ilar as with the 9-year-olds. High scores were obtained by the children from

Finland, France, Sweden and New Zealand. Above average are the score of the children from Hungary, Iceland, Switzerland, Hong Kong, United States, Singapore, Slovania, Germ any, Denm ark, Portugal, Canada, Norway, Italy, Netherlands, Ireland and Greece. Children from Cyprus, Spain, Belgium , Trinidad and Thailand scored below average, whereas the children from the Philippines, Venezuela, Nigeria, Zim babwe and Botswana scored low. From the IEA study several interesting findings em erged. For m ost countries it was found that the levels of literacy are closely related to their national indices of econom ic developm ent. However, children at both age levels from Hong Kong achieved well above expectation. The sam e was true for the 9year-olds from Finland and Italy, and the 14year-olds from Hungary, Portugal and Singapore. The latter group achieved high levels of literacy despite the fact that they followed a subm ersion L2 approach of literacy instruction. Another finding was that a late start of literacy instruction does not necessarily lead to low achievem ent. Only when achievem ent scores were adjusted for socio-econom ic circum stances, an earlier start turned out to be advantageous. The m ost im portant differentiating factors effecting reading achievem ent were the size of school and classroom libraries, regular book borrowing, frequent silent reading in class, frequent story reading aloud by teachers and the num ber of scheduled teaching hours. The availability of books, not only in school but also in the hom e and in nearby com m unity libraries, turned out to be a key factor in reading literacy. Furtherm ore, a gender effect could be evidenced in that girls achieved higher scores than boys. The advantage for girls was greatest in the narrative dom ain and sm allest in docum ents. Besides gender, there was also an effect for language differences. Children learning to read in a second language achieved lower literacy levels in all countries at both age levels. Finally, there was an effect for urban-rural differences. In general, urban children achieved higher literacy levels than rural children.

5.

Perspective

The present article shows that present inform ation on the dem ographics of literacy is far from conclusive. There is a lack of an ade-

62.  Demographics of Literacy

quate statistical basis of census data on literacy in m any countries. The absence of any survey on literacy behavior m akes it im possible to give a quantitative account of the spread of literacy in these societies. Moreover, in so far population censuses include inform ation on literacy, the reliability and validity of the assessm ent procedure can be doubted. In the vast m ajority of cases the com petence of literacy is assessed on the basis of a sim ple self-evaluating statem ent on the part of the individual. Moreover, m ost of the statistical data gathered so far draw back upon a sim ple dichotom y for the classification of individuals between literate and illiterate. Interm ediate degrees in the com petence of reading and writing behavior are generally ignored. A m ore fundam ental question to be asked in relation to assessm ent is whether literacy can be defined as a universal trait. Focussing on culturally-sensitive accounts of reading and writing to social practices the concept of literacy as a single unified construct does not seem very feasible. As was claim ed by Street (1994 b) we should not talk about ‘literacy as such’ but rather about ‘literacy practices’. A m ultiplicity of literacies can be distinguished which are related to specific cultural contexts and associated with relations of power and ideology. It is clear that the great divide between literacy and illiteracy does not fit very well in this conception of literacy. In order to clarify and refine the world-wide dem ographics of literacy, there is an urgent need to study literacy practices in diverse cultural and ideological contexts.

6.

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63. The Promotion of Literacy in the Third World 1. a 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

1.

Literacy as variable and dynamic concept Literacy, schooling and basic education Language choice International definitions and strategies Variations in literacy strategies Literacy for women Research References

Literacy as a variable and dynamic concept

1.1.  Since 1945, two frequently asserted assum ptions have underpinned all international debate about third world literacy (Lind & Johnston 1990). The first is that literacy is a basic hum an right, while the second is that literacy is a necessary instrum ent of ‘developm ent’. Both assum ptions can be challenged. While the first assum ption is now generally accepted, this was not always so; and the second has com e under increasing scrutiny since the 1970s, during which decade alm ost all governm ents cam e to question the value of unselective increases in expenditure on education. In the 1960s a direct correlation was assum ed between literacy and ‘developm ent’ in both its econom ic and social m eanings; but the planning of educational expenditure is now m uch m ore clearly focused on particular targets and objectives. 1.2.  The idea of literacy as a hum an right is a twentieth century concept. Much m ore im portant historically have been trade, econom ic growth, urbanization and the creation of nation states. Perhaps the religious instrum entality of literacy as a m eans of enabling believers to read the word of God is the nearest pre-twentieth century parallel to the hum an right idea. For exam ple, the Adult

Schools of nineteenth century England and the earlier church-led literacy drives in seventeenth and eighteenth century Scotland were to enable protestant Christians to read the bible. Som e of the earliest efforts in the 1920s and 1930s to prom ote literacy in the third world, notably those of the Am erican m issionary, Frank Laubach, had a sim ilar m otivation (Laubach 1947). And in Koranic schools throughout the Islam ic world today, the need for literacy is seen largely as a m eans of reading the Koran. 1.3.  These religious reasons for the prom otion of literacy rem ain; but they are today reinforced by ideas which stress the social and econom ic advantages of being literate. Bhola (1990: 6—7) has expressed these advantages very powerfully while at the sam e tim e acknowledging the value of purely oral cultures. “Of course, the non-literate survive. They are born. They grow up. They play. They sing. They m arry. They buy and sell. They build huts and hom es. They m ake beautiful artefacts. They have children and grandchildren. They develop deep understandings of life. ... But it is im possible to deny that at this point in hum an history, they are clearly, and unquestionably, disadvantaged in relation to the other two and a half thousand m illion adults who can read and write and, therefore, have available to them the world of print from which the non-literate are excluded. The illiterate are excluded and m arginalized, as they are disallowed from joining in to define their own world and from contributing to collective knowledge, to history, and to culture.” 1.4.  The other frequently asserted assum ption about literacy is its value to ‘developm ent’. This is not to be denied; but the value is by no m eans direct or sim ple. For exam ple, the

780

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Mahbubnagar Experim ent in India has been cited (Street 1990) to show that attem pts to m ake a direct link between a developm ent issue (in this case health) and functional literacy can lead to surprising results. The initial assum ption was that literacy training would im prove acquisition and retention of skills related to hygiene and parenthood. Three different program m es were established to test this and related assum ptions: m other and child centres using oral instruction and dem onstrations plus som e practical assistance with food and m edicine; functional literacy classes; and a program m e com bining both approaches. The m ost successful, m easured by various indicators of health, nutrition and m ortality were the m other and child centres: the least successful was functional literacy on its own. This and other evidence also points to the view that literacy is a sym ptom , not a cause of under-developm ent; it is not a ‘problem ’ to be solved in isolation from other socio-econom ic and political issues (Lind & Johnston 1990, 22).

(1984) also noted that literacy acquired for one purpose (in this case through Koranic schools) m ay later be adapted successfully for quite different purposes. The older m en, educated in the Koranic schools, were well able to develop a new com m ercial literacy when faced with the challenge of exploiting new m arketing opportunities for locally grown fruit. Writing associated with adherence to tight tim etables, the recording of deals with m iddle m en and city dealers, keeping accounts and lists of produce, proper labelling and so on was all achieved by flexible adaptation of existing knowledge to new cultural circum stances. The contem porary and governm ent inspired literacy cam paign ignored and looked down on the existing literacy acquired in the Koranic schools. ‘School’ literacy im posed from outside was thus m uch less effective than if it had built on local culture and circumstances.

1.5.  Nevertheless, the im portance of literacy a t t h e r i g h t m o m e nt, is still a basic assum ption of m ost developm ent planning. Developm ent “m ay som etim es happen without recourse to literacy. For exam ple, the farm er m ay be able to increase his production perhaps with the help of an extension service using oral com m unication, in person or on the radio. But sooner or later, if the developm ent process continues, if the econom y becom es m ore com plex and if basic services im prove ... then there will com e a need for literacy. While it is useless to offer literacy i n st e a d of food, housing, water supplies and electricity, it m ay be only part — but it is still an essential part — of the range of basic services which bring direct econom ic returns as well as direct social benefits” (Fordham 1985, 15; Green 1983). 1.6.  Analysis of the variability of the literacy concept has also been undertaken with respect to culture. Street (1990, 2) points out that culture is a m atter of basic questions about what is truth and what is knowledge and that these vary between one social grouping and another. Moreover, literacy acquisition alm ost always involves for neo-literates som e degree of change at this basic level. Thus literacy is “m ore a m atter of personal identity, knowledge and power” than of functional skills per se. In his work in 1970s Iran, Street

1.7.  Literacy is not a sim ple technology. If one sim ple lesson were to be selected from third world experience it would have to be that. Most of the m odern history of literacy schem es in the third world is a history of honourable failure, and this includes m uch of the 1967—72 UNESCO sponsored Experim ental World Literacy Program m e (EWLP). Such failures bear eloquent testim ony to the need for the right conjunction of circum stances before any kind of success is likely (UNESCO/UNDP 1976). Where there has been success, then unusual perception in three crucial areas is alm ost always necessary. First is the need to recognise as essential a close interplay between literacy policy and general developm ent strategies. The close correlation between illiteracy and m alnutrition, ill health, high infant m ortality and other indicators of poverty or under-developm ent is well known. But it is no use offering literacy instead of a good health service or an im proving diet. Motivation for literacy is likely to follow not precede the beginnings of an im proved quality of life. Secondly, there has to be acceptance that literacy is a transform ing experience both for individuals and for societies. It is not a m arginal im provem ent and it m ay well be accom panied by m ore and m ore articulate dem ands for other changes or dem ands on the political system . Finally, there has to be the political will both to understand the com plexities and cope with the turbulence which m ay result. Unless there is the right conjunction of circum stances the tim e for literacy is

63.  The Promotion of Literacy in the Third World

unlikely to have arrived. The very idea of ‘literacy’ is in fact both com plex and dynam ic. Com plex because it can only be defined in relation to a particular place and tim e: dynam ic because the way we perceive it is bound to change as society itself is changing (Fordham 1988).

2.

Literacy, schooling and basic education

2.1.  Since the 1990 World Conference on Education for All held at Jom tien in Thailand, the prom otion of third world literacy has becom e an integral part of the wider prom otion of ‘basic education’ — the various learning tools and content “required by hum an beings to be able to survive, to develop their full capacities, to live and work in dignity, to participate fully in developm ent, to im prove the quality of their lives and to continue learning.” (WCEFA 1990, Article 1) Basic education thus defined includes: early childhood care and initial education; prim ary schooling; and continuing or initial education for youth and adults (including literacy) m et through a variety of delivery systems. 2.2.  The World Declaration of Jom tien included a firm com m itm ent to universality in the provision of basic education “to all children, youth and adults” (WCEFA 1990, Article 3); but apart from giving priority to girls and wom en, itself an im portant step forward, the declaration left open the questions of other priorities within this broad com m itm ent. There still rem ain significant differences of em phasis between various international agencies. In particular, there are those who give priority em phasis to the im proved m anagem ent of prim ary education and those who would lay greater stress on the extension of adult learning opportunities, or greater attention to, and understanding of, cultural variables or im proved com m unity participation in all areas of basic education. 2.3.  These continuing differences of em phasis are to som e extent a continuation of earlier and m ore sim plistic debates about whether to give priority extension to m assive literacy cam paigns am ong adults or to Universal Prim ary Education (UPE); the latter was a m ain prognosis of the First African Regional Conference of Ministers of Education held in Addis Ababa in 1961. However, others believe

781

that literacy work am ong adults (m any of whom are parents) quickens the pace of educational expansion and hastens the day when UPE finally arrives. In a ‘doctrinal innovation’, the 4th Extraordinary Session of UNESCO General Conference (1982) “opted for a dual strategy, com bining form al and non-form al education: the extension and renovation of prim ary education coupled with renewed efforts for out-of-school literacy work am ong youth and adults.” (Gillette & Ryan 1983). In practice, alm ost all countries have given greater em phasis to the achievem ent of UPE than to the prom otion of adult literacy. Only in Tanzania were priorities reversed. 2.4.  The lead was given by President Julius Nyerere in 1970. He argued that to rely on prim ary education alone would take thirty years or m ore and that Tanzania could not wait. Declaring that 1970 was ‘Adult Education Year’, he inaugurated a m ass cam paign which it was later claim ed had reduced illiteracy from 69% in 1967 to 39% in 1975 and to as low as 9.6% in 1986. (Mpogolo 1990, 4). Moreover, Mpogolo also argues (1990, 2) that the adult literacy cam paign “accounted for a great deal of the rapid progress in prim ary education. One of the im m ediate results of educating adults was to m ake them insistent that schooling be provided for their children. The pressure for prim ary education proved irresistible. Elected officials clam oured for schools for their com m unities and contributed to building them . ... A synergism developed — the m ore adult education was extended, the stronger proved the pressure for prim ary schools.” Many adult educators agree with Mpogolo that to argue priorities in term s of either UPE or adult literacy is a false antithesis (e. g. at an international sem inar on ‘Co-operating for Literacy’ held in Berlin, October 1983 (Fordham 1985, 19)). However, there is continuing criticism of som e educational planners (e. g. those who m ade the World Bank presentations at Jom tien) that their thiniking is too m uch dom inated by prim ary education and that they give too little thought to adult learning and potential of com m unity participation and adult involvem ent in the prom otion of literacy (IDRC 1991). 2.5.  In considering the place of schooling as an instrum ent for literacy, there is a useful distinction to be m ade between cultures which

782

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

already have form al schooling — either for an élite or for religious purposes — and those where schooling is brought in from outside to a largely oral culture. In the latter cases, schools have frequently been im posed by foreign m issionaries or by colonial rulers; and the culture and values they bring with them m ay be the m ost im portant determ inants of the kind of literacy provided. This m ay often be associated with the im portation of a dom inant language (e. g. French in francophone Africa); but as the Iran exam ple (1.6. above) shows, ‘school’ literacy m ay be less effective than existing local literacies, just because it is im posed from above and with values which are quite different from those of the local com m unity. The language of literacy is often the vehicle for the way literacy is perceived (see section 3. below).

put it: “You know how things are here. We don’t read m uch at all. Yes, I prepare what I have to do for m y lectures, but I don’t have the habit of reading. I don’t read novels. ... In our free tim e we go to the bars and drink and chat.” (Fox, Fordham & Usher 1986, 97) Where schooling and popular literacy/culture rem ain apart, the m ost crucial determ inant m ay be the choice of language in which literacy is promoted.

2.6.  Street has em phasised that literacy and orality are com plem entary, and that certain oral traditions (e. g. story telling) have close parallels with the skills, m ental operations and effects present in m ore literate cultures (see also Hinzen et al. 1987). A m ix of oral and literacy skills in fact enables a richness of language use which also accords with the practical uses of literacy in m ost people’s daily lives. “The written word is usually em bedded in an oral context, people speak around it, write things down, read, speak again. What people operating in such contexts have learned is not only the rules and conventions of literate practice and of speech, but also those of the m ixed repertoire of speech-and-literacy; in a sense the whole is greater than the sum of its parts.” (Street 1990, 15). 2.7.  This is the ideal. But there are circum stances where school literacy, even when carried into higher education, does not m esh adequately with oral culture and rem ains a skill apart. It provides entry into a wider world of knowledge and even higher learning (often in a foreign language); but for m any individuals it is part of a grafted or élite culture and does not lead to the ‘learning society’ which m any literacy idealists have aim ed for (Adiseshiah 1978). Research in four African countries into the training of adult educators revealed that even som e university teachers do not read after they graduate except for purely instrum ental purposes; for exam ple, to prepare lecture notes for the next generation of undergraduates! As one of them

3.

Language choice

3.1.  No area of educational decision m aking is m ore difficult or m ore com plicated. Language is certainly the basis of cultural identity and often political identity as well. Moreover, where the language of the school is different from that of the hom e, school m ay seem to be an alien place. Not only does this m ake the interpretation of oral and written culture very difficult but, for children and adults from unschooled (usually poor) fam ilies, school m ay also seem part of a richer and m ore powerful world that it is difficult to enter and in which it is even more difficult to succeed. 3.2.  There is very general agreem ent that, where possible, the m other tongue is the best starting point for literacy learning. Yet of the m ore than 4,000 spoken languages in the world, only about 300 have a developed orthography m aking them capable of regular use in written form ; and less than 100 have a significant written literature (UNESCO 1992 a). Most countries are m ultilingual, and learning to read or write in a language of very restricted local use m ay soon becom e frustrating for the learners. The uses of literacy are very lim ited if the language of learning is different from the printed m essages in advertisem ents or newspapers with which the learners are surrounded. In Kenya, for exam ple, where governm ent literacy classes are usually m other-tongue, the public printed word, even in the rural areas, is likely to be in Swahili (the lingua franca) or even English, not the local m other tongue and language of oral com m unication. In these and sim ilar circum stances, it m ay be better to acknowledge that m other-tongue literacy is im practicable and choose the m ost widely used local written language which is also understood by m ost learners. This m ay be described as ‘language of first sight’ m uch as ‘m other tongue’ is ‘language of first hearing’. Another related issue arises in m ulti-lingual urban areas (e. g.

63.  The Promotion of Literacy in the Third World

in west Africa) where the widely spoken local language is not the m other tongue of m ost inhabitants. This language, or the relevant world language (in urban west Africa either English or French) m ay be the favoured choice in these circumstances. 3.3.  Language policy is a m atter for decision within countries; but ought to be the subject of widespread debate. Most countries have decided on one and som etim es m ore than one ‘national’ language. But the com m only prom oted idea of a national language coupled with early m other tongue instruction as the ‘best’ solution for language policy is often com plicated by the use of form er m etropolitan colonial languages which rem ain the languages of m uch of the élite and which in som e cases have also becom e lingua francas, or even ‘national’ languages in form er colonies, as with Portugese in Mozambique. 3.4.  At the 1990 Jom tien Conference (WCEFA) the round table on language policy (UNESCO 1992 a, 15—18) used an analysis which divided the world between four m ain contextual situations: — no linguistic majority. — a dominant and locally developed lingua franca — a predominant indigenous language — multiple languages with literary and religious traditions. 3.4.1. No linguistic majority In Nigeria, for exam ple the three m ajor languages (Hausa, Igbo and Yoruba) are spoken alongside about 400 other languages. In Papua New Guinea over 700 languages exist am ong a population of about 4 m illion. In these circum stances a pidgin or creole, usually based on a m etropolitan language, m ay be widely used as a lingua franca. 3.4.2. A locally developed lingua franca Swahili in east Africa is the type exam ple. Originally the language of the coastal people and, before this century, written in Arabic script, it has been developed as a m odern lingua franca throughout eastern and parts of central Africa. Now written in Latin script, it has been adopted as the national language of Tanzania and of Kenya. 3.4.3. Predominant indigenous language For exam ple Quechua, indigenous to the highlands of Peru, Ecuador and Bolivia, is

783

spoken by a high proportion of the population in countries where Spanish is the official (and also the élite) language. In Africa, Som alia is one of the few countries where the widely spoken local language is also the official language. However, it has no literary tradition and has only recently becom e a written language: in this case Italian and English are also still widely used. 3.4.4. Multiple languages with literary and religious traditions India has over 100 languages using twelve or m ore scripts (→ art. 33). Fourteen official regional languages are recognised and are used in both politics and education. Hindi is prom oted as the national language, but English is still widely used in governm ent, politics, commerce, industry and education. 3.5.  It is obvious from the com plexity revealed by this analysis, that language choice has to be m ade at several levels from local com m unity to that of the country. In education the choice is often m ade between one of the languages of wide diffusion (the so-called world languages of Arabic, Chinese, English, French, Portugese, Russian and Spanish) and a m ore local language. All the ‘world’ languages carry historical and cultural connotations from past em pires, and m ay well be seen as foreign by som e who speak them . Yet they m ay also provide not only access to other cultures, but also act as unifiers in ethnically and linguistically divided societies, like the role of English in South Africa or Nam ibia, Portugese in Mozam bique and Angola or Spanish in m uch of South Am erica. However, where there are other alternative national languages, often spoken by m any m illions of people as with Bahasa in Indonesia or Malaysia, then the locally used ‘world’ language m ay seem divisive or élitist as well as foreign. In fact, it is now generally agreed that whatever the role of ‘world’ languages, language policy planning should begin with the role of local languages in the daily lives of the people who speak them. 3.6.  The WCEFA noted three com m on but false assum ptions which often underlie discussions about language choice. 3.6.1.  Multi lingualism is often seen as a barrier to developm ent. But Singapore, with one of the world’s m ost successful econom ies, has four official languages: English, Malay (Bahasa), Mandarin Chinese, Tam il. And all chil-

784

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

dren m ust study one other official language as well as their chosen medium of instruction.

in m any school system s. In som e countries the language of adult literacy m ay be different from that of the school; or the school system m ay m ove at som e defined stage from a local to a world or other official language. Whatever the local circum stances, parents certainly want for their children, and often for them selves, access to the languages of power in business, commerce and government.

3.6.2.  A ‘world’ language for all is often said to be necessary, frequently by those who speak one of them as t h e i r m other tongue. But sm all countries in Europe have shown that it is quite possible for education to be in the local languages a n d to have enough people fluent in a ‘world’ language. 3.6.3.  Language patterns are often thought to be perm anent. But both patterns of language use and languages them selves are constantly changing. The way in which both m igrants and refugees take up new languages and either discard or m odify their m other tongue, often provides rapid insights into the ways in which languages change everywhere, albeit more slowly. 3.7. Issues in language choice 3.7.1.  Use of a local or world language is still a m atter of debate in som e countries. In m uch of francophone Africa there has been a m ove to start literacy work in local languages and to m ove from these to a local ‘national’ language or to French. However, Guinea and Burundi have returned wholly to teaching in French after large scale experim ents with a national language. Other countries have m ade sim ilar but sm aller scale experim ents (e. g. Niger and Mali) without drawing firm conclusions (Sahel Countries 1990). Where any world language is in contention, there are serious political as well as practical difficulties in its use; political will and firm decisions at the national level are essential in these circum stances if the language issue is not to rem ain divisive. Experience in the Sahel countries shows that m ore research is necessary in a num ber of areas: does initial learning in a local language help later cognition and capacity in the official language; should the official language be the starting point and the local language (if m ainly oral) be retained only for verbal com m unication; what effect does either policy have on the com plem entarity of literacy and orality m entioned in 2.6. above? Whatever m ay be the answers which em erge from further research, it should be rem em bered that: language is constantly in flux, and the desirable local options will be heavily dependent on local contexts. 3.7.2.  Parental choice and parents’ known dem ands are increasingly im portant factors

3.7.3.  It was noted in 3.6.1. above that bilingualism can be advantageous. Research in Northern Australian schools covering fifteen aboriginal languages has been conducted over a sixteen year period. Evaluation of pupil progress has shown that by the seventh year, bilingual children did better in all tests, especially English and m athem atics (UNESCO 1992 a, 18). 3.7.4.  Literacy in all countries is always achieved in part through form al schooling. However, educational program m es and m aterials designed for children are unlikely to be suitable for adults without substantial m odification. Where this can be achieved, the com m on use of resources for both children and adults — even both groups learning together — can be effective. But where both schools and adult education exist side by side using d i f fe r e n t m edia of instruction, then there are obvious difficulties in such a rationalisation of resources.

4.

International definitions and strategies

4.1.  There were about 900 m illion illiterates in 1985 and the absolute num ber is growing; m ost of these can be found in the third world (Table 63.1). In percentage term s the situation is im proving, with the world illiteracy rate falling from 33% in 1970 to about 25% in 1990 (→ art. 62). However, it is the growing absolute num bers and, within those, the growing proportion of wom en (rising from 60% in 1970 to 63% in 1990) which continue to cause concern (Lind & Johnston 1990, 21— 22). 4.2.  The two m ain routes to literacy — firstly, prim ary education for all on its own and, secondly, UPE plus large scale literacy for adults, have already been referred to in 2. above; Lind & Johnston (1990) call these the ‘gradualist’ and ‘accelerated’ m odels. Historically, m ost of today’s developed countries

63.  The Promotion of Literacy in the Third World

785

Table 63.1: Number of illiterates and illiteracy rate in 1985 for the adult population aged 15 and over (Unesco 1985; reproduced in Lind & Johnston 1990, 22)

World total Developing countries Least developed countries ‘Developed’ countries Africa Latin America Asia

Absolute number of illiterates 15 and over (in millions) 888.7 868.9 120.8 19.8 161.9 43.6 665.7

Illiteracy rates (% points) Total 27.7 38.2 67.6 2.1 54.0 17.3 36.3

have relied on the gradualist UPE approach, while the accelerated m odel was first tried in revolutionary USSR between 1919 and 1939, with illiteracy reduced from 70% to 13% in twenty years (Bhola 1984; → art. 66). However, the lack of progress towards UPE in m ost third world countries in the 1980s, largely because of econom ic m arginalization, gives little hope that the gradualist approach can be effective in m uch of the contem porary third world (UNESCO 1992 b). Continued concentration on the education of adults as well as UPE is therefore likely to be necessary. 4.3.  Definitions of literacy are as variable as the concept itself and have also changed over tim e. UNESCO defines a literate person as one “who with understanding can both read and write a short sim ple statem ent on his everyday life”. This is perhaps the b a s i c literacy conceived as necessary fo r a l l at Jom tien. But UNESCO also defines a m ore active or fun c t i o n a l l i t e r a c y as enabling “all those activities in which literacy is required for effective functioning of his group and com m unity and also enabling him to continue to use reading, writing and calculation for his own and the com m unity’s ‘developm ent’.” (UNESCO 1978). Both definitions beg m any questions; but the latter does allow for the variability of concept referred to in 1 above. However ‘functional literacy’ is itself a term which has changed over tim e, especially from its early use in the 1960s to an expanded definition in the 1990s. (And see below 4.6.). 4.4.  International work in literacy since 1945 can be divided into four periods: ‘fundam ental education’ (to 1964); the Experim ental World Literacy Program m e launched by

Female rate minus male rate (% points) M 20.5 27.9 56.9 1.7 43.3 15.3 25.6

F 34.9 48.9 78.4 2.6 64.5 19.2 47.4

14.4 21.0 21.5 0.9 21.2 3.9 21.8

UNESCO (1965 to 1975); an expanding concept of functionality (1975 to 1980); and the renewed/extended debates of the 1980s. 4.5.  Up until the m id 1960s, adult literacy in developing countries was usually seen as part of a wide range of sm all scale com m unity developm ent activities designed to have a practical outcom e according to the ‘felt needs’ of the people concerned; the forerunner of the idea of literacy as part of ‘basic’ education. Thus im provem ents in sanitation m ight be seen as m ore likely to endure (e. g. the use of pit latrines) if opportunities were also provided for people to learn sim ple reading and writing skills, usually in the m other tongue. In som e early program m es, literacy teaching was not necessarily directly related to the particular practical task — reading and writing alone were thought to be enough. Later (1946) UNESCO used the term ‘fundam ental education’ (som etim es also called ‘social education’) to describe educational program m es designed as a direct input to particular com m unity developm ent activities. In this approach ‘felt needs’ cam e first and people were “taught to read and write only when they recognise that these skills are necessary to the fuller attainm ent of their purposes” (Gray 1969, 17). The purposes were alm ost always of a practical nature; and thus the idea of functionality in literacy work began to evolve. It was the failure of m uch of the sm all scale ‘fundam ental’ approaches that led to the new UNESCO sponsored functional literacy, given tangible and precise expression with the 1964 decision to launch the EWLP. 4.6.  From now on, literacy was to include professional and technical knowlege as well

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

as reading and writing skills. And each literacy program m e was to be linked to specific econom ic developm ent projects. While one of the long term aim s of the EWLP was the total eradication of m ass illiteracy, functional literacy was at that stage firm ly linked to the dom inant developm ent ideology of the period, whereby all education, including adult literacy, was seen m ainly as an investm ent in hum an capital; it was thought that this would have a direct effect on productivity and thus, less directly on hum an welfare. The EWLP extended over seven years and into eleven countries. Over one m illion enrolm ents were recorded, but only about 10% of these achieved as m uch as the equivalent of m ore than two years of prim ary schooling. However, there were successes as well as costly failures. One kind of success was where an effective econom ic developm ent program m e was already under way, as with wheat farm ers in Punjab (India) already engaged in creating the ‘green revolution’. The other was in Tanzania, where the lim ited, essentially technical view of literacy as by itself sufficient to generate econom ic activity, was widened and effectively taken over by the political m om entum of a successful m ass cam paign. (UNESCO/UNDP 1976)

bution to the liberation of m an” and UNESCO could then assert: “... the concepts of functionality m ust be extended to include all its dim ensions: political, econom ic, social and cultural. Just as developm ent is not only econom ic growth, so literacy ... m ust aim above all to arouse in the individual a critical awareness of social reality, and to enable him or her to understand, m aster and transform his or her destiny.” (UNESCO/UNDP 1976, 191). Paulo Freire was a leading participant in the 1975 Sym posium and his early 1970s influence on the thinking of adult educators was profound.

4.7.  The purely technical view of functional literacy is no longer an im portant part of international thinking. But ‘functionality’ still form s a vital elem ent in the policy thinking of som e countries. For exam ple, India still lays great stress on it as an essential com ponent of successful literacy work; but this is often seen m ore broadly than in EWLP to include raising ‘awareness’. Developing countries will naturally wish to be functional; but they also wish to redefine and extend the idea to try and ensure success. The narrow approach to functionality was in fact being attacked even as UNESCO was prom oting it; and from two directions. The first depended on changing ideas of what would be effective in international developm ent strategies to replace the growth and hum an capital approaches of the 1960s, while the second was broadly political and given powerful expression for adult educators in the writings of Paulo Freire (Freire 1972 a; 1972 b; 1976). The effect of these two changes in attitude was clearly seen in the 1975 International Sym posium for Literacy which produced the m uch quoted Declaration of Persepolis (Bataille 1976), where literacy becam e “a contri-

4.8.  Since 1982 we can distinguish three strands in international strategic thinking about literacy: educaçion popular (m ainly in South Am erica); prom otion of the idea of m ass cam paigns (greatly influenced by the literacy success of revolutionary regim es — USSR, Cuba, Nicuragua); and the incorporation of literacy into ‘basic education’ as promoted at Jomtien (see 2. above). 4.9.  The first two strands have been productively interactive. A series of conferences and publications in the 1980s (e. g. Bhola 1983 a; Carron Bordia 1985; Fordham 1985) prom oted the target date of the year 2000 as the one by which illiteracy would have been ‘eradicated’ using an ‘accelerated’ m odel of literacy prom otion. And, as a consequence, 1990 was chosen by the UN as International Literacy Year (UNESCO 1989). There was som e disappointm ent am ong literacy cam paigners at the outcom e of the 1990 WCEFA at Jom tien (e. g. Torres in IDRC 1991), given the greater em phasis on quality in prim ary education at that event. And in the 1990s there is now m ore specific interest in wom en’s literacy (Bown 1990; Malm quist 1992; DCE/INCED 1992).

5.

Variations in literacy strategies

5.1.  Reference to different international strategies has been m ade in previous sections. Those prom oted since the 1960s m ay be classified as: functional literacy (as variously defined nationally and over tim e, and som etim es referred to as ‘selective — intensive’); conscientization; and m ass cam paigns; this is a classification which reflects em phasis rather than exclusive approaches. In the 1980s there have been other general state program m es which

63.  The Promotion of Literacy in the Third World

attem pt to com bine elem ents of experience from the other three approaches (Arnove & Graff 1987). 5.2. Functional literacy This was the approach of EWLP (4.6. above), but with the broadening out of the definition of functionality to include awareness (as in the Indian 1979 com paign, see Fordham 1980, 14—15), the approach continues to be used widely and in m any different form s. Indeed, ‘functional’ now seem s to cover alm ost all aspects of basic skills training to the point where it is seen both as self-justifying and the m eans to achieve a m ultiplicity of desirable outcom es such as em ploym ent, job creation, social cohesion or personal advancem ent. Many of these will be unrealistic within any particular programme (Levine 1982). 5.3. Conscientization The approach is closely associated with the work and writings of Paulo Freire whose early adult literary work in Brazil in the 1960s helped give rise to a num ber of works which cover a wide philosophical range in hum an nature, hum an consciousness, oppression and liberation (1972 a; 1972 b; 1976). The im portance of conscientization lies not so m uch in particular program m es as in the inspiration offered to radical educators and religious non-governm ental organisations, especially from the 1970’s onwards. Key concepts are d i a l o g u e and p a r t i c i p a t i o n, both of which have becom e keywords for educators of adults. The Freirean approach begins with an investigation — together with the people — into the culture, politics, econom y, society and language of the area. ‘Codified pictures’ leading to generative words are built up to stim ulate discussion and awareness of im portant aspects of the people’s daily lives. Critical reflection on this reality, rather than the rote learning of sym bols, words and phrases is designed to lead to a literacy which is liberating rather than dom inating (Freire 1972 b). Freire has consistently denied that his work leads to a specific m ethodology, and has never m ade com m ents on organizational or adm inistrative issues. The role of the educator is to engage in dialogue with illiterates about their ‘reality’, and to offer them tools with which they can teach them selves. Prim ers im posed from above are not appropriate. It is not so m uch specific Freirean projects which can be said to be successful — indeed several have been closed by governm ents because of their

787

political im plications (e. g. Freire’s own work in 1964 Brazil and the Swedish inspired work in Portugal in 1976) — but the influence of Freire’s thinking on other literacy work has been extensive. Learner centred, participatory literacy work am ongst non-governm ental organisations has been a noteworthy developm ent in m any countries and, in Latin Am erica, has m ade a m ajor contribution to the m uch wider educaçion popular m ovem ent (Archer & Costello 1990). 5.4. Mass campaigns The m ost successful of all efforts to prom ote third world literacy have been certain of the m ass cam paigns: Vietnam (1945 onwards), Cuba (1961), Tanzania (1971) Iraq (1978), Nicaragua (1979). For exam ple, Cuba and Nicaragua m ade dram atic reductions in illiteracy over periods of less than two years (24% to 4% and 50% to 13% respectively), while others (e. g. Tanzania) have achieved sim ilar success over a longer period or (e. g. Vietnam ) by carrying out a planned series of cam paigns (Bhola 1984; 1983 a; UNESCO 1965; Torres 1985; Miller 1985). The success of these cam paigns led m any literacy enthusiasts to argue that m ass cam paigns were to be preferred as the m ain strategy for literacy prom otion. At an International Sem inar on Cam paigning for Literacy the ‘Udaipur Declaration’ asserted that only “specific cam paigns with clearly defined targets can create the sense of urgency, m obilise popular support and m arshall all possible resources to sustain m ass action, continuity and follow up” (Bhola 1982 a, 245 para 2). It was also asserted in the Udaipur Declaration that a cam paign “m ust be seen as a necessary part of a national strategy for overcom ing poverty and injustice” (para 3); and this them e was subsequently developed by Bhola (1983 b) into an analysis which claim ed that literacy should not m erely lead to prosperity for som e, but also to greater social justice and em powerm ent for the poor (Fordham 1985, 30). The key factor in all of the successful m ass cam paigns has been recent revolutionary (e. g. Cuba) or radical (e. g. Tanzania) change in the nature of Governm ent and its determ ination to re-order the distribution of power and wealth in the society: for this universal literacy has been seen as a sine qua non. In m uch of the recent literature this key factor often re-appears in the phrase ‘political will’ (UNESCO 1992 a, 25) and is then applied m ore widely to include non-revolutionary ré-

788

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

gim es. But there is a general recognition that the rapid creation of m ass literacy does lead to social change, and political will is certainly necessary to accom m odate to it and help to direct it. (For a full analytical account of various literacy strategies see Lind & Johnston 1990, Chapter 9).

size and this often leads to better nutrition and child care and to reduced child m ortality. Even m ore striking is the influence of wom en’s literacy on the intellectual developm ent of children and their attendance and success in school. A study of the Gusii in Kenya of those with seven years schooling and those with none illustrates these differences. The educated m others provided the stim ulus of hom e reading while the illiterate m others did not. This in turn m eant that the children of educated m others better start in school in com parison with the others (UNESCO 1992 b, 8). Finally, as Bown notes, (1990, 4) the personal effects of wom en’s literacy are profound and include: a greater readiness to influence fam ily decisions; greater access to social and econom ic activities; new capacities for leadership and a readiness to organise against injustice.

6.

Literacy for women

6.1.  During the 1980s there was increasing em phasis on wom en as the m ost im portant focus of literacy for increased social justice and em powerm ent. Very recently this has received widespread expression in a num ber of publications which look at global trends and review a range of recent experience (Bown 1990; Lind 1990; Chlebowska 1990; UNESCO 1992 b; Malm quist 1992). The gender gap in education is well docum ented. For exam ple, in fourteen developing countries where literacy data are available, only one in five adult wom en can read, whereas the literacy rates for m en are as low in only five of these countries. And despite im proved prim ary school enrolm ents in the 1970s and 1980s, the lowest incom e countries had a prim ary school enrolm ent rate for boys which was 20 percentage points higher, on average, than that of girls throughout this period (UNESCO 1992 b, 9—10).

7.

Research

6.2.  The Jom tien Conference (1990) asserted that the m ost urgent priority in basic education was “to ensure access to, and im prove the quality of, education for girls and wom en ...” (World Declaration Article 3.3.) and this has been taken up by a num ber of national governm ents. For exam ple, the British Minister of Overseas Developm ent was quick to assert that “we shall ensure that wom en’s literacy and other issues of wom en in developm ent are m andatory criteria in assessing our program m es.” (Bown 1990, 46). The benefits of reducing the gender gap in literacy m ay be analysed as positive for: the econom y, fam ily size, fam ily welfare, the education of children and women’s autonomy.

7.1.  Considering the prom inence given to the prom otion of a d u l t literacy in the third world, there is still a startling im balance between the work done on child reading and writing and that on adults; the latter is sparse and not well coordinated, while the form er is extensive. However m ost existing research studies derive from the industrialized world which has based its m ain literacy efforts on prim ary education — the ‘gradualist’ m odel noted in 4.2. above. Moreover, research and especially funding for research, is still dom inated by these sam e countries (Lind & Johnston 1990, 25; Gray 1969; Wagner 1987; 1990). Experim ental studies like that of the EWLP evaluation m entioned in 1.7. above are rare in this field, although donor agencies increasingly dem and som e kind of evaluation which m easures program m e achievem ents against pre-determ ined objectives (Preston 1991). Lind’s analysis of the Mozam bican cam paign (1988) and Jennings’ work on Bangladesh (1990) are unusual both in their thoroughness and in their attem pt to set the local efforts in the context of work elsewhere.

6.3.  Wom en as producers have often been ignored. But in Africa, for exam ple, they constitute 46% of the labour force. The link between farm er education and farm er efficiency suggests that m ore literacy for wom en would be expected to lead to greater agricultural yields. There is usually an inverse correlation between fem ale education and fam ily

7.2.  There is a distinctive contribution to m ethodology which stem s directly from the work of activists in adult literacy, nam ely p a r t i c i p a t o r y research. This builds on the work of Paulo Freire and of his followers in program m es of educaçion popular in South Am erica (Erasm ie & de Vries 1981) and has also been used in Asia and Africa (Kassam &

63.  The Promotion of Literacy in the Third World

Mustafa 1982). In this approach there is not only an attem pt to m axim ise the involvem ent of intended learners in com m unity surveys, but also to use them as evaluators of their own learning and its social effects. Freirean praxis through action, reflection and action is intended to achieve continuous im provem ent in the attainm ent of program m e objectives. 7.3.  That the research needs outlined by the International Council for Adult Education in 1979 are still current is a reflection of how lim ited has been the progress in research in subsequent years. Lind & Johnston (1990, 130—132) suggest the following as ‘crucial’ areas for the im m ediate future: the im pact and use of literacy; language issues; m obilisation and training of volunteer teachers; curricula, content and m ethods; drop-outs (wastage); quality versus quantity; post-literacy; and sponsorship/organisation. Finally, it should be said that the variability noted in para 1 of this paper will inevitably m aintain its own dynam ic for change in the research agenda.

8.

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Paul E. Fordham, Coventry (Great Britain)

64. UNESCO’s Efforts in the Field of Literacy 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

1.

Introduction: International Literacy Year 1990 The literacy situation in the world The changing political and economic climate Literacy/illiteracy in international perspective Literacy efforts: The approaches Future prospects for literacy References

Introduction: International Literacy Year 1990

International Literacy Year 1990 has provided the opportunity to look critically at forty years of efforts to prom ote literacy and education in general as basic hum an rights. As an intergovernm ental agency, UNESCO has prodded and pushed, but above all, has served as a m irror of the state of the world’s conscience and com m itm ent in the field of literacy. After a period of initial optim ism and confidence in governm ents’ will to introduce education m assively to all, the Organization found that m ost countries were sim ply

unable or unwilling to introduce such m assive change. While UNESCO had prom oted what it called the “m ass literacy cam paign” approach in its early years, it turned to a m ore targeted strategy, called “functional literacy” program m es in the m id 1960s and early 1970s. When learners in these latter program m es discovered that the only “functionality” involved was to m ake them better workers, the m ajority of these experim ents failed. UNESCO’s approach since that period has been to provide technical expertise and advice according to specific needs in specific contexts is an indication of the world com m unity’s pulse in recent years. No single solution can be applied across countries. Program m es and strategies m ust em anate from perceived needs within individuals and their communities. But as we m ove away from sim ple recipes and slogans to, for exam ple, “eradicate illiteracy by the year 2000”, we have to convey a m ore com plex m essage. First of all, the fundam ental m essage of International Liter-

64.  UNESCO’s Efforts in the Field of Literacy

acy Year has been that literacy m atters and it m atters greatly. Also, literacy is everyone’s concern. The num ber one responsibility rem ains that of the public sector but there is a place for every actor in a larger alliance to prom ote a fully literate world: the state, the private and voluntary sectors, non form al education, non governm ental organizations, business, the m edia, com m unity groups and so forth. Unfortunately, it is not easy to find a clear language to com m unicate across countries and to all sectors of society. Too frequently, international organizations have developed a special language to talk about literacy which gets in the way of international understanding. Then, the m edia have frequently presented a fairly unrepresentative stereotype of the individual who has insufficient basic skills. In reality, an individual who lacks sufficient basic skills to m eet his or her own needs is usually a fully functioning fam ily m em ber with responsibilities and/or a person who perceives need in term s of em ploym ent possibilities. That person is not ignorant. Such individuals who com e forward to develop their literacy and num eracy skills know precisely who they are and what they want to learn as a result of personal life and fam ily goals. We would like to get beyond this negative approach. We would like to work with adult learners to form ulate their learning goals. In the case of som e peoples, it is a m atter of seeing how best oral cultures can be enhanced and com plem ented by literacy. It is certainly not a m atter of one replacing the other. In other instances access to the written word involves a form of bilingualism : for exam ple the deaf who m aster sign language live in and com m unicate within an authentic culture of the deaf. They m ust have access to the written word to participate in the world of the hearing. Num erous exam ples could be given of groups whose right to the written word has not been fully recognized. Another challenge in addition to that of com m unication is to clearly define what we are really talking about. Unfortunately, the pressure to speak sim plistically is enorm ous. That pressure has been felt at som e tim e or the other by all literacy pracitioners. On the one hand, teachers of children and adult educators are m ore concerned with identifying needs and responding but the call for accountability and statistics is overwhelm ing. Funding agencies want to see how their m oney is being spent and evaluate the efficiency of their

791

investm ent. As m atters currently stand, however, there are sim ply no truly reliable statistics which can be used for cross-national com parison, let alone for ranking one country as m ore successful than another (→ art. 62). Literacy acquisition is a m ore com plex issue than is that of counting doses of vaccine m ade available in a particular country. Unfortunately, the language of international organizations, such as UNESCO, has in som e ways contributed to the confusion. The work of UNESCO, as well as that of other providers, is frequently broken up into program m es or projects. These projects or program m es m ay have a life-span of a few m onths or a few years. The first phase is usually called the “literacy program m e”. What com es next is called “post-literacy”. Young people or adults who have participated in program m es or schooling and who do not sustain their skills are said to “relapse into illiteracy” as if they had acquired a dose of knowledge and then lost it. This approach m ystifies our understanding of what is really going on and, of course, contributes to blam ing the victim . First of all, learning to read and write is a com plex process which goes far beyond sim ply de-coding the alphabet. All individuals do not learn at the sam e speed or by the sam e m ethods. It is thus m ore accurate to speak of young people or adults who leave school or literacy program m es with fragile basic skills. These skills are not sustainable for a variety of reasons. But there is no question of a “relapse”. Secondly, what is readily called “post-literacy” is really a provision of appropriate tuition or reading m aterials to enable the further developm ent of basic skills. It is not, however, an autonom ous state of being which can be objectively identified. This confusing language also plagues adult basic skill provision in countries where it is closely linked to labour m arket insertion initiatives. The unem ployed are frequently entitled to a certain num ber of hours of training and that legal allowance tends to define the content of learning. Work-place program m es also tend to respond to other agenda than those which reflect a learners’ aspirations or reality. Am ong the objectives for International Literacy Year, a high-level national com m itm ent to ensure a fully literate society was forem ost. It is essential that a longterm partnership be forged to keep literacy and basic education as hum an rights on national agendas around the world. Advocacy and m obilization undertaken during 1990 will be judged by the kinds

792

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

and quality of longterm com m itm ent we have been able to ensure. In som e countries, this com m itm ent has taken the form of national legislation to ensure basic skill acquisition for all, children and adults alike. In other countries, where recognition of literacy needs and weaknesses in the form al education system is just em erging, progress has to be gauged in other term s. We judge ourselves by how adequately we have really analyzed specific contexts and taken a step forward. That step forward is necessarily different from group to group, from country to country and from one form of international cooperation to another. We can m easure our success by our own flexibility in learning from settings in countries of the South as well as countries of the North; by recognizing that we can all learn from each other. Respect for diversity m ust be a longterm goal, even when im m ediate priorities have to be tailored to suit hum an and financial resources. A last but critical elem ent of International Literacy Year was the role of new voices. The aspirations of adult learners have been reflected for the first tim e in the international debate. A m ajor exam ple, the Book voyage of learners’ writing, has been both a sym bolic gesture and a forceful statem ent in favour of the em powerm ent of all. There is now a collective responsibility to ensure that learners, young and older alike, have a voice in shaping their futures. We should not subm it to the discourse which argues that an increasingly technological world will require a flexible work-force able to adapt to its needs and requirem ents. Rather, we should provide educational opportunities which enable real choice as to whether specific technological innovation is really in the best interest of humanity.

erates in the year 2000, representing 22 per cent of the adult population. In this sam e year, all but 23.5 m illion of the 942 m illion illiterates will be found in the developing countries. The decrease in the absolute num ber of illiterates will be observed only in developing countries of Eastern Asia (which includes China), in Latin Am erica and the Caribbean, and in the industrialized countries.

2.

The literacy situation in the world

The Unesco Office of Statistics regularly analyzes the literacy situation in the world as well as a num ber of other indicators of participation in education. In Novem ber 1989, it com pleted such an analysis. Table 64.1 illustrates the m ajor findings. The num ber of adult illiterates (15 years old or above) in 1985 was estim ated at 965 m illion, with the worldwide illiteracy rate 29.9% of all adults. That figure was expected to decrease to 962.6 m illion by 1990. Thus, the num bers should continue to decline slowly. Yet if past trends continue, there will still be 942 m illion illit-

Adult Illiterates* (in millions) World total Developing countries in the regions of: Sub-Saharan Africa Arab States Latin America and the Caribbean Eastern Asia Southern Asia Developed countries

1985 1990 2000 965.1 962.6 942.0 908.1 920.6 918.5 133.6 138.8 918.5 58.6 61.1 65.8 44.2 43.5 40.9 297.3 281.0 233.7 374.1 397.3 437.0 57.0 42.0 23.5

Illiteracy Rates** 1985 1990 2000 (percentages) World total 22.9 26.9 22.0 Developing countries 39.4 35.1 28.1 in the regions of: Sub-Saharan Africa 59.1 52.7 40.3 Arab States 54.5 48.7 38.1 Latin America and 17.6 15.2 11.3 the Caribbean Eastern Asia 28.7 24.0 17.0 Southern Asia 57.7 53.8 45.9 Developed countries 6.2 4.4 2.3

% — 7.9 — 11.3 — 18.8 — 16.4 — 6.3 — 11.7 — 11.8 — 3.9

Table 64.1:Adult illiterates and illiteracy rates for both sexes, Years 1985, 1990, 2000. % = Decrease 1985—2000 Note: The foregoing are preliminary results. Countries and territories with less than 300,000 inhabitants have not been taken into account. Some countries are classified at the same time as Sub-Saharan Africa and as Arab States. * Adults = those age 15 and over ** Percent of population over age 15 that are illiterate Source: Unesco Office of Statistics, 1990

The world illiteracy rates were also projected to decline from 29.9% in 1985 to 26.9% in 1990 and to 22% in 2000. However, there is considerable variation in the extent of this decline between different groups of countries. For exam ple, between 1985 and 2000, the rate in Sub-Saharan Africa is expected to drop

64.  UNESCO’s Efforts in the Field of Literacy

18.8 percentage points com pared to 16.4 percentage points for the Arab States, 6.3 for Latin Am erica and the Caribbean, and approxim ately 12 points for both Eastern and Southern Asia. In the developing countries in 1990, adult illiteracy rates were highest in Southern Asia (53.8%), followed by Sub-Saharan African (52.7%), Arab States (48.7%), Eastern Asia (24%), and Latin Am erica and the Caribbean (15.2%). This ranking is expected to rem ain valid in the year 2000, although individual rates will likely decrease. In 1990 the illiteracy rates were estim ated to be higher than 40% in 49 countries, 30 of them in Sub-Saharan Africa. If this trend is not m odified, in the year 2000 there will still be 33 countries in the sam e situation, 22 of them in Sub-Saharan Africa. These figures do not distinguish between m en and wom en who are illiterate. Invariably, however, wom en have higher rates of illiteracy, and the differences in percentage points between the sexes are quite large in Africa and Asia (21 points in 1985) but m uch sm aller in Latin Am erica and the Caribbean (4 points). These figures on adult illiteracy in the world do not take account, of course, of the m ore than 140 m illion school-age children who have never attended any form al or nonform al educational institution. Nor do they take account of a sim ilar num ber of children who drop-out prior to com pleting four years of prim ary schooling. Further, they m ake no reference to the uncalculated num bers of children who have seen the quality of their prim ary schooling severely eroded as a result of persistent economic austerity. A final note. UNESCO statistics are based on figures provided by governm ents of its Mem ber States. They are usually based on census data. Thus, the Office of Statistics m ay be using data collected at different tim es in different countries. The census inform ation m ay be based on a sim ple question, such as “How m any people in your household can read or write?” What is m eant by literacy and illiteracy m ay be different or unclear. Therefore, it is im portant to recall that these figures should be treated with caution. They do not provide a valid ranking of countries and are only roughly com parable. They indicate broad trends; the m ethodology to project these trends is constantly being refined (→ art. 62).

793

3.

The changing political and economic climate

This brings us to the political and econom ic clim ate worldwide and how it affects the quality and quantity of educational provision. Doing so helps us to situate efforts to ensure the developm ent of a fully literate world. Looking back, we find the 1960s and early 1970s were a period of optim ism concerning the value of education to enhance the life chances of all young people. The world enjoyed a period of enorm ous educational expansion as well as innovation in the form of com pensatory m easures to ensure equality of opportunity. The dem ocratization of education m ovem ent guided m ajor policy shifts in both industrialized and developing countries. But with the onset of econom ic recesssion about 1974, governm ents began looking m ore closely at the social sector as a whole. Education loom ed up as the m ost probable area for saving. Why education? As Keith Lewin in a study for UNESCO has pointed out: Social sector spending is m ore likely to be under dom estic control than, say, debt servicing and is therefore m ore im m ediately susceptible to governm ent action. Second, as one of the largest segm ents of social expenditure, it presents itself as having the greatest potential for substantial savings. Third, where econom ic policy favours a dim inution in the role of the state and lim itation in the service that it is responsible for, social services as a whole are likely to be vulnerable. Finally, where short-term planning horizons are dom inant, it is those sectors which have long lead tim es and long-term benefits that appear least attractive (Lewin 1986, 223).

These views continue to dom inate policy m aking in num erous industrialized and developing countries. The 1980s were particularly hard on the poorest countries, indeed on poor people everywhere. In m ore than half of the leastdeveloped countries, per pupil expenditure on prim ary education declined in real term s to the point that the education system s are on the verge of collapse. A UNESCO study which appeared in 1990 showed that prim ary education enrolm ent is dropping in one out of every five developing countries. In som e African nations, prim ary school student num bers declined between 1980 and 1985 by as m uch as one-third. Policies to restructure econom ies, devised to deal with the debt crisis, are contributing to this educational deterioration. Even when inflation is taken into account, educational spending per prim ary

794

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

school student has declined over the last decade in half of the world’s countries. The quality of education is also suffering. For exam ple, two-thirds of the teachers in developing countries currently receive lower salaries than they did in 1980. Class sizes have expanded. It is m ore com m on to see 60 pupils in a classroom in Africa than the exception. In a num ber of developing countries, there is evidence that parents no longer perceive school attendance as valuable. This state of affairs was not the case during the 1960s and early 1970s, even in developing nations. In those earlier decades, Sub-Saharan Africa alone doubled its school enrolm ent from 20 to 46 million pupils. The current clim ate has been described by Eric Hewton (1986) in Education in Recession as one in which a “cutback culture” prevails in the industrialized countries. There is am ple evidence to show that m ost of the support system s put in place in the 1960s have been seriously cut — rem edial education, com pensatory program m es, and school m eals. Class sizes have increased in the industrialized nations, especially in the early elem entary grades and lower secondary schooling. In effect, it is these critical years for basic-skill acquisition which have been most hard hit. Each continent has a growing body of literature recording the waste of untapped hum an potential. In Latin Am erica, structural adjustm ent policies have led to what is called a “lost generation”. Hence, it is not surprising that broad literacy projections reflect the fact that the world is not progressing at the sam e pace as in the preceeding period. On the other hand, the geopolitical clim ate of the world is changing rapidly before our eyes. The growing trend towards cooperation between the United States of Am erica and the states of the form er Soviet Union opens up opportunities for governm ents to reconsider national priorities. The m ovem ent of Western Europe towards the elim ination of m any econom ic and legal barriers in 1992 and the rapid changes taking place in Eastern Europe are providing new possibilities to readjust national goals. Throughout the world, countries can now seriously consider reductions in arm s expenditures and can place education back on national agendas for highlevel public com m itm ent. It is also tim ely that the United Nations declared 1990 International Literacy Year. UNESCO and the other agencies of the United Nations System , the World Bank, and num erous bilateral and

m ultilateral aid agencies have prepared m ajor strategies to assist countries in providing better and more educational opportunity.

4.

Literacy/illiteracy in international perspective

Having set the stage, we should now look m ore closely at what the international literature tells us about definitions of literacy and illiteracy. The definitions can be grouped in three broad categories: those which view literacy as a set of basic skills; those which view literacy as the necessary foundation for a higher quality of life; and those which view literacy as a reflection of political and structural realities. For gathering the literacy statistics with which we began this chapter, UNESCO provided the following guidelines to its m em ber states in the 1978 “Unesco Revised Recom m endation Concerning the International Standardization of Educational Statistics”. The following definitions should be used for statistical purposes: (a) A person is literate who can with understanding both read and write a short simple statement on his everyday life. (b) A person is illiterate who cannot with understanding both read and write a short simple statement on his everyday life. (c) A person is functionally literate who can engage in all those activities in which literacy is required for effective functioning of his group and community and also for enabling him to continue to use reading, writing and calculation for his own and the community’s development. (d) A person is functionally illiterate who cannot engage in all those activities in which literacy is required for effective functioning of his group and community and also for enabling him to continue to use reading, writing and calculation for his own and the community’s development. This attem pt to give som e guidance to the international com m unity in order to have globally accepted definitions has proved difficult to apply. The guidelines were intended to be used in the collection of statistics either through a national census or through a standardized test. In m any countries, the guidelines have sim ply proven unusable. Countries

64.  UNESCO’s Efforts in the Field of Literacy

such as Canada and the United States usually refer to grade-level or num ber of years of schooling as a reflection of literacy levels. Other countries, particularly in the developing world, look to school enrolm ent indicators to give som e idea of how m any people have been given at least som e opportunity to learn to read and write. Each of these types of indicators has its shortcom ings. When literacy skills are m easured by grade-level, it is usually assum ed that a standardized test can be used to evaluate a reading level associated with a particular grade. However, these tests have been strongly criticized as arbitrary and insufficient when they are the sole criterion for m easuring attainm ent (Anderson et al. 1985; Owen 1985). School-enrolm ent indicators also provide incom plete inform ation. They do not adequately reflect how m any children repeat a year of schooling, how m any children dropout along the way, or anything about the quality of the instruction they receive (Coombs 1985). Another approach to defining literacy was introduced by UNESCO in the late 1960s and early 1970s with the Experim ental World Literacy Program m e (EWLP). The term “functional literacy” becam e associated with workoriented program m es. Indeed, the EWLP was conceived as a special program m e for specific groups of adults in a num ber of developing countries. The idea behind the program m e was that developing countries could usefully follow in the path of the industrialized nations. There were necessary stages of developm ent in capitalist societies. When certain sectors of the econom y reached what was called the “take-off” stage, they were ready for special attention. If developing countries could not afford to educate all their adults, they should focus on those adults working in the productive sectors; to provide literacy instruction would m ake them even better workers. The net result of the program m e in 11 countries was generally disappointing (UNESCO 1976). One of the key ingredients of a succesful literacy program m e had been neglected, that of learner m otivation. Workers in the sectors selected for the experim ental program m e could see no direct advantage to them selves in becom ing m ore “functional” to their em ployers. Hence, the term functional literacy as used in such a context took on a specific ideological connotation. It was perceived as a m ethod of creating a m ore efficient

795

work force without concern for the needs and goals of individuals. In the later 1980s, the term functional literacy/illiteracy led to another set of difficulties which illustrates the problem of discussing literacy in an international setting. A large num ber of industrialized countries have been reluctant to recognize that there are sizable num bers of young people and adults in their populations who are either com pletely illiterate or who possess very little m astery of the written word (→ art. 73). Countries such as Canada, the United States, and Great Britain have been addressing the problem in various degrees for m any years (Hunter & Harm an 1979; Lim age 1986; 1990). Countries such as France, the Federal Republic of Germ any, and the Nordic nations only officially recognized this issue in the early and m id-1980s. Indeed, m any people in these and other industrialized countries have found it difficult to accept the idea that nations which have had obligatory schooling for m ore than one hundred years can possibly have illiterates in their populations (Lim age 1975; 1990). In addition, there is a strong reluctance for people to look at what is going on in schools which m ight affect children’s learning, or that affect their not learning, as the case m ight be. In France, for instance, it was always assum ed that the m illions of im m igrant workers who resided in the country provided the only possible illiterate population. Courses were created from the late 1960s onwards called “alphabétisation de travailleurs m igrants” (Alphabétisation in French m eans “literacy tuition”). In reality, these courses were, and rem ain, “French as a second or foreign language”. In m any cases, the im m igrants have been literate in their first languages but not in French. But to add to the confusion, when the French governm ent officially recognized in an official report in 1984 (Espérandieu et. al. 1984) that native French speakers m ight be illiterate, they used a newly-created word for the purpose: illettrisme. This new word was intended to distinguish French illiterates from im m igrants and also to show that people who had been to school for som e period of tim e had a different kind of illiteracy than those who had never attended school. An enorm ous controversy continues in France as one vocabulary is used for French people and another for im m igrants from the Mediterranean Basin countries and Africa. Other countries do not use separate words for literacy/illiteracy when referring to im -

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

m igrants and nationals or when referring to literacy problem s in the developing countries. Nonetheless, the issue has reached the forum of international organizations such as UNESCO. At the 1989 General Conference of UNESCO, m any representatives from developing countries denounced the use of one vocabulary for the industrialized nations and another for their own country (Lim age 1990). They rejected the idea that it is m ore noble or different to be illiterate in an industrialized country than in a developing one. The term “functional literacy/illiteracy” (illettrisme in the French case) was being used in the General Conference docum ents to refer to the industrialized countries and illiteracy on its own referred to the developing nations. As a result, the author of this chapter, as a m em ber of the International Literacy Year Secretariat of UNESCO, has been engaged in a system atic review of term inology to be used in the international discussions as an effort to produce term inology which will not prove insulting to individuals, com m unities, or groups of countries, a task necessary for m aking international comparisons fair and meaningful. Another illustration of the com plexity of talking about literacy took place am ong the four international agencies organizing the World Conference on Basic Education for All (WCEFA), held in Thailand in 1990. Unicef, UNESCO, the World Bank, and the United Nations Developm ent Program m e (UNDP) have sought to m ake education once m ore the national and international priority as m entioned earlier in this article. The four have been concerned both with im proving and expanding prim ary education and providing basic skills for all adults. Literacy and num eracy are viewed as part of a larger concept — “basic education” — whose precise characteristics have continued under debate. For the purposes of our discussion of literacy in this chapter, however, we propose one advanced by Hunter & Harm an (1979). Literacy, then, becomes:

with dem ands m ade on them by society; and the ability to solve the problem s they face in their daily lives.

the possession of skills perceived as necessary by particular persons and groups to fulfill their own self-determ ined objectives as fam ily and com m unity m em bers, citizens, consum ers, job-holders, and m em bers of social, religious, or other associations of their choosing. This includes the ability to obtain inform ation they want and to use that inform ation for their own and others’ well-being; the ability to read and write adequately to satisfy the requirem ents they set for them selves as being im portant for their own lives; the ability to deal positively

This type of definition leaves it to the individual to set goals and decide what role literacy will play in his or her life. It does not place in the hands of an em ployer or an institution the decision about what it is to be “functional”. The definition is very m uch in tune with successful literacy cam paigns and classes. For exam ple, the guiding principle behind m ost adult literacy provision in the United Kingdom since the 1975 awarenessraising cam paign has been to let the learner set goals, pace, and content (Lim age 1975). Indeed, since exam inations of all types can lead to stress for the learner, m ost perceptive adult educators have avoided testing when possible. When funding of program m es depends on such evaluation, however, program m es have had to com prom ise. As recently as late 1989, three British groups — the Adult Literacy and Basic Skills Unit, the Training Agency, and the British Broadcasting Corporation — created com m unications and literacy program m es leading to certification that requires testing. The organizations proposed that the tim e was right for certain groups of people with lim ited basic skills to undertake a course and obtain som e kind of diplom a which m ay help them find a job or improve their career opportunities.

5.

Literacy efforts: The approaches

Our discussion of the im plications of literacy definitions for international perspectives leads us to a brief overview of the kinds of efforts intended to reduce the illiteracy figures m entioned in the beginning of this chapter. The Universal Declaration of Hum an Rights, adopted by the United Nations on December 10, 1948, declares in its Article 26: Everyone has the right to education. Education shall be free, at least in the elem entary and fundam ental stages. Elem entary education shall be com pulsory. Technical and professional education shall be m ade generally available and higher education shall be m ade equally accessible to all on the basis of merit.

A num ber of other conventions, recom m endations, and declarations have appeared since that tim e, attem pting to further defined the right to learn. Broadly speaking, however, literacy efforts have been two-pronged: the expansion and im provem ent of prim ary education and adult literacy provision. Al-

64.  UNESCO’s Efforts in the Field of Literacy

though som e countries have attem pted to address the issue of illiteracy as a continuum for children and adults alike, m any others have kept the discussion of schooling separate from that of adult education. In addition, international trends set by funding agencies which hold the debt of m any developing countries prevent these countries from establishing their own priorities. When for exam ple, funding agencies prom oted investm ent in higher education rather than prim ary schooling or adult basic education, m any developing nations placed their scarce resources in higher education (Coombs 1985). Setting priorities for investm ent has strong im plications for the type of literacy effort which will be undertaken. The agencies that prom ote the im provem ent and expansion of only prim ary education consider that it is better to provide basic skills for the young. They contend that adults m ight not be successful learners, and eventually illiteracy will be elim inated by the passing of the older generation. But as we saw earlier in the chapter, the quality of prim ary schooling is in serious jeopardy as a result of deteriorating econom ic conditions. Even in the industrialized countries, expenditure per pupil is not increasing as it did during the 1960s and early 1970s. A second strategy in literacy provision is the target approach which was illustrated earlier by the Experim ental World Literacy Program m e and its work-oriented plan. This approach is still used when adequate resources and high-level public com m itm ents are lacking. Such is very clearly the case in industrialized countries which are increasingly turning towards the voluntary or private sector to fill in the gaps left by public provision. Countries with a strong history of charitable activity and volunteer work, such as the United States and the United Kingdom , are quick to respond to this type of program m e. But the ability of sm all-scale projects or program m es to deal with the com plex problem of illiteracy is necessarily limited. A third approach to elim inating illiteracy is the m ass cam paign. In the 20th century, the Soviet Union undertook the first such program m e. In general, with such a schem e, literacy is seen as a m eans to a larger set of political, social, and econom ic goals. As Harbans Bhola has put it, the m ass cam paign is a declaration of “business not as usual” (Bhola 1984). Entire populations are m obilized, so that all are involved in the learning

797

process in som e way. Literacy is presented as part of a package which prom ises tangible change in the quality of life for the entire society. In Cuba, the slogan was “Each one teach one” (→ art. 68). In Viet Nam , the literacy cam paign was part of the struggle for independence, first from France and later in the war with the United States. In the Soviet Union, both social change and nation-building were involved. Hence, literacy instruction was carried out in m ore than 50 languages spoken there, and alphabets were created for a num ber of languages that had a purely oral tradition (→ art. 66).

6.

Future prospects for literacy

After the m obilization for advocacy and action during International Literacy Year and the longterm strategies called for in UNESCO’s Plan of Action and the World Declaration on Education for All, what can international cooperation and national com m itm ent hope to achieve in the near future? Perhaps, it is first of all necessary to adm it quite realistically that, as long as econom ic conditions dom inate educational planning, it is probable that choices regarding educational investm ent will continue to be m ade based on expediency rather than on lessons learned about effective instruction. In other words, a continued effort will be m ade to do m ore with less. Nonetheless, the lesson to be learned from all literacy efforts — be they form al schooling, cam paigns, or targeted projects — is that success is based on three crucial factors: highlevel national com m itm ent, m obilization of hum an and financial resources, and popular participation. High-level national com m itm ent m eans that education is essentially a public responsibility and governm ents should give it the necessary priority. Mobilization of hum an and financial resources m eans that governm ents should be able to allocate resouces to the social sector, including education, on a greater scale than has been the case throughout the 1980s. Popular participation m eans that literacy is everybody’s concern. Once a m ajor public com m itm ent has been m ade, there is a role for voluntary and com m unity initiatives, private and business involvem ent, the press and television, and international cooperation. In conclusion, it is not necessary that everyone has the sam e view of what constitutes literacy or that we all have a single m odel of

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

how to prom ote its acquisition. International com parisons will continue to provide a rich range of experience which can be adapted to local needs and aspirations. The interdependency of the world requires that we better be able to com m unicate with each other. Literacy is a key to the quality of that com m unication.

Hunter, C., & Harm an, D. 1979. Adult Illiteracy in the United States. New York. Lewin, Keith. 1986. Educational Finance in Recession. Prospects, 16, 215—229. Lim age, Leslie. 1975. Alphabétisation et culture: Etude com parative. Cas d’études: l’Angleterre, la France, la République Dém ocratique du Viet Nam et le Brésil. Unpublished doctoral dissertation. Paris: University of Paris V. —. 1986. Adult Literacy Policy in Industrialized Countries. Com parative Education Review 30, 50—72. —. 1990. Adult Literacy and Basic Education in Europe and North Am erica: From Recognition to Provision. Comparative Education. Owen, D. 1985. None of the Above. Boston. UNESCO. 1976. The Experim ental World Literacy Programme. Paris, UNESCO. UNESCO Office of Statistics. 1990. Com pendium of Statistics on Illiteracy — 1990 Edition. Paris, UNESCO.

7.

References

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Leslie J. Limage, Paris (France)

65. Mother Tongue Literacy — the Work of the S. I. L. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

1.

Background The scope of SIL’s work in literacy Literacy program methodology and strategy Language, literacy, and development — social and national dimensions Language and literacy — theoretical advances Language, literacy, and development — applied theory The problem of cost effectiveness References

Background

The Sum m er Institute of Linguistics (SIL) is a philanthropic, non-governm ental organization com m itted to linguistic research, language developm ent, literacy, and other projects of practical, social, and spiritual value to the lesser known cultural com m unities of the world. From its hum ble beginnings in 1935 in Mexico, the work of SIL has grown and spread to m ore than 50 countries and well over 1,000 languages. A distinctive feature of the Institute is its focus on unwritten (undeveloped) languages. Those speaking such languages frequently dwell on the fringes of national life living in

geographic, social, and econom ic isolation. Consequently, SIL’s focus on unwritten languages coincides with service to som e of the poorest and m ost disadvantaged peoples living today. The developing countries contain m ost of the world’s 6,170 living languages (Grim es 1988). More than 60 percent (3,764) of these languages are spoken in Africa and Asia, and another 20 percent (1,216) are spoken in the islands of the Pacific. It is estim ated that 98 percent of the world’s illiterates live in these countries (Cárceles 1990). Though individual language com m unities can be relatively sm all, cum ulatively, they m ay well m ake up a large portion of the population of a given country. For exam ple, in Guatem ala, 44 percent of the population is m ade up of local language com m unities. In Papua New Guinea, the ratio is about 98 percent and in a num ber of African countries, close to 100 percent.

2.

The scope of SIL’s work in literacy

For som e 50 years, SIL has been pioneering the study, developm ent, and docum entation of m inority languages. This work has not only

65.  Mother Tongue Literacy — the Work of the S. I. L.

contributed to national and international understanding of the richness of hum an languages, but has also served to elevate m inority peoples them selves in their respective worlds. The contribution of SIL in the field of language developm ent and literacy is not just sym bolic — it is also of substantial scope. The following statistics convey a sense of the scope of this effort: — To date SIL has carried out linguistic work in 1,320 languages in more than 50 countries; — At present SIL has active work in 863 languages in more than 50 countries; — To date SIL has carried out work in literacy, community development, and education in approximately 750 languages spoken by more than 70 million people; — In 325 of these 750 cases, SIL introduced literacy in the vernacular language for the first time; — To date SIL has developed a writing system and supporting educational material for more than 800 languages; — To date, more than 12,000 titles of pedagogical and vernacular materials have been written, published, and distributed in more than 1,200 languages; — Hundreds of thousands of local teachers have been trained and an estimated 40—50,000 rural villages and hamlets now have access to literacy as a result of SIL’s work; — An estimated 2 million people have become literate as a direct result of SIL’s work in literacy. Unknown additional millions have become literate as an indirect result of this work; — 5 national level bilingual education programs have been organized and institutionalized with SIL assistance; — To date SIL has trained more than 5,000 specialists in descriptive linguistics. The statistics reflect only one dim ension of SIL’s contribution. Its contribution — on the one hand to grassroots hum an developm ent, and on the other to constructive national policy towards m inorities — is difficult to quantify.

3.

Literacy program methodology and strategy

Basic SIL strategy in literacy is that of the com m unity program and m ay be characterized by means of the following four principles.

799

3.1. Community based programs As a service and developm ent organization, SIL’s work is people centered. It typically works m ost com fortably and effectively at the com m unity level rather than at the national or international level. The vast m ajority of SIL’s work in the field of literacy has focused on adults. Attention to adult literacy is seen as being im portant for two reasons. First, adults are the ones who bear the responsibility of seeing to the welfare of their fam ilies and com m unities. They m ust m ake decisions having long term consequences for them selves and their children. They need to m ake use of every possible resource to carry out this responsibility well. Secondly, experience has shown that when children becom e literate while their parents rem ain illiterate, a process of social disruption and disorientation is apt to set in, producing confusion on all sides. Conversely, literate adults are m uch m ore apt to seek education for their children. 3.2. The linguistic approach A good m other-tongue literacy program begins with linguistically sound m aterials. UNESCO has recognized this principle, calling for the linguistic study of unwritten languages before the production of dictionaries, vocabularies, and literacy m aterials begins. Sim ilarly, SIL requires its field linguists and literacy specialists to have a solid background in linguistic theory and field m ethodology before beginning fieldwork. In the field, linguists com m it large blocks of tim e to living in the local com m unities, learning the local language well, and doing careful analysis before beginning work on literacy materials. 3.3. Culturally adjusted programs Language and culture form the m atrix by which we express ourselves and m eet the world. It is im portant to link education with the environm ent and social structure of the learner. To be effective, classes need not take place in a costly cem ent-block building. They can be held in churches, m osques, factories or even in the open air. Sim ilarly, m aterials should be specific to the local environm ent. Learners m ust recognize their surroundings in the pages of their prim ers and readers. Reading m aterials are m ost effective when focused on com m on local problem s and when pictures and illustrations evoke images familiar to the learner.

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

To that end, SIL adapts its literacy instruction to the environm ent and social structure of the learner. Illustrations and stories reflect fam iliar settings. Artwork is often supplied by local artists. Easy readers contain stories reflecting local experiences, values, and legends.

brings a greater sense of personal dignity, additional skills in problem solving, and the respect of others who tend to view the illiterate as an ignorant and m arginal person fit only for common labor. Literacy benefits both individuals and their com m unities. Learning to read boosts selfesteem and provides im portant new skills. In Africa, farm ers discovered that they began getting better prices for their crops when it was evident they could read and write. In the Philippines, newly literate adults have begun opening bank accounts and m anaging their m oney m ore knowledgeably. In India, newly literate Oriyans now qualify for desirable jobs which had previously gone to outsiders. Moreover, the effects of literacy often extend beyond personal benefits. UNESCO has stated that an effective literacy program can lead to participation in form al com m unity organizations. This has been evident in SILdirected literacy program s. For exam ple, after becom ing literate, the Vagla of northern Ghana began to increase their involvem ent in the political affairs of their com m unity. In 1979, four years after the program began, they had equal representation on the District Council Com m ittee in Bole. The Bim oba, also of Ghana, have begun to organize their own cooperatives and to do long-range econom ic planning (Bendor-Sam uel & Bendor-Sam uel 1983). For those living where there is frequent contact with the national socioeconom ic system , literacy is a watershed skill. A Blaan m an from the Philippines m ade this point cogently when he said, “Years ago, when we voted, we had to put our thum b print on the ballot to show that we had voted. Even then, we couldn’t read the ballot so we didn’t know for whom we had voted. Now, we can read and sign our ballots like any educated Filipino. Tom orrow, a Blaan nam e will be on the ballot. Then we will know that we have arrived.”

3.4. Linkages to regional and national institutions In today’s world, literacy is a link to a broader world. A prim ary value of literacy is that of giving the individual access to knowledge, opportunities, and skills outside the traditional com m unity. To facilitate this process, linkages need to be established with regional and national agencies positioned to assist the newly literate in their development. This approach to literacy requires a longterm com m itm ent but can produce im pressive results. When SIL began work in Peru in the late ’40s, schools were virtually non-existent in Peruvian Am azonia. Literacy was unknown am ong the lowland m inorities. Today, m ore than 600 schools operate in this cultural area. Seven hundred indigenous teachers and supervisors, 60 percent of the total staff, teach in these schools and provide adm inistrative leadership. In less than 40 years, 15,000 children speaking 28 languages have learned to read and write in their m other tongue and m any of these have gone on to m ore advanced education in Spanish (Cairns 1991). Literacy rates am ong som e of Peru’s lowland m inorities now approximate the national norm.

4.

Language, literacy, and development — social and national dimensions

4.1. Personal and social development In the experience of the Western world, language is a transparent vehicle of education, political discourse, and social interchange. In m any em erging nations, however, the reverse is true — language is a barrier to literacy and education. When a person speaks an unwritten language and is expected to learn to read in a language he does not understand, becom ing literate can be a confusing and frustrating process. Many give up perm anently, convinced that reading and writing are beyond their grasp. Over and over again, SIL m em bers have watched literacy transform people, com m unities, and entire social structures. Literacy

4.2. National development The desires and needs of m other-tongue speakers need not contradict national aspirations for education in a standard or official language. Through bilingual education, the m other tongue can be a very effective bridge to education in an official language. SIL has helped to start significant bilingual education program s in Peru, Cam eroon, Guatem ala, and Papua New Guinea. In other countries — Colom bia, Bolivia, Philippines,

65.  Mother Tongue Literacy — the Work of the S. I. L.

Chile, Vietnam , Togo, and Canada — SIL specialists have participated in the developm ent of vernacular com ponents for form al schools. The bilingual approach helps address the problem of school attrition which afflicts m any com m unities where the language of instruction is other than the language of the child. Prelim inary evaluations of program s in Papua New Guinea and Cam eroon suggest that children are less apt to drop out of school when their hom e language is the initial language of instruction. Furtherm ore, children tend to stay in school longer, with higher percentages of students successfully com pleting school. Bilingual education program s often have unanticipated social and psychological benefits. Parents are m ore likely to be interested in a child’s school activities when they see that the school is not turning the child against traditional customs and values. An im portant product of such program s is the em ergence of bilingual and bicultural professionals. These educators are interested in developing and m aintaining the richness and vitality of their first language and culture. In this m anner bilingual education becom es a source of vigorous cultural pluralism rather than mono-cultural hegemony.

5.

Language and literacy — theoretical advances

Much of SIL’s contribution to the theory and practice of m other tongue literacy is based on its linguistic research. The following paragraphs sum m arize som e of the prim ary theoretical advances stem m ing from the work of SIL. 5.1. The development of writing systems In addition to the custom ary criteria applied to the developm ent of writing system s, SIL experience with so m any diverse languages has allowed it to develop a num ber of m ore subtle insights into the nature of writing systems. First, som e languages lend them selves readily to a phonem ic writing system , others to a m orphophonem ic writing system , and a few would best be represented by a syllabic or logographic writing system (although the latter is rarely acceptable because of the pressure to conform to regional or national m odels). Secondly, a greater degree of underdiffer-

801

entiation is tolerable than linguists are prone to adm it especially under conditions of low functional load and/or abundant clues for disambiguating similar forms. Thirdly, previous exposure to the writing system of another (national or official) language exercises a powerful ‘linguistic’ influence over one’s ‘understanding’ of his own language. As a result, there is frequently a desire to represent elem ents which are linguistically redundant and to om it others which are linguistically required. 5.2. The development of pedagogical and bridge materials Given its orientation as a linguistic organization, SIL work in the developm ent of pedagogical m aterials for literacy has had a strong linguistic foundation or bias. SIL researchers and theorists have pioneered the developm ent of strategies for teaching com plex writing and intricate gram m atical systems. In addition special techniques have been developed for facilitating the transfer from one’s m other tongue to a language of wide com m unication which take into account the m ism atch between the writing and gram m atical systems of each. 5.3. The development of local authoring systems A basic theorem of SIL work and theory in literacy is the belief that literacy technology (in the broad sense) m ust ultim ately be owned by the local com m unity. For this reason, substantial attention is given to the developm ent of m echanism s for com m unity based authoring and literature production (Wendell 1982). Local writers and artists are identified and developed. People are trained to produce sim ple literature using silk screens and other accessible technology. Local distribution centers and channels are established. With such an infrastructure in place, sustainable literacy is possible. Cultural conditions and local dem and then determ ine how such literacy is to be used. 5.4. Advances in pedagogical theory Around the world, debates rage on the m ost effective instructional approach to basic literacy. SIL literacy specialists have tested m any of these and have found that results are just as am biguous in neoliterate com m unities as in Western classrooms.

802

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

There are, however, other pedagogical problem s where pioneering work has been done. These include such m atters as the teaching of very long words (som e languages have com m only used words of 30—40 characters), the teaching of tone and other suprasegm entals, the teaching of num eracy where there is no significant tradition of counting, the teaching of complex vowel systems, etc.

effort is very difficult. The Experim ental World Literacy Program (EWLP) reported costs per literate ranging from $ 32 (U. S. dollars) in Tanzania to $ 332 in Iran (Gillette 1987). A program in which SIL participated in the Philippines reported a cost per literate of $ 71.94. (Walter 1989) The research and developm ent costs of initiating a literacy program for a previously unwritten language are m ajor, a rough estim ate being $ 150,000 to $ 200,000 dollars. Clearly, a poor nation having 50 languages within its borders m ust view such costs as prohibitive. But, in the case of literacy, cost cannot be counted m erely in financial term s. One m ust com pare the cost of achieving a given rate of literacy with the cost to individuals, com m unities, and nations of a large illiterate population. What about the cost of m alnourished children, of unproductive labor, of non-com petitive businesses, of high attrition rates in existing schools, of a discouraged and lethargic populace? With lim ited budgets and inadequate technology, it is im portant to m ake use of every resource available. NGO’s and volunteer organizations such as SIL can substantially reduce the actual cost of literacy program s from 25 to 60 percent m aking such program s m ore viable for emerging nations.

6.

Language, literacy, and development — applied theory

Five decades of experience in the field of m other tongue literacy has allowed SIL to forge a practical and proven m odel of com m unity based literacy based on the following principles. First, instead of teaching classes of illiterates to read, local people are taught to becom e teachers. These local teachers m ay not be as expert in their teaching as the literacy specialist, but they can get the job done effectively and will continue to be a part of the local com m unity long after the specialist has departed. Secondly, rather than being the only source of new m aterials in a language, the literacy specialist seeks to train local people to write and produce m aterials in their own language. This has not been easy, but is a necessary step to achieving a com plete transfer of literacy technology. Thirdly, literacy program s consum e financial resources. Instead of perm anently supporting literacy activities with external funding, local program s are initiated to help fund literacy activities. Though not always successful, these efforts dem onstrate to the local com m unity the need to assum e responsibility for community directions. Fourthly, SIL has sought to facilitate the transfer of literacy technology to local, regional, and national personnel. Whenever possible, SIL literacy specialists have sought to train capable national personnel in linguistic theory, pedagogical principles, graphic and printing arts, the theory of reading, curriculum design, evaluation, long range planning, etc. Training program s and sem inars have been organized in universities and professional contexts to accom plish this objective.

7.

The problem of cost effectiveness

Evaluating the cost effectiveness of a literacy

8.

References

Bendor-Sam uel, David H. & Bendor-Sam uel, Margaret M. 1983. Com m unity literacy program m es in northern Ghana. Dallas. Cairns, John C. 1991. Peruvian bilingual education program: evaluation report. Dallas. Cárceles, Gabriel. 1990. World literacy prospects at the turn of the century. Com parative Education Review 34.1, 4—20. Gillette, Arthur. 1987. The experim ental world literacy program : a unique international effort revisited. In: Arnove, Robert F. & Graff, Harvey J. (ed.). National Literacy Campaigns. New York. Grim es, Barbara F. 1988. Ethnologue: languages of the world (Eleventh Edition). Dallas. Walter, Stephen L. 1989. Literacy, health, and com m unity developm ent in the Philippines: final evaluation. Dallas. Wendell, Margaret M. 1982. Bootstrap literature: preliterate societies do it them selves. Newark, Delaware.

Stephen L. Walter, Dallas, Texas (USA)

66.  Die sowjetischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung

803

66. Die sowjetischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung 1. 2. 3. 4.

1.

Schriftsprachlichkeit und Schriftsysteme im Russischen Reich Phasen der Alphabetisierung in der Sowjetunion Nachkriegsentwicklungen in der Schriftlichkeit der Sowjetunion und Ausblicke Literatur

Schriftsprachlichkeit und Schriftsysteme im Russischen Reich

1.1.  Die weit in die Vergangenheit reichende traditionelle Multilingualität des russischen Reiches erklärt sich durch die von Ivan dem Schrecklichen im 16. Jahrhundert eingeleitete Binnenkolonialpolitik, die sich m it unterschiedlicher Intensität und Reichweite auf alle Grenzbereiche des russischen Herrschaftsgebietes richtete und bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts anhielt. Die im Laufe m ehrerer Jahrhunderte in das Reich inkorporierten Völkerschaften gehörten verschiedenen sprachgenetischen und kulturell teils stark divergierenden Gruppen an. Die in der Literatur m eist recht undifferenziert angeführten 130—150 Einzelsprachen verteilen sich nach der in der sowjet. Literatur gängigen Klassifikation im wesentlichen auf die genetischen Gruppen Indogerm anisch, Türkisch, Kaukasisch, Finno-Ugrisch, Mongolisch und die m ehrere Untergruppen um fassende Sprachgruppe der sog. Völker des Nordens (zu den Einzelsprachen vgl. Vinogradov 1966—1968; Glück 1984). Der unterschiedliche soziokulturelle Entwicklungsstand der Sprecher der die genannten Sprachgruppen konstituierenden Einzelsprachen zeigt sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts u. a. deutlich im sehr heterogenen m ultinationalen Spektrum der Schriftsprachlichkeit. Dieses um faßt Sprachen m it einer bereits stark akkultivierten und standardisierten Schriftlichkeit (z. B. Russisch, Polnisch, Arm enisch), Sprachen m it einer im sozialen und funktionalen Sinn nur eingeschränkt praktizierten Schriftlichkeit (z. B. m ehrere Türksprachen, kleinere Kaukasussprachen), aber auch Sprachen ohne jede Schriftlichkeit (z. B. Sprachen des Nordens, kleinere finno-ugrische Sprachen). Generell gilt, daß sich vor 1917 die am weitesten fortgeschrittenen Schriftkulturen bei Sprechern der indogerm anischen, kaukasischen und türkischen Gruppe finden.

1.2.  Die von den einzelnen Sprechergruppen benutzten Schriftsystem e waren vor 1917 weitgehend von deren Konfessionsgeschichte determ iniert, d. h. die orthodoxen Gruppen benutzten das kyrillische, die katholischen und protestantischen Gruppen das lateinische, die islam ischen Gruppen das arabische, die jüdischen Gruppen das hebräische, die buddhistischen Gruppen das m ongolische und die autokephalen Arm enier und Georgier ihr jeweils eigenes nationales Alphabet. Nach geographischer Verbreitung und Gebrauchsfrequenz dom inierte eindeutig das kyrillische Alphabet. — Alle in Rußland verwendeten Schriftsystem e waren dem Typ nach phonographisch orientierte rechtskurrente, linkskurrente oder vertikale Buchstabensysteme. 1.3.  Das in Rußland benutzte kyrillische Alphabet geht auf ein von Schülern der Slavenapostel Kyrill und Method in Anlehnung an die griechische Majuskel entworfenes Missionsalphabet zurück. Es wurde m it der Christianisierung der Kiever Rus’ 988 bei den Ostslaven eingeführt und wurde hier im hohen Maße m it der christlich-orthodoxen Kultur assoziiert. Außer bei den Ostslaven fand es bei einigen anderen, vordem schriftlosen, Sprechergruppen eingeschränkte Verwendung, denen es durch die m issionierende russische Kirche und/oder Verwaltung verm ittelt wurde (z. B. bei den Udm urten und Mordvinen im finno-ugrischen, den Abchasen und Adygejern im kaukasischen und den Čuvaschen und den Jakuten im türksprachigen Bereich). Die Kirillica trug durch die Einführung spezieller Graphem e in ihr ansonsten stark griechisch geprägtes System den phonem atischen Besonderheiten des Slavischen Rechnung. Sie wurde bis ins 18. Jahrhundert in der traditionellen kirchenslavischen Variante benutzt. 1707 veranlaßte Peter der Große im Rahm en seiner Gesellschaftsreform en eine erste große Schriftreform , die sowohl den neuen weltlichen Schriftsprachenfunktionen als auch den drucktechnischen Erfordernissen der Zeit Rechnung trug: Rund zehn redundante oder phonem atisch nicht m ehr m otivierte Graphem e wurden abgeschafft, erste orthographische Regelungen vorgenom m en, eine konsequente Trennung von Majuskeln und Minuskeln eingeführt und das Schriftbild, soweit wie m öglich, an die lateinische Antiquaschrift angelehnt. Der neue Graž-

804

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

danskij šrift m arkierte das Ende der m ittelalterlichen slavischen Schriftkultur in Rußland und war für die beginnende Dem okratisierung des russischen Schriftsprachengebrauchs von größter Bedeutung (vgl. Šicgal 1959). Die im 18. Jahrhundert zum russischen Alphabet reform ierte Kirillica wurde bis zur Oktoberrevolution benutzt. — Das lateinische Alphabet gelangte vornehm lich durch die Annexion der baltischen und polnischen Gebiete m it ihrer katholischen resp. protestantischen Bevölkerung seit dem 18. Jahrhundert in den russischen Machtbereich. Während im polnischen Sprachraum die Entwicklung der lateinischen Schriftlichkeit zunächst m it der Entwicklung der Staatlichkeit einherging und im 14. Jahrhundert die ersten polnischen Texte m it poly- und/oder m onographischen Graphem en geschrieben wurden, wirkte im Baltikum die deutsche Reform ation des 16. Jahrhunderts schriftspracheninitiierend. Dam it verbunden war die Übernahm e niederdeutscher Frakturschriften, die bei Litauern, Letten und Esten erst seit dem 18. Jahrhundert allm ählich von an der Antiquaschrift orientierten System en ersetzt wurden. Die System e berücksichtigten durch die Verwendung diakritischer Zeichen resp. geregelter Graphem kom binationen in zunehm endem Maße die phonem atischen Gegebenheiten der von ihnen abgebildeten Sprachen. Der deutsche Schriftsprachengebrauch im Baltikum orientierte sich an den graphischen und orthographischen Norm en der Schriftsprache in Deutschland. — Die Benutzung des arabischen Alphabetes in den Grenzen Rußlands geht bis auf das 16. Jahrhundert zurück, also auf die Zeit der Unterwerfung der ersten islam ischen Völkerschaften, vornehm lich der Wolgatataren. Später, insbesondere im 19. Jahrhundert, werden weitere um fangreiche Geltungsbereiche der arabischen Schrift in Zentralasien und in den islam ischen Teilen des Kaukasus hinzugewonnen. Diese Alphabete wurden nicht nur in arabischsprachigen Texten benutzt, sondern, in begrenzterem Um fang, auch in eigensprachigen Texten, insbesondere bestim m ter Türk- und iranischer Völker. — Das hebräische Alphabet fand vor allem bei den in den westlichen und südwestlichen Teilen des Russischen Reiches ansässigen Juden sowohl für die Abfassung hebräischer als auch jiddischer Texte Verwendung. Geschrieben wurde es von kleineren judaistischen Gruppen auch in anderen Muttersprachen, so von den iranischsprachigen Taten im nördlichen Kaukasus und den türksprachigen

Karaim en in der Ukraine und Litauen. — Die m ongolischen Gruppen (Burjaten, Kalm yken), deren Schriftsprachlichkeit bis ins 13. Jahrhundert zurückzuverfolgen ist, benutzten bis ins 20. Jahrhundert das mongolische Vertikalalphabet. — Sehr traditionsreiche Schriftsystem e finden sich im Kaukasus: das armenische Alphabet wird auch im 20. Jahrhundert im wesentlichen in der Form verwendet, wie es im 4. Jahrhundert von seinem Schöpfer, dem Mönch Mesrop, entwickelt wurde. Das grusinische Alphabet, als weiteres eigenständiges Alphabet im Kaukasus, blickt ebenfalls auf eine weit über tausend Jahre alte Tradition zurück. Es war und ist graphisches Medium der einzigen Schriftsprache aus der kaukasischen Gruppe m it einer sehr alten Geschichte, des Georgischen. — In wenigen Fällen ist vor 1917 eine eineindeutige Zuordnung von Sprechergruppe und benutztem Alphabet nicht m öglich, da bei diesen m ehr als ein Alphabet im Gebrauch war, bedingt durch erste Versuche, den Radius des kyrillischen Alphabets auszuweiten. So gab es bei den Burjaten, Karaim en und Kasachen (letztere arabischschriftig) zeitweise einen kontem porären Gebrauch von eigenem und kyrillischem Schriftsystem. 1.4.  Der Verwendungsum fang der genannten Alphabete im Russischen Reich war, entsprechend der allgem einen soziokulturellen Situation, vergleichsweise gering. Die Schriftsprachenkulturen waren Elitekulturen, dem okratische Bildungssystem e fehlten weitgehend, die schriftsprachliche Kom m unikationsdichte im Alltagsbereich war, aufgrund der allgem ein-gesellschaftlichen und adm inistrativen Gegebenheiten, schwach, die drucktechnischen Voraussetzungen für eine Massenschriftsprachlichkeit noch nicht gegeben. Je nach soziokulturellem und ökonom ischem Entwicklungsniveau der einzelnen Ethnogruppen und Landesteile zeigten sich jedoch teils gravierende Unterschiede im aktiven und passiven Gebrauchsvolum en der vorhandenen Schriftsprachen und dam it der Alphabete. Eine gewisse Inform ation über die Heterogenität der Schriftsprachenverwendungsintensität geben statistische Werte zur Alphabetisierungsrate um die Jahrhundertwende. Zur Illustration seien folgende Daten angeführt: 1897 konnten im Russischen Reich nach offiziellem Zensus 28,4% seiner Einwohner im Alter von 9—49 Jahren lesen und schreiben. Diese Zahl hat jedoch hinsichtlich der realen Literalitätsverhältnisse geringe Aussagekraft, da die Situation in den einzel-

66.  Die sowjetischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung

nen Landesteilen dram atische Unterschiede aufwies. Beispielsweise betrug der Anteil der nichtanalphabetischen Bevölkerung in Estland 96,2%, in Rußland 29,6%, in Georgien 23,6% und in Tadžikistan 2,3% (vgl. Lewis 1972, 175). Zu beachten ist auch, daß der soziokulturelle Status von Sprechern ganzer Ethnien unterschiedlicher sprachgenetischer Gruppen eine Schriftlichkeit offensichtlich noch nicht erforderte. Ein nicht zu vernachlässigender Teil der Bevölkerung befand sich also im Zustand der Ethnoaliteralität.

2.

Phasen der Alphabetisierung in der Sowjetunion

Die nach 1917 einsetzenden Aktivitäten im Bereich von Alphabetisierung und dam it verbundener Schriftreform sind im unm ittelbaren Zusam m enhang m it den politischen, ökonom ischen und kulturellen Veränderungen in der entstehenden Sowjetunion zu sehen. Das Ziel dieser Veränderungen bestand zunächst in der Dem okratisierung, Akkultivierung, Volks m obilisierung und Industrialisierung aber auch m arxistischen Ideologisierung der Gesellschaft. Alle Zielstellungen setzten eine Beseitigung des auch 1917 noch herrschenden Massenanalphabetism us voraus. Das bereits 1918 von der dezentralen Adm inistration erlassene Dekret zur Liquidierung des Analphabetentums wie vor allem dessen Um setzung in die Praxis stellte einen sehr wesentlichen, wenngleich von innenpolitisch bedingten Rückschlägen begleiteten, Bestandteil der sowjetischen Kulturrevolution dar. Ihre Grundintention war die „m arxistisch orientierte Aufklärung“ der Gesellschaft. Sie wurde von der Adm inistration in verschiedener Modifikation über längere Zeit durchgehalten. Im Rahm en der Sprachpolitik im m ultiethnischen Bereich wurden recht unterschiedliche Konzeptionen vertreten, die jeweils stark an die generelle Ethnopolitik, und diese wiederum an allgem ein innenpolitische Vorgaben (vgl. 2.1.—2.3.) gebunden waren. — In der unm ittelbar nachrevolutionären Periode ergab sich hinsichtlich der Überwindung des Analphabetism us eine Fülle von theoretischen und praktischen, teils außerordentlich arbeits- und kostenaufwendigen, Aufgaben. Folgende Problem e standen im Mittelpunkt: Grundsatzentscheidungen zur künftigen Ausrichtung der Sprachpolitik (Akzeptierung der sprachlichen Heterogenität oder Förderung sprachzentripetaler Maßnahm en), Sichtung

805

des vorhandenen Schriftsprachenspektrum s auf dessen Geeignetheit für die Erfordernisse der angestrebten revolutionierten Gesellschaft, gegebenenfalls Reform ierung und Akkultivierung bereits existierender Schriftsprachen, Entscheidungen zur Verschriftung bis dato nichtverschrifteter Sprachen, Auswahl von Varianten für anstehende Neuverschriftungen, um fassende Alphabetisierungskam pagnen für Erwachsene, Aufbau eines flächendeckenden Schulsystem s, Lehrerausbildung, Bereitstellung von Literatur und Schaffung drucktechnischer Voraussetzungen. Diese Aufgaben wurden seit den 20er Jahren m it wechselnder Intensität und unterschiedlichem Erfolg in Angriff genom m en. Die UdSSR ist dam it der erste Staat in der Geschichte, in dem eine breit angelegte system atische Alphabetisierungstätigkeit im m ultinationalen Bereich durchgeführt wurde. — Aus Platzgründen kann auf dam it verbundene Einzelheiten der Schriftsprachenschaffung und -distribution nicht eingegangen werden (dazu ausführlich Lewis 1972; Girke & Jachnow 1974; Kreindler 1982; Glück 1984; Söffker 1984). — Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich gem äß der zentralen Handbuchthem atik auf die Modalitäten der Alphabetreform en und Alphabetschaffung in ihren soziokulturellen Kontexten. 2.1.  Geradezu sym ptom atisch für die Frühzeit der UdSSR ist die die sprachliche Vielfalt akzeptierende, eine übergeordnete Staatssprache ablehnende, em anzipatorische Nationalitätenpolitik Lenins. Sie brach bewußt m it der zaristischen Tradition, die nichtrussischen Kulturen weitgehend zu ignorieren, wenn nicht gar zu verfolgen, und zielte auf eine baldige Verbesserung der kulturpolitischen Situation selbst sehr kleiner ethnischer Gruppen. Diese Position zeigte sich besonders deutlich in dem Bestreben, allen Völkerschaften über Alphabetreform en oder Alphabetschaffung m öglichst schnell eine Schriftsprache zugänglich zu m achen. Dabei wurde freilich gerade bei den schriftlosen Ethnien kaum nach deren soziokultureller Disponiertheit gefragt und unreflektiert das „Prinzip des erzwungenen Glücks“ praktiziert. Die ersten Maßnahm en auf dem Wege der „Dem okratisierung der Schriftsprachlichkeit“ war allerdings die bereits vor der Revolution vorbereitete Reform des russischen Alphabets und der Orthographie (s. Vinogradov 1964, 8 ff), die dem Wesen nach die Petrinische Reform zu Ende führte (vgl. 1.3.). Sowohl m it der

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abschaffung der redundanten Graphem e i, ђ und θ als auch der Tilgung der orthographischen Regel, nach der im Wortausgang nach velaren Konsonanten ъ zu schreiben ist, sollte die russische Orthographie leichter und zugleich volksnäher gem acht werden. Diese Reform wurde schon im Dezem ber 1917 dekretiert. Auch alle anderen Schriftreform en im direkten Anschluß an die Oktoberrevolution beabsichtigten die Dem okratisierung der Schriftlichkeit durch Vereinfachung von System en und deren Gebrauch, d. h. sie bezogen sich fast ausschließlich auf schon bestehende Schriftsprachen (vgl. 1.). Diese Reform en waren jedoch m ehr durch revolutionäre Spontaneität gekennzeichnet als durch eine system atische wissenschaftliche Vorbereitung. In der Fachliteratur wird diese erste Phase der sowjetischen Schriftsprachen- und Schriftpolitik, die bis Mitte der 20er Jahre andauerte, kaum noch erwähnt. Im m erhin beginnt m it ihr — trotz m annigfaltiger innen- und außenpolitischer Hem m nisse (Bürgerkrieg, Interventionskrieg) — die Überwindung des Massenanalphabetism us. Als Prinzip der Alphabetisierung galt: Verm ittlung m uttersprachlicher Schreib- und Lesefähigkeiten im überkom m enen, teils reform ierten, Alphabet. Darüber hinaus finden sich, vornehm lich im Kaukasus, sporadische Ansätze von Neuverschriftungen.

Elim inierung der arabischen Schrift wurde hier vom Klerus, aber auch Teilen der Intelligenz als Sakrileg em pfunden. Wie Polivanov 1925 schreibt, wäre jedoch die Einführung der m it dem Odium des Kolonialism us behafteten kyrillischen Schrift auf noch vehem entere Ablehnung gestoßen (s. Winner 1952, 137). Eine Massenerhebung von Attitüden zur Einführung neuer Alphabete hat es in der UdSSR offenbar zu keiner Zeit gegeben, so daß exakte Inform ationen zur Schriftakzeptanz fehlen. Durch die lateinische Schrift wurde die arabische, m ongolische und in einigen Fällen kleinerer finno-ugrischer, türkischer und nordkaukasischer Sprachen die kyrillische Schrift substituiert. Es waren auch offizielle Bestrebungen, die ostslavischen Sprachen auf das lateinische Alphabet um zustellen, zu beobachten (s. Makarova 1969). Obwohl dieser Plan von Persönlichkeiten wie dem ersten Kom m issar für Volksbildung, A. Lunačarskij, unterstützt wurde, scheiterte er offenbar am Einspruch traditionell gesinnter Kreise, vornehm lich der russischen Intelligenz. Nach Abschluß der Latinisierungskam pagne existierten in der SU nunm ehr nur noch das kyrillische, lateinische, hebräische, arm enische und grusinische Alphabet. Die Benutzung der anderen Alphabete wurde nach einer Übergangsphase ab 1925 verboten. Bis 1936 hatten insgesam t 71 Sprechergruppen unterschiedlichster Größe das lateinische Alphabet angenom m en. — Die Einführung des „Oktoberalphabetes“ wurde von Adm inistration und Wissenschaft in der Öffentlichkeit diskutiert und begründet. Als wichtigste Argum ente galten, daß es das schwer erlernbare, m it unnötigen Allographien belastete und den phonologischen Strukturen der Türk- und anderen Sprachen nichtadäquate arabische Alphabet ersetze, daß es drucktechnisch gut zu verarbeiten sei und dazu beitragen könne, die Kom m unikation m it dem europäischen Westen zu erleichtern. Auch sollten die orientalischen archaischen und klerikalen Form en von Schriftlichkeit als Ausdruck überlebter Epochen abgeschafft werden. — Tatsächlich war die Zeit des lateinischen Alphabetes die wichtigste Phase in der sowjetischen Kulturrevolution: Die Zahl der Analphabeten nahm drastisch ab (1939 beherrschten im Unionsm aßstab 87,4% der 9—49jährigen ein Alphabet), die schriftsprachenabhängige Kulturaktivität nahm m erklich zu. Es ist die Zeit der Herausbildung einer ersten sowjetischen Bildungsschicht in den unterschiedlichen nationalen Gebieten (korenizacija) auf m utter-

2.2.  Einen neuen Charakter hatte die zweite Phase der sowjetischen Schrift- und Schriftsprachenschaffung (1926—ca. 1936). Sie ist noch nachhaltiger von der Leninschen Em anzipationspolitik geprägt als die ihr vorangehende Phase. Dies drückt sich insbesondere in dem Um stand aus, daß in dieser Zeit ca. 55 Sprachen (insbesondere der Völker des Nordens, der finno-ugrischen Gruppe, aber auch kleinerer Türk- und Kaukasusvölker) erstm als verschriftet und schon vorhandene Schriftsprachen m odernisiert und akkultiviert wurden. Dabei bediente m an sich als graphischen Medium s nicht des kyrillischen Alphabets, um jeden Eindruck eines russischen Kulturim perialism us zu verm eiden, sondern des lateinischen Alphabets, des „Oktoberalphabets“, das zum äußeren Sym bol der Kulturrevolution wurde. Während dieses Alphabet von den Sprechern bislang nichtverschrifteter Sprachen im allgem einen problem los akzeptiert wurde, stieß es als Ausdruck einer frem den Kultur bei Sprechern altverschrifteter Sprachen, insbesondere bei islam ischen Gruppen, auf teils erheblichen Widerstand. Die

66.  Die sowjetischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung

sprachlicher Basis. Allerdings brachte das lateinische Alphabet auch Nachteile für bestim m te Gruppen m it sich: Die islam ischen und buddhistischen Völkerschaften wurden von ihren Kulturtraditionen abgeschnitten, da sie die Fähigkeit verloren, das tradierte Schrifttum zu lesen; Bevölkerungsteile, die in der ersten Phase der Alphabetisierung (s. 2.1.) Schreib- und Lesefähigkeiten erworben hatten, m ußten um lernen, genauso wie auch gänzlich neue Lehrm ittel und drucktechnische Ausrüstungen bereitgestellt werden m ußten. Diese Kom plikationen galten für Ethnogruppen m it neuverschrifteten Sprachen natürlich nur in abgeschwächtem Maße. — Hatten sich die Anfänge der Latinizacija zunächst unkoordiniert vollzogen (vor allem von Azerbajdžan ausgehend, wo es bereits seit dem 19. Jahrhundert — von der russischen Verwaltung und dem islam ischen Klerus vereitelte — Bestrebungen nach Verwendung der Lateinschrift gegeben hatte), konnte sich dieser großm aßstabige Um bruch im Schriftlichkeitsspektrum auf Dauer nicht ungeplant und unkontrolliert abwickeln. Nachdem die zentrale Adm inistration eine entsprechende Grundsatzentscheidung getroffen hatte, wurden Latinisierung und die m it ihr verbundene Schaffung von Orthographien system atisch und im Bewußtsein, daß alle gesellschaftlichen Erscheinungen steuerbar seien, organisiert. Den wesentlichsten Anstoß dazu gab der 1926 in Baku abgehaltene Erste turkologische Kongreß für die Latinisierung der Türkvölker, aus dem später das Zentrale Allunionskomitee des neuen Alphabets (VCK NA) hervorging. Schwerpunktaufgaben wie die Feststellung der zu graphem atisierenden phonem atischen Strukturen der einzelnen Sprachen, die Auswahl von zu verschriftenden Dialekten unter sozialen und funktionalen Gesichtspunkten sowie dem Aspekt der Sprecherkontingente, die Erarbeitung von über 70 einzelsprachlichen Alphabeten und deren Verbreitung über Schulen, Erwachsenenbildung und Medien sowie die Überprüfung dieser Alphabete und der auf ihnen beruhenden Orthographien aus linguistischer, pädagogischer, psychologischer und graphischer Sicht wurden von zahlreichen Unterkom m isisonen, Regionalkom itees und Konferenzen unter Beteiligung der neugegründeten Republiksakadem ien erledigt (vgl. Alaverdov 1933, 9 f; Musaev 1975, 247). Ab 1928 wurden auch spezielle Publikationsorgane gegründet wie Kul’tura i pis’mennost’ Vostoka und Pis’mennost’ i revoljucija. Die Arbeit war von Expe-

807

NTA A B C Ç D E ǝ F G  H I J K L M N

a b c ç d e ǝ f g  h i j k l m n

Phonetic value a b č [tʃ] dž [dʒ] d e [ǝ] f g [γ] h i [j] k l m n

NTA Ŋ O Ө P Q R S Ș T U V X Y Z  Ь

ŋ o ө p q r s ș t u v x y z  ь

Phonetic value [ŋ] o [œ] p [q] r s š [ʃ] t u v [x] [y] z ž [ʒ] []

Abb. 66.1: Unifiziertes türkisches Lateinalphabet nach (Winner 1952, 140)

rim entierfreudigkeit und innovativen Ideen gekennzeichnet. Aufgrund der Mitarbeit zahlreicher Sprachwissenschaftler unterschiedlichster Ausrichtung (u. a. V. A. Artem ov, N. A. Baskakov, D. V. Bubrich, N. K. Dm itriev, B. Grande, N. F. Jakovlev, S. E. Malov, N. Ja. Marr, Ju. D. Polivanov, A. A. Reform atskij) wurde ein erstaunliches theoretisches Niveau bei der Ausarbeitung von linguistischgraphem atischen Prinzipien für die Alphabeterstellung erreicht (s. z. B. die Arbeiten von Jakovlev 1928 und Artem ov 1933; vgl. auch Musaev 1965; 1975). Viele sowjetische Sprachen wurden im Zusam m enhang m it der Alphabetisierung erstm als Gegenstand sprachwissenschaftlicher Betrachtung. Nach anfänglicher Diskussion, ob ein phonetisches oder phonologisches Prinzip bei der Verschriftung zu verfolgen sei, setzte sich letzteres durch. Verwendet wurden die lateinischen Buchstaben, in wenigen Fällen Zusatzgraphem e und/ oder diakritische Modifikationen. — Besonders zu erwähnen ist das Bem ühen um ein unifiziertes türkisches lateinisches Alphabet, das die intersprachliche Kom m unikation vornehm lich zwischen den Türkvölkern Mittelasiens und die nichtm anuelle Textherstellung erleichtern sollte (→ Abb. 66.1). Zweifellos hätte sich auf dieser Basis eine große türkische Sprachgem einschaft innerhalb der Sowjetunion etablieren können, wenn spätere ethnopolitische Intentionen dies nicht verhindert hätten (vgl. unter 2.3.). Unifizierungsbestrebungen gab es auch hinsichtlich der neuen

808

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

lateinischen Alphabete für rund 15 Sprachen der Völker des Nordens. Intensität, Um fang und rechtliche Einbettung der Latinisierung und der sie begleitenden bildungspolitischen Maßnahm en (vgl. Kum anev 1967) lassen erkennen, daß das lateinische Alphabet nicht als kurzlebiges Übergangsphänom en (wie heute m itunter in der sowjetischen Literatur behauptet) konzipiert war, sondern als vorerst fester Bestandteil der neuen schriftsprachlichen Landschaft der Sowjetunion. Mit der Reform ierung und Schaffung von Alphabeten während der 20er und 30er Jahre korrespondierte die Bem ühung, die Alphabete ihrem praktischen Gebrauch zuzuführen. Die wichtigste Maßnahm e zur Erreichung dieses Ziels bestand natürlich im allm ählichen Aufbau eines flächendeckenden Netzes von Grundschulen für Kinder. Dieser setzt bereits in den frühen 20er Jahren ein. Darüber hinaus wurde jedoch sowohl aus pragm atischen als auch ideologischen Gründen (Verbreitung der Leninschen Staatsidee) eine um fassende Kam pagne zur Überwindung des Analphabetism us der Erwachsenen eingeleitet, die ihren politisch-juristischen Ausgangspunkt in dem von Lenin erlassenen Dekret zur Abschaffung des Analphabetismus vom 26. 12. 1919 hat. In seiher Folge werden Organisationen wie die „Allrussische Sonderkom m ission zur Beseitigung des Analphabetism us„ und die Gesellschaft „Nieder m it dem Analphabetism us“ geschaffen, die eigens die Aufgabe hatten, für die organisatorischen Voraussetzungen und ideologischen Rahm enbedingungen einer Massenalphabetisierung (Likbez „Liquidierung des Analphabetism us“) zu sorgen. Es wurden tausende sogenannter „Liquidierungspunkte des Analphabetism us“ eingerichtet, Fibeln gedruckt und breit angelegte Werbekam pagnen durchgeführt. Als besonders geeignet für die Durchführung des notwendigen Unterrichts erwiesen sich gesellschaftliche Organisationen wie die Gewerkschaften, die Kom m unistische Staatspartei, der Jugendverband Kom som ol und die Rote Arm ee. Der hier anzutreffende Adressatenkreis entsprach besonders den Vorstellungen von Partei und Regierung, die vor allem die Schulung von Gewerkschaftsm itgliedern, Arbeitern, Kolchosbauern und der sogenannten „Landarm ut“ forderten (Avksent’evskij 1929, 101). Von 1923—1939 sollen nach Auskunft der Großen Sowjetenzyklopädie (BSĖ, 7, 1972, 245) 50 Millionen Analphabeten und 40 Millionen Halbanalphabeten erfolgreich geschult worden sein, so

daß für 1939 die Zahl der Analphabeten im Sowjetverband nur noch m it 18,1% angegeben wird. Die Resultate dieser Maßnahm en dürfen aber nicht zu hoch eingeschätzt werden, da die Qualifikation der „Volkslehrer„ in der Regel sehr gering war, Lehr- und Lernm ittel fehlten und die Schriftsprachenkultur m it ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen im Maßstab einer Massengesellschaft gerade erst am Anfang stand. So waren das Verlags- und Bibliothekswesen zu dieser Zeit noch völlig unzureichend. Nach Sm uškova kam en noch Ende der 20er Jahre im ländlichen Um feld von Moskau auf einen Einwohner „1/5 eines Bibliotheksbuches“ (1929, 16). — Trotz der notwendigen Relativierung der Ergebnisse des Likbez-Unternehm ens m uß betont werden, daß das Ausm aß der Analphabetism usbekäm pfung in der frühen Sowjetunion bis dahin in der Geschichte einmalig war. Die Alphabetisierungskam pagne, die unionsweit — wenn auch m it regionalen Unterschieden und Besonderheiten etwa in Form der Wanderschulen für sibirische Nom aden oder spezieller Frauenschulen für islam ische Ethnien — durchgeführt wurde, bildete zweifellos eine wichtige Voraussetzung für die korenizacija, deren Ergebnisse allerdings seit der zweiten Hälfte der 30er Jahre aus innenpolitischen Gründen, teils gewaltsam , rückgängig gem acht wurden (Bilinsky 1968; Glück 1984, 535). 2.3.  War die frühe sowjetische Ethnopolitik m it ihren national-em anzipatorischen Tendenzen in der Langzeitvorstellung Lenins vom übernationalen staatslosen Ko m m unis m us wohl als eine erste wichtige Etappe gedacht, so brachte die Machtetablierung Stalins einen gänzlich neuen Geist in die Nationalitätenpolitik. Für Stalin war die Nation nicht nur eine historische, sondern eine perm anente Kategorie. Auch unter den Bedingungen des Sozialism us würden zwischen den Nationen — wie ehem als zwischen den Klassen — Antagonism en zu Konflikten führen können, wie sie sich etwa in der sog. Sultan-Galiev-Bewegung, einer Art Nationalkom m unism us islam ischer Prägung, m it starker Resonanz bei den sowjetischen Türkvölkern schon angedeutet hatten. Als Ausweg aus einem solchen Konfliktpotential erschien Stalin die Einschränkung aller nationaler Autonom ieerscheinungen und die Einschwörung aller Völkerschaften auf politischen Führungsanspruch, Kultur und Sprache der größten und zentralen Nation, der Russen, im Sinne eines

66.  Die sowjetischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung

„sowjetischen Patriotism us„. Eben auf diesem Hintergrund sind nicht nur die Verfolgung der m eist aus der Korenizacija-Politik hervorgegangenen „bourgeoisen nationalistischen Intelligenz“ im nichtrussischen Bereich zu sehen, sondern auch die Ereignisse der dritten Phase der sowjetischen Alphabetisierungsaktivitäten (1936—1941). Das Kernstück dieser Phase bestand in der Um stellung aller bis dahin lateinisch verschrifteten Sprachen auf das Kyrillische. Im Falle einiger kleinerer Sprachen wurde die Schriftlichkeit ganz aufgegeben. Zusam m en m it anderen sprachpolitischen Regelungen bildete diese Schriftreform im wesentlichen den Ausgangspunkt des heutigen Funktionsspektrum s der sowjetischen Sprachen (s. Glück 1984, 547 f). — Von der neuen Schriftpolitik wurden nach einem entsprechenden Beschluß des VCK NA vom Februar 1937 zuerst die Völker des Nordens und einige Kaukasusvölker, bis 1941 alle anderen Völkerschaften m it Lateinschrift erfaßt. Lediglich die Lateinschriften der 1940 durch Annexion wiedergewonnenen baltischen Gebiete blieben unangetastet. — In der Öffentlichkeit wurden diese Maßnahm en wie folgt argum entiert: Wegen seiner größeren Graphem zahl sei das russisch-kyrillische Alphabet für Verschriftungen besser geeignet als das lateinische, die allgem eine Benutzung des kyrillischen Alphabets ökonom isiere und verbillige den drucktechnischen Aufwand und die herausgeberische Tätigkeit; die sozioökonom ische und kulturelle Entwicklung dulde nicht länger eine Isolation der verschiedenen Völkerschaften von der russischen Wirtschaft, Kultur und Sprache. Letztere könne, als Mittel der übernationalen Kom m unikation, durch die generelle Benutzung seines (m odifizierten) Alphabets besser zugänglich gem acht werden, und alle Sowjetvölker hätten nunm ehr den Wunsch, die russische Sprache aktiv zu erlernen. Einige dieser Argum ente haben kaum Überzeugungskraft und sprechen unverhüllt gegen die weiter gepflegte Losung „National in der Form , sozialistisch im Inhalt„. Richtig ist jedoch, daß ein m ultinationaler Staat von der Ausdehnung der UdSSR dringend einer Koiné bedurfte und der Zugang zu ihr durch die weitgehende Gleichschaltung der Alphabete tatsächlich erleichtert wurde. Über die Akzeptanz der Kyrillisierung durch die betroffenen Völkerschaften ist wenig bekannt. In der sowjetischen Literatur wird m itunter ein Widerstand durch „nationalistische Kreise“ erwähnt (Musaev 1965, 18). Die Grundintention der Maß-

809

nahm e war zweifellos die Stärkung des russischen Elem entes im Unionsverband. Mit ihr korrespondierten unm ittelbar das Dekret zur Obligatorik des Russischunterrichtes an allen nationalen Schulen von 1938 und dessen baldige Befolgung, die spätere Hochstilisierung des Russischen zur „Weltsprache des Sozialism us“ und die allgem eine Förderung des russischen Einflusses auf alle sozialen und kulturellen Bereiche (einschl. der Sprachen) der nichtrussischen Völkerschaften. War der erneute Wechsel des Alphabets innerhalb von 10—15 Jahren auch m it Rückschlägen in der Alphabetisierung und zusätzlichen Kosten verbunden, so hat sich dieser Schritt im Sinne seiner Intention — soweit absehbar — durchaus ausgezahlt. — Im Unterschied zur wohlorganisierten und wissenschaftlich reflektierten Latinisierung wurde die Kyrillisierung per ukaz den örtlichen Kadern überlassen. Auch die sowjetische Literatur der Vorperestrojka konzediert kritisch, daß die Um stellung der Alphabete und die Orthographievorgaben unkoordiniert und ohne die notwendige wissenschaftliche Vorbereitung erfolgte. Dies m ußte zu verschiedenen Mängeln führen (vgl. 3.). Dennoch verlief die Kyrillisierung nicht völlig konzeptionslos: Angestrebt, wenn auch nicht durchgehend eingehalten, wurde weiterhin eine eineindeutige Phonem -Graphem - bzw. Graphem bündel-Zuweisung im Rahm en des Einzelalphabetes. Dabei stellte das russische Alphabet den graphischen Grundfundus, der jedoch in den m eisten Alphabeten m it Zusatzgraphem en und diakritischen Zeichen ergänzt werden m ußte (→ Abb. 66.2). Ein weiteres, ganz anderes Prinzip bestand offensichtlich darin, m it Hilfe der neuen Alphabete auch die äußere Form eng verwandter Sprachen (insbesondere der Türksprachen) m öglichst distinkt zu halten, um so sprachbedingte Fraternisierungsstim uli zu erschweren. Das Ergebnis war ein sog. alfavitnyj raznoboj „Disharm onie der Alphabete„. Eine Unifikation der Alphabete nichtrussischer Völker wie zur Zeit der Latinisierung kam also nicht m ehr zustande. — Insgesam t besaßen nach der Um alphabetisierung m ehr als 90% aller Schriftsprachen ein kyrillisches Alphabet. Nur im Baltikum blieben das lateinische, im Kaukasus das arm enische und grusinische Alphabet erhalten. Das hebräische Alphabet behielt ebenfalls seine (quantitativ begrenzte) Funktion. — Die individuelle Ausform ung der neuen Alphabete erfolgte teils in recht unterschiedlicher Art. So sind beispielsweise für die finno-ugrischen und Türksprachen

810

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

IndoTürkisch germanisch ä, ă

Kaukasisch

г’, гъ

ҕ, гь, ҕь, гъ, гy, гI, гв; гъy, гъь, гъв, гIв дǝ, дж, дз; джь, джъ, дзy, джъв

ғ, ғ, ђ, гъ, гь дж, дь ĕ җ ҙ

ӣ к’, қ, къ,

ö п’, пъ p’

қ, , ҝ, к

ÿ, ý, ӳ, ÿ, ў, yь

ҳ, хъ

ҳ

цъ ӌ, ч’, чъ

ӌ, ч

h, h’ i, ï q w ǝ æ є

Mongolisch, Dunganisch

в’ г’ дж, дз ӝ ӭ ӥ

қ, , кь, кв, кI, кк, кх, къ, кy, қь, қь; кIь, кIв, къь, къв, кIy, къy, кхъ; кIкI, кхъy ль лI; лъ, лълъ

cc , тл, тǝ, ǝ, тI, тт, тш, тIy yь фІ ҳ, хь, ҳǝ, хв, хI, хх, хъ, хy; хIв, хъy, хьхь ҵ, цǝ, ҵǝ, цI, цц, цy, цIцI ӌ, чв, чI, чч, чъ, чIчI шь, шǝ, шI, шв, шъ, шIy

h j i y,  ǝ

Sprachen des Nordens

e’ жь, жǝ, жв, жь, жъy

ң, Ҥ, ҥ, нъ, нг ө, ö, оь оь , пI, пп, пIy ç

т’, тъ ȳ, ў



FinnoUgrisch ä

җ қ, к’

ң, ҥ, нг ö, ө, ö

тш ÿ

лъ ң, нņ, нг

ў, y’

ң ө

ў

х’ ӵ h i y ǝ

ǝ I ’(апостроф) џ, џь ,  ʒ, ʒǝ 

Abb. 66.2: Spezialgrapheme in kyrillischen Alphabeten, die nicht im Russischen benutzt werden (nach Musaev 1965, 68 f)

66.  Die sowjetischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung

3.

Nachkriegsentwicklungen in der Schriftlichkeit der Sowjetunion und Ausblicke

Seitdem ist die Diskussion nicht m ehr abgebrochen, wenngleich die Erkenntnis zahlreicher Mängel in den vorhandenen System en und Orthographien weder in der „Zeit der Stagnation“ noch in der der Perestrojka bislang zu nennenswerten Reform en geführt hat. Von 66 Schriftsprachen in der Sowjetunion (bei rund 130 Völkerschaften, s. Novikov 1989) bedienen sich heute 60 des kyrillischen Alphabets. Dieses um faßt insgesam t 205 Graphem e, davon 108 polygraphischen Charakters (das lateinische Alphabet um faßte nur 184 Graphem e). — Als notwendige Verbesserungen werden in der Literatur vor allem folgende Mom ente genannt: (a) genauere Erfassung der phonologischen System e der kyrillisch verschrifteten Sprachen. (b) Beseitigung des inkonsequenten und unökonom ischen polygraphischen Verschriftungsprinzips zahlreicher Sprachen. (c) Repräsentation des phonologisch-m orphologischen System s der Einzelsprache durch ein Alphabet, das eine konsequente Eineindeutigkeitszuordnung von Phonem en und Graphem en zuläßt. (d) Maxim ale Unifizierung der Phonem -Graphem Zuordnung bezüglich aller kyrillisch verschrifteter Sprachen und Absenkung der Graphem zahl auf das notwendige Minim um . (e) Überprüfung der Orthographien unter pädagogischen und psychologischen Aspekten. (f) Flexible Regelung der Schreibung russischer Lehnwörter in den Nationalitätensprachen (s. Musaev 1982 a, 14 f). Nicht selten wird bei der Kritik des gegenwärtigen Status der Alphabete auf den hohen theoretischen Standard der Latinisierung (vgl. 2.2.) hingewiesen, die effektivere, einheitlichere und dam it auch preiswertere Resultate erbracht habe als die Kyrillisierung. Bem erkenswert ist die unüberhörbare Kritik an der bestehenden Disharm onie der Alphabete sowohl im Unions- als auch im engeren Maßstab. Diese

ö ÿ ä ы i

Grapheme

ö, ө, оь ÿ, , yь ä, ǝ ы, ă i, ĕ

Phoneme

Phoneme

m onographische Zusatzgraphem e typisch, während in den nordkaukasischen Alphabeten Graphem kom binationen bis hin zur Quadrographie nicht ungewöhnlich sind (s. Musaev 1975). Eine kritische Überprüfung der kyrillischen Alphabete und der auf ihnen beruhenden Orthograpien im größeren Um fang wurde erst nach dem Tode Stalins, insbesondere nach dem 20. Parteitag 1956, eingeleitet.

811

ғ    h

Grapheme

ғ, г, ҕ, г, гъ , , к, къ , ҹ, ӌ, ж, дь, дж , ҥ, н, нъ h, 

Abb. 66.3: Beispiele für die inkonsequente Zuordnung von Phonemen und Graphemen in sowjetischen Türksprachen (nach Musaev 1965, 56)

erschwere nicht nur das Erlernen des Russischen, sondern vor allem die Kom m unikation zwischen Trägern eng verwandter Sprachen. Einschlägige Kritik wird bezeichnenderweise besonders in türksprachigen Fachkreisen laut (erstm als Borovkov 1956; s. auch Baskakov 1967; Musaev 1975, 255 ff; Henze 1977, 387 ff; Musaev 1982, 28 f; → Abb. 66.3). Über die Aufnahm e koordinierter theoretischer Vorarbeiten zu den geforderten Reform en ist bisher nichts bekannt geworden. Eine Latinisierung der sowjetischen Dom inanzsprache, des Russischen, ist, anders als in der nachrevolutionären Zeit, seit den 40er Jahren nicht m ehr ernsthaft diskutiert worden, wenngleich entsprechende Vorschläge von einzelnen seiner Benutzer im m er wieder vorgebracht wurden (Makarova 1969, 123). Das kyrillische Alphabet gilt offiziell unter linguistischen, pädagogischen, kulturpsychologischen und finanziellen Gesichtspunkten als adäquat. An der Orthographie werden hingegen von Zeit zu Zeit durch die Akadem ie der Wissenschaften Veränderungen im Sinne von „Vervollkom m nung und Vereinfachung„ vorgenom m en (Vinogradov 1964, 12 ff). Der von der Wiederbelebung nationaler Werte geprägte gegenwärtige Zeitgeist in der UdSSR läßt inzwischen eine Latinisierung des Russischen gänzlich unwahrscheinlich werden. — Über den weiteren Verlauf der sowjetischen Schriftpolitik im Rahm en der allgem einen Sprachpolitik sind heute kaum sichere Prognosen zu treffen. Die Jahre der Perestrojka haben — selbst zur Überraschung von sowjetischen Kennern der Situation — gezeigt, daß die Nationalitätenfrage in der UdSSR in keiner Weise gelöst ist, was weitere einschneidende Folgen auch für deren m ultilingualen Charakter haben kann. War m an bereits unter Brežnev, trotz eines fortgesetzten Russozen-

812

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

trism us und der Zielstellung vom Russischen als „zweiter Muttersprache“, von einer Forcierung des sbliženie-Konzeptes(Annäherung von Sprachen und Kulturen der Sowjetvölker bei intensiver Förderung des russischen Elem entes) abgekom m en, so sind jetzt sogar reale Voraussetzungen für eine nachhaltige Sprachzentrifugalität gegeben. Eine solche könnte sich sowohl in einer weiteren Reduzierung des Alphabetparadigm as niederschlagen (beispielsweise durch Austritt von Unionsrepubliken m it nichtkyrillischen Alphabeten aus dem Staatsverband) als auch durch eine Erweiterung des Spektrum s durch die Reetablierung traditioneller Schriften. Diese Überlegungen bleiben jedoch vorerst spekulativ. Die weiteren Entwicklungen im Bereich der Schriftlichkeit sind untrennbar m it den innenpolitischen Prozessen der PerestrojkaZeit verbunden. Nachtrag: Seit Abschluß der Arbeit am Manuskript im Frühjahr 1990 hat die Perestrojka dram atische politische, wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen nach sich gezogen: Die Sowjetunion existiert nicht m ehr, ihre Teilrepubliken haben sich verselbständigt, was sich auch in allen Bereichen der Kultur bem erkbar m acht. Obwohl die funktionale Bedeutung der Nationalitätensprachen in Relation zum Russischen in den unabhängigen Nachfolgestaaten der UdSSR erheblich gewachsen ist, ist der Alphabetgebrauch bisher lediglich in Moldavien verändert worden, wo das Moldauische (eine dem Rum änischen engstens verwandte ostrom anische Sprache) nunm ehr nicht m ehr kyrillisch, sondern lateinisch geschrieben wird. Wie sich die Entwicklung in den anderen Gebieten gestalten wird, ist nach wie vor nicht absehbar.

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4.

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Helmut Jachnow, Bochum (Deutschland)

814

67. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

1.

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Alphabetisierung und Literalität in Äthiopien Zur Geschichte von Literalität und Literatur in Äthiopien Sozio-psychologischer Kontext Linguistische Voraussetzungen der Verschriftung Methoden der Alphabetisierung Fibeln und weiterführende Literatur Die Alphabetisierungs-Kampagne der Revolution Die Folgen Literatur

Zur Geschichte von Literalität und Literatur in Äthiopien

1.1. Die Anfänge Die Anfänge des äthiopischen Schrifttum s liegen im aksum itischen Stadtstaat des vierten Jahrhunderts (Bartnicki & Mantel-Niećko 1982, I, xv), und auf die gleiche Zeit führt auch die äthiopisch orthodoxe Kirche ihre Entstehung zurück. Der Klerus der orthodoxen Kirche lehrt in wohl ungebrochener Tradition das Schreiben und Lesen der äthiopischen Sprache Ge‘ez (→ Art. 23) und tradiert dam it eines der ältesten Bildungssystem e überhaupt (Bowen & Horn 1976, 608; Haile G. 1976, 339). Die Sprache dieser Kirche, Ge‛ez, hat sich etwa drei oder vier Jahrhunderte später zur heute bekannten Form verfestigt (Ullendorff 1973, 117). Im gleichen Zeitraum bildete sich im „Am hara“ genannten Baschilo-Flußtal aber schon eine Vorform derjenigen Sprache heraus, die heute „Am harisch“ heißt (Bender 1983, 46). Die Funktion des Ge‛ez verengte sich auf die einer Kirchensprache, als die sie auch heute noch verwendet wird (Ullendorff 1973, 116). 1.2. Das Goldene Mittelalter Das Schulsystem der Ge‛ez sprechenden Kirche bestand allerdings weiter, es breitete sich aus und wurde auch in unserem Jahrhundert noch nicht vom Am harischen abgelöst (Aklilu 1989, 1). In ihrer gegenwärtigen Form datieren die orthodoxen Kirchenschulen aus dem „goldenen Mittelalter“ der Kirche — dem 13. bis 16. Jahrhundert. Die Resistenz dieses Schulsystem s gegen jede spätere Veränderung erklärt sich schon aus der Intensität und der Dauer der Schulung: eine volle Ausbildung kann dreißig Jahre dauern, und nur wenige

Mönche stehen sie tatsächlich durch. Dam als wie heute führt die Ausbildung von den trivialen Stufen — Alphabet, Kirchentanz, Musik und Gram m atik — bis zur Kirchengeschichte und Poetik (Aklilu 1989, 1). Was die Literatur angeht, so sind bis zum 14. Jahrhundert keine Werke durch Handschriften belegt; aber für das 12. und 13. Jahrhundert legen es schon die Briefe der ZagweKaiser (1190—1225) an zeitgenössische Kalifen und Patriarchen nahe, daß dieser Zeitraum literarisch kein Vakuum gewesen sein kann. Das Ge‛ez war in dieser Zeit zwar keine lebende Spache m ehr, aber es wurde weiter geschrieben, gelesen und gelehrt und bot sehr bald den Boden für eine literarische Renaissance. Die Geschichte der äthiopischen Literatur ist als eine Geschichte des paraphrasierenden Übertragens christlicher Literatur bezeichnet worden, wobei die griechischen und arabischen Schriften des Ostens als Vorlagen dienten. Es ist hier nicht der Raum , die Geschichte dieser Literatur auch nur zu skizzieren. (Eine geraffte Darstellung bietet Ullendorff 1973, 131—151; vgl. Cerulli 1956.) Erwähnt werden m uß hier jedoch das Hauptwerk dieser Gattung, das zur Zeit des Königs Am da Seyon I. (1314—1344) übersetzte geschichtsform ende Werk Kebra Nagast — nicht zuletzt deshalb, weil sein Herzstück, die Legende der Königin von Saba, seit m ehreren Generationen in volkstüm liche Bildstreifen übersetzt wird, m it am harischen Untertiteln. Es gibt auch originale Werke, wie z. B. die Annalen und Lebensbeschreibungen der Könige; einen Höhepunkt der Schriften dieser Art stellt die illum inierte Vita des Königs Lalibela dar. Die äthiopische Literatur dieser Jahrhunderte war, wie auch die äthiopische Musik und Architektur, ganz auf christliche Them en und Zielsetzungen festgelegt (Sergew 1972, 292). Neben religiösen Lebensbeschreibungen und Herrscherchroniken brachte das „goldene Mittelalter“ auch eine Blüte der religiösen Poesie hervor, die sich in vielen Versen und Hym nen über die Heiligen entfaltete (Bartnicki 1982, I, 97). Die älteste bekannte Handschrift in Ge‛ez ist das Evangelienbuch des Kaisers Am da Seyon aus dem 14. Jahrhundert (Bartnicki 1982, I, 97). Daß eine am harische Literatur existiert haben könnte, dafür gibt es als frühesten Beleg von einem unbekannten Verfasser das Epos über die Feldzüge des Am da Seyon

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(1329). Die Sprache dieser Texte kann nach Bender (1983, 48) als Pidgin- oder KreolVorform des heutigen Am harisch charakterisiert werden. Sie enthielt deutliche Beim ischungen aus verschiedenen nichtsem itischen Sprachen — z. B. dem Sidam o (Bender 1983, 46). Was das Um feld der Literatur dam als angeht, lassen allerdings die Annalen und Reiseberichte aus der Zeit des „goldenen Mittelalters“ darauf schließen, daß — bei aller Entfaltung geistlichen Lebens in den Klöstern — die Kaiser und der Landadel einen prosaisch ärm lichen Lebensstil führten und unter peinigender Langeweile gelitten haben m ögen. Theater oder Musik als geistige Ereignisse gab es nicht, Lesen war Sache des Klerus (Merid 1987, 127). 1.3. Die Unruhigen Zeiten Zur Zeit der islam ischen Kriegszüge Ahm ad Granjs (ab 1527) gingen viele der in Klosterbibliotheken sorgfältig gesam m elten Ge‛ez-Schriftenin Raub und Brand verloren — wie auch einige in am harischer Sprache geschriebenen Regierungsdokum ente (Bartnicki 1982, I, 121). Mit jedem Buch ging die Schreibarbeit von m ehreren Monaten verloren, das Pergam ent von m ehreren Ziegenherden — und oft das letzte Manuskript seiner Art. Auf die Kriegszüge des Ahm ad Granj folgten weitere Unruhen: Kriegszüge der Galla, Auseinandersetzungen m it dem Katholizism us — zum Teil begleitet durch erkundende oder polem isierende Schriften. Zur gleichen Zeit tat die äthiopische Literaturgeschichte in Europa einen wichtigen Schritt voran: In Rom war näm lich eine kleine Drukkerpresse m it äthiopischen Lettern eingerichtet worden, und 1513 — also fast ein Jahrzehnt vor Luthers Neuem Testam ent — wurden hier die Psalm en, das Hohelied, einige Hym nen, eine Tafel des Alphabets und eine Ge‛ez-Gram m atik gedruckt (Ullendorff 1960, 7; Conacher 1970, 45). Weil die äthiopische Kirche in dieser schwierigen Zeit eine stärkere Verbindung m it dem Volk der „Laien“ suchte, kam es wohl auch zu einer stärkeren Teilnahm e der Laien an der Unterweisung durch Priester und Diakone (Aklilu 1989, 1). In den Unruhen und Völkerbewegungen vor und nach 1600 war die am harische Sprache zur lingua franca m ehrerer anderssprachiger Gebiete geworden. Um der Aussprache von Palatal-Lauten in assim ilierten Lehnwörtern entgegenzukom m en, waren zusätzliche Sym bole geschaffen worden — die sogenann-

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ten „arabischen“, d. h. ausländischen Zeichen (Sergew 1972, 279; Bender 1983, 48). Die ersten in am harisch konzipierten größeren Schriftstücke waren Schulbücher, welche 1617 für die portugiesischen Missionsschulen geschrieben wurden. Nach der Vertreibung der Portugiesen gab es dann 200 Jahre lang keine Literatur dieser Art m ehr (Bowen & Horn 1976,290; Haile G. 1976, 362). 1.4. Iyasu II. als Mäzen der Alphabetisierung Iyasu II. m uß auf dem Hintergrund des traditionellen, vielleicht „ritterlich“ zu nennenden Erziehungsideals seiner Zeit (1730—1744) als „aufgeklärter Herrscher“ gelten (Bartnicki 1982, I, 200). Selbst im kulturbewußteren Äthiopien des 18. Jahrhunderts war Iyasu eine ungewöhnliche Erscheinung. Die äthiopischen Zeitgenossen allerdings nannten ihn Iyasu „den Kleinen“; denn im Vergleich zu seinem Vorgänger Iyasu I. hatte er sowohl politisch als auch kriegerisch wenig Schwung und Fortüne — dafür aber Gefallen am Schönen. Er ließ in seinem Reiche bekanntm achen, daß jeder, der die Wissenschaften suche, zu Hof willkom m en sei (Bartnicki 1982, I, 200). Je höher die Stufe der Wissenschaften, desto reichere Genüsse solle der Wissensdurstige an der Tafel finden: Lesen und Schreiben werde m it einfachen Speisen belohnt, die höheren Wissenschaften m it Gerstenbier (Talla), die Dichtkunst gar mit Met (Taj). Iyasu schaffte auch die Voraussetzungen für eine Bereicherung der Literatur: Er regte den Klerus an, Werke der Literatur des christlichen Okzidents zu übersetzen und in den Klosterbibliotheken seines Reiches zu sam m eln. Eine große Anzahl von Handschriften ist heute noch in der durch ihn errichteten Bibliothek zu St. Gabriel auf einer der Inseln des Tana-Sees archiviert. Die Handschriften sind so zahlreich, daß sie bis heute kaum ausgewertet werden konnten (Bartnicki 1982, I, 201). Bis etwa 1755 entwickelt sich im Zuge der allgem einen kulturellen Belebung vor allem eine reiche religiöse und historische Literatur, wobei die eigenständigen Werke eher zur letzteren Gattung gehören. Werke ganz anderer Art, wie zum Beispiel Gram m atiken des Ge‛ez, entstehen in der etwas späteren Gonder-Periode. (Bartnicki 1982, I, 203) In der darauffolgenden Epoche der „Zersplitterung“ (1755—1855) boten sich für das literarische Schaffen keine guten Voraussetzungen (Conacher 1970, 46). Neben einigen

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

am harischen Werken gibt es relativ wenige literarische Denkm äler aus dieser Zeit: m anche sind durch Brände vernichtet, andere vielleicht bis heute als Privatbesitz verborgen (Bartnicki 1982, I, 365).

(NLCCC 1984, 5; Tesfaye 1971, 369).

1.5. Tewodros II. als Stifter der Nationalsprache Mit Tewodros (1855—1868) begann eine neue Ära, auch im Verhältnis Äthiopiens zu Schrifttum : Tewodros hatte das politische Potential einer einigenden Sprache erkannt und wies der am harischen Sprache neue Funktionen zu: Nach vielen Jahrhunderten der Ge‛ezGeschichtsschreibung wird die Staatschronik seiner Regierungszeit nun im zeitgenössischen Am harisch geschrieben. Die Chroniken seiner Zeit sind nicht nur als historische Quellen bedeutsam , sondern auch durch ihren literarischen Wert. Der Brief des Tewodros von 1862 an die Königin Victoria kann als weltgeschichtlich folgenreiches Dokum ent betrachtet werden; interessant ist er zugleich als eines der ersten am harisch geschriebenen Schriftstücke seiner Art (Moorehead 1983, 214). 1.6. Menilek II. als Kommunikator Menilek wurde durch den Sieg über die Italiener (1896) darin bekräftigt, daß m ehr Ausbildung und m ehr Kom m unikation seinem Land guttun würden. Er öffnete viele neue Wege der Kom m unikation — Postwesen, Bahn, Straßen, Telegraphie — und schickte viele Studenten ins Ausland (NLCCC 1984, 5; Ullendorff 1973, 149; Bartnicki 1982, I, 362). Die erste äthiopische AlphabetisierungsProklam ation stam m t aus seiner Zeit (1906). Religiöse Institutionen, so Menilek, sollten Lesen und Schreiben unterrichten, und m öglichst alle Kinder ab sechs Jahren sollten Alphabetisierungs-Schulen besuchen. Die nächsten Ansätze zur Alphabetisierung gab es dann erst wieder 1928, 1955 und schließlich 1979 (Ministry 1990, 27). Seit m ehr als 16 Jahrhunderten hatte Ge‛ez als die einzige Sprache gegolten, welche Kultur verm itteln könne. Als aber im m er m ehr am harische Literatur unter das Volk geriet — seit 1911 auch im Druck — da entdeckten im m er m ehr orthodox geschulte Leser ihre „Biliteralität“ (Wallace 1987). Die Kunst des Lesens, die sie im Ge‛ez erworben hatten, konnten sie ohne weiteres auf die Sprache ihres Alltags übertragen: Sie lasen Am harisch

1.7. Säkulare Schulen Die erste säkulare Schule Äthiopiens wurde 1908 von Menilek II. in Addis Ababa gegründet (Aklilu 1989, 4). Nach dem oben (1.6.) Gesagten m ag einleuchten, daß eine solche Schulgründung nicht allen Vertretern der orthodoxen Tradition willkom m en war. Eine Regierungserklärung erm utigte die Bevölkerung, ihre Kinder zur Schule zu schicken (Ministry 1990, 12; NLCCC 1984, 5). Was Menilek sich für sein Land erhoffte, waren eine Intensivierung der Kontakte, wie sie sich durch Dolm etscher, Übersetzer und Juristen ergeben würde — vor allem über das Französische (Aklilu 1989, 4; Bowen & Horn 1976, 610). Die Post war inzwischen zu einer sehr willkom m enen Einrichtung geworden. Addis Ababa war eine junge Stadt von fast 100 000 Einwohnern und wuchs. Verbindungen ins Inland und Ausland, besonders m it ausländischen Technikern, wurde aktiv gesucht. Das Asyl, das Menilek den derzeit verfolgten arm enischen Christen gewährt hatte, zahlte sich als Entwicklungshilfe aus: Arm enier waren es vor allem , die Zeitungen, Broschüren und Bücher druckten. Am harisch übernahm langsam die Rolle der führenden Literatursprache (Bartnicki 1982, I, 365 f). Es übernahm einige Funktionen des Ge‛ez und wuchs vor allem durch den Buchdruck schnell in neue Funktionen hinein. Rom ane erschienen. Ab 1919 wurde Am harisch als volles Schulfach unterrichtet (Tesfaye 1971, 369). An den über das Land verstreuten Missionsschulen wurden hier und da zwar verschiedene äthiopische Sprachen verwendet, vorwiegend aber europäische Sprachen und Amharisch (Bowen & Horn 1976, 610). Unter Haile Sellase entstanden dann bis 1935 ca. 20 Regierungsschulen m it ca. 4200 Schülern, und dazu kam en ca. 100 Missionsschulen m it ca. 5000 Schülern (Haile G. 1976, 362). 1.8. Kolonialistische Sprach- und Schulpolitik Zur Zeit der italienischen Invasion (1935) wurden die m eisten äthiopischen Schulen geschlossen, und auch später standen den „Eingeborenen“ nur wenige Schulen offen (Bowen & Horn 1976, 610). Eine lesende Elite konnte sich schon deshalb nicht bilden, weil viele Schulabgänger im Krieg ihr Leben verloren hatten (NLCCC 1984, 6).

67.  Alphabetisierung und Literalität in Äthiopien

Eine äthiopische Nationalsprache sollte es aus kolonialfaschistischer Sicht nicht geben. Am harische Schulausbildung wurde eingeengt, Arabisch aber in Islam schulen, Zeitungen und Rundfunk gefördert (Sbacchi 1985, 162—163). Die italienischen Generalgouverneure ließen in ihren verschiedenen Provinzen den Unterricht jeweils in der Sprache abhalten, die ihnen opportun schien; hier Orom o, dort Kafa usw. Exzellente Linguisten lieferten dieser Sprachpolitik die Analysen (Bowen & Horn 1976, 610; Sbacchi 1985, 160). Äthiopische Politiker wittern seither ein divide et impera in jeder Verwendung der Muttersprachen. 1.9. Sprach- und Schulpolitik des Reiches Nach dem Scheitern der italienischen Invasion (1941) m ußte das äthiopische Schulsystem neu aufgebaut werden (NLCCC 1984, 6; Bowen & Horn 1976, 610), und die gesam te Schulbildung wurde 1941 dem neugestalteten Erziehungsm inisterium unterstellt (Ministry 1990, 13). Die Gründung einer „Äthiopischen Akadem ie“ wurde 1942 proklam iert, um die Erforschung „der Sprache“ zu fördern (Academ y 1986, 1 f). Mit „Sprache“ war die am harische Sprache gem eint; sie galt dem Kaiser als einer Kraft, die das Im perium einen konnte. Die anderen äthiopischen Sprachen wurden erfolgreich ignoriert, selbst in der Forschung. Ein Dekret von 1944 besagt: „Die allgem eine Unterrichtssprache in ganz Äthiopien soll Am harisch sein“ (Aym ro 1970, 173). Ab 1947 gab es am harische Gram m atik und Literatur als reguläres Unterrichtsfach (Tesfaye 1971, 372). Das Erziehungsm inisterium m ußte dann 1952, zehn Jahre nach seiner Gründung, gestehen, daß Alphabetisierung ein „Projekt für die Zukunft“ sei. Nur 732 Männer und 13 Frauen waren derzeit in m eist privaten Abendschulklassen eingeschrieben. Das Ministerium stellte einen Plan zur „kontrollierten Erweiterung der äthiopischen Schulbildung“ auf. „Kontrolle“ bedeutete Einengung auf Am harisch und auf wohlhabende Schüler. Ähnlich 1955: Der Kaiser verlas in einer Alphabetisierungs-Proklam ation „Wir fordern jeden analphabetischen Äthiopier zwischen 18 und 50 auf, in seiner Freizeit eine Grundausbildung zu erwerben, nach der er Am harisch lesen oder schreiben kann.“ Wie? Zum Beispiel durch „Anstellung eines Privatlehrers„ (NLCCC 1984, 6). Schulbücher wurden 1955 ins Am harische übersetzt (Tesfaye 1971, 375).

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Ab 1958 wurde Am harisch zur Unterrichtssprache der Grundschulklassen (1—6) erklärt (Tesfaye 1971, 373). Einige Kirchenschulen übernahm en das am harische Unterrichtsprogram m der Regierung (Bowen & Horn 1976, 617). Eine Regierungsverordnung m achte aus der „Sprachakadem ie“ die „Am harische Akadem ie“, weil dies nach der Verfassung von 1955 die offizielle Landessprache war (Academy 1986, 1). Schulausbildung m it Am harisch als Unterrichtssprache blieb ein Problem . Diese Sprache war für die Mehrheit der Landbevölkerung einfach ungebräuchlich oder unbekannt (Galperin 1981, 127). Interessanterweise wird schon zu Zeiten des Kaisers (1971) em pfohlen, für die ersten vier Schuljahre die Muttersprachen der Schüler zu verwenden — wenigstens Orom o, Tigrinja, Som ali, Afar-Saho, Arabisch, Kafa, Sidam o, Tigre und Wolaitta (Tesfaye 1971, 83 f). In den 60er und 70er Jahren wuchsen m it der Schülerzahl auch die Problem e: 1971 m ußte Schichtunterricht eingeführt werden; die Zahl der vorzeitigen Schulabgänge stieg. Das gesam te Schulsystem wurde schließlich einer Revision unterzogen (Aklilu 1989, 4; Ministry 1990, 13). Das Schulsystem war m it einer Million Grundschüler überfordert. Dabei waren erst 20 Prozent aller äthiopischen Kinder verschult, 25 Prozent davon in nichtstaatlichen Schulen. Nichtstaatliche Schulen fingen an, den Lehrplan der Regierung zu integrieren (ONCCP 1985,84; Galperin 1981, 116; Sjöström 1977, 8). Einige kleine Islam schulen übernahm en ab 1970 teilweise den Lehrplan der Regierung. Die orthodoxe Kirche hatte schon früher Teile des allgem einen Lehrplans übernom m en. In den 60er Jahren unterrichtete sie im m erhin halb so viele Schüler wie die Regierung (Galperin 1981, 114; Haile G. 1976, 339). Für die protestantischen Kirchen hatte der Genfer Lutherische Weltbund die Frage recherchieren lassen, welcher Bereich in den 60er Jahren vorrangig Entwicklungshilfe em pfangen m üsse. Die Antwort war: Alphabetisierung. Ohne einen gewissen Grad von Alphabetisierung seien keine anhaltenden ökonom ischen oder sozialen Verbesserungen zu erwarten (Sjöström 1973, 15). Die Kirche „Mekane Yesus“ folgte diesem Hinweis (Sjöström 1973, 18), und 1962 wurde ein sehr effektives Leseprogram m eingerichtet, das bis zur Revolution über eine halbe Million Leser ausbildete und 1991 noch ca. 1400 Schulen

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

unterhielt (Sjöström 1977, 8 f; Sjöström 1973, 14; Haile M. 1969, 14; Edossa 1989, 52).

3.

2.

Sozio-psychologischer Kontext

Bis in dieses Jahrhundert waren Ethik und Wertsystem der äthiopischen Elite vom traditionellen Erziehungsideal des fähigen Kriegers bestim m t. Die Künste des Lesens und Schreibens galten in diesem Wertsystem eher als unedel; der Gelehrte verkörperte eher Feigheit und Schläue als Mut und Edelm ut (Pankhurst 1968, 673; Bowen & Horn 1976, 615: die schlim m sten Tiere sind die Skorpione, die schlim m sten Leute die Gelehrten. Selbst im Rahm en der orthodoxen Kirche erfährt das Lesen und Schreiben eine relativierende Einschätzung. Um das nachzuvollziehen, m uß m an sich etwa vergegenwärtigen, daß ein theologischer Kom m entar aus einem Buche viel weniger Gewicht hat als das, was ein verehrter Lehrer aus dem Gedächtnis vorträgt (Heyer 1970, 143). Zur Einschätzung des Schreibens m einte Levine sogar noch vor kurzem , diese Tätigkeit werde als Handarbeit und deshalb schlechthin erniedrigend erachtet wie auch jedes andere Handwerk (Levine 1965, 87). Ein Schriftstück war zu heilig oder zu unheim lich für den Alltag; einladend jedenfalls nicht. Bis zur Revolution begegnete „Schrift“ dem Laien m eist nur als sakrale Schrift, als Talism an m it pergam entenen Flüchen oder als Gerichtsakte. Erst die Revolution m achte Poster und Papier allgegenwärtig. Die Motivation, Lesen oder Schreiben zu lernen, war für große Teile der ländlichen Bevölkerung entweder nicht sichtbar oder nicht gegeben. In der Provinz Kafa zum Beispiel brachte 1971 eine Untersuchung eventueller Funktionen des Lesens oder Schreibens das Ergebnis, daß die Werte der bäuerlichen Welt so wenig m it den Werten einer lesenden Welt gem einsam hätten, daß für die Kunst des Lesens keinerlei Funktion erkennbar sei: Jede Bem ühung um Alphabetisierung müsse fruchtlos bleiben (Beck 1971, 94—100). Die Lesekam pagne stand 1979 vor der Aufgabe, sehr verschiedenen Kulturen gerecht zu werden, die sich auch in Arbeitszyklen und Siedlungsform en unterschieden. Allein die Siedlungsform en variieren in Äthiopien von nom adisch m obilen Hütten über Ansiedlungen verschiedenster Form ierung bis zu großen Städten. Ort und Zeit der Leseklassen m ußten dem entsprechen (Galperin 1981, 86; Stitz 1974, 351—53).

Linguistische Voraussetzungen der Verschriftung

3.1. Sprachliche Institutionen Mehrere äthiopische Institutionen sind an der Verschriftung der Sprachen des Landes interessiert und beteiligt. Eine prim är „ausländische“ Verschriftung in arabischen oder lateinischen Buchstaben liegt ihnen fern. Bald nach der Revolution von 1974 ließ z. B. die Sprachakadem ie diejenigen Sprachen identifizieren, die verschriftet werden sollten. Als Kriterien galten Sprecherzahl und soziale Funktion (Academ y 1986, 14). Die Linguistik-Abteilung der Universität erklärte sich in ihren Jahresberichten ebenfalls zur Hilfe bereit: Da feststehe, daß Leseprogram m e am wirksam sten in der jeweiligen Muttersprache durchgeführt würden, m üßten Linguisten in Analyse und Verschriftung m itarbeiten (Anom ym us 1988, 44). Einige praktische Entscheidungen werden auch von den Druckereien, der äthiopischen Bibelgesellschaft und natürlich von den Bauernvereinigungen der Sprachgebiete getroffen. 3.2. Schrift und Lautsysteme Die Lautwerte der äthiopischen Silbenschrift sind durch Am harisch als Nationalsprache vorgegeben (vgl. für eine Beschreibung Art. 23). Das heutige Am harisch hat die altäthiopischen Zeichen bewahrt, unterscheidet aber z. B. im Gegensatz zum Tigrinja nicht m ehr alle velaren, pharyngalen und glottalen Lautwerte. Es gibt in Äthiopien vier große Sprachfam ilien: die sem itischen, kuschitischen, om otischen und die Nil-Sahara-Sprachen. Die Lautsystem e dieser sehr verschiedenen Sprachen decken sich natürlich nicht m it den Lautwerten, welche die Schriftzeichen in der Landessprache haben; besonders die Vokalsystem e sind sehr voneinander verschieden (Wedekind 1990). Für kuschitische und om otische Sprachen hat z. B. Hailu Fulass einige typische Differenzen beschrieben, und für eine Nil-Sahara-Sprache Sm alley (Hailu 1975, 9; Sm alley 1963, 78). Im folgenden werden nur die typischen Unterschiede skizziert, welche in der Verschriftungspraxis zu Problem en geführt haben. Sem itische Sprachen können bis zu 5 Konsonanten durch Palatalisierung unterscheiden (Chaha). Bei den Vokalen gibt es System e von 5 bzw. 10 Vokalen (Chaha, Silti). Supraseg-

67.  Alphabetisierung und Literalität in Äthiopien

m entale Kontraste sind nur in der Vokallänge (Silti) zu bemerken. Kuschitische Sprachen können bis zu 4 Im plosive haben (Konso), es kom m en bis zu 5 präglottalisierte Konsonanten vor (Gedeo), ebenso pharyngale und glottale Konsonanten (Afar, Som ali). Bei den Vokalen sind System e von 5 bzw. 10 Vokalen die häufigsten. An Suprasegm entalen gibt es Vokallänge und Konsonanten-Ge m ination, wobei Ge m ination viele lexikalische Kontraste bildet. Om otische Sprachen können bis zu 6 retroflexe Frikative bzw. Affrikate und Ejektive haben. Palatalisierung verschiedener Konsonanten einschließlich Glottallaut ist belegt; außerdem gibt es alveolare Affrikate (Gim ira, Zayse). Bei den Vokalen sind System e von 5 bzw. 10 Vokalen häufig. An Suprasegm entalen kom m en Vokallänge vor sowie häufige lexikalische Konsonanten-Gem ination im Lexikon. Die Sprachen haben bis zu 6 Tonem e (Gimira). Nil-Sahara-Sprachen können dentale (Nuer) oder im plosive (Suri) Konsonanten haben; velare Nasale (Majang) kom m en vor. Die Vokale bilden System e von 5 bzw. 10 Vokalen, wozu noch Modifikationen kom m en. System e von 7 oder 9 Vokalen unterscheiden offene und geschlossene Vokale (Me’en) bzw. + ATR und — ATR Vokale bzw. Behauchung (Anuak, Nuer). Die Suprasegm entalen sind Vokallänge und Ton, fast im m er sind es 2 Toneme. 3.3. Die Orthographien Die Lösung der orthographischen Problem e liegt teils in der Um deutung von „überflüssigen“ am harischen Silbenzeichen, teils in diakritischen Zeichen. Das Problem bei Um deutungen besteht darin, daß der Übergang zum Lesen des Am harischen erschwert werden könnte. Das Problem bei diakritischen Zeichen besteht darin, daß sie historisch, ästhetisch und von der Inform ationslast her für eine Schrift wie die äthiopische nicht akzeptabel sind. Entscheidungsgrem ien wie z. B. die Sprachakadem ie lehnen diakritische Zeichen ab. Konsonanten: Im plosive werden orthographisch wie glottalisierte Laute geschrieben. Das ist phonetisch und psycholinguistisch gerechtfertigt, weil das dom inante Merkm al die „Glottalisierung“, nicht aber die Plosions„Richtung“ ist. Problem atisch wäre diese Lösung nur in Majang, wo die ursprünglichen Im plosive und die neuen am harischen LehnEjektive koexistieren. Retroflexe in der Spra-

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che Gim ira bilden ein so reiches Inventar, daß keine andere orthographische Lösung blieb als diakritische Zeichen: Die Silbenzeichen werden nach dem Muster der Vokal-Markierung („U-“) m it einem seitlichen Strich links („-U“) m arkiert. Alveolare Affrikate in Gim ira werden m it einem der „überflüssigen“ SLaute geschrieben. Dentale Konsonanten deuten „überflüssige“ Konsonanten-Sym bole des am harischen Inventars um . Velare Nasale verwenden ein „überflüssiges“ Zeichen für /h/. In Majang z. B. ist dieser Laut ein volles Phonem . Die präglottalisierten Kontinuanten wie /’l ’m ’w/ in kuschitischen Sprachen des Hochlands sind Konsonantenfolgen, dargestellt werden sie als 6. Form ‛ayn bzw. alef plus /l/, plus /m /, plus /w/ usw., ein Problem besteht nur darin, daß es gerade für das alef ungewöhnlich ist, keinen Vokal zu tragen. Palatalisierte Konsonanten in Chaha werden parallel zur Labialisierung durch ein diakritisches Zeichen unterschieden. Vokale: System e von 5 Vokalen nutzen nur 5 Vokalwerte des am harischen Siebener-System s: /i e a o u/. Die „überflüssigen“ VokalOrdnungen sind die der 1. Ordnung (Schwa) und der 6. Ordnung (hoher Zentralvokal bzw. Null). Die der 6. Ordnung werden als silbenauslautende Konsonanten gelesen. Unschön und unökonom isch ist hier nur, daß gerade die graphisch unm arkierte Form der 1. Ordnung gar nicht benutzt wird. System e m it 7 oder 10 Vokalen, geschlossenen Mittelvokalen, ATR-Vokalen oder behauchten Vokalen wurden versuchsweise bei harm onischen Vokalserien m it „h“ als suprasegm entalem Signal geschrieben; sehr problem atisch wird die Unterdifferenzierung dann, wenn sowohl Ton als Gem ination als auch vokalische Länge in der Schrift unterschlagen werden. Suprasegm entale: Durch Vokallänge kontrastieren /i e a o u/ m it /ii ee aa oo uu/, und das am harische Siebener-System wird m eistens so verwendet wie schon 1899 in der Orom o-Bibelübersetzung des Onesim us Nesib: Das unm arkierte /a/ (oft zentralisiert) wird durch das graphisch unm arkierte Zeichen (1. Ordnung) dargestellt, und das kurze /i/ bzw. Null durch den hohen Zentralvokal (6. Ordnung). Der Rest /e o u/ vs. /ee oo uu/ ergibt statistisch gesehen die kleinstm ögliche Zahl von Homographen (Hailu 1975, 7). Konsonanten-Gem ination wird wie mi Am harischen auch in den anderen Sprachen nicht wiedergegeben. Ein Problem liegt darin, daß dies in kuschitischen und om otischen Sprachen viel häufiger zu lexikalisch m ehr-

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

deutigen Lesungen führt als in sem itischen Sprachen. Es hat Versuche gegeben, Gem ination durch Verdopplung der „Silben“-Zeichen anzuzeigen. Töne tragen in den bisher untersuchten Sprachen eine relativ geringe Inform ationslast. Sie werden nach Auswertung entsprechender Lesetests nicht repräsentiert; selbst in der 6-Ton-Sprache Gimira nicht.

in einer anderen Reihenfolge richtig ausgesprochen werden. Dann erst wird die erste Epistel des St. Johannes Laut für Laut „gelesen„. Zu bem erken ist, daß alle Texte in der Kirchensprache Ge‛ez geschrieben sind. Seit 1000 Jahren spricht niem and m ehr diese Sprache im Alltag (Bowen & Horn 1976, 608). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, daß auch eine dem Sinn des Textes gem äße Intonation und Pausierung stufenweise geübt werden m uß. Die „natürliche“ Intonation und Pausierung kann sich ja nicht aus dem Sinn des Textes ergeben, solange die Bedeutung für den Schüler noch unbekannt ist. Der Sinn dieser Texte ist aber nur für den von Interesse, der in den Dienst der orthodoxen Kirche tritt.

4.

Methoden der Alphabetisierung

4.1. Methoden der orthodoxen Kirchenschule Den Mittelpunkt äthiopisch orthodoxer Bildung bildet die Kirchenschule und ihre uralte Tradition. Die Eltern einiger um liegender Höfe schicken ihre Knaben zur nächstgelegenen orthodoxen Kirche, wo die kleine Gruppe sich dann regelm äßig um den Priester schart: die „Priester“-Schule (Ullendorff 1973, 194). Das traditionelle Schulsystem der orthodoxen Kirche unterscheidet drei Stufen: erstens das „Haus des Lesens“, wo das Alphabet und das laute Lesen von Wörtern gelehrt wird; zweitens das Studium spezifischer Texte des orthodoxen Christentum s; den Höhepunkt bildete das Studium von Liturgie, Dichtung und Kom m entaren (Haile G. 1976, 339; Bowen & Horn 1976, 608). Hier interessiert vor allem das „Haus des Lesens“, weil dort in ungebrochener Tradition äthiopische „Alphabetisierung“ betrieben wird. Die historische Bedeutung dieser Schulen ist offensichtlich. Aber auch die Anzahl der Schüler ist beträchtlich. Nach einer Schätzung von 1976 m uß es in Äthiopien etwa 15 000 dieser Schulen m it perm anent 300 000 Schülern geben (Haile G. 1976, 339). Das Lesen selbst zerfällt wieder in drei Stufen: Zuerst werden die Silbenzeichen gelernt und an der ersten Epistel des St. Johannes geübt. Dann werden ausgewählte religiöse Texte gelesen, und schließlich die Psalm en Davids (Haile G. 1976, 341). Das Alphabet steht auf einem Pergam ent oder auf einer Papptafel. Es wird nach dem Takte eines Strohhalm s Zeichen für Zeichen gesungen, als wäre er ein Taktstock. Die sogenannte „Qutir“-Methode („Zählen“) läßt den Schüler zuerst von links nach rechts, dann von rechts nach links und schließlich von oben nach unten alle 231 Silbenzeichen lesen bzw. singen, bis er sie auswendig aufsagen kann. Die sogenannte /a bu gi da/-Methode soll sicherstellen, daß die einzelnen Silbenzeichen auch

4.2. Methoden der Islamschule Die islam ischen Schulen Äthiopiens sind — m ehr als anderswo — vom Stil der christlichen Kirche beeinflußt. Kleine Islam schulen sind über alle islam ischen Teile und alle Städte Äthiopiens verstreut. Wo es keine solche Schule gibt, erhalten die Söhne oder Töchter islam ischer Eltern ihre allererste schulische Bildung von ihrem Vater (Hasselblatt 1974, 10). Der Lehrplan entspricht dem der islam ischen Tradition. Hauptfach ist Arabisch (Hasselblatt 1974, 8). Zwei Hauptstufen gibt es: Erstens das Lesen der arabischen Schrift und des Korans. Dieser Unterricht hat je nach Provinz verschiedene Nam en; in den Städten heißt er „Scheich“-Schule, entsprechend dem orthodoxen Gegenstück „Priester“-Schule„. Zweitens folgt dann die höhere islam ische Schule, „Ilm “ genannt. Ähnlich der orthodoxen Schulung um faßt sie Jura, Gram m atik und geistliche Kom m entare (Haile G. 1969, 1). Das Lesenlernen — die erste Stufe also — gilt als besonders schwierig. Die konsonantischen Grundform en jedes arabischen Buchstabens stehen auf einer „Loh“ genannten gekalkten Holztafel, und diese Buchstaben werden wie in der orthodoxen Kirchenschule m it einem Strohhalm identifiziert und jeweils gesungen. Ähnlich wie in der orthodoxen Schule besteht auch hier die Gefahr, daß die Schüler zwar die Tafel auswendig singen, aber keine einzelnen Buchstaben identifizieren können. Dann werden die KonsonantenPunkte gelernt. In ihrer Muttersprache singen die Schüler dann z. B. „Alef hat keinen Punkt, Ba hat oben einen Punkt, Ta hat unten zwei Punkte“ usw. (Haile G. 1969, 2). Nach einigen

67.  Alphabetisierung und Literalität in Äthiopien

Wochen folgt dann das Singen der Vokalnam en: „Alif Fatha A“ usw. (Haile G. 1969, 4). Als nächstes folgt das Lesen kurzer Abschnitte — wie in der orthodoxen Qutir-Methode. Es wird jedes Wort zunächst als eine Folge von Einzellauten gesungen und dann als ganzes. Die Schulung derjenigen Kinder, die nicht von Haus aus Arabisch verstehen, heißt „Badiya„. Badiya-Schüler verstehen so wenig von den Worten, die sie lesen, daß sie darin den orthodoxen Kirchenschülern gleichen. Den Abschluß dieser Schulbildung bildet dann das Auswendiglernen m ehrerer Kapitel des Korans. Wer die Schule beendet hat, zitiert gelegentlich wohl noch einen Koranvers, wird aber nach m ehreren Jahren Feldarbeit sogar das Alphabet vergessen haben (Haile G. 1969, 4). 4.3. Methoden der Alphabetisierungs-Kampagne Eine Anfängerklasse in der Alphabetisierungs-Kam pagne begann norm alerweise dam it, daß ein großer Bogen Papier m it Silbenzeichen an einen Baum gehängt wurde. Die Zeichen sind nicht wie auf der Tafel der orthodoxen Kirchenschule in der traditionellen Weise angeordnet, sondern nach der Form der Graphem e. Wie in der Kirche wird m it einem Stock oder auch m it Kärtchen und ausgeschnittenen Lettern das Erkennen und Lesen der Laute eingeübt (Ministry 1990, 29). In einem nächsten Schritt sind die gelernten Silbenzeichen dann so kom biniert, daß sie in der Sprache der Kursteilnehm er sinnvolle Wörter ergeben. Im Unterschied zur orthodoxen Kirchenschule also werden nicht Wörter aus Ge‛ez-Texten geübt, sondern Wörter der Sprache der Kursteilnehm er. Entsprechend heißt es in einem der Berichte, die Verwendung der 15 äthiopischen Sprachen habe den Unterricht sehr erleichtert (Ministry 1990, 29).

5.

Fibeln und weiterführende Literatur

Die uralte Tradition der äthiopischen SilbenMethode verlangt, daß die Silben zuerst zitiert bzw. gesungen und später zu Silbenfolgen aufgebaut werden. Diese Tradition beeinflußte auch die Methoden der Regierungsschulen, Missionen oder der Alphabetisierungs-Kam pagne — wo einige Wörter zwar nach Silben

821

analysiert werden, dann aber so behandelt werden wie in der orthodoxen Tradition. Die Silben-Methode sieht sich jedesm al neuer Kritik ausgesetzt, wenn eine neue Welle der Pädagogik oder Linguistik sie erreicht. Es ist deshalb nicht trivial, hier daran zu erinnern, daß die beim Lesen aktivierten m enschlichen Speicher- und Suchvorgänge sich weitgehend an Silben oder Vokalzentren orientieren (Em m orey & From kin 1988; Hansen & Rodgers 1973, 62). „The syllable isn’t a bad unit to start from “ war der Schluß, den die Alphabetisierungs-Spezialistin Sarah Gudschinsky aus der Arbeit an om otischen Fibeln zog (mdl. 1973). Eine typische am harische Fibel, wie sie etwa das Erziehungsm inisterium bis in die 70er Jahre herausgab, führt jedes neue Silbenzeichen durch eine Illustration ein, welche für die erste Silbe des dargestellten Wortes steht. Diese Silbe wird daraufhin isoliert und dann ganz nach der Tradition der orthodoxen Kirchenschule in allen sieben Vokalen ergänzt (vergleichbar den Entsprechungen Hase — Ha, Hugo — Hu, Hiebe — Hi usw.). Spätere Lektionen bestehen aus Texten, deren Zeilen nach Sinneinheiten geschnitten sind. Sie sollen den Neuling darauf einstim m en, daß Schrift nicht nur Silben bringt, sondern auch Sinn. In die Zeit Haile Sellases gehören zum Beispiel die Sym bole zawd „Krone“ und zufan „Thron“ als Illustration für /za/ und /zu/. Beispielssätze erm üden m eist durch die Blässe und Arm ut, welche der Gattung „Lesebuchsätze“ eigen ist: „Hier ist ein großer Baum „ (Wallace 1987). Für die Fibeln der AlphabetisierungsKam pagne gilt ebenfalls die traditionelle Silbenpädagogik. Die Silbenzeichen sind allerdings nicht nach der historisch überlieferten Reihenfolge angeordnet, sondern nach der Zahl der „Füße“ jedes Zeichens — wodurch dem Schüler zunächst alle graphem ischen Unregelm äßigkeiten erspart werden. Neu sind auch „bewußtseinsverändernde“ politische Reizwörter oder Texte. Die Fibeln m ußten in kurzer Zeit in alle 15 Sprachen der Kam pagnen „übersetzt“ werden. Für eine Aufbereitung jeder Fibel — etwa nach Lauthäufigkeiten, besonderen Funktionswörtern oder linguistisch kontrolliert einzuführendem Wortschatz — blieb keine Zeit. Die Planung und Herstellung der Fibeln gehorchte zuerst politischen Gesichtspunkten, dann pädagogischen oder psycholinguistischen. Bei den weiterführenden Broschüren der Alphabetisierungs-Kam pagne von 1979 hat

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

die Arbeit der fibelschreibenden Intellektuellen „vor Ort“ dazu geführt, daß sie die bäuerliche Sicht von „Fortschritt“ einnahm en — etwa m it Them en wie „Ungeziefer“, „Bienenzucht“, „Mutterboden“, aber auch „Festtag“, „Kindheitserinnerung“, „Sehnsucht„. Zuweilen gerierten sich die Broschüren aber so, als m üßten sie vor allem den Geberländern oder den Ideologen gefallen — etwa m it Them en wie „Entwicklung“, „Arbeitslohn“, „Bevölkerungswachstum “ oder „Zusam m enarbeit„. Der Stellenwert von Alphabetisierung ergab sich im m er noch aus Lenins bekanntem Dictum , m it Analphabeten könne m an keine Revolution machen.

6.

Die Alphabetisierungs-Kampagne der Revolution

Ein weit verbreiteter Analphabetism us lähm t jeden Versuch, das Lesen zu lehren. Wenn aber in einer Gesellschaft der Bevölkerungsanteil der Leser eine kritische Menge erreicht hat, dann sehen sich die Analphabeten plötzlich dem sozialen Druck ausgesetzt, auch lesen zu lernen (Sjöström 1973, 40). In den UNESCO-Statistiken zur Alphabetisierung lag Äthiopien vor der Revolution ganz unten: bei 7 Prozent (Ministry 1990, 27). Vieles von dem , was die äthiopischen Studenten der 60er und 70er Jahre beunruhigt hatte, war m it den Fragenkreisen „Alphabetisierung“ und „Inform ation“ verknüpft: Inform ationen über Hungergebiete wurden von der Regierung zensiert, sozial Benachteiligte durften oder konnten sich nicht artikulieren, Ausbildungsdefizite wurden nicht behoben, ethnische Minderheiten wurden übergangen und Minoritätensprachen totgeschwiegen (Head 1976, 636). Deshalb war die 1974 geforderte egalitäre Alphabetisierung und Aufklärung des Landes zunächst eine „Bewegung“, der sich viele Studenten m it Überzeugung anschließen konnten. Gem äß dem Program m der Nationalen Dem okratischen Revolution wurde allen äthiopischen Sprachen — es gibt etwas m ehr als 80 — die gleiche Bedeutung zuerkannt. Die „Am harische Akadem ie“ hieß nun „Akadem ie der äthiopischen Sprachen“ (Academ y 1986, 3—4). Eine neue Abteilung für Erwachsenenbildung wurde gegründet. Dort wurden Erfahrungen aller früheren Alphabetisierungs-Versuche studiert, dam it anschließend die „Nationale Arbeits-Kam pagne“ m it ange m essene m Unterrichts m aterial versorgt

werden konnte. Für 16 Sprachen wurden neue Fibeln und jeweils ca. 1000 Seiten neues Lesematerial bereitgestellt (NLCCC 1984, 15). Dann setzte sich 1979 eine der m assivsten Alphabetisierungs-Kam pagnen der Geschichte in Bewegung. Für die adm inistrativen Leistungen wurden 1980 und 1982 das Alphabetisierungs-Kom itee und die Bauernvereinigungen seitens der International Reading Association (IRA) und der UNESCO ausgezeichnet. Geplant war anfangs, daß die erste Alphabetisierungs-Runde im Som m er 1979 eine gute Million Analphabeten unterrichten sollte. Von der Zahl der tatsächlichen Anm eldungen waren aber selbst die Optim isten des Planungsstabs überwältigt: fünfeinhalb Millionen (Galperin 1981, 128; NLCCC 1984, 5). Die darauffolgenden halbjährlichen Runden entsprachen dann eher den bescheideneren Schätzungen; eine gewisse Erm üdung war unverm eidlich. Bis zum Ende des ehem als m arxistisch-leninistischen Mengistu-Regi m es (1991) sind 24 solcher AlphabetisierungsRunden organisiert worden — sam t vorbereitenden Sem inaren, Spendenaufrufen, Materialien, tatsächlichen Leseklassen und Berichten. Berichte aus der Provinz dokum entieren zu Tausenden Details über Klassengröße, Muttersprache und Erfolgsrate der Analphabeten unterm grünen Baum. Lehrer war jederm ann, nach dem Spruchbandm otto „Wer lesen kann, soll lehren; wer es nicht kann, soll es lernen“ (Ministry 1990, 33). Ehe ein Alphabetisierungs-Lehrer aber den Unterricht aufnahm , wurde er in kurzen Lehrgängen ausgebildet. Freiwillige wurden rekrutiert — Begeisterte und Verdrossene. In den zehn Jahren bis 1989 gab es m ehr als 2 Millionen Freiwillige, darunter Lehrer, Soldaten, Polizisten, Angestellte der Regierung und anderer Organisationen, Arbeiter m it Ausbildung, Mitglieder religiöser Vereinigungen und gebildetete Pensionäre (Ministry 1990, 33). Als Ziele der Alphabetisierungs-Kam pagne galten unter anderem : Lesen und Rechnen für jeden, Entfaltung von Person und Arbeitskraft, Stärkung des politischen Bewußtseins, Wohlergehen, Mündigkeit. Das weiterführende Program m war für diejenigen gedacht, die das erste Program m erfolgreich abgeschlossen hatten. Die Motivierung wurde in den 80er Jahren vielfältig belebt: durch eine Kolum ne „für den neuen Leser“ in jeder Tageszeitung, durch Radiosendungen, 14 Ortszeitungen und 9400 Leseräum e. Aus verschiedenen Gründen haben m ehrere dieser Ein-

67.  Alphabetisierung und Literalität in Äthiopien

richtungen aufgehört, ihrem Zweck zu dienen (NLCCC 1984, 22; Ministry 1990, 28—42). Die Sprachen der Alphabetisierungs-Kam pagne waren zuerst Am harisch, Orom o, Tigrinja, Wolajta und Som ali. In der 4. „Runde„ kam en Hadiya, Gedeo, Tigre, Kam bata und Kunam a dazu, und in der 7. Runde Sidam o, Silti, Afar, Kafa-Moca und Saho. Mit diesen 15 Sprachen, so sagt das AlphabetisierungsKom itee, seien ca. 94 Prozent aller Bürger Äthiopiens m it Literatur in ihrer eigenen Sprache versehen worden (NLCCC 1984, 22 f). Was die Sprachpolitik der äthiopischen Übergangsregierung nach Mengistus Sturz (1991) betrifft, so garantiert sie für jede „Nationalität“ das Recht, ihre eigene Sprache „zu verwenden und zu entwickeln“ (Teil I, Artikel 2 a der Charta). Aufsehen hat erregt, daß der Unterricht in den Klassen 1—6 der regionalen Grundschulen nun in den betreffenden Sprachen erteilt wird; Anfang 1994 z. B. lagen neu übersetzte Schulbücher in Gedeo, Hadiya, Kem bata, Orom o, Sidam a, Som ali, Tigre und Wolajta vor. Neu ist, daß sich die Repräsentanten der m eisten kuschitischen und om otischen Gruppen für die lateinische Schrift — also gegen die äthiopische Silbenschrift — entschieden haben.

7.

Die Folgen

Die Spuren der Lesekam pagnen deuten auf einige Veränderungen hin, wie sie wohl den Wandel von einer oralen Kultur zu einer schriftlichen Kultur begleiten. Zunächst sind da die kleinen Veränderungen: Man rechnet m it Leuten, die schreiben können. Wo etwa statt m it einer Unterschrift m it einen Fingerabdruck signiert wird, gibt es entschuldigende Bem erkungen. Medizinische Aufklärung rechnet neuerdings m it Lesern (Zein 1988, 8). Mündliche Nachrichten und Gerüchte haben nicht m ehr die gleiche Funktion wie zu der Zeit, als es zur oralen Kom m unikation gar keine Alternative gab. Alphabetisierung ist zu einem Them a geworden. Nicht nur in Plakaten und Zeitungen, auch im Nationaltheater wurde Alphabetisierung them atisiert: das Stück „Ha Hu nach sechs Monaten“ von Weggayyehu Niggatu bringt eine besorgte Fam ilie auf die Bühne, deren Sohn nach sechs Monaten Kirchenschule nicht m ehr als die allerersten Silbenzeichen gelernt hat: Ha Hu. Das viel plakatierte Ergebnis der äthiopischen Alphabetisierung ist: Statt 7 haben nun 70 Prozent der Bevölkerung einen Lesekurs

823

besucht. Ein weniger sichtbares Ergebnis ist dies: Wer früher die dunklen Künste des Lesens und Schreibens beherrschte, wurde eher gem ieden — heute sieht er sich als fortschrittlicher Staatsbürger bewillkom m net. Vor wenigen Jahren noch repräsentierte der „Analphabet“ den stolzen Kern des äthiopischen Reiches — heute sieht er sich als Randfigur der Gesellschaft gebrandmarkt.

8.

Literatur

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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Klaus Wedekind, Addis Abeba (Äthiopien)

68. Literacy Movements in Central and South America and the Caribbean 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Introduction Cuban literacy campaign Nicaraguan literacy crusade Brazilian Literacy Movement (MOBRAL) and Fundacao (EDUCAR) Jamaican Movement for Adult Literacy (JAMAL) Popular education tendencies Some research and development suggestions References

1.

Introduction

Wagner 1987 states that during the last three decades illiteracy worldwide has been conceived of as a disease which can be eradicated, as a lack of political will which requires revolutionary fervor to change, or as a sociocultural phenom enon which cannot be changed without serious consideration of the cultural

68.  Literacy Movements in Central and South Americaand the Caribbean

contexts in which it is em bedded. Illiteracy in the Latin Am erican and the Caribbean context has been approached either as a problem of developm ent or as a problem of ideology. This article presents an overview of selected literacy activities in Central and South Am erica and the Caribbean to provide a sense of the viewpoints operant in the area in relation to the social acquisition and uses of reading and writing and to suggest som e priorities for research and development.

2.

Cuban literacy campaign

Street (1984, 206) suggests that „the revolutionary m otivation is ... crucial to the success of (m ass literacy) cam paigns.” The Cuban and Nicaraguan literacy cam paigns are the m ost obvious exam ples in the Am ericas of the application of political will to illiteracy in an effort to prom ote a particular political ideology. Several factors contributed to the success of the Cuban literacy cam paign. First, it occurred at a tim e when revolutionary fervor sustained m ass involvem ent. Second, because of the hom ogeneity of the country the cam paign involved only one language and culture. Third, the nonliterate population was relatively sm all in absolute term s. Finally, there are few inaccessible areas geographically and a relatively sm all land m ass. Building on the literacy experiences of the revolutionary groups during the conflict, the governm ent was able to sustain the political will and the technical experience necessary for a m ass cam paign. Using a centralized approach, the organization of the cam paign was the responsibility of the National Literacy Com m ission, with representatives from political, labor, peasant, and revolutionary organizations. The Com m ission was divided into technical, financial, propaganda and publications sections. The technical section was responsible for the developm ent of the didactic m aterials and the organization and overall function of the cam paign, the m ost com plex responsibility. Based on studies of the active vocabulary of the urban and rural nonliterate, the Venceremos (We Shall Conquer) prim er was developed using an eclectic analytic-synthetic m ethod with photographs and generative words selected to appeal to the Cuban adult and to focus on a topic of national interest, such as the Organization of Am erican States, or on som e change in society (such as agricultural reform ) brought about by the revolution. The teacher’s m aterials were designed

825

as m uch to heighten political awareness as to provide technical assistance for the m inim ally trained literacy field workers, prim arily secondary and university students. These field workers, called brigadistas because they were organized in m ilitary fashion to continue the revolutionary focus, received one week of training prior to being paired with nonliterates across the country. Literacy workers were expected to share all aspects of the learner’s life, working alongside him during the workday and teaching before or after work hours. In addition to preparing m aterials and training literacy workers, the technical section surveyed the populace to identify the nonliterates and allocated the literacy workers. There were 268,420 teachers, students, housewives, and factory workers, 3.9% of the population, who functioned as literacy field workers and 979,207 adults, approxim ately 15% of the estim ated 6,938,700 population studied in the cam paign. Seventy-two percent of the learners were able to dem onstrate first grade reading and writing skills by the end of the cam paign year (UNESCO 1988 a, 1988 b). These neoliterates were encouraged to continue their schooling within the form al education system . To encourage postliteracy study the Worker and Peasant Education Unit organized the “Battle for Grade 4”, expanded into the “Battle for Grade 6” (1976—1981), which reached approxim ately 247,000 adults or 35% of the neoliterates. The “Battle for Grade 9” (1984—1986) reached 16% of the adult population. Currently, the average level of education for a Cuban adult is 6.4 grades. However, according to 1988 UNESCO reports, significant num bers of youth and adults (39% in 1980) do not com plete prim ary school and are therefore at risk of being functionally illiterate through disuse of their skills. There is no indication in any available study of the present Cuban literacy environm ent that the social uses of literacy changed as a result of the cam paign. Thus, it would appear that although the skill of decoding print m edia and the quantitative reduction of num bers of absolute illiterates were im portant aspects of the cam paign, the m ore im portant accom plishm ent was the social restructuring. Thousands of urban residents, m ainly youth, were indoctrinated with the ideology of the revolution, giving them the opportunity to understand the lives of Cubans who had not had the benefits of education and social position and neoliterates were oriented to their new position in society. This period of ideo-

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

logical orientation m ade possible the m ore radical changes which were to develop as the revolutionary fervor was applied to post-revolutionary society. See further: Paulston 1972; Kozol 1978; Prieto Morales 1981; Bhola 1983 a, b, 1984 a, b; UNESCO 1988 a, b.

did not follow through on Freire’s ideas of allowing the learner to discover his own reality being geared instead to the specific political strategy of unification. Literacy workers were trained in a series of weekend workshops and through national radio program s. Much of the training of the literacy workers focused on developing the worker’s ability to sustain and enrich the dialogue. Although the dialogue was seen as central to the ideological purposes of the crusade, by the end of the crusade few literacy workers and learners focused on the dialog or on extracting m eaning from the printed word because, in an effort to enable as m any as possible to finish the prim er, m ost literacy workers and learners were focusing entirely on decoding syllables, reverting to traditional Latin Am erican reading education. The Nicaraguan crusade involved approxim ately 700,000 learners, about 40% of the total population. 75% were rural peasants. Alm ost 50% were wom en. Approxim ately 400,000 were able to com plete a fivepart reading and writing test to be declared literate by the end of the crusade. Since schools were required to have their students participate, of the 60,000 literacy workers involved in the crusade in the rural areas, 85% were teenagers (som e as young as twelve years) and their teachers. Another 35,000 adults were involved in urban areas. In a very real sense, both the Cuban and the Nicaraguan literacy cam paigns were “children’s wars” in that the m ajority of the literacy workers and m any of the learners in each case were young teenagers. Unlike the form al prim ary education which was used initially in Cuba following the cam paign, postliteracy in Nicaragua was not intended as a step into the form al education system . Because of the antipathy with which the “som ocista” education system was perceived, “sandanista” education was intended to have a com pletely different orientation, putting the educational process into the hands of those being educated. Approxim ately one third of the neoliterates form ed cooperative popular education study groups (CEPs). Fully 25% of the leaders of these groups were them selves participants in CEPs; 4% were neoliterates; 32% had com pleted som e prim ary education. None of the literature reviewed m entioned studies in either Cuba or Nicaragua evaluating the social uses of literacy which the crusade m otivated nor any evaluation of the retention of literacy skills am ong those who were declared literate but who did not participate in either continu-

3.

Nicaraguan literacy crusade

The Nicaraguan literacy crusade was initiated following the downfall of the Som oza governm ent in July 1979. The crusade was conceived as a m eans of indoctrinating society with revolutionary ideology following m any years of civil war. Miller 1985 states that without the political and spiritual will generated by the revolution, it would not have been possible to undertake the crusade given the financial situation of the Sandinista governm ent. In contrast to Cuba, som e of the areas to be included in the Nicaraguan crusade were difficult to reach from the m ain population centers and the target population included Sum o, Miskito, Ram a, and English creole speaking populations living along the Atlantic coast in relative isolation from the dom inant Spanish-speaking culture. These m inority populations did not generally participate in either the revolution or in the original crusade. A special effort was m ade to work in their languages using translated prim ers which were not well received by all the population. Although both Cuba and Nicaragua developed their teaching m aterials to prom ote a particular ideological perspective, Nicaragua had the benefit of the experiences of Paulo Freire in determ ining m ethodology. At that point in its developm ent, Freire’s m ethodology consisted in dialoging about them es considered to be fundam ental to the ontological conditioning of the learner, using the dialogue as the source of the generative words which were later analyzed. Freire’s m ethodology at the tim e required the learner to build a sentence from the generative word which allowed considerable local variation in content; the Nicaraguan m ethod extracted the generative word from an already form ulated sentence, m aking possible m ore central control but also facilitating the teaching process for m inim ally prepared literacy workers. The sentence functioned as a focus for thought and action in sim ilar ways to political slogans in the revolutionary process. After dialogue, an eclectic analytic-synthetic m ethod was applied to preselected words. However, Street 1984 indicates that the Nicaraguan prim ers

68.  Literacy Movements in Central and South Americaand the Caribbean

ing education in Cuba or in CEPs in Nicaragua. In sum m ary, Cuba and Nicaragua utilized the cam paign m odel of popular education to advantage. They m obilized around the them e of the eradication of illiteracy; they used m ultiplier chains for training; they em powered the nonprofessional with basic teaching skills; they used m ass organizations for im plem entation; they used indigenous sym bols and art form s for m otivation; and they fused pedagogy, content and political socialization. What is uncertain is whether literacy in Cuba and Nicaragua has becom e an essential tool for individuals to cope with social relations which m ake up the society in which individuals work out their individual and collective hum an fulfillm ent. See further: O’Gorm an 1978; Black & Bevan 1980; Cardenal & Miller 1980; Arnove, 1981; Cardenal & Miller 1981; Cardenal & Miller 1982; Miller 1983; Bhola 1983 a, b; Hirshon 1983; Torres 1983; Pothschuh & Tam ez 1983; Bhola 1984 b; Rojo 1984; Street 1984; Torres 1985; Miller 1985; Garcia 1986; Arnove 1986; Fals Borda 1986; Torres 1986; UNESCO 1988 a, b; Arnove 1988; Am adio 1987; Lam m erink 1989.

4.

Brazilian Literacy Movement (MOBRAL) and Fundacao (EDUCAR)

As did m any Latin Am erican governm ents during the 1950’s and 1960’s, Brazil approached literacy as a problem of educating sufficient num bers of urban workers to sustain industrial developm ent. These workers were considered to be hum an resources in which an investm ent m ust be m ade if the developm ent goals of the governm ent were to be reached. However, when the National Cam paign for Rural Education (1953—1963) ended with neither significant im pact on num bers of illiterates nor significant progress towards developm ent goals, the governm ent realized that econom ic developm ent depended on factors other than education. During the sam e period of tim e, non-governm ent organizations (NGOs), principally the Rom an Catholic church, developed base or popular com m unities through which to reach lim ited num bers of the urban m asses with a variety of educational program s. This “Basic Education Movem ent” (BEM) developed from the ideologies of liberation theology and Freire’s conscientization and prom oted a

827

revolutionary ideology am ong the m asses encouraging them to determ ine their own social and political goals. The BEM characteristics of autonom y, liberation and em ancipation of the oppressed and of fusion between education and politics becam e the m odel for the Brazilian Literacy Movem ent (MOBRAL), however without the em ancipatory aspects. MOBRAL, founded on the driving force of the 1964 revolution which put a m ilitary governm ent in power, with the intention of regaining control of education for the governm ent’s ends, attem pted to capitalize on the efforts of the BEMs by allowing each com m unity to select its own goals within the lim its established by the centralized hierarchy. It attem pted to apply Freire’s concepts of consciousness raising but without perm itting sociocultural and political involvem ent. In addition to not responding to the historical context, MOBRAL had several obstacles to overcom e in its efforts to eradicate illiteracy. It lacked widespread popular revolutionary fervor on which to build. It needed to consider a nonliterate population of approxim ately 20 m illion adults, twenty tim es that of Cuba, an extensive land m ass which included m any areas of difficult access and isolated indigenous populations in addition to the Portuguese speaking m ajority. The governm ent visualized literacy as a m eans of conform ing the thinking of the m ajority to that of the m inority, the owners of the nation’s resources, basically the opposite of what Cuba and Nicaragua attem pted. MOBRAL attem pted to include health, recreation, sports, com m unity developm ent, and num erous cultural activities in addition to traditional literacy classes in all of the m ore than 3,500 m unicipalities of the country. Chosen by the centralized planning agency, few of the projects related to the real needs of the learners. The extent of coverage, the lack of relation to needs and the lack of preparation for and support of the field workers contributed to the lack of effectiveness of MOBRAL. The effort was so m assive that it was not possible to m aintain the level of quality control which the Nicaraguan and Cuban cam paigns had m aintained. According to official records, 60% of the adults participating in MOBRAL literacy classes did not becom e even m inim ally literate, m uch less functionally literate. By 1980, there were clear indications in MOBRAL that the non-system atic approach of the program would never accom plish in Brazil in 10 years the significant num erical reduction in illiteracy that Cuba and

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Nicaragua had been able to accom plish in one. The BEM popular education m odel (non-form al, holistic, form ative, universal, decentralized) cam e into conflict with the governm ent’s schooling m odel of education (form al, individualistic, instrum ental, particularist, centralized) in MOBRAL. Pushed by UNESCO to develop a bridge between nonform al and form al education, MOBRAL began the Program for Integrated Education (PEI) including professional, health and work education. The ideologies of the PEI caused loss of autonom y in the m ovem ent at which point the field workers felt they were in a crisis of ideologies. In an attem pt to reconcile the conflict between the form al and nonform al m odels, Fundacao EDUCAR was founded in 1985. EDUCAR opted for the system atic schooling m odel on the conceptual level and the popular m odel on the operational level with one of its m ain goals being to provide access to form al education for those involved in the nonform al sector. EDUCAR contracts with NGOs and local agencies to develop literacy and other popular education program s, functioning as consultant and trainer to locally designed and executed projects. In spite of the new nam e and efforts to reconcile conflicting ideologies, Brazil continues to have the highest num ber of nonliterates in the Am ericas with half of the states having m ore than 30% nonliterates and nearly 50% of the total population being nonliterate. In som e states 50% of the children never enter school; 75% of the children who enter do not continue beyond first grade, thus increasing the num bers of nonliterates. The Brazilian experience has served as a m odel for other Latin Am erican countries as governm ents, local com m unities and NGOs have attem pted to develop education program s, som e of which include literacy as part of their agenda. See further: Cairns 1975; Fundacao EDUCAR 1976; Ministerio de Educación y Cultura Brazil 1978; O’Gorm an 1978; Cam pos 1980; Cunha da Costa 1980; Bandera 1981; do Carm o Chávez, Galvao & Coutinho 1984; Rojo 1984; CREFAL & UNESCO 1984; Latapi 1985; Garcia-Huidobro 1985; UNESCO 1988 a; CEAAL 1988; Lovisolo 1988; Becker Soares 1989.

5.

Jamaican Movement for Adult Literacy (JAMAL)

The English speaking island of Jam aica had a population of approxim ately 2 m illion peo-

ple in 1975. A survey of the island population indicated that only 18.8% of the population classified them selves as com pletely literate; 32% considered them selves com pletely nonliterate. Agricultural workers represented the largest group of nonliterates. JAMAL was created in 1972 for the purpose of “reclam ation education”, providing access to basic education and work skills for adults who for whatever reason had not acquired these skills prior to adulthood. Founded on the principle that literacy, and adult education in the broader sense, is the cornerstone of developm ent, whether econom ic, social, or political, JAMAL’s efforts were seen as fundam ental to the creation of a m odern labor force. As such it was a technological event but it lacked the revolutionary fervor which enabled the Cuban and Nicaraguan cam paigns to succeed. Rather than the specifically political approach of Cuba and Nicaragua, JAMAL’s didactic m aterials were organized into them atic units such as self-im age, consum er education, health and hygiene, and citizenship and governm ent. All instruction is by voluntary teachers. It is difficult to determ ine the effectiveness of the program due to lack of evaluation and supervision. Although the program received a UNESCO prize for its efforts, adequate docum entation to describe and evaluate JAMAL is not readily available. See further: Gordon 1985; Jules 1987; UNESCO 1988; Browne 1989; Jules 1990.

6.

Popular education tendencies

There are presently two tendencies in literacy in Latin Am erica and the Caribbean: that represented by UNESCO and the Regional Office for Education in Latin Am erica and the Caribbean (OREALC) as expressed in the Principal Project for Education which tends to join form al education and econom ic developm ent and that represented by the Council for Adult Education in Latin Am erica (CEAAL) which tends to view literacy and education in general from a m ore politicized perspective. UNESCO and OREALC initiated the Principal Project for Education in 1980 in an attem pt to eradicate illiteracy in the region by the year 2000. The objectives of the project are to extend coverage of prim ary education to all children, to increase the num ber of years of basic education to ten and to im prove the quality of instruction in form al schooling and by these m eans contribute to the changing of the political and social structures which exist in the region. The national

68.  Literacy Movements in Central and South Americaand the Caribbean

policies generated in response to the Principal Project are based on the idea that illiteracy and sem iliteracy and the low levels of schooling im pede national developm ent in the social, econom ic and cultural areas. It is clear from the 1988 UNESCO report of national efforts from 1980 to 1985 to im plem ent the Principal Project that although the governm ents of the region have put in place new program s and OREALC, in conjunction with the Regional Center for Literacy in Latin Am erica (CREFAL) in Mexico, has organized regional networks such as REPLAD in adm inistration and planning and REDALF in literacy for training, developm ent of m aterials, docum entation and evaluation, that the statistical decrease of absolute illiterates has been m inim al. To som e extent this reflects the slow pace of data gathering in the region and the often unreliable statistics developed. It also reflects the increasing num bers of children and youth who, due to the econom ic crisis in Latin Am erica, leave school without com pleting prim ary education, thereby increasing the ranks of illiterates, and the increasing deterioration, according to Tedesco 1987, of the quality of education being offered, particularly in the m arginal areas m ost affected by illiteracy and sem iliteracy. Governm ents are slowly beginning to realize that the group of children between ten and fourteen years of age who do not com plete prim ary education m ust be counted am ong the ranks of the illiterate at the point at which they stop attending school, not when they reach 15 years of age. This large population group, when included in education statistics, will certainly swell the ranks of the illiterates. In spite of the num erous national efforts — SENALEP in Bolivia, Monseñor Leonidas Proaño in Ecuador, INEA in México, CAMINA in Colom bia, Andres Bello in Venezuela, CONALFA in Guatem ala, PLANALFA in Honduras, ALFIN in Peru, for exam ple — governm ent efforts in the region continue to show m inim al results. UNESCO specialists expect that it will take at least four tim es the present effort to eradicate illiteracy by the year 2000. See further: Blakely, Hall & Kidd 1981; CREFAL 1982; CREFAL & UNESCO 1984; Valbuena, 1984; Ministerio de Educación y Justicia Argentina 1986; Rivero Herrera 1986; UNESCO 1987; Ministerio de Educación Ecuador 1988; Ministerio de Educación Peru 1988; UNESCO 1988 a—f; Ferreiro 1988; Rivero Herrera 1986; Rivero

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Herrera 1990 a, b; Cam pos Carr 1990; OEA 1991. Even were official literacy efforts adequate to deal with the nearly 50 m illion illiterates over 10 years of age and the approxim ately 25 m illion who have no schooling, m any in the private sector who have experienced the failure of traditional developm ent m odels to which m ost Latin Am erican governm ents subscribe have been seeking other solutions to the profound social problem s in the region. They recognize that illiteracy is just one aspect of the problem , and a relatively m inor one at that. The popular education m odel has its roots in the econom ic crisis, in social disfunction and in grassroots efforts to forge popular dem ocracies throughout the area. The experiences in Cuba, Nicaragua and Brazil serve as foundations for the m ultitude of private sector projects undertaken during the last decade in response to the apparent failure of traditional literacy-adult education-com m unity developm ent program s. Called variously education for liberation, pedagogy of the oppressed, education for resistance and popular education, these popular m ovem ents have, in large m easure, been the province of local com m unity organizations and NGOs rather than attem pts by national governm ents to m ount m assive cam paigns. According to Osorio 1990 popular education is an essentially political activity whose m ain goal is to contribute to the developm ent of attitudes and skills which will enable the popular, oppressed or m arginal sectors of the population to take control of their own sociopolitical environm ent. Whereas the UNESCO m odel tends to treat the problem at the level of the individual, thus their focus on counting populations, CEAAL and popular education proponents tend to see it as a societal level problem . They find the cause of illiteracy and poverty, the lack of econom ic developm ent, the failure of dem ocratic institutions, and other social ills in the failure of the system to adequately provide for the participation of the m asses through education. It is seen as not prim arily a pedagogical problem , but rather a social and political one. Thus the solution does not necessarily lie in literacy, but rather in political, social, cultural and econom ic orientation so that the popular sectors, not the individual learner, becom e aware of the nature of the problem and begin to take concerted action to change the problem situation. Picon, coordinator of popular education for CEAAL, indicates that in spite of

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

regional differences there are certain com m onalities in popular education in the area. These include the system atic and interdisciplinary developm ent of issues from the daily lives of the participants, the training of team s within grassroots organizations to be trainers, and the opposition to ideological dom ination from non-popular sources. Popular education program s are attem pting to arrive at balanced developm ent of the different dim ensions of the com m unity taking into account the needs for survival, organization, and self-reliance in crisis situations. Traditional program s, which Freire term ed “banking education”, prom oted the transfer of inform ation from the educator to the “ignorant” nonliterate. CEAAL and OREALC are working together in cooperative networks of NGOs and governm ent agencies, sharing expertise in the areas of personnel training, m aterials developm ent, program planning and evaluation. These networks have had several international training sem inars such as the literacy workshops held in Montevideo in 1986 and in Chile in 1988. Freire and Fals Borda, past and present presidents of CEAAL, have had m ajor im pact ideologically in popular education ideology. Freire 1985 has changed his original idea that conscientization through literacy would in itself change society to realizing that conscientization is not sufficient without significant socioeconom ic and political changes. Because of the broadbased nature of m any of the program s and projects and because their objective do not necessarily include skill in handling print m edia it is im possible to evaluate their im pact on literacy. In surveying the docum ents prepared by CEAAL less than 10% of the organizations which indicated they were involved in popular education reported being involved in developing reading and writing skills at any level. Others becom e involved in a very lim ited m anner only when there is a dem and for literacy skills within other aspects of the project. As an exam ple, PERU-MUJER which is involved in teaching Peruvian wom en their legal rights, indicated that their involvem ent in literacy skills centered on only a few select leaders in their program s who realized that they needed the skills in order to take over leadership of the organization’s projects. Am igos del Pais and Rotary Clubs in Guatem ala are collaborating in literacy work am ong the workers on coffee and sugar cane plantations, attem pting to reach the leaders of the m igrant worker populations so as to

prom ote collaboration of the workers in the plantation’s production. This philosophy of reaching selected leaders in specific social groups with specific skills seem s to be com m on am ong the num erous popular education projects. In Chile the Padres e Hijos project is attem pting to involve rural parents in their children’s education. Although there is no indication of im provem ent in literacy skills or use, there is som e evidence that the project is causing im proved self-im age am ong both parents and children (see Gajardo 1988). Projects such as PERU-MUJER reach an extrem ely lim ited num ber of non-literates with literacy instruction (see Núñez 1990). However, those who do acquire the skills are m uch m ore likely to retain them because they have acquired their skills in a specific context of use at a point in tim e which they them selves determ ined. However, there is a question about the ability of these individuals to apply their contextualized skills in other contexts.

7.

Some research and development suggestions

At the level of the researcher and the practicioner there has been a m ajor paradigm shift in the concept of the nonliterate; unfortunately m any governm ents and international agencies continue to treat nonliterates as if they were ignorants who require literacy program s that assum e that the learner has no knowledge on which to build. In national newspapers editorials regularly refer to nonliterates as “ignorant”. There continues to exist the idea that acquiring literacy will autom atically liberate the neoliterate from the bondages of poverty and oppression and will prom ote peace (see Osorio 1990; OREALC 1990). One has only to observe the lives of m any literates who m ake m inim al use of literacy in their daily lives to realize that literacy, per se, does not necessarily liberate. There have been significant shifts in the understanding of the nature and m eaning of literacy in the last decade (see Harste 1990). Previously it was assum ed that literacy affected m ental and social processes at the m ost profound levels: cognitive skills, reasoning, growth of dem ocracy, of scientific institutions and of the m odern nation state. Argum ents on every side of the issue played im portant roles in setting the ideologies of m any literacy cam paigns. Current studies challenge these assum ptions about the role and consequences

68.  Literacy Movements in Central and South Americaand the Caribbean

of literacy, see Street 1984; Schribner & Cole 1981; Kintgen, Kroll & Rose 1988 (→ Art. 63, 64). Freirian expectations which color the work of UNESCO and CEAAL in Latin Am erica need to be challenged by the work of other historians and researchers on the consequences of literacy. Debate am ong researchers has shifted from the individual to the social nature of literacy, the m eanings of literacy in different cultural contexts, and the im plications of different literacies for power relations. Unfortunately m ost of this debate has yet to sift down to the practicioner and the trainer. There are as yet several unanswered questions. First, what is an adequate definition of literacy? Are literacy and adult education program s in Latin Am erica practising a false econom y by prom oting a level of com petency which perm its the individual to be controlled by governm ent, m edia, or other bureaucracies? Second, after so m uch effort expended, what is really known about achieving success, assum ing success is defineable? Is there any way other than num bers of people able to sign their nam es to classify a literacy effort as successful? Third, since the industrialized nations are rapidly becom ing post-literate, what is the role of the printed page in societies where the elite have jum ped ahead to electronic m edia while the m asses rem ain preGutenberg? In focusing on print literacy are those efforts being wasted? Londoño, director of Laubach Literacy in Latin Am erica, in com m enting on the author’s survey as it related to those questions, said, “You will not get any answers because we are not asking those kinds of questions.” Quantitative studies of literacy efforts in Latin Am erica and the Caribbean abound. Qualitative ones are absent. Unfortunately it is difficult to tabulate the answers to such questions so the questions do not get asked.

8.

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69.  The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy

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69. The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

1.

Introduction Literacy during the Republican Era (1911—1937) The Mass Education Movement Missionaries Literacy and the early CCP The War Years (1937—1949) The People’s Republic of China Summary and conclusion References

Introduction

Chinese is often described as one of the world’s m ost difficult languages. One inform ed observer has com m ented that it takes “the strength of Hercules” to learn Chinese (Venezky 1985, 48), while another em inent language scholar has suggested that it “requires the age of Methusaleh” to m aster it (Giles 1892, xii). Som e lesser inform ed com m entators have even put forth the notion that the very nature of the Chinese language has inhibited the developm ent of abstract thinking, theoretical sciences, and logic am ong its native speakers (Logan 1986, 47, 114). Over the years m any have pointed to the “ideographic” script, the prodigious num ber of characters (e. g., 50,000 plus) in the language, the profusion of dialects, the relatively recent notion of gram m ar, and the lack of an alphabet as factors inhibiting literacy in China. The one point m ost agree on is that fluency in Chinese requires years of dedicated and concerted effort. Basic literacy also necessitates no small amount of determination. The Chinese term for “illiteracy” is which literally m eans “script blind”. There have been a num ber of m easures of illiteracy, with m ost focusing on the num ber of Chinese characters a person can read and write. The num bers have ranged from “a few hundred” (Rawski 1979, 140) to five hundred (Yu 1982, 10) characters to be considered sem i-literate, and from 1000 to 2000 characters to be considered literate (Seeberg 1990, 20; Yu 1982, 11; CNA 115, 6). It m ust be em phasized, however, that even by knowing the upper lim it of 2000 characters a person has but lim ited reading ability. He or she would not be able to read a Chinese newspaper such as People’s Daily, the official organ of the Chinese governm ent which uses about 2400 distinct characters per issue (Zheng 1982), or

works of m odern literature which contain upwards of 3000 characters (Cream er 1992, 119). When the results of the Third Population Census of 1982 for China (not including Hong Kong and Taiwan) were released, articles began appearing in the Western press trum peting China’s “startling” low literacy rates (e. g., Mirsky 1983). The 1982 census reported that 28.26 per cent of the total population above the age of twelve, or roughly 236 m illion people, were judged to be either illiterate or sem i-literate (Population Atlas 1987, xx). This figure was indeed alarm ing in that it was m ore than the entire population of the United States. From a historical perspective, the figure was som ewhat encouraging. During the first half of this century, m any observers estim ated the illiteracy rate to be between 80 and 97 per cent (e. g., Meng 1929, 112; Yen 1925, 1). In isolated instances, the figures were even higher. For exam ple, in Shanxi Province the illiteracy rate was thought to be 99 per cent in 1911 (Gillin 1967, 66—67). In the late 1920s, Y. C. Jam es Yen (see Section 3.) surveyed a num ber of villages in northeastern China and found that is was not uncom m on for only one or two persons per village to be literate (Yen 1929 c, 129, 131). At about the sam e tim e in Shanghai, one study revealed that 76.3 per cent of the farm ers in the area where illiterate, while another study of 230 worker fam ilies noted that 84.7 per cent of the boys and 97.9 per cent of the girls had never attended school (Lam son 1935, 190, 192). When the Chinese Com m unist occupied the three province stronghold of Shaanxi, Gansu, and Ningxia beginning in the m id-1930s, the illiteracy rate was estim ated to be 99 per cent (Seybolt 1971, 642). In southern China, especially in ethnic m inority areas, illiteracy often exceeded 90 per cent. In Liangsha, Guizhou, for instance, the rate was alm ost 98 per cent in the late 1940s (Yu 1982, 3). Even though these figures represent isolated exam ples, they reflect the m agnitude of the problem , especially in those instances relating to entire provinces. The 28.26 per cent illiteracy rate of 1982, therefore, m arked som ething of a significant achievem ent for China. Equally significant was the reduction in the rate from the Second Population Census of 1964 which posted an illiteracy rate of 33.58 per cent (Population Atlas 1987, xx). These figures suggest that

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

m ore 50 m illion people becam e literate in the eighteen years between the two censuses. The results of the 1990 census are even m ore encouraging than those of 1982. According to this count, the illiteracy rate for adults over fifteen is 15.88 per cent (Zhang Lin 1990 b), m aking it one of the lowest in East Asia (UNESCO, 12). It should be noted that the 1982 census included illiterates from the age of twelve, while the 1990 census started at age fifteen (Fang 1991, 117, 122). In any case, China’s accom plishm ents since the early 1980s can only be described as dram atic as another 50 m illion achieved literacy in the eight years between the two surveys. The im pressive achievem ents that the 1990 census figures represent can only be appreciated when m easured against the patchwork progress in literacy education in China since the turn of the century. To com e to grips with the problem of literacy in China, it will be necessary to exam ine a host of factors. Particularly im portant are specific literacy cam paigns beginning in the 1910s, approaches to language instruction and language reform , and social and political instability. The literacy problem has dem anded the attention of all of China’s m odern-day leaders as they have attem pted to prom ote their vision of a “New China”. A poorly educated citizenry was seen as a stum bling block to m odernization early in the century. Today, as China attem pts to enter the technologically-depended Twentieth-First Century, the dem and for an educated population is even m ore acute. Literacy is the first step towards m eeting that demand.

ucation roughly estim ated that in 1919 only one province (i. e., Shanxi, see Section 2.2.) had m ore than fifty per cent of their schoolage children in school, and m ore than half of the provinces had less than ten per cent (Djung 1934, 83). Sim ilarly, in 1929, the Bureau of Statistics estim ated that out of a total population of 480 m illion, less than 7.5 m illion students were enrolled in prim ary schools (Facts 1930), while another estim ate put the figure at 6.4 m illion (King 1929, 969). Lacking any sem blance of basic education, m illions of youths continued to swell the ranks of illiterates year after year. Som e critics suggested that the governm ent was m ore concerned with higher education than prim ary. In a report sponsored by the League of Nations, a team of international education specialists found the situation in China in 1932 as one in which there existed “an enorm ous abyss between the m asses of the Chinese people, plunged in illiteracy, and not understanding the needs of their country, and the intelligentsia educated in luxurious schools and indifferent to the wants of the m asses” (Reorganisation 1932, 21). Despite these problem s, som e im portant advances did occur during this tim e period that had a positive effect on the promotion of literacy.

2.

Literacy during the Republican Era (1911—1937)

With the overthrow of the Qing Dynasty in 1911, the im perial system in China cam e to an end, leaving the country in political disarray until the Nationalist (Kuom intang) Party cam e to power in 1927. Even with the ascendancy of the Nationalists between 1927 and 1937, the county lacked the stability to effect the sweeping changes necessary to prom ote the well-being of the people. Few areas suffered as m uch as education. The governm ent announced plans for com pulsory education in 1906, 1912, 1915, 1920, 1930, 1935, but they were never im plem ented (Loh 1922; Djung 1934, 69—94; Ku 1941, 704—705). As an exam ple of the ineffectiveness of the com pulsory education laws, the Ministry of Ed-

2.1. Initial efforts in literacy education In 1912, the Ministry of Education set up the Bureau of Social Education to oversee the new governm ent’s educational program s outside of the form al school system (Chang 1933, 496). One wide-ranging program was a lecture series for illiterates with the aim of instilling in them a desire for learning. The lectures, delivered in special lectures halls or by roving lecture groups, dealt with topics such as the achievem ents of the 1911 Revolution to overthrow the Qing Dynasty, the role of the new citizen in the republic, and public virtue (Chuang 1923, 3—9). By 1919, there were m ore than 2000 lectures halls in operation, each averaging three three-hour lectures per week (Chuang 1923, 5). The Bureau also set up special schools for illiterates. One type was continuing education schools ( ) for those over the age of sixteen who had never attended school. In addition to language, students were also taught m ath, citizenship, hygiene, and the like. In 1915, there were 79 such schools in operation, with a typical class in session for eighteen hours a week for one year. By 1931, there were m ore

69.  The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy

than 20,000 of these schools, which were also known as people’s schools ( ) (Chang 1933, 497). Another type of special school was half-day schools ( ) that featured three-year courses for the unschooled under sixteen. In 1918, alm ost 40,000 students were enrolled in 1614 halfday schools. The third type of school sponsored by the Bureau was the so-called “language-m ade-easy schools” ( ) that specifically addressed language learning for illiterates. The school norm ally took two years to com plete with twelve hours of classroom instruction per week. By 1915, there were 4599 of these schools, with an average of three classes per school and thirty students per class (Chuang 1923, 9—13). — In early 1929, the Ministry of Education initiated a “Learn-to-Read Movem ent” in a num ber of provinces (Chang 1933, 497), but these efforts were largely overshadowed by the Mass Education Movement (see Section 3.). Overall, the governm ent left the im plem entation of its educational program s to local officials who often lacked the necessary resources and, perhaps, inclination to deal with a problem as m assive as illiteracy. Governm ent resources usually were directed elsewhere. For exam ple, the national budget for fiscal year 1927—28 allocated a m ere 0.6 per cent for education, when 87 per cent went to the m ilitary (Much 1929, 48). One im patient com m entator noted that based on the num ber of students graduating from governm entsponsored literacy schools in 1933, it would take one hundred years to educate the illiterates then in existence (Chang 1933, 497). 2.2. The Shanxi experience Although the Nationalist governm ent was unable to im plem ent com pulsory education on a national scale, several provinces such as Jilin and Jiangsu had a m easure of success in doing so in the early 1920s (Loh 1922, 318— 320). The m ost successful program at the tim e was in Shanxi Province, due prim arily to the support of warlord governor Yan Xishan ( , 1883—1960). Often referred to as the “Model Governor” of the “m odel province”, Yan looked upon educating the people as part of his role as Confucian “gentlem an”, and, equally im portant, as a m eans to prom ote or propagandize his program s (Gillin 1967, 59—64). For instance, he had several m illion copies of “What the People Must Know”, a pam phlet describing his governm ent’s agenda, distributed in the late 1910s

837

and ordered all the literates to read them for them selves and then read them aloud to all illiterates (Gillin 1967, 64; Chuang 1923, 21). In 1918, Yan introduced a four-year program of com pulsory education for children between the ages of seven and thirteen (Djung 1934, 72). Anyone not sending their children to school was fined. Enrollm ent in Shanxi prim ary schools subsequently rose from about 300,000 in 1916 to m ore than one m illion in 1922 (Djung 1934, 74). In 1919, Yan also instituted a com pulsory education law for adults. The law stipulated that all under the age of twenty-five who had not attended school had to enroll in one of the 2633 twoyear continuation schools in the province (Chuang 1923, 22). To supplem ent the form al school system there were also 344 half-day schools, 3634 “language-m ade-easy schools”, and 46 open-air schools, as well as 244 schools especially for the poor (Chuang 1923, 21). All of these schools were free, and books were provided by the provincial governm ent. Although there are no precise figures, Shanxi’s 99 per cent illiteracy rate in 1911 was appreciably reduced by the m id-1920s thanks in large part to Yan’s com pulsory education programs. 2.3. The National Language Movement The single m ost im portant event in the prom otion of literacy in China was the publication of an article by Hu Shi ( , 1891— 1962) entitled “My Hum ble Proposals for the Reform of Chinese Literature” ( )

in

the

m agazine

New

Youth

( ) on January 1, 1917. Hu, one of China’s leading intellectuals, advocated the abandonm ent of classical Chinese in favor of the m odern vernacular. The classical language, based on the writings of the ancients, required years of dedicated study to m aster. Im plicit in Hu’s article was the prem ise that unless the written language was changed to reflect the contem porary spoken language, any kind of m ass literacy would be im possible. His rallying cry was “No dead language can produce a living literature” (Hu 1963, 51). Hu’s articles in New Youth, as well as those written with Zhao Yuanren ( , 1892—1982) in The Chinese Students’ Monthly (Zhao & Hu 1916), launched what cam e to be known as the “Literary Revolution” or “Literary Renaissance” in China that legitim atized the vernacular as both a popular and scholarly written language.

838

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

The Chinese governm ent was also concerned with reform ing the Chinese language. With eight m ajor dialects and scores of subdialects in China, there was no real notion at this tim e of a standard spoken language. There was the “official’s language”, generally referred to as “Mandarin”, that was loosely based on the Beijing (Peking) dialect and used by officials when conducting governm ent business. However, the “language” was never standardized and never used by the m asses. The lack of a standard spoken language was seen as a m ajor factor inhibiting both education and national unity. In 1912, the Ministry of Education began addressing this problem by convening the Com m ission to Unify Pronunciation. Although the Com m ission m ore or less failed in its m ission, the Ministry later succeeded in sponsoring the publication of A Dictionary of National Pronunciation ( , 1919) and A Glossary of Com m only Used Characters in the National Pronunciation ( , 1932) that helped to codify the spoken language, and A Dictionary of the National Language ( , 1937—1945) that did likewise for the written language (Creamer 1992, 128—129). The governm ent was also active in the m ovem ent to rom anize Chinese characters. Language and education reform ers, noting the difficulty of learning Chinese characters as a factor contributing to the low literacy rate, have frequently advocated the abolition of characters in favor of a rom anized script so that one could “spell” words based on their (standardized) sound. Opponents of rom anization objected on linguistic and cultural grounds, citing the huge body of Chinese literature that would be lost to future generations, the high degree of hom ophony in the language that would m ake the spellings am biguous, and the beauty of the written character itself. The governm ent first took up the rom anization issue at the 1912 conference that set up the Com m ission to Unify Pronunciation, but it was not until 1918 and 1928 that the Ministry of Education would issue directives adopting a phonetic alphabet ( / ) for Chinese. On May 20, 1930, the governm ent started a cam paign to actively prom ote the alphabet by ordering local departm ents of education to teach it in all prim ary schools (Com pulsory 1930). The governm ent also required all public officials to learn the alphabet and had the Ministry of Education conduct special courses in its use (Chang 1933, 496). Instead of replacing

Chinese characters, the sym bols eventually cam e to be printed alongside them in language-learning texts, dictionaries, and certain newspapers. By printing the sym bols with the characters, the reader could sound out unfam iliar characters and try to derive their m eanings from a knowledge of the spoken language and from context. Without these fundam ental linguistic reform s, especially the changeover to the m odern vernacular and the prelim inary efforts to establish a standard language, all subsequent literacy m ovem ents would have been doom ed virtually from the start.

3.

The Mass Education Movement

Except for a few governm ent program s and several isolated cases such as in Shanxi, the m ost significant program s to com bat illiteracy in the Republican Era were m ounted by private groups and individuals. The founding of the National Association for the Prom otion of Mass Education ( ) in August 1923 m arked the beginning of a m assive literacy effort in China. It was one of the first groups to focus national attention on the literacy problem , and went on to spearhead the literacy m ovem ent until the Communist Party came to power in 1949. 3.1. Y. C. James Yen (

, 1893—1990)

Y. C. Jam es Yen was one of the earliest and m ost successful advocates of m ass literacy in China, and m any of his basic ideas and program s are still being used today to com bat illiteracy. Born in Bazhong, Sichuan, Yen was educated both in China and the United States. After graduating from Yale University in 1918, he volunteered to work for the YMCA’s War Work Council in France. At that tim e during World War I, there were m ore than 200,000 Chinese laborers in France helping with the war effort. Yen, as an education secretary for the War Council, was introduced to the problem s of illiteracy firsthand when several laborers asked him to write letters for them to their fam ilies in China. Soon thereafter he was flooded with sim ilar requests and cam e to realize the extent of illiteracy am ong the workers. To attack the problem , Yen initiated a spare-tim e adult education program . The first class consisted of forty workers between the ages of twenty and fifty and m et for one hour a night over a four m onth period. At the end of the course, thirty-five had

69.  The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy

“graduated” by writing a letter to their fam ilies in China and reading a specially prepared newsletter written by Yen. With this initial success, the program mushroomed. Three factors proved instrum ental to Yen success in France. The first was the developm ent of a special textbook. Yen realized from the beginning that he would only be able to teach the workers basic literacy. He therefore devised a list of approxim ately 1000 of the m ost com m only used Chinese characters and restricted the textbook to those characters. The second was the decision to teach vernacular Chinese instead of the literary language then being used in virtually all publications in China. In this regard, Yen benefited from the groundbreaking work of language reform ers such as Hu Shi and Zhao Yuanren. The third factor was the publication of a newspaper entitled Chinese Workers’ Weekly ( ). The paper was written with the com m on characters taught in the courses and helped to keep the newly literate from falling into recidivism , a particularly acute problem for new learners of Chinese characters. These three elem ents laid the foundation for Yen’s approach to literacy education am ong the workers in France and would be used with even greater success upon his return to China (Boorm an 1967—71, 4, 52; CB 1946, 670; Yen 1929 a, 263; 1929 b). Yen returned to China in 1921 after first earning a Masters degree in History from Princeton University. Once back in China he renewed his relationship with the YMCA, becom ing its secretary for public education, and continued to crystallize his ideas on literacy training. Yen divided illiterates into three groups: school-age children between six and twelve years old, adolescents between twelve and twenty-two years old, and adults twentythree and older. Leaving the education of school-age children to the governm ent, Yen decided to concentrate his efforts prim arily on illiterate adolescents, and secondarily on adults. He also refined his teaching m ethods. His five basic m ethods were: the m ass m ethod for teaching between 200 and 500 students that em phasized the visual presentation of m aterials and group recitation aided by a stereopticon (Yen 1923, 13—18; Chang 1924); the individual class m ethod for twenty to thirty students that used textbooks and a blackboard; the chart m ethod for forty to sixty students that em ployed charts, slides, etc.; reading circles for sm all groups of students that m et outside the classroom and was

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supervised by an itinerant instructor; and people’s question stations for itinerant illiterates (Yen 1925, 2—5). At the sam e tim e, textbooks were revised for teaching what was called the “Foundation Character Course”. For over a period of four and a half years beginning in France, Yen and his associates analyzed about 200 novels, short stories, business letters, public notices, and the like written in the vernacular to determ ine the m ost com m on Chinese characters (Yen 1929 d, 172—173). Based on these and sim ilar studies, Yen and his colleagues com piled a four-part course entitled The People’s Thousand-Character Lessons ( ), the first edition of which was published in 1921. Because of the various dem ands of literacy, separate textbooks were written for city dwellers, farm ers, and soldiers. Each textbook was divided into twenty-four lessons, with one hour allotted per lesson so that the entire course could be com pleted in ninety-six hours. A typical lesson included a picture depicting a particular situation, followed by the lesson (usually written in rhym e to aid learning), and then a writing exercise. The objective of the course was to enable those who graduated to “write business letters, keep accounts, and read sim ple [vernacular] newspapers intelligently” (Yen 1929 a, 267). Yen’s goal was to teach “a m axim um of practical vocabulary within a m inim um tim e and at a m inim um cost” (Yen 1925, 2). Upon com pletion of the course students were awarded the degree of “Literate Citizen”. Yen and his group conducted several local literacy cam paigns in the early 1920s to test their m ethods and to drum up popular support. The first cam paign in Changsha, Hunan enrolled 2900 in literacy classes in 1922, and another 3600 enrolled in Hankou (Wuhan), Hubei. The cam paign in Zhifu (the ancestral hom e of Confucius), Shandong in late 1921 and early 1922, is a typical exam ple Yen’s techniques. First, a Mass Education Com m ittee, under the auspices of the local YMCA, was organized that included local businessm en, labor and religious leaders, m em bers of the press, and students and teachers. The com m ittee then undertook a m assive publicity cam paign that included putting up 1500 posters, issuing 600 official proclam ations, distributing 20,000 leaflets, and publishing articles in the local press. The highlight of the publicity cam paign was a m ass m eeting and parade with m ore than 15,000 people participating. Next, students and teachers

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

were recruited, and volunteers went door-todoor to identify likely students. In two days, 2099 students ranging in age from seven to sixty-seven were signed up for the classes. Finally, classroom s were set up throughout the city and the courses began. Classes were held one hour a day, six days a week, for four m onths, and of the 1600 students who com pleted the classes, 1147 were awarded literacy diplom a (Yen 1925, 6—9). Always m indful of recidivism , Yen and his colleagues initiated continuing education program s for the students that included a second series of classes, a scholarship fund to help the m ore prom ising students attend regular schools in the city, publishing a special series of fifty books and pam phlets geared to the reading level of the newly literate, and the prom otion of reading clubs devoted to self-im provem ent and com munity service (Yen 1925, 10—11).

“people’s reading circles” ( ). Under the auspices of the National Association, Tao set up m ore than sixty circles in Beijing and Nanjing during the winter and spring of 1923—1924. Each circle used Tao’s version of the Lessons and, like Yen’s classes, m et one hour a day for four m onths (Keenan 1977, 91). At Tao’s urging other prom inent educators such as Hu Shi and Qiang Menglin ( , 1886—1964) set up sim ilar circles, and Tao him self set up additional circles in local prisons, factories, and various m ilitary units (Keenan 1977, 91). Tao went on to establish a m odel educational village at Xiaozhuang on the outskirts of Nanjing to test his educational theory of the “unity of teaching, learning, and doing”. The school em phasized teacher training, but also conducted adult education classes for illiterates. In the early 1930s, Tao form ed “workstudy groups” as a kind of self-help educational program for the m asses. By 1932, there were 300 people enrolled in units in Shanghai, and by 1934 there were sim ilar units in twenty-one provinces throughout China. The units featured a “little teacher” system in which school children were recruited to teach illiterates (Boorm an 1967—71, 3, 246). By 1934, there was an estim ated ten thousand “little teachers” engaged in literacy work in the greater Shanghai area alone (Chu 1966, 142). — Perhaps inspired by Tao’s efforts, the governm ent of the Chinese city of Shanghai went on to sponsor literacy classes in 1935 and 1936. In 1935, the governm ent conducted a survey that identified 434,452 illiterates in the city. By the sum m er of 1936, a total of 4318 literacy classes were held with a total enrollm ent of 233,932 students, of which 115,315 passed the city-sponsored literacy test (School 1935, 700).

3.2. Tao Xingzhi (

, 1891—1946)

Tao Xingzhi was educated both in Chinese and m issionary schools in China, and in graduate schools in the United States. Reflecting both worlds, he fashioned an approach to learning he dubbed “life education” ( ), based, in part, on the educational theories of John Dewey (i. e. “education is life”), and the Neo-Confucian principles of the Chinese philosopher Wang Yangm ing ( , 1472—1528, i. e., “the unity of knowledge and action”). Tao becam e actively involved in the literacy m ovem ent in the early 1920s as a founding m em ber of the National Association for the Prom otion of Mass Education, and as the director general of its m ain branch in Nanjing (Chu 1966, 34). In collaboration with Zhu Jingnong ( , 1887—1951), he published a revised edition of The People’s Thousand-Character Lessons in August 1923. As an indication of the popularity of the text, Volum e One reached its 162nd printing in October 1926 (Boorm an 1967—71, 3, 244; Keenan 1977, 89; Peake 1932, 159). Initially, Tao focused on literacy training for sm all groups of people outside the form al school system . One approach was the “chainteaching m ethod” ( ) in which a literate m em ber of a group, for exam ple the head of a fam ily, would teach another m em ber of the group, who would in turn teach another m em ber and so on (Keenan 1977, 90). Another approach Tao favored for som ewhat larger groups was the form ation of

3.3. Ding County — The Model County Yen and others in the Mass Education Movem ent viewed literacy training as the first step in m olding a “new citizen” for China. In 1926, the group was invited by prom inent residents of Ding County, Hebei Province to put their theories into practice. They went on to establish experim ental agricultural, industrial, health, and cultural stations in the county that, until the Japanese invasion in 1937, m ade it a m odel for the nation to follow. Only of interest here, however, are Yen’s continued refinements of his literacy program. Yen’s entree to Ding County was literacy training. In the late 1920s, the literacy rate am ong the 400,000 residents in the county

69.  The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy

was 20 per cent for those over the age of six (Gam ble 1954, 10). To address the learning needs of the county, a three-tiered educational system was established featuring instruction in the classroom , in the hom e, and in the county at large. Literacy training and continuing education were stressed in the first and third venues. Especially im portant in the classroom setting were extension schools that taught the “Thousand-Character” system , people’s elem entary schools where experim ents were conducted to refine literacy education, and people’s advanced schools where research was undertaken to devise literacy standards (Yen 1976, 228—231). In the people’s elem entary school, the concept of com pound words ( ) was introduced into the literacy training program . Rather than teaching individual characters in isolation, characters were taught in com binations. In that the spoken Chinese language is m ore polysyllabic (i. e., words com posed of two or m ore characters) than m onosyllabic (i. e., words m ade up of one character), a teaching approach that stresses words instead of individual characters reinforces the learning process by enabling the student to draw on his or her knowledge of the spoken language. Abbreviated or sim plified form s of Chinese characters were also introduced in an effort to m ake writing characters less com plicated (see Section 7.3.). Another im provem ent introduced at this tim e was teaching the National Phonetic Script during the first m onth of classes. These refinem ents helped to shorten the length of the course from four m onths to three, and increased the num ber of characters taught from 1300 to 1700 (Yen 1976, 229). As part of their educational research in the people’s advanced schools, the instructors determ ined that the prim e ages for learning Chinese characters was between 14 and 22. This inform ation allowed them to better focus their recruitm ent drives and to tailor textbooks to m eet the particular learning needs of this age group (Yen 1976, 230). It was also during the Ding County years that a new set of books was com piled to supplem ent the textbooks. One book was The A. B. C. of the Phonetic Script that was used to teach the National Phonetic Script, and another was The People’s Copy Book that was used to practice writing. The third book in the series was The People’s Pocket Dictionary that contained 4000 entries. The dictionary was useful in the course, and also proved to be a valuable reference tool for the

841

students as they progressed to reading unannotated text (Yen 1929 a, 267; 1925, 4; 1929 d, 173). Supplem ental literacy training for the county at large was provided through the Departm ent of People’s Literature and the People’s Dram a Group. The literature departm ent continued to develop sim ple books and pam phlets geared to the needs of the graduates of the literacy classes. Eventually, one thousand separate titles were produced as part of the “People’s Library” series (Yen 1976, 235; Boorm an, 1967—71, 4, 52). A newspaper entitled The Farm er ( ) featuring articles on basic farm ing science, news, and literature was also published. The dram a group staged a num ber of plays on educational them es. Som e of the m ore popular included “The Handicaps of the Illiterate Farm er”, “The Light of the Com m on People” (i. e., the Mass Education Movem ent), and “The Princely Man” (Yen 1929 c, 160). By m id-1934, Yen and his colleagues had organized 844 literacy courses in Ding County with a total enrollm ent of 21, 170. The illiteracy rate for m ales between the ages of fourteen and twenty-five was reduced from about 80 per cent in the late 1920s to about 10 per cent (Yen 1976, 261). By 1936, m ore than eighty thousand people had attained literacy training either through the “ThousandCharacter” classes or through one of the 472 People’s Schools (Buck 1945, 60). The Ding County experim ent set the standard for literacy education in China in the 1930s. In the m id-1930, m ore than 800 “rural reconstruction centers” based on the Ding County m odel were started throughout China in cooperation with the national governm ent (CB 1946, 672). Between the years 1937 and 1945 alone, while China was waging a war against the Japanese on Chinese soil, and while the Com m unist Party and the Nationalist Party were vying for power, it has been estim ated that m ore than 45 m illion people were taught basic literacy through the “Thousand-Character” program initiated by Jam es Yen and Tao Xingzhi, and sponsored by the National Association for the Prom otion of Mass Education (Gamble 1954, xx, 186).

4.

Missionaries

Missionaries have long been attracted to China by the possibilities for spreading their religions am ong the Chinese m asses. The success or failure of the foreign m issions often

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

depended on their acceptance, first by the literate elite, and, second by the usually illiterate com m oner who would m ake up the bulk of their church. Som e of the forem ost m issionaries such as the Buddhist Kum arajiva (344—413) who arrived in China in 401 A. D., the Italian Jesuit Matteo Ricci (1552—1610) who advised the Ming Dynasty (1368—1644) court, and the Protestant Robert Morrison (1782—1834) spent considerable tim e and effort learning Chinese and translating their religious works. The early m issionaries translated their literature into classical Chinese, but, as such, was beyond com prehension of the m asses (Latourette 1920, 264). Later, they began experim enting with rom anized translations so that the illiterate could read the texts phonetically (Yang 1960; Ni 1948, 10— 30). By the second half of the Nineteenth Century there were rom anized versions of the Bible for the Aom en, Ningbo, Shanghai, and Wenzhou dialects, as well as version written in an “easy” classical style (Latourette 1920, 264, 431). Despite the availability of religious literature written for the lower-educated m asses, literacy am ong Chinese church m em bers was a continuing problem for the foreign churches. Som e m issionaries conducted special literacy classes for their converts. At about the tim e of the 1911 Revolution, Dong Jing’an ( ), a Christian convert, developed a literacy course for classical Chinese called Six-Hundred Characters ( ) that was taught in 200 m ission-sponsored schools in 1915. The num ber doubled by 1918 (Chuang 1923, 14; Han 1932, 149), but after the Literary Revolution sounded the death knell for the classical language, Dong’s text was rendered useless for literacy training. Other m issions had success using Wang Zhao’s ( ) “Mandarin Alphabet” ( ) in which phonetic sym bols were printed alongside the Chinese characters. One m ission reported that ninety-five per cent of its com m unicants were able to read the Bible written in this script (Han 1932, 148). These were som ewhat isolated approaches to the literacy problem . In the early 1920s, two surveys (Occupation 1922; Bryson 1924) brought the issue into sharper focus for the m issionaries when it was estim ated that the literacy rate am ong Chinese com m unicants was about 50 per cent. Most m issionaries found these rates em barrassing low, and som e churches began requiring literacy or steady enrollm ent in literacy classes as a condition

of m em bership (Bryson 1924, 327, 338). In May 1922, the National Christian Conference in Shanghai called for a “cam paign for the com plete rem oval of illiteracy am ong the Church m em bership” (Rawlinson et al. 1922, 292), and by 1924 m ore than 150 m ission stations were reported to have been conducting som e kind of literacy education. By the end of the 1920s, however, certain m issionaries (e. g., Lacy 1931, 101) were openly critical of the apparent lack of attention and resources being devoted to literacy training. 4.1. The Five Year Movement In an attem pt to revitalize the Christian effort in China after setbacks due to the rise of Chinese nationalism in the late 1920s, the National Christian Council of China announced the initiation of the Five Year Movem ent on January 1, 1930. One of the key elem ents of the m ovem ent was a rededication to literacy teaching, and a special com m ittee was form ed to coordinate and prom ote the issue (Cio 1931; Five 1930). The Council contacted officials of the Mass Education Movem ent at Ding County who agreed to conduct a special literacy institute to teach m issionaries their m ethods, especially the “Thousand-Character” system . The institute, held in m id 1930, was planned for thirty m issionary representatives, but m ore than ninety ultim ately attended (Rinden 1930, 630). One m issionary, Hugh Hubbard of the Am erican Mission Board, reported on his success with the Thousand-Character Lessons over a six year period when his group taught m ore than 29,000 illiterates to read and write. Just as im portant to the m issionaries was Hubbard’s report of a fifty-six per cent increase in church m em bership during the sam e period (Rinden 1930, 632). After the institute, the participants conducted sim ilar training conferences for fellow m issionaries in a num ber of cities throughout China, and literacy classes soon becam e a regular part of the m issionary educational program (Lane 1931, 121). For exam ple, the Church of Christ in Shandong Province conducted 150 literacy classes in 1930 (Han 1932, 149), the Am erican Church Mission in Hubei Province taught m ore than 10,000 illiterates between 1930 and 1933 (Hubbard 1933, 289), and by 1933 m issionaries at Baodingfu, Hebei had enrolled m ore than 37,000 in their “Thousand-Character” classes. In addition to these large-scale efforts, sm aller m issionary groups also were participating in the m ove-

69.  The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy

m ent. The Nanjing Theological Sem inary operated five literacy classes in the early 1930s (Brown 1951, 241), and m issionaries at Hwa (Hua) Nan College in Fuzhou developed a special literacy course in the Spring of 1935 to teach 250 local wom en to read (Chen 1936, 252). With the apparent success of the Ding County m ethods, various m issionary groups went on to produce special texts such as a reader for farm ers (Darroch 1933, 220), “The Thousand-Character Gospel” and “The Thousand-Character Old Testam ent” (Davis 1937, 157), and laid plans for an entire series of reading m aterials for literacy school graduates (Rinden 1930, 632). By the end of the 1930s, however, the m issionary m ovem ent, and to a certain extent, the literacy m ovem ent in general, were overtaken by calam itous events on the national scene, especially the m assive destruction and dislocation caused by the Japanese invasion in 1937, and the virtual state of civil war between the Com m unist and the Nationalist forces that would last until 1949.

5.

Literacy and the early CCP

Not unlike the m issionaries, the leaders of the Chinese Com m unist Party often stressed education, especially language learning, as a way of spreading their doctrines am ong the Chinese m asses. Mao Zedong ( 1893—1976), also an accom plished poet in classical Chinese, frequently wrote on the im portance of basic education and literacy. Such education was im portant on two levels. First, the areas in which the Com m unist Party set up their bases of operations, especially after its bloody split with the Nationalist Party in 1927, were located in som e of the m ore backward regions of China. For exam ple, in the Shaanxi-Gansu-Ningxia base area in northwest China in 1944, Mao found that of the 1.5 m illion people in the region “there [were] m ore than 1,000,000 illiterates, ... 2000 practitioners of witchcraft, and the broad m asses [were] still under the influence of superstition.” Mao referred to these problem s as the “enem ies inside the m inds of the people”, which were “often m ore difficult to com bat ... than ... Japanese im perialism .” He went on to “call on the m asses to arise in struggle against their own illiteracy, superstitions and unhygienic habits ... Hence, in our education we m ust have not only regular prim ary and secondary schools but also scattered, irregular village schools, newspaper-reading groups

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and literacy classes” (Mao 1944, 185). Second, as the Party ranks began to swell in the late 1930s and early 1940s, Party leaders had to rely increasingly on cadres drawn from the worker and peasant classes to im plem ent Party policy directives at the grass-roots level. The ability of these cadres to read and com prehend often com plicated policy and theoretical docum ents becam e a prim ary concern of the Party leadership. Mao, in a speech delivered in 1942 entitled “Rectify the Party’s Style of Work”, addressed this issue by noting that “[i]n order to study theory ... our cadres of working-class and peasant origin m ust first acquire an elem entary education. Without it they cannot learn Marxist-Leninist theory” (Mao 1942, 41). Two years later a docum ent issued by the Party’s Central Com m ittee reiterated this them e stating that “[i]f there is not a com paratively high cultural level, the m astery of Marxist-Leninist theory is im possible.” Supplem entary education for cadres was suggested that would “not be lim ited m erely to learning a certain num ber of characters, but should include the ability to read and write, and a general knowledge of history, geography, social and political science, and natural science” (Com pton 1952, 77). Literacy and basic education then were both im portant social and political goals for the early CCP. Even before the establishm ent of the Chinese Com m unist Party in 1921, people who would be drawn to the Party participated in the early m ass education cam paigns. Zhang Guotao ( , 1897—1979), a founding m em ber of the Party, organized a Society for Mass Education ( ) in Beijing in about 1919 that “advocated social reform through the education of the com m on m an” (Zhang 1971/2, 50). The society was involved in the lecture m ovem ent of the tim e (see Section 2.1.), and included other activists who would becom e leaders in the CCP such as Deng Zhongxia ( , 1897—1933) and Luo Zhanglong ( , 1901—1949). Early Com m unists were also active in adult education for workers, especially when the Party focused on the urban proletariat as the vanguard of their m ovem ent. Mao established a workers’ night school in Changsha, Hunan in 1917, Zhang and Deng did likewise in Beijing in 1919, and the Shanghai Com m unist Group set up a workers’ school in that city in 1920. These schools taught basic literacy along with a healthy dose of Marxist theory (Wang 1988, 6; Zhang 1971/2, 50).

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

5.1. The Jiangxi Soviet

“culturally one of the darkest place on earth,” where the peasant believed that water was harmful to their health (Snow 1968, 234). Until about 1940, CCP educators m ore or less continued the literacy program s begun in Jiangxi. Another Society for the Liquidation of Illiteracy was installed, and the Com m unist Youth Corps was once again tapped to provide the bulk of the teachers. The Corps was especially active in teaching soldiers in the CCP arm y to read. In 1937, the arm y consisted of alm ost 92,000 troops, and by 1940 the ranks had swelled to about 500,000. The vast m ajority of the new recruits were drawn from the peasant class and were generally uneducated. The Corps form ed so-called “Lenin Corners” am ong the arm y units that offered daily classroom -like instruction in Chinese characters. Corps m em bers were also assigned to teach the soldiers while on m arch. During these tim es the m em ber would often im provise a lesson by writing characters on whatever paper was available, or in the sand with a sharp stick. Som e even carried a box of sand with them expressly for this purpose. While encam ped the soldiers were encourage to write “newspapers” on walls or placards so they could practicing their new writing skills (Snow 1971, 53 f). The CCP developed their own Chinese character prim ers and “cultural readers” for use in the “Lenin corners” and other literacy groups. The texts typically com bined language learning with an overt political m essage. Edgar Snow, the Am erican journalist, visited the Yan’an area and described a typical literacy class as follows (Snow 1969, 236):

After 1927, the Party set up alternative governm ents or soviets, first in Ruijin, Jiangxi from 1931—1934, and then in Yan’an, Shaanxi from 1937—1947. During the Jiangxi Soviet, the CCP em phasized basic education by establishing m ore than 3000 “Leninist” prim ary schools that were attended by alm ost 90,000 pupils. The regular prim ary schools were augm ented by 6462 night schools for adults that had an enrollm ent of 94,517, and by 32,388 reading groups that included 155,371 m em bers who had only basic literacy skills (Mao 1934, 29). The CCP also established a Society for the Liquidation of Illiteracy under the direction of Qu Qiubai ( , 1899—1935), their com m issar of education, that conducted literacy classes in several hundred villages in the area. Teachers for these classes were often drawn from the ranks of the Com m unist Youth Corps, a group that was often in the vanguard of the CCP literacy cam paigns. In addition to the classes, CCP educators experim ented with various ways to prom ote language learning. One practice was the posting of signboards inscribed with Chinese characters on the roads leading to the farm ing fields so that the peasants could learn new words on their way to and from work (Mao 1934, 29—30). Mao claim ed that “[a]fter three or four years the m ajority of the peasants in our soviet districts in Jiangxi knew several hundred Chinese characters and could read sim ple texts, lectures, and our newspapers and other publications” (Snow 1968, 446). 5.2. The Shaanxi-Gansu-Ningxia Border Region After several years in Jiangxi, the Com m unist were forced out of the area by Nationalist Party troops and em barked on the Long March that would eventually led them to Yan’an, Shaanxi in 1937. There the CCP set up the capital for their governm ent that controlled the three-province area of Shaanxi, Gansu, and Ningxia until 1947. During this ten-year period the Party was able to test its educational theories on a larger scale than in Jiangxi. The task proved especially difficult because of the ram pant poverty in the area that was reflected in the literacy rate of about 1 per cent. Xu Teli ( , 1877—1968), the CCP com m issar of education after the death of Qu Qiubai, described the area as

... entering one of these little ‘social education centers’ in the m ountains, you m ight hear these people catechizing themselves aloud: What is this? This is the Red Flag. What is this? This is a poor man. What is the Red Flag? The Red Flag is the flag of the Red Army. What is the Red Arm y? The Red Arm y is the army of the poor men! And so on, right up to the point where, if he knew the whole five or six hundred characters before anyone else, the youth [i. e., student] could collect the red tassel or pencil or whatever was prom ised [as a reward]. When farm ers and farm ers’ sons and daughters finished the book they could not only read for the first tim e in their lives, but they knew who had taught them , and why. They had grasped the basic fighting ideas of Chinese Communism.

By early 1939, the CCP had established m ore than 6000 literacy units in the ShaanxiGansu-Ningxia region, but the results ulti-

69.  The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy

m ately proved disappointing (Seybolt 1971, 648). Rapid advances had been m ade in the regular school system with the num ber of students in prim ary school jum ping from 5600 in 1937 to 22,000 by 1939. With m ost of the schools located in the m ore urban areas, however, the hope of an education was still beyond the grasp of m ost fam ilies (Selden 1971, 269). A m ore drastic approach to the problem was obviously necessary. 5.3. The Latinxua Sin Wenz Movement Since Matteo Ricci’s first proposal in 1605, there had been m ore than twenty m ajor rom anizations system s put forth for Chinese by the 1930s (Luo 1934). Som e of the system s were proposed specifically as an aid to learning Chinese characters and m ost were designed as an eventual replacem ent for the characters. After lim ited success with their literacy program , the CCP turned to a rom anization system known as Latinxua Sin Wenz (Latinized New Script) to revitalize their effort. Rem iniscent of Jam es Yan’s experience in France, the Latin Script m ovem ent began in 1927 am ong Chinese workers in Moscow. Several CCP intellectuals such as Qu Qiubai and Wu Yuzhang ( , 1878—1966) were also in Moscow at the tim e, and, under the influence of Soviet linguists A. A. Dragunov and V. S. Kolokolov, devised an alphabet for Chinese in the hope of teaching the m ore than 150,000 illiterate Chinese workers in the Soviet capital how to read (Ni 1948, 115). After encouraging results teaching the new alphabet, conferences were held in Vladivostok in 1931 and 1932 to further explore its potential. The Latin Script m ovem ent began in earnest in China in 1932, especially after it attracted the attention of Lu Xun ( , 1881—1936), generally referred to as the “Father of Modern Chinese Literature,” who wrote several essays extolling the virtues of the script, although he never used it in his writings. By 1936, the Latin Script was endorsed in a declaration signed by respected Chinese educators including Cai Yuanpei and Tao Xingzhi, prom inent authors such as Mao Dun ( , 1896—1981) and Guo Moruo ( , 1892—1978), as well as political figures like Mrs. Sun Yat-sen ( , 1893—1981). Also, societies for advancem ent of the script were form ed in various cities in China and abroad (Reform ing 1950, 108). The CCP seized on Latin Script as a tool

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to com bat illiteracy, and as such it received strong backing from Party leaders. I n an interview with Edgar Snow, Mao explained the situation as follows (Snow 1968, 446: italics in the original): In order to hasten the liquidation of illiteracy here we have begun experim enting with ... Latinized Chinese. It is now used in our Party school, in the Red Army Academy, in the Red Army, and in a special section of the Red China Daily News. We believe Latinization is a good instrum ent with which to overcom e illiteracy. Chinese characters are so difficult to learn that even the best system of rudim entary characters, or sim plified teaching, does not equip the people with a really efficient and rich vocabulary. Sooner or later, we believe, we will have to abandon the Chinese character altogether if we are to create a new social culture in which the m asses fully participate. We are now widely using Latinization, and if we stay here [in Yan’an] for three years the problem of illiteracy will have been largely overcome ...

The CCP, like the Nationalists with their version of a phonetic alphabet, gave the new script the sam e legal status as Chinese characters. — Wu Yuzhang was nam ed to head a cam paign to prom ote the Latin script. In Novem ber 1941, the Latinxua Sin Wenz Association was form ed in Yan’an with m ore than 1000 people attending its first m eeting, after which branch associations were established in other CCP-controlled areas (Reform ing 1950, 108). Special classes were conducted for CCP cadres to learn the script and it was used in literacy classes in the region. By about 1944, however, the Latin Script m ovem ent was all but abandoned (Seybolt 1971, 653). One reason for its failure was the em phasis on learning how to read in the various dialects rather than in the em erging national language. Of the thirty Latin Script textbooks published, m ore than half were for dialect speakers. Another reason was the lack of reading m aterial in the script itself. Between 1935 and 1940, there were only fiftytwo books published in the script for the general reader (Ni 1949, 556—567). In general, there is scant reading m aterials in the Chinese dialects so that those who becam e “literate” using this system had little supplem ental reading either in the Latin Script or in their native dialect. Perhaps the m ain reason for its failure was that it proved to be unpopular with the peasants. Michael Lindsay, a British educator who visited the area at the tim e, reported that the illiterate villagers usually asked to be taught Chinese characters instead of som e rom anized system , and som e even wanted to learn classical Chinese

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

(Lindsay 1950, 47). Other reasons for the failure of the Latinxua Sin Wenz Movem ent include the m agnitude of the literacy problem in the area, the transient nature of the Yan’anbased CCP governm ent, and the on-going war with the Japanese. Any kind of widespread success in the illiteracy m ovem ent would have to wait until the political situation stabilized.

literacy program s despite the war. For exam ple, in Zhejiang Province, schooling was com pulsory for all illiterates, and to m eet the need for teachers, all m iddle and norm al school students, as well as college and university students, were required to help teach literacy classes during their sum m er vacations. Provincial officials went on to devise a three-year program to elim inate illiteracy am ong the estim ated 2.8 m illion illiterates under their jurisdiction, as well as a plan to provide free education for all school-age children (Chekiang 1940, 277). In Kunm ing, Yunnan, literacy education also was m ade com pulsory for those between the ages of 16 and 35, and roughly 30,000 people enrolled in one of three three-m onth courses in 1940 (Yunnan 1940, 276—277). Likewise in Sichuan Province, a three-year plan was instituted to education the estim ated 16 m illion local illiterates by the establishm ent of twenty thousand free schools that would to accom m odate fifty pupils each (Szechuan 1940, 398). The end of World War II brought only a fleeting peace to China as civil war broke out between the Nationalists and the Com m unist that lasted until the Com m unist victory in 1949. Although the literacy rate was not a prim ary concern during this period som e progress was m ade. In Guangzhou (Canton), for exam ple, a group known as the Guangzhou Mass Education Association organized literacy courses between 1947 and 1949 that enrolled m ore than 15,500 students (Hsu 1948, 279). In northern China, literacy training for the peasants was often com bined with the Com m unist’s land reform m ovem ent, and it was reported to be one of the m ore heartily em braced program s in the area (Yu Wah 1949). The civil war ended with the Nationalists fleeing to Taiwan where they went on to achieve great success in literacy work, while the Com m unists took control of the m ainland and struggled mightily with the problem.

6.

The War Years (1937—1949)

On July 7, 1937, Japanese forces staged a m ilitary incident on the outskirts of Beijing that led to a state of war between the two nations that would last until the end of World War II. For alm ost eight years the Japanese dom inated large sections of northeastern, eastern and central China. In addition to the m assive m ilitary and econom ic destruction wrought by the Japanese m ilitary, the Chinese educational system was alm ost literally uprooted as schools and universities were m oved, som etim es on the backs of the students, into the relative security of the hinterland. In spite of the strains of war, school enrollm ent during this period actually increased. Between 1937 and 1944, there was an increase of alm ost 28 per cent in prim ary school attendance, m ore than 66 per cent in m iddle schools, and 65 per cent at the college and university level (Handbook 1947, 323— 328). — In March 1940, the Ministry of Education for the Nationalist Governm ent convened a National Conference on People’s Education that passed regulations requiring all illiterates to receive schooling (Handbook 1947, 323). According to Ministry estim ates, roughly 23.2 m illion students enrolled in literacy classes in the period 1941—1943, with another 155 m illion, or 34 per cent of the population, rem aining in need of such training (Handbook 1947, 324). Because of the war effort, resources were severely strained and what literacy training did occur was often piecem eal. In Guizhou Province, for instance, each m iddle school student was required to hand-copy at least three m ass education textbooks each sem ester for use in literacy and basic education classes (Mass 1940, 146). Also, several of the universities that were relocated in the interior sponsored sum m er literacy classes by sending groups of students and faculty into rural areas to teach reading and writing, as well as hygiene, first aid, and child care (Texas 1943, 58). Several provinces attem pted large-scale

7.

The People’s Republic of China

When the Chinese Com m unist Party established the People’s Republic of China in 1949, the illiteracy rate was still thought to be 80 to 90 per cent, or about the sam e as it was in 1911 (e. g., Abe 1961, 150; Cam paign 1990; Illiteracy 1990). As the CCP faced the task of governing all of China, the need for a literate citizenry becam e all the m ore im portant, especially as they sought to m echanize agriculture and overhaul the industrial base. Reports

69.  The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy

that there were m ore than 1600 com pletely illiterate CCP cadres in Beijing alone, and that m ore than half of clerks and office workers in China were illiterate was cause for immediate concern (CNA, 13/5; 115/4). 7.1. The Commission for the Elimination of Illiteracy PRC efforts to com bat the literacy problem began in Decem ber 1949, two m onths after the founding of the new governm ent, with the convening of the First National Conference on Educational Work. After two years of sim ilar m eetings and directives concerning the problem , the governm ent set up the Com m ission for the Elim ination of Illiteracy in Novem ber 1952 with Chu Tu’nan ( , b. 1899), a non-Com m unist, as chairm an (Yu 1982, 13—14; Seeberg 1990, 165—166). One of the first m ajor program s endorsed by the com m ission was a cam paign to prom ote literacy education through the Rapid Read Method ( ), a language-learning system developed by Qi Jianhua ( ), a vice-chairm an of com m ittee, while he was in the People’s Liberation Arm y in 1950. The m ethod consisted of three parts: learning the Chinese phonetic alphabet, then character recognition by word units (i. e., two or three characters that com pose a word) with the phonetic sym bols printed alongside the characters, and, finally, reading and writing sentences and short essays (Xinhua, 1952/2, 177; 1952/3, 149; Lin 1953, 6). The system , said to teach 2000 characters in 150 hours of instruction, was first used to teach illiterates in the Southwest m ilitary district in 1951 with m ore than 12,000 reportedly achieving literacy, and then was used am ong the general population with two m illion becom ing literate (Yao 1952, 25; CNA, 33/5). After a few years, however, it was found that the newly m inted literates had forgotten how to read and write as rapidly as they had learned. By 1954, the Rapid Read Method was being widely criticized as ineffective and was abandoned (CNA, 33/5; 184/5; Seeberg 1990, 167). At about the sam e tim e there was apparent disarray in the fight against illiteracy as different program s and directives were being issued by the Ministry of Education, the Com m ission for the Elim ination of Illiteracy, and the editors of People’s Daily (CNA, 184/5). 7.2. The National Association for the Elimination of Illiteracy In 1956, the Com m ission for the Elim ination of Illiteracy was abolished and replaced by

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the National Association for the Elim ination of Illiteracy headed by Chen Yi ( 1901—1972), a high-ranking m em ber of the CCP. Also in 1956, the Com m unist Party and the State Council, China’s highest ruling body, issued an am bitious directive calling for the elim ination of illiteracy within three to five years (DeFrancis 1984, 214). Two groups, rural youths and urban workers, were targeted for attention. The Chinese Com m unist Youth Corps was once again called upon to assist in a plan to educate 70 per cent of the estim ated 70 m illion illiterate or sem i-literate rural youth. Hu Yaobang ( , 1915— 1989), a vice-chairm an of the National Association and head of the Com m unist Youth League, actually advocated the program the previous fall in an article in People’s Daily (URS 1955, 26/1), and was later put in charge of im plem enting the plan. Hu suggested setting up evening schools (including both winter schools and people’s schools [ ]), sm all inform al study groups, and one-on-one teaching sessions for illiterates. The slogan of the cam paign, geared to seasonal dem ands of the farm ing calendar and the collectivization m ovem ent then underway in the countryside, was “when not busy, study m ore; when busy, study less; and when very busy, take a break from study” ( , , ) (URS 1955, 26/1; CNA, 115/2—4). On January 4, 1956, the All-China Federation of Trade Unions announced its own plan to wipe out illiteracy am ong factory workers by 1958 by requiring all illiterates to spend six hours a week in literacy classes (URS 1956, 20/294). The general problem of illiteracy in the factories was illustrated in an editorial in Worker’s Daily ten days later where it was estim ated that half of the workers in production enterprises were illiterate, and 60 to 70 per cent of those in coal m ining and construction were illiterate as well (URS 1956, 20/294; Struggle 1956). In the m id and late 1950s national events once again overtook the literacy m ovem ent. First, following the Hundred Flowers m ovem ent of 1957 when open criticism of the CCP was encouraged, an “anti-rightist” cam paign took place in which those who spoke out against the Party, especially intellectuals, were censured, leaving m any forever leery of CCP intentions. Second, the Great Leap Forward of 1958—1961, in which Mao and the Party attem pted to catapult the Chinese econom y into the m odern industrialized world, sapped m uch of the m aterial and em otional resources of the country and resulted in wholesale eco-

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nom ic ruin and widespread fam ine. Any lasting advancem ents in literacy during this trying period were difficult at best. One inform ed source estim ated that between 1950 and 1957 only 700,000 illiterates successfully learned how to read and write, and the Worker’s Daily opined that the num ber of illiterates was actually increasing instead of decreasing (CNA, 329/4; 361/7). By 1958, the National Association for the Elim ination of Illiteracy itself was apparently abolished (Klein & Clark 1971, 1107).

another (e. g., versus ). In 1955 and 1956, the governm ent also began prom oting a standardized spoken language known as Putonghua ( ) or the com m on spoken language. Based on Northern Chinese, particularly the Beijing dialect, Putonghua is the official spoken m edium for all governm ent com m unication, is used on national radio and television broadcasts, and is used and taught in all schools. The governm ent sponsored the com pilation of A Dictionary of Modern Chinese ( ), an excellent m edium -size dictionary that was eventually published in 1978, to help prom ote Putonghua (Cream er 1992, 130). Despite these efforts, the popularization of Putonghua has been only partially successful as any visitor to a dialect area such as Shanghai or Guangzhou can attest. In such areas the local dialects are widely used in everyday personal com m unication, and m any who attem pt to speak Putonghua do so with a heavy local accent. As for literacy, Putonghua has som ewhat com plicated the issue in that an illiterate from a dialect region m ust learn Putonghua, virtually a new spoken language, while also learning how to read and write (Serruys 1962, 115). In February 1958, the governm ent officially adopted the Pinyin ( ) system for rom anizing Chinese characters. Unlike the earlier phonetic alphabet that used sym bols to represent sounds, the Pinyin system uses Rom an letters. Like the earlier alphabets, language reform ers have from tim e to tim e advocated the abolition of characters in favor of Pinyin. The system is m ost com m only used as an arrangem ent schem e for dictionaries, and for rendering place nam es on m aps and personal nam es in the non-Chinese press. Perhaps the m ost significant use for Pinyin is in beginning language instruction where Chinese characters are first spelled in Pinyin to fam iliarize the student with the sound of the word and word boundaries before the actual writing of the character is attem pted. Kuo Moruo once suggested that with the Pinyin system school students could accelerate their language learning by two years (Mills 1956, 518). These three language reform m easures have helped to standardize the Chinese language and have played im portant roles in subsequent literacy programs.

7.3. Language Reform In the m id-1950s, the PRC governm ent undertook a three-pronged effort to reform the Chinese language by introducing plans to sim plify characters, standardize the spoken language, and adopt a rom anization system . Like earlier language reform s, one of the basic assum ptions of this effort was that if the difficulties of learning the language could be reduced the literacy rate would be increased. In January 1956, a few m onths before the literacy cam paigns in the countryside and factories were launched, the State Council, the Ministry of Education, and the Com m ittee to Reform the Chinese Written Language announced a plan to sim plify Chinese characters. In all, 515 characters were sim plified by either reducing the num ber of strokes used to write a character (e. g., with five strokes versus with sixteen strokes), standardizing variants under one form , or sim plifying com ponent parts of characters (e. g., the left side of versus the left side of ). Another list of 2000 characters was issued in February 1964, but a list put forth in 1978 failed to gain public acceptance and was ultim ately withdrawn. The purpose of these plans was to m ake Chinese characters sim pler to write and to reduce the num ber of characters in general use, thus m aking the written language easier to learn both by students beginning their language training and by illiterates. Whether or not sim plification has achieved its purpose is open to question. The original com plex form of the characters have continued to be used in Taiwan and the literacy rate there has been consistently higher (e. g., 65.4 per cent in 1951, 84.7 per cent in 1969, and 94.4 per cent in 1990) than the rate in the PRC (Republic 1991, 88—89). It is also questionable whether it is easier to rem em ber a character because it has several fewer strokes, especially when it som etim es becom es difficult to distinguish one character from

7.4. Wanrong and the Pinyin experiment In August 1958, educators in Wanrong County, Shanxi Province began experim enting with using Pinyin as a teaching aide for

69.  The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy

language learning. As with the Rapid Read Method, illiterates in Wanrong first learned the Pinyin spelling system , then words and phrases spelled in the system , then characters with the Pinyin printed alongside, and, finally, characters without the notations. The tim e to learn 1500 characters, the literacy standard at the tim e, was said to have been reduced from 300 hours to about 100 (Li 1960). By October 1958, 33,980 of 38,235 illiterates in the county reportedly becam e literate using the Pinyin system (Shanxi 1960, 11). The initial success of the Wanrong experim ent inspired the Central Com m ittee of the Com m unist Party to issue a directive on April 22, 1960, that launched a nationwide literacy cam paign using the Pinyin teaching m ethod (Com m em orating 1983, 83). As with the Rapid Read experience, the results achieved in Wanrong were later called into question. One inform ed Chinese observer has acknowledged that the figures were purposefully exaggerated for publicity sake (DeFrancis 1984, 211). It has also been reported that one-third of the newly literate soon lost their ability to read and write, and that the rem aining twothirds were unable to read unannotated newspapers (Abe 1961, 158). According to the 1982 census, the illiteracy rate in Wanrong for residents above the age of twelve was alm ost 20 per cent, m ore like the national average than the m odel for literacy education that it was portrayed to be (Population Atlas 1987, 162). 7.5. The Cultural Revolution and beyond (1966—1989) Despite the various directives and “im proved” teaching m ethods, very little progress was m ade in literacy education during the first decade of the PRC. According to one PRC statistical source, only 67,971 people becom e literate between 1949 and 1958 (Ten 1974, 137). By the early 1960s, one Chinese education official acknowledged that the literacy m ovem ent was, “basically at a standstill” (Yu 1982, 17). The situation would only get worse in the m id-1960s as Chinese radicals, with the blessing of Mao Zedong, em barked on the so-called Cultural Revolution. Lasting from May 1966 to October 1976, the Cultural Revolution wreaked havoc on the educational system as m ost high schools and colleges were closed during the late 1960s and early 1970s. Virtually an entire generation was denied access to secondary and higher education, while education itself was m inim ized as m any of China’s best and brightest

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were “sent down the countryside to learn from the peasants.” With the school system in sham bles, the ranks of illiterates continued to grow, while m any of the newly literate once again quickly forgot what they had learned because of the lack of follow-up training (Yu 1982, 18). The situation did not begin to im prove until Novem ber 1978 when the State Council issued another directive addressing the literacy problem . The directive had three principle objectives, nam ely, preventing new illiterates with the im plem entation of a new five-year universal prim ary education system , reducing the num ber existing illiterates through literacy courses, and im proving post-literacy training program s (Wang 1985, 59; Yu 1982, 19). The directive helped to revitalize the literacy m ovem ent. In Heilongjiang Province, for exam ple, a literacy cam paign was m ounted by literate youths and prim ary and secondary teachers, and 1.57 m illion illiterates were taught to read and write (Wang 1985, 57). Overall, one Chinese official estim ated that approxim ately 12 m illion people becam e literate during the period 1978—1980 (Yu 1982, 20), which, if true, represents a m any fold increase in two years over the entire first decade of the PRC. In the early 1980s, UNESCO becam e increasingly involved in the literacy m ovem ent in China. In 1982, it established training program s for 5000 literacy teachers in ten provinces. By the m id-1980s, several Chinese locales were successful enough in their literacy efforts to win additional recognition from UNESCO. Bazhong, Sichuan, the hom e county of Jam es Yen, had an estim ated illiteracy rate of 90 per cent in 1949 and alm ost 100 per cent for wom en (Zhang & Wei 1987, 17). By early 1980s, the literacy rate was im proved to 90.87 per cent by the creation of an integrated network of schools throughout the county (Fines 1984, 10). The education of fem ales in the county was given special attention and approached by a special system known as the “three perm issions” that allowed girls to bring their younger sisters or brothers to school with them , perm itted them to go to school late and leave early as fam ily needs dictated, and established a m echanism for them to transfer between full-tim e and spare-tim e schools (Zhang & Wei 1987, 21). In 1984, UNESCO awarded Bazhong its Nom a Prize in recognition for the dram atic turnaround in its literacy rate. Also during the m id-1980s, UNESCO awarded the Nom a

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Prize to Jilin Province, the Hadezhda K. Krupckaya Prize to Wulian, Shandong, and the Journée Internationale d’Alphabetisation to Li County, Hunan for their literacy successes (Zhang & Wei 1987, 19; Hou 1990, 46). In addition to increased attention to literacy education, the positive results during the 1980s were achieved, in part, by the enforcem ent of the Nine-Year Com pulsory Education Law, and various incentive program s. The com pulsory education law took effect on July 1, 1986 and featured a six-year prim ary school and three-year junior m iddle school system . By 1991, a record 97.87 per cent of children between the age of 7 and 11 were attending school (Attendance 1992). Incentive program s ranged from fines to m onetary rewards. For instance, Hebei Province issued a Tem porary Provision on Education in 1984 that stipulated if parents did not send their children to school by age seven, or withdrew their school-age children from school, they would be fined between 30 and 50 Chinese dollars per year (approxim ately one-third to one-half of the average fam ily’s incom e) until the child reached the age of 15 (Fines 1984, 9). Fines were also m eted out in Houlianpo, Hunan, to illiterates who did not attend school, and, m ore im portantly, illiterates were not allowed to hold elective office, work in village-sponsored enterprises, or obtain m arriage licences (Hou 1990, 47). In a m ore positive vein, in Wulian, Shandong, teachers’ pay was linked to the num ber of students who achieved the required level in reading and writing, with bonuses given to those teachers who exceeded their quotas (Zhang & Wei 1987, 19—20). In several provinces such as Jiangsu, Fujian, and Gansu, special literacy regulations were introduced, as well as socalled “study stim uli” that set deadlines for elim inating literacy, including punishm ent for those who ignored the regulations. Going one step further, the governm ent issued additional literacy regulations in 1986 and 1988 stipulating that local governm ents were directly responsible for elim inating illiteracy. As part of the so-called “responsibility system ” being introduced at the tim e, the perform ance rating of cadres was tied to their efforts to prom ote literacy education (Illiteracy 1990; Cui 1990, 19).

China’s participation in the UNESCO-sponsored International Literacy Year. Li, noting that China’s 220 m illion illiterates com prised one quarter of the world’s illiterate population, and that the popularization of science, technology and agricultural production were severely ham pered under such conditions, called on all levels of the governm ent and the society at large to m obilize for this effort “in the nam e of socialist construction” (Cam paign 1990). I n conjunction with Literacy Year, the governm ent convened a national working conference in August attended by Prem ier Li Peng ( ), after which the governm ent announced plans to elim inate illiteracy by the year 2000 (Zhang Lin 1990 a). Pointing toward the year 2000, the State Education Com m ission established a national literacy research center, and several organization such as the All-China Wom en’s Federation, the Chinese Com m unist Youth League, and the Chinese Science Association initiated program s and awards for im proved literacy awareness (Dong 1990). One of the m ore successful program s is Project Hope, actually begun in October 1989. The project, run by the China Youth Developm ent Fund of Beijing and supported by private donations, encourages prim ary and m iddle school students, especially in rural areas where students m ust pay between 40 and 50 Chinese dollars in tuition, to rem ain in school. Dropouts are a particular concern as evidenced by the fact that m ore than 7.5 m illion young people term inated their schooling in 1988 alone. Each potential drop-out in the project is given 40 Chinese dollars as incentive to finish prim ary school. By April, 1992, Project Hope had helped m ore than 30,000 students receive a prim ary school education (Project 1990, 6; Hope 1992). In addition to rural youth, wom en were also a m ajor concern during the Literacy Year. It is estim ated that 70 per cent of China’s illiterates and 83 per cent of school dropouts are fem ale (Dong 1990; Illiteracy 1990; Girls 1992; Cui 1990, 22). Just as alarm ing is the fact that the infant m ortality rate is three tim es higher than the national average for illiterate wom en (Zhou 1990). Also, as m ales continue to leave the countryside for opportunities in the cities, m ore and m ore rural fem ales are left to assum e responsibility for farm ing and related rural econom ic developm ent; tasks that are becom ing increasingly literacy-dependent. The All-China Wom en’s Association launched program s in early 1989

7.6. International Literacy Year (1990) On January 8, 1990, Li Tieying ( ), a m em ber of the State Council and head of the State Education Com m ission, announced

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that have continued well into 1992 to address these problem s by com bining educational program s with efforts to raise the self-esteem of the wom en (Wom en 1992). In July 1990, UNESCO sponsored a special sym posium on illiteracy am ong wom en in Asia, and initiated a pilot program in Xuanwei, Yunnan to develop new approaches to this difficult problem (Cui 1990, 22). The num ber of people who becam e literate during the International Literacy Year is unclear. During the year newspapers reported as m any as 3.6 m illion people between the ages of 15 and 40 enrolled in literacy program s by April, with 1.03 m illion becom ing literate (Drive 1990), and 7.15 m illion in training by August with 4.29 m illion achieving literacy (Dong 1990). However, according to a year-end report issued by the State Statistical Bureau for the year, 3,972,000 people becam e literate in 1990 (Statistical 1991, VII). Whatever the num bers, it is encouraging to note that for the year 1991 the Bureau reported that 5,483,000 people becam e literate (Statistical 1992, 42). The year 1990 m ay well rank as one of the m ost im portant years for literacy in China. The unprecedented attention paid to literacy has renewed national and local interest in the issue that should go a long way towards the goal of elim inating illiteracy in China.

8.

Summary and conclusion

Of the m yriad of fundam ental social, econom ic and political challenges that China has faced since the beginning of this century, literacy is not the m ost im portant. After m any decades of alm ost continuous civil strife and foreign invasion, ruinous econom ic planning, and seem ing political insanity, the fact that literacy education has received the am ount of attention it has is note-worthy. This centurylong struggle has been an uphill battle from the very beginning with m any hundreds of m illions of illiterates in need of specialized education. Even with the im pressive strides in literacy education in the last decade, there rem ains m ore than 180 m illion illiterates in China today. The success that has been achieved in im proving literacy during this century has been due m ore to efforts to reform the Chinese language and to restructure the form al educational system than with literacy education per se. Concerted attem pts at literacy training, m ore often than not, have been subju-

851

gated to m ore pressing events unfolding on the national stage. Num erous cam paigns were begun by groups ranging from dedicated educators such as Jam es Yen, to Christian m issionaries, to the Chinese Com m unist Youth Corps only to be negated by war, invasion or political folly. While the national governm ent often paid but lip service to the im portance of literacy, som e significant language reform s were unfolding. The unification of the language was as m uch a political issue as a social one, and as such was a higher concern. Language reform ers from Hu Shi and Zhao Yuanren to groups such as the Com m ittee to Reform of the Chinese Written Language have m ade farreaching contributions towards the standardization and system ization of the language, especially with the adoption of the vernacular language and the popularization of Putonghua. The positive effect that these reform s have had on literacy education cannot be over-emphasized. Education has often been a luxury in China. In the urban areas schools were for those who could afford the tuition, while in the rural areas a good farm er was infinitely m ore valuable than a good student. What laws did exit for com pulsory education were largely ignored in both urban and rural China. With the renewed attention to education since the m id-1980s and literacy since 1990, the hopes for a literate China m ay well be realized in the near future. Literacy and language problem s will continue to exist, however. Recent newspaper articles describing poor language skills am ong m iddle school students (Xi 1992), college students (Zhu 1990), and the general public (Chinese 1990; Zhai 1992; State 1992) continue to be cause for concern. The new education system is also of concern to som e educators who have called for a reevaluation, especially concerning greater em phasis on technical schools (Hot 1992). More im portantly, despite the new boom in education there m ay not be enough trained people to m eet national needs. For exam ple, it was recently reported that by the year 2000 China will need an additional 38 m illion college graduates, but only about 15 m illion will graduate by that tim e at the existing rate (Non-State 1992). At the sam e tim e there is a pressing need to upgrade the work force. In a 1991 survey conducted am ong workers in State-owned business in Shanghai, perhaps China’s m ost technologically advanced city, it was found that less

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

852

than four per cent were considered highly skilled (Zhai 1991). Learning a specific num ber of Chinese characters m ay be considered a m ajor accom plishm ent for m ost illiterates, but basic literacy alone is not enough to enable an individual to fully function in China today.

9.

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Thomas Creamer, Takoma Park, Maryland (USA)

70. Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung bei den nicht chinesisch sprechenden Völkern Chinas 1. 2. 3. 4. 5. 6.

1.

Sprachgruppen Schriftarten Sprachenpolitik Probleme Perspektiven Literatur

Sprachgruppen

In der Volksrepublik China leben neben den Han, die nach der Volkszählung 1990 1,0425 Mrd. Menschen ausm achten und die wir als „Chinesen“ bezeichnen, 55 ethnische „Minderheiten“ m it 91,2 Mio. Menschen, die nahezu alle eigene Sprachen sprechen. Die Nicht-Han Völker unterteilen sich in folgende Sprachgruppen (Zahlenangaben nach der Volkszählung 1990): (a) Sino-Tibetische Sprachen (55,28 Mio.) — Tibeto-Birmanische Sprachen (21,42 Mio.): Yi (Lolo, 6,57 Mio.), Tujia (5,70 Mio.), Tibeter (4,59 Mio.), Bai (1,59 Mio.), Hani (1,25 Mio.), Lisu (0,57 Mio.), Lahu (0,41 Mio.), Naxi (0,28 Mio.), Qiang (0,20 Mio.), Jingpo (0,12 Mio.), Pum i (29 657), Achang (27 708), Nu (27 123), Jinuo (18 021), Moinba (7475), Drung (5816), Lhoba (2312); — Thai-Sprachen (23,7 Mio.): Zhuang (15,5 Mio.), Bouyei (2,55 Mio.), Dong (2,51 Mio.), Li (1,11 Mio.), Dai (1,03 Mio.), Gelo (0,44 Mio.), Shui (0,35 Mio.), Mulam (0,16 Mio.), Maonan (71 968); — Miao-Yao-Sprachen (10,16 Mio.): Miao (7,40 Mio.), Yao (2,13 Mio.), She (0,63 Mio.);

(b) Altaische Sprachen (24,12 Mio.) — Mongolische Sprachen (5,51 Mio.): Mongolen (4,81 Mio.), Dongxiang (0,37 Mio.), Tu (0,19 Mio.), Dahuren (0,12 Mio.), Bonan (12 212), Östliche Yugur (Gelbe Uiguren, ca. 6000); — Türkische Sprachen (8,58 Mio.): Uiguren (7,21 Mio.), Kasachen (1,11 Mio.), Kirgisen (0,14 Mio.), Salaren (87 697), Usbeken (14 502), Westliche Yugur (ca. 6000), Tataren (4873); — Mandschu-Tungusische Sprachen (10,03 Mio.): Mandschuren (9,82 Mio.), Xibe (0,17 Mio.), Ewenken (26 315), Orotschen (6965), Hezhe (Golden, Nanaier 4245); (c) Austroasiatische Sprachen (0,45 Mio.) — Mon-Khmer Sprachen (0,45 Mio.): Va (0,35 Mio.), Blang (82 280), Deang (15 462); (d) Austronesische Sprachen — Malayo-Polynesische Sprachen: Gaoshan (Taiwan) (2909 in der VR; Sam m elbezeichnung für die auf Taiwan lebenden Minoritäten Paiwan, Yami, Ami u. a.) (e) Koreanische Sprache: Koreaner (1,92 Mio.) (f) Indo-Europäische Sprachen — Iranische Sprachen: Tadschiken (33 538); — Slawische Sprachen: Russen (13 504). Lediglich die m oslem ischen Hui (Dunganen, 8,60 Mio.) verwenden die chinesische Sprache. Mandschuren und She sprechen heute überwiegend Chinesisch. Mandschurisch ist seit dem Ende der letzten Kaiserdynastie im Aussterben begriffen. Die Sprache der Jing wurde noch nicht klassifiziert.

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

856

2.

Schriftarten

Ende der 40er Jahre besaßen 18 Nicht-Han Völker eigene Schriften: Dai, Jingpo, Kasachen, Kirgisen, Koreaner, Lahu, Lisu, Miao, Mongolen, Naxi, Russen, Tataren, Tibeter, Va, Uiguren, Usbeken, Xibe und Yi. Das Mandschurische wurde nicht m ehr verwendet, die Hui benutzten in religiösem Gebrauch das Arabische, die She das Chinesische. Für zahlreiche Nationalitäten wurden seit den 50er Jahren neue Schriften auf der Grundlage des lateinischen Alphabets geschaffen. Die verschiedenen Schriftarten lassen sich wie folgt klassifizieren (→ Abb. 70.1—70.8): (a) Bilderschriften: Dazu zählt etwa die Dongba-Schrift der Naxi m it ca. 1300 Piktogram m en, die bis in dieses Jahrhundert hinein in Gebrauch war. Sie wurde von den Priestern zur Abfassung von rituellen Texten verwendet. (b) Ideographische Silbenschriften: Die Schrift der Yi, in der m ehrheitlich Monom orphem e, zu einem kleineren Teil Polym orphem e verwendet wurden und die eine gewisse Ähnlichkeit m it archaischen chinesischen Zeichen aufweist, sowie die Geba-Schrift der Naxi gehören in diese Kategorie. (c) Varianten der chinesischen Schrift: Dazu zählen die alten Schriftzeichen der Zhuang, Dong, Shui und Bai, eine Mischung eigener Zeichen m it chinesischen, wobei Aussprache und Bedeutung der chinesischen Zeichen der jeweiligen Muttersprache angepaßt wurden. (d) Alphabetische Schriftarten, beruhend auf — dem arabischen Alphabet, wurden von den türkischen Völkern (Uiguren, Kasachen, Kirgisen, Usbeken und Tataren) verwendet; — dem indischen Alphabet, sind bestim m end für das Tibetische und die vier Schriften der Dai (Daile, Daina, Daibeng und JinpingDai); — dem alten uigurischen Alphabet, prägten die Schriften der Mongolen, Mandschuren und Xibe. Die m ongolische Schrift hat sich im 13./14. Jahrhundert auf Grundlage der uigurischen Schrift herausgebildet. Die Mongolen in Westchina (Region Xinjiang) verwenden zum Teil noch das „Tod“, das auf dem oiratischen Dialekt beruht und von der klassischen m ongolischen Schrift abweicht. Die Schrift der Xibe wurde in Anlehnung an das Mandschurische entwickelt. — dem lateinischen Alphabet, wie die neuen oder reform ierten Schriften der Bai, Bouyei, Dong, Hani, Jingpo, Lahu, Li, Lisu, Miao,

Abb. 70.1: Alte Schrift der Naxi

Abb. 70.2: Schrift der Yi aus dem Liangshan-Gebirge

Abb. 70.3: Uigurisch

Abb. 70.4: Schrift der Dai aus Xishuangbanna

Abb. 70.5: Schrift der Dai aus Dehong

Naxi, Tu, Va und Zhuang sowie die Entwürfe für die Schriften der Drung und Yao. — dem kyrillischen Alphabet, wie das Russische; die Verwendung kyrillischer Buchstaben durch Kasachen oder Kirgisen wurde in den 50er Jahren abgeschafft. — dem koreanischen Alphabet, das aus 11 Vokalen und 17 Konsonanten besteht und aus der chinesischen Schrift entwickelt wurde.

70.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierungbei den nicht chinesisch sprechenden Völkern Chinas

3.

Abb. 70.6 (links): Mongolische Tod-Schrift

Abb. 70.7 (rechts): Schrift der Xibe

Abb. 70.8: Alte Schrift der Lisu

857

Sprachenpolitik

Nach der Machtergreifung der Kom m unisten war den Nicht-Han Völkern die volle Freiheit der Entwicklung ihrer Sprachen und Schriften zugesagt worden. Das „Allgem eine Program m für die Durchführung der Gebietsautonom ie für die Nationalitäten“ von 1952 sah zugleich vor, daß in den Gebieten m it „Autonom ie“ Sprache(n) und Schrift(en) der entsprechenden Nationalität(en) als Hauptverkehrssprache(n) benutzt werden sollten. 1951 beschloß die chinesische Regierung die Schaffung von Schriften für die größeren schriftlosen Nationalitäten. Ein 1955 aufgestellter Entwicklungsplan sah vor, innerhalb von 2—3 Jahren die Sprachen der Nicht-Han Völker zu erforschen, ein Schriftsystem für diejenigen zu entwickeln, die keine Schrift besaßen, und die Schriften zu „reform ieren“, die nach chinesischer Sicht einer „Reform „ bedurften. Dabei sollten die „entwickelten„ Schriften wie Tibetisch, Mongolisch und Xibe im wesentlichen unverändert bleiben. Schriften, die wesentlich „religiösen Charakter“ trugen, wie die Schriften der Dai (die vorwiegend für buddhistische Sutren verwendet wurden), sollten „reform iert“ werden. Für größere ethnische Gruppen ohne Schrift sollten Schriften auf Grundlage des lateinischen Alphabets geschaffen werden. Bei den Miao soll dieser Prozeß folgenderm aßen vonstatten gegangen sein: Eine 120 Personen um fassende Forschungsgruppe aus Miao und hanchinesischen Miao-Experten wurde zur Erfassung aller Dialekte in 35 Gruppen auf sieben Provinzen verteilt, in denen Miao leben. Sie sam m elten die Aussprache der Wörter gem äß dem Internationalen Phonetischen Alphabet. U. a. ergab diese Untersuchung, daß es vier separate Hauptdialekte gab. Da nur ein geringer Teil des Wortschatzes Ähnlichkeiten aufwies, wurde die Schaffung von Schriften für jeden einzelnen Hauptdialekt beschlossen. Eine Schwierigkeit ergab sich dadurch, daß die Sprachstruktur der Miao-Sprachen 60—70 Grundtöne um faßte und einige Laute weltweit ohne Parallele waren. Frühere, von Missionaren geschaffene Schriften, hatten dieses Problem nur zum Teil lösen können. Es wurde eine Schrift auf der Grundlage des lateinischen Alphabets entwikkelt, wobei alle vier Hauptdialekte ein gem einsam es Alphabet verwenden sollten, um längerfristig eine Angleichung regionaler Varianten und dam it die Schaffung einer einheitlichen Standardsprache zu erreichen. Die m eisten Laute dieses Alphabets (insgesam t

858

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

40) werden durch lateinische Buchstaben wiedergegeben, die übrigen sind dem Kyrillischen oder dem Internationalen Phonetischen Alphabet entlehnt, einige wurden neu geschaffen. Für stim m hafte bzw. stim m lose, aspirierte bzw. nichtaspirierte Konsonanten wurden verschiedene Buchstaben verwendet. Die zehn Tonhöhen wurden durch zehn Konsonanten am Ende jeder Tonsilbe m arkiert, dam it die richtige Tonhöhe erkennbar war. Als Aussprache jedes Dialekts wurde die Sprache des jeweils bevölkerungsreichsten Gebiets gewählt bzw. des Gebiets m it dem größten Prestige (in der Regel das lokal anerkannte politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum). Auf diese Weise wurden bis Ende der 50er Jahre zehn neue Schriftsprachen geschaffen, drei „reform iert„. Die politischen „Kam pagnen“ ab Ende der 50er Jahre, m it denen Mao das „Bewußtsein der Massen“ sowie der Gesellschaft verändern wollte, führten zur Einstellung all dieser Tätigkeiten. Die Nicht-Han Sprachen galten als Hort des Nationalism us und der Rückständigkeit, allein das Chinesische als Sprache des Fortschritts. Die „Kulturrevolution“ (1966—76) führte dann zum Verbot der Verwendung der Sprachen und Schriften der Nicht-Han Völker. Erst im Zuge der Reform - und Öffnungspolitik ab 1979 wurde wieder an die Politik der frühen 50er Jahre angeknüpft. Die Versuche, den Nicht-Han Völkern die chinesische Sprache und Schrift aufzuzwingen, war gescheitert. Die Menschen waren offensichtlich nicht bereit, sich dem Erlernen dieser für sie frem den Sprache zu unterziehen. Die Analphabetenquote blieb unverändert hoch, die Anzahl von Personen m it höherer Bildung aus Nicht-Han Völkern gering. Ein „Autonom iegesetz“ sicherte 1984 den Nicht-Han Völkern die Freiheit des Gebrauchs und der Entwicklung ihrer Sprachen und Schriften, Priorität für die Sprachen und Schriften der Nationalitäten, die in einem Gebiet die Autonom ie ausüben sowie den Gebrauch im Unterricht in Schulen m it einer Schülerm ehrheit aus den „Minoritäten“ zu. Abgesehen davon, daß es bisher keine Verwaltungsgerichtsbarkeit gibt, m it deren Hilfe derartige Rechtsansprüche durchgesetzt werden könnten, sind diese Klauseln bis heute nicht realisiert worden.

der Verwendung der Sprachen und Schriften in vielen Bereichen gegeben und gibt es — zum indest in den größeren Sprachen — Zeitungen, Zeitschriften und Bücher in begrenztem Um fang, doch die Problem e gehen tiefer. Die Sprachen und Schriften der Nicht-Han Völker sind weitgehend auf die unteren Klassen der Grundschule beschränkt, spätestens ab der Mittelschule wird Chinesisch zur Hauptsprache. Dies geschieht u. a. m it dem Hinweis, Chinesisch sei die Lingua franca. Selbst offiziellen Angaben zufolge gab es in 2/ 3 aller Schulen für Angehörige ethnischer Minoritäten Anfang der 90er Jahre keinen Unterricht in Minoritätensprachen. Das Gros der Nicht-Han Kinder verläßt die Schulen m it besserer Kenntnis der chinesischen als der eigenen Schrift. Die Folge ist, daß das Sprachniveau der Nicht-Han Völker gering bleibt, die Sprachen sich nur ungenügend entwickeln können. Sie werden zunehm end zur Sprache der Landbevölkerung degradiert. Da die Beherrschung des Chinesischen entscheidend für Einstellungen, Beförderungen und Aufnahm e an höhere Lehranstalten bleibt, sind Auffassungen wie die folgenden, auch unter den „Minoritäten“ weit verbreitet: die Schriften der „Minderheiten“ besäßen nur einen sehr begrenzten Anwendungsbereich und hätten keine Zukunft, oder Schüler aus den Nicht-Han Völkern hätten genug dam it zu tun, das Chinesische zu erlernen. Dies trifft besonders auf Personen zu, die die Sprache ihrer Nationalität nur noch gebrochen oder gar nicht m ehr beherrschen oder überwiegend Chinesisch sprechen. Dieser Kreis um faßt zu einem hohen Prozentsatz Personen, die in Städten oder Stadtnähe wohnen, eine höhere Bildung (weitgehend in Han-Um gebung) genossen haben oder als Funktionäre tätig sind. In der Vielnationalitätenprovinz Guizhou m achte diese Gruppe bereits Anfang der 80er Jahre 35% aller Angehörigen von Nicht-Han Völkern aus. Die Kinder von Funktionären oder Intellektuellen aus den „Minderheiten“, aus denen die neuen nationalen Eliten hervorgehen, verstehen zum großen Teil die Sprachen ihrer Eltern nicht m ehr. So werden diese Eliten sprachlich sinisiert. Wer eine Ausbildung in hanchinesischer Um gebung genossen hat und statt seiner Muttersprache Chinesisch spricht, gilt als loyaler und besser integrierbar und als separatistischen oder nationalistischen Tendenzen weniger zugänglich. Chinesisch ist nicht nur Lingua franca; darüber werden zugleich hanchinesische Wertvorstellungen und Verhaltensnorm en transportiert. Es fördert den Assim ilationsprozeß und

4.

Probleme

Zwar wird die Sprachenpolitik heute nicht m ehr so restriktiv gehandhabt, ist die Freiheit

71.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland

dient der Erhaltung des Vielvölkerstaates. Dieser Assim ilierungsprozeß ist bei vielen Nicht-Han Völkern schon recht weit fortgeschritten. Gleichwohl werden weiterhin neue Schriften geschaffen. Der Grund dafür liegt weniger in der m inoritätenfreundlichen Haltung der KP als in der Lehre, die diese aus dem Versuch der Zwangssinisierung der 60er und 70er Jahre zog. Zahlreiche Untersuchungen ergaben, daß in Gebieten, in denen Chinesisch alleinige Unterrichtssprache ist, die Schulbesuchsrate unter 50% lag, in Gebieten, in denen zunächst die einheim ische Sprache und Schrift gelehrt wird, die Schulbesuchsrate, das Niveau und Tem po der Erlernung der chinesischen Sprache und die Motivation zum Erlernen dieser Sprache beträchtlich stiegen. In Gebieten, in denen Nicht-Han Völker kom pakt zusam m enleben, verstehen chinesischen Untersuchungen zufolge lediglich zwischen 5 und 20% der Personen über 12 Jahre Chinesisch.

5.

Perspektiven

Mit wachsender Ethnizität setzt bei großen, kom pakt zusam m enlebenden Völkern auch ein sprachlicher Bewußtwerdungsprozeß ein. So wird von Ethnien m it verschiedenen Schriften im Interesse der Gruppenidentität und eines einheitlichen Sprachbewußtseins eine einheitliche Standardsprache verlangt (Miao, Yi, Mongolen, Dai, Yao). Die Dai setzten sogar die Wiederherstellung ihrer ursprünglichen, in den 50er Jahren reform ierten, Schrift durch, im Interesse der Kontakte zu Thailand. — Den großen Gruppen m it Außenkontakten m ag eine weitere Entwicklung, die auch die Schulen und Hochschulen erfaßt, gelingen. Den übrigen droht die Auszehrung aufgrund der Beschränkung auf das Land, die Grundschulen und die von der Regierung geförderte Durchsetzung m it chine-

71. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

859

sischen Begriffen. Daß diese Tendenz offiziell gefördert wird, erweist sich auch an Aussagen wie, daß es „der Wunsch aller Nationalitäten sei“, daß Chinesisch „zur gem einsam en Sprache“ werde.

6.

Literatur

Dreyer, J. T. 1978. Language Planning for China’s Ethnic Minorities. Pacific Affairs 51. Fu, Maoji. 1986. Zhongguo m inzu yuyan lunwenji (Abhandlungen über die Sprachen der Nationalitäten Chinas). Chengdu. Heberer, Thom as. 1984. Nationalitätenpolitik und Entwicklungspolitik in den Gebieten nationaler Minderheiten in China. Bremen. —. 1990. China and Its National Minorities: Autonomy or Assimilation? London. Luo, Runcang. (ed.). 1987. Zhongguo shaoshu m inzu yuyan (Die Sprachen der nationalen Minderheiten Chinas). Chengdu. Minzu yuwen yanjiu wenji (Aufsatzsam m lung über Studien der Nationalitätensprachen). Xining 1982. Poppe, N. 1965. Introduction to Altaic Linguistics, Ural-Altaische Bibliothek, Bd. XIV, Wiesbaden. Prunner, G. 1967. Die Schriften der nichtchinesischen Völker Chinas. Studium Generale 8. Purnell, H. C. (ed.). 1972. Miao and Yao Linguistic Studies. New York. Schwarz, H. G. 1962. Com m unist Language Policies for China’s Ethnic Minorities: The First Decade. The China Quarterly 12. Shafer, R. 1957/63. Bibliography of Sino-Tibetan Languages, 2 vols., Wiesbaden. —. 1966. Introduction to Sino-Tibetan, Wiesbaden. Tung, Tung-ho. 1953. Languages of China. Taipei. Zhongguo m inzu guwenzi yanjiu (Studien über die alten Schriften der Nationalitäten Chinas), Peking 1984.

Thomas Heberer, Trier (Deutschland)

Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland Allgemeines Das Mittelalter: exklusive Schriftlichkeit Die Zeit bis 1500: Entwicklung der Funktionalität von Schriftlichkeit Buchdruck und Reformation Die verbesserte Papierherstellung und die Zeit der ‘Multimedialität’ (1550—1700) Die Zeit der Aufklärung (18. Jahrhundert)

7. 8.

1.

Die ‘Massenalphabetisierung’ im 19. und 20. Jahrhundert Literatur

Allgemeines

Stellenwert und Verbreitung der Kulturtechniken Lesen und Schreiben resultieren aus der

860

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Notwendigkeit und der Funktion der geschriebenen Sprache und bem essen sich an der Anzahl derjenigen, die m it dieser Sprachform um gehen können. Die Zahl der Alphabetisierten ist schon für die Gegenwart schwierig zu erm itteln, um so m ehr für vergangene Zeiten (→ Art. 62). Denn die m ehr oder m inder verbreitete Lesebefähigung hinterläßt kein sichtbares Zeichen, und die Ergebnisse des Schreibens bedürfen personaler Zuordnungen, um Relationen zur Einwohnerzahl zu erm öglichen. Hierfür gibt es aber nur wenige Schnittstellen, wie etwa Heiratsprotokolle oder Militärrekrutierungen m it entsprechenden Unterschriftserfordernissen, die erst seit dem 18. Jahrhundert in der nötigen Anzahl vorliegen (Hinrichs 1982). Die Beantwortung der Frage, wer ist und vor allem wie viele sind in der Lage, Texte in geschriebener Sprache zu lesen bzw. diese zu schreiben, wird deshalb aufgrund von indirekten Zeugnissen, Beobachtungen und Indizien betrieben. Das Wissen über Stellenwert und Verbreitung der Schriftlichkeit gibt allerdings weitreichende Aufschlüsse über die Organisation von Staat, Gesellschaft und Kultur, so daß die Klärung dieser Schlüsselfunktion von großem Interesse für alle die Disziplinen ist, die m it der Erforschung historischer Entwicklungen befaßt sind. Bei den Versuchen, Genaueres über die Durchdringung der Verständigung m it der geschriebenen Sprache und dam it über den Rückgang des Analphabetism us in Erfahrung zu bringen, haben sich folgende Beobachtungsfelder als aufschlußreich herausgestellt. Sie werden allerdings von verschiedenen Wissenschaften untersucht und sind deshalb nicht im m er so verbunden, daß die bestm ögliche Analyse bereitstünde. Es sind dies vor allem: — die Sam m lung der Äußerungen über lesende und schreibende Zeitgenossen, die zeitgenössischen Aussagen über die Verbreitung von Lesen und Schreiben, ihre Verm utungen um die m ögliche Rezeption von Texten, Buchbesitz und Lesefrequenz. Dieser naheliegende Materialbereich birgt in sich schon alle Anzeichen der Zufälligkeit, ist also untauglich als Grundlage für Aussagen über flächendekkende Verhältnisse und zudem kaum in seiner Gänze erfaßt. Gleichwohl können sie Tendenzanzeigen sein, wie etwa die Aussage (1530), daß jeder „Bawer auff dem Land“ Predigten Luthers im Hause gehabt habe (Engelsing 1973, 36). — die Konservierungs- und Wiedergabem öglichkeiten von geschriebener Sprache und ihre

Techniken, also Handschrift und Druck. Hier weisen Exklusivität oder Intensität vor allem m it ihren Stückzahlen auf die Zahl der Leser hin. Die Anzahl von Handschriften, dann aber vor allem die Jahresm enge an Titeln der Druckwerke und die Auflagenstückzahlen sind eine wichtige Stütze der Kultur- und Buchgeschichtsforschung für die Bestim m ung des Verbreitungsvolum ens der Schriftlichkeit. Hier wird versucht, von der Menge der geschriebenen Texte auf die Anzahl der Beherrscher der Kulturtechnik zu schließen. — um gekehrt dazu geht die Beobachtung der Ausbildungsm öglichkeiten danach aus, die Zahl derjenigen zu bestim m en, die aufgrund ihrer absolvierten (Schul- oder anders erworbenen) Ausbildung Lesen und Schreiben gelernt haben. Lesen- und Schreibenlernen bedarf einer wie im m er gearteten institutionalisierten (Sekundär-)Ausbildung, die als Schul(und Universitäts)geschichte von der historischen Pädagogik erforscht wird. — diese Institutionalisierung unterliegt dem Einfluß der allgem einen Bewertung von geschriebener Sprache im Prozeß der gesellschaftlichen Organisation ihrer elem entaren Bereiche (Recht, Verwaltung, Kultur, Religion). Dieser Einfluß hängt von der Bewertung der Funktion ab, die der geschriebenen Sprache zuerkannt wird. Hier ist zu fragen, inwieweit die geschriebene Sprache unerläßlich ist oder nur m öglich oder nur erwünscht. Denn dies hat natürlich Auswirkungen auf den Drang zur Alphabetisierung des Einzelnen bzw. der ganzen Bevölkerung. — weniger beachtet in der allgem einen historischen Diskussion ist die Frage, ob denn die vorhandenen sprachlichen Gegebenheiten überhaupt für ihre Verwendung als geschriebene Sprache m it bestim m ten Anforderungen an Regelkonsistenz, Einheitlichkeit oder Abstraktheit genügen. Hier ist für Deutschland das Mehrsprachigkeitsproblem der geschriebenen Sprache (Latein, z. T. Französisch und Deutsch) zu beachten, das für einen längeren Zeitraum ausschlaggebend war und natürlich die Erlernung der Kulturtechnik über eine Frem dsprache zahlenm äßig vor allem im Mittelalter und der frühen Neuzeit eingeschränkt hat. Andererseits stellt die Sprachgeschichtsschreibung die Entwicklung des Deutschen fast ausschließlich als die einer geschriebenen Sprache dar, wofür ein gewisser Zwang der Quellenlage (schriftlicher Überlieferung) vorliegt, aber auch dezidierter Wille, nur die als wichtigste Sprachform angesetzte „Entwicklung der ‘Neuhochdeutschen Schriftsprache’ „ zu verfolgen (L. E. Schmitt 1966).

71.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland

2.

Das Mittelalter: Exklusive Schriftlichkeit

Ausgangspunkt für die Übersicht über den Vorgang und den Grad der Alphabetisierung in Deutschland ist der Stand im Mittelalter (→ Art. 40, 41), so wie er aufgrund der m öglichen Beobachtungen erm ittelt werden kann. Hier ist festzuhalten, daß die spätlateinische Schriftkultur im fränkisch-deutschen Bereich fast ganz zum Erliegen kom m t. Ihre Tradierung in Italien verm ag trotz gepfleger Verbindungen hier nichts zu bewirken. Zu stark ist das Selbstbewußtsein des bestim m enden Adels, der dieses u. a. auch aus der Freiheit und Spontanität des gesprochenen Wortes erhält: literarum peritia nemini militaturo obesse heißt es in der Vita des hl. Eckbert (12. Jahrhundert; Wendehorst 1986, 27) und Wolfram von Eschenbach läßt sein Autoren-Ich apodiktisch erklären: „schildes am bet ist m în art„ (Parzival 115, 11). Die Beherrschung von Lesen und Schreiben ist beschränkt auf den Klerus, der Rezeption und Produktion von Texten als ‘Gottesdienst’ versieht, und auf die höhere, eher höchste Verwaltung des Reiches, deren Beam te diese aufgrund einer klerikalen Ausbildung ausüben. Diese Ausbildung erfolgt in der Hauptsache in Dom - und Klosterschulen, wo die Kirche ihren Nachwuchs heranbildet, aber auch in einer schola exterior werden Laien Ausbildungsm öglichkeiten angeboten. Ihre Zahl ist allerdings nicht sehr groß. Für das 11. Jahrhundert zählt m an in Frankreich und am Rhein etwa 60 Dom - und Kathedralschulen (Engelbrecht 1982, 110); die Anzahl der Klosterschulen ist schwieriger zu erm itteln. Aber deren Schülerzahl von 10—30 ist auch bei der Bevölkerungszahl von ca. 7 Millionen (1000) bis 11 Millionen (1300) nicht geeignet, zu einer Erhöhung des Alphabetisierungsgrades beizutragen (Kellenbenz 1986, 120). Da für das Priesteram t m eist die Lesefähigkeit genügte (Boehm 1986, Sp. 2198), ist dam it nicht nur die gängige Trennung von Lesen- und Schreibenlernen festgehalten, sondern vor allem auch der Stellenwert der Alphabetisierung im Mittelalter: er war gering. Das kam vor allem in der sicherlich deutlichen ‘Karolingischen Minuskel’ zum Ausdruck, die m it ihrem ‘buchstabierenden’ Schreiben die einstm als vorhandene Kursive zurücknahm und den Schreibvorgang erheblich verlangsam te (Wendehorst 1986, 15). Ähnliches gilt für den schwierig handhabbaren Schreibstoff (Pergam ent), der zudem sehr kostspielig war.

861

Dazu korrespondiert, daß selbst Kleriker oftm als nicht alphabetisiert sind, was sicherlich auch dam it zusam m enhängen dürfte, daß das schriftlich tradierte Wissen gerade in den ‘älteren’ Orden (Benediktiner und Zisterzienser) sogar als „verwerflich“ erscheinen konnte (Berg 1986, 416). Das alles betrifft natürlich die lateinische Sprache, für die die genannte Alphabetisierung unternom m en wird, so daß für die Verschriftlichung und m ögliche Lektüre dieser Ausbildungsum weg genom m en werden m uß. Entsprechend sporadisch sind denn auch die Zeugnisse deutscher Schriftlichkeit vor 1200. Das hat dazu geführt, daß die Literaturgeschichtsschreibung für diesen Zeitraum alles auf Deutsch Verschriftlichte als ihren Objektbereich ansieht, näm lich vom Heldenlied über Übersetzungsliteratur bis zu Wörterverzeichnissen, diesen dann aber m it dem Verlauf der nachfolgenden Jahrhunderte im m er m ehr auf die genuine Literatur einschränkt. Sicherlich resultierte diese Ausrichtung aus den Überlieferungsbedingungen von Texten, doch hatte dies auch zur Folge, daß Stellenwert, Organisation und Funktion von Schriftlichkeit überbewertet wurde. Ihre starke, fast ausschließliche Beachtung ist jedoch eine Verengung des Bildungs- und Literaturbegriffs auf eine von Schreib- und Lesefähigkeit beherrschte Kultur (Boehm 1986, Sp. 2196), die den dam aligen Um ständen und Bewertungen der geschriebenen Sprache und der Schrift nicht gerecht werden kann. Die Beschränkung von Lesen- und Schreibenkönnen auf große Teile des Klerus und wenige Laien — die dies z. B. auch im Privatunterricht erlernen können (Meyer 1983) — bedeutet keineswegs, daß illiterat gleich ungebildet wäre. Ohne Zweifel beendet die lateinische Schriftlichkeit die reine Oralität im deutschen Sprachraum (Boehm 1986, Sp. 2198). Das klerikale ‘Monopol’ (Engelbrecht 1982, 135) bleibt aber deshalb wirkungslos, weil sich für die deutsche Sprache kein langwieriger Um setzungsprozeß abzeichnet — etwa in Form einer lateinisch-deutschen Mischsprache (Henkel & Palm er 1992, 16) —, diese vielm ehr schon früh gelungene sprachliche Gestaltungen aufweist (Isidorübersetzungen um 800), vor allem aber zum Ende des 12. Jahrhunderts m it der höfischen Literatur eine Sprache sichtbar wird, die alle Merkm ale eines differenzierten und durchstrukturierten Baues aufweist, so daß eine Verschriftlichung und Tradierung außerhalb oraler Bezüge m öglich ist. Das ver-

862

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

weist auf den Stellenwert verschrifteter Sprache in dieser Zeit, die aufgrund ihrer Rückbindung in die Lautlichkeit keineswegs den m öglichen Prim at in der Organisation der Verständigung erhält, da das m eiste Geschriebene laut oder halblaut gelesen (bzw. vorgelesen) wird und sogar vorsprechend geschrieben wird (Saenger 1982). Dies erhellt die Kennzeichnung der Schrift als sekundär, näm lich als Repräsentations- und Tradierungsm edium , nicht aber als selbständige in sich geschlossene sprachliche Gestaltungsm öglichkeit. Dam it m indert bzw. erübrigt sich die Notwendigkeit zur Beherrschung dieser Kulturtechnik, weil Analphabetism us nicht den Ausschluß aus wichtigen Verständigungsbereichen zur Folge hat. Exem plarisch hierfür ist die Praxis der Überm ittlung durch Brief und gleichzeitige m ündliche Mitteilung — sie ist m eist entscheidender als der öffentlich verlesene Brief (Köhn 1986).

herrscht wird, also m indestens ein Verm ittlernetz von Rezipienten besteht (Lesen, Vorlesen, Weitergeben). Diese m üssen ihre Kenntnisse in einem Lernprozeß erwerben, der zunächst einm al beschwerlich erscheint. Er erfordert eine zusätzliche Mühe, denn m it der schon vorhandenen m ündlichen Sprachfähigkeit liegen eigentlich ausreichende Kenntnisse vor. Mühe und Anstrengung werden den Ausbildungsprozeß durch die Jahrhunderte bis heute begleiten, da zur Einsicht in die Vorzüge die Notwendigkeit und der Vorteil hinzukom m en m uß. Mit Lesen und Schreiben als Gottesdienst, wie dies die klerikale Schriftlichkeit bestim m te, waren die Laien nicht zum Erlernen zu bewegen, und der Anreiz anregender belletristischer Lektüre reichte gewiß nicht aus. Zudem bedarf es für diese Ausbildung einer Lernstätte, die von den Interessenten erst einm al eingerichtet und dann betrieben werden muß. Solches entstand aus der Entwicklung des Wirtschafts- und Finanzwesens, das sich zunehm end m ehr die Eigenschaften der Schriftlichkeit zu Speicherung und Versendung von Inform ationen zunutze m achte. Schriftliche Mitteilungen ersetzen in vielen Fällen die beschwerlichen Reisen, Buchführung erm öglicht eine durchstrukturierte Planung (Wülfing 1983, Sp. 829). Kaufm ännische Kontore entstehen in Italien und Flandern schon im 12. Jahrhundert, in Nord- und Oberdeutschland (Hanse; Nürnberg, Basel, Augsburg) ab dem späten 13. Jahrhundert (Wendehorst 1986, 28). Wie im progressiveren Italien betreiben die Städte nunm ehr Schulen, die ganz unabhängig (Illm er 1971, 75) von klerikaler Ausbildung (Dom - und Klosterschulen) das Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen anbieten. Nach kurzer lateinischer Orientierung werden hier Hindernisse in der Erlernung von Schreiben und Lesen beseitigt: Deutsch wird zur geschriebenen Sprache, und die Schulen heißen in Absetzung zu den weiterbildenden Lateinschulen „Deutsche Schulen„. Sie breiten sich rasch aus und werden im 14. Jahrhundert auch in kleineren und m ittleren Städten betrieben. Ergänzt werden diese „Deutschen Schulen“ durch die Pfarrschulen in Stadt und Land, die zwar auf den Gottesdienst abstellen, aber dadurch auch Elem entarkenntnisse verm itteln. Nim m t m an einen pyram idenförm igen Aufbau für die Ausbildung im Spätm ittelalter an, so kann die Anzahl der bekannten weiterführenden Lateinschulen einen Eindruck für die sicher-

3.

Die Zeit bis 1500: Entwicklung der Funktionalität von Schriftlichkeit

Der Zeitraum vom Spätm ittelalter bis zur Aufklärung — in Jahreszahlen: von 1250 bis 1750 — ist geprägt vom Wandel und der Auseinandersetzung der Rezeptionsprinzipien geschriebener Sprache als dem allm ählichen Übergang vom Ohr zum Auge m it den entsprechenden Konsequenzen. Sie zeigen sich dann, wenn die quantitativ ergiebigen Bereiche der Verständigung m it den Mitteln und Anlagen der geschriebenen Sprache versehen werden. Dies sind die Belange öffentlicher, rechtlicher, wirtschaftlicher oder finanzieller Auseinandersetzungen und Festlegungen, die viele oder gar jeden betreffen und deshalb dann die Erlernung von Lesen und Schreiben attraktiv, lukrativ oder notwendig m achen. In der Erforschung hat allerdings der qualitativ interessantere Teil der Schriftlichkeit, die Literatur, ein wesentlich höheres Interesse gefunden, so daß der Grad der Kenntnisse im Lesen oder gar Schreiben an deren Rezeption gem essen wurde und aus seinem geringen Anteil auf das Gesamt geschlossen wurde. Anregungen, Aufforderungen und Angebote zur Ausbildung erstehen im Spätm ittelalter, also ab. ca. 1250, im profanen Bereich, dann aber auch im Bereich der religiösen und Allgem einbildung. Schriftlichkeit kann ihre Verständigungsund Darstellungsvorzüge besser dann entfalten, wenn sie vielfach be-

71.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland

lich größere Zahl an Deutschen und Pfarrschulen verm itteln. Für das Gebiet der heutigen Republik Österreich werden im 14. Jahrhundert 56 Lateinschulen nachgewiesen (Engelbrecht 1982, 361). Den Bem ühungen der Wirtschaft und des Finanzwesens entspricht die sich nun entfaltende Schrifttätigkeit in Recht und Verwaltung: Neben der Reichskanzlei nim m t der Ausstoß von Rechts- und Verwaltungstexten der landesfürstlichen und städtischen Kanzleien erheblich zu, und auch auf dem Lande werden die ersten Dorfordnungen verschriftlicht. Neben der Ausbildung und der Funktionalität erfährt nun die Beherrschung der Schriftlichkeit eine Aufwertung: Mitte des 14. Jahrhunderts bequem en sich auch die Landesfürsten dazu, selbst zu schreiben. Unterstützt und vorangetrieben wird diese Entwicklung durch eine Veränderung im Program m der christlichen Unterweisung: Die Bettelorden überführten lateinisch orientiertes Bildungsgut in deutsche Predigten (Henkel & Palm er 1992, 14) und boten eine verständliche zeitgenössische Allgem einbildung an, die Handbuch- und enzyklopädisches Wissen m it christlicher Exegese verband (Engelbrecht 1982, 182). Die Bestim m ung des Grads der Alphabetisierung vor den auch für sie bedeutenden Ereignissen des Buchdrucks und der Reform ation Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts leidet unter der Fixierung auf die schöne und Erbauungsliteratur. Engelsing (1973, 20) referiert nur diese und kom m t auf höchstens 3—4 Prozent Lesefähige in der Gesam tbevölkerung, was einem städtischen Anteil von 10 bis 30% entspräche (Wendehorst 1986, 32). Darin ist aber die Flut von Rechtsund Verwaltungsschrifttum nicht berücksichtigt, welches ja nicht nur geschrieben, sondern auch gelesen werden m uß, ebensowenig wie das Wirtschafts- und Finanzschrifttum , das sicherlich m it noch herberen Überlieferungsverlusten belastet ist als das übrige. Die Zahl der Lesefähigen m uß von daher erheblich höher gewesen sein — zum al Lesen im m er noch getrennt gelernt werden kann —, wenn auch die Lektürewahl nicht gleich ist. Das ergibt sich dann, wenn die Ausbildungsm öglichkeiten und ihre Frequenzen analysiert werden. So gilt beispielsweise für Franken zu dieser Zeit, daß dort alle Städte und die m eisten Märkte Elem entar- und weiterführende Schulen und ein entsprechend großes Einzugsgebiet haben (Endres 1983, 145). Für 1487 gibt

863

es für Nürnberg sogar die Zahlenangabe „pei vier tausend lerkneblein und m aidlein“ im Verhältnis zu ca. 40 000 Einwohner (Endres 1983, 150), so daß, nim m t m an die schulisch ausgebildete, erwachsene Einwohnerschaft hinzu, der Grad der Alphabetisierung wesentlich höher gewesen sein m uß: Deutschland hat um 1500 ca. 10 Mill. Einwohner (Engelsing 1973, 19; 12 Mill.: Kellenbenz 1980, 120; Wehler 1987, 69).

4.

Buchdruck und Reformation

Ein Ereignis des ausgehenden 15. Jahrhunderts scheint wie kein anderes die Entwicklung der Schriftlichkeit vorangetrieben zu haben: die Erfindung des Buchdrucks und sein rascher Ausbau. Ohne Zweifel bewirkt dieser gravierende Veränderungen, allerdings zunächst nur in Randbereichen und erst lange Zeit später auch beim Lesen- und Schreibenlernen. Der Buchdruck und seine ausgebaute Technik erm öglicht eine erheblich beschleunigte Herstellung größerer Stückzahlen eines Textes, eine weite Verbreitung und infolgedessen die gleichzeitige Verfügbarkeit für viele. Darin liegt die innovative Kraft, das Mom ent der Öffentlichkeit zu entwickeln, welches aber erst in der Moderne seine volle Wirkung entfaltet (Brem er 1986, 1384). Mitteilungen, Wissen, Fiktionen erhalten durch den Druck einen größeren und dam it auch schnelleren Um satz. Diese neue Herstellungstechnik differenziert den Produktions- und Abgabevorgang, in dem das (Autoren-) Manuskript nun gesetzt (Druckerei), verlegt (Verlag/Großhändler) und verkauft (Kolporteur, Buchhändler) wird, was den Herstellungsvorgang exklusiv m acht — etwa in dem Sinne, daß sich nur ausgewählte Texte für den Vertrieb lohnen. Der Buchdruck und seine Erzeugnisse (Bücher, Flugschriften und -blätter) sind von daher gesehen lediglich eine Verbesserung auf der Angebotsseite, die keineswegs eine unm ittelbare Verm ehrung des Lesen- und Schreibenlernens zur Folge hat. Das läßt sich an der Anzahl der gedruckten Bücher und ihrer Sprache verdeutlichen: bis 1520 liegen in Deutschland nach Schätzungen 16,9 Mill. Exem plare gedruckt vor, davon sind 946 000 auf Deutsch, also 5,6%, die restlichen im exklusiven Latein (Engelsing 1973, 18—19). Außerdem setzt der Kaufpreis Grenzen — ein Buch kostet ein m ehrfaches Monatsgehalt z. B. eines Schulm eisters; Flugschriften sind allerdings preiswert (Engelbrecht 1982, 209).

864

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Die Alphabetisierung bedarf des Anreizes, der Notwendigkeit und des Interesses an Lektüren. Insofern sind Druckm öglichkeiten und -werke Voraussetzungen, die genutzt werden können. Das geschieht in dem aufwühlenden, die Bevölkerung m obilisierenden Versuch, die Religion zu erneuern. Der Anreiz und die Notwendigkeit, lesen zu lernen, geht zunächst von den reform atorischen Schriften aus, die eine hohe Frequenz aufweisen. Man schätzt, daß allein Luthers Publikum eine Million zählt (seine Schriften kam en in ca. 200 000 Häuser bei durchschnittlich fünf Lesern; Engelsing 1973, 29). Entscheidend war natürlich die Ausrichtung des Glaubens auf den Wortlaut der Heiligen Schrift (sola scriptura: die Heilige Schrift als Ablösung der päpstlichen Autorität; vgl. Ehlich 1993, 189—190) und seine Übersetzung in eine allgem eine und weitgehend verständliche deutsche Sprache, so daß jeder anstrebte, eine Bibelausgabe zu besitzen, zum indest aber Zugang und Kenntnis zu haben. Durch den hohen Verbreitungsgrad dieser Übersetzung und das häufige Auswendiglernen von Teilen der Bibel wird die Grundlage für eine geordnete geschriebene Sprache bereitgestellt. Dies wird unterstützt m it der Durchsetzung des lutherischen Katechism us als obligatorischem Text der Elem entarschulen. Hierin liegt denn auch das zweite Mom ent für die Verm inderung des Analphabetism us in der religiös orientierten Bevölkerungsgruppe (also auch auf dem Lande). Die Reform atoren ordnen zwar vor allem die Lateinschule neu und fördern deren Ausbau, gleichzeitig aber kom m t es im Rahm en der zu erstellenden neuen Kirchenordnungen zu einer Übereinkunft m it den Interessen der etablierten Territorialstaaten und Städte hinsichtlich des Aufbaus einer zentralen Verwaltungsstruktur. Diese m uß sich der Schriftlichkeit bedienen und benötigt von daher ausgebildete Beam te in der Zentral-, aber eben auch in der Provinzial-, Kreis- oder Ortsverwaltung sowie als Ansprechpartner zunehm end m ehr Untertanen bzw. Bürger, die zum indest lesen, besser aber noch auch schreiben können. Die Kirchenordnungen werden deshalb m it Schulordnungen kom biniert, so daß nun der Staat zwar erstm als um die Ausbildung besorgt ist, allerdings im m er noch in Rücksicht auf die religiöse Bindung: „Der Buchstabenglaube [abgeleitet aus dem sola scriptura-Prinzip; s. o.] ist der Vater der Volksschule“ (Moog 1967, 149). Was hier überspitzend zusam m engefaßt

wird, ist ein weitgespanntes Program m zur Institutionalisierung des Lernens (Lundgreen 1980, 17). Die Anfänge hierfür nutzen den kirchlichen Im petus für die Religionslehre und den ökonom isch günstigen Gruppenunterricht (Zusam m enführung der Lernwilligen an einem Ort und zu einer Zeit), vor allem aber die ausgebildete Infrastruktur der kirchlichen Organisation: die Geistlichen am Ort halten die Schulaufsicht und besorgen das Lehrpersonal. Diese Regulierungen des Ausbildungswesens konkurrierten nun m it den eher m arktorientierten Angeboten der sog. Winkelschulen, die sich auf die Verm ittlung der Kulturtechnik, nicht aber die Erziehung überhaupt ausgerichtet hatten. Ihre Zahl ist unbekannt, sie scheinen aber ein wichtiger Faktor in der Alphabetisierung gewesen zu sein, der neben den etablierten Schulen weiterbesteht. Diese erhalten durch die vielen Schulordnungen entsprechenden Rückhalt (Zwickau, Braunschweig und Kursachsen 1528; Mecklenburg 1552; Württem berg 1559 u. a.; Schöneberg 1981, 156; Engelbrecht 1983, 44). Im protestantischen Bereich ergeben sich daraus dann doch beachtliche Schul-, Lehrerund Schülerzahlen: 1580 hat Kursachsen in rd. 40 Städten einen Lehrer, in rd. 45 Städten 2—3 Lehrer und in rd. 20 Städten 4—7 Lehrer, in Dresden 200 Schüler an deutschen und 70 an der Lateinschule, Lübeck zählt 1585 24 Schulen (Schöneberg 1981, 172 ff), Nürnberg zum Ende des 16. Jahrhunderts 75 deutsche Schulen und sogar ein Überangebot an „teutschen Schulmeistern“ (Endres 1983, 150). In den rekatholisierten Ländern Süddeutschlands kam es nach der Jahrhundertm itte ebenfalls zu einer Erneuerung und Ausweitung des Schulwesens durch Schulordnungen (Salzburg 1565, Wien 1579, Tirol 1586 u. a.; Engelbrecht 1983, 128—129). Die Festigung der Orientierung am Latein im höheren Schulwesen beider Religionen (Melanchthons Reform en um 1530 und die jesuitische ratio atque Institutio studiorum„ von 1599; Ham ann 1986, 34; Engelbrecht 1983, 154) legte die Teilung der geschriebenen Sprachen in Latein und Deutsch bis weit in die Moderne hinein fest. Dam it war die Verbindung aller Bereiche der geschriebenen Sprache und ihrer Textarten erschwert und teilweise sogar verhindert (Gebrauchsverbot für Deutsch an Gym nasien; Engelsing 1976, 40), so daß hierdurch die Entwicklung der Alphabetisierung m öglicherweise verlangsamt wurde (Schöneberg 1981, 151).

71.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland

5.

Die verbesserte Papierherstellung und die Zeit der ‘Multimedialität’ (1550—1700)

Es ist allerdings die Frage, ob hier nicht die exklusive Bildung und ihre Schriften als alleiniger Teil für ein Ganzes genom m en wird, das deutlich andere Anzeichen erkennen läßt. Sicherlich stagniert die Buchproduktion und im m er noch dom inieren die lateinischen Titel (Engelsing 1976, 43). Doch bleibt dabei unbeachtet, daß eine m öglicherweise folgenreichere Erfindung die Produktionsm öglichkeiten in der geschriebenen Sprache erheblich vereinfachte, vor allem preislich erschwinglich m achte: der Beschreibstoff Papier und seine im m er weiter verbesserten Herstellungsm öglichkeiten. Nach Errichtung von Papierm ühlen Ende des 14. Jahrhunderts gab es schon im 15. Jahrhundert ein reichliches und preiswertes Angebot (Engelbrecht 1982, 243). Mit der Einführung des leichter zu handhabenden Gänsekiels — statt der Rohrfeder — und der Kursive steht dem schnellen Notieren, Festhalten von Texten, Produktion von Notizen und Schriftsätze ein geeignetes Instrum entarium zur Verfügung. Folgerichtig geht die Produktion von handgeschriebener Schriftlichkeit nicht zurück, sondern wächst erheblich an. Denn erstens ist der Buchdruck als Textherstellung kom plizierter (Manuskript bis Druck), zweitens erfordert er für die Produktion und Rezeption eine vorausgehende und begleitende m anuelle Schriftlichkeit, drittens aber gibt es sehr viele Schreibnotwendigkeiten, für die der Druck gar nicht lohnt oder zu kostspielig ist. Diese m anuelle Schriftlichkeit unterliegt freilich einem hohen Verbrauch und ist von daher mit hohen Überlieferungsverlusten behaftet. Trotzdem ist die Fülle des Bewahrten so erheblich, daß dieser Produktionsbereich natürlich für die Bewertung der Alphabetisierung herangezogen werden m uß. Das gilt zunächst einm al für die Texte der im weitesten Sinne wissenschaftlichen und Gebrauchsliteratur sowie der Belletristik, die nicht zum Druck kom m t, gleichwohl aber produziert und rezipiert wird (Bremer 1986, 165—167). Wieder ist es die direkte Nutzanwendung zur Verbesserung von geregelten Abläufen, die zur Produktion von Schriftlichkeit in vielen Bereichen der alltäglichen Verständigung führt. Die Fülle schriftlicher Texte ist heute noch greifbar vor allem in den Bereichen der Rechtsprechung und -verhandlung, der Verwaltung, des Wirtschafts- und Finanzwesens

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aus der Zeit von 1500 bis ins 19. Jahrhundert. Diese besteht aus den Akten, Unterlagen, Gutachten etc. aller Rechtssprechungsinstanzen und -form en bis zum Reichshofgericht (Wien) und Kam m ergericht (Wetzlar), dem Verwaltungsschrifttum der Gem einden, Gerichte, Städte, Herrschaften bis zum Reichstag, also aller Verwaltungsinstanzen und -behörden des Alten Reichs, dem Wirtschafts-, Steuer-, Finanz- und speziellen Verwaltungsschrifttum der Grundherrschaften. Natürlich gehören die Schreiber und Leser vieler dieser Texte dem ohnehin ausgebildeten Stand der kleinen Schicht von geschätzten 10—15% an. Dennoch wird neuerdings m it der Erforschung der ländlichen Rechtsquellen (Blickle 1989) deutlich, daß die ländliche Bevölkerung m it der sie betreffenden Schriftlichkeit befaßt war (Knoop 1992, 181—192). Denn die dort niedergelegten Bestim m ungen gingen aus Verhandlungen hervor, dienten dem Rechtsfrieden und der Wirtschaftsregelung und waren für beide Teile, also auch für die ländliche Bevölkerung, justitiabel. Welche Ausm aße dieses Schrifttum angenom m en hat, m ag eine Mengenangabe aus dem Bereich des Herzogtum s Württem berg illustrieren. Dort beläuft sich die Anzahl der Textart „Lagerbuch bzw. Urbar“ — also Bestandsaufzeichnungen vor allem rechtlichen und wirtschaftlichen Inhalts — für den Zeitraum von 1500—1900 auf 15 000 Bände oder 800 lfd. m Regalfläche. Hochgerechnet auf das vergleichbare Schrifttum im ganzen Reich würde dies bei dem Ansatz ‘Bevölkerung von Württem berg 1/38’ — etwa Mitte des 18. Jahrhunderts 450 000 : 17 Millionen (Wehler 1987, 70) — an die 570 000 Bände allein dieser Textart ergeben (Richter 1979, 26). Die Menge der ‘Beraine’ aus Baden (Richter 1979, 33: 12 000 Bände) oder die Sichtung der fränkischen Gem eindearchive (Scherzer 1976, 40) bestätigen dies in der Tendenz. Diese Fülle handschriftlichen Schrifttum s wird noch ergänzt durch das reichliche kirchliche und private (Ausbau des rein handschriftlichen Postwesens), so daß vom Textangebot und der alltäglichen Notwendigkeit der Um setzung das Ausm aß der Alphabetisierung anders gesehen werden m uß. Denn viele Indizien sprechen dafür, daß die Verwendung der geschriebenen Sprache geläufiger war. Hier ist zunächst die Veränderung in der Präferenz der Universitätsfakultäten zu nennen, die natürlich am ehesten greifbar ist und m it dem sprunghaften Anstieg der Jura-Stu-

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

denten gegenüber den bis dahin dom inierenden Theologen anzeigt, daß Rechtsprechung und Verwaltung ausgebaut werden (Schöneberg 1981, 157). Bedeutsam für die Sicht auf die m öglichen Ausbildungswege ist hierbei, daß ein hoher Anteil der Studenten aus den unteren Bevölkerungsschichten kom m t (Engelbrecht 1983, 205 u. ö.). Dem entspricht die schon genannte Ausweitung der öffentlichen Verständigung durch die Schriftlichkeit in vielen Territorien und Städten, was andererseits die entsprechenden Fähigkeiten in den Äm tern, vor allem aber auch den Dörfern voraussetzt (z. B. Schriftfähigkeit für die Dorfverwaltung in Kursachsen: Klein 1983, 830 u. 834). Die Verwaltungen achteten deshalb zunehm end darauf, daß sie schriftfähige Vertreter einsetzten, und erhoben dies zum Einstellungskriterium (Wunder 1986, 90). Diese war zuvörderst über die Schule zu erwerben, doch kam alsbald die entsprechende Ratgeberliteratur auf: die Schreiblehrbücher (das erste bekannte von Fabian Frangk 1525; Engelsing 1973, 34—35). Diese waren natürlich für die Herstellung von handschriftlichen Texten gedacht und werden deshalb auch ausdrücklich den Verwaltungsbeam ten em pfohlen bzw. sogar ausgehändigt. Sie sind z. T. selbst handschriftlich für den spezifischen am tlichen Verständigungsprozeß angelegt (Richter 1979, 63). Das sind allerdings nur Sym ptom e und Annäherungswerte an eine m öglicherweise höhere Alphabetisierung als in der diesbezüglichen Literatur angenom m en wird. Hier geht m an davon aus, daß in dem Zeitraum von 1550 bis 1750 die Rate stagniert (Martino (1976, 111) schätzt das literarische Publikum auf 60 000) und allenfalls eine absolute Zunahm e zu verzeichnen ist aufgrund der zum Ende des 17. und im 18. Jahrhundert wieder zunehm enden Bevölkerungszahl (Engelsing 1973, 50: 5—10% 17. Jh.; 62: 15% für 1770). Dem liegt allerdings die Vorstellung zugrunde, daß vor allem Bücher gelesen werden und aus ihrer Zahl auf die m öglichen Leser rückgeschlossen werden kann. Dies kulm iniert in dem sachlich richtigen Titel „Volk ohne Buch“ (Schenda 1970), der aber gerade nicht auf die bevorzugte bzw. notwendige Lektüre der Bevölkerung abhebt, vor allem nicht auf die handschriftliche. Vielm ehr liegt dieser Analyse die Vorstellung von der ‘guten’ Lektüre zugrunde und die ist verm öge ihres Anspruchs exklusiv, näm lich hinsichtlich Voraussetzung, Inhalt und Preis. Auch ein neuerer Versuch, die Textsorten des „Alltags“ auch

im Bereich der Verwaltung und des Rechtswesens in die Schriftproduktion aufzunehm en (Kästner et al. 1986, 1357), setzt die Gruppe der Rezipienten, also Leser dieser Textgruppen, im m er noch in der kleinen Schicht der Buchleser an: Adel, Patrizier, Gelehrte/Literaten und ihre Bibliotheken (1360—1361). Mit diesem exklusiven Blick auf die Bücherrezipienten bleiben die Schriftrezipienten der Rechts-, Verwaltungs-, Wirtschafts- und Finanzliteratur unberücksichtigt, obwohl sie doch an der Form ulierung, der Reaktion und der Lektüre aktiv beteiligt sind (vgl. hierzu Glück 1987, 189 ff). Aber es gibt noch einen weiteren Bereich geschriebener Sprache, der auch den unteren Bevölkerungsschichten zugänglich zu sein scheint, weshalb deren Lesefähigkeit größer anzusetzen ist. In der Zeit zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert entsteht eine große Anzahl von Textproduktionen in geschriebener Sprache bzw. Mitteilungsform en, die in Teilen geschriebene Sprache enthalten. Texte solcher Art sind Schwank- und Erzählsam m lungen, Kalender, Ratgeberliteratur, Einblattdrucke und ‘Zeitungen’, bzw. Neuigkeitsblätter u. v. andere m ehr. Wenn Siegert (1978, Sp. 592) auf diese Textarten verweist und m it ihnen gegen die Annahm e geringer Alphabetisierung argum entiert, dann ist ein entscheidendes Mom ent dabei zu berücksichtigen: der Status der geschriebenen Sprache bzw. die Vielfältigkeit ihrer Rezeption. Dadurch, daß das laute Lesen als Existenzform der geschriebenen Sprachform gerade in den unteren Bevölkerungsschichten aber auch für bestim m te Textbereiche (Belletristik) noch lange nach dem Hum anism us und auch über das 18. Jahrhundert hinaus gültig war, kam der geschriebenen Sprache keine Eigenständigkeit zu (Schön 1987, 100 ff). Sie war, wie die zeitgenössische Beobachtung zu Recht feststellte, ‘sekundär’, wurde also nicht als selbständige Überm ittlung genutzt (Knoop 1993, 222). Mit der ‘Verlautbarung’ der geschriebenen Sprache war diese in einen weitreichenden sinnlichen Prozeß eingebunden (Schön 1987, 83 ff), der dazu führte, daß der Besitz von Schrifttexten im m er auch seine Verm ittlung an andere bedeutete, sei es als Weitererzählen oder das exzessiv wahrgeno m m ene Vorlesen (Schön 1987, 180 u. 242). Dam it ist die sim ple Entgegensetzung ‘gesprochene’ und ‘geschriebene’ Sprache relativiert. Mit dem Aufkom m en des Medium s Schrift, erst recht aber m it der Fülle geschriebensprachlicher Texte seit 1500, gibt es keine

71.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland

reine Qualität m ehr, also auch keine Sprache m ehr, die allein den Gesetzen m ündlicher Form ulierung und Tradierung (Assm ann & Assm ann 1988) folgen könnte. Denn die Fixierung im Schrifttext entscheidender Mitteilungen richtet auch das Sprechen eines jeden auf die Form ulierung hin aus (Knoop 1993). Die kulturelle und soziale Organisation des Lebens in der frühen Neuzeit war allerdings solcherm aßen, daß sie ihre Mitteilungen auch und gerade aus der stum m en und sinnlichen Eingeschränktheit in die für sie entscheidende gesellige Sinnlichkeit um setzte. Erst spätere Zeiten entdecken die reichhaltigen Möglichkeiten, die in der Einschränkung dieser Sinnlichkeit liegen. In der frühen Neuzeit wurde die geschriebene Sprache nicht nur verlautbart, sie wurde auch m it anderen Medien verbunden und unterstützt, näm lich durch das Bild auf den vielfältigen Mitteilungsform en der „Bilderzeitungen“, Bilderbogen, illustrierten Flugblättern bis hin zu den Spielkarten (Brückner 1979), Ton bzw. Melodie vor allem der Liedertexte weitgespannter Inhaltsbereiche — Zeitungslieder, Gesellschaftslieder, geistliche Lieder — (Brednich 1974; Moser 1981) oder Gestik bzw. Gebärde im weltlichen, geistlichen oder Kalender(schau)spiel (Hess 1976; Martens 1981; Moser 1981). Die Einbindung der geschriebenen Sprache in vielfältige Um setzungsm öglichkeiten gestattete es dem Einzelnen, den dam aligen Um ständen entsprechend an Erbauung, Unterrichtung und Inform ation teilzuhaben, ohne unbedingt um fassende oder grundlegende Lese- oder gar Schreibfertigkeiten zu erwerben. Andererseits war ausreichend Anreiz vorhanden, sich diese Fertigkeiten eher inform ell, aber auch form ell (Schule) anzueignen. Diese gem ischten Verhältnisse zeichnen das 16., 17. — m it seinem kriegsbedingten Rückgang der Bevölkerung und jeglicher Produktion — und den Beginn des 18. Jahrhunderts aus und stellen einen Zustand dar, der treffend m it dem Begriff der ‘Multim edialität’ gekennzeichnet wird (Breuer 1985, 35). Diese hatte zur Folge, daß der Anreiz zu einer Ausweitung des m assenhaften und organisierten Schreiben- und Lesenlernens ausblieb. Das ist ablesbar an der Bücherproduktion des Zeitraum s (1550—1750): sie stagnierte, ging während des Dreißigjährigen Krieges natürlich stark zurück und erreichte erst wieder zu Beginn des 18. Jahrhunderts die alte Größe der frühen Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts. Im 17. Jahrhundert entstanden

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200 000 gedruckte Schriften, davon knapp ein Drittel auf Deutsch (Engelsing 1973, 43 f; Wehler 1987, 304). Zeitungen und Flugschriften, die nun verm ehrt aufkam en, bereicherten sicherlich das Angebot, hoben aber die Exklusivität dieser Form der geschriebenen und gedruckten Sprache nicht auf. Diese am ehesten erfaßbaren Schrifttexte hatten einen in etwa gleichbleibenden Leserkreis vor allem unter den Gelehrten im weitesten Sinne (v. Ungern-Sternberg 1980, 137). Textart (zur Hälfte Theologisches) und Anschaffungspreise (ein Buch kostete in etwa das Monatseinkom m en eines Schulm eisters; Martino 1976, 110) bewahrten diese Exklusivität. Adel und untere Schichten hatten andere Bildungsund Lesebedürfnisse und verspotteten die Buchgelehrsam keit (Engelsing 1976, 50—51) bzw. letztere fürchteten bei zuviel Lektüre einen Rückgang der Arbeitsm oral (Engelsing 1973, 79 ff). Die Zahlen für Schulen und Schulbesuch werden genauer, insbesondere die größeren Städte verfügen durchweg über m ehrere öffentliche Schulen. Auch auf dem Lande verfestigte sich der Schulbesuch wenigstens während der Winterm onate, so daß die Schätzungen auf den Schulbesuch von etwa einem Viertel der Kinder hinauslaufen (Engelsing 1976, 49). Die geschriebene Sprache und ihre Texte haben sicherlich einen festen Platz im Verständigungsgefüge der frühen Neuzeit gefunden, aber der Prim at der Verlautlichung gerade auch im Alltagsschrifttum von Verwaltung, Recht und Trivialliteratur erübrigen eine durchgängige Beherrschung von Schreiben und Lesen.

6.

Die Zeit der Aufklärung (18. Jahrhundert)

Dieses Verhältnis zu Lesen und Schreiben veränderte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts grundlegend. Abzulesen ist dies an dem erheblich verm ehrten Leseangebot aufgrund des rasch ansteigenden Buchdrucks, des Tagesschrifttum s und des Verwaltungs- und Rechtsschrifttum s. Die Zahl der gedruckten Schriften beträgt im 18. Jahrhundert rund 500 000, wovon allerdings allein zwei Drittel in die aufstrebende Zeit des Jahrhundertendes fallen (Wehler 1987, 304). Lange unterschätzt, hat sich das Zeitungs- und Zeitschriftenwesen kräftig entwickelt und erreichte m it ca. 300 000 Stück geschätzter Gesam tauflage ca. 3 Mill. Leser (Wehler 1987, 307). Die Begrün-

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

dung des m odernen Staatswesens beruht auf der Bürokratisierung der Verwaltung verm öge der Schriftlichkeit, so daß hier ebenfalls Notwendigkeiten zur Lektüre und zum Schreiben in großer Zahl entstehen (Lundgreen 1980, 27). Zur Jahrhundertm itte wird auch die Schreibleistung erstm als faßbar: eine flächendeckende Erfassung der Signierfähigkeit in vor allem westlichen Regionen des Reichs zeigt eine Schreibfähigkeit bei m ehr als 60% der ländlichen (!) Bevölkerung an (Hinrichs 1982). Diese Angebote und Notwendigkeiten resultieren aus einer Um gestaltung der Funktionalität der Schriftlichkeit: die geschriebene Sprache erhält einen anderen Stellenwert und wird zur beherrschenden Sprachform . Diese Veränderung wird von den Zeitgenossen durchaus registriert. Die lexikalischen Bestim m ungen von ‘Sprache’ ändern sich. ‘Rede, sermo’ wird zu einem grundsätzlichen ‘Ausdrucksverm ögen’, das alleinige Anliegen der Rhetoriken (Rede) tritt zugunsten des viel schwereren Schreibens in den Hintergrund (Knoop 1993, 222), so daß das Verdikt, das Kant dann über die Rede ausspricht, hier seine Entsprechung hat: sie sei keiner Achtung würdig, da sie eine Kunst sei, die sich der Schwäche der Menschen bediene (KrdU § 53). So kom m t es, daß sich die Stim m en m ehren, die auf eine Individualisierung des Lesens abheben, also die Entbindung aus der m ultim edialen Geselligkeit, vor allem aber der Verlautbarung der Schriftlichkeit. Dies geht einher m it einer gravierenden Um gestaltung der Lesetechnik bzw. des Leseverhaltens. Waren bisher letztlich viele Sinne an der Rezeption der geschriebenen Sprache beteiligt, insbesondere der Gehörsinn als eigentlicher Bereich der Rezeption, so geht m it der alleinigen Lektüre auch der Prim at der Rezeption an den Gesichtssinn, das Auge über. Das zunehm ende stum m e Lesen beläßt den entnom m enen Sinn der Lektüre beim Individuum , das nun ganz im Sinne der aufklärerischen, m odernen Ideen diesen prüft, beurteilt und dann für sich selbst darüber entscheidet. Die Konzentration auf das alleinige Augenlesen hat zwei Konsequenzen: die Lektüre wird schneller und erm öglicht dadurch eine größere Kapazität, dem um gekehrt das höhere Lektüreangebot zum Jahrhundertende entspricht und das ja dann bis heute exorbitant hohe Zahlen erreicht hat. Der Anreiz dieser Lektüre besteht in dem Neuen, Interessanten oder Wichtigen, das zur Kenntnis genom m en werden soll, will oder m uß und das zu einer

Ablösung der ‘Wiederholungslektüre’ aus der Kultur der Multim edialität führt. Diese war in den Begriffen von Engelsing „intensiv“, d. h. konzentriert auf eine Textart — m eistens die Bibel — und erbrachte die Kenntnis dieser Texte durch Wiederholung bis hin zum Auswendigkönnen. Nun wird die Lektüre „extensiv“, so daß nach der Lektüre des einen weitere Texte gelesen werden, was ja am Anstieg der Zeitungsexemplare deutlich wird. Die Lektüre wird nun so extensiv, daß alsbald Stim m en laut werden, die vor einer ausbrechenden Lesesucht warnen — sie halte von der Arbeit ab — und die anzeigen, daß das Lesen gerade in den unteren, ‘arbeitenden’ Bevölkerungsschichten signifikant Fuß gefaßt haben m uß (Engelsing 1973, 79; Schön 1987, 243). Denn an einer Ausbildung in Lesen und Schreiben ist nun nicht m ehr allein das neugierige Individuum interessiert, sondern der m ittlerweile entwickelte neuzeitliche Verwaltungsstaat, der zum indest lesefähige Untertanen braucht, um seine zentral orientierte Weisungs- und Organisationsstruktur nutzen zu können. Deshalb wird der Ausbildung m ehr staatliche Aufm erksam keit zuteil und das vorhandene Schulangebot in die zunehm end m ehr ausgesprochene Schul p f l i c h t umgewandelt. In kleineren Staaten kam es schon im 17. Jahrhundert zur Form ulierung des verpflichtenden Schulbesuchs (Weim ar 1619; vor allem aber im sog. Gothaer Schulm ethodus von 1642; Württem berg 1649; Wehler 1987, 285), in Preußen (Generallandschulreglem ent 1763), Sachsen (1763) und Bayern (1774) erst im 18. Jahrhundert. Zusätzlich dazu wurde auch eine schulische Verwaltungsstruktur aufgebaut, die sich von den ‘geistlichen Angelegenheiten’ absetzte (Preußisches Oberschulkollegium 1787; bayerisches ‘General-, Schulen und Studien-Direktorium ’ 1799). Auch das Problem einer spezifischen Lehrerausbildung wurde angegangen (Lehrersem inare in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts; Kuhlem ann 1992, 99—100). Selbstverständlich litt das Schulwesen unter dem sporadischen Besuch (‘Winterschule’), fehlender oder schlecht ausgebildeter Lehrer und der m inim alen finanziellen Ausstattung (Kuhlem ann 1992, 105). Es gibt jedoch in den einzelnen Ländern des Alten Reichs eine große Schwankungsbreite hinsichtlich des Schulbesuchs, so daß die pauschalen Schätzungen über die Alphabetisierung im ganzen deutschen Sprachgebiet auf ca. 25% (Engelsing 1973, 62) deshalb kein sprechendes Abbild geben, weil einzelne Re-

71.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland

gionen sehr stark vorangekom m en waren: Württem berg, Sachsen, Thüringen, Gotha oder Oldenburg m it z. T. über 60% Schreibfähigen um 1800 (Hinrichs 1982). Im 18. Jahrhundert kam en auch die Bem ühungen um die Einheitlichkeit der Sprache zu dem Ergebnis einer Kodifikation der Norm und dam it einer Zurückdrängung der regionalen oder dialektalen Besonderheiten in der geschriebenen Sprache. Diese Einheitlichkeit, vor allem aber die Regelregistrierung, war Voraussetzung für die rein visuelle Lektüre (‘Augenlesen’) und die entsprechende Weitergabe in den Folgetexten (Knoop 1990; 1993). Für diese Regulierung wurde vor allem die Morphologisierung der Sprache ausgenutzt und in das Schriftbild der Wörter eingebracht (Eisenberg 1983, 63). Sie gewährleistet eine ökonom isch sinnvolle und hierarchisch höhere Orientierung der Schrift an der Wortbildung. Gleichwohl gewann die daraus abgeleitete Orthographie einen ungebührlichen Stellenwert in der Lernhierarchie, der seine Plausibilität erst aus der Verknüpfung m it der notwendig gewordenen Aufgabe der Anleitung und Regulierung der Untertanen durch die sich als ‘Wohlfahrtsstaat’ verstehende Obrigkeit erhält. Der Selbstzweck des Lesen- und Schreibenlernens wird m it der Agentur Schule in einen Erziehungsgang eingebunden, der unter das Stichwort „Sozialdisziplinierung„ zu stellen ist (Oestreich 1968) und ein ‘ordentliches Verhalten’ innerhalb einer nun arbeitsteilig werdenden Gesellschaft und Ökonom ie zum Ziel hat (Lundgreen 1980, 30—31). Als „Industrie“ m einte es den durchgängigen Fleiß im Gewerbeleben und Ackerbau, der zu einer Kontinuität der Arbeitsleistung führen sollte, so daß die zunehm end divers werdende Herstellungs- und Erwerbsstruktur auf die entsprechend ausgebildeten und bereiten Teilnehm er rechnen konnte (Wehler 1987, 286).

7.

Die ‘Massenalphabetisierung’ im 19. und 20. Jahrhundert

Die Notwendigkeit von Lesen- und Schreibenkönnen aufgrund der Dom inanz der geschriebenen Sprache geht einher m it dem erheblich verbesserten und erweiterten Angebot der Medien. Revolutionäre Neuerungen in Herstellung, Vertrieb und Preisgestaltung m achten die Lektüre erschwinglich (vgl. Glück 1987, 190 ff). Nun war die Funktion

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der Schriftlichkeit voll einsehbar geworden, weshalb der Ausbildungsinstitution Schule eine zentrale Bedeutung zukam . Die großen Anstrengungen für ihren Ausbau, ihre Konsolidierung, ihre funktionierende Organisation, die nun im 19. Jahrhundert unternom m en werden, resultieren allerdings nicht nur, m öglicherweise gar nicht einm al in erster Linie aus der Absicht, die Kulturtechnik Lesen und Schreiben zum Zwecke der Lektüre, m öglicherweise sogar noch der ‘guten Literatur’, des Buches also, zu vermitteln. Denn die nun ergriffenen Maßnahm en zur Belehrung aller ‘schulpflichtigen’ Kinder m it Lesen- und Schreibenkönnen wird von der Notwendigkeit dazu nicht gedeckt. Der Rückgang der Alphabetisierung vieler Einwohner im späteren Alter m ag zwar als ‘Kulturverfall’ registriert werden, strukturell betrachtet deutet das eher auf eine nachlassende oder gar nicht erforderliche Funktion der geschriebenen Sprache in bestim m ten Bereichen des Lebens und Arbeitens bei einigen Gruppen der Bevölkerung hin (König 1977, 139): „Schriftkultur setzt keine Massenalphabetisierung voraus“ (Glück 1987, 175). Der Verzicht auf eine ‘Alphabetisierung der Massen’ stößt allerdings auf den Widerspruch nicht nur der Kulturinteressierten, sondern vor allem des Gewerbes und der Verwaltung, die m it dem Lesen- und Schreibenlernen offensichtlich m ehr verbinden als nur die Erlernung einer Kulturtechnik. Vielm ehr wird hier eine Instrum entalisierung bestim m ter Erfordernisse beim Erlernen und Einüben von allgem ein notwendigen Verhaltensweisen vorgeno m m en. Schreibenlernen und das nunm ehr angestrebte ‘Augenlesen’ haben Abstraktionsvorgänge zur Voraussetzung, die vom ‘Stillsitzen’ über die Konzentration bis zur Planung (des Textaufbaus) und dem Bedenken der Schrittabfolge bzw. dem Rückerinnern oder textlichen Rückbezug reichen. In einer erzieherischen Aktion können diese kognitiven Werte in die erwünschten Fähigkeiten eines verläßlichen Staatsbürgers um gesetzt werden (Wehler 1987, 283), der dann über eine verinnerlichte Ordnung, Pünktlichkeit, Fähigkeit zur Zeiteinteilung, Sinn für Folgerichtigkeit und Konzentration verfügen sollte (vgl. Glück 1987, 180 ff). Welche Bedeutung diese Instrum entalisierung bis in das 20. Jahrhundert hinein hatte, m ag der Kam pf um die staatlichen Mittel für den Schulausbau belegen, der diese vom dam als fast sakrosankten Militärhaushalt erfolgreich abzweigte, und zwar aufgrund des Argu-

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

m ents, das nach den Reichsgründungskriegen (1864, 1866 und 1871) fast schon stereotyp angebracht wurde: der deutsche Schulm eister, sprich seine Ausbildung der späteren Soldaten, habe diese Siege herbeigeführt (Engelsing 1973, 102). Diese Aufgabenstellung der Schule als Elem entarerziehungs- und Bildungsinstitut erfordert die lückenlose Erfassung aller Kinder, so daß das Lesen- und Schreibenlernen über diesen erweiterten Aspekt zu einer Alphabetisierung m öglichst aller (‘Massenalphabetisierung’) wird. Um die letzten zu erfassen, reicht aber die Feststellung einer Schulpflicht nicht aus. Es erfolgt deshalb eine Altersfestlegung für den Schulbesuch (ab 6 Jahre) und die Norm ierung der Schulpflicht als Schul z wa n g, so daß das Fernbleiben sanktioniert werden konnte (Lundgreen 1980, 33). Haft oder Geldstrafen brachten den gewünschten Erfolg (Engelsing 1973, 102). Für das Jahr 1816 wurden für Preußen 2,2 Mill. schulpflichtige Kinder gezählt, von diesen besuchten 1,3 Mill. (= 60%) die öffentlichen Schulen (Kuhlem ann 1992, 107). Bis 1864 verdoppelt sich diese Zahl auf ungefähr 2,9 Mill. Kinder. 1895 kam en Schulversäum m nisse im ganzen Reich kaum noch vor (igs. 500 bei 5,3 Mill. Schulkindern; Engelsing 1973, 105). Der völlige Wegfall des Schulgeldes wurde 1888 verfügt (Bölling 1983, 13). Wie zu erwarten, entsprach dieser Quote der Aufbau der Infrastruktur nicht. Denn die Um wandlung des nebenberuflichen Lehreram ts über eine Sem inarausbildung in einen Hauptberuf benötigte m ehr Zeit als die Um setzung des Schulzwangs. Schülerfrequenzen bis zu 90 auf einen Lehrer oder eine Lehrerin waren die Folge (Mitte des 19. Jahrhunderts; Bölling 1983, 65), erst 1931 lag sie bei 40 (ebda. 14). Ab 1826 war der Zugang zum Lehreram t über eine Abschlußprüfung geregelt; die Besoldung blieb kärglich, m eist weniger als der Landgendarm (Bölling 1983, 71), und m ußte oft aus Naturalabgaben und Landnutzung (bis ins 20. Jahrhundert) erzielt werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrug der Verdienst der Volksschullehrer dann allerdings das zweieinhalbfache eines Industriearbeiters. Diesem Aufschwung war der durchgängige Ausbildungszwang im Sem inar (2 bis 3 Jahre) vorausgegangen (Ende 19. Jahrhundert; Bölling 1983, 56). Der Staat nahm sich des Ausbaus der Schulhäuser an, deren Zahl zum Jahrhundertbeginn in Preußen 20 400 betrug, die al-

lerdings nicht das gewünschte pädagogische Um feld boten (Engelsing 1973, 74): es waren zum großen Teil Mehrzweckräum e, die unter anderem auch dem Nebenhandwerk des Lehrers dienten. 1896 gab es dann 36 100 Schulhäuser (Engelsing 1973, 105). Das Interesse, die Einsicht in die Notwendigkeit des Lesen- und Schreibenlernens reichten natürlicherweise nicht aus, um alle schulpflichtigen Kinder in den als unabdingbar gedachten Erziehungs- und Bildungsprozeß einzugliedern. Neben dem Schulzwang und seinen Mitteln zur Durchsetzung m ußten weitere Kontrollgrem ien gebildet werden, die um die ordnungsgem äße Durchführung des Unterrichts besorgt waren und deshalb für die Lehrer und ihre Arbeit zuständig waren. Durchaus in Fortführung der alten Verbindung von Kirche und Unterricht wurde die örtliche Schulaufsicht auch im 19. Jahrhundert vom Ortsgeistlichen wahrgenom m en, sehr zum Ärger der sich em anzipierenden Lehrer (wachsendes Ansehen der Schulausbildung, Stellenwert des Lehrers, Besoldung und Ausbildung). Die 1794 im Allgem einen Landrecht für Preußen getroffene Entscheidung hielt sich grundsätzlich bis 1918, wenn auch seit 1872 zunehm end m ehr die neugeschaffene Gruppe der Rektoren und Hauptlehrer die Schulaufsicht übernahm en (Bölling 1983, 62 ff u. 85). Methodisch hatte der Unterricht deutliche Verbesserungen erfahren. Lesen- und Schreibenlernen erfolgten nunm ehr endgültig kom biniert, näm lich orientiert an der Schreiblesem ethode, die Friedrich Fröbel 1826 vorgeschlagen hatte. Diese konnte aber dann erst richtig Fuß fassen, als in der Mitte des Jahrhunderts das Schreibgerät entscheidend verbessert wurde. Bis dahin hatte die Naturfeder das Schreiben zu einem Zeichenvorgang bestim m t, während nun die Stahlfeder flüssiges und kontinuierliches Schreiben ermöglichte (Engelsing 1973, 126). Das Lesen- und Schreibenlernen für alle stellt sich also als eine große Kraftanstrengung der politischen, sozialen und kulturellen Kräfte in Staat und Gesellschaft heraus. Es gelang erst im Verbund m it einem erweiterten Erziehungsgedanken und bedurfte vieler koordinierender, organisatorischer und kontrollierender Maßnahm en, um den Erfolg sicherzustellen. Soweit das überhaupt zu m essen ist, vor allem hinsichtlich der Aussage über alle Einwohner eines Staates, so dürfte am Ende des 19. Jahrhunderts das Ziel erreicht gewesen sein: fast alle Einwohner können zum indest in ihrer Jugend Lesen und Schreiben. Die

71.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland

Zahl der analphabeten Eheschließenden betrug 1899 in Preußen ca. 1% (Engelsing 1973, 99). Außenseiterm ilieus (Krim inelle, Nichtseßhafte), vor allem aber die im 20. Jahrhundert zunehm ende Bildkultur und -m itteilung (Illustrierte, Film , Reklam e, Fernsehen) führen dazu, daß dieser Prozentsatz sicherlich nicht geringer wird (→ Art. 73).

8.

Literatur

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Ulrich Knoop, Marburg (Deutschland)

72.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Englandund Nordamerika

873

72. Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in England und Nordamerika 1. 2. 3. 4. 5. 6.

1.

Einleitung Bedeutet Alphabetisierung ökonomischen Fortschritt? Bedeutet allgemeine Schulpflicht universale Alphabetisierung? Ist Alphabetisierung Voraussetzung für die Teilnahme an demokratischen Prozessen? Schlußbemerkung Literatur

Einleitung

Am 22. Juli 1983 berichtete der Daily Telegraph, daß entsprechend einer kürzlich publizierten Untersuchung 10% aller 23jährigen Engländer nicht ausreichend lesen und schreiben könnten, um ihren Alltag zu bewältigen, und England eine Alphabetisierungskatastrophe von unvorstellbarem Ausm aß drohe (etwa 3,5 Millionen erwachsene Analphabeten). In Kanada erschien 1987 der Southam Bericht (Calam ai 1987), der — auf im Jahre 1987 durchgeführten Tests basierend — 24% der erwachsenen Kanadier ab 18 Jahren als Analphabeten ausweist. In den USA löste 1985 Kozols Buch ‘Illiterate Am erica’ Bestürzung durch den Hinweis aus, daß jeder dritte erwachsene Am erikaner nicht fähig sei, dieses Buch zu lesen. Kozol sprach von 25 Millionen erwachsenen Am erikanern, die weder eine Giftwarnung auf einer Pestizid-Dose, einen Brief vom Lehrer ihrer Kinder noch die erste Seite einer Zeitung lesen könnten und von weiteren 35 Millionen, deren Lese- und Schreibkenntnisse zu gering seien, um ihr Alltagsleben regeln zu können. Er wies ebenfalls darauf hin, daß die USA dam als auf Platz 49 der Alphabetisierungsratenliste von 158 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen rangierten. Diese Daten ließen sich durch weitere Zahlen- und Krisenm eldungen von Journalisten, Wissenschaftlern, Statistikern und Regierungssprechern beliebig verm ehren, die oft sogar die in der Literatur für den Zeitraum um die Jahrhundertwende veröffentlichten Zahlen zu übertreffen scheinen. So gibt beispielsweise Levine (1986, 93) für England um die Jahrhundertwende eine Alphabetisierungsrate von 97% aller Männer und Frauen an. Graff (1979, 19) nennt für die erwachsene Bevölkerung von drei Städten in der kanadischen Provinz Ontario schon zur Zeit um 1861 eine Alphabetenrate von weniger als

10%. Ein Zensus in den USA ergab 1900 6,2% Analphabeten unter der weißen und 44,5% unter der nichtweißen Bevölkerung (Kaestle 1985, 31 f). Diese Zahlen scheinen die heutzutage in England, Kanada und den USA vielerorts beschworene Alphabetisierungskrise zu belegen. Doch was steckt dahinter? Entwickeln sich Literalität und Alphabetisierung der Engländer und Nordam erikaner rückläufig? Sind Engländer und Nordam erikaner heute weniger alphabetisiert als vor rund hundert Jahren? Was bedeutet eigentlich Alphabetisierung? Wie wird dieser Begriff definiert? Wie wird der Standard der Alphabetisierung festgelegt, wie erhoben? Fragen, auf die es nicht e i n e wissenschaftlich nachweisbare Antwort, sondern viele verschiedene relative Antworten gibt, abhängig vom jeweiligen geschichtlichen, sozialen, ökonom ischen, kulturellen und politischen Kontext: m an wird nicht als zukünftiger Analphabet geboren, sondern zum Analphabeten gemacht. 1.1. Definition Da es nicht eine Alphabetisierung, sondern viele Erscheinungsform en der Alphabetisierung oder viele Literalitäten gibt, kann es auch keine allgem eingültige Definition geben. Alphabetisierung ist eine Variable des Kontexts. Alphabetisiert ist eine Person, „die sich an all den zielgerichteten Aktivitäten ihrer Gruppe und Gem einschaft beteiligen kann, bei denen Lesen, Schreiben und Rechnen erforderlich ist, und an der weiteren Nutzung dieser Fähigkeiten für ihre eigene Entwicklung und die ihrer Gem einschaft“ (UNESCO 1986, 4). Die Anforderungen an die Lese- und Schreibfertigkeiten des Einzelnen steigen also m it dem Alphabetisierungsgrad seiner Um gebung. Alphabetisierung wird hier als soziale Praxis verstanden und schließt dam it die Bedeutung von Literalität m it ein. Eine Unterscheidung zwischen Alphabetisierung als Erwerb bestim m ter Schreib-, Lese- und Rechenfähigkeiten und Literalität als deren Anwendung als gesellschaftliches Kom m unikationsmittel wird hier nicht vorgenommen. 1.2. Standards Die Standards, nach denen beurteilt wird, ob eine Person als alphabetisiert gilt, haben sich

Fast alle (80% +) jungen Männer und Frauen, die heiraten (in England)

England, Frankreich, Nordamerika

Ab 1754 in England; ab Beruf, Alter, Geschlecht, 1650 in Frankreich Name u. Beruf der Eltern, Wohnort (Religion — Nordamerika)

Ev. Alter, Beruf, Geschlecht, Geburtsort, Wohnort

Unterschriften/Zeichen Unsicher; möglicherweise Kanada, USA, Ab dem 17. Jahrhundert selektiver als Testamente, England, Europa (Gebrauch und Erhaltung variiert) möglicherweise umfassender, Frauen manchmal inkludiert

Depositen

Heiratsregister Unterschrift/Zeichen

Wie bei Testamenten

Ab dem 18. Jahrhundert Beruf, Wohnort, Wert des Landes, Art des Verkaufs

In Büchern verzeichne- 25—60% der männlichen Kanada, USA, Ab dem 17. Jahrhundert ter Besitz erwachsenen Verstorbenen; England, Frankreich (Quantität variiert nach 3—10% der weiblichen erusw. Land und Datum) wachsenen Verstorbenen

Kanada, USA

Inventare

5—85% der männlichen lebenden erwachsenen Landbesitzer; 1% oder weniger der Frauen

Unterschrift/Zeichen

Alter, Geschlecht, Beruf, Geburtsort, Religion, Familienstand und Struktur, Wohnort, wirtschaftliche Daten

Zusätzliche Variable

Notariatsakte

Handschriften: 19. Jahrhundert

Zeit ihrer Verwendung

Beruf, Mildtätigkeit, FamiUnterschrift/Zeichen 20—50% der männlichen Kanada, USA, Kanada ab dem erwachsenen Verstorbenen; England, Frankreich 18. Jahrhundert, USA liengröße, Wohnort, Vermögen, Geschlecht usw. ab 1660, übrige ab 16./ 2—5% der weiblichen erwachsenen Verstorbenen 17. Jahrhundert

Kanada, USA

Verwendung in

Testamente

Bevölkerung

Fragen: lesen und Gesamte erwachsene Bevölkerung (theoretisch); schreiben, Alter variabel, z. B. über lesen/schreiben Unterschrift/Zeichen 20 Jahre, 15 Jahre, 10 Jahre (Kanada nur 1851, 1861)

Grad der Literarität

Volkszählung

Quelle

874 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Variiert stark

Unterschrift/Zeichen

Entlehnte Bücher

Unterschrift/Zeichen

Fragen oder direkte Tests

Geschäftsunterlagen

Bibliotheksaufzeichnungen

Anträge (Land, Arbeit, Pension etc.)

Zusammenfassende 1 Datenquellen

Kanada, USA, England

Mitglieder oder Entlehner

19.—20. Jahrhundert

19.—20. Jahrhundert

Spätes 18., frühes 19. Jahrhundert

19.—20. Jahrhundert

19. Jahrhundert

19. Jahrhundert

Ab dem 18. Jahrhundert

Nach 1620

Einige oder alle der oben angeführten

Beruf, Wohnort, Familiengeschichte

Titel der entliehenen Bücher, Mitgliedschaft in einem Klub

1. Beruf, Löhne 2. Konsumniveau, Wohnort, Kredit

Beruf, Alter, Geschlecht, Religion, Geburtsort, Wohnort, Familienstand, Sitten und Gewohnheiten, Angaben über Verbrechen

Beruf, Gesundheitszustand, Alter, Wohnort, Bildung

Beruf oder Stand, Geschlecht, Wohnort, Ansichten über Politik und Gesellschaft

Beruf, Alter, Zensusklasse, Wohnort, Name und Stand der Eltern, Familiengröße, Ortswechsel, periodische Verbesserung

Volkszählungen, Bildungsumfragen, Berichte von Statistischen Ämtern, Sozialberichte, Berichte von Regierungsausschüssen, Gefängnisaufzeichnungen usw.

Kanada, USA, England, Europa

Kanada, USA, England, Europa

Kanada, USA, England, Europa

Kanada, USA, England

1. Alle Angestellten 2. Kunden

Alle Inhaftierten

Europa, bes. Frankreich

Abb. 72.1: Quellen für die historische Untersuchung von Literalität in Nordamerika und Europa (Graff 1991, 6, 18 f)

1

Alle Antragsteller

Fragen: lesen, gut lesen usw.

Strafregister

Wehrpflichtige oder Rekruten (nur Männer)

Unterschrift/Zeichen oder Frage nach Lesen und Schreiben

Rekrutierungslisten

Kanada, USA, England, Europa

Unsicher, möglicherweise sehr selektiv, meistens nur Männer

Unterschrift/Zeichen

Ansuchen

Schweden, Finnland

Unklar, scheint jedoch sehr verbreitet

Lesen, Auswendiglernen, Verständnis, Schreibprüfungen

Katechetische Prüfungsaufzeichnungen

72. Entwicklung von Literalität Alphabetisierung in England und Nordamerika 875

876

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

in England und Nordam erika über Jahrhunderte hinweg ständig geändert. So wurde beispielsweise in England im Mittelalter ein sehr hoher elitärer Standard angesetzt. Als alphabetisiert oder literatus wurde bezeichnet, wer Übung im Lesen und Diktieren lateinischer Texte hatte, nicht aber notwendigerweise das Handwerk des Schreibens selber ausübte. Dies wurde vom Berufsschreiber ausgeübt, der nicht zu den Alphabetisierten zählte (→ Art. 4). Der typische Vertreter des m ittelalterlichen englischen literatus war ein Mann, der das Ideal des Gelehrten klassischer Bildung verkörperte. Da die Mehrheit derjenigen, die Latein lesen konnten, Kirchenm änner waren, wurden die Begriffe clericus und literatus ab dem 12. Jahrhundert in England als Synonym e gebraucht (Clanchy 1993). Später galt viele Jahrhunderte lang in England und Nordam erika derjenige als alphabetisiert, der seine eigene Unterschrift leisten konnte. Im Laufe dieses Jahrhunderts wurden die Ansprüche im m er höher geschraubt. Während in den USA beispielsweise 1929 der Abschluß von 4 Schuljahren als einziges Kriterium für eine erfolgreiche Alphabetisierung genannt wird, 1947 der von 5 und 1980 bereits der von 8 Schuljahren, wird in den neunziger Jahren diskutiert, ob 12 Jahre Schulbesuch zum Alphabetisiertsein ausreichen (Eurich 1990, 225). Die inhaltlichen Anforderungen reichen vom Lesen einer Zeitungsannonce, Adressieren eines Briefum schlags, Ausfüllen eines Form ulars oder dem Lesen eines Stadtplans bis hin zum Lesen und Interpretieren eines kom plizierten, m it Metaphern und literarischen Anspielungen gespickten Textes, dessen Aussage auf andere Situationen anzuwenden ist.

Kreuzen, signiert waren. So gibt es aber auch kom plette Strafregister aller Inhaftierten einiger Anstalten des 19. Jahrhunderts, in denen die Antworten der Insassen auf die Frage nach ihren Lesekenntnissen verm erkt sind (Graff 1987).

1.3. Erhebungsmethoden Auch das Spektrum der Erhebungsm ethoden ist breit. Es reicht vom Auszählen von Unterschriften (Clanchy 1993; Schofield 1968) über die Selbsteinschätzung bis hin zu kom plexen Tests und Interviews. Da viele frühe Dokum ente verschollen, andere zufällig und oft nur schlecht erhalten sind, verleiten die erhaltenen Schriftzeugnisse leicht zu Spekulationen. Der jeweilige Personenkreis variiert in Größe, Altersgruppe, Geschlecht, Berufszugehörigkeit und Nationalität. So konnten beispielsweise je nach Land 20—50% der Testam ente m ännlicher, 2—5% weiblicher Verstorbener des 16./17. Jahrhunderts darauf überprüft werden, ob sie m it der Unterschrift oder nur m it Zeichen, wie den bekannten drei

1.4. Quellen Auch die für die historische Untersuchung von Alphabetisierung in England und Nordam erika herangezogenen Quellen ergeben ein unvollständiges Bild. Seit dem 16./17. Jahrhundert wurden in England und den USA, in Kanada seit dem 18. Jahrhundert Unterschriften unter Testam enten ausgewertet, seit dem 17. Jahrhundert in allen drei Ländern Inventare des in Büchern verzeichneten Besitzes sowie Depositen, seit dem 18. Jahrhundert in Kanada und den USA Notariatsakten, seit 1754 in England Heiratsregister, seit dem 18. Jahrhundert in allen drei Ländern Ansuchen, im späten 18./frühen 19. Jahrhundert Bibliotheksaufzeichnungen, im 19. Jahrhundert Strafregister, in Kanada und den USA auch Volkszählungen und schließlich im 19. und 20. Jahrhundert wiederum in allen drei Ländern Geschäftsunterlagen, Antragsform ulare, Volkszählungen, Bildungsum fragen, Sozialberichte, Berichte von Regierungsausschüssen, Gefängnisaufzeichnungen usw. (Graff 1987); vgl. Abb. 72.1. Auf dieser schwankenden, heterogenen Basis unterschiedlichster Definitionen, Standards, Erhebungsm ethoden und Quellenm aterialien wird der Vergleich zwischen Alphabetisierung dam als und heute, von Land zu Land, selbst innerhalb eines Landes zur selben Zeit absurd und die Interpretation historischer Daten zum Roulettespiel. Welche historische Aussagekraft hat zum Beispiel die Feststellung, daß beim Eintritt der USA in den ersten Weltkrieg 25% der am erikanischen Soldaten Analphabeten waren (Gordon, Ponticell & Morgan 1991, 22)? Was bedeutet die Tatsache, daß beispielsweise in der Diözese Norwich in England im Zeitraum von 1580 bis 1700 85% der Arbeiter Dokum ente nicht unterschreiben (Cressy 1981, 108), sondern nur m it drei Kreuzen abzeichnen konnten, wo noch nicht einm al sicher ist, ob dies nicht eher Ausdruck der Gottesfurcht von durchaus Schreibkundigen war? Was nützt es, als Beleg für das Alphabetisiertsein im England nach der norm annischen Eroberung im Jahre 1066, als es nebeneinander eine weltliche und eine geistliche Rechtssprechung gab, das Bestehen des den Gesetzesüberschreitern üblicherweise

72.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Englandund Nordamerika

vorgelegten Lesetests anzuführen, m it dem die Kleriker von den Laien unterschieden werden sollten? Verm utet m an doch, daß viele Laien die norm alerweise als Lesetest vorgelegten Verse des 51. Psalm s auswendig gelernt hatten, um das Lesen vortäuschen und so in den Genuß der m ilderen kirchlichen Rechtssprechung kom m en zu können — und dam it in die Statistik der alphabetisierten Kleriker aufgenommen wurden (Levine 1985, 61). So fragm entarisch und fragwürdig diese auf so unterschiedlichsten Grundlagen und Definitionen von Alphabetism us basierenden Zahlen sein m ögen, so häufig wurde ihr Ansteigen in der ab etwa 1960 aufkom m enden Historiographie der Alphabetisierung positivistisch interpretiert und als Ursache von gesellschaftlichen Prozessen angesehen (wie beispielsweise Modernisierung, Entwicklung, Urbanisierung, Industrialisierung, höherer finanzieller Einkom m en des einzelnen, ökonom ischer Entwicklung der Gesellschaft, höherer Zivilisationsstufe, größeren dem okratischen Bewußtseins und Verhalten, differenzierterer Form en des Denkens und der Abstraktion). Die Suche nach Kausalitäten und Lösungen der gegenwärtigen sogenannten Alphabetisierungskrise Englands und Nordam erikas hat viele dieser tradierten, m it der Entwicklung von Alphabetisierung assoziierten Erkenntnisse und „Mythen“ (Graff 1979) aufgebrochen, ihren widersprüchlichen Charakter aufgezeigt, ihre Einbettung in kom plexe gesellschaftliche Vorgänge bestätigt und so zu einer neuen Sichtweise der Entwicklung der Alphabetisierung beigetragen. Aus diesem Blickwinkel wird im folgenden der Versuch unternom m en, drei der herköm m lichen Korrelationen zu hinterfragen: Alphabetisierung bedeutet ökonom ischen Fortschritt (Zf. 2); allgem eine Schulpflicht bedeutet universale Alphabetisierung (Zf. 3); Alphabetisierung ist Voraussetzung für die Teilnahm e an dem okratischen Prozessen (Zf. 4).

2.

Bedeutet Alphabetisierung ökonomischen Fortschritt?

Aufgrund der wirtschaftlichen Rezession der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts sind in England und Nordam erika viele Menschen arbeitslos geworden. Beim Versuch eines Arbeitsplatzwechsels scheitern viele von ihnen an der Unfähigkeit, die nötigen Form ulare auszufüllen oder das in Arbeitseintrittstests erwartete Schreib-, Lese- und Rechenniveau

877

nachzuweisen. Während vor den wirtschaftlichen Einbrüchen die eingeschränkten Leseund Schreibfertigkeiten für Arbeiter in einer Autofabrik oder in einem Stahlwerk anscheinend kein ernstzunehm endes wirtschaftliches Handicap darstellten, wird denselben Arbeitern, als neu entdeckte Analphabeten stigm atisiert, die Schuld an der Rezession zugewiesen. Hat der Analphabetism us dieser Arbeiter die wirtschaftliche Rezession verursacht oder ist deren Ausgrenzung Folge weitreichender wirtschaftlicher und technologischer Veränderungen? Nach Graff (1991 a, 10 f) stellt „die Beziehung zwischen Alphabetisierung und den Prozessen wirtschaftlicher Entwicklung ... eines der herausragendsten Beispiele widersprüchlicher Muster dar. Entgegen Populärwissenschaft und Gelehrtenweisheit fanden die Haupt(fort)schritte in Handel, Kom m erz und sogar in der Industrie zu Zeiten und an Orten m it erstaunlich niedriger Alphabetisierung statt; andererseits haben sich die höheren Alphabetisierungsniveaus nicht als Stim uli für die m oderne ökonom ische Entwicklung erwiesen“ (Übers. d. Verf.). Dennoch durchzieht der Ruf nach Alphabetisierung als Vorbedingung für individuelles und nationales wirtschaftliches Wachstum bis in die Gegenwart hinein die Geschichte der Alphabetisierung — oft geäußert, selten belegt, erst in letzter Zeit kritisch hinterfragt und als widersprüchlich erkannt. So war beispielsweise der der am erikanischen Industrie nahestehende Horace Mann, der von 1837 bis 1848 Secretary des Massachusetts Board of Education war, ein vehem enter Verfechter der Ansicht, daß eine Nation, je besser sie alphabetisiert sei, desto schneller nicht nur den m oralischen und intellektuellen, sondern vor allem den m ateriellen und kollektiven Reichtum ihrer weniger gebildeten Nachbarn in den Schatten stellen und überflügeln könne (Stevens 1987, 118 f). In Kanada äußerte sich 1848 ganz ähnlich Egerton Ryerson, der Chief Superintendent of Education für Westkanada, indem er darauf hinwies, daß jeder Mechaniker lesen und schreiben können m üsse, daß schulisch gebildete Arbeitskraft produktiver sei als nicht schulisch gebildete Arbeitskraft (Graff 1987, 162). Mehr als hundert Jahre später richtet die Regierung in den USA einen offenen Brief m it dem Titel „A Nation at Risk„ an die am erikanische Bevölkerung, in dem sie als Auslöser des drohenden Niedergangs der USA als wettbewerbsfähiger Wirtschaftsm acht die rudim entären Schreib-, Lese- und

878

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Rechenkenntnisse von 23 Millionen erwachsenen plus 13% aller 17jährigen Am erikaner anprangert. Erwähnt werden auch die Unsum m en von Geldern, die die Wirtschaft und das Militär jährlich für Alphabetisierungskurse der Arbeitnehm er bzw. der Soldaten ausgeben m üssen (National Com m ission 1983, 8 f). Am häufigsten und auch am kontroversesten wird in diesem Zusam m enhang die Industrielle Revolution Englands diskutiert. Cipolla (1969) ist davon überzeugt, daß das hohe Alphabetisierungsniveau Englands um 1750 Ursache für das im Vergleich zu anderen Ländern verhältnism äßig frühe Eintreten der Industriellen Revolution in England ist. Sie scheint das Beispiel zu sein, das die von den Arbeitskraftkapital-Theoretikern Bowm an und Anderson erarbeitete Regel beweist, daß zum wirtschaftlichen Aufschwung einer Nation 40% der Bevölkerung alphabetisiert sein m üssen. Schofield (1981) und Graff (1987) stehen dieser These skeptisch gegenüber. Weit wichtiger als die Alphabetisierung ist ihrer Meinung nach im Prozeß der ökonom ischen Entwicklung die Um stellung des Arbeitskräftepotentials auf bisher ungewohnte Arbeitsweisen der Fabrikarbeit, die Gewöhnung an strikte industrielle Verhaltensweisen, Regeln und Rhythm en. Das disziplinierende und assim ilierende Potential von Alphabetisierung, nicht aber die Fähigkeit des Lesens, Schreibens und Rechnens scheint in diesem Um stellungsprozeß relevant und von Politikern, wie beispielsweise Horace Mann oder Egerton Ryerson, frühzeitig erkannt und als Motor der kapitalistischen Marktwirtschaft eingesetzt worden zu sein (Stevens 1987; Graff 1987). Zensusdaten des vorigen Jahrhunderts ethnographisch neu interpretierend, hat Graff in einer Untersuchung der Arbeits- und Lebensverhältnisse in drei Städten der kanadischen Provinz Ontario zur Zeit Ryersons herausgefunden, daß alphabetisierte und nicht-alphabetisierte Personen dort in fast allen Arbeiter- und Handwerksberufen vertreten waren. Analphabetism us war offensichtlich weit weniger eine Ursache von wirtschaftlicher Benachteiligung als die in diesen Städten herrschenden Vorurteile gegen ethnische Minderheiten. Gekoppelt m it der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit wirkte Analphabetism us sich nachteilig aus; Analphabetism us ist hier m ehr ein Sym ptom als eine Ursache von wirtschaftlicher Benachteiligung. Hull (1993) bestätigt, daß der ethnographische Forschungsansatz die positivistische Beziehung zwischen Alphabetisierung

und Wirtschaftswachstum ins Wanken bringt. In einer auf Interviews m it US-am erikanischen Arbeitern basierenden Studie weist sie nach, daß auch heutzutage aus der Sicht der Arbeiter sowohl die bei Arbeitsantritt verlangten als auch die in Kursen angebotenen Alphabetisierungskenntnisse für den Arbeitsprozeß nicht nur nicht erforderlich, sondern sogar dysfunktional sind. Sie legt die Verm utung nahe, daß der Taylorism us nach wie vor seine Opfer verlangt, Alphabetisierung als Mittel zur Integration und zur Anpassung an m echanisierte Arbeitsprozesse benutzt wird, statt die Arbeitsbedingungen an die Menschen anzupassen.

3.

Bedeutet allgemeine Schulpflicht universale Alphabetisierung?

Spätestens nach Einführung der allgem einen Prim arschulpflicht in England 1870 (Elem entary Education Act), in Kanada 1859 (Public Instruction Act) und in den Vereinigten Staaten von Am erika 1918 (Com pulsory School Attendance Law) war m an hier wie in anderen westlichen Industrienationen von einer fast hundertprozentigen Alphabetisierung der Bevölkerung überzeugt. Etwa seit Anfang der 70er Jahre wurde jedoch m it der strukturellen Arbeitslosigkeit ein neues Phänom en des Analphabetism us erkannt: Viele Menschen — in den USA nim m t m an bis zu 30% an —, die m indestens 8 Jahre lang die Schule besucht haben, können zwar einzelne Buchstaben entziffern und schreiben, sie aber nicht zum Sinnzusam m enhang verbinden und schon gar nicht kom plexe Texte m it Verständnis aufnehm en oder schreiben. Hat die Schule versagt? Ist die Schule hinter den Ansprüchen technisierter Gesellschaften zurückgeblieben? Sind die Lehr- und Lernm ethoden veraltet? Ist das Niveau der Lehrerausbildung gesunken? Sowohl in England, Kanada und den USA werden Stim m en laut, die die Schuld an der verm eintlichen Alphabetisierungskrise den Schulen zuweisen. Regierungen und Wirtschaftskreise klagen, Gelder in kom pensierende, von den Schulen nicht m ehr gewährleistete Alphabetisierungsm aßnahm en investieren zu m üssen. Die Form el „Allgem eine Schulpflicht bedeutet allgem eine Alphabetisierung“ geht nicht mehr auf. England, Kanada und die USA (nur die weiße Bevölkerung der USA) waren bereits vor Einführung der allgem einen Schulpflicht weitgehend alphabetisiert. Lange vor Einfüh-

72.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Englandund Nordamerika

rung der staatlichen Schule wurden Kinder im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet, wobei allerdings das Verm itteln von Lesekenntnissen weitaus stärker verbreitet war als das von Schreibkenntnissen. In England vertrauten Eltern im frühen Mittelalter Kinder, die sie in der Kunst des Schreibens ausbilden lassen wollten, den Klöstern an. Spätestens seit dem späten Mittelalter gab es private kirchliche Grammar Schools, in denen zunächst die zukünftige Priesterschaft, seit dem 15. Jahrhundert auch der Landadel im Lesen der lateinischen Sprache und Gram m atik unterrichtet wurde (Schofield 1968, 316 f). Schließlich besuchten auch Kinder niedrigerer sozialer Schichten diese Schulen, um sie jedoch m eist nach dem Erwerb m inim aler Kenntnisse wieder zu verlassen. Mit der Reform ation begann im 16. Jahrhundert, unterstützt durch die Erfindung des Buchdrucks und des billigen Papiers, die Verbreitung der Bibel in der Landessprache. Während der Katholizism us eine Bildkultur blieb, die das Lesen der Bibel in der Landessprache per Gesetz verbot, war der Protestantism us eine Schriftkultur. Im Kam pf gegen den Katholizism us war es Absicht des Protestantism us, dessen Kom m unikationsm ittel durch ein anderes zu ersetzen. „Gottes Volk sollte ein literates Volk sein, eines, das Gottes Wort aus dem Studium der gedruckten Seite entnim m t“ (Stone 1991, 150). Um die Arm en der Religion näher zu bringen, erachteten es die Katholiken für notwendig, „das Abbild zu verehren“, während es die Protestanten vorzogen, die Menschen bibelfest zu erziehen. Seit dem 16. Jahrhundert gab es eine Anzahl sogenannter Petty Schools, in denen nach Erlernen des Lesens auch das Schreiben unterrichtet wurde. Im späten 16. Jahrhundert begann sich der Leseunterricht in englischer gegen den in lateinischer Sprache durchzusetzen. Seit dem 17. Jahrhundert gab es neben den Grammar Schools eine Reihe von Privatschulen, deren Besuch sehr teuer war und dam it ausschließlich den Kindern wohlhabender Eltern vorbehalten blieb. Der Mangel an Bildungseinrichtungen für die Arm en bis zum Ende des 17. Jahrhunderts erregte Sorge um die sozialen und m oralischen Folgen des Fehlens eines Unterrichts in den christlichen Glaubensartikeln. Zur Abschaffung dieses Mangels wurden m it Spendenm itteln Arm enschulen gegründet, deren Schwerpunkt auf m oralischem und religiösem Unterricht lag. Dem Unterricht im Lesen und Schreiben wurde nur ge-

879

ringe Bedeutung zugem essen; wie in den Petty Schools wurden nur diejenigen im Schreiben und anschließend auch im Rechnen unterrichtet, die verhältnism äßig „gut“ lesen konnten. Ab 1780 wurden Sonntagsschulen gegründet, die sich noch ausschließlicher auf Moral- und Religionsunterricht beschränkten und lediglich m inim ale Lesekenntnisse verm ittelten — was Engels übrigens m it der Bem erkung kom m entierte, daß in England die Sonntagsschulen der Staatskirche, der Quäker und zahlreicher anderer Sekten das Schreiben nicht lehrten, da es für sonntags eine zu weltliche Angelegenheit sei (Cipolla 1969, 34). Im 19. Jahrhundert schließlich expandierte das Erziehungswesen stark durch die Schulgründungen der „Nationalen Gesellschaft für die Ausbildung der Arm en nach den festgefügten Grundsätzen der einen Kirche„. Aus Sorge vor den m oralisch zersetzenden Auswirkungen einer gottlosen Erziehung wurde auch ein gewisses Maß an m oralischer und religiöser Erziehung beibehalten. Daneben gab es im 19. Jahrhundert auch Schulen, die unterschiedlichen Institutionen angegliedert waren, wie Workhouse Schools und Industrial Schools, zu deren Besuch die Kinder von ihren Arbeitgebern freigestellt werden sollten. Doch Unwilligkeit auf seiten der Arbeitgeber wie auch der Kinder führte zu unregelm äßigem Schulbesuch und dadurch wahrscheinlich zu nicht m ehr als fehlerhaften Lesekenntnissen. Eine Erziehung zu Disziplin, Pünktlichkeit und Anpassungsfähigkeit lag weit m ehr im Interesse der Arbeitgeber. Die lange Zeit existierende Dame School, in der m eist eine ältere Frau in ihrer Wohnung rudim entäre Lese- und Schreibkenntnisse verm ittelte, starb im 19. Jahrhundert allm ählich aus. Der religiöse Wettkam pf der verschiedenen Kirchen und Sekten des nachreform istischen religiösen Pluralism us jedoch endete nicht m it der Einführung der allgem einen Schulpflicht durch das Ausbildungsgesetz von 1870, das staatliche Unterstützung für die bestehenden kirchlichen Schulen vorsah. Das Gesetz wurde von m anchen als Instrum ent betrachtet, die seit kurzer Zeit wahlberechtigte Arbeiterschicht den Nonkonform isten abspenstig zu m achen, „über subtile und unlautere Methoden der Nation das Messer an den Hals zu setzen, ein Messer, das sich Schule nennt, in denen der priesterliche Einfluß Dom inanz hätte, und in denen gearbeitet würde ... für die Macht der Tories und ihre Politik.“ (The Congregationalist. 31. Jan. 1872. In: Stone 1991, 152).

880

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Auch in Nordam erika wurden Kinder lange vor Einführung der allgem einen staatlichen Schulpflicht in privaten und Gem eindeschulen unterrichtet. Die Alphabetisierung des „gewöhnlichen“ Kindes fand im Elternhaus, in der Kirche, in Geschäften oder in Arm enschulen statt. Die m eisten Gem einden hatten einklassige Schulen, in denen Kinder unterschiedlicher Altersstufen, deren Arbeitskraft von ihren Fam ilien nicht benötigt wurde, neben Lese-, Schreib- und Rechenunterricht Moral- und Religionsunterricht erhielten. Die Kinder wohlhabender Eltern besuchten elitäre private Lateinschulen. Trotz der recht unterschiedlichen Verm ittlung sprachlicher Kom petenz und Wissenstoffs scheint die Mischung aus form alem und inform alem Unterricht, aus Fam ilien- und Kirchen- und Arbeitsplatzerziehung (Lehre) eine weitgehend alphabetisierte Bevölkerung hervorgebracht zu haben. In Kanada war durch dieses lose organisierte Schulwesen Mitte des 18. Jahrhunderts die Mehrheit der Schüler alphabetisiert, in den USA 90% der erwachsenen weißen Bevölkerung (Castell & Luke 1986, 89). Es ist daher zweifelhaft, ob das prim äre Ziel der Einführung der staatlichen Schulpflicht die universale Alphabetisierung war. In Kanada gab es bereits Mitte des 19. Jahrhunderts, nachdem Egerton Ryerson in Ontario das existierende Schulsystem staatlich zu unterstützen begann, (freiwilligen) Zugang zur Schule für alle. Auch in vielen Staaten der USA erhielten Kinder gesetzlich die Möglichkeit des freien Besuchs von Schulen, die vorher nur einer kleinen Elite vorbehalten gewesen waren. Auch in Nordam erika war die Verm ittlung von Alphabetisierung bestim m t von religiösen, ethischen und ideologischen Machtkäm pfen. Theorie und Praxis der Alphabetisierung und des Unterrichts an den Lateinschulen wurden weitgehend aus England übernom m en. Während allerdings Kanada noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts Lehrpläne und Schulbücher für den Lese-, Schreib- und Rechenunterricht aus England im portierte, hatten die USA inzwischen eigene Schulbücher entwickelt, um sich von europäischem Kolonialism us zu befreien und eine eigene Sprache, Literatur und ein Nationalbewußtsein hervorzubringen. In Kanada als Land des britischen Com m onwealth dagegen schm ückten britische Flaggen die Klassenräum e, das kanadische Nationalbewußtsein sollte sich am britischen Vorbild orientieren. Die Alphabetisierung im 19. Jahrhundert stand im Kräftefeld von Protestan-

tism us, Nationenbildung und Industrialisierung (Stevens 1987, 99; Castell & Luke 1986, 95). Alphabetisierung war das Instrum ent zur Förderung des m oralischen und zivilen Gehorsam s, der nationalen Zusam m engehörigkeit. Zu diesem Zweck wurden die protestantischen Methoden des sturen und repetitiven Katechism uslernens übernom m en. Lesen bedeutete prim är Mem orieren, um auf vom Lehrer gestellte Fragen die antizipierte Antwort geben zu können. Mangel an kritischer Reflexion und die Unfähigkeit, das Erlernte situativ anwenden zu können, sind nicht Anzeichen eines Verfalls der schulischen Alphabetisierung, sondern Sym ptom eines lang andauernden durch die Alphabetisierungskrise aufgedeckten Prozesses (Resnick, L. 1990, 21). Durch die Einführung der allgem einen Schulpflicht ist die Schule in England und Nordam erika zur gesetzlich bestim m ten Alphabetisierungsinstitution für alle geworden. Ein gleiches Niveau der Alphabetisierung für alle hat sie bisher nicht erreicht und vielleicht auch nicht gewollt (Resnick & Resnick 1977, 370; Kaestle 1991).

4.

Ist Alphabetisierung Voraussetzung für die Teilnahme an demokratischen Prozessen?

„In halb-alphabetisierten Ländern hofieren Dem agogen Teenager“ (Auden in Pattison 1982, 190, Übers. d. Verf.). „Die Bürger der Vereinigten Staaten m üssen wissen, daß in unserer Gesellschaft Personen, die nicht das für diese neue Ära notwendige ... Alphabetisierungsniveau besitzen, rechtswirksam das Wahlrecht verlieren werden, nicht nur in bezug auf m ateriellen Lohn, der m it guter Leistung einhergeht, sondern auch in bezug auf die Chance, voll an unserem nationalen Leben teilzunehm en“ (National Commission 1983, 7, Übers. d. Verf.).

Setzen dem okratische Prozesse tatsächlich alphabetisierte Bürger voraus? Alphabetisiert zu sein, seit langem öffentlich als Bürgerrecht proklam iert, wird seit der „Alphabetisierungskrise“ erneut auch zur Bürgerpflicht erhoben. Dies war in den USA schon einm al der Fall, als insbesondere die irischen Einwanderer als Ignoranten verschrieen waren: 1855 wurde in Connecticut ein Gesetz verabschiedet, das den Wählern das erfolgreiche Absolvieren eines Alphabetisierungstests vorschrieb. Jeder Wähler m ußte in der Lage sein, alle Artikel der Verfassung zu lesen. 1857 erließ Massachusetts einen Test für angehende Wähler, der eine Schreibkom ponente enthielt.

72.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Englandund Nordamerika

Mississippi führte 1890 einen Alphabetisierungstest ein, der Schwarze von der Wahl ausschließen sollte. Sieben weitere Südstaaten folgten diesem Beispiel (Levine 1986). Die Verm utung liegt nahe, daß dam als wie heute der alphabetisierte Bürger nicht unbedingt als der dem okratischere, sondern als der beeinflußbarere erwünscht ist. Bieten aber um gekehrt die englischen und nordam erikanischen Dem okratien auch gleiche Alphabetisierungschancen für jederm ann? Frauen und Migranten sowie die schwarze Bevölkerung der USA waren lange von der Alphabetisierung ganz ausgeschlossen. Die gesetzlich gewährte Möglichkeit des Zugangs zur Schule hat die soziale Stratifikation nicht grundlegend verändern können. Mit der Alphabetisierung verm itteltes staatlich kontrolliertes bürgerliches Wissen — oft gar in einer Unterrichtssprache vorgetragen, die nicht die Muttersprache ist — hat oft eher zur Ausgrenzung als zur beabsichtigten Assim ilation beigetragen (Botstein 1990). Ogbu (1990, 1992) hat in m ehreren Forschungsarbeiten nachgewiesen, daß der Analphabetism us der von ihm beschriebenen Minderheitsgruppen nicht Ursache, sondern Folge ihrer Ausgrenzung ist. Dies bedeutet nicht allein, daß viele Menschen, die das Lesen und Schreiben noch nicht erlernt haben, aus einem Lebenskontext ausgegrenzt sind, in dem das Anwenden dieser Fähigkeiten sinnvoll wäre. Darüber hinaus bleibt ihnen — legitim iert durch die Dem okratie — der Weg zur Alphabetisierung verschlossen (Smith 1991, 58).

5.

Schlußbemerkung

Die historische Entwicklung von Alphabetisierung in England und Nordam erika ist geprägt durch: — eine Wechselbeziehung der von unterschiedlichen Interessengruppen (wie z. B. Kirche, Staat, Ökonomie, Eliten) kontrollierten Restriktions- und Expansionsbestrebungen, — Diskontinuitäten, — widersprüchliche und komplexe Ursachen. Trotz wiederkehrender Phasen der Restriktion und Stagnation haben Alphabetisierungsraten und -standards in England und Nordam erika eine steigende Tendenz, wenn auch der Prozeß der Dem okratisierung der Alphabetisierung weiter andauert. Raym ond William s (1961) bezeichnet die Industrialisie-

881

rung, die kulturelle Entwicklung (zu der er die Alphabetisierung zählt) und die Dem okratisierung Englands als ineinander verwobene Bestandteile einer „langen Revolution“, die sich von Generation zu Generation fortsetzt. Gleichzeitig bleibt das Wechselspiel zwischen. Industrialisierung, Schulpflicht, Dem okratie und der Alphabetisierung widersprüchlich. Am bivalent bleibt auch die Bewertung der Expansion von Alphabetisierung: „Kein Them a [der Geschichte der lesenden Öffentlichkeit] ist zentraler in unserer Kulturgeschichte, denn der Diskurs über Qualität und der Diskurs über Dem okratie sind hier untrennbar erscheinend m iteinander verflochten, und dies hat den kulturellen Diskurs im m er wieder in eine Sackgasse geführt, was zutiefst entm utigend und verwirrend ist„ (Williams 1961, 158, Übers. d. Verf.).

6.

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73.  Literalität und Analphabetismus in modernen Industrieländern

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Ursula Giere, Hamburg (Deutschland)

73. Literalität und Analphabetismus in modernen Industrieländern 1. 2. — 3. 4. 5. 6.

1.

Zur Themenstellung Analphabetismus Probleme einer Definition Die Entstehung des Analphabetismus Konzepte der Alphabetisierung Möglichkeiten der Prävention von Analphabetismus Literatur

Zur Themenstellung

Die Them enstellung scheint auf den ersten Blick paradox zu sein: Ein Merkm al für ein entwickeltes Industrieland ist eine weitgehend literale Bevölkerung. So wurde gerade für die Entwicklungsländer in der fehlenden Alphabetisierung eines Großteils der Bevölkerung ein Hem m nis für eine rasche ökonom ische Entwicklung gesehen (vgl. UNESCO 1965, 1969). Aufgrund solcher Überlegungen hat die UNESCO seit ihrer Gründung im Jahre 1946 eine Vielzahl von Alphabetisierungskam pagnen in allen Regionen der Welt unterstützt (vgl. als Überblick die kom m entierende Bibliographie: Giere, Ouana & Ranaweera 1990; vgl. auch die Sam m elbände Dave, Ouane & Perera 1986; Dave, Ouane & Ranaweera 1986; Dave, Perera & Ouane 1984 und Dave, Perera & Ouane 1985, die einen Überblick geben über die jüngeren Alphabetisierungsbem ühungen in Entwicklungsländern, sowie die Artikel 62—71 in diesem Handbuch). Für die Industrieländer nahm

m an lange Zeit an, deren Bevölkerung sei alphabetisiert. Die allgem eine Durchsetzung der Schulpflicht schien die Verm ittlung literaler Fähigkeiten in einem hinreichenden Maße zu garantieren. Wurden dennoch Analphabeten auffällig, so hielt m an diese für tragische Einzelfälle. In der Tat waren Einzelschicksale bekannt: Fehlende Beschulung aufgrund von Kriegsfolgen, Flucht und Vertreibung; auch galten Kinder von fahrenden Berufsgruppen (Schausteller, Kesselflicker) und sozialen Randgruppen (wie angehörige nichtseßhafter Minoritäten) als potentielle Analphabeten. Auch war vorstellbar, daß einzelne Individuen aufgrund m angelhafter kognitiver Voraussetzungen nicht lesen und schreiben lernten (Analphabetism us als Ausdruck m angelnder Intelligenz). Dies alles war jedoch kein Grund, sich m it dem Niveau der allgem einen Literalität zu beschäftigen. So wurde der Aspekt der Alphabetisiertheit seit 1912 bei den Volkszählungen im Deutschen Reich nicht m ehr berücksichtigt: Die Menschen, die sich nicht als alphabetisiert ausweisen konnten, die also bei der Rekrutierung, der Heirat oder der dem zuständigem Am t persönlich vorgetragenen Geburtsanzeige eines Kindes nicht m it dem eigenen Nam en unterschreiben konnten, gab es praktisch nicht m ehr. Seither lebten die Menschen in den Industriegesellschaften in dem Glauben, jeder Mensch sei literal. Dies änderte sich in den sechziger Jahren, als zunächst in Ländern m it Berufsarm een

884

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Bedenken an einer hinreichenden Alphabetisierung der Soldaten aufkam en; angesichts der kom plizierter werdenden Waffentechnologien erforderten im m er neue Tätigkeiten in der Wartung und Bedienung von Waffen die Einbeziehung von kom plexen schriftsprachlichen Anteilen. Doch blieb zunächst jene Auffassung vorherrschend, daß es sich weiterhin um ein Problem kleiner sozialer oder ethnischer (und sprachlicher) Minoritäten handele. Nur langsam drang in das öffentliche Bewußtsein, daß es sich hier um ein grundlegendes strukturelles Problem in der Entwicklung des Literalitätsniveaus in entwickelten Gesellschaften handelte. Das Problem einer m angelhaften allgem einen Literalität existierte, so wurde zunehm end deutlich, nicht nur in ökonom isch unterentwickelten Regionen der Länder m it m angelnder Infrastruktur im Bildungswesen. So nahm m an in Italien zunächst an, das Problem sei auf Arbeiter beschränkt, die in den südlichen Provinzen eine relativ kurze Schulzeit absolviert hatten (vgl. Moroni 1981, 106; dort heißt es: „Laut einer nationalweiten Bestandsaufnahm e vom Jahre 1971 haben 73% der über 15 Jahre alten Italiener keinen Pflichtschulabschluß, die sogenannte ‘terza m edia’, was dem achten Pflichtschuljahr entspricht.“). Doch bald zeigte sich, daß quer durch alle Regionen (und auch bei Menschen, die form al ausreichend beschult wurden) Problem e bei der Bewältigung des schriftsprachlichen Alltags bestanden. Auch spätere Untersuchungen in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Kretschm ann et al. 1990, 14 f) nehm en an, daß 4 bis 5% eines Schülerjahrgangs „ohne ausreichende Schriftsprachkom petenz aus den allgem einbildenden Schulen entlassen werden.„ Dabei betonen die Autoren, daß ihre (im Vergleich zu anderen in einschlägiger Literatur vorfindbaren) Annahm en zu eher niedrigen Zahlen führen. Wenn m an z. B. jene Menschen hinzunim m t, die als alphabetisiert gelten, jedoch aufgrund gravierender schriftsprachlicher Schwierigkeiten (z. B. Rechtschreibproblem en) auf einen beruflichen Aufstieg verzichten (m üssen) und auch im privaten Bereich schriftliche Tätigkeiten eher verm eiden, so steigt die von Kretschm ann et al. (1990) genannte Zahl beträchtlich. Spätestens seit 1980 wird das Problem des Analphabetism us in allen westlichen Industriestaaten als gravierend betrachtet. Grob geschätzt m ußte m an für jedes Land ca. 3 bis 5% „funktionale Analphabeten“ annehm en, wobei der Prozentsatz kaum anders geschätzt

wurde, wenn m an lediglich jenen Teil der Bevölkerung zugrunde legte, der jene Sprache, in der in den Schulen alphabetisiert wird, als Muttersprache spricht. Solche Schätzungen wurden vorgenom m en von Forschern, die sich Ende der 70er Jahre m it der Untersuchung von Alphabetisierungsinitiativen befaßten, die seit Beginn der 70er Jahre in m ehreren Ländern Europas entstanden waren (vgl. Ham m ink 1981; Fisher 1981). Denn es hatten sich in vielen Ländern bereits in den 70er Jahren Alphabetisierungsinitiativen gebildet, in denen noch keine nationale Koordination der Arbeit stattfand (vgl. hierzu die Berichte in Drecoll & Müller 1981; dieser Band dokum entiert die erste nationale Konferenz zur Problem atik des Analphabetism us, die in der Bundesrepublik Deutschland stattfand). In Großbritannien lernten 1975 bereits 70 000 Erwachsene lesen und schreiben (vgl. Fisher 1981, 91 f), eine Zahl, die nur verständlich wird — auch im Vergleich zu anderen Ländern —, wenn m an berücksichtigt, daß die BBC eine große Kam pagne gestartet hatte, in der für das Lesen- und Schreibenlernen geworben wurde; diese große Zahl der Lerner konnte nur erreicht werden, weil sich in Großbritannien auch für die Alphabetisierung ein System herausbildete, das viele freiwillige Tutoren integrierte. Doch stellte die britische Regierung bereits Mitte der 70er Jahre größere Beträge zur Koordination der Alphabetisierungsarbeit zur Verfügung, wie Fisher (1981) berichtet. Seit 1980 gehört das Them a in allen entwickelten Industrieländern zum Diskurs der Erwachsenenbildung. Viele Regierungen förderten Forschungen zum Them a: So gab das Bundesm inisterium für Bildung und Wissenschaft eine Studie in Auftrag (vgl. Ehling, Müller & Oswald 1981; Oswald & Müller 1982) und förderte m ehrere Projekte, die beim Deutschen Volkshochschulverband angesiedelt wurden (vgl. FuchsBrüninhoff, Kreft & Kropp 1986; Fuchs-Brüninhoff, Kreft & Waldm ann 1985; Horn & Paukens 1985; 1987; Horn, Paukens & Harting 1988; Kreft 1985). Diese Projekte sollten Urachen des Analphabetism us untersuchen, die bestehenden Alphabetisierungsinitiativen koordinieren (wobei der Frage nach der Entwicklung von Unterrichtskonzepten und -m aterialien besondere Bedeutung zukam ) und den Aspekt Analphabetism us und Medien (vgl. hierzu Horn & Paukens 1985; 1987) untersuchen: Gibt es einen Zusam m enhang zwischen der Nutzung von audio-visuellen Medien und dem Analphabetism us? Wie lassen

73.  Literalität und Analphabetismus in modernen Industrieländern

sich die Medien für eine Alphabetisierungskam pagne nutzen, wie sie z. B. von der BBC gestartet wurde? Im Sam m elband von Fase et al. (1992) finden sich weitere Hinweise auf vergleichbare Regierungsaktivitäten im Rahm en der Europäischen Gem einschaft; Esperandieu, Lion & Benichou (1984) und Freynet (1985; 1986) zeigen die französischen Bem ühungen. Daß die Them atik v. a. seit Ende der 70er Jahre auch im Hinblick auf die Industriestaaten intensiv diskutiert worden ist, zeigt ein Blick in jüngere einschlägige Bibliographien (vgl. Giere & Hautecœur 1990; Giese 1991; Hubertus 1991 a). In allen westeuropäischen Industrieländern gehört die Alphabetisierungsarbeit m ittlerweile zum festen Bestandteil der Erwachsenenbildung. Durch Initiative von Praktikern und Forschern und m it Unterstützung von UNESCO und der Kom m ission der Europäischen Gem einschaft wird die Alphabetisierungsarbeit m ittlerweile international diskutiert, so z. B. der im m er wichtiger werdende Aspekt der Verbindung von Alphabetisierung und allgem einer Grundbildung (vgl. Giese & Gläß 1989).

2.

Analphabetismus — Probleme einer Definition

Der Begriff des „funktionalen Analphabeten„ spielte bereits in den Kam pagnen der UNESCO in der Dritten Welt eine große Rolle (→ Art. 62—64). Mit diesem Begriff sollte deutlich gem acht werden, daß der erforderliche Um fang der alphabetischen Fähigkeiten an den Anforderungen der Kultur, in der die Menschen leben, orientiert sein m üsse. Das erforderliche Niveau der Literalität kann nicht abstrakt definiert werden, sondern m an m uß die Anforderungen, die die Gesellschaft an die Lese-Schreibfähigkeiten stellt, m it berücksichtigen. Analphabeten im Wortsinne (also Menschen, die das Alphabet nicht kennen) finden wir in den Industrieländern nicht. Nahezu jeder, der in der aktuellen Diskussion als Analphabet bezeichnet wird, weiß um die Existenz des Alphabets, ist es doch in seiner Um welt allgegenwärtig. Er wird als Analphabet bezeichnet, weil er nicht lesen und schreiben kann, zum indest nicht in einem Maße, um in seiner Lebensum welt nicht aufzufallen. Wir zitieren die UNESCODefintion: „A person is functionally illiterate who cannot engage in all those activities in which literacy is required for effective functioning of his group and com m unity and also

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for enabling him to continue to use reading, writing and calculation for his own and the com m unity’s developm ent.“ (Com m ission of the European Com m unities 1988 — zit. n. Slavenburg 1992, 3: dort wird nachdrücklich betont, daß eine solche Definition für die Alphabetisierungsarbeit in Industrieländern operationalisiert werden m üsse). Eine Operationalisierung dieser Definition im Hinblick auf die Industrieländer ist sicherlich nicht einfach; sie wird auf einer gründlichen Auswertung der bisherigen Erfahrungen aufbauen m üssen. Diese Erfahrungen besagen, daß im Zeitalter der Inform ation und der m odernen Kom m unikationstechnologien Schrift keinesfalls an Bedeutung verloren hat. Im Gegenteil: Das Anfertigen von kurzen Notizen während eines Telefongesprächs, die Lagerhaltung m it Hilfe einer elektronisch gespeicherten Datenbank, das Lesen von Laufzetteln u. ä. dringt in im m er neue Berufsbereiche vor und verlangt von allen Menschen, die in einer solchen Sparte tätig sind, schriftsprachliche Kenntnisse. Im Zuge weiterer Rationalisierung kann v. a. dort eingespart werden, wo Menschen als kom m unikative Schnittstellen tätig sind: Die traditionelle Tätigkeit eines Meisters in einem KFZ-Reparaturbetrieb, als Mittler zwischen Kunden, der Werkstatt, der Ersatzteillagerhaltung, der Rechnungsabteilung, des Verkaufs und anderen Bereichen kann von einem elektronisch gestützten Kom m unikationssystem übernom m en werden, wenn alle an diesem Zusam m enspiel Beteiligten m it diesem kom m unizieren könnten. Dies Beispiel zeigt, daß in den entwickelten Industrieländern tendenziell schriftsprachliche Fähigkeiten gefordert werden (und zwar von nahezu allen Menschen in nahezu allen Arbeitsbereichen), die über den engen Betriff des Lesens und Schreibens hinausgehen und Fähigkeiten zur technisch verm ittelten schriftlichen Kom m unikation einschließen. Der Begriff funktionaler Alphabetisiertheit wird in den nächsten Jahren (und sei es unter einem anderen Stichwort) weiterhin diskutiert werden müssen. Zunächst einm al ist festzuhalten, daß jene Menschen an Alphabetisierungsm aßnahm en teilnehm en, die große Problem e haben, ihr alltägliches Leben zu organisieren: Menschen, die von Entlassung bedroht sind, die bei Arbeitsver m ittlungsstellen als Analphabeten aufgefallen sind und nun als unverm ittelbar gelten. Auch persönlichere Motive sind vorfindbar: die Angst vor der Einschulung der eigenen Kinder, denen m an dann nicht beim Lesen und Schreiben helfen kann, oder der

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Wunsch, sich aus der Abhängigkeit von Personen zu befreien, die für die Betroffenen schriftsprachliche Tätigkeiten stellvertretend übernehm en. Es finden sich jene in den Alphabetisierungsm aßnahm en, deren Schwierigkeiten im alltäglichen Leben so gravierend geworden sind, daß sie keinen anderen Ausweg sehen, als nachträglich lesen und schreiben zu lernen. Neben funktionalem Analphabetism us ist auch der Begriff des sekundären Analphabetism us zu erwähnen. Hierm it wird darauf hingewiesen, daß bei einer Reihe von Analphabeten sich ihr schriftsprachliches Leistungsverm ögen nach Beendigung der Schulzeit zurück entwickelt. Das Niveau schriftsprachlicher Fähigkeiten m uß relativ hoch entwickelt sein (z. B. im Bereich der Orthographie), dam it es auch dann erhalten bleibt, wenn die Fähigkeiten über längere Zeiträum e nicht angewendet werden. Nach wie vor gilt jedoch, daß die Zahl derjenigen, die an Alphabetisierungsm aßnahm en teilnehm en, mi Verhältnis zur Zahl derjenigen, die als Analphabeten gelten, sehr gering ist. So geben Fuchs-Brüninghoff et al. (1986, 44 ff) für 1986 in der Bundesrepublik Deutschland eine Zahl von knapp 6000 Teilnehm ern (ohne Kurse in Justizvollzugsanstalten) an; diese Zahl ist kontinuierlich gestiegen, da weitere Einrichtungen Kurse eingerichtet haben. Dennoch dürften 1993 kaum m ehr als 12 000 Teilnehm er in Alphabetisierungskursen Unterricht erhalten. Angesichts der Zahl von derzeit ca. 30 000 bis 40 000 Schulabgängern, die als funktionale Analphabeten bezeichnet werden m üssen (vgl. Kretschm ann u. a. 1990), eine eher geringe Zahl.

wordenen Verm ittlung des Lesens und Schreibens in den Schulen annim m t, in m angelnder Qualität des schulischen Unterrichts und in m angelnden Lernvoraussetzungen der Schüler, viel zu kurz. Er berücksichtigt nicht die grundlegende Um gestaltung der ökonom ischen und kulturellen Lebenszusam m enhänge in den Industrieländern. In diesem Rahm en wurden nahezu alle Bereiche der Mündlichkeit entzogen und in einen schriftlichen Diskurs überführt. Dieser Prozeß hat sich gleichsam hinter dem Rücken der Handelnden vollzogen, und nun sind viele von den Konsequenzen überrascht. Die m odernen Industriegesellschaften waren lange Zeit noch als m ündliche verfaßt, zum indest was die Mehrzahl der Menschen, die in ihnen lebten, anging. Dort, wo Schrift den Diskurs dom inierte, waren die Spezialisten unter sich; dort, wo Schrift das Leben der norm alen Bürger beeinflußte, gab es m enschliche Schnittstellen, Verm ittler zwischen schriftlichen und m ündlichen Kom m unikationszusam m enhängen (z. B. Schalterbeam te, Sachbearbeiter für den Publikum sverkehr, Verkäufer usw.). Im Rahm en von Rationalisierungsm aßnahm en verschwinden viele solcher m enschlichen Schnittstellen; sie werden durch schriftliche (Form blätter, Antragsform ulare) oder m aschinelle (Autom aten, Term inals) ersetzt. Moderne Industriegesellschaften haben alle Nischen vernichtet, in denen die schlecht alphabetisierten Menschen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts leben konnten: als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft, auf dem Bau und in den Häfen. Kein Unternehm en ist m ehr bereit, zum Wochenende Lohntüten auszuhändigen; jeder m uß in der Lage sein, ein Konto zu führen. Auch im Bildungswesen selbst kom m t der schriftlichen Kom m unikation (und schriftsprachlich strukturierten Tätigkeiten) im m er größere Bedeutung zu, ob es um die Verm ittlung oder um das Abfragen von Wissen und Fähigkeiten geht. Dies beginnt bereits in der Grundschule, in der im m er größere Teile des Lernens schriftlich durchgeführt werden. Dort wo Unterricht m ündlich abläuft, werden in starkem Maße schriftliche Elem ente integriert. Jeder Schüler, der in den Anfängen des Schriftspracherwerbs Problem e in der Aneignung alphabetischer Fähigkeiten hat, wird in allen anderen Lernbereichen behindert, da diese beständig solche Fähigkeiten voraussetzen. In den Bildungssystem en sind schriftsprachliche Fähigkeiten unverzichtbar geworden. Sie m üssen in relativ einheitlicher Ge-

3.

Die Entstehung des Analphabetismus

Wie konnte nun aber der Analphabetism us in den Industrieländern entstehen? In vielen m odernen Kulturen ist die Angst verbreitet, die jeweils nachfolgende Generation lerne weniger als die vorangehende. Tatsächlich liegt eine solche Verm utung nahe, wenn ein Problem wie der Analphabetism us relativ plötzlich in das Bewußtsein der Öffentlichkeit tritt; das Selbstverständnis als Kulturnation gerät ins Wanken. So waren in der Bundesrepublik Deutschland Anfang der achtziger Jahre Schlagzeilen wie „Analphabetism us im Land der Dichter und Denker“ zu verstehen. Doch greift ein Erklärungsansatz, der eine geringere Alphabetisierungsrate in einer schlechter ge-

73.  Literalität und Analphabetismus in modernen Industrieländern

schwindigkeit angewendet werden können. Langsam e Leser und Schreiber können dem vorgegebenen Takt nicht folgen. Pauschalisierend kann m an sagen, daß Schüler, die nicht nach vier Schuljahren (oder wom öglich noch früher) ein solches durchschnittliches Niveau der schriftlichen Fähigkeiten erworben haben, zwangsläufig aus der gesam ten weiteren schulischen und späteren beruflichen Bildung herausfallen. Folgerichtig wird bei der Frage nach den Möglichkeiten der Prävention von Analphabetism us bereits der (m angelhafte) Erwerb der Schriftsprache in der Grundschule untersucht. Dabei stellt m an fest, daß m an über den norm al verlaufenden (weil erfolgreichen) Aneignungsprozeß selbst relativ wenig weiß; um so problem atischer ist es dann, Störungen des Aneignungsprozesses korrekt zu diagnostizieren. Solche Untersuchungen zum Schriftspracherwerb in der Grundschule, wie sie z. B. von Dehn (1985; 1988 a; 1988 b) durchgeführt wurden, lassen auch wichtige Konsequenzen erwarten, die zu einer Neuordnung des Unterrichts im Lesen und Schreiben führen könnten, um allen Schülern den Erwerb zu erleichtern. Die Existenz der Rechtschreibnorm en kann ebenfalls als ein indirekter Faktor für die Entstehung von Analphabetism us in einigen Fällen betrachtet werden. Die Fähigkeit, ein Schriftsystem norm gerecht zu beherrschen, ist relativ leicht zu beurteilen. Die Orthographie ist genorm t. Es ist leicht festzustellen, ob ein Wort richtig oder falsch geschrieben worden ist. In schriftsprachlichen Äußerungen gibt ein Mensch auch sich selbst ein Stück preis; beherrscht er Lesen und Schreiben, kann dies zur Selbstdarstellung geraten, ob es sich nun um einen persönlichen Brief an einen Freund oder um das Vorlesen eines Witzes aus der Zeitung handelt. Der funktionale Analphabet m uß solchen Situationen aus dem Wege gehen; er ist stets in der Gefahr, sich zu verraten, sich bloßzustellen. Man darf in unserer Kultur unm usikalisch und m athem atisch unbegabt sein, lesen m uß ein jeder können, und in m angelhafter Orthographie wird wesentlich m ehr gesehen, als eben die m angelhafte Aneignung einer Fähigkeit. Mit der Schriftsprache ist es eben so, daß nur der sie verwenden kann, der das System (von einigen wenigen Zweifelsfällen einm al abgesehen) vollständig beherrscht. Die Bedeutung orthographischer Sicherheit ist jener in den Grundrechenarten vergleichbar; wer sie nicht beherrscht, tut gut daran, allem Schriftlichen aus dem Wege zu gehen. Ob eine Rechtschreibreform hier eine Lösung brächte,

887

m ag zweifelhaft erscheinen. Die bisherigen didaktischen Argum ente zur Diskussion um eine Orthographiereform zielen in die Richtung, die orthographischen Regeln leichter durchschaubar zu m achen. Ob sie dann leichter von Kindern anzueignen wären, bleibt unklar. Der Effekt, von orthograhischen Fehlern auf die intellektuellen Fähigkeiten der Schreiber zu schließen, könnte so noch verstärkt werden. Dennoch ist unzweifelhaft, daß viele Analphabeten das Schreiben völlig aufgegeben haben, weil sie wegen orthographischer Fehler diskrim iniert und bloßgestellt wurden. Eine alternative Möglichkeit zur Orthographiereform , wie sie für das Deutsche gegenwärtig diskutiert wird, könnte in einer stärkeren Liberalisierung von Teilbereichen der Orthographie liegen, um zu sehen, welchen Gebrauch die Schreiber selbst m achen, wenn m ehrere richtige Schreibungen zugelassen würden. Zusam m enfassend können wir feststellen, daß nicht die durchschnittlichen schriftsprachlichen Leistungen eines Schülerjahrgangs in den letzten Jahrzehnten schlechter geworden sind, sondern daß sich die gesellschaftlichen Kom m unikationsprozesse in den letzten Jahrzehnten in einem starken Ausm aß um strukturiert haben, so daß eine bloß m ündliche Existenz m ittlerweile fast unm öglich geworden ist: Die gesellschaftlichen Anforderungen an die allgem einen orthographischen und schriftsprachlichen Fähigkeiten sind schneller gestiegen als das durchschnittliche Leistungsniveau. Dennoch hat jeder Analphabet seine eigene Biographie. Untersuchungen zu solchen Biographien (vgl. DöbertNauert 1985; Börner 1993) zeigen, daß unter heutigen Bedingungen Analphabetism us sehr viel m ehr ist, als nur eine fehlende Fertigkeit; funktionaler Analphabetism us ist in literalen Industriegesellschaften ein kom plexes Syndrom sozialer Behinderung, dessen psychosoziale Auswirkungen derart gravierend sein können, daß ihm m it bloßen unterrichtlichen Maßnahm en nicht beizukom m en ist. So gehören zu allen Alphabetisierungskursen sozialpädagogische Begleit m aßnah m en. In m anchen Fällen erweist sich eine Therapie als notwendig (vgl. z. B. Schlösser 1989), um den Betroffenen eine Auseinandersetzung m it der Schriftsprache zu ermöglichen.

4.

Konzepte der Alphabetisierung

In allen Bereichen stand die Alphabetisierung zunächst vor dem Problem , geeignete Pädagogen und geeignetes Unterrichtsm aterial zu

888

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

finden. Es ist offensichtlich, daß Erwachsene nicht m it dem Material unterrichtet werden können, das für Erstkläßler konzipiert wurde. Die Alphabetisierung von Erwachsenen ist dennoch eine höchst widersprüchliche Angelegenheit, da allen Beteiligten bewußt ist, daß sie diese Fähigkeiten eigentlich im Kindesalter hätten erwerben m üssen. Dies unterscheidet die Alphabetisierungsarbeit in entwickelten Ländern ganz erheblich von jener in nicht entwickelten Ländern, in denen ein Großteil der Bevölkerung keine Möglichkeit hatte, als Kind in der Schule lesen und schreiben zu lernen. Aus der Sicht von Analphabeten in Ländern m it einem funktionierenden Schulsystem ist ihr Defizit zu allererst auf ein Eigenverschulden zurückzuführen. Dies ist die Außensicht ihrer literalen Um welt, und diese Sicht wird von den Betroffenen übernom m en. Es ist deshalb unum gänglich, daß in den Kursen auch über den eigenen gescheiterten Lernprozeß reflektiert wird; dabei ist streng zu unterscheiden zwischen einer didaktisch-pädagogischen Sichtweise, die die Lerner psychisch stabilisieren soll, ihnen Erklärungen an die Hand geben soll, um die Anstrengungen eines Lese-Schreib-Lernprogram m s als Erwachsener durchzustehen, und einer forschenden Sichtweise, die sich bem üht, Erkenntnisse über typische Analphabetenbiographien zu sam m eln, um hieraus Konsequenzen für eine frühzeitigere Prävention bei besonders gefährdeten Kindern und Jugendlichen zu ziehen. Zu Beginn orientierte sich die Alphabetisierungspraxis in den Industrieländern an zwei Modellen: der Alphabetisierung, wie sie in der Dritten Welt praktiziert wurde und/ oder an der schulischen Alphabetisierung im eigenen Land. Beide Orientierungen erwiesen sich als problem atisch. Die Orientierung an schulischen Methoden m achte in den Kursen den Teilnehm ern im m er wieder klar, daß es sich eben um einen Gegenstand handelte, den norm alerweise sechs- bis achtjährige Kinder sich relativ m ühelos aneignen; zudem kennen die Lerner solche Methoden ja aus ihrem eigenen gescheiterten Lernprozeß. Wenn schon häufiger Fibeltexte als inadäquat in bezug auf die kindliche Realität kritisiert werden, so sind sie es in bezug zu jener von erwachsenen Analphabeten erst recht. Von daher stand recht bald die Entwicklung von erwachsenengerechten Lernm aterialien und Unterrichtsform en im Mittelpunkt. Ein wichtiges Mittel war das Erstellen von Lernerbiographien im Unterricht, die dann zwischen verschiedenen

Gruppen (auch an verschiedenen Orten und in verschiedenen Institutionn) eingesetzt werden konnten. Hierdurch gerieten Analphabeten m iteinander in Kontakt und erfuhren selbst, daß sie nicht zu einer kleinen Gruppe gehörten. (Viele Analphabeten glauben bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie den Sprung wagen, sich zu einem Kurs anzum elden, daß sie allein m it ihrem Problem unter lauter Alphabetisierten leben.) Solche Versuche, den LeseSchreib-Lernprozeß von den Teilnehm ern und ihren sozialen Erfahrungen aus zu organisieren (häufig unter dem Begriff „Spracherfahrungsansatz“ subsum m iert — vgl. hierzu und zu konkurrierenden Ansätzen die Beiträge in Kreft 1985), ließen zunächst einm al das Problem des system atischen sprach- und schriftstrukturellen Arbeitens unberücksichtigt. Man vertraute darauf, daß die Motivation der Teilnehm er stark genug sei, solche strukturellen Zusam m enhänge selbst sich anzueignen. Dem gegenüber gingen sprachsystem atische Ansätze (v. a. die „Morphem m ethode“) von strukturellen Besonderheiten des Schriftsystem s aus: Für das deutsche Schriftsystem ist es z. B. charakteristisch, daß die Schreibung einzelner Morphem e konstant bleibt, auch wenn sich die Aussprache der betreffenden Morphem e in anderer lautlicher Um gebung ändert (→ Art. 127); die Schreibung von „Hund — Hunde“ folgt diesem Prinzip. Solche sprachsystem atischen Ansätze kom m en dem Wunsch der Teilnehm er entgegen, m öglichst kein Wort m ehr falsch zu schreiben. Die Teilnehm er arbeiten dann m it den einzelnen Morphem en, den „Wortbausteinen“, und kom binieren sie zu verschiedenen Wörtern und kleinen Sätzen. Der Nachteil dieses Verfahrens liegt auf der Hand: Die Lerner werden nicht dazu angehalten, spontane Schreibversuche zu wagen; ihre schriftliche Kom m unikationsfähigkeit bleibt für eine sehr lange Zeit ihres Lernprozesses sehr eingeengt, was neue Motivationsproblem e schaffen kann. Wir nähern uns einer sehr heiklen Frage der Alphabetisierungsarbeit in Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland, der Frage nach dem Erfolg. Die Alphabetisierungsarbeit wird öffentlich gefördert; sie ist für die Institutionen, die sie tragen, eher ein Verlustgeschäft, da von den Teilnehm ern allenfalls geringe Gebühren erhoben werden können. Die Frage, in welchem Zeitraum ein erwachsener funktionaler Analphabet lesen und schreiben lernen kann, ist nicht zu beantworten. Die Lebensgeschichten von Analphabeten sind zu

73.  Literalität und Analphabetismus in modernen Industrieländern

verschieden, das kom plexe Syndrom des Analphabetism us so verschieden ausgeprägt, die aktuellen Lebens- und Lernum stände divergieren so stark, daß hier zuverlässige Prognosen allenfalls in Einzelfällen m öglich sind. Einige lernen sehr schnell, sehr viele sehr langsam , einige nähern sich dem Gegenstand Schriftsprache auf eine Art und Weise (z. B. m it dem Ziel, sich m öglichst alle Wortbilder einprägen zu wollen), die wenig erfolgversprechend scheint. Aufgrund eigener Beobachtungen m öchte ich aber die Hypothese aufstellen, daß nur sehr wenige Erwachsene, die eine gescheiterte Lese-Schreib-Lernkarriere hinter sich haben, in der Lage sind, sich der Schriftsprache auf eine so unbefangene, experim entelle Weise zu nähern, wie sie für Schulkinder (und auch Schreiber im Vorschulalter) typisch ist. Dadurch haben diese Kinder die Möglichkeit, durch praktisches Um gehen m it der Schriftsprache, durch das Verarbeiten von Korrekturen, durch das Erproben neuer Strategien sich das deutsche Schriftsystem anzueignen, ohne dafür die expliziten Regelform ulierungen eines Rechtschreib-Duden zu kennen. In gewisser Weise kann zwischen dem (erfolgreichen) Schriftspracherwerb eines Kindes und seinem Mutterspracherwerb eine Parallele gesehen werden. Das jeweilige System wird intuitiv in der Kom m unikation m it Erwachsenen angeeignet, ohne daß es bewußt rekonstruiert werden m üßte. Beim Schriftspracherwerb m uß allerdings die Motivation (oder der Zwang) hinreichend groß sein, dam it der Erfolg sich einstellt, da ja die m ündliche Kom m unikation als Alternative stets zur Verfügung steht. Für den m ündlichen Spracherwerb kann m it guten Gründen von der Existenz eines Spracherwerbsm echanism us ausgegangen werden, der aufgrund eines geringen sprachlichen Inputs die m uttersprachliche Gram m atik generiert. Die schnellen Lernfortschritte der erfolgreichen schriftsprachlichen Lerner lassen verm uten, daß dieser Mechanism us auch in der Aneignung des m uttersprachlichen Schriftsystem s m itbeteiligt ist. Sollte diese Annahm e richtig sein, so wäre hier eine Erklärung für das langsam e Lernen erwachsener Analphabeten gefunden, auch für die Tatsache, daß sie wesentlich stärker kognitiv in die Strukturen des Schriftsystem s eindringen m üssen, um annähernd norm gerecht zu schreiben. Interessante Ergebnisse zu dieser noch offenen Frage wären von Vergleichen des Lernens erwachsener Analphabeten m it dem von erwachsenen Lernern aus Kulturen, in denen in der Kindheit keine

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Möglichkeit bestand, lesen und schreiben zu lernen, zu erwarten. Unabhängig jedoch, wie die Erfolge im Lesen und Schreiben der Teilnehm er im einzelnen beantwortet werden m üssen, dürften die Mittel, die in die Alphabetisierungsarbeit fließen, gut investiert sein, helfen sie doch, im m ense Folgekosten, die sich aus dem funktionalen Analphabetism us ergeben, zu begrenzen. Eine wichtige Frage im Rahm en von Alphabetisierungskonzepten ist sicherlich jene der Aufklärung der Öffentlichkeit und der Inform ation potentieller Teilnehm er. In dem Maße, in dem über Möglichkeiten des Lernens öffentlich berichtet wird, geraten Analphabeten in ihrem unm ittelbaren Lebensum feld unter Druck. Die Fam ilie, Freunde, Arbeitskollegen erwarten jetzt, daß der Betroffene lesen und schreiben lernt, obwohl es wom öglich gar nicht erforderlich ist, weil der Betroffene einen modus vivendi gefunden hat, der jetzt in Gefahr gerät. Da kann der Wunsch, die Öffentlichkeit aufzuklären, in Kollision geraten m it der Selbstverständlichkeit, Analphabeten nicht zusätzlich zu stigm atisieren. Als ein großes Problem hat sich im m er herausgestellt, wenn Werbung und das Bildungsangebot nicht hinreichend aufeinander abgestim m t sind; es ist für Analphabeten in aller Regel unzum utbar, wenn sie kein Lernangebot finden, nachdem sie sich dazu durchgerungen haben, um ein solches nachzusuchen. Die Erfolge in der Alphabetisierungsarbeit können nicht nur an den Lernfortschritten der Teilnehm er auf dem Gebiet des Lesens und Schreibens gem essen werden, schon deshalb nicht, weil der Analphabetism us ein kom plexes Ganzes darstellt und für jeden Betroffenen eine Fülle psycho-sozialer Problem e mit sich bringt.

5.

Möglichkeiten der Prävention von Analphabetismus

Auch wenn wir oben kritisiert haben, daß die Entstehung des m odernen sekundären Analphabetism us zu sehr aus individuellen Problem en der betroffenen Menschen erklärt wird, so ist dennoch unstrittig, daß eine individuelle Prävention des Analphabetism us erforderlich ist. Auch wenn bislang system atische Untersuchungen über die Erfolge der Alphabetisierungsarbeit nicht vorliegen, so ist deutlich, daß Schüler m it unzureichender Lese-Schreib-

890

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Leistung in ihrer gesam ten Ausbildung gehandicapt sind. Auch scheinen die intuitiven Zugriffsweisen, die Kinder bei der Aneignung orthographischer System e haben, bei Jugendlichen und Erwachsenen nicht m ehr in einem solch starken Maße ausgeprägt zu sein. Dies bedeutet, daß der schriftsprachliche Lernprozeß eines Erwachsenen langwieriger ist, als der eines Kindes. In gewisser Weise ergeben sich Parallelen zum (Frem d-)Sprachenlernen: Ein kleines Kind kann ohne große bewußte Reflexion eine zweite Sprache neben seiner Muttersprache lernen; Erwachsene brauchen sehr viel m ehr Anleitung, sehr viel m ehr Erklärungen. Bleibt der Frem dsprachenerwerb ungesteuert, so wird die Gram m atik kaum korrekt erworben. Ähnliches kann über den Erwerb der geschriebenen Sprache gesagt werden: Für das kindliche schriftsprachliche Lernen ist es charakteristisch, daß es im Rahm en des prim ären Spracherwerbs angesiedelt ist, es verläuft zu einem großen Teil unbewußt für den Lerner ab. Es sind häufig Sprünge zu beobachten in dem Sinne, daß ein Kind plötzlich große Fortschritte m acht, was zu der Verm utung Anlaß gibt, daß hier im Aufbau eines funktionalen System s neue Beziehungen hergestellt worden sind und nicht nur einzelnes hinzugelernt worden ist. Erwachsene Analphabeten hingegen lernen langsam , kontinuierlich. Sie m üssen ihren Lernprozeß sehr viel bewußter reflektieren und strukturieren. Neue Untersuchungen in diesem Zusam m enhang (vgl. Börner 1993) lassen erwarten, daß sich hier auch neue Perspektiven für die Alphabetisierung in der Grundschule ergeben: Dort, wo Kindern der eher intuitive Zugriff auf das Schriftsystem nicht gelingt, könnten dann solche (in der Erwachsenenalphabetisierung erprobten) Verfahren stärkerer Lenkung und Bewußtm achung des Lernprozesses auch ihnen einen kontinuierlichen Lernfortschritt ermöglichen. Der Versuch, Analphabetism us bereits in der Grundschule zu verhindern, ist unerläßlich. Gerade wenn sich herausstellen sollte, daß es Kinder gibt, die individuelle Voraussetzungen m itbringen, die einem ungestörten Erwerbsprozeß entgegenstehen, so wäre nach jetziger Erkenntnis nur eine Konsequenz ratsam : Eine noch stärkere Konzentration auf das Lesen- und Schreibenlernen. Konzepte, die (einer falschen pädagogischen Liberalität verpflichtet) eher schulische Freiräum e und Schutzzonen bereitstellen (wie es im Rahm en der Legasthenie-Diskussion zu beobachten war) wären strikt abzulehnen. Die Kulturen der entwickelten Industrieländer stellen solche Freiräum e im alltäglichen Leben nicht

m ehr zur Verfügung. Der Zwang zur Literalität ist absolut geworden.

6.

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892

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74.  Das System der Zensur und seine Auswirkungen auf die Literalität

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Heinz W. Giese, Ludwigsburg (Deutschland)

74. Das System der Zensur und seine Auswirkungen auf die Literalität 1. 2. 3. 4. 5.

1.

Begriff und Funktion der Zensur Zur Geschichte der Zensur Zur Geschichte der Zensur in Deutschland Auswirkungen der Zensur Literatur

Begriff und Funktion der Zensur

Die Zensur (lat. censura = strenge Prüfung, Beurteilung; im röm ischen Staat war das Zensorenam t ein Am t des „Sittenrichters“) bedeutet autoritäre Kontrolle von künstlerischen, publizistischen und wissenschaftlichen Aussagen vor oder nach ihrer Einführung in den Kom m unikationsum lauf. Das wichtigste Merkm al der Zensur ist die Prüfung von Aussagen auf ihre m ögliche Wirkung hin und nicht eine der beiden alternativen Folgen des Zensurverfahrens — Verbot oder Erlaubnis —, obwohl diese, insbesondere das Verbot,

m it dem die Tätigkeit der Zensur m eistens identifiziert wird, „den Sinn des Begriffes Zensur entscheidend geprägt“ haben (OttoFölsing 1984, 230). Kienzle & Mende (1980, 231) definieren Zensur als ein „Mittel sozialer Kontrolle zur Aufrechterhaltung bestehender Produktionsverhältnisse“, das auf „Entm ündigung der Mehrheit der Bevölkerung„ hinzielt. Als Herrschaftsm ittel in den Händen einer m achtausübenden Interessengruppe dient die Zensur der Wahrung der Machtposition und der Privilegien dieser Gruppe. Dam it trägt sie zur Stabilisierung der jeweils herrschenden Ideologie sam t ihrem Werteund Norm enkanon bei. Sie verhindert die Einbeziehung bestim m ter Them en und Problem e in den Kom m unikationsum lauf und begünstigt zugleich ihre Tabuisierung. Eine wichtige Funktion der Zensur besteht in der Diskrim inierung bestim m ter sozialer Grup-

894

pen, um m ögliche system konträre gesellschaftliche Entwicklungen zu verhindern und die bestehende Sozialstruktur aufrechtzuerhalten. 1.1. Träger der Zensur Träger der Zensur sind vor allem : der Staat, die Kirche, politische Parteien, gesellschaftliche Instanzen, kulturelle Gruppen, einzelne Institutionen, die im Produktionsprozeß der Medien (z. B. in Verlagsredaktionen) tätig sind, und die Autoren selbst. Entscheidend dabei ist, daß der Zensurträger „die Macht dazu hat, die Zensurm aßnahm en zu vollstrekken“ (Ogan 1988, 10), wobei hier das Bestreben nach Mobilisierung der öffentlichen Meinung und des „Norm bewußtseins“ (das vor „schädlichen Einflüssen“ bewahrt werden m uß) eine große Rolle spielt. Der Differenziertheit der Zensurträger (Staat, Kirche, Gesellschaftsgruppen) entsprechen drei Argum entationsbereiche für Zensureingriffe: der politische (Argum ente: Verrat, Subversion, Staatsgefährdung), der religiöse (Gotteslästerung, Häresie) und der m oralische Argum entationsbereich (Verleum dung, Sittenlosigkeit, Obszönität, Pornographie, Jugendgefährdung). Nach Otto-Fölsing (1984, 231) stellen die einzelnen Argum ente willkürlich interpretierte, em otional geladene und unpräzise Sam m elbegriffe dar; sie werden oft nur als Vorwand benutzt, wenn z. B. das Argum ent „Pornographie“ als Ersatz-Argum ent für Zensurm aßnahm en gebraucht wird, „falls (Pornographie) m it Kritik an der bestehenden Autorität verbunden ist“ (Schütz 1990, 15). 1.2. Die Legitimierungsstrategien der Zensur Die Legitim ierung der Tätigkeit der Zensur erfolgt hauptsächlich unter Hinweis auf den Bereich der verm uteten Eigenschaften und der verm eintlichen Prädestination der Em pfänger (Leser). In diesem Sinne (ebenfalls als ErsatzArgum ente) werden drei Ursachenkom plexe genannt, die Zensurm aßnahm en legitim ieren sollen: (1) die „eigene Bewußtseinsstufe (der Leser), die sich nicht zu helfen weiß“ (Em rich 1968, 219) und Unfähigkeit zu kritischer Rezeption bedeutet. Bezeichnend ist, daß hier vor allem „die Unm ündigkeit und das Schutzbedürfnis bestim m ter gesellschaftlicher Gruppen unterstellt“ werden (Kienzle & Mende 1980, 231). (2) Die „Inkom petenz dieser gesellschaftlichen Gruppen in bestim m ten Bereichen“ sowie (3) der theologische Begriff „von der Schwäche und Verderbtheit des Menschen, vor denen ihn nur strenge Verbote

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

und Ordnung retten können“ (Otto-Fölsing 1984, 230), stellen weitere leserbezogene legim ti ierungsstrategische Argu m entations m ittel dar. Die Legitim ierung einzelner Zensureingriffe kann aus der Perspektive eines Norm enkanons oder unter Berufung auf die Kategorie der öffentlichen Meinung erfolgen. 1.3. Zensurverfahren und -maßnahmen Die geschichtlich belegten Zensurverfahren können (1) je nach dem Verhältnis zwischen dem Zeitpunkt der Textveröffentlichung und dem des Zensureingriffs sowie (2) nach der Grundlage, auf der der Eingriff basiert, unterschieden werden. Zu (1): In der Literaturgeschichte gab es hauptsächlich zwei Zensurverfahren: die Vor- oder Präventivzensur wurde angewandt, bevor ein Text gedruckt wurde; die Nach- oder Prohibitivzensur dagegen betrifft bereits veröffentlichte Texte. Darüber hinaus gibt es die Rezensur, die sich auf Neuauflagen bezieht, falls das Zensurverfahren wiederholt wird. Zu (2): Besonders politisch orientierte Zensurträger (z. B. politische Parteien) kennen „form elle Zensur (aufgrund von Zensurvorschriften und Gesetzen) und inform elle bzw. strukturelle Zensur (aufgrund von ökonom ischen, politischen (und) psychischen Kontrollm echanism en ...„ (Ogan 1988, 181). Zensurm aßnahm en stellen repressive Mittel dar, die den Autor und/oder seinen Text sowie die Situation der Kultur in dem jeweiligen Land betreffen. Zu den autorbezogenen Maßnahm en gehören Disziplinierung, Einschüchterung des Autors, Sanktionen, Schreibverbot, Zwang zur Em igration, Gefängnisstrafe und physische Vernichtung. Zu den textbezogenen Maßnahm en zählen (kenntlich gem achte oder optisch nicht erkennbare) Tilgung unerwünschter Textpassagen, Textm anipulation/-änderung (Entstellung der Textintention) und Publikationsverbot. Als Zensurm aßnahm en, die sich auf die Situation der Kultur beziehen, können solche Maßnahm en wie negative Beeinflussung der Produktion (z. B. durch reduzierte Papierzuteilung), der Distribution und Rezeption (z. B. durch Manipulation von Buchbesprechungen), Lizenzierungszwang u. a. angesehen werden.

2.

Zur Geschichte der Zensur

Die Geschichte der Zensur ist ein Teil der Geschichte der jeweiligen Machtsystem e, die durch m ehr oder weniger lückenlose Kon-

74.  Das System der Zensur und seine Auswirkungen auf die Literalität

trolle m enschlicher Äußerungen versucht haben, ihr Inform ationsm onopol zu bewahren und von der herrschenden Ideologie abweichende Meinungen und unbequem e Standpunkte zu unterdrücken. Zensur gab es bereits im griechischen und röm ischen Altertum ; sie betraf z. B. „gottlose“ Schriften der Sophisten (Protagoras), Schriften des Philosophen Anaxagoras, griechische Bühnenstücke im antiken Rom und Ovids Gedichte; seine „Ars Am andi“ ist im röm ischen Staat aus den öffentlichen Bibliotheken entfernt worden. Bereits dam als kam es (auch in China) zu Bücherverbrennungen. Im Mittelalter entwikkelte sich die Zensur zu einem System , das sich nicht m ehr auf Einzelfälle beschränkte, sondern eine „Triade“ aus Glaubens-, Sittenund Staatsschutz bildete. Die katholische Kirche, „der m ächtigste Zensor in der Geschichte“ (Schütz 1990, 13), hat im 15. und 16. Jahrhundert rechtliche Grundlagen für Zensurm aßnahm en geschaffen. So hat 1487 Papst Innozenz VIII. eine Bulle erlassen, in der vom Mißbrauch des Buchdrucks und von der Notwendigkeit, eine Präventivzensur einzuführen, die Rede ist. Die Bulle wurde 1515 durch Papst Leo X. erneuert. Durch eine weitere Bulle (1542 vom Papst Paul III. erlassen, 1543 als Zensuredikt an Buchhändler und -drucker gerichtet) wurde eine Druck- und Verkaufsgenehm igungspflicht eingeführt, wobei die Genehm igung nur von der Inquisition erteilt werden konnte. Parallel dazu wurden in Venedig, Florenz und Mailand die ersten Listen verbotener Bücher aufgestellt. Ihren nachhaltigen Ausdruck fanden die Zensurbestim m ungen der katholischen Kirche in dem 1559 unter Papst Paul IV. auf dem Konzil von Trient erlassenen Index librorum prohibitorum. Der Index, der bis 1967 seinen durch Exkom m unikation gesicherten Rechtscharakter hatte, enthielt unter anderem solche Nam en wie Boccaccio, Voltaire, Gide und Joyce; seine letzte Ausgabe ist 1948 erschienen.

3.

Zur Geschichte der Zensur in Deutschland

Die protestantische Kirche hatte keinen vergleichbaren (zentralen) „Index“; für Zensurfragen waren die einzelnen Landeskirchen zuständig. Die Konsequenz war, daß die Zensurgesetze der protestantischen Kirche (verglichen m it denen der katholischen Kirche) weniger wirksam waren (was 1570 auf dem Reichstag in Speyer kritisch hervorgehoben wurde) oder durch irreführende Inform atio-

895

nen über Autor und Herausgeber um gangen werden konnten. Im 17. Jahrhundert gab es praktisch keine neuen Zensurgesetze. Zwei Tendenzen waren dam als für das Funktionieren der Zensur charakteristisch: „Während die Territorialstaaten im Reich ihre Zensurinstitutionen ausbauten, führte der Liberalism us der Universitäten und die den Druckern gewährte Freiheit in den benachbarten Niederlanden dazu, daß das Land ‘zu einem Zentrum der Gelehrsam keit und des Journalism us im Europa des 17. Jahrhunderts’ wurde„ (Schütz 1990, 23 f). Unter Karl VI. und Maria Theresia (die eine weltliche „Zensurhofkom m ission“ gegründet hat) kam es zwar zu Veröffentlichungsverboten und Sanktionen gegen Autoren (Goethe, Werther; Schubart, Deutsche Chronik), es wurde aber 1764 die Theaterzensur und unter Joseph II. (1781) die Bücher- und Zeitschriftenzensur aufgehoben, was die Verbreitung von aufklärerischen Schriften erm öglicht hat. Jedoch stieß das em anzipatorisch m otivierte Interesse des Bürgertum s an Lesestoffen, die als Medium des bürgerlichen Selbstverständnisses funktionierten, auf m assiven Widerstand staatlicher und kirchlicher Herrschaftsinstanzen. 3.1. Vormärz Dieser Widerstand ist in der Zeit des Vorm ärz, der „Hoch-Zeit des Zensurbeam ten„ (Schenda 1981, 21), für viele Autoren spürbar geworden — besonders nach den Karlsbader Beschlüssen (1819), die für Druckerzeugnisse unter 20 Druckbogen (Zeitungen, Zeitschriften) eine Präventivzensur einführten, und nach den Beschlüssen des Frankfurter Bundestags (1835), die als Maßnahm en gegen die Vorm ärzliteratur von Fürst Metternich initiiert wurden. Zu den von den dam aligen Zensurm aßnahm en betroffenen Autoren gehörten H. Heine, K. Gutzkow, L. Börne, L. Wienbarg, H. Laube, Th. Mundt, G. Herwegh, G. Freiligrath und K. Marx. 3.2. Wilhelminisches Deutschland Das Wilhelm inische Deutschland hat die in der Verfassung von 1849 garantierte Meinungs- und Pressefreiheit bald wieder eingeschränkt. Die Präventivzensur war zwar abgeschafft, aber es gab differenzierte Kontrollm echanism en, die (besonders für die Presse) m it finanziellen Konsequenzen verbunden waren (Kautionszahlungen u. dgl.). Das Sozialistengesetz (1878) führte zu zahlreichen Verboten von Büchern und Zeitschriften. Die

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

häufigsten Zensurargum ente lauteten: Dem oralisierung (G. Hauptm ann, Die Weber, 1892/93), Gotteslästerung (F. Wedekind, Die Büchse der Pandora, 1892/1902), Majestätsbeleidigung (H. Mann, Der Untertan, 1911/ 14) und „undeutsche Gesinnung“ (C. Sternheim, Komödien, 1911—15).

es die „Parteiam tliche Prüfungskom m ission zum Schutz des NS-Schrifttum s“, und das Reichsm inisterium für Volksaufklärung und Propaganda war die oberste Kontrollinstanz. Diese Instanzen konnten sich gegenseitig kontrollieren; sie waren „die größte und wirksam ste Zensurbehörde, die es bis dahin in Deutschland gegeben hatte“ (Breuer 1982, 235).

3.3. Weimarer Republik In der Weim arer Republik wurde die Institution der Zensur abgeschafft. Ihre Funktion haben im Klagefall Rechtsinstanzen übernom m en. Häufig vorgebrachte Einsprüche waren Unzucht und Pornographie (A. Schnitzler, Der Reigen, 1896/97 entstanden und erst 1982(!) aufgeführt), Gotteslästerung (W. Hasenclever, K. Tucholsky, E. Glaeser), Verstoß gegen das „Gesetz zum Schutz der Republik“ (J. R. Becher), „Gefährdung des deutschen Ansehens“ (Verfilm ung des Rom ans von E. M. Rem arque „Im Westen nichts Neues“, 1930), „kom m unistische Tendenz„ (Brechts Film Kuhle Wam pe, 1932). Dagegen konnten in der Weim arer Republik viele kriegsverherrlichende Rom ane und Schriften (von E. Jünger, F. Schauwecker, H. Zöberlein, J. M. Wehner, E. E. Dwinger, W. Beum elburg, E. Maass, H. Zerkaulen, H. Steguweit u. a.) erscheinen. 3.4. Drittes Reich Die Zensur im Dritten Reich hatte die Aufgabe, „gegen den Mißbrauch der deutschen Sprache“ einzuschreiten und den sog. „jüdischen Intellektualism us“ zu überwinden. Allerdings stellt die am 10. Mai 1933 stattgefundene Bücherverbrennung „kein einschneidendes Datum in der deutschen Zensurgeschichte“ dar (Breuer 1982, 230); die Nationalsozialisten haben näm lich schon lange vor der „Machtergreifung“ sog. „schwarze Listen“ geführt (bereits 1913 ist ein antisem itisches Literaturlexikon — „Sem i-Kürschner„ von Ph. Stauff — erschienen). Loyalitätsbekundungen, „Treuegelöbnisse“, Entfernungen aus der Preußischen Akadem ie der Künste, Verfolgung oppositioneller Intellektueller, Em igration von über 300 Schriftstellern und Publizisten zeugen von einer beispiellosen Zerstörung des literarischen Lebens in Deutschland nach 1933, an der die Zensur einen wesentlichen Anteil hatte. Im Dritten Reich war die Publikationskontrolle praktisch lückenlos. Schriftsteller und Publizisten m ußten entweder der Reichsschrifttum s- oder der Reichspressekam m er, die wirksam e Überwachungsinstrum ente waren, angehören. Außerdem gab

3.5. Bundesrepublik Deutschland In der Bundesrepublik ist Meinungsfreiheit im Grundgesetz (Artikel 5) garantiert; der Satz „eine Zensur findet nicht statt“ bedeutet, daß die Kontrolle der geltenden Norm en „nicht von staatlichen Zensurbehörden ausgeübt werden darf“ (Breuer 1982, 249), insbesondere daß eine staatliche Präventivzensur nicht stattfinden darf. Eine Prohibitivzensur kann nur im Klagefall von einem ordentlichen Gericht angeordnet werden. Dennoch können einige Beispiele für Prohibitivzensur genannt werden: (1) Schwierigkeiten m it der Veröffentlichung des Rom ans Mephisto (1936) von K. Mann m it der Begründung, der Rom an verletze „Persönlichkeitsrechte von G. Gründgens„. Der Rom an erschien in der BRD erst 1980; (2) „Liste der jugendgefährdenden Schriften“ (der Bundeszentrale für jugendgefährdende Schriften); 1962 wurde die Aufnahm e der Novelle Katz und Maus von G. Grass (1961) in diese Liste vom hessischen Minister für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen beantragt; (3) Schwierigkeiten m it der Aufführung der Stücke von B. Brecht, R. Hochhuth, R. W. Fassbinder und (4) m it der Veröffentlichung des Buches „Mut zur Meinung“, hrsg. von I. Drewitz und W. Eilers, m it Beiträgen von H. Böll, K. Stiller und K. Staeck. 3.6. Deutsche Demokratische Republik In der ehem aligen DDR (vergleichbar m it anderen früheren Staaten der sog. „sozialistischen Dem okratie“) oblag die Steuerung und Kontrolle der Buch- und Zeitschriftenproduktion dem 1951 gegründeten „Am t für Literatur und Verlagswesen„. Das Am t führte Präventivzensur durch, kontrollierte die Verlagspläne und entschied über Papierzuteilung. Von den Kontrollm aßnahm en waren praktisch alle Autoren (darunter z. B. B. Brecht) betroffen, ebenso von personalpolitischen Maßnahm en (E. Bloch, H. Mayer, P. Huchel u. a.). Einige haben Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre die DDR verlassen. Ein Liberalisierungsprozeß begann (im Rahm en

74.  Das System der Zensur und seine Auswirkungen auf die Literalität

des sog. „Neuen Ökonom ischen System s“) Anfang der 60er Jahre. Nach 1971 m achte sich eine weitere Liberalisierungstendenz bem erkbar (Chr. Wolf, U. Plenzdorf, V. Braun), die jedoch m it der Ausbürgerung W. Bierm anns in eine neue Phase trat. Viele Schriftsteller verließen die DDR oder wurden ausgewiesen (Th. Brasch, S. Kirsch, G. Kunert, J. Becker u. a.), einige wurden verhaftet und zu Geldstrafen verurteilt (R. Havem ann, S. Heym ). Die Jahre 1986/87 „brachten eine gewisse Entkram pfung“ (Ogan 1988, 157); die Autoren konnten z. B. leichter als vorher Ausreisegenehmigungen erhalten.

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m ente und Kom m unikationsstrategien geben. Beispiele: die „verdeckte Schreibweise„ im Dritten Reich (Roterm und 1989, 150 ff), „sklavensprachliche“ Ausdrucksform en, neue oder teilweise neue Gattungen: Flugblätter, literarisch-graphische-film ische Form en, politische Lieder u. a. 4.3. Auswirkungen auf das kulturelle Leben

Unabhängig vom politischen System bewirkt die Tätigkeit der Zensur eine Uniform ierung der Literatur, Publizistik und anderer Schaffensbereiche, Elim inierung bestim m ter Them en und Problem e, Rückkehr zu konventionellen Form en, Entpolitisierung und Eskapism us und allgem eine Banalisierung der Them en und Form en. Insbesondere lassen sich die Auswirkungen der Zensur auf folgende Bereiche feststellen:

Die Tätigkeit der Zensur bewirkt, daß das Interesse der Leser an Literatur zurückgeht und eine allgem eine Entleerung des Buchm arktes erfolgt, was eine geistige Stagnation und Nivellierung des künstlerischen Niveaus nach sich zieht. Eine bisher zu wenig berücksichtigte Konsequenz der Zensurtätigkeit liegt darin, daß nach der Aufhebung der Zensur eine Überbewertung der bis dahin inoffiziell (im Untergrund) verbreiteten und für oppositionell gehaltenen Literatur erfolgt. Beispiele: Überbewertung und einseitige Bevorzugung der Literatur der sog. „Inneren Em igration“ nach 1945 oder Überbewertung der Schriften von Autoren, die in den früheren „sozialistischen“ Ländern im Untergrund veröffentlicht wurden und nach der „Wende„ offiziell erscheinen konnten.

4.1. Auswirkungen auf die Situation der Autoren

5.

4.

Auswirkungen der Zensur

Dazu gehören konzeptionelle Schwierigkeiten, Schreibhem m ungen, m aterielle Schwierigkeiten, Sanktionen, Exil, „innere Em igration“, Resignation, Verzweiflung, Selbstm ord und physische Vernichtung durch die Machthaber (m indestens 17 Schriftsteller und Publizisten sind im Dritten Reich um gekom m en oder erm ordet worden). In diesen Problem bereich gehört auch das Phänom en der Selbstzensur. Sie ist die Konsequenz einer perfekt funktionierenden Zensur und stellt eine Form internalisierter Zensur dar. In Zeiten, in denen die Selbstzensur funktioniert, „geht die Zahl der Zensureingriffe zurück und der Staat sonnt sich im Schein der Meinungsfreiheit„ (Kienzle & Mende 1980, 40). Eine andere Konsequenz kann allgem eine Politisierung der Autoren und einen Übergang von der literarischen Tätigkeit zu unm ittelbarer politischer Aktivität bedeuten. 4.2. Auswirkungen auf die Textgestaltung Neben solchen Erscheinungen wie Elim inierung bestim m ter Them enbereiche, Konventionalität und Banalisierung kann es Ansätze zur Entwicklung neuer Textgestaltungsele-

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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Czesław Karołak, Poznań (Polen)

75. Copyright 1. 2. 3. 4. 5. 6.

1.

Allgemeines Schutzgegenstand des Urheberrechts Der Urheber Inhalt des Urheberrechts Nutzung des Urheberrechts Literatur

Allgemeines

1.1.  Unter Urheberrecht versteht m an das Recht, das der Schriftsteller, Kom ponist, Künstler oder ein anderer entsprechender Schöpfer an seinem Werk hat. Die Vorschriften des Urheberrechts sind in den Urheberrechtsgesetzen der verschiedenen Länder niedergelegt. Gewöhnlich um fassen diese Gesetze auch Bestim m ungen über sog. verwandte Schutzrechte, u. a. über den Rechtsschutz der ausübenden Künstler. Das Recht des Fotografen wird in einigen Ländern zum Urheberrecht gezählt, aber in anderen wiederum wird der Rechtsschutz von Fotografien durch spezielle eigene Rechtsnormen geregelt. In Artikel 27 der Menschenrechtserklärung der UNO heißt es: „1. Jeder Mensch hat das Recht, am kulturellen Leben der Gem einschaft frei teilzunehm en, sich der Künste zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Wohltaten teilzuhaben. 2. Jeder Mensch hat das Recht auf Schutz der m oralischen und m ateriellen Interessen, die sich aus jeder wissenschaftlichen, literarischen oder künstlerischen Produktion ergeben, deren Urheber er ist.„ Der Artikel zeigt deutlich die einander widerstrebenden Interessen, die bei der Abfassung des Urheberrechts in Einklang zu bringen sind. Einerseits sind die Forderungen einer freien Inform ationsverm ittlung zu berücksichtigen und den Interessierten zu erm öglichen, an den Errungenschaften der Wissenschaft und Kunst teilzuhaben, aber ande-

rerseits ist für den Schutz der geistigen wie materiellen Interessen der Urheber zu sorgen. 1.2.  Mit dem Term inus ‘Urheberrecht’ assoziiert m an ein auf den Urheber ausgerichtetes Recht, vor allem einen persönlichkeitsrechtlichen Schutz. Beim Term inus ‘copyright’ dagegen liegt der Akzent m ehr auf dem wirtschaftlichen Aspekt. Überall in der Welt ist in letzter Zeit über die wirtschaftliche Bedeutung des Urheberrechts nachgedacht worden. Der Anteil der sog. Urheberrechtsindustrie — Verlagswesen, Presse, Hörfunk, Fernsehen, Theater, Film usw. — am Bruttosozialprodukt betrug in Schweden schon nach einer im Jahre 1982 durchgeführten Untersuchung 6,7%. Die Zahlen für die USA, England, Holland und Finnland sind niedriger, sie liegen bei ca. 3%. Gleichviel, ob die prozentualen Anteile nun nach diesen oder jenen Kriterien errechnet wurden, auf jeden Fall ist klar, daß die Bedeutung des Urheberrechts in letzter Zeit deutlich gestiegen ist. Über Com puter, Bildund Tonträger, Satellitenfernsehen usw. werden in stark zunehm endem Maße dem Urheberrecht unterliegende Werke zum Betrachten, Hören und Lesen überm ittelt. Das Urheberrecht hat sich z. B. bei den GATT-Verhandlungen zu einem wichtigen handelspolitischen Faktor entwickelt. 1.3.  Die Geschichte des Urheberrechts beginnt m it der Erfindung der Buchdruckerkunst, also in der westlichen Welt etwa um das Jahr 1450. Als die Anzahl der Buchdrukkereien stieg, entstanden wirtschaftliche Risiken in der Hinsicht, daß die eine Druckerei dasselbe Werk zu drucken begann, das eine andere schon zur Veröffentlichung ausersehen hatte. Um das Risiko für die Druckereien zu beseitigen, begann m an m it der Vergabe von Druckprivilegien (→ Art. 6). Als deren älte-

75.  Copyright

stes wird das im Jahr 1469 in Venedig an Johann von Seyer vergebene Privileg erwähnt. In China wurde die Buchdruckerkunst offensichtlich schon in den 80er Jahren des 11. Jahrhunderts erfunden. Hundert Jahre danach wurden den Druckereien ähnliche Privilegien eingeräum t wie später im 15. Jahrhundert in Europa. Zwischen dem chinesischen und dem europäischen Privilegiensystem dürfte jedoch kein Zusam m enhang bestanden haben. Den Ehrentitel des ersten Urheberrechtsgesetzes hat das im Jahre 1709 in England erlassene „The Statute of Queen Anne“ erhalten. Gem äß diesem wurde dem Urheber persönlich für eine befristete Zeit das alleinige Recht eingeräum t, sein Werk zu vervielfältigen. Das Urheberrecht wurde som it als ein dem Urheber vom Gesetzgeber eingeräum tes befristetes und genau beschränktes Recht betrachtet. Dieselben Ausgangspunkte lagen auch der später in den USA geschaffenen Urheberrechtsgesetzgebung zugrunde. Das kontinentaleuropäische Urheberrecht entstand als Produkt der Französischen Revolution. Der Ausgangspunkt der Urheberrechtsgesetzgebung wich von der englischen darin ab, daß m an dem Urheber ein m it der Schöpfung eines Werkes entstandenes geistiges Eigentum an seinem Werk zusprach. Obwohl die Andersartigkeit der theoretischen Ausgangspunkte bei der Gesetzgebung bem erkenswert ist, wichen die praktischen Anwendungen nicht entscheidend voneinander ab. 1.4.  Die Urheberrechtsgesetze eines jeden Staates sind nur in dem jeweiligen Staat geltendes Recht. Schon ziem lich früh gelangte m an zu der Überlegung, daß der Urheberrechtsschutz nicht greifen konnte, wenn er nicht auch den Werken von ausländischen Staatsbürgern gewährt würde und wenn er in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich wäre. 1886 wurde die Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst unterzeichnet. Die Konvention basiert auf den Grundsätzen der Inländerbehandlung und der Mindestrechte. Ersteres bedeutet, daß jedes Vertragsland einen Staatsbürger eines anderen Vertragslandes in bezug auf das Urheberrecht wie einen eigenen Staatsbürger behandeln m uß. Der letztere Grundsatz besagt, daß ein Vertragsland einem Staatsbürger eines anderen Vertragslandes die im Abkom m en ausgewiesenen Mindestrechte zu gewähren hat. In der Praxis führt dies

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dazu, daß die Gesetzgebung eines der Konvention beigetretenen Staates die in der Konvention gestellten Forderungen zu erfüllen hat. Da diese sehr m inuziös sind, sind die Urhebergesetze der ca. 80 Vertragsstaaten in den wichtigsten Teilen weitgehend kongruent. Nach der Berner Konvention sind die dem Urheber zustehenden Rechte nicht an die Erfüllung von Förm lichkeiten gebunden. Deshalb konnten die USA, wo im allgem einen eine am tliche Registrierung erforderlich war, nicht beitreten. Da außerdem die Mindestforderungen der Berner Konvention für viele Länder zu hoch waren, wurde m it der Abfassung eines anderen Abkom m ens begonnen, dem sich m ehr Länder anschließen konnten. Das sog. Welturheberrechtsabkom m en wurde 1952 unterzeichnet. Diesem traten die USA zwei Jahre und die Sowjetunion zwei Jahrzehnte später bei. Heute sind auch die USA nach der Revision ihrer Urheberrechtsgesetzgebung der Berner Konvention beigetreten. Die Urheber aus den verschiedenen Ländern der Erde erhalten heutzutage für ihre Werke fast in allen Ländern im Prinzip den gleichen Schutz. Zwischen den Gesetzen der einzelnen Länder bestehen dennoch auch große Unterschiede z. B. in bezug auf die Schutzfrist, von anderen Details gar nicht zu reden.

2.

Schutzgegenstand des Urheberrechts

2.1.  Schutzgegenstand des Urheberrechts sind schriftliche und künstlerische Werke. In einigen Ländern (z. B. in Deutschland) werden zusätzlich zu diesen beiden Gruppen nam entlich wissenschaftliche Werke erwähnt. Die Urheberrechtsgesetze enthalten gewöhnlich einen sog. Werkkatalog bzw. einen Katalog der Werkarten, deren Schöpfer Schutz genießen. Zu diesen Werkarten gehören Schriftwerke (seien sie nun literarisch oder wissenschaftlich), m ündliche Werke wie Reden, Musik- und Film werke, Werke der Tanzkunst, der bildenden Künste und der Baukunst, Produkte der sog. angewandten Kunst, Computerprogramme usw. Der Katalog der Werkarten um reißt das Feld, auf dem Urheberrecht überhaupt in Betracht kom m en kann. Ungeschützt bleiben som it z. B. Erfindungen, wissenschaftliche Theorien und Ideen sowie z. B. Wettbewerbsverfahren. Der Werkkatalog der Urhebergesetze ist jedoch nur ein Beispielkatalog der

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

üblichsten zu schützenden Werkarten. Auch für andere als in dem Katalog erwähnte schriftliche und künstlerische Werke kann deren Schöpfer Urheberrechtsschutz erhalten. Dem Übersetzer und dem Bearbeiter steht ein Urheberrecht für ihre eigene schöpferische Leistung zu.

heberrechte des Arbeitnehm ers auf den Arbeitgeber übergehen. Werden keine Vereinbarungen getroffen, steht m an vor Schwierigkeiten. Zur Lösung einer solchen Situation ist vorgeschlagen worden, daß die Urheberrechte als in dem Maße auf den Arbeitgeber übergegangen angesehen werden, wie zur Verwirklichung des Zwecks des Arbeitsvertrages notwendig ist.

2.2.  Jedoch nicht jede beliebige schriftliche, bildliche u. ä. Schöpfung genießt Urheberrechtsschutz. Schutz wird nur eigenständigen Werken gewährt. So heißt es z. B. in § 2 des deutschen Urhebergesetzes: „Werke im Sinne dieses Gesetzes sind persönliche geistige Schöpfungen.“ Diese Forderung bedeutet, daß das Werk vom individuellen Geist des Urhebers geprägt sein m uß. In der Urheberrechttheorie spricht m an oft von statistischer Einm aligkeit: ein Werk ist eigenständig, wenn m it großer Wahrscheinlichkeit niem and anderes das gleiche Werk geschaffen hätte. Weiterhin wird verlangt, daß die Individualität und Eigenständigkeit ein gewisses Niveau aufweisen m uß, eine sog. Gestaltungshöhe. Ob diese Gestaltungshöhe erreicht ist oder nicht, entscheidet letzten Endes das Gericht aufgrund des Gesam teindrucks nach je nach Werktyp wechselnden Kriterien. Bei Schriftwerken z. B. wird die Anforderung relativ leicht erreicht. Ungeschützt bleiben lediglich Kurznachrichten, gewöhnliche Anzeigen, Warenkataloge usw. Bei der Beurteilung der Gestaltungshöhe ist kein Platz für künstlerische Kriterien. Hinsichtlich des Schutzes befinden sich m inderwertige Werke in der gleichen Position wie hochwertige.

3.

Der Urheber

3.1.  Ein Urheberrecht steht dem jenigen zu, der ein Werk geschaffen hat. Das Recht ist entstanden, wenn ein Werk geschaffen worden ist. Als Schöpfer eines Werks kann nur ein Mensch in Frage kom m en, niem als eine juristische Person (z. B. eine Gesellschaft) und auch nicht z. B. ein Com puter. In einigen Ländern jedoch wird z. B. Film produzenten ein ursprüngliches Urheberrecht gewährt (z. B. in den USA). Ein Werk kann m ehrere Urheber haben, deren gemeinsame Schöpfung das Werk ist. Ein großer Teil der Werke wird in Arbeitsoder Dienstverhältnissen geschaffen. Der Arbeitgeber und der Arbeitnehm er können vereinbaren, ob und in welchem Maße die Ur-

4.

Inhalt des Urheberrechts

4.1.  Das Urheberrecht besteht aus einer Gruppe von Rechten, die entweder Verwertungsrechte oder Urheberpersönlichkeitsrechte sind. Die Verwertungsrechte sind in der Form von Alleinrechten verwirklicht. Indem er diese nutzt, kann der Urheber den Gebrauch seines Werkes kontrollieren. Sie sind ferner die Grundlage dafür, daß der Urheber den wirtschaftlichen Nutzen aus seinem Werk ziehen kann. Verwertungsrechte sind einerseits das Vervielfältigungsrecht und andererseits das Recht, das Werk der Öffentlichkeit anzubieten. Die Herstellung von Vervielfältigungsstükken bedeutet, dem Werk eine physische Gestalt zu geben, m . a. W. seine körperliche Festlegung. Jeder, der einen Artikel m it der Hand, der Schreibm aschine oder einem Textverarbeitungssystem schreibt, fertigt ein Vervielfältigungsstück dieses Werkes an. Derjenige, der dieses dann m ittels Fotokopie oder Druck vervielfältigt, fertigt ebenso Vervielfältigungsstücke davon an. Vervielfältigungen lassen sich vom gesam ten Werk oder einem Teil davon herstellen; wer ein kurzes Zitat aus einem Werk kopiert, fertigt also ein Vervielfältigungsstück des Werkes an. Der Öffentlichkeit angeboten wird das Werk in Abhängigkeit vom Werktyp durch Auf- bzw. Vorführung (z. B. ein Film werk), durch Verbreitung seiner Vervielfältigungsstücke in der Öffentlichkeit (z. B. ein Schriftwerk) oder durch öffentliche Ausstellung (z. B. ein Gemälde). In einigen Ländern enthält das Urhebergesetz eine Vorschrift über eine Vergütung für Schriftsteller dafür, daß ihre Werke in öffentlichen Bibliotheken ausgeliehen werden können (z. B. der Bibliotheksgroschen in Deutschland). In anderen Ländern (z. B. in Finnland) sind solche Bibliotheksvergütungen aus dem Urheberrechtssystem ausgegliedert.

75.  Copyright

4.2.  Von den Urheberpersönlichkeitsrechten sind die üblichsten das Recht auf Anerkennung der Urheberschaft bzw. das Recht, bei dem Gebrauch des Werks die Erwähnung des Nam ens des Urhebers zu verlangen und ein Respektierungsrecht bzw. das Recht zu fordern, daß das Werk nicht in einer Weise geändert oder in einem solchen Zusam m enhang wiedergegeben wird, der geeignet ist, die persönlichen Interessen des Urhebers am Werk zu verletzen. Zu den Urheberpersönlichkeitsrechten wird in einigen Ländern nam entlich das Recht des Urhebers gezählt zu entscheiden, ob und wie er sein Werk veröffentlicht (z. B. in Deutschland). In anderen Ländern (z. B. in allen skandinavischen Ländern) wird diese Entscheidungsgewalt als Verwertungsrecht betrachtet, obgleich es zweifelsohne einen starken persönlichen Charakter hat. 4.3.  Die angeführten Verwertungsrechte des Urhebers sind auf viele Weise beschränkt, sowohl wegen privater Interessen als auch aus kulturellen und sogar sozialen Gründen. Die Beschränkungen weichen in den verschiedenen Ländern voneinander ab und sind auch auf unterschiedliche Weise verwirklicht. Dam it das Urheberrecht die Handlungsfreiheit von Privatpersonen nicht zu stark beschränkt, ist im allgem einen jedem erlaubt, von veröffentlichten Werken einige Vervielfältigungsstücke zum privaten und sonstigen eigenen Gebrauch herzustellen. Hinter dieser Beschränkung des Urheberrechts stecken auch Überwachungsschwierigkeiten: der Urheber kann nicht kontrollieren, was z. B. im Familienkreis geschieht. Der Zweck des Zitierens ist es, eine Hilfe beim geistigen Schaffensprozeß zu sein. Zitate werden vor allem in wissenschaftlichen Werken verwendet, um etwas zu belegen, als zusätzliche Erläuterung, im kritischen Sinne usw. Die Urhebergesetze erlauben im allgem einen das Zitieren, wenn es anständigen Gepflogenheiten entspricht und in einem dem Zweck angemessenem Umfang geschieht. Allgem ein ist das Alleinrecht des Urhebers im Kirchen-, Schul- oder Unterrichtsgebrauch u. a. dadurch beschränkt, daß Teile eines Werkes ohne Erlaubnis des Urhebers in dort verwendete Anthologien übernom m en werden dürfen. Die Wiedergabe und das Überspielen von Werken auf Ton- oder Bildträger für Unterrichtszwecke liegen ebenfalls oft außerhalb der Verfügungsgewalt des Urhebers. Für Unterrichtszwecke kann m an

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auch in vielen Ländern durch Fotokopie oder entsprechende Verfahren Vervielfältigungsstücke von Werken m it Genehm igung der die Urheber vertretenden Organisation herstellen — also ohne die Erlaubnis jedes einzelnen Urhebers einzuholen. Die Urheberrechtsgesetze einiger Länder lassen die Herstellung von Vervielfältigungsstücken ohne Erlaubnis des Urhebers für die besonderen Bedürfnisse von Sehgeschädigten zu. Vielfältige andere Beschränkungen lassen sich finden. 4.4.  Das Urheberrecht dürfte in keinem Land ohne Beschränkungen in Kraft sein. Nach der Berner Übereinkunft ist das Urheberrecht während der Lebenszeit des Urhebers und wenigstens 50 Jahre danach in Kraft. In Deutschland z. B. dauert der Schutz bis 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers. Nach dem Welturheberrechtsabko mm en beträgt die Schutzfrist 25 Jahre.

5.

Nutzung des Urheberrechts

5.1.  Sein Urheberrecht kann der Urheber vor allem dadurch nutzen, daß er — außer indem er Vergütungen und Bestrafung für erfolgte Rechtsverletzungen verlangt — Verträge m it Verlegern, Schallplattengesellschaften, Film produzenten usw. abschließt. Vollständig kann der Urheber sein Urheberrecht im allgem einen nicht einem anderen übertragen. Die Übertragung des Urheberrechts geschieht stattdessen gewöhnlich so, daß der Urheber einem anderen das Recht einräum t, einzelne Kom ponenten seines Urheberrechts (Anfertigung von Vervielfältigungsstücken, Verbreitung, Vorführung usw.) zu gebrauchen. Der Schöpfer eines Schriftwerks kann z. B. einem Verleger das Recht einräum en, Vervielfältigungsstücke von seinem Werk herzustellen und der Öffentlichkeit anzubieten oder einem Theater das Recht, sein Werk aufzuführen. Für dieses Nutzungsrecht handelt der Urheber m it dem Verleger bzw. Theater eine Vergütung aus. Das dem Verleger oder Theater eingeräum te Recht kann entweder exklusiv oder einfach sein. In ersterem Falle erhält der Verleger das Alleinrecht für die Veröffentlichung des Werks und das Theater für die Aufführung des Werks. Aber der Urheber kann auch ein beschränktes Exklusivrecht einräum en: der Verleger erhält das Alleinrecht, das Werk in einem bestim m ten Gebiet, zu einer bestim m ten Zeit, in einer

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VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

bestim m ten Sprache usw. zu veröffentlichen. Die Rechte lassen sich noch weitgehender aufteilen: dem Verleger wird z. B. das Recht übertragen, ein Werk als ‘gewöhnliches’ Buch zu veröffentlichen, und dem Urheber bleibt som it das Recht, es als Buchclubbuch, Taschenbuch, Fortsetzungsrom an usw. zu veröffentlichen. Diese Rechte kann er dann an einen anderen Verleger veräußern. Der Theaterdirektor wiederum braucht vielleicht überhaupt kein Alleinrecht: ihm reicht m öglicherweise die bloße Genehm igung (Lizenz), das Werk aufzuführen. In diesem Fall können andere Theater auf Wunsch das Recht erhalten, dasselbe Stück gleichzeitig aufzuführen. Über einige der zentralsten, die Übertragung des Urheberrechts betreffenden Verträge wie z. B. den Verlagsvertrag, enthalten die Gesetze der verschiedenen Länder im allgemeinen höchst detaillierte Vorschriften.

z. B. die SACEM in Frankreich und die GEMA in Deutschland. Neuerdings, nachdem vor allem die Reglem entierung des Fotokopierens zugenom m en hat, sind auch entsprechende Organisationen zur Überwachung der Nutzung und Verwertung von Schriftwerken entstanden.

5.2.  Im Zeitalter der heutigen Massennutzung von Werken wachen in vielen Sektoren darauf spezialisierte Organisationen über die Verwirklichung des Urheberrechts: anstelle einer individuellen Überwachung ist m an som it zu einer Kollektivüberwachung übergegangen. In den m eisten Fällen ist die Überwachungsaufgabe m it dem Einzug und der Abrechnung der zu entrichtenden Vergütungen verbunden. Die ältesten dieser Organisationen sind im Interesse der Kom ponisten entstanden, wie

6.

Literatur

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Pirkko-Liisa Haarmann, Helsinki (Finnland)

Tafel/Plate I