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German Pages 189 [192] Year 2001
Linguistische Arbeiten
431
Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Hans Jürgen Heringer, Ingo Plag, Heinz Vater und Richard Wiese
Grammatikalisierung, Spracherwerb und Schriftlichkeit Herausgegeben von Helmuth Feilke, Klaus-Peter Kappest und Clemens Knobloch
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Grammatikalisierung, Spracherwerb und Schriftlichkeit / hrsg. von Helmuth Feilke .... meyer, 2001 (Linguistische Arbeiten ; 431) ISBN 3-484-30431-6
Tübingen : Nie-
ISSN 0344-6727
© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck G m b H , Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren
Inhalt
Vorwort Helmuth Feilke, Klaus-Peter Kappest, Clemens Knobloch Grammatikalisierung, Spracherwerb und Schriftlichkeit - Zur Einführung ins Thema
VII
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Gabriele Diewald Ein diachrones Phasenmodell der Grammatikalisierung der Modalverben
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Rosemarie Tracy Spracherwerb durch Epigenese und Selbstorganisation
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Clemens Knobloch Wie man „den Konjunktiv" erwirbt
67
Klaus-Peter Kappest Rekodierungen auf dem Weg zum „Komparativ"
91
Helmuth Feilke Grammatikalisierung und Textualisierung - „Konjunktionen" im Schriftspracherwerb .... 107 Jakob Ossner Orthographische Formulare
127
Sabine Afflerbach Grammatikalisierungsprozesse bei der Entwicklung der Kommasetzungsfähigkeiten
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Bernd Fichtner Grammatikalisierung als kulturelle Aneignung die Perspektive der Kulturhistorischen Schule
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Vorwort
Der vorliegende Sammelband geht zurück auf eine Tagung, die unter dem Thema „Aneignung und Entwicklung - Grammatikalisierung und Rekodierung in der Genese von Sprache, Schrift und Schreiben", im Dezember 1997 im Rahmen des Graduiertenkollegs „Intermedialität" an der Universität-GH-Siegen stattgefunden hat. Den Anstoß zur Beschäftigung mit dem Thema „Grammatikalisierung und Spracherwerb" bildete die Beobachtung, daß Phänomene des kindlichen Spracherwerbs, die man gemeinhin mit Termini wie „Rekodierung" oder - im Anschluß an Annette Karmiloff-Smith - „representational redescription" bezeichnet, in manchen Fällen Phänomenen der Reanalyse in der Soziogenese ähnlich sind. In beiden Fällen führen diese Phänomene zu einer Art von Grammatikalisierung. Mit Blick auf die Ontogenese meint „Grammatikalisierung" einen Entwicklungsfortschritt des Kindes, der von den vorgrammatischen Einwortäußerungen zur Hervorbringung grammatisch normkonformer Sprachwerke führt. Dem gegenüber stehen manchmal ähnlich gelagerte Fälle in der Soziogenese, bei denen die Grammatikalisierung in Form eines diachronen Prozesses der Desemantisierung, Formalisierung und Schematisierung semantischer Optionen auftritt. Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bildete somit die These, daß es in der gemeinsamen Entwicklung von Sprechen und Schreiben des Kindes Grammatikalisierungsprozesse gibt, die Parallelen aufweisen zu solchen, die in der Soziogenese unserer literalen Kultur aufgetreten sind. Diese These will keinesfalls die alte Idee wieder aufleben lassen, daß der kindliche Spracherwerb ein Nachvollziehen der Soziogenese im Zeitraffer darstelle. Sie behauptet lediglich, daß sich in der Sprech- und Schreibentwicklung von Kindern Grammatikalisierungsprozesse abspielen, die, wenn die Kinder vor ähnliche Probleme gestellt werden, wie die Sprechergemeinschaft zu einem vergangenen Punkt der Soziogenese, zu kongruenten Ergebnissen führen. Zentral ist dabei der Begriff des „kritischen Kontextes" von Gabriele Diewald, den sie - neben anderem „Handwerkszeug" der diachronen Grammatikalisierungsforschung - in ihrem Beitrag am Beispiel der soziogenetischen Grammatikalisierung der Modalverben im Deutschen entwickelt. Dieses „Handwerkszeug" läßt sich häufig sehr fruchtbar auch auf Erwerbsfragen anwenden, wenn man als tertium comparationis den Umstand nimmt, daß es historisch und ontogenetisch beständig um Reanalysen geht. Der vorliegende Sammelband beschäftigt sich, angestoßen von dieser These, allgemein mit Grammatikalisierungsphänomenen im Erstspracherwerb. Einen Überblick über das gesamte Problemfeld bietet die thematische Einleitung der Herausgeber. Darin wird unter anderem auch deutlich, daß man unter dem Blickwinkel von Phänomenen der Grammatikalisierung die Entwicklung von Sprechen und Schreiben beim Kind als gleichberechtigte, integrale Bestandteile ein und desselben ontogenetischen Prozesses betrachten muß. In einer durch und durch literalisierten Kultur wie der unseren wird ein Kind bereits von Geburt an beständig mit den Erscheinungen der Schriftlichkeit konfrontiert. Das führt zwangsläufig zu einer genuinen Integration der Schreibentwicklung in den Erstspracherwerb. Sprechentwicklung und Schreibentwicklung sind zwei Aspekte eines komplexen ontogenetischen Vorganges.
VIII In den Beiträgen von Tracy, Knobloch und Kappest werden vor allem Grammatikalisierungsphänomene in der Sprechentwicklung aufgegriffen, während Feilke, Ossner und Afflerbach sich dem Aspekt der Schreibentwicklung widmen. Rosemarie Tracy skizziert auf der Basis einer nativistischen Spracherwerbstheorie ein Modell, das mit spontanen Reanalysen arbeitet, die von kritischen Kontexten „getriggert" werden und die es dem Kind ermöglichen, nach den Prinzipien der Selbstorganisation in dynamischen Systemen, komplexe grammatische Strukturen zu generieren, wie beispielsweise die Satzklammer im Deutschen. Clemens Knobloch und Klaus-Peter Kappest greifen unterschiedliche konkrete Schritte der Sprechentwicklung auf und zeigen, wie es durch eine Folge von mehreren Schritten der Rekodierung zu einer normkonformen Grammatikalisierung im Erstspracherwerb kommt. Das exemplarische Problemfeld bildet dabei in einem Fall der Konjunktiv und im anderen Fall der Komparativ. Den Übergang zum Aspekt der Schreibentwicklung bildet der Beitrag von Helmuth Feilke. Am Beispiel der Satzkonjunktionen geht der Aufsatz auf Ursachen der Grammatikalisierungsdynamik im Schriftspracherwerb ein und belegt u.a. am Beispiel der Opposition von „das" und „daß" im Deutschen Parallelen von Grammatikalisierungsphänomenen in Soziogenese und Ontogenese. Weiter in den Bereich der Schrift im engeren Sinne stößt Jakob Ossner vor. Indem er das Handwerkszeug der diachronen Grammatikalisierungsforschung auf Phänomene des Orthographieerwerbs anwendet, kommt er zu einem Modellansatz der Formularisierung und Schematisierung, der auch didaktisch eine neue Sicht eröffnet. Neue Aspekte der Grammatikalisierung in der Schreibentwicklung zeigt Sabine Afflerbach an einem genuin schriftsprachlichen Phänomen auf: der Kommasetzung. Diachron betrachtet ist die Entwicklung der Kommatierung das Musterbeispiel einer Grammatikalisierung: Das Komma entwickelt sich von einem rhetorischen zu einem grammatischen Segmentierungswerkzeug. In der Ontogenese nimmt zwar die Entwicklung der Kommatierung einen anderen Weg, doch zeigen sich auch dort Aspekte von Grammatikalisierung - vor allem in frei geschriebenen Kindertexten, in denen sich eine Kommatierung ohne vorangegangene Unterweisung in das Setzen von Kommata findet. Zum Abschluß des Sammelbandes gibt Bernd Fichtner der Diskussion noch eine Wendung in die Grundlagen der empirischen Pädagogik. Als Gegenstück zu den kritischen Kontexten Diewalds setzt er die Phänomene der ontogenetischen Grammatikalisierung in Relation zum Modell der (kritischen) Altersstufen von Lev Wygotski und geht der Frage nach, ob vielleicht die kritischen Übergänge zwischen den Altersstufen in Wygotskis Modell (Krise des Einjährigen, Krise des Dreijährigen etc.) ein besonders fruchtbarer Boden für Grammatikalisierungen sind. Wir danken dem Graduiertenkolleg „Intermedialität" der Universität-GH-Siegen, das uns die Durchführung der Tagung ermöglicht hat. Die Ergebnisse der lebendigen und verschiedentlich kontroversen Diskussion sind in die hier vorgelegten Beiträge ebenso eingearbeitet worden, wie die jüngste Forschungsdiskussion zum Thema. Dafür danken wir den Teilnehmern und vor allem den Autorinnen und Autoren, ohne deren Kooperationsbereitschaft das Buch nicht entstanden wäre. Frau Bettina Lange gebührt der abschließende Dank für die Erstellung der Druckfassung. Siegen, im Juni 1999. Helmuth Feilke, Klaus-Peter Kappest, Clemens Knobloch
Helmuth Feilke, Klaus-Peter Kappest, Clemens Knobloch Grammatikalisierung, Spracherwerb und Schriftlichkeit Zur Einfuhrung ins Thema
Die folgende Einleitung entwickelt einen Prospekt, der die verschiedenen Perspektiven auf Grammatikalisierung und Spracherwerb, die in den Beiträgen dieses Bandes artikuliert werden, aufeinander beziehen soll. Die drei Pole der Diskussion sind Sprachwandel, Spracherwerb und Sprachmedialität, respektive Schriftlichkeit. Der Terminus Grammatikalisierung ist zunächst eingeführt in der Theorie des Sprachwandels (vgl. Diewald, in diesem Band). Die Theoreme des Denkmodells finden Entsprechungen in psycholinguistischen Konzepten der Rekodierung (vgl. Knobloch i.d.B.) bzw. Rekonstruktion (vgl. Tracy i.d.B.) und sind in diesem Sinn heuristisch auf Fragen des Spracherwerbs beziehbar. Soziogenese und Ontogenese von Sprache bzw. sprachlicher Kompetenz ihrerseits sind mit der Einführung der Schrift durch eine erheblich gesteigerte Grammatikalisierungs- bzw. Rekodierungsdynamik ausgezeichnet. Die Invention der Schrift im Kontext konzeptioneller Literalität treibt die Grammatikalisierung der Sprache weit über das im Sprechen mögliche und erforderliche Maß hinaus. Erst die Schrift stellt den flüchtigen Laut fest und reanalysiert ihn im Blick auf verschiedene sprachliche Funktionskontexte. Sie prägt auch ontogenetisch den kritischen Übergang von der primär empraktischen zur sprachlichen und in der Folge syntaktischen Feldbestimmung bzw. -bestimmtheit der Zeichen. Der Schwerpunkt unseres Interesses gilt dabei dem Erwerb (vgl. Afflerbach, Feilke, Ossner i.d.B.). Der erste Teil der Einleitung legt den Akzent auf den methodologischen Rahmen und Nutzen des Grammatikalisierungskonzepts. Der zweite Teil thematisiert den Gewinn für Theoriebildung und Deskription im Spracherwerb, und der dritte Teil geht ein auf den Zusammenhang von Grammatikalisierung und Spracherwerb aus dem Blickwinkel der Diskussion zu Schrift und Schriftlichkeit.
1. Grammatikalisierung: Methodologische Optionen
1.1. Entwicklung und Rekodierung Vor aller im engeren Sinne linguistischen Spezifizierung verstehen wir Grammatikalisierung in dieser einleitenden Skizze als ein Paradigma soziogenetischer und ontogenetischer Rekodierungsprozesse. Rekodierung i.S. der Reanalyse, Akkommodation und Differenzierung von Verhaltensschemata und Zeichenverhältnissen ist ein elementares Entwicklungsprinzip. Der Grundgedanke dieses Entwicklungsprinzips lässt sich über den Zusammenhang dreier Konzepte beschreiben: Varianz/Polyvalenz, Konflikt, Schema-Akkommodation & -Differenzierung. Das damit bezeichnete Denkmodell kann auf Entwicklungsprozesse verschie-
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Helmuth Feilke, Klaus-Peter Kappest, Clemens
Knobloch
denster Art bezogen werden und soll einleitend an einem in der Linguistik bekannten Bildfeld, nämlich dem der Zahlungsmittel, veranschaulicht werden: Im Warentauschsystem eignen sich bestimmte Waren (Varianz) besonders (Konflikt) als universelle Tauschmittel (z.B. Salz). In der Folge wird das Schema der Verwendung von Salz als Lebensmittel reanalysiert und ist neu codierbar als Verwendung von Salz als Tauschmittel (SchemaAkkommodation). Verbrauchs- und Tauschfunktion differenzieren sich. Die Ausdifferenzierung und Stabilisierung des Tauschmittelschemas ermöglicht wiederum die Entdeckung von Varianz im Tauschmittelschema. Manche Tauschmittel eignen sich besonders auch zur Wertspeicherung (Edelmetalle). Tauschfunktion und Speicherungsfunktion differenzieren sich. Es entstehen Zahlungsmittel einerseits, Anlagemittel andererseits. Für die Zahlungsmittel wird der Warenwert nebensächlich (Senkung des Edelmetallanteils, Papiergeld, Cheques etc.). Zahlungsmittel haben ihren Wert nur qua Waren- und also Marktpreis. Ihre Substanz ist für den Wert uninteressant. Für die Anlagemittel wird der möglichst stabile, möglichst universelle Äquivalenz-Wert zentral (z.B. Gold, Immobilien). Hier spielen Eigenschaften der Substanz eine entscheidende Rolle. Die Ausdifferenzierung des Speicherungsschemas führt wiederum zur Entdeckung der Varianz in diesem Schema: unterschiedliche Speicherungsoptionen (Vermögen, Guthaben, Anteile etc.). Die Buchführung über Guthaben führt zur Ausdifferenzierung des Buchgeldes als abstrakte, rein informationell-rechnerischen Größe, wobei ausschließlich der rechnerische Wert im Geldmarkt entscheidend ist.
Das Beispiel hat für das Verständnis des Konzepts von Rekodierung, das wir unserer Argumentation zugrundelegen, einigen heuristischen Wert: - Es zeigt zunächst das zyklische Muster von Rekodierungen, als eine Folge aufeinander aufbauender Entwicklungschritte. - Das Beispiel zeigt zugleich auch die Genese eines strukturierten Systems von Optionen, das durch das Handeln hervorgebracht wird und dieses selbst prägt. In diesem Sinn beschreibt bereits Schlegel (1818) das semantische Verblassen des Eigenwerts von Lexemen und deren sukzessive sprachliche Grammatikalisierung analog zur Entstehung des Papiergeldes aus Edelmetall-Münzen. Auch Papiergeld funktioniert nur in einem System abstraktiv bestimmter Werte. - Ein weiterer Gesichtspunkt wird im Beispiel deutlich: Frühe Rekodierungsergebnisse sind durch den Fortgang der Entwicklung nicht ad acta gelegt. Sie bleiben in einem systemisch zunehmend spezifizierten Funktionskontext erhalten und können in der Funktion u.U. fakultativ erweitert werden (z.B. Sammlermünzen). - Eine ungeklärte Frage betrifft das Verhältnis von Soziogenese und Ontogenese. Für heutige Kinder ist Geld ein Gegenstand ihrer Kultur. Sie müssen es nicht neu erfinden. Gleichwohl ist für das Handeln mit Geld die Entwicklung der zugrundeliegenden Handlungsschemata erforderlich. Sie müssen also ontogenetisch von jedem Kind wieder konstruiert werden. Der Rekodierungsgedanke ist fruchtbar also nicht nur für die Sprachanalyse, und innerhalb der Sprache gilt er auch nicht nur für grammatische Entwicklungen. Allerdings führen Rekodierungsprozesse im sprachlichen Bereich - und exemplarisch ist hierfür die grammatische Ordnung des Ausdrucksverhaltens - zu einem außerordentlich hohen Grad gebildemäßiger Formierung und Strukturierung.
Grammatikalisierung, Spracherwerb und Schriftlichkeit
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1.2. Grammatikalisierung: diachron, synchron und ontogenetisch GRAMMATIKALISIERUNG DIACHRON:
In genau diesem Sinn ist „Grammatikalisierung" ein eingeführter Terminus der diachronen Sprachwissenschaft. Er bezeichnet einen gerichteten und in der Regel unumkehrbaren Prozess „leading from lexemes to grammatical formatives" (Lehmann 1995:VIII). Typischerweise involviert das Vorrücken eines (ursprünglich lexikalischen) Elements auf einer diachronen Grammatikalisierungsskala bestimmte Parameter: Abnahme der (semantischen und syntaktischen) Autonomie, der Integrität des Zeichens, Zunahme der Kohäsion des Zeichens mit seiner Umgebung, Rückgang der Variablität, Paradigmatisierung (vgl. das Schaubild in Lehmann 1995:123). Nicht selten bleibt freilich das lexikalische Ausgangselement eines diachronen Grammatikalisierungsprozesses neben seinen Abkömmlingen ebenfalls als solches erhalten. Was durch eine solche diachrone Grammatikalisierungsskala verbunden ist, das rechnet man gewöhnlich zu ein und derselben funktionalen, grammatisch-semantischen oder pragmatischen Dimension des Sprechens, obwohl man im Einzelfall natürlich darüber streiten kann, ob die Herausbildung eines periphrastischen Futurs aus dem ENGL. Vollverb /go/: /I'm going/->
/I'm going to buy a car/->
/I'm gonna go, be.../
oder die Herausbildung einer Präposition aus einem verbalen Partizip oder aus einem relationalen Nomen wirklich Prozesse sind, die in einer funktionalen Dimension stattfinden bzw. verbleiben. Es gibt jedoch definitiv auch diachrone Grammatikalisierungsprozesse, in deren Verlauf lexikalische Formen und grammatische Schemata die dominante Funktionssphäre wechseln, etwa wenn prädizierte Possession mit Hilfe eines EXIST-Prädikators und eines LOC-Elements ausgedrückt wird: „bei mir gibt es" für /ich habe/, wie man es nicht selten findet (vgl. z.B. Heine 1997). Diachrone Grammatikalisierungsprozesse sind in den letzten 15 Jahren in Theorie und Empirie gründlich erforscht worden, was möglicherweise eine Trendwende auch der synchronen Linguistik anzeigt: Die nämlich scheint zusehends wieder an der Erkenntnis Gefallen zu finden, dass die synchronen Funktionssysteme des Sprechens ohne Rekurs auf ihre diachrone Genese nicht restfrei analysiert werden können.
GRAMMATIKALISIERUNG, SYNCHRON:
Logisch relativ unabhängig von den Hypothesen und Theorien der diachronen Grammatikalisierungsforschung ist die Annahme, dass sich die verschiedenen in einer funktionalen Dimension des Sprechens zur Verfügung stehenden Optionen ebenso oder ähnlich in synchronen Grammatikalisierungsskalen anordnen lassen. Was in der Diachronie gewöhnlich unterstellt wird: die geordnete „Verwandtschaft" der in einer Skala vereinten bzw. benachbarten Erscheinungen, das wird in der synchronen Sphäre sofort zum explikationsbedürftigen Problem: Was gehört eigentlich in ein und dieselbe „funktionale Dimension des Sprechens"? Natürlich hält keine Einzelsprache im Normalfall den kompletten Satz von Optionen bereit,
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Helmuth Feilke, Klaus-Peter Kappest, Clemens Knobloch
der in einer diachronen Skala durch Nachbarschaft verbunden wäre.1 Wenn etwa ein typischer diachroner „Grammatikalisierungskanal" (Lehmann 1995) fur die grammatische Kategorie des Futur die folgenden Stufen aufweist: [Vollverb -> Hilfsverb —> klitisches Hilfsverb —> agglutinative Flexion -> fusionierende Flexion] dann finden wir zwar möglicherweise diachrone Zyklen, die alle diese Stufen durchlaufen (vgl. etwa für die Diachronie pronominaler Elemente die Arbeit von Limburg & de Groot 1986), jedoch kaum Sprachzustände, welche alle diese Optionen zugleich bereithielten. Vielmehr verfügen natürliche Sprachen in der Regel über eine oder wenige fokale Kategorien in einer grammatisch-semantischen Funktionssphäre (vgl. Seiler 1985), während andere, diesen stark kategorisierten Optionen gegenüber „sekundäre" Optionen entweder auf markierte Kontexte beschränkt sind oder stärker in der lexikalischen Sphäre verhaftet bleiben. Nicht selten dagegen ist die synchrone Koexistenz verschieden stark grammatikalisierter Abkömmlinge ein und derselben Ausgangsform mit dieser (lexikalischen) Ausgangsform selbst. So kennt das Deutsche eine friedliche Koexistenz diverser Abkömmlinge des Demonstrativums /der, die, das/: den bestimmten Artikel, das Relativpronomen, das starke oder focussierende Personalpronomen der 3. Person, die Konjunktion „dass". Durch ihre unterschiedliche Distribution bleiben all diese Formen für praktische Zwecke hinreichend distinkt. Das Beispiel macht deutlich, dass die diachrone Argumentation bezüglich der „gleichen Dimension" präzisierungsbedürftig wird, wenn man eine synchronische Perspektive einnimmt. Multipel grammatikalisierte Elemente wie das Demonstrativum /das/ mit seinen zahlreichen Abkömmlingen, belegen, dass diachrone Grammatikalisierungsprozesse an den Eigenschaften relevanter Lexeme anknüpfen, die in ihrer jew. Dimension funktionsrelevant sind: Der Artikel an der „Als-bekannt-Setzung", das Relativpronomen an der anaphorischen Referentialität und Relationalität,2 das „starke" Personalpronomen an der focusetablierenden Funktion, die Konjunktion an der Fähigkeit des Neutrums /das/, kataphorisch auf Propositionen zu verweisen. Mehrfach grammatikalisierte lexikalische Elemente indizieren eine (grammatisch relevante) Aspektheterogeneität des (lexiklaischen) Ausgangselementes. Einzelsprachen neigen in ihrer Grammatik zur dimensionsspezifischen Schwerpunktbildung, zur Etablierung unmarkierter „default"-Optionen, von denen ein Sog- oder Schwerkrafteffekt ausgeht. Und obwohl, wie zu zeigen sein wird, das in einer Dimension vorherrschende „Format" keineswegs folgenlos, keineswegs pragmatisch oder semantisch indifferent ist, bleibt das synchrone Nebeneinander unterschiedlich stark grammatikalisierter Optionen durch andere Restriktionen begrenzt als das diachrone Nacheinander. Während diachrone Grammatikalisierungsskalen im tatsächlich belegten Nacheinander von Formen und Konstruktionen außengestützt sind, haftet ihrem synchronen pendant unweigerlich ein größeres Quantum von Spekulation oder, freundlicher gesagt, theoretischer 1
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Insofern ist es nicht ganz unproblematisch, wenn Heine (1997:236) schreibt: „since diachronic processes tend to be retained in the synchronic state of a given language in the form of contextually defined variation, they are in much the same way an issue of synchronic description." Der zweite gebräuchliche Kanal für die Genese von Relativpronomen: die Fragepronomina, setzt bei einer anderen, gleichfalls funktional relevanten Eigenschaft dieser Wörter an, bei der Markierung einer „offenen" Argumentposition.
Grammatikalisierung, Sprachenverb und Schriftlichkeit
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Setzung an: Soll die Komparation der Adjektive als stärker grammatikalisierte Gradierungsoption verstanden und mit Gradpartikeln und Gradadverbien zusammengeschlossen werden oder sollen beide zu einer breit angelegten Dimension des „Vergleichens" gehören, die dann auch Konstruktionen mit /so...wie/ und den ganzen Apparat zur Vergleicheung von Prädikaten bzw. Propositionen umfassen müsste? Wie begrenzt man die Dimension der Modalität?
GRAMMATIKALISIERUNG, ONTOGENETISCH:
Als Grammatikalisierungsprozess kann man schließlich und endlich noch die Dimension des kindlichen Spracherwerbs verstehen, welche von den „monorhematischen" Äußerungen des Kleinkindes zur allmählichen Etablierung topologischer und morphosyntaktischer Schemata im Sprechen fuhrt. Dieser Prozess hat es einesteils mit dem synchronischen Nebeneinander verschieden stark grammatikalisierter Optionen in der zu erwerbenden Sprache, anderenteils mit den recodierenden und re-repräsentierenden (Karmiloff-Smith 1992) Prozessen bei deren schrittweiser mentaler Rekonstruktion zu tun.
2. G r a m m a t i k a l i s i e r u n g u n d S p r a c h e r w e r b
Schwenkt man den Blick vom synchronen Nebeneinander veschiedener Optionen in einer Dimension auf deren ontogenetische Erwerbsabfolge, so verschiebt sich die Optik nachhaltig. Auf der einen Seite haben wir typische Erwerbschronologien mit deutlicher Entsprechung in der diachronen Sphäre. So sind sich alle Experten darin einig, dass die stärker grammatikalisierten Optionen der „epistemischen" Modalität (Konjunktiv, epistemischer Gebrauch der Modalverben) erst sehr viel später produktiv erworben werden als ihre „deontisch" modalen Grammatikalisierungsquellen (vgl. Stephany 1986, Ramge 1987, Dittmar & Reich 1993). Bei diesen letzteren selbst ist die Verwendung als „Vollverben" (/Ich kann das, ich will ein Eis, ich muss mal, du sollst das nicht/) früher als die auxiliare Verwendung. 3 Für die oben erwähnten Abkömmlinge des Demonstrativums gilt Ähnliches (vgl. KarmiloffSmith 1979). Hier (und in vielen anderen Fällen) scheint die ontogenetische Entwicklung ganz natürlich von den relativ autonomen, lexikalisch und semiotisch integren Optionen hin zu den stärker grammatikalisierten zu verlaufen. 4 Auf der anderen Seite gibt es jedoch nicht minder deutliche Evidenz dafür, dass Grad und Art der einzelsprachlichen Grammatikalisierung von Kategorien und Funktionsbereichen die Erwerbschronologie ebenfalls nachhaltig beeinflussen (vgl. Slobin 1985 I und II, Bates & MacWhinney 1989). So führt die weitgehend eindeutige, durchsichtige und semiotisch integre grammatische Funktionsmorphologie des Türkischen zum frühzeitigen und konsisten-
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die für den „ellipsophilen" Grammatiker freilich schon immer im Hintergrund lauert: /Ich will das haben, du sollst das nicht machen.../. D i e Voraussetzung dafür ist natürlich, dass dem diachronen Nacheinander ein synchrones Nebeneinander im gegenwärtigen Sprachzustand entspricht.
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ten Einsatz formaler Darstellungsmittel, die in anderen Sprachen erst sehr viel später erworben werden (vgl. Aksu-Koc & Slobin 1985) Während Homologien zwischen Diachronie und Erwerbschronologie zu Spekulationen Anlass geben, welche eine Art von individueller Rekapitulation kulturhistorischer Entwicklungen vorsehen, scheinen die einzelsprachspezifischen Vorgaben des individuellen Erwerbsprozesses häufig in ein mildes „Whorfianisches" Licht getaucht zu sein. Solche „starken" Weiterungen sind jedoch keineswegs zwingend, wenn man den kognitiven „Doppelcharakter" des individuellen Spracherwerbs bedenkt: einerseits ist die zu erwerbende Sprache ein autonomer Problemraum für sich, andererseits werden Zeichen und Mittel für die allgemeine und kulturelle Kategorienbildung angeeignet.
2.1. Primäre Automatisierung Auf der anderen Seite gibt es jedoch Erscheinungen im kindlichen Grammatikerwerb, die einer gerade entgegengesetzten Entwicklungslogik zu folgen scheinen: von den am stärksten grammatikalisierten und quasi-mechanischen Optionen hin zu den „höheren", dem Bewusstsein und dem Lexikon näheren. In den Sphären extrem niedriger syntagmatischer Variabilität und höchster Felddetermination, die ja als hoch grammatikalisiert gelten (z.B. Personenflexion des Verbs, Numerusformen der Nomina, Kasusrektion, Genus-, Kasus- und Numeruskongruenz der pränuklearen Adnominalia), scheint es eine ontogenetisch primäre Grammatikalisierung und Automatisierung zu geben, deren Abfolgeregularitäten völlig anders organisiert sind und durch Ent- und Reautomatisierungsroutinen charakterisiert scheinen, wie man sie aus dem Erwerb der Pluralmorphologie und aus der Zuordnung der Nomina zu Genusklassen kennt (vgl. Macwhinney 1978, Mugdan 1977, Köpcke 1982, 1987). Das scheint daran zu liegen, dass gerade die hoch automatisierten grammatischen Formen und Konstruktionen der Ausgliederung, der Analyse und der analogischen Rekombination die stärksten Widerstände entgegensetzen. Die involvierten grammatischen Zeichen sind meistens hoch kohäsiv, mit ihrer Umgebung verflochten, strukturell in der Ebene des gebundenen Morphems oder an der unteren Wortgrenze, in jedem Falle: wenig autonom, nicht frei kombinierbar und daher vom Lerner kaum aus den Zusammenhängen der fallweisen Verwendung herauszulösen. Sie werden von ihren Kontexten her konditioniert und mitgesteuert. In der Regel gehören die Optionen zu kleinen und geschlossenen Paradigmen, aus denen an der jeweiligen Redestelle eben nicht „frei" gewählt werden kann.5 Vielmehr ist die jew. „Wahl", sofern man an diesem Euphemismus festhalten möchte, einerseits obligato-
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Was hier narrt, das ist die tiefe terminologische Zweideutigkeit des Ausdrucks „Paradigma", der meist so verstanden wird, als impliziere er eine Wahl des Sprechers zwischen mehreren gleichermaßen zur Verfügung stehenden Optionen. In diesem Sinne bilden aber z.B. die Kasusformen eines Ν kein Paradigma, denn es gibt praktisch keine Position in der syntagmatischen Verkettung, an der zwischen mehreren Kasusformen gewählt werden könnte. Nicht einmal die Präp. mit Akkusativrektion für Dirketional- und mit Dativrektion für Lokalergänzungen sind diesbezüglich wirklich „frei", da Direktionalia nur gewählt werden können, wenn sie von einer „entsprechenden" Verbbdeutung mitgetragen werden. Ähnlich die Positionen des Personenparadigmas der Verben, die dem Sprecher durch seine Rolle eher „auferlegt" werden, als dass er sie wählte. Ähnliches gilt für die Sing./Pl.-Option bei N. In allen Genusfragen hat man schon gar keine Wahl, sobald ein Ν gewählt ist.
Grammatikalisierung, Spracherwerb und Schriftlichkeit
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risch, andererseits durch die pragmatische (und später kontextuelle) Konstellation des Sprechens weitgehend vorgetan und determiniert. Der Charakter der einschlägigen Operationen bleibt daher zunächst mechanisch und unbewusst, und nur durch spezifisch konditionierte Ent-Automatisierungen können sie sekundär bewusstgemacht und in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden. 6 Je schwerer es den Grammatikern fällt, allgemeine Regeln für einen Bereich zu formulieren, desto wahrscheinlicher unterliegt dieser Bereich der primären Automatisierung (Artikelgebrauch, Pluralformen, Genus, Kongruenzmorphologie der adjektivischen Attribute) mit ihren eigentümlichen Stufenfolgen. Dazu eine kleine Illustration: Im Deutschen stehen die (ausschließlich) mit primären Präp. fusionierten Formen des Artikels /im, ins, am, vom, zum, zur/, sprechsprachlich auch /beim, vorm, mim, aufm, überm../ auf der Grammatikalisierungsskala höher als die „einfachen" und (morphologisch) „freien" Artikel. Ihre Verwendung in der Erwachsenensprache ist begrenzt auf diejenigen Kontexte, für die sich der nicht ganz glückliche Name der „semantischen Definitheit" (im Gegensatz zur „pragmatischen") eingebürgert hat (vgl. hierzu Ebert 1971, Diskussion bei Löbner 1985, Himmelmann 1997): /Karl geht zum Arzt/ vs. /Karl geht zu dem Arzt, zu dem er immer geht/ Obligatorisch fusioniert wird da, wo es „pragmatische Definitheit" (im Gegensatz zur „semantischen") gar nicht gibt, also z.B. bei substantivierten Infinitiven: /Das ist zum Kotzen; Er wendet sich zum Gehen; Er ist am arbeiten; Das kommt vom vielen Kratzen/ Die fusionierte Form dominiert auch da, wo Nomina inhärent possessiv sind (oder im Nahumkreis so verwendet werden, als wären sie es). Gerade in der vielfach auf das Nahumfeld begrenzten Kommunikation mit Kindern sind diese Formen häufig: /vorm Haus, im Auto, am Schrank, am Kopf, im Bauch, ins Bett../ Eisenberg (1989:286) weist daraufhin, dass die Definitheitsopposition bei diesen Fusionsformen in Auflösung begriffen sei, während Himmelmann (1997) nur einem Marker für „semantische Definitheit" überhaupt den genuinen Artikelstatus zugestehen möchte. Möglicherweise gibt es für beide Positionen Argumente, die sich nicht einmal wechselseitig in ihrer Geltung ausschließen. Das haben wir hier nicht zu entscheiden. Beizusteuern haben wir lediglich die Beobachtung, dass diese fusionierten Formen in der Sprechsprache der Vorschulkinder einige bemerkenswerte Eigenheiten aufweisen können. Es versteht sich, dass der diachrone Grammatikalisierungskanal für den ontogenetischen Erwerbsprozess nur bedingt offensteht. Die fusionierten Formen können zwar ausdrucksseitig auf die „freien" 6
Noch die sprichwörtliche Folgenlosigkeit expliziten grammatischen Wissens für die tatsächliche Sprachbeherrschung gehört in diesen Zusammenhang.
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Artikel bezogen werden, weil der Ausgangsvokal oder -konsonant der fusionierten Form auf den „Ausgang" der „entsprechenden" Artikelform verweist. Gleichwohl gibt es viele Kontexte, in denen eben nur die eine oder nur die andere Option gewählt werden kann. Das ist anders, wo der Differenz zwischen Fusion und Trennung grammatisch nichts entspricht, beide Formen also promiscue verwendet werden können: /Was fürn Brot willste?/ vs. /Was für ein Brot willst du?/ /vorm Haus/ vs. /vor dem Haus/ Im synchronen Nebeneinander braucht die stärker grammatikalisierte Form gegenüber der schwächeren keine Kontextausweitung zu zeigen; sie tritt ja nicht an deren Stelle, sondern ergänzt die schwächer grammatikalisierte Option. Andererseits dürfte partielle Überlappung, wie im Falle der fusionierten und der freien Artikelformen, typisch sein. In diesem Falle dient die explizitere, stärkere, leichter zu focussierende Form ohne weiteres zur Reanalyse der impliziten, schwächeren und nicht zu focussierenden Form. Andererseits zeigt aber die praktische Beherrschung („Behavioral mastery"; KarmiloffSmith 1992) nur kleine, auf den ersten Blick ganz unauffällige Verschiebungen. Einmal scheinen Vorschulkinder die fusionierten Formen auch auf Eigennamen und Quasi-EN auszudehnen, was an sich nur konsequent ist, da EN ja den Inbegriff „semantischer Definitheit" bilden. Auf der anderen Seite entsteht ein Konflikt mit der Option der Artikellosigkeit bei EN. In der Masse der absolut unauffälligen Belege findet man viele des Typs: /Hier hinten wär' die Höhle vom Affe/ Wie auch immer man diese Daten im einzelnen bewerten mag, fest steht, dass gerade Optionen, die auf einer synchronen Grammatikalisierungsskala benachbart sind, einander oft kontextuell oder situativ ausschließen. Wenn beide Optionen nach ihrer Realisierungsform (i.e. morphologisch oder lexikalisch) verwandt sind, dann kann die eine vermittels der anderen eher reanalysiert werden als im Falle fehlender ausdrucksseitiger Beziehbarkeiten. Eine psychologische Folge dieses Umstandes ist die relative Isolierung gerade der am stärksten grammatikalisierten Optionen, deren Zusammenhang mit den weniger stark grammatikalisierten (jedenfalls in Flexionssprachen; in „isolierenden" Sprachen sieht das anders aus) dazu tendiert, verloren zu gehen. Demnach scheint es gerade im Falle der stark grammatikalisierten Muster eine Korrelation mit den Mechanismen der „primären Automatisierung" zu geben, von der aus sich der Aneignungsprozess nur mühsam und partiell (vielfach erst vermittelt durch die Seh- und Objektivierungshilfen des Schreibens) einen Verbindungsweg zu freieren und flexibleren Optionen zurückbahnen muss. Es sind dies typischerweise rein „konstellativ" konditionierte Formmuster, bei denen es keine Spielräume und keine semantischen Entscheidungen zu treffen gibt. Sie sind vielmehr automatisierte „Folgen", gleichsam im Schlepptau anderer lexikalischer, grammatischer oder semantischer Entscheidungen.
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Spracherwerb und Schriftlichkeit
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2.2. Ausdrucksseitig unverbundene Kontinua Weitaus häufiger (und für die Dynamik der Aneignungsprozesse interessanter) scheinen aber die Fälle zu sein, in denen die zu einer funktionalen Dimension gehörigen Optionen zwar ein Grammatikalisierungskontinuum bilden, dessen Felder aber nur partiell oder gar nicht ausdrucksseitig aufeinander beziehbar sind. Während es sich bei den isolierten und relativ stark grammatikalisierten Domänen überwiegend um das handelt, was Bühler (1934) als „Feldzeichen" mit der inneren Organisation der Satz- und Textsyntax in Verbindung bringt, geht es im nunmehr thematischen Bereich eher um das, was Bühler (1934) „formalisierte Symbolwerte" genannt hat: Zeichen, die einerseits aus begrenzten Optionensätzen tatsächlich gewählt werden (wie Tempus/Aspekt/Modus, wie Numerus, Determination, Grad, wie thematischer Status des Referenten etc.) und die andererseits an der Organisation des satzsyntaktischen Beziehungsfeldes gar nicht oder nur indirekt teilnehmen (z.B. wenn sie „kongruenzpassiv" oder „regiert" auftreten, wie der Konj. in bestimmten Nebensätzen etc.). 7 Wenn man grammatisch-funktionale Sphären so bestimmt, dann findet man fast immer ein ausdrucksseitig unverbundenes Kontinuum von partiell überlappenden, aber insgesamt pragmatisch-semantisch distinkten Optionen (vgl. für die TAM-Komponente Lehmann 1991). In der Sphäre der epistemischen Modalität etwa gibt es die Verben der „propositional attitude" (/glauben, hoffen, wissen, vermuten, dass.../), es gibt die Adverbien und Partikel (/bestimmt, vermutlich, wahrscheinlich../ bzw. /wohl, ja, doch.../), es gibt modale Hilfsverben, die auf epistemische Modalität spezialisiert sind oder sie nebenbei bewältigen (/hätte, wäre, würde, dürfte, müsste../ bzw. /soll, will, muss, kann/), und es gibt den flexivischen Konj. mit einer deutlichen Tendenz zur regierten Verwendung nach nicht-faktiven Prädikaten, unter denen die verba dicendi den prototypischen Fall abgeben: /Er sagt, er habe geschlafen/ vs. /Er will geschlafen haben/ vs. /Er hätte wohl geschlafen/ Hier, wie in analogen Fällen, stellt sich die Frage, ob und wie benachbarte Optionen für einander Reanalysehilfen darstellen, obwohl es keine ausdrucksseitigen Brücken zwischen ihnen gibt, sondern nur pragmatische oder konstellative Ähnlichkeiten und Überschneidungen in der Verwendung.
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Manchmal findet man an dieser Stelle auch die Unterscheidung zwischen „innensyntaktischen" und „aussensyntaktischen" Zeichen bzw. Funktionen. Wichtig ist jedoch auch der Hinweis, dass zwischen diesen beiden Bereichen keine scharfen Grenzen existieren. So sind z.B. die stark grammatikalisierten Kasus über regierte und semantische Adpositionen mit der Sphäre der „lexikalischen" Relationen verbunden, die adnominale Kongruenzmorphologie unterhält Beziehungen zur „interreferentiellen" Kongruenz, die jedenfalls bewusstseinsnäher und weniger tief automatisiert ist. Auch bilden die Feldzeichen innerhalb des Satzes ein Kontinuum zwischen den zentralen vom Prädikat „mitgesetzten" Relationspartnern und den durch semantische Kasus und Adpositionen „angebauten" (vgl. Lehmann 1995:107ff). Je weniger ein Relatorzeichen durch die Leerstellen des Prädikats definiert und determiniert ist, desto eher trifft die klassische Zeichendefinition auf es zu: der Inhalt der Relation ist dann allein der Inhalt des Zeichens, das sie ausdrückt. Umgekehrt hat ein Zeichen keinen eigenen Inhalt (und wird zum blossen Diakritikon gedrückt), wenn es allein zwischen den gesetzten Relationspartnern eines Prädikats unterscheidet. Von jeher hat man in der Kasustheorie zwischen „grammatischen" (d.i. bloß diakritischen) und „konkreten" (d.i. dem „Anbau" von Relationen dienenden) Kasus unterschieden.
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2.3. Hochkonjunkturen, Kontexterweiterungen und U-Kurven Der „lexikalische" Gebrauch eines wasbestimmten Zeichens ist durch dessen Referenzpotential oder durch dessen prädikativ-charakterisierenden Wert fallweise bestimmt.8 Das jedenfalls lehrt uns die alltägliche Sprach-Ideologie, und wir wollen es einen Augenblick für bare Münze nehmen. Lexikalische Wahlen sind kommunikativ thematisierbar und (vergleichsweise) bewusstseinsnah. Wir werden weiter unten argumentieren, dass neben der (immer syntagmatisch und diskursiv eingeschränkten) semantischen Autonomie für den „lexikalischen" Status eines Sprachzeichens auch andere, eher „formale" Gesichtspunkte wichtig sind oder werden können. Vielleicht empfiehlt es sich sogar, den „Wort"-Status aus seiner höchst suggestiven Kopplung mit dem Lexikon zu lösen. Zunächst einmal stehen „Wörter" höher in der Rhematisierbarkeitshierarchie als Klitika und Affixe. Das besagt zunächst nicht viel über ihre semantische „Autonomie", es indiziert nur die Existenz „anderer Möglichkeiten" an der Thematisierten Stelle. Möglicherweise ist die notorisch sperrige, gegen Definitionsversuche spröde Worteinheit überhaupt am besten reflexiv bestimmbar: als einzelsprachlich optimale Einheit der bewussten Ausgliederung. Das sei jedoch einstweilen, wie es mag. Diachrone Grammatikalisierungsprozesse involvieren, neben dem Rückgang der semantischen Autonomie und der semiotischen Integrität, die Reduktion kontextueller Beschränkungen. Das eine ist gleichsam das distributioneile Pendant des anderen. Denn was in eine Unzahl wechselnder Zusammenhänge als Steuerzeichen invariant eingesetzt werden kann oder muss, das verliert automatisch seinen klar umrissenen semantischen Eigenwert. Es wird gewissermaßen „synsemantisiert" (vgl. Lehmann 1995:156). Ein augenfälliges Beispiel für den Zusammenhang zwischen der Reduktion kontextueller Beschränkungen und dem Bedeutungsverlust bilden die „Affixoide" in der Wortbildung. Während man das lexikalische Bestimmungswort in /saudoof/ noch als konkreten und semantisch motivierten „Vergleich" interpretieren kann, reduziert sich die Bedeutung von /sau-/ in der Reihe /saugut, saustark, sauschön, sauheiß, saukalt.../ zu einem Gradaffix für „hohe Ausprägung" der im Grundwort / Adjektiv bezeichneten Eigenschaft. Ob man freilich bei solchen Prozessen den graduellen Verlust der lexikalischen oder die graduelle Entstehung einer neuen, „grammatischen" Bedeutung in den Vordergrund stellt (vgl. zur Diskussion Diewald 1997:18ff), tut nichts zur Sache. Die kategoriale Differenz bleibt bestehen, sie wird in einer solchen Reihe erst erzeugt. Semiotisch mutiert das referenzfähige Lexem zuerst zum dekategorisierten Vergleichskonzept in der Komposition und dann zum abstrakten Gradzeichen, das zwar noch nicht „paradigmatisiert" ist, aber doch schon einen Teil seiner ausdrucksseitigen Autonomie eingebüßt hat, indem es zum gebundenen Morphem wurde (dem freilich noch ein ausdrucksseitig identisches freies und lexikalisches Morphem zur Seite steht). Nicht jede Kontextexpansion ist freilich ein Grammatikalisierungsprozess.9 8
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Man kann darüber spekulieren, ob sich das Referenzpotential eines (lexikalischen) Sprachzeichens in situierten joint-attention-Routinen herausbildet und sukzessiv beim Zeichen selbst als dessen Eigenwert befestigt. Die charakterisierende Funktion des Zeichens gegenüber dem Referenten ist stärker syntagmatisch vermittelt, da sie sich erst in der Verkettung von referentiellen und prädizierenden Zeichen herausbildet (bzw. in der Disjunktion von Nennfunktion und Zeichenbedeutung). Vgl. Lehmann (1991) zur Ausbreitung des Movierungssuffixes /-in/ im Deutschen. Ob das ASTAPlakat mit der Aufschrift /Erstsemester/-innen-Fete/ eine Übergeneralisierung oder ein Scherz war, lassen wir vorsichtshalber ungeklärt.
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Was nun den kindlichen Erstspracherwerb betrifft, so gibt es eine Reihe von Beobachtungen, die den Schluss nahelegen, dass es auch dort „ähnlich strukturierte" Abläufe gibt. Drei von ihnen werden wir im Folgenden vorstellen: Reanalysefehler, Hochkonjunkturen, und UKurven. Bei solchen Analogien ist jedoch größte Vorsicht geboten. Bei weitem nicht alle Komponenten und Determinanten diachroner Prozesse haben eine klare Entsprechung in der Synchronic und vice versa. Vorab also eine Liste einschränkener Bemerkungen, die sich durchaus verlängern ließe: 1. Die „Grammatikalisierung" des kindlichen Sprechens verläuft strikt parallel zu seiner „Lexikalisierung". Das haben Werner & Kaplan (1963:190ff) in einer klassischen Untersuchung gezeigt, welche die Entwicklungsstufen von lexikalischer Umgrenzung und morphosyntaktischer Variablität als insgesamt parallel rekonstruiert. Dagegen besteht der „Input" diachroner Lexikalisierungsprozesse aus Konstruktionen und Ausdrücken mit voll etablierten lexikalischen und grammatischen Gebrauchsweisen.10 2. In die kindliche Aneignung grammatischer Formen und Muster geht die allgemeine kognitive Entwicklung als variabler Steuerfaktor ein, Kinder „entnehmen" dem sprachlichen Angebot die Bezüge, die sie verarbeiten und für sich systematisieren können. Dagegen ist der kognitive Hintergrund diachroner Grammatikalisierungsprozesse wohl als halbwegs konstant anzunehmen.11 3. Alle Stadien und Etappen des kindlichen Grammatikerwerbs sind durch den gleichen (idealen) Sprachzustand geprägt, der lediglich selektiv und nach sich entwickelnden Prinzipien angeeignet wird. Dagegen besteht der „Input" diachroner Grammatikalisierung immer aus dem letztvorigen Sprachzustand.12 4. Während der strukturelle Status der Ein- und Ausgangselemente in diachroner Grammatikalisierung halbwegs klar zu sein scheint, unterliegen die Ein- und Ausgangselemente der ontogenetischen Grammatikalisierung ständiger operationaler und prozessualer Transformation. Die Evidenz für ontogenetische Grammatikalisierungsprozesse ist demgemäß eher indirekt und oft vertrackt. 5. In der diachronen Grammatikalisierung glaubt man zu wissen, wann formative Veränderungen ein „neues Zeichen" hervorgebracht haben: Wenn das allgemeine Sprachbewusstsein einen „Abkömmling" mit seiner fortexistierenden Quelle nicht mehr zusammenbringt (vgl. Diewald 1997:21 zum Beispiel FRANZ /avoir/ und dem daraus entstandene synthetische Futur /j'ir-ai/ etc.). In der Erwerbsperspektive ist jedoch weder der semiotische Status einer gebrauchten Form eindeutig noch ist immer klar, ob und in welchem Sinne gerade grammatische Elemente auch für das Kind Zeichenstatus haben. Es dürfte auch weitgehend akzeptiert sein, dass „distributional learning is possible even in the ab10
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Lehmann (1989) weist jedoch auf die weitgehenden Parallelen zwischen Grammatikalisierung und Lexikalisierung auch in diachroner Perspektive hin. Wir setzen voraus, dass niemand das Bedürfnis versprürt, den vor dem Hintergrund des zerfasernden junggrammatischen Ansatzes entwickelten Gedanken wiederzubeleben, der kindliche Spracherwerb sei selbst ein kapitaler Faktor des Sprachwandels. Bei Stern & Stern (1928) finden sich noch Nachklänge dieses Gedankens. Relativiert werden diese Kautelen alle durch den Umstand, dass auch diachrone Grammatikalisierungsprozesse natürlich durch den Kopf der Sprecher hindurch gehen und nichts anderes sind als Verschiebungen in den Parametern, die dieses Sprechen steuern.
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sence of semantic interpretation" (Bates & Macwhinney 1989: 67). Anders gesagt: Im kindlichen Spracherwerb - das macht seine Beobachtung so kompliziert - entstehen ständig „neue" Zeichen, obwohl sie ausdrucksseitig längst „da" sind, unauffällig gebraucht und vor allem: vom Beobachter „wahrgenommen" werden.13 Für die Grammatikalisierungsprozesse im kindlichen Spracherwerb verschärft sich das Problem unserer Strategien bei der Wahrnehmung und Interpretation frühkindlicher Äußerungen (vgl. hierzu Tracy 1996). 6. Die Struktur eines Ausdrucks verrät uns nichts über die „Korngröße" seiner Semiotisierung im kindlichen Sprachgebrauch.14 Für diese „Korngröße" haben wir nur indirekte und vermittelte Anhaltspunkte in auffälligen Erscheinungen des Grammatikerwerbs. Drei dieser auffälligen Erscheinungen wollen wir kurz vorstellen.
REANALYSE-FEHLER
Reanalyse-Fehler, das hat man immer gewusst, sind nicht einfach „Fehler", es sind die bekanntermaßen flir die Spracherwerbsforschung aufschlussreichen „Fenster", durch die wir die Selbstorganisation des kindlichen Sprechens beobachten können. Am auffallendsten sind sie in der Morphologie mit ihren, im Vergleich zur Syntax, sehr strikten Richtigkeitsnormen. Dort hat man denn auch zuerst bemerkt, dass Kinder, nachdem sie zuvor vielfach die „richtigen" Formen gehört und gebraucht haben, zu analogischen Mustern nach starken Vorbildern greifen: /gehte, Schtlhe, vieler../, zu „Doppelpluralen" wie /Büchers/, „Doppelimperfekten" wie /gingte/ (Stern & Stern 1928:141) etc. Offenbar zeigen diese Formen eine grundstürzende Reorganisation der Sprechoperationen an, einen Übergang von der Repetition zur Konstruktion von Formen auf der Grundlage analogischer Muster. Ähnliche Beobachtungen, vielfach weniger spektakulär, lassen sich auch in anderen Feldern des Spracherwerbs machen (vgl. Karmiloff-Smith 1979, 1985 über den Gebrauch von Artikeln und Pronomen, Bowerman 1982 über die Semantik von Verben, Feilke 1998 über die Konjunktion /dass/). Charakteristisch für diese Erscheinungen ist ein „Rückschritt" auf der Ebene der korrekten Formbeherrschung verbunden mit einem „Fortschritt" in der Ebene der Aneignung, Differenzierung und Repräsentation der betroffenen Formmuster. Angezeigt wird durch solche Reanalyse-Fehler eine Verschiebung im Gefilge der operational relevanten sprachlichen Einheiten. Die freilich ist alles andere als einfach zu beschreiben. Das stark konnektionistisch inspirierte „competition"-Modell von Bates & Macwhinney (1989) hypostatsiert in der Sphäre der deutschen Pluralmorphologie die Abfolge von „rote", „rule" und „analogy" 13
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Bei weitem nicht jeder „behavioral change" ist auch „representational change" und vice versa; vgl. Karmiloff-Smith (1992:19). Oft ist nur indirekt zu erkennen, dass bereits beherrschtes „Material" seinen operativen semiotischen Status verändert hat. Im übrigen verweist dieses Beobachtungsproblem nur auf sein Anaogon in der Sprache der Erwachsenen. Wirklich sicher ist eigentlich nur, dass die grammatischen Zeichen für den Linguisten Zeichenstatus in dem Sinne haben, dass ihre „Funktion" oder „Bedeutung" beschrieben werden kann. Für den Sprachbenutzer tauchen sie lediglich in Lagen der forcierten Diakrise zwischen Ausdrücken oder Konstruktionen aus dem Meer der mechanisch konditionierten „richtigen" Formen auf. Streng genommen gilt das auch für die Erwachsenensprache, wie Helmuth Feilke in seinen Untersuchungen zur Ausdrucksbildung zeigt (vgl. Feilke 1994, 1996).
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als aufeinander aufbauenden Lernprinzipien. 15 Dabei werden auch die strukturellen Gegebenheiten des jeweiligen Feldes in der Einzelsprache als „aktive" Lernfaktoren berücksichtigt. So sind die formidentischen, semiotisch integren und (potentiell) starktonigen „Flexions"elemente einer agglutinierenden Sprache „cues" von ganz anderer Qualität als die (begrenzt variablen und schwachtonigen) Flexionselemente des Deutschen (oder gar des Englischen). In den Arbeiten von Ann Peters (1983, 1986, 1995), die um das Problem der Ausgliederung und der Bildung operativer Einheiten kreisen, geht es um den Versuch einer „dynamischen Beschreibung" der Wechselwirkung zwischen formulaischen Mustern, die sukzessive flexibilisiert, und ihren „items", die sukzessive variabilsiert werden. In Karmiloff-Smiths (1992) RR-Modell der Sprachentwicklung (RR = representational redescription) kommt die Dimension der etappenweisen Verinnerlichung, der Unterbrechung, Recodierung und Re-Repräsentation außengesteuerter Sprechroutinen hinzu. Da, wo zunächst ein unanalysiertes, aber morphosyntaktisch komplexes Muster gebraucht wird, operiert in der nächsten Etappe vielleicht ein Ensemble von gestaffelten Determinanten, ein Ensemble, in welchem die zuvor ungetrennte Synthese von lexikalischem „Stamm" und wechselnden Feldvektoren getrennt eingewogen wird. Vertrackt ist, dass man eine solche Transformation ebenso als Übergang der operativen Kontrolle auf das einzelne Lexem mit seinen ureigenen Besonderheiten wie auch als Übergang der operativen Kontrolle auf das komplexe syntagmatische Formschema mit einem lexikalisch spezifizierten „filier" verstehen kann, als Lexikalisierung und als Grammatikalisierung. Die ReanalyseFehler indizieren just diese Ambivalenz. Die operative Kontrolle wird gleichzeitig verteilt und konzentriert. Das eine korreliert mit lexikalischer, das andere mit morphosyntaktischer „Formbildung". Es ist offenbar eine Art Ausgleichsprozess zwischen System-, Feld- und Lexikonvektoren, was da unter unseren Augen stattfindet und durch die Logik der Reanalyse-Fehler angezeigt wird. Was die Spracherwerbsforschung als konkurrierende und komplementäre „Strategien" der Aneignung von Morphosyntax thematisiert (vgl. Kaltenbacher 1990, Peters 1995), das könnte darauf hindeuten, dass Reanalyse-Fehler eine Neuadjustierung zwischen nenn- und prädikatswortbasierten Kombinatoriken auf der einen, komplex formulaischen Redestrategien auf der anderen Seite anzeigen. Genuin syntaktische Reanalyse-Fehler sind, sofern sie sich von morphosyntaktischen einigermaßen sauber trennen lassen (etwa wenn sie die Konstituentenfolge im Satz oder in der Wortgruppe betreffen), allgegenwärtig, aber weniger augenfällig. Vermutlich basiert auch das, was wir in diesem Zusammenhang „Syntax" nennen, auf dem komplexen Zusammenspiel zwischen flexibilisierten Formeln und variabilisierter Elementekombination. Doch ist es, der größeren Freiheitsgrade syntaktischer Normenbildung im Sprechen wegen, weniger leicht, Ebenen der primären „behavioral mastery" von sekundären Reanalyse-Prozessen zu unterscheiden (vgl. Tracy, in diesem Band). 16 „Rückfälle" sind weniger augenfällig, und die Entwicklung scheint auf den ersten Blick kontinuierlicher. Man geht wohl nicht fehl mit der 15
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Man beachte den für formal denkende Grammatiker gewiss provozierenden Umstand, dass die versuchte Regelbildung der adäquateren Analogiebildung als „Vorstufe" vorausgeht! In der Sprech- und Umgangssprache, der die Kinder überwiegend ausgesetzt sind, werden Reihenfolgenormen viel laxer gehandhabt als in der Schriftsprache, an deren strengerer Norm sich Grammatiker von jeher orientieren. Überdies sind die para- und protosyntaktischen Muster, derer sich Erwachsene im Umgang mit Kleinkindern vielfach bedienen, noch viel zu schlecht untersucht. Man denke nur an die vielen Techniken der „herausstellenden" Doppelreferenz vom Typ /Da sind sie ja, die Kinder/ oder /Der Hase, der iss runtergefallen/.
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Vermutung, dass die Syntax ihre Steuerparameter Zug um Zug von der dargestellten Situation oder Szene (von „pragmatischen" Steuerfaktoren also) auf intra- und intersententielle Binnenregularitäten der Sprache verlagert (hierzu vgl. man Givon 1989, Karmiloff-Smith 1992).
HOCHKONJUNKTUREN
Eine nicht minder auffällige Erscheinung bilden die temporären „Hochkonjunkturen" bestimmter Form- und Ausdrucksmuster in bestimmten Phasen des kindlichen Spracherwerbs. Prominent sind die Erscheinungen des ersten und des zweiten „Fragealters" (die Nenn- und Namensfragen des Typs /Is'n das?/ bzw. die /warum/-Fragen). Zu nennen sind aber auch Erscheinungen wie die im Kontext des kollektiven Symbol- und Fiktionsspiels zeitweise endemischen /hätte, wäre, würde/-Formen (vgl. Knobloch, in diesem Band). Auffallend sind solche „Hochkonjunkturen" vor allem, wenn sie auf starker ausdrucksseitiger Musterbildung beruhen und gleichzeitig als „effiziente Lösungen" (Karmiloff-Smith 1992: 17) in standardisierte pragmatische oder semantische Problemkontexte eingebunden sind. Für die ontogenetische Grammatikalisierung erscheinen sie als stark außengestütze „Einstiege", als Ausgangslagen für die Kontextausweitung und Flexibilsierung der jew. Formmuster, gewissermaßen als ontogenetisches Pendant der „kritischen Kontexte", die Diewald (in diesem Band) filr diachrone Grammatikalisierungsprozesse ausgemacht hat.
U-KURVEN
Den Ausdruck „U-Kurve" hat, soweit wir sehen, Karmiloff-Smith (1979, 1992) in die Diskussion gebracht. Die Sache selbst, auf der diese begriffliche Prägung beruht, ist freilich schon sehr viel länger bekannt. Sie steht in engem Zusammenhang mit der von Werner & Kaplan (1963:9ff, 132ff und öfter) postulierten „Spiralität" der Spracherwerbslogik: Was als funktionsgebundene verbale Strategie beginnt, das wird in der nächsten Entwicklungsetappe reanalysiert und recodiert und für einen weiteren Umkreis wechselnder Verwendungszusammenhänge eingesetzt, wobei aber die primären Routinen der Form- und Musterverwendung erhalten bleiben. Für den Beobachter entsteht der paradoxe Eindruck, dass ein zuvor beherrschtes Konstruktionsmuster „verlernt" und dann erst etappenweise wieder neu angeeignet wird. Wir interpretieren solche U-Kurven als Indikatoren für Grammatikalisierung, für die Transformation pragmatisch-situativer Problemlösungen in interne, repräsentationsgesteuerte Techniken des Sprechens, die auf diesem Wege ihre spezifische Funktionsbindung verlieren.17 Offenkundig ist der Zusammenhang zwischen den U-Kurven und den beiden anderen thematisierten Erscheinungen. Was wir als Reanalyse-Fehler bezeichnen, das indiziert die Ablösung eines Formschemas von der standardisierten Problemlösung, in deren Zusammenhang es angeeignet wurde. Die „Hochkonjunkturen" dagegen zeigen an, dass sich eine Kor17
Im ganz ähnlichem Sinne argumentiert Sinha (1988:107), entscheidend für den Spracherwerb, namentlich für dessen schematische Komponenten Grammatik und Syntax, sei die Fähigkeit, kanonische Funktion-Form-Beziehungen zu entkoppeln. Wir kommen darauf zurück.
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relation von Formschema und Problemlösung herausbildet, die als „Input" für ontogenetische Grammatikalisierungsprozesse dienen kann.
3. S c h r i f t s p r a c h e , S c h r i f t s p r a c h e r w e r b & G r a m m a t i k a l i s i e r u n g
3.1. Schrift und sprachliche Rekodierung Die ordnungsbildenden Konsequenzen von Rekodierung und Grammatikalisierung können sowohl in soziogenetischer als auch ontogenetischer Perspektive exemplarisch an den sprachlichen Folgen der Invention von Schriftlichkeit studiert werden, nicht zuletzt deshalb, weil Schrift durch ihre Dauerhaftigkeit die Bedingungen fiir eine Re-Analyse sprachlicher Verhältnisse verbessert. Deshalb bildet dieser Bezug ein wichtiges Teilthema des vorliegenden Bandes (vgl. die Beiträge von Afflerbach, Feilke, Ossner). Unbeschadet ihrer zentralen Funktion als Medium nichtsprachlicher Symbolisierungen etwa im Bereich von Rechenoperationen oder der Musik - ist Schrift bereits in einem frühen Stadium ihrer historischen Entwicklung auf Sprache bezogen (vgl. Harris 1994, Coulmas 1994). Die Entwicklung der Ausdrucksseite ist dabei einerseits eng gekoppelt an die kontinuierliche Rekodierung der Schreiboperationen selbst (vgl. Brekle 1994, 1996). Auf diese Weise etwa haben sich z.B. Schreibrichtungen herausgebildet und soziogenetisch verfestigt. In diesem Sinne stabilisieren sich in der Genese von Schrift vorsprachlich graphetisch bereits Ordnungen des Schreibens, die zunächst vor allem auf die räumliche Ordnung der Schriftsymbole auf der Schreibfläche bezogen sind. Sie bilden die „materiale" Infrastruktur des Lesens und Schreibens. Diese Materialisierung von Schriftformen und Ordnungen durch die Rekodierung der Schreiboperationen ist andererseits nicht losgelöst von ihrem semiotischen Status und dessen kontinuierlicher Rekodierung selbst zu denken. Ist die Entwicklung der Kursiven aus der Kapitalschrift beispielsweise noch schreibpraktisch zu erklären, so sind ihre Konsequenzen schon semiotischer Natur, indem in der Kursiven die Option des Spatiums zur graphischen Unterscheidung der Wörter eingesetzt wird. In der Folge wird die Alphabetschrift lexikalisch, das heißt orientiert an Bedeutungseinheiten rekodiert. Nach der gleichen Logik der Entwicklung wird im Anschluss der zunächst rein material gegebene und semiotisch unbestimmte Unterschied zwischen den Inventarien der Majuskelschrift und der karolingischen Minuskel zur grammatischen Rekodierung der lexikalisch bestimmten Schrift genutzt. Ihr wiederum schließt sich die nun vom Wort abgelöste Grammatikalisierung der Schrift, namentlich in der Entwicklung der Interpunktion, an (vgl. Stetter 1997, 62f). Die Entwicklung der schriftlichen Ausdruckseite ist in diesem Sinn eng gekoppelt an den semiotischen Status der Schrift als Analogon und Modell von Sprache. Das Analogisierungsverhältnis der Schrift als Sprache ist dabei einerseits akkommodativ, zum anderen assimilativ bestimmt: Dieses Verhältnis unterliegt historisch starkem Wandel. Insbesondere in den Alphabetschriften resultieren aus der anfänglichen analogischen „Anpassung" der
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Schrift an die Sprache im Zuge der Entwicklung zwei aufeinander aufbauende Entwicklungstendenzen: Zu beobachten ist erstens eine sukzessive Versprachlichung der Schrift und zweitens - in Umkehrung der ursprünglichen Projektions-Richtung der Analogie - die Verschriftlichung der Sprache. Nicht mehr die Schrift wird in Analogie zur Sprache, sondern die Sprache in Analogie zur Alphabetschrift modelliert (vgl. Lüdtke 1980, 1 ff.). Beide Aspekte seien kurz kommentiert.18
3.2. Versprachlichung der Schrift „Versprachlichung der Schrift" meint eine erste Stufe der Entwicklung, in der im Sinne von Coulmas' (1981) Diktum „Schrift ist Sprachanalyse" in der Sprache gegebene Unterscheidungen schriftlich symbolisiert werden. Das gilt zunächst freilich für den Lautbezug der Schrift, wobei zu betonen ist, dass nicht eine gegebene Lautung in die Schrift „abgebildet", sondern umgekehrt qua Schrift für das Sprach-Verstehen relevante Aspekte der Lautung bezeichnet und überhaupt erst zeichenhaft - im Sinne diskreter Einheiten - gefasst werden. Hierin kommt schon früh der Bezug auf die wörtliche Gliederung des Sprechens zum Tragen (Maas 1992). Weigl (1979) weist etwa für die Schriftgeschichte auf die Wort- und damit Sprachbezogenheit bereits scheinbar ikonographisch funktionierender Schriftsysteme hin. Ikonogramme sind nicht Abbildungen von Vorstellungen, sondern Zeichen für Wörter. Auch die enorm früh und schnell sich ausbildende Fähigkeit von Lernern, Wortgrenzen in der Schrift zu kennzeichnen, verweist auf eine bereits vor der Verschriftlichung angebahnte Kompetenz zur operativen Ausgliederung von Einheiten im Wortformat. In dieser Perspektive ist das notorische Problemfeld der Getrennt- und Zusammenschreibung bloß das Negativ einer im Schriftspracherwerb eigentlich weitgehend problemlos sich entwickelnden Fähigkeit zur Markierung von Wortgrenzen. Als Grund für diesen scheinbar unproblematischen Aspekt der Grammatikalisierung von Schrift kann vermutet werden: Die Unterscheidung von Wörtern ist bereits gestützt durch außerhalb genuin schriftlicher Kontexte des Sprachhandelns liegende Ausgliederungsmotive für Wörter (Rhematisierung, Topikalisierung, empraktischer Wortgebrauch etc.). Favorisiert sind dabei freilich zunächst Autosemantika gegenüber den Synsemantika.19 Die Fähigkeit zur vorschriftlichen operativen Ausgliederung von Wörtern steht außer Frage. Selbst eine darüber hinausgehende, bereits deutlich reflexive Anforderungen stellende Aufforderung zur Ausgliederung von Wörtern über die Bitte, jeweils nach einer Sprechpause „das letzte Wort", „den letzten Satz" oder „das letzte Ding" zu wiederholen, führt zu dem Ergebnis, dass die Mehrheit der Kinder bereits
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Einen historisch und systematisch orientierten Überblick zu dieser Diskussion -insbesondere das Verhältnis von Schreiben und Sprechen betreffend- gibt die Untersuchung von Karin Müller (1990) zu der Maxime „Schreibe, wie du sprichst!". Damit stimmt überein, dass Kinder verschiedentlich auch noch nach der Einschulung Funktionswörtern lange keinen Wortstatus zubilligen wollen. Unproblematisch ausgliederbar sind dagegen die prototypisch autosemantischen Einheiten des Sprechens (vgl. Garton/Pratt 1989). Auch in der Geschichte der schriftlichen Sprache lässt die Ausgliederung der Funktionswörter vergleichsweise am längsten auf sich warten, weil namentlich Artikel und Präpositionen in syntaktische Zwänge und semantische Einheiten stärker eingebunden sind (vgl. Parkes 1999, Saenger 1999).
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Sprachenverb
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mit fünf Jahren in der Lage ist, auto- und synsemantische Wörter als solche zu erkennen und auszugliedern (vgl. Karmiloff-Smith 1992:51ff). Zur Aufgabe der Sprachanalyse also verhält sich Schrift mit ihren Mitteln zunächst weitgehend akkommodativ. Sie bezieht sich auf eine Ordnung sprachlicher und metasprachlicher Fähigkeiten. Strukturen der Schrift - namentlich das Spatium - sind hier wesentlich „fundiert" (Maas 1992:41f.) in Strukturen des Sprechens. Freilich geht es bereits hier um mehr als ein bloßes Abbildungsverhältnis von Schrift zur Sprache. Es geht um die Artikulation in einem neuen Medium, um die Reanalyse von Sprache mittels der Schrift. Im Ergebnis handelt es sich bei den dabei entstehenden Produkten zunächst einmal um geschriebene Sprache, das heißt um eine in erster Linie medial bestimmte Schriftlichkeit. Die Ausgliederung des Wortes in der Schrift wird gerne emphatisch als Beleg dafür angeführt, dass eigentlich erst die schriftliche Artikulation im Unterschied zum Sprechen grammatische Analyse und grammatisches Wissen fordere und voraussetze. Das stimmt so für geschriebene Sprache sicher nicht. Die wörtliche Gliederung der Schrift impliziert vorderhand nicht mehr grammatische Kompetenz, als sie bereits das Sprechen erfordert. Geschriebene Sprache impliziert - auch in einer Alphabetschrift - keineswegs zwingend schon kognitive Strukturierung i.S. einer kategorisierend verfahrenden symbolgrammatischen Auflösung des Ausdrucks. Nur so ist u.E. erklärbar, dass selbst früh schreibende Kinder einerseits bis zur Einschulung in ihren Schriftprodukten so gut wie keine Wortgrenzen markieren (vgl. Gombert 1992, Scheerer-Neumann 1996), andererseits aber genau diese Markierung nach der Einschulung sehr schnell anzuwenden wissen, und zwar ohne dass hierzu ein spezieller Grammatikunterricht stattfinden muss, auch wenn es entsprechende Übungen freilich gibt (vgl. Holle 1997). Die Mehrzahl der Kinder ist in der Lage, das vor der Schrift erworbene sprachliche Können auch mittels der Schrift zu artikulieren. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass es freilich stets auch einen Anteil von Lernern gibt, die im Blick auf diese Aufgabe besondere Anstrengungen zu unternehmen haben (vgl. Röber-Siekmeyer 1998). Eine kognitiv-symbolgrammatische Auflösung des Ausdrucks im Schreiben wird u.E. erst dort tatsächlich erforderlich, wo die Tiefenschärfe der grammatischen Auszeichnung in der Schrift systematisch über die grammatischen Anforderungen des Sprechens hinausgeht (Morphosyntax, Großschreibung der Nomina etc.). Die schriftlich vorgelegte Entschuldigung einer Mutter, die nicht zum Elternsprechtag in die Schule kommen konnte „Ich hatte kein bein klein" fordert zur erfolgreichen Kontextualisierung im Medium der Schrift wenigstens eine morphosyntaktisch klare Ausweisung der in der grammatischen Norm der Schriftsprache differenzierten Kasus: „Ich hatte keinen beim kleinen". Zusätzliche Großschreibung „Kleinen" schafft zusätzliche Klarheit bezüglich des grammatischen Status der Elemente. Hier geht es bereits um mehr als geschriebene Sprache. Es geht um grammatische Markierungsleistungen, die das Sprechen z.B. über prosodische Qualitäten zum Ausdruck bringt oder infolge seiner situativen Einbettung nicht einmal braucht. Der sogenannte „Akkudativ" -hier z.B. bein statt beim- ist für das Sprechen kein Problem. In der Schrift kann er zum Problem werden. Das heißt aber auch: Als bloßes Analogon des Sprechens und seiner Motive kommt die Schrift nicht weit. Anders sieht es aus, wenn man statt des Gesichtspunkts der bloß akkommodativ verfahrenden Sprach-Analyse die Optionen der Schrift in den Vordergrund stellt. Durch Schrift wird Sprache visuell gegenständlich und kann zum Gegenstand einer visuell bestimmten Rekodierung von Sprache und Text werden. Die Ergebnisse dieser Rekodierungen erzeugen
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Varianz und komplementär Systematisierungsbestrebungen im Bereich der graphischen, morphologischen, grammatischen und auch der textuellen Formen der Schrift. Die Intentionen dieser auf Sprache selbst bezogenen Analyse überschreiten den bis dato nahe liegenden Motivkreis des Sprechens. Nicht bloß, dass die Schrift zur praktisch rein epistemisch motivierten Untersuchung und Reanalyse sprachlicher Verhältnisse einlädt, sie ermöglicht überdies eigenständige konstruktive Symbolisierungen, die im Sprechen keine Analoga mehr haben. Hierin, und nicht in den analogen Strukturen, liegt das eigentlich bestimmende begriffliche Merkmal, die differentia specifica, der schriftlichen Sprache.
3.3. Verschriftlichung der Sprache 3.3.1. Geschriebene Sprache, schriftliche Sprache und Schriftsprache Mit dieser Entwicklung kommt es zur „Verschriftlichung der Sprache". Das heißt: Es entstehen und stabilisieren sich historisch genuin schriftliche Kontexte sprachlicher Rekodierung und Strukturierung. Die Sprache selbst, das heißt nicht bloß Ausdruckssubstanz und Ausdrucksform, sondern auch Inhaltsformen werden genuin schriftlich konstruiert und bestimmt. Es kommt zur Ausbildung genuin schriftgrammatischer Strukturen. Damit hängt ein zweites bereits angesprochenes Faktum eng zusammen: Die Schrift eingeführt als Mittel der visuellen Vergegenständlichung von Sprache - wird zum Motiv einer weitergehenden Sprachanalyse, sie wird zum Motiv grammatischer Analyse und der professionellen GrummaXiVschreibung selbst (historisch: vgl. Ivo 1996, systematisch: vgl. Stetter 1997). Dabei folgt jedes weitergehende grammatische Analyseinteresse zunächst den praktischen Problemen des Lesens und Textverstehens (vgl. Parkes 1999). Es ist deshalb kein Zufall, dass am Anfang der Grammatikschreibung stets didaktische Motive stehen. Bevor er die erste Grammatik des Deutschen 1534 vorlegte, hatte Valentin Ickelsamer 1527 bekanntlich schon seine Erstlesedidaktik verfasst (vgl. Giesecke 1990). Beide Tatsachen zusammengenommen, die Ausdifferenzierung der Strukturen und gleichzeitig deren reflexive Beschreibung und normative Festschreibung als Grammatik führen zu einem wichtigen Entwicklungsschritt: Aus der geschriebenen Sprache gehen unter deskriptivem Aspekt - das System der schriftlichen Sprache und - unter normativem Aspekt - die Schriftsprache als die grammatisch codifizierte standardsprachliche Varietät der Nationalsprachen hervor (vgl. Ludwig 1983, Ehlich 1994). Die Ursachen dafür sind nicht einfach instrumentalistisch herleitbar. Die Grammatikalisierung der geschriebenen Sprache folgt keiner äußeren und auch keiner inneren Notwendigkeit. Schrift bietet vielmehr die Option zur Einführung und Begründung von Unterscheidungen in der Sprache. Dabei geht es um Unterscheidungen, die manchem als bloße „Komfortsignale" der Schriftkommunikation, das heißt als informationsstheoretisch redundant und praktisch in weiten Teilen entbehrlich erscheinen, - bekanntlich ein notorischer Streitpunkt in der orthographischen Reformdiskussion. Grammatikalisierung der geschriebenen Sprache hängt pragmatisch auch mit dem Umstand zusammen, dass Schrift sprachliches Zeichen im vollen Sinne ist, d.h. die geschriebene Sprache nicht einfach, einem immanenten Zug zum System folgend, grammatikalisiert wird, sondern als Schriftsprache und Normgefüge in ihrer Entwicklung stets kulturellen und sprachpolitischen Prestigemarken (z.B. dem Latein) folgt. Hier haben die Schreiber, die Übersetzer, die frühen Lexikographen, die professionel-
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len Leser und die Drucker eine entscheidende Rolle gespielt. Grammatische Unterscheidungen in der schriftlichen Sprache folgen in ihrer Dynamik historisch stets auch den Distinktionsbedürfhissen sprachlicher Eliten (vgl. Maas 1991a). Homonymendifferenzierung durch Heterographie etwa, aber u.E. auch die Großschreibung oder die Konstruktion eines Systems der Interpunktion gehören dazu. Die schriftliche Sprache wird zu einem Erkenntnisgegenstand eigenen Rechts. Erkenntnisinteresse und strukturbildende Semiose gehen hier in eins: Welche Strukturen etwa können durch Kolon und Semikolon unterschieden werden? Welche syntaktischen Differenzen sind durch die Kommasetzung im Deutschen analysierbar? Welche Unterscheidungen artikuliert die Großschreibung oder die Heterographie das/daß? etc. Aber wie elitär auch immer die zugrundeliegenden Erkenntnisinteressen sein mögen, die Ergebnisse solcher Systematisierung der schriftlichen Sprache können sozial verbindlich werden. Sie werden in den Usus der Sprachgemeinschaft aufgenommen und gehen - vermittelt durch politische Setzung und Dezision - ein in ihre kodifizierte schriftsprachliche Norm. Eine Chance sich durchzusetzen haben sie nur, wenn sie als Zeichen sinnvoll und brauchbar sind. Der skizzierte diachrone Zusammenhang von geschriebener Sprache, schriftlicher Sprache und Schriftsprache betrifft einen von zwei zentralen Aspekten der mit der Verschriftlichung sich entfaltenden Grammatikalisierungsdynamik. Der andere ist gegeben mit dem Verhältnis der von der Grammatikalisierung betroffenen sprachlichen „Ebenen" zueinander. Grammatikalisierung ist auch analysierbar als Folge einer sich verstärkenden Interdependenz sprachlicher Ebenen unter den Bedingungen von Schriftlichkeit, namentlich konzeptioneller Literalität.
3.3.2. Ebenen der Grammatikalisierung Nicht zufällig entzündet sich der Streit um die Grammatikalisierung der schriftlichen Sprache an der Orthographie, an einem Punkt also, wo die Normalität sprachlicher Varianz einerseits und das sprachpolitische Bedürfnis nach einer expliziten und kodifizierten Ausdrucksnorm aufeinanderprallen. Dabei wird leicht übersehen, dass die Orthographiediskussion bloß ein Segment der Transformation der geschriebenen zur schriftlichen Sprache und zur Schriftsprache betrifft, nämlich den im engeren Sinne graphematisch fassbaren Bereich. Die tatsächliche Entwicklung geht freilich darüber hinaus: Sie betrifft ebenso die Syntax und vor allem den Text. Auf der Ebene der Graphematik i.e.S zeigt sich Grammatikalisierung primär als Folge oder Reflex der syntaktischen Kontextualisierung von Wörtern. Hier geht es um die Wortschreibung, soweit sie solche syntaktischen Kontextualisierungsleistungen erbringt, - im Deutschen etwa durch Großschreibung und Zusammenschreibung. Davon sollten die auf die Wortstruktur (morphematische und silbische Gliederung des Wortes) im engeren Sinne bezogenen Rekodierungsleistungen, für die Eisenberg (1989a) den Terminus Grammatikalisierung nutzt, begrifflich unterschieden werden. Die Graphemisierung, d.h. die (ortho-)graphische Formung betrifft eine besonders kontroverse Dimension der durch den Übergang zur schriftlichen Sprache in Gang gesetzten Grammatikalisierungsdynamik, aber keineswegs die auch sprachstrukturell bedeutsamste.
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Vielmehr steht die syntaktisch motivierte Graphemisierung der Wörter im weiteren Zusammenhang der Ausdifferenzierung neuer syntaktischer Kontexte selbst. Grammatikalisierung im Bereich der schriftlichen Sprache ist in einer weiteren Dimension als Syntaktisierung zu beschreiben. Damit sind die Erscheinungen des Wandels gemeint, die sich in der Syntax als Folge idealtypisch maximal dekontextualisierter und sprachlich maximal kontextualisierender Kommunikation zeigen. Hier geht es vor allem um die Ausbildung spezifischer konzeptionell schriftlicher Formen für Nominal-, Verbal- und Satzanschlüsse. Die Entwicklung von komplexen präpositionalen Fügungen, von Finalkonstruktionen und neuen Junktoren ist hier bereits detailliert analysiert worden (vgl. Betten 1987, Raible 1992, Michaelis 1994). Diese sprachstrukturellen Innovationen sind die Folge neuer Ansprüche an Texte selbst. So wie - hinsichtlich grammatischer Parameter - die Graphemisierung Folge der Syntaktisierung ist, ist diese wiederum Folge einer Textualisierung der Formen sprachlichen Handelns: Der schriftliche Text selbst muss so beschaffen sein, dass er sprachlich „aus eigener Kraft", das heißt aus der Verbindlichkeit seiner sprachlichen Form, Kontexte schaffen kann. Hierauf sind Syntaktisierung und Graphemisierung bezogen: Das heißt: Schriftliche Kommunikation (Produktion und Verstehen schriftlicher Texte) führt zu einer Rekodierung der Syntax und der Textualität, in deren Folge sich neue textuelle und syntaktische Muster ausbilden (vgl. Ehlich 1994, Erfurt 1996). Keine Frage ist z.B., dass die Differenzierung des Spektrums der Textsorten mit der Zerdehnung der Sprechsituation und der Verschriftlichung der Kommunikation erheblich beschleunigt wird, - eine neue Konstellation gesellschaftlicher und kommunikativer Zwecke Ausgangs des Mittelalters vorausgesetzt (vgl. auch Illich 1991). Entsprechend wird auch in funktional spezialisierten Feldern schriftlicher Kommunikation - exemplarisch sind hier juristische Texte eine Syntax ausgebildet, die sich nicht bloß durch eine varietätenspezifische Selektion von Mitteln, sondern durch die Konstruktion neuer - und im System der schriftlichen Sprache verallgemeinerter - grammatischer Mittel selbst auszeichnet. Als sprachhistorisch exemplarisch für diesen Vorgang kann die Entwicklung des komplexen Satzes gelten, die sich etwa in der Herausbildung eines Systems der Satzkonjunktionen oder auch der Interpunktion niederschlägt. Vor allem die „Integration" der Information im Satz ist ein wesentliches Motiv der Grammatikalisierungsdynamik (Schlieben-Lange 1991, Raible 1992). Dabei entstehen etwa die Konjunktionen auf den bekannten Wegen der Grammatikalisierung aus stärker lexikalischen Vorformen. Auch das syntaktisch motivierte Komma geht im Deutschen sukzessive aus dem textuell oder rhetorisch motivierten Komma hervor. Grammatikalisierung betrifft also diachron wesentlich auch den RekodierungsZusammenhang bzw. das Rekodierungskontinuum von Textualisierung, Syntaktisierung und Graphemisierung des sprachlichen Ausdrucks. Dabei werden ursprünglich textuelle Relationen teilweise syntaktisch rekodiert und syntaktische Relationen bzw. Distinktionen teilweise graphemisch rekodiert.
3.4. Grammatikalisierung und Schriftspracherwerb In jüngerer Zeit ist unter psycholinguistischem wie linguistischem Aspekt mehrfach auf auffällige Parallelen zwischen der Schriftgeschichte einerseits und der ontogenetischen Konstruktion der schriftlichen Sprache andererseits verwiesen worden. Weigl (1979) versucht „Lehren aus der Schriftgeschichte für den Erwerb der Schriftsprache" zu ziehen und
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Eisenberg (1993:8) formuliert: „Der Schriftspracherwerb folgt sozusagen der Logik der Schriftentwicklung". Diese These ist einerseits zu unterstützen, sie bedarf andererseits im Blick auf die Unterschiede in der Entwicklungslogik von Soziogenese und Ontogenese einer genaueren Fassung:
3.4.1. Analogien von Soziogenese und Ontogenese Zunächst zur Analogie von Historie und Erwerb. Sie gilt bereits für das Verhältnis von Sprechen und Schreiben, indem im Erwerb wie in der Geschichte die motivierenden Bezüge auf Ordnungen des Sprechens - etwa seine Lautlichkeit - in einer ersten Phase die Aneignung fuhren. „Dass die Schrift von der [mündlichen, H.F.] Sprache her geformt wird, entspricht dem Gang der Evolution ebenso wie der Logik jedes einzelnen Schrifterwerbs." (Stetter 1997:468). In gleicher Weise gilt für Erwerb und Geschichte, dass die motivierenden Bezüge in der Folge genuin schriftlich überformt werden und in der weiteren Entwicklung die Ordnungen schriftlicher Sprache autonom ausdifferenziert werden. Die Analogie gilt aber zweitens auch schriftimmanent im Blick auf die Abfolge der Schritte einer semiotischen Ausdifferenzierung schriftsprachlicher Qualitäten. Beispielsweise stellt eine konsistente Ordnung der Interpunktion in der Schriftgeschichte wie auch im Erwerb eine späte Stufe dar (vgl. Afflerbach i.d.B.). Drittens gilt die Analogie aber unseres Erachtens auch, was erstaunlicher ist, im Blick auf den Modus des Zustandekommens der jeweiligen Inventionen. Es handelt sich sozio- wie ontogenetisch um „Entdeckungen": Günther (1995:19) formuliert im Blick auf die Soziogenese: „Der Motor solcher Entwicklungen ist nun freilich nicht rationales Kalkül in dem Sinne, wie ihn die gängigen Schriftgeschichten interpretieren, dass Ausdrucksnöte zur Schaffung neuer Verfahren ... führen." Er betont für die Geschichte die Rolle des Zufalls in der Entwicklung, etwa bei den politischen Voraussetzungen für die Entdeckimg bzw. Erfindung des Rebus-Prinzips, das die sumerischen ideographischen Schriftzeichen fur einsilbige Wörter bei ihrer Übertragung auf das Akkadische lautlich/silbisch reanalysiert. Die Chance zu dieser Entdeckung allerdings liegt begründet im Entwicklungsstand einerseits und im vorhandenen Sprachmaterial selbst andererseits und ist insofern nichts weniger als zufallig. In diesem Sinn gibt es auch ontogenetisch auf jeder Stufe der Entwicklung ein Wahrscheinlichkeitsfeld für neue Entdeckungen. Dies ist die semiotische Grundlage fur die eigentätig bestimmte Ordnung des Erwerbs. Sie folgt in ihrem Aufbau gleichfalls keinem rationalen Kalkül, wenngleich das Ziel, die Schriftsprache zu erwerben, unter gegebenen Bedingungen hochrational sein kann Zur Erreichung dieses Ziels bieten die bestehenden Ordnungen schriftlicher Sprache ein Modell. Dabei aber zeigt sich deutlich, dass die Informationswerte des Modells erst genutzt werden können, wenn sie im Problemhorizont der individuellen Entwicklung relevant und sinnvoll werden. Ein Gebrauch von Doppelkonsonanten etwa lässt sich erst dann beobachten, wenn für die Lerner die phono taktische Struktur von Wörtern in den Blick gerät und das anfängliche schlicht alphabetische Schreibkonzept einer bloßen Zuordnung von Basisgraphemen und Phonemen „umgeschrieben", also rekodiert wird (vgl. z.B. May 1990, Thome 1999). Nicht anders als auch sonst im Spracherwerb ist zwar das Ziel der Entwicklung vorgeben (besonders klar in der Orthographie), nichtsdestotrotz müssen die Etappen der Rekodierung auch im Erwerb erneut durchlaufen werden.
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3.4.2. Grenzen der Analogie Hier wird es notwendig, die Unterschiede von Soziogenese und Ontogenese zu formulieren. Der Erwerb folgt - auch bei äußerlicher Ähnlichkeit - keineswegs zwingend der Logik der historischen Grammatikalisierungsschritte, und zwar, weil ihm die Ergebnisse der Geschichte selbst als zusätzliche Ressource zur Verfügung stehen. Die Graphemisierung etwa ist historisch in ihrer Entwicklungslogik bestimmt von dem Motiv, phonologisch bestimmte Allomorphie und Homographie zu vermeiden und Wörter und Wortformen identifizierbar respektive unterscheidbar zu machen (vgl. Eisenberg 1993). Ossner (i.d.B.) spricht vom „Deutlichkeitstrieb", der die Herausbildung „orthographischer Formulare" soziogenetisch motiviere. Dies ist historisch ein langwieriger Prozess der Invention, des Abgleichs, der Selektion und der Stabilisierung von Schreibvarianten (vgl. Maas 1991a). Diese Logik wegen äußerlich gleicher Abfolge der Entwicklungschritte auch dem Erwerb zu unterstellen, erscheint kaum plausibel. Die jungen Schreiberinnen müssen das orthographische Rad nicht neu erfinden, sie haben die Möglichkeit, gleich auf die morphematisch bestimmte Schreibung zuzugreifen, wenn sie nach einer ersten Phase primär phonologischer Orientierung dann auf die Wörter und ihre Schreibung aufmerksam werden. Freilich kommt es in der geschriebenen Sprache der Lerner zur Übergeneralisierung des Lautprinzips, und insofern zu ähnlichen Problemen wie auch in der Geschichte, aber die Lösungen dafür gibt es in der Schriftsprache bereits. Deshalb kommt es dann schon binnen kurzer Frist im Erwerb zu morphematisch bedingten Reanalysefehlern (dargegen, vertig etc.) (vgl. Thomö 1999). Die Rekodierung im Erwerb scheint hier also wesentlich außengestützt durch eine Orientierung an den Mustern orthographischen Schreibens. Um es in den bereits eingeführten bekannten Termini zu formulieren: Der Erwerb verläuft im Unterschied zur Soziogenese stets doppelgleisig: Wo die Soziogenese schriftlicher Sprache lediglich als Reanalyse der geschriebenen verlaufen kann, erfolgt die Herausbildung einer Ordnung der schriftlichen Sprache im Erwerb durch die Rekodierung der geschriebenen und der Schriftsprache gleichermaßen. Dabei sind gegenläufige Prinzipien der Grammatikalisierung wirksam, die wir bereits im Kapitel 2 der Einleitung angesprochen haben. Bei der Entwicklung der Kommasetzung beispielsweise ist beobachtbar, dass die Rekodierung entlang einer gewissermaßen „natürlichen" Stufenfolge „bottom up" erfolgt. Die geschriebene Sprache wird sukzessive transformiert: Lautorientierte Strategien werden semantisch rekodiert, semantische werden syntaktisch rekodiert. Das Ergebnis der polythetischen Schritte dieses Wissensaufbaus kann automatisiert werden (Afflerbach i.d.B.). Demgegenüber erfolgt der Erwerb einer sich auf Modelle der ausgebildeten Schriftsprache stützenden Wortschreibung „top down" als deren Entautomatisierung. Die Morphosyntax schriftlicher Sprache etwa wird nur in dem Maße transparent und kontrollierbar, wie im Schreibprozess morphosyntaktische Paradigmen ihrem automatisierten Status entzogen und analytisch von der Schrift her morphematisch bestimmt werden. Nur so wird aus dem Lera schon nach kurzer Zeit der Lehr-er, aus dem Opa freilich auch der Op-er. Grammatikalisierung geht auch im Schriftspracherwerb beide Wege.20 20
Die Grammatikalisierungstheorie als Theorie des Sprachwandels unterstellt Unidirektionalität der Grammatikalisierungsprozesse. Für den Erwerb muss demgegenüber Bidirektionalität angenommen werden.
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Dabei können die Prozesse auch ineinandergreifen: Bei der Aneignung der Heterographie „ dass " etwa ist die Konjunktion bereits in der medial mündlichen Schriftsprache der Lerner vorhanden. Konjunktionalsätze mit „dass" werden ab etwa 3 Jahren gebraucht (vgl. Müller 1993). Die Analyse des Schrifterwerbs aber zeigt, dass der Aneignung der Konjunktion als Morphem schriftlicher Sprache, ausgewiesen durch die Heterographie, die Entautomatisierung des syntaktischen Musters des Komplementsatzes vorausgeht. Diese Entautomatisierung wird durch das Schreiben selbst angetrieben, indem in den Texten der Lerner die Funktion des Komplementsatzes und entsprechend das Funktionsfeld der Konjunktion analog zu den historischen Etappen der Polygrammatisierung des ursprünglichen Demonstrativums sukzessive aufgebaut wird (vgl. Feilke 1998 und i.d.B.). Der Spracherwerb wird im Schriftspracherwerb nicht einfach rekapituliert. Vielmehr setzt die Aneignung der Sprache im Medium der Schrift den Erwerb in genuin schriftlichen Struktur- und Funktionsbereichen fort. Der Schriftsprachwerb ist in diesem Sinn zunächst eine Erweiterung (vgl. Weigl 1975) der Kompetenzen um die spezifischen Strukturen schriftlicher Sprache. Grammatikalisierung ist in dieser Hinsicht ein synthetischer, konstruktiver Prozess. In einer weiteren Hinsicht aber muss Grammatikalisierung im Kontext des Schriftspracherwerbs spracherwerbstheoretisch als Bestimmung einer neuen Qualität des bereits aufgebauten Sprachwissens verstanden werden. Dies ist der analytische Aspekt der Grammatikalisierung, der vor allem eine neue Qualität im Modus der Repräsentation sprachlichen Wissens zur Folge hat. Die Ausbildung der Symbolfunktionen schriftlicher Sprache in der Ontogenese vollzieht sich wesentlich auch als „Verinnerlichung bereits existierender externer Symbolsysteme" (Scheerer 1993a: 158). Insofern ist der Schriftspracherwerb das ideale Paradigma einer kulturwissenschaftlichen Bestimmung des Spracherwerbs. Während die diachrone Grammatikalisierungstheorie weitgehend abgekoppelt ist von Fragen des Interesses der Sprachverwender an Strukturen und die bewusstseinsunabhänigige Motiviertheit des Prozesses in den Vordergrund rückt, impliziert die Anwendung des Konzeptes auf die Ontogenese - nicht nur des Schriftspracherwerbs - notwendig das Interesse der Lerner an Form und Struktur der Sprache. Für den Spracherwerb sind Normen nicht bloß Restriktionen regelbasierter Kreativität, sondern zugleich Analyse-Motive, die den Erwerb antreiben. Dabei aber ist das normbezogene Interesse freilich nicht beliebig orientierbar, es folgt dem individuellen Tempo des Lerners und den komplexitätsbedingten Stufen der Rekonstruktion des externen Symbolsystems. Rosemarie Tracy spricht von einem „Prinzip der Selbstregelung als Vermittler zwischen dem jeweiligen Bezugssystem und seiner Umgebung" (Tracy 1991:69). Das Konzept der U-Kurven von Annette KarmiloffSmith artikuliert genau diese doppelte Bezogenheit des Erwerbsprozesses auf die Norm einerseits und deren stimmige kognitive Einordnung andererseits: Das Verhaltenslernen ist in einer ersten Phase akkommodativ bestimmt, es reproduziert die Norm, Karmiloff-Smith (1992) spricht von „behavioral mastery", aber es kann sie strukturell nicht einordnen. Der Versuch Regeln zu finden führt dann im zweiten Schritt zu Rekodierungsfehlern aufgrund von Übergeneralisierungen von weniger komplexen Problemlösungen. Diese Phase ist intern gesteuert und insofern i.S.Piagets assimilativ bestimmt. In der dritten Phase schließlich sind die spezifischen strukturellen Bedingungen des Ausgangsverhaltens rekonstruiert worden und das Verhalten passt nun im doppelten Sinne: zur äußeren Norm und zur inneren Repräsentation. Nicht jeder Aneignungsprozess verläuft
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nach diesem Muster, das in hohem Maße „negative Evidenz" und ein Lernen an und aus Fehlern impliziert. Besonders interessant sind die Fälle, in denen eine komplexe Form angeeignet wird, ohne dass Übergeneralisierungen vorausgegangen wären. Ein klassischer Fall dafür aus der Spracherwerbsforschung ist im Deutschen etwa das Genitiv-s an Nomina im Kasuserwerb. Es ist die Form, die sich diachron zuletzt ausgebildet hat, in der Ontogenese wird sie gleich nach dem Nominativ erworben und richtig gebraucht (Szagun 1996:36ff.). Analoge Beobachtungen gibt es auch für den Schriftspracherwerb. So kommt es beim Erwerb der Heterographie „daß" nicht zu Übergeneralisierungen. Die Schreibweise rückt erst in dem Moment in die Produktion ein, in dem ihre grammatische Markierungsleistung verstanden worden ist. Entsprechendes zeigen etwa auch die Ergebnisse von Sabine Afflerbach (1997, i.d.B.) zur Kommasetzung: bereits im 2. Schuljahr sind fast 80% der in freien Texten gesetzten Kommata korrekt. Hier lässt sich der Lernprozess nicht unmittelbar auf negative Evidenz zurückführen, obwohl er ohne Frage Erfahrungsdaten nutzt (vgl. Tracy i.d.B). Dies ist ein Hinweis auf die Implizitheit kognitiver Ordnungsbildung, die den Schriftspracherwerb ebenso auszeichnet wie den Erwerb der mündlichen Sprachfähigkeit. Die Rekodierungsstufen onotogenetischer Grammatikalisierungsprozesse sind Ausdruck der aktiven und kontinuierlichen Redeskription des eigenen Verhaltens mit Hilfe neuer Begriffe. Die Motive für die Ausdifferenzierung neuer struktureller Optionen liegen dabei in der fortlaufenden Analyse der eigenen Sprachtätigkeit einerseits, der Norm der Erwachsenensprache andererseits. Dabei tritt die Norm nach Maßgabe der subjektiv gewonnenen (entdeckten) Strukturierungsoptionen in den Aneignungsprozess ein. Hier erkennen die Lerner in der Norm Chancen für das eigene Interesse, und es kommt im Anschluss zu den wiederholt beobachtbaren Hochkonjunkturen des Gebrauchs der neu angeeigneten Formen.21 Solche Hochkonjunkturen kennt die Sprachgeschichte nicht zufällig ebenso wie der Erwerb. Sie zeigen das an sprachbezogene Wertungen und Normen rückgebundene Interesse von Individuen und Sprachgemeinschaften an jeweils neuen sprachlichen Entdeckungen. Stets ist hier auch bei der kognitiven Strukturierung der konnotative Mehrwert der Formen mit im Spiel.
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Gabriele Diewald Ein diachrones Phasenmodell der Grammatikalisierung der Modalverben
1. Einleitung
Der Begriff Grammatikalisierung bezieht sich zum einen auf die diachrone Entstehung grammatischer Funktionen bei sprachlichen Einheiten, die zunächst nur lexikalische oder weniger ausgeprägte grammatische Bedeutung hatten. Zum anderen wird der Begriff auch in der synchronen Sprachbeschreibung verwendet und meint hier den relativen Grammatikalisierungsgrad einer sprachlichen Einheit im Vergleich zu einer anderen, in relevanter Hinsicht ähnlichen Einheit bzw. den Vergleich von zwei Verwendungsweisen einer Einheit (Lehmann 1985, Hopper/Traugott 1993). Da der diachrone Prozeß der Grammatikalisierung nicht sprunghaft erfolgt, sondern sich über lange Zeiträume erstreckt, liegen in einem synchronen Zustand häufig für eine sprachliche Form ältere, lexikalische Verwendungen gleichzeitig neben neueren, grammatischen Verwendungen vor (Hopper 1990:159 spricht hier von „divergence"). Diese koexistierenden Verwendungen mit unterschiedlichen Grammatikalisierungsgraden ermöglichen Rückschlüsse über den Gang der historischen Entwicklung. Die Modalverben des Deutschen sind ein durchaus komplexes Beispiel eines solchen Grammatikalisierungsprozesses, das im folgenden vorwiegend unter dem diachronen Blickwinkel untersucht wird, wobei entsprechend den oben angedeuteten Zusammenhängen, der synchrone Zustand im heutigen Deutsch den Ausgangspunkt bildet. Letzterer wird in den Abschnitten 2 und 3 erörtert. Unter Zuziehung diachroner Daten wird im Anschluß (Abschnitte 3 und 4) ein diachrones Ablaufmodell der Grammatikalisierung der Modalverben entwickelt, das drei zentrale Phasen unterscheidet. Die Bestimmung der einzelnen Phasen erfolgt anhand semantischer und struktureller Veränderungen einerseits und spezifischer „lokaler" Kontexte andererseits. Ferner wird untersucht, welche interpretativen Mechanismen zur Reinterpretation und Grammatikalisierung führten.
2. Die zentralen Gebrauchsweisen der Modalverben im heutigen Deutsch
Die nhd. Modalverben (d.h. dürfen, können, mögen, müssen, sollen und wollen) zeigen zwei zentrale Gebrauchsweisen, die anhand von können in (la) und (lb) illustriert sind (die fett gedruckten Ausdrücke in den Paraphrasen substituieren die jeweilige Modalverbbedeutung): (1) a.
Durch ihr mutiges Verhalten konnte eine 69jährige Frau einen jugendlichen Räuber in die Flucht schlagen. (FN 93)
30
Gabriele Diewald
Durch ihr mutiges Verhalten war eine 69jährige Frau in der Lage, einen jugendlichen Räuber in die Flucht zu schlagen. enger Skopus: Subjekt (eine 69jährige Frau) KONNTE Infinitivkomplement (einen jugendlichen Räuber in die Flucht schlagen). b. Ich kann mich getäuscht haben, (zufälliger Hörbeleg Radiosendung) Vielleicht habe ich mich getäuscht. weiter Skopus: KANN ρ (= Proposition Ich habe mich getäuscht). Die unterschiedlichen Gebrauchsweisen1 können wie folgt beschrieben werden: In (la) ist konnte ein lexikalisches Verb, dessen Bedeutung mit 'die Fähigkeit haben, in der Lage sein' umschrieben werden kann. Konnte ist Bestandteil der Sachverhaltsdarstellung und prädiziert einen Zustand des Subjekts, nämlich das Zutreffen einer Befähigung des Subjekts, die im Infinitivkomplement ausgedrückte Handlung auszuführen. Das Modalverb in diesem Gebrauch hat also engen Skopus, was in der letzten Zeile in (la) dargestellt ist.2 Das Modalverb in (lb) dagegen ist nicht Bestandteil des dargestellten Sachverhalts. Es hat keine semantische Beziehung zum Subjekt, sondern modifiziert die gesamte Aussage und hat weiten bzw. propositionalen Skopus, wie die letzte Zeile in (lb) zeigt. Das Modalverb drückt eine durch 'vielleicht' paraphrasierbare Vermutung des Sprechers über den Faktizitätsgrad des dargestellten Sachverhalts Ich habe mich getäuscht aus. Es zeigt an, daß der Sprecher aus seiner aktuellen Perspektive dem Sachverhalt keinen definitiven Faktizitätswert beimessen kann, daß er also nicht sicher ist, ob dieser Sachverhalt faktisch ist oder nicht. Eine derartige Relation zwischen Sprecher und sprachlicher Äußerung, d.h. die „Verortung" des dargestellten Sachverhalts bezüglich der deiktischen Origo (Bühler [1934] 1982: 102f.), ist ein typisches Merkmal grammatischer Bedeutungen. So wird zum Beispiel innerhalb der Tempuskategorie durch das Präteritum die temporale Distanz der Sachverhaltsdarstellung zum Sprecher, zur deiktischen Origo, ausgedrückt. Die durch die Modalverben vollzogene Faktizitätsbewertung (s.a. die Beispiele unter b in 2 bis 6) fällt in den Funktionsbereich der Verbmodi, d.h. in dieser Gebrauchsweise nehmen die Modalverben an einem grammatischen Paradigma teil, das in seinen übrigen Werten flexivisch ausgedrückt wird. Eine Form wie kann in (lb) steht also in Opposition zum Indikativ und den beiden Konjunktiven (ausführlich in Diewald 1999). Die oben bei können aufgezeigten Lesarten finden sich analog bei den übrigen fünf Modalverben, wie die folgenden Beispiele zeigen: (2) a.
b.
1
2
So meinte [sie], man müsse seinen Kindern vermitteln, daß sie auch „nein" sagen dürfen. (FN 100) So meinte sie, man müsse seinen Kindern vermitteln, daß sie die Erlaubnis haben, auch „nein" zu sagen. In den Wintermonaten Januar/Februar allerdings dürfte die Kurve — wie immer in der kalten Jahreszeit - einmal noch weiter nach oben gehen. (FN 95)
Siehe z.B.: Raynaud (1975: 67ff.), Valentin (1984: 193), Jäntti (1983), Diewald (1993), Heine (1995). Eine Diskussion und Bewertung der unterschiedlichen Auffassung zum Status dieser Gebrauchsweisen kann hier nicht erfolgen, siehe hierzu Diewald (1999). Die Darstellung der Skopuseigenschaften der beiden zentralen Gebrauchsweisen erfolgt in Anlehnung an Nordlinger/Traugott (1997).
Ein diachrones Phasenmodell der Grammatikalisierung der Modalverben
(3) a.
b. (4) a. b. (5) a. b.
(6) a.
b.
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In den Wintermonaten Januar/Februar geht die Kurve vermutlich - wie immer in der kalten Jahreszeit - einmal noch weiter nach oben. Lange diskutierte man im Rat den Antrag eines Veitsbronner Bürgers, der auf seinem [...] Grundstück ein Haus bauen möchte. (FN 99) Lange diskutierte man im Rat den Antrag eines Veitsbronner Bürgers, der auf seinem [...] Grundstück ein Haus zu bauen wünscht, Die Leute mögen das so empfinden, richtig ist es dennoch nicht. (Spiegel 29) Zugegeben, die Leute empfinden das vielleicht so, richtig ist es dennoch nicht. Aberjetzt mußt du natürlich erst das Semester zu Ende bringen, ne? (Texte 63). Aber jetzt bist du natürlich genötigt, erst das Semester zu Ende zu bringen, ne. Du mußt doch gesehen haben, wie die ausschauen. (Texte 48) Du hast doch sicher gesehen, wie die ausschauen. Die Teilnehmer sollen ihre Lieblings-CD mitbringen. (FN 95) Die Teilnehmer sind aufgefordert, ihre Lieblings-CD mitzubringen, Der Arzt und die Kosmetikerin sollen 1993 noch zwei weitere Morde geplant haben. (FN 95) Jemand sagt: „Der Arzt und die Kosmetikerin haben 1993 noch zwei weitere Morde geplant". Im August letzten Jahres stellte Diensthund Flint in der Cadolzburger Straße einen Gaststätteneinbrecher, der Reißaus nehmen wollte. (FN 94) Im August letzten Jahres stellte Diensthund Flint in der Cadolzburger Straße einen Gaststätteneinbrecher, der die Absicht hatte, Reißaus zu nehmen, Er will damals gehört haben, daß Ausländer bis zu 6000 Mark für einen „ Umverteilungsantrag" zahlen würden. (Zeit 74) Er sagt: „Ich habe damals gehört, daß Ausländer bis zu 6000 Mark für einen Umverteilungsantrag zahlen würden".
Diese beiden Gebrauchsweisen der Modalverben unterscheiden sich deutlich in ihrem Grammatikalisierungsgrad:3 Der Modalverbgebrauch unter (a) in (1) bis (6) ist lexikalisch, weniger grammatikalisiert und nichtdeiktisch, die Verwendung unter (b) in (1) bis (6) zeigt den grammatikalisierten, deiktischen Gebrauch.4 Die bisher dargestellten Unterschiede dieser beiden Gebrauchsweisen können wie folgt zusammengefaßt werden: Die Modalverben im nichtdeiktischen Gebrauch haben typischerweise engen Skopus und bringen einen modalen Zustand des Subjekts zum Ausdruck, der von einer „modalen Quelle" seinen Ausgang nimmt.5 Eine pauschale Bedeutungsparaphrase für diesen Gebrauch ist (7):
3
4
5
Dies wurde bereits an anderer Stelle mittels der Lehmannschen Grammatikalisierungsparameter (Lehmann 1985) nachgewiesen (Diewald 1993, s.a. Abraham 1991, Diewald 1999) und soll hier nicht im Detail ausgeführt werden (vgl. aber unten). In der Literatur werden die beiden Lesarten meist unter den Bezeichnungen „deontisch" versus „epistemisch" erörtert. Die Modalquelle ist diejenige Instanz, die den im Modalverb ausgedrückten Zustand bedingt; vgl. z.B. Bech (1951), Calbert (1975), Diewald (1999).
32
Gabriele
(7)
Diewald
Bedeutungsparaphrase des prototypischen nichtdeiktischen Gebrauchs: Bedingt durch die Einwirkung einer modalen Quelle befindet sich das Satzsubjekt in einem modalen Zustand bezüglich des Infinitivkomplements.
Im deiktischen Gebrauch haben die Modalverben weiten Skopus und bringen eine deiktische Faktizitätsbewertung zum Ausdruck, deren gemeinsamer Bedeutungskern in (8) angeführt ist.6 (8)
Bedeutungsparaphrase des deiktischen Gebrauchs: Durch die modale Quelle (den Sprecher als die deiktische Origo) ist der Proposition im Skopus des Modalverbs ein durch das Modalverb ausgedrückter, unsicherer bzw. nicht verifizierter Faktizitätswert zugewiesen.
Da die beiden Subsysteme im heutigen Deutsch nebeneinander exisitieren, ist jedes Modalverblexem bezüglich dieser Unterscheidung prinzipiell polysem. Diese Mehrdeutigkeit ist jedoch in vielen Fällen aufgehoben, da es für beide Gebrauchsweisen typische sprachliche Kontexte gibt, die eine der beiden Lesarten begünstigen (eine Liste der wichtigsten lesartaffinen Kontextmerkmale findet sich in Heine 1995: 25f.). Im Hinblick auf das zu entwickelnde diachrone Phasenmodell sind folgende Kontextfaktoren relevant: Die nichtdeiktische Lesart mit engem Skopus tritt prototypischerweise zusammen mit einem kontextuellen Merkmalsbündel auf, das aus einem belebten Definitsubjekt und einem Hauptverb mit Handlungssemantik besteht. Dies zeigen die Sätze unter (a) in den obigen Beispielen. Auf der anderem Seite weist die deiktische Lesart eine Affinität zu Stativen Infinitivkonstruktionen auf, was in den (b)-Beispielen deutlich wird. Diese beiden kontextuellen Faktoren, also die semantischen und referentiellen Eigenschaften des Subjekts und die lexikalisch-semantischen Merkmale des Infinitivs, sind stark affin zu ihren jeweiligen Lesarten, jedoch determinieren sie diese nicht. Die ausschlaggebenden Fakto-ren für die Dominanz einer Lesart vor der anderen sind vielmehr bestimmte morphologische Realisierungen des Modalverbs und des Infinitivs. Was den ersten Punkt, die morphologischen Realisierungen der Modalverben betrifft, so ist folgende, weithin bekannte Beobachtung von Bedeutung: Während die Modalverben im lexikalischen Gebrauch alle synthetischen und periphrastischen Tempora und Modi aufweisen, also das volle Formenparadigma eines Verbums zur Verfügung haben, ist dieses bei den deiktisch verwendeten Modalverben erheblich reduziert. Insbesondere bilden deiktisch gebrauchte Modalverben keine periphrastischen Tempora. Dieser Unterschied zwischen beiden Gebrauchsweisen wird durch den Lehmannschen Grammatikalisierungsparameter der morphologischen Integrität bzw. des paradigmatischen Gewichts erfaßt, der besagt, daß stärker grammatikalisierte Zeichen im Vergleich zu weniger grammatikalisierten Zeichen ein reduziertes Flexionspara6
Hier wäre genauer zu differenzieren, da jedes Modalverb einen spezifischen Wert im Gefüge der Modusoppositionen aufweist. So enkodieren die Modalverben dürfen, können, mögen und müssen Faktizitätswerte, die direkt vom aktuellen Sprecher aus zugewiesen werden, die Modalverben sollen und wollen dagegen bilden eine Untergruppe, da sie nicht die Faktizitätsbewertung des aktuellen Sprechers, sondern die eines zweiten, zitierten Sprechers zum Ausdruck bringen, die der aktuelle Sprecher lediglich als „Zitat" wiedergibt. Die Oppositionen der Einzellexeme innerhalb einer Gebrauchsweise sind jedoch für die hier verfolgten Ziele nicht von Belang und werden nicht weiter behandelt.
Ein diachrones Phasenmodell der Grammatikalisierung
der
Modalverben
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digma aufweisen, also ihre morphologische Integrität verlieren (Lehmann 1985: 306f.). Daraus ergibt sich, daß in all den Fällen, in denen eine periphrastische Form des Modalverbs vorliegt, die nichtdeiktische Lesart dominiert, während die deiktische Lesart praktisch ausgeschlossen ist. Dies zeigt Satz (9), in dem die periphrastischen Modalverbformen {hat können, hatte können usw.) nur eine nichtdeiktische Lesart zulassen (9a), während eine deiktische Lesart ausgeschlossen ist (9b): (9)
Durch ihr mutiges Verhalten hat/habe/hatte/hätte/wird... eine 69jährige Frau einen jugendlichen Räuber in die Flucht schlagen können. (9) a. Durch ihr mutiges Verhalten ist/sei/war/wäre/wird... eine 69jährige Frau in der Lage gewesen/sein, einen jugendlichen Räuber in die Flucht zu schlagen. (9) b. *Durch ihr mutiges Verhalten schlägt - das habe/hätte ich vermutet/werde ich vermuten - eine 69jährige Frau einen jugendlichen Räuber in die Flucht. Auf der anderen Seite gibt es aber auch eine morphologische Umgebung, in der die deiktische Lesart dominiert und die nichtdeiktische Lesart praktisch ausgeschlossen ist. Es handelt sich um die Verbindung des Modalverbs mit einem Infinitiv II, wie in Beispiel (4b), das hier nochmals wiedergegeben ist (s.a. lb, 5b und 6b). (4) b.
Du mußt doch gesehen haben, wie die ausschauen. (Texte 48) Du hast doch sicher gesehen, wie die ausschauen.
Auf eine Begründung dieser Affinität von Lesart und sprachlichem Kontext muß hier verzichtet werden (hierzu Diewald 1999), festzuhalten ist jedoch, daß es für jede der beiden Lesarten einen an den morphologischen Formen selbst erkennbaren Kontext gibt, in dem die jeweils andere Lesart ausgeschlossen ist. Ein solcher Kontext, der eine Lesart klar dominant setzt, soll im folgenden der isolierende Kontext für die entsprechende Lesart heißen. Die beiden isolierenden Kontexte für die nichtdeiktische und die deiktische Lesart sind in (10) zusammenfassend dargestellt. Sie spielen auch bei der diachronen Entwicklung eine entscheidende Rolle, worauf in Abschnitt 4 zurückzukommen ist. (10)
Die isolierenden Kontexte: a. der isolierende Kontext der nichtdeiktischen, weniger grammatikalisierten Lesart: Modalverbperiphrase (mit dem Modalverb im „Ersatzinfinitiv", d.h. in der Funktion des Partizips II): Er hat sie loben können. b. der isolierende Kontext der deiktischen, grammatikalisierten Lesart: Modalverb und Infinitiv II des Hauptverbs: Er kann sie gelobt haben.
Durch die Opposition dieser Kontexte werden die beiden Gebrauchsweisen als unabhängige Bedeutungen bzw. Funktionen sichtbar. Außerhalb der beiden isolierenden Kontexte gibt es zahlreiche Übergangsstufen, die deutlich machen, daß die beiden Systeme auch im Nhd. (noch?) nicht vollständig getrennt sind.
34
Gabriele Diewald
3. Übergänge
Verwendungen, die entweder nicht auf eine der zentralen Lesarten festgelegt sind, oder die nicht zu den prototypischen Vertretern einer Lesart zählen, kommen im allgemeinen dadurch zustande, daß die kontextuell realisierten Merkmale lesartindifferent oder widersprüchlich sind. Lesartindifferent sind z.B. morphologische Formen des Modalverbs bzw. des Infinitivs, die keinen der beiden isolierenden Kontexte bilden. Der isolierende Kontext entsteht, wie aus dem letzten Abschnitt ersichtlich, nur bei Verbalformen, die aus mindestens drei Einheiten zusammengesetzt sind. Bei zweigliedrigen Formen, z.B. in Er kann/konnte sie loben, ist die Opposition neutralisiert, und es sind - was die morphologischen Eigenschaften der Verbalphrase angeht - beide Interpretationen möglich. Was widersprüchliche Kontextmerkmale betrifft, so seien zwei Punkte herausgegriffen, die gleichzeitig zur Betrachtung der diachronen Entwicklung überleiten. Erstens gibt es eine Vielzahl von Kontexten, die sowohl eine nichtdeiktische Lesart mit engem Skopus als auch eine Lesart mit weitem Skopus zulassen. Wie Nordlinger/Traugott (1997) und auch Gamon (1993) betonen, führt insbesondere ein generisches bzw. indefinites belebtes Subjekt sehr leicht zu einer Lesart mit weitem Skopus. In solchen Sätzen ist kein definiter Träger des modalen Zustandes dargestellt, so daß stattdessen der modale Zustand selbst stärker hervorgehoben wird. Satz (11) gibt ein Beispiel: (11)
Das muß man alles erst mal wissen. (Texte 52) enger Skopus, nichtdeiktisch: Man ist genötigt, das alles erst mal in Erfahrung zu bringen. weiter Skopus, nichtdeiktisch: Es ist erforderlich/notwendig, daß man das alles erst mal weiß.
Die Lesart mit weitem Skopus entsteht hier durch eine konversationelle Implikatur im Griceschen Sinn (Grice [1975] 1989, vgl. Traugott/König 1991). Sie ist das Resultat einer Schlußfolgerung des Hörers, die in diesem speziellen Verwendungszusammenhang angestellt wird, um den (aus welchen Gründen auch immer) defizitären Inhalt des sprachlich Dargestellten sinnvoll zu ergänzen. Beispiele in der Art von (11) gibt es durch die ganze Sprachgeschichte hindurch, da die relevanten konversationellen Implikaturen panchronische Wirksamkeit haben (Nordlinger/Traugott 1997). (12) ist ein mhd. Beleg aus dem Nibelungenlied: (12)
Man mac si morgen mehelen einem andern man. (NL 1928,1) Enger Skopus, nichtdeiktisch: Man hat die Fähigkeit/Möglichkeit, sie morgen einem anderen Mann zu vermählen. Weiter Skopus, nichtdeiktisch: Es ist möglich/es besteht die Möglichkeit, daß man sie morgen einem anderen Mann vermählt. Weiter Skopus, deiktisch: Vielleicht vermählt man sie morgen einem anderen Mann.
An (11) und (12) wird ersichtlich, daß Skopusausweitung nicht gleichzusetzen ist mit dem Erwerb der deiktischen Bedeutung der Faktizitätsbewertung (vgl. Nordlinger/Traugott 1997). Bei Satz (11) ist eine deiktische Lesart trotz weitem Skopus nicht möglich, bei Satz (12) dage-
Ein diachrones Phasenmodell der Grammatikalisierung der Modalverben
35
gen existieren neben der Lesart mit engem Skopus zwei Optionen mit weitem Skopus: eine nichtdeiktische und eine deiktische (s. die jeweiligen Paraphrasen). Der zweite Typus von widersprüchlichen Kontextmerkmalen, der hier erwähnenswert ist, führt dazu, daß die Interpretation zwar auf eine Lesart mit weitem Skopus festgelegt ist, daß aber gleichzeitig die alte, lexikalische Bedeutung beibehalten wird (vgl. Gamon 1993, Bybee/Perkins/Pagliuca 1994: 178, Nordlinger/Traugott 1997). Beispiele sind (13) und (14): (13)
(14)
Sie haben in der Schule wahrscheinlich auch noch gelernt, nicht zwei Sätze mit demselben Wort anzufangen - das durfte es im Deutschen früher nicht geben. (Spiegel 244) weiter Skopus, nichtdeiktisch: [...] es war früher nicht erlaubt, daß es das im Deutschen gibt. Damit steht zunächst einmal fest, daß die Soldaten der Bundeswehr nicht als Mörder denunziert werden dürfen. (Spiegel 31) weiter Skopus, nichtdeiktisch: [...] daß es nicht erlaubt ist, daß die Soldaten der Bundeswehr als Mörder denunziert werden. entsprechender Aktivsatz: Niemand darf die Soldaten [...] als Mörder denunzieren.
In beiden Sätzen liegt die lexikalische Verwendung von dürfen vor, d.h. das Modalverb hat deontische Bedeutung: Es drückt, da beide Sätze negiert sind, eine negierte Erlaubnis, ein Verbot, aus. Gleichzeitig liegt weiter Skopus vor. In (13) ergibt sich der weite Skopus aufgrund des expletiven Subjekts es, das nicht als Träger eines modalen Zustands in Frage kommt; in (14) entsteht der weite Skopus aufgrund der Passivmorphologie des Infinitivs denunziert werden. Der Träger des Verbots (d.h. der, für den das Verbot gilt) ist nicht mit dem Satzsubjekt identisch, sondern er ist aufgrund des passivischen Infinitivs aus dem Valenzrahmen des Satzes verdrängt. Dies wird deutlich durch den Vergleich mit dem entsprechenden Aktivsatz (letzte Zeile in 14), bei dem der Träger der Modalität als Subjekt erscheint, so daß hier deontische Modalität mit engem Skopus vorliegt. Auch für diese Fälle finden sich diachrone Beispiele. Bei mugan, das als erstes der sechs Verben in den Grammatikalisierungsprozeß eintrat, sind Lesarten mit weitem Skopus und lexikalischer Bedeutung bereits im Tatian (erste Hälfte des 9. Jhs.) belegt. Satz (15) ist ein Beispiel mit unbelebtem Abstraktsubjekt, Satz (16) ein Fall mit passivischem Infinitiv (entscheidend sind die fett gedruckten Passagen): (15) (16)
so thaz in irridon uuerdentgileitet, ob izmaguuesan, ioh thie gicoranon. (T 145,17) So daß in die Irre geführt werden, wenn es sein kann, auch die Auserwählten. Senu thö uxiib thaz thär bluotes fluz tholeta zuelif iär inti uuas managu tholenti fon uuola managen lähhin inti gispentdta allu irä, noh fon iro niheintgemo mohta uuesan giheUit. (T 60,3) [...] und konnte von keinem von ihnen geheilt werden.
In allen Epochen der Sprachgeschichte des Deutschen gibt es also einerseits Fälle mit variabel zu interpretierendem Skopus und Polysemie (Beispiele 11 und 12), und andererseits Fälle mit obligatorisch weitem Skopus und Beibehaltung der alten, stärker lexikalischen Bedeutung (Beispiele 13-16).
36
Gabriele Diewald
Theoretisch könnte ein solcher Zustand auf Dauer bestehen bleiben, ohne daß sich eine deiktische Lesart als eigenständige grammatikalisierte Variante entwickeln müßte. Durch das Vorliegen derartiger Strukturen allein wird kein Grammatikalisierungsprozeß in Gang gesetzt; sie sind notwendige, aber nicht hinreichende Vorbedingungen der Grammatikalisierung. Diese Kontexte mit atypischen Merkmalsclustern, die durch semantische und/oder strukturelle Lesartambiguität konversationeile Implikaturen begünstigen und dadurch sprachlichen Wandel ermöglichen, werden daher als Vorstufe der Grammatikalisierung, d.h. als erste Phase des diachronen Ablaufmodells beschrieben, das im folgenden Abschnitt dargestellt wird.
4. Die drei Phasen der Grammatikalisierung der Modalverben
Tabelle (17) gibt zur ersten Orientierung einen Überblick über die drei hier postulierten Phasen der diachronen Entwicklung: (17)
Phasen der Grammatikalisierung der Modalverben im Überblick: Phase I: Die Vorbedingungen der Grammatikalisierung umfassen a. semantische Vorbedingung, d.h. die Verfügbarkeit der neuen Bedeutung als konversationeile Implikatur in bestimmten Kontexten (stative Verben, generische (Subjekte), und b. strukturelle Vorbedingung, d.h. die Verfügbarkeit von Lesarten mit weitem Skopus des Modalverbs unter Beibehaltung der alten Bedeutung in bestimmten Konstruktionen (Infinitiv des Passivs). Phase II: Die Auslösung der Grammatikalisierung vollzieht sich im kritischen Kontext; dieser löst aufgrund hochgradiger Mehrdeutigkeit bzw. Opakheit verschiedene konversationelle Implikaturen aus. Es entstehen mehrere Lesarten (darunter die deiktische) mit je eigenen morphosyntaktischen Analysen. Der kritische Kontext tritt im Mhd. auf und hat folgende Struktur: Modalverb + Dentalsuffix (+ nominales Objekt) + haben/hän/sin + Partizip II. Phase III: Die Reorganisation und Differenzierung vollzieht sich im Zusammenhang mit der Veränderung des Verbalsystems. Es entstehen die isolierenden Kontexte: Modalverbperiphrase mit Infinitiv I vs. finites Modalverb mit Infinitiv II hat loben können kann gelobt haben nichtdeiktisch deiktisch
Ein diachrones Phasenmodell der Grammatikalisierung
der
Modalverben
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Phase /, die Vorbedingungen der Grammatikalisierung, wurde bereits im vorhergehenden Abschnitt beschrieben als notwendige, doch nicht hinreichende Voraussetzung des Grammatikalisierungsprozesses, die durchgehend seit dem 9. Jh. belegt ist.7 Auch wesentliche Aspekte von Phase III, die durch Reorganisation und Differenzierung zur Bildung eines neuen grammatischen Paradigmas führt, wurden oben bereits angesprochen. Es handelt sich um die isolierenden Kontexte, die im heutigen Deutsch die Opposition der beiden zentralen Lesarten befestigen. Das diachrone Entstehen dieser isolierenden Kontexte markiert die dritte Phase, da erst durch sie die neue, zu grammatikalisierende Bedeutung als eigenständige Lexembedeutung offenkundig und verfügbar wird (s.a. Lehmann 1985, Hopper/Traugott 1993) und so in ein neues grammatisches Paradigma integriert werden kann. Während die erste und die dritte Phase dieses Prozesses im heutigen Deutsch gleichzeitig vorliegen, trifft dies auf die zweite Phase der Grammatikalisierung nicht zu. Mit ihr ist der entscheidende Punkt des Umbruchs umschrieben, der sich nicht über einen längeren Zeitraum hin erhalten kann. Dieser zweiten Phase soll daher im folgenden besondere Aufmerksamkeit zukommen. Phase II erfaßt, wie in Tabelle (17) angedeutet, das Stadium der akuten Auslösung des Grammatikalisierungsprozesses. Dies geschieht in einem spezifischen kritischen Kontext, der sozusagen die „Sollbruchstelle" bildet, an der durch Reanalyse die alte und die neue Bedeutung als eigenständige Alternativen sichtbar werden. Dieser kritische Kontext ist hochgradig markiert, da er sich durch semantische und formale Mehrdeutigkeit bzw. Opakheit auszeichnet. Dadurch stehen mehrere Lesarten mit jeweils unterschiedlichen morphosyntaktischen Analyseoptionen zur Verfügung. Die im kritischen Kontext vorliegende formale und funktionale Überlastung begünstigt monosemierende und differenzierende Veränderungen. In dieser zweiten Phase entscheidet es sich also, ob und in welcher Weise das grammatikalisierungsfähige Potential von Phase I in einen Grammatikalisierungsprozeß eintritt, der zur Ausbildung neuer paradigmatischer Oppositionen führt. Der kritische Kontext, der zur Auslösung der Grammatikalisierung der deiktischen Variante führt, findet sich im Mhd., genauer um 1200, also in einer Epoche, in der von den zwei Modalverbsystemen, wie sie heute vorliegen, noch keine Spur vorhanden ist. Es handelt sich hierbei um die Konstruktion in (18): (18)
Der kritische Kontext für die Grammatikalisierung der Modalverben: Modalverb mit Dentalsuffix-f- + (nominales Objekt) + haben/hän/sin + Partizip II
Der kritische Kontext besteht aus einem Modalverb mit Dentalsuffix + haben/hän/sin + Partizip II, wobei meist auch ein nominales Objekt vorhanden ist. Diese Konstruktion, die erst seit der Mitte des 12. Jh. auftritt, ist bereits um 1200 bei allen sechs Verben belegt. Sie ist keineswegs marginal, sondern erscheint in relativer Häufigkeit (vgl. Westvik 1994). Weiterhin ist diese Struktur ausschließlich bei den Modalverben anzutreffen, die hierbei wiederum in den allermei7
In der Belegdichte unterscheiden sich die sechs Einzellexeme erheblich, was auf ihren jeweiligen Ausgangszustand im Ahd. zurückzuführen ist. Während z.B. bei mögen (ahd. mugan) als,,Wegbereiter" dieses Grammatikalisierungskanals bereits im Ahd. die erste Phase durch zahlreiche Beispiele gut belegt ist, finden sich solche Belege bei dürfen, das im Ahd. noch ein lexikalisches Vollverb ist, nur spärlich. Entscheidend ist hier nur die Tatsache, daß alle sechs Verben die erste Phase vor dem Eintritt in die zweite Phase aufweisen.
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sten Fällen mit dem Dentalsuffix auftreten (Paul/Wiehl/Grosse 1989: 295f.). Es handelt sich bei (18) also um einen sehr spezifischen lokalen Kontext. In (19) bis (24) ist für jedes Verb ein Beispiel gegeben, es ließen sich viele weitere hinzufügen (s. hierzu Deeg 1948, die eine Fülle von Belegen anführt): (19)
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(22)
(23)
(24)
von Veldeke der wise man! der künde se baz gelobet hän. (Parz 8,404,29f.) Von Veldeke der weise Mann, der konnte sie besser gelobt haben. der karakter äbc muoser hän gelemet e. (Parz 9,453,15f.) Der Zeichen abc mußte er vorher gelernt haben. Die mohte wir daz verdienet haben, daz du dich lieze an slahen? (Vorauer Q Sündenklage 823, nach Deeg 1948:70). Wie konnten wir das verdient haben, daß du dich anschlagen ließest. im dörftet mich niht han gemant so verre, [...]. (Tristan 3662f.) Ihr brauchtet/bräuchtet mich nicht so sehr aufgefordert haben. Triercere gäben ir scaz, daz man in dä scolte haben erslagen. wie küme er dannen entran! (Kaiserchronik 4360ff.) Die Trierer gaben ihren Schatz, daß man ihn dort erschlagen haben sollte. Wie knapp er von dort entkam! si weiten dar in sin geslichen: dö was der sne so michel, si neheten wek noch phat. (Kaiserchronik 16995ff.) Sie wollten dahin geschlichen sein, doch war der Schnee so hoch, daß sie weder Weg noch Pfad hatten.
Die Interpretation dieser Konstruktion ist schwierig. In Übertragungen ins Nhd. wird die fragliche Struktur für einen Satz wie (19), also der künde se baz gelobet hän meist mit (19a) wiedergegeben: (19) a. Der hätte sie besser loben können. Das heißt, diese Konstruktion wird als „Konjunktiv Plusquamperfekt" bzw. als „Irrealis der Vergangenheit" verstanden (Paul/Wiehl/Grosse 1989: 295, Westvik 1994: 144). Mit dieser Interpretation ist eine Entscheidung für die lexikalische Lesart des Modalverbs mit engem Skopus getroffen: es geht um die (vergangene, daher gegenwärtig „irreale") Fähigkeit des Subjekts, die im Infinitiv dargestellte Handlung auszuführen. Diese Lesart von (19) ist aufgrund des Textzusammenhangs sinnvoll. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß die nhd. Wiedergabe als Konjunktiv Plusquamperfekt eine Disambiguierung bedeutet, die den Bedeutungsspielraum der mhd. Konstruktion nicht wiedergibt. Die mhd. Konstruktion ist hochgradig ambig, und sie tritt in zahlreichen Belegen auf, bei denen sich aufgrund der weiteren Textumgebung die Lesart als Konjunktiv Plusquamperfekt verbietet. Ein Beispiel hierfür ist Satz (20) mit dem Modalverb müssen im Präteritum. Im nachfolgenden Text wird ausgeführt, daß das Subjekt er die Buchstaben tatsächlich lernte. Auch das Adverb e 'vor-
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her' verdeutlicht, daß hier eine Vorzeitigkeitsbeziehung dargestellt wird, daß also für das Subjekt (in der Vergangenheit) die Notwendigkeit bestand, vorher das Lernen der Buchstaben durchgeführt zu haben ('er mußte die Buchstaben vorher als gelernte haben'). Hier zeigt sich, daß das Partizip II im Mhd. durchaus noch als prädikatives Adjektiv verstanden wird, in diesem Fall als Objektsprädikativ zum Objekt der karakter abc. In (23) schließlich ist für man scolte in haben erslagen eine dritte Interpretation angebracht, die mit den Paraphrasen 'sie sollten ihn erschlagen', bzw. 'sie sollten in tot kriegen' umrissen werden kann (s. hierzu Westvik 1994). Mit Deeg (1948) und Westvik (1994) betrachte ich daher die fragliche Struktur in (18) als mehrfach ambig. Selbst wenn die Textumgebung für den damaligen Rezipienten jedes Vorkommen eindeutig monosemiert hätte, bleibt doch die Tatsache bestehen, daß für diese Struktur prinzipiell mehrere Interpretationen in Frage kommen und daß eine Entscheidung jeweils nur aktuell über die Beteiligung konversationeller Implikaturen getroffen werden kann. Wichtig ist nun, daß neben den bereits vorgestellten Interpretationsoptionen auch eine deiktische Lesart möglich ist. Läßt man die weitere Textumgebung außer acht, gibt es also für Satz (19) - vom Nhd. aus betrachtet - folgende Interpretationsmöglichkeiten: (19) der künde se baz gelobet hän. (Parz 8,404,30) (19) a. Der hätte sie besser loben können. (Konjunktiv Plusquamperfekt). (19) b. Der konnte sie besser als Gelobte haben/gelobt kriegen/loben. (Prädikatives Partizip II). (19) c. Der konnte/könnte sie besser gelobt haben. ('Der hat sie vielleicht besser gelobt'). Aufgrund dieser Beobachtungen liegt es nahe, in dieser Struktur den kritischen Kontext zu sehen, also denjenigen Kontext, in dem die neue Lesart besonders leicht und häufig evoziert wird. Hier stellen sich nun zwei Fragen, nämlich erstens, wieso es gerade diese Konstruktion ist, die im Mhd. in so auffälliger Weise zu dieser Lesartambiguität neigt, und zweitens, über welche konversationellen Implikaturen man zur deiktischen Lesart gelangt. Zur ersten Frage: Die mhd. Struktur vom Typ der künde si gelobet hän (vgl. Beispiel 19) ist nicht nur semantisch mehrdeutig, sondern auch morphologisch bzw. syntaktisch hochgradig ambig (vgl. Valentin 1984: 190). Die Ambiguität betrifft beide Teile des komplexen verbalen Syntagmas, also das finite Modalverb ebenso wie die infinite Struktur hän + Partizip II. Beim infiniten Teil der Verbalphrase, in diesem Fall gelobet hän, kann entweder ein Infinitiv II im heutigen Sinn vorliegen oder, wie oben bei der Besprechung von Beispiel (20) schon angemerkt, eine Konstruktion, in der haben das Objekt regiert und das Partizip II als Objektsprädikativ fungiert (der künde sie gelobet hän 'der konnte sie als Gelobte haben').8 Beim finiten Teil der Konstruktion, also dem Modalverb mit Dentalsuffix - wie künde in (19) - , ist formal nicht zu entscheiden, ob hier der Indikativ oder der Konjunktiv des Präteritums (Konjunktiv II) vorliegt (Westvik 1994). Birkmann (1987) zeigt, daß sich die heutige formale Markierung des Konjunktivs II der Modalverben durch Umlaut (mochte vs. möchte, konnte vs. könnte usw.) erst im Laufe der Zeit entwickelte. Zwar ist die nhd. Verteilung der Markierungen im Mhd. schon 8
Das mhd. Syntagma haben/hän/sin + Partizip II im kritischen Kontext kann also nicht ohne weiteres als „Infinitiv II" in nhd. Sinne aufgefaßt werden. Es ist polysem bezüglich aspektueller Funktion (resultative Komponente des prädikativen Partizips II) und temporaler Funktion (Vergangenheitsbezug des Infinitivs II); s. Westvik (1994: 157), Paul/Wiehl/ Grosse (1989: 296).
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teilweise erkennbar (Birkmann 1987: 194), doch gibt es etliche Fälle von Formensynkretismus.9 Man kann daher sagen, daß die Modalverben mit Dentalsuffix in dieser Epoche die Distanzstufe realisieren, die je nach Kontext temporal oder modal interpretiert wird. Die Ambiguität der Modalverben mit DentalsufFix wäre im übrigen auch dann nicht aufgehoben, wenn ein mhd. Modalverb mit Dentalsuffix eindeutig eine der beiden morphologischen Kategorien zum Ausdruck brächte. Sowohl der Indikativ als auch der Konjunktiv des Präteritums weisen nämlich im Mhd. ein Funktionsspektrum auf, in dem sich in jeder der beiden Kategorien temporale und modale Funktionen überschneiden. Zum einen hat der Konjunktiv Präteritum im Mhd. seinen temporalen Wert (also Vergangenheitsbezug) noch nicht vollständig verloren: künde als Konjunktiv II bedeutet "könnte' und 'hätte können'. Zum anderen weist der Indikativ des Präteritums neben seiner temporalen Mehrdeutigkeit noch im Mhd. zum Teil modale Funktionen auf. So besteht die im Ahd. übliche Struktur (25) im Mhd. weiter (26); parallel dazu findet sich die neue Struktur künde gelobet hän in (19) (Westvik 1994: 147f., Paul/Wiehl/Grosse 1989:295f.): (25)
(26)
(19)
sie möhtun bringan mera. (0117,67, vgl. Westvik 1994: 148ff.) Sie konnten mehr bringen (rein temporale Interpretation von mohtun entsprechend dem heutigen Präteritum). Sie hätten mehr bringen können (temporale und modale Interpretation von mohtun, heute nur durch den Konjunktiv Plusquamperfekt wiederzugeben). daz mähte lihtegescehen. (Gen 2219, nach Paul/Wiehl/Grosse 1989:296) Das konnte leicht geschehen. Das hätte leicht geschehen können. der künde se baz gelobet hän. (Parz 8,404,30) Der konnte sie besser gelobt haben. Der hätte sie besser loben können.
Durch das Zusammentreffen zweier morphosyntaktisch mehrdeutiger Formen (Modalverb mit Dentalsuffix und haben/hän/sin mit Partizip II) im kritischen Kontext ist eine wechselseitige Disambiguierung kaum möglich, so daß diese Konstruktion dem Rezipienten verschiedene Interpretationsoptionen der beteiligten Formen anbietet, die je nach angestellter konversationeller Implikatur aufgegriffen, unterdrückt oder gar vermischt werden können. Damit ist die zweite Frage angeschnitten, nämlich die Frage, über welche konversationellen Implikaturen man zur deiktischen Lesart gelangt. Hier soll gezeigt werden, daß die deiktische Interpretation auf verschiedenen Wegen erreicht werden kann, ja daß sich diese Lesart in diesem Kontext als Ausweg aus der morphosyntaktischen Mehrdeutigkeit geradezu aufdrängt. Als Beispiel dient weiterhin Satz (19). Ein erster Interpretationsversuch von (19) könnte die morphologischen Formen so verstehen, daß künde den Konjunktiv II ohne temporale Bedeutung realisiert ("könnte') und gelobet hän ein
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Laut Birkmann (1987: 207-215) liegt bei folgenden Modalverbformen Synkretismus bezüglich Indikativ Präteritum und Konjunktiv Präteritum (Konjunktiv II) vor: künde, dorfte, solde, muose, muoste, weide, wilde wolde. Vor allem kunnen zeichnet sich durch Synkretismus aus; nur bei mugen/mügen hat sich nach Birkmanns Daten die Opposition bereits eindeutig durchgesetzt: mähte, mohte (Ind. Prät.) vs. mehte, mähte (Konj. Prät.).
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dem Nhd. entsprechender Infinitiv II mit Vergangenheits- bzw. Abgeschlossenheitsbezug ist ('gelobt haben'). Mit dieser Lösung wäre also für beide Verbalsyntagmen die „neueste" Funktion ausgewählt. (27) gibt eine Paraphrase für diese Analyse der morphologischen Formen: (19) (27)
der künde si baz gelobet hän. (Parz 8,404,30) Der hätte zum Sprechzeitpunkt die Fähigkeit, sie (in der Vergangenheit) besser gelobt zu haben.
Nun macht es offensichtlich keinen Sinn, zu sagen, daß das Satzsubjekt zum Sprechzeitpunkt eine Handlung ausführen könnte, deren Aktzeit jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits in der Vergangenheit liegt. Eine bereits vollzogene (oder auch nichtvollzogene, aber in der Vergangenheit angesiedelte) Handlung steht in der jeweiligen Gegenwart nicht mehr als Handlungspotential zur Verfügung. Eine der konversationeilen Implikaturen, die der Hörer anstellen kann, um dennoch zu einer sinnvollen Interpretation zu kommen, ist daher folgende: ,3s macht keinen Sinn zu sagen, daß das Satzsubjekt eine Handlung vollziehen könnte, deren Vollzugszeit bereits vergangen ist. Der Sprecher meint also nicht, daß das Satzsubjekt eine Fähigkeit hat. Stattdessen macht es Sinn, zu sagen, daß die Möglichkeit besteht, daß das Satzsubjekt eine Handlung vollzogen hat. Der Sprecher will also, so unterstelle ich als Hörer, ausdrücken, daß er es für möglich hält, daß das Satzsubjekt die Handlung vollzogen hat. Der Sprecher meint mit diesem Satz: 'Vielleicht hat er sie besser gelobt'." Diese Interpretationskette ist in (28) zusammengefaßt: (28)
Erste Lösung zur Disambiguierung des kritischen Kontexts in Satz (19): Keinen Sinn macht die Interpretation: ""Satzsubjekt wäre jetzt in der Lage, sie besser gelobt zu haben' Sinn macht eine Interpretation mit weitem Skopus: 'Es könnte sein, daß das Satzsubjekt sie besser gelobt hat' Hörer folgert, daß Sprecher es für möglich hält, daß Satzsubjekt sie gelobt hat und mit der Äußerung sagen will 'Satzsubjekt hat sie vielleicht besser gelobt'.
Durch diese Re interpretation wird eine sinnvolle Äußerung erzeugt, die einhergeht mit einer syntaktischen Reanalyse und einer semantischen Festlegung: Das Modalverb künde erhält Satzskopus (weiten Skopus) und es verliert seine alte, lexikalische Bedeutung 'geistig in der Lage sein, verstehen' zugunsten der neuen, „abstrakteren" Bedeutung der nicht spezifizierten Möglichkeit. Diese beiden Veränderungen sind, wie ausgeführt, schon vorher unabhängig vom kritischen Kontext in verschiedenen textuellen Umgebungen vorhanden, was der ersten Phase der Grammatikalisierung entspricht. Im kritischen Kontext treffen sie aufgrund morphosyntaktischer Opakheit zusammen, so daß hier die Notwendigkeit zur Reinterpretation erheblich größer ist als in nichtkritischen Kontexten. Neben dem oben dargestellten Weg, die Ambiguität zu lösen, gibt es noch weitere Möglichkeiten, die zum selben Ziel führen. Eine alternative Interpretation der beteiligten morphologischen Formen von (19) könnte folgendermaßen beschaffen sein: künde wird als Indikativ Präteritum mit rein temporalem Wert entsprechend dem heutigen Präteritum interpretiert, also im Sinne von 'in der Vergangenheit bestand für das Satzsubjekt die Fähigkeit, χ zu tun' (vgl. Westvik 1994: 150-154). Die Struktur gelobet hän wird als prädikative Struktur (mit Zukunftsbezug wegen perfektivem Partizip II) interpretiert, deren Bedeutung in etwa mit 'sie (bald) als Gelobte haben', 'sie gelobt kriegen' zu umschreiben ist. Diese Interpretation der beteiligten morphologi-
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sehen Formen setzt also deren jeweils älteren funktionalen Wert dominant, so daß (19) mit (29) zu paraphrasieren ist: (19)
der künde se baz gelobet hän. (Parz 8,404,30)
(29)
Zu einem Zeitpunkt in der Vergangenheit bestand für das Satzsubjekt die Möglichkeit/war das Satzsubjekt in der Lage, eine Handlung auszuführen, die darin bestand, sie besser zu loben.
Die konversationelle Implikatur, die von dieser morphologischen Analyse zur neuen deiktischen und stärker grammatikalisierten Funktion führt, könnte folgender Art sein: „Die Aussage, daß das Satzsubjekt in der Vergangenheit die Fähigkeit/Möglichkeit hatte, die Infinitivhandlung zu vollziehen (sie zu loben), ist an sich wenig informativ. Wieso sollte der Sprecher derartiges mitteilen? Vermutlich will der Sprecher mir sagen, daß es möglich ist, daß das Satzsubjekt diese Fähigkeit/Möglichkeit in die Tat umsetzte. Der Sprecher will, so unterstelle ich, der Hörer, ausdrücken, daß er es für möglich hält, daß das Satzsubjekt die Handlung vollzog. Der Sprecher meint also 'Der hat sie vielleicht besser gelobt'." Diagramm (30) gibt eine Kurzform dieser Implikaturenkette: (30)
Zweite Lösung zur Disambiguierung des kritischen Kontexts in Satz (19): Wenig informativ ist: 'Satzsubjekt war in der Vergangenheit in der Lage, sie besser zu loben' informativer ist weiter Skopus: 'Es kann sein, daß das Satzsubjekt sie besser gelobt hat' Hörer folgert, daß Sprecher es für möglich hält, daß Satzsubjekt sie gelobt hat und mit der Äußerung sagen will: 'Satzsubjekt hat sie vielleicht besser gelobt'.
Die Implikaturenketten in (28) und (30) entsprechen sich bis auf die jeweils erste Zeile, die die Ausgangspunkte, also die unterschiedliche Interpretation der morphologischen Formen, darstellt. Die deiktische Reinterpretation wird also von verschiedenen Punkten aus erreicht, sie ist die bevorzugte Lösung bei der Disambiguierung des kritischen Kontexts. Im kritischen Kontext wird nun der Grammatikalisierungsprozeß zwar ausgelöst, jedoch noch nicht vollzogen. Der Schritt von der konversationellen Implikatur zur eigenständigen Bedeutung bedarf eines Kontexts, in dem die alte Bedeutung ausgeschlossen und nur mehr die neue Bedeutung sinnvoll ist, d.h. eines isolierenden Kontexts. Erst mit der Etablierung isolierender Kontexte ist der Übergang zur dritten Phase der Grammatikalisierung, der Differenzierung und Restrukturierung, vollzogen. Bei der Etablierung der isolierenden Kontexte wird - wie Valentin (1973) und Duchäteau (1979) ausführen - eine Entwicklung relevant, die unabhängig von der Grammatikalisierung der Modalverben verläuft. Es handelt sich um die Restrukturierung des Verbsystems, insbesondere um die Entstehung periphrastischer Tempusformen. Wie ausgeführt, besteht die Opposition zwischen beiden isolierenden Kontexten nur bei periphrastischen (drei- und mehrgliedrigen) Verbalsyntagmen. Die Gegenüberstellung der beiden isolierenden Kontexte und damit eine klare Unterscheidung zwischen nichtdeiktischer (weniger grammatikalisierter) Lesart und deiktischer (grammatikalisierter) Lesart, d.h. der Eintritt in die dritte Phase, kann erst in dem Augenblick stattfinden, in dem die Modalverben periphrastische Tempusformen bilden. Da die
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Modalverben bis ins Fnhd. kein Partizip II (und auch keinen „Ersatzinfinitiv") aufweisen (Birkmann 1987: 208f£, Valentin 1984: 190), sind periphrastische Formen wie hat loben können bis zu diesem Zeitpunkt nicht bildbar. Sobald jedoch diese Formen den Modalverben zugänglich sind, entsteht die komplementäre Verteilung von nichtdeiktischem er hat tun können und deiktischem er kann getan haben, und diese strukturelle Opposition kann nun im Sinne der Grammatikalisierung fiinktionalisiert werden. Von diesem Zeitpunkt an kann sicher vom Eintritt in die dritte Phase gesprochen werden. Der Zeitraum, in dem sich diese Opposition zuerst findet, liegt zwischen dem Beginn des 16. und dem 17. Jh., wobei mögen, müssen und können die Vorreiter sind, dürfen erst im 17. Jh. die beiden isolierenden Kontexte aufweist (s. Valentin 1973: 32, Duchäteau 1979). (31) bis (36) geben Beispiele für jedes Modalverb; die Sätze unter (a) zeigen den nichtdeiktischen isolierenden Kontext, die Sätze unter (b) den deiktischen isolierenden Kontext: (31) a. Sie haben sich villeicht vorlassen auffyhre macht / mehr dan auff got / drumb habe(n) sie müssen fallen. (Luther Adel 97,35f.) b. Drumb musz das der heubt teuffei selb gesagt haben. (Luther Adel 103,17) (32) a. Nu hat der Romisch geytz vn(d) raubstul / nit mocht der zeit erwartten / das f...]. (Luther Adel 113,17) b. Herr Doktor, es mag der Huß auß forcht also geredt haben. (Cochlaeus 22-17, nach Duchäteau 1979:68) (33) a. und hast dir doch einbilden dörffen / du habest mich im Saurbrunnen betrogen! (Courasche 88,28f.) b. Und nun schaue / du guter Simplex! du dötfftest dir hiebevor im Saurbrunnen vielleicht eingebildet haben / du seyest der Erste gewesen, der den süssen Milchraum abgehoben. (Courasche 25,26ff.) (34) a. weil er ewr hertz ν göttliches fürnemen nicht hat können hindern [...]. (D 128,27f.) b. Das kan nu wol geschehen seyn, das sant peter tzu der selben tzeyt von Rom oder Antiocha gen Jerusalem gewandert, uund yn sant Paul ungeferlich do gefunden hab. (Luther-Emser, Streitschriften 177,35, nach Duchäteau 1979:85) (35) a. das wir vom tale alle 7 haben sollen abtreten. (Spittendorff 43, nach DWB 16,1467) b. Da sol Benedictus gesagt haben, [...] (D 85,21) (36) a. weil ich sonderlich disenpunct hab wöllen handeln. (D 124,15f.) b. Das das kindlin Jesus nit allein on seiner eitern wissen / da hinden zu Jerusalem bleybet/sonder will auch recht damit thun haben / vndspricht [...]. (D 122,33ff.) Auffällig bei dieser Differenzierung ist nun, daß die neue Bedeutung bzw. Funktion (die deiktische Lesart mit weitem Skopus) die alte Form übernimmt, während die alte Bedeutung (die nichtdeiktische Lesart mit engem Skopus) eine neue Struktur erhält, nämlich die periphrastischen Modalverbformen. Hierzu einige abschließende Bemerkungen: Leiss (1997) weist daraufhin, daß es sich bei der Durchsetzung eines neuen, komplexeren Inhalts bei einer alten Form, d.h. bei inhaltlichem „Markiertheitsaufbau", um einen „regulären und prognostizierbaren Prozeß" handelt, der allgemein bei grammatischen Kategorien zu beobachten ist. Leiss beschreibt dies als „einen natürlichen Alterungsprozeß kategorialer Formen", der eben darin bestehe, „daß sich einfache grammatische Inhalte unter Beibehaltung der Form in komplexere Inhalte transformieren" (1997: 159). Überträgt man diese Beobachtung, die Leiss vorwiegend anhand grammatischer Flexive (also synthetischer, nicht peri-
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phrastischer Formen) erörtert, auf das Syntagma des kritischen Kontexts, dann verliert der zunächst verwunderlich erscheinende Umstand, daß die alte Form neu interpretiert wird, während die alte Bedeutung sich quasi eine neue Struktur suchen muß, seine Merkwürdigkeit, und es läßt sich festhalten, daß die Grammatikalisierung von weniger grammatikalisierten, syntagmatischen Konstruktionen analog zum Wandel flexivischer, d.h. im allgemeinen „älterer", grammatischer Kategorien erfolgt. Die zweite, oben genannte Auffälligkeit, die Entwicklung neuer periphrastischer Modalverbformen für die alte Bedeutung, ist auf den ersten Blick sehr irritierend. Es könnte sich ja bei der erst im Fnhd. erworbenen Fähigkeit der Modalverben zur Bildung eines Partizips II und damit des gesamten Spektrum von Flexionsformen um einen Fall von „Degrammatikalisierung" (d.h. Wiederherstellung einer lexikalischen Vollform) handeln. Da Degrammatikalisierung eine Ausnahmeerscheinung ist, miißte dieser Fall dann sehr genau begründet werden und ließe als Einzelfall kaum Generalisierungen auf andere Grammatikalisierungsprozesse zu. Nach dem oben Gesagten, dürfte jedoch deutlich sein, daß es sich hier keineswegs um Degrammatikalisierung handelt, sondern um das genaue Gegenteil, und zwar um die Stützung des Grammatikalisierungsprozesses durch die formale Markierung der Spaltung in zwei Systeme. Die neu erworbene Fähigkeit zur Bildung des Partizips II unterstützt die Grammatikalisierung, indem sie die Möglichkeit zur Bildung isolierender Kontexte, d.h. einer komplementären Verteilung der beiden Lesarten bereitstellt. Damit trägt sie zur Isolierung der neuen deiktischen Variante bei, wodurch diese als eigenständige Bedeutung wahrgenommen werden kann. Das heißt, indem die ältere, lexikalische Lesart fest in die Vollverbstrukturen integriert wird, wird die neuere Lesart und ihre zugehörige Struktur stärker als grammatikalisierte Form hervorgehoben.10
5. Zusammenfassung und Ausblick
Die Modalverben im heutigen Deutsch zeigen zwei Gebrauchsweisen, die sich deutlich in ihrem Grammatikalisierungsgrad unterscheiden. Die eindeutigen und prototypischen Fälle dieser beiden Varianten sind an bestimmte disambiguierende sprachliche Kontexte, die isolierenden Kontexte, gebunden. Jenseits dieser Kontexte zeigen sich zahlreiche Lesartübergänge bzw. -ambiguitäten, die die Grenzen zwischen den beiden Varianten verwischen. Ausgehend von diesen Beobachtungen zum synchronen Zustand, der das vorläufige Resultat des diachronen Prozesses darstellt, wurde ein diachrones Ablaufmodell der Grammatikalisierung der Modalverben entwickelt, das drei Phasen unterscheidet. Die erste Phase stellt die notwendigen, doch nicht hinreichenden Vorbedingungen für die Grammatikalisierung dar. Die zweite Phase, in der der Grammatikalisierungsprozeß ausgelöst wird, ist geprägt durch den
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Die weitere Differenzierung der grammatikalisierten Modalverben, z.B. die Festlegung auf ihre jeweiligen nhd. Faktizitätswerte, verläuft einzelverbspezifisch, da jedes der sechs Verben einen von den andern unterscheidbaren Faktizitätswert erwirbt und eine entsprechend eigenständige Entwicklung nimmt. Die Gestalt des Systems, wie wir es heute kennen, also der vorläufige Endpunkt dieses Grammatikalisierungsprozesses, wird erst im Verlauf des 19. Jh. erreicht, was hier nicht ausgeführt werden kann.
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kritischen Kontext, d.h. eine bestimmte sprachliche Struktur, in der durch morphosyntaktische Opakheit die Ambiguität steigt und disambiguierende Reanalysen notwendig werden. Der kritische Kontext ist die „Sollbruchstelle", in der sich alte und neue Funktionen zu differenzieren beginnen. Die neue, grammatikalisierte Funktion stellt sich auf mehreren Analysewegen ein, d.h. sie ergibt sich als naheliegende Folgerung aus verschiedenen Ketten konversationeller Implikaturen. In der dritten Phase der Grammatikalisierung erfolgt die Abspaltung der neuen Variante in einem bestimmten Kontext (dem isolierenden Kontext), in dem die alte Lesart zugunsten der neuen ausgeschlossen ist, wodurch letztere als selbständige Variante präsent wird. Parallel dazu entwickelt sich ein Kontext, in dem die neue Variante ausgeschlossen ist, so daß sich zwei isolierende Kontexte mit ihren jeweiligen Lesarten gegenüberstehen. Von diesem Punkt an kann die neu entstandene grammatikalisierte Variante in ein grammatisches Paradigma integriert werden (hier die Verbmodi) und zu einer Neustrukturierung dieses Paradigmas beitragen. Dieses Modell wurde zwar anhand der Diachronie der Modalverben entwickelt, da jedoch die steuernden Prozesse der drei Ablaufphasen allgemeiner Natur sind (Entstehung von Ambiguität in der ersten Phase, Kulmination von Ambiguität im kritischen Kontext und schließlich Lösung der Ambiguität durch strukturelle und semantische Differenzierung in den isolierenden Kontexten), eignet es sich möglicherweise auch als Grundschema zur Beschreibung anderer Wandlungsprozesse. Ein Bereich, auf den dieses Modell möglicherweise übertragbar wäre, ist der ungesteuerte kindliche Spracherwerb, wie ihn Knobloch (in diesem Band) anhand des Erwerbs des Konjunktivs untersucht, ebenso wie der Erwerb der Schriftsprache, den Feilke (in diesem Band) anhand der Satzkonjunktionen darlegt. Aus beiden Arbeiten geht hervor, daß der Spracherwerb als stufenweise Reorganisation der Kompetenz erscheint, wobei die jeweiligen Stufen durchaus dem für diachrone Prozesse entwickelten Schema analog sind.
Quellen
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Ein diachrones Phasenmodell der Grammatikalisierung der Modalverben
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Rosemarie Tracy Spracherwerb durch Epigenese und Selbstorganisation
1. Einleitung
Interessante Theorien machen uns klüger und immer ein bißchen dümmer zugleich. Sie konfrontieren uns mit neuen Grenzen, die meistens nicht minder hartnäckig sind als diejenigen, die wir gerade überwunden glaubten. Mit meinen folgenden Überlegungen begebe ich mich auf einen solchen Grenzgang an der Schnittstelle von Sprachwissenschaft, Kognitionsund Entwicklungspsychologie. Gefragt wird nach Mechanismen, die den kindlichen Spracherwerb steuern, ihn in Gang halten und immer wieder entscheidende Entwicklungsschübe auslösen können. Besonderes Interesse gilt der Frage, ob und wie sich im Verlauf der sprachlichen Ontogenese qualitativ neue Struktureigenschaften herausbilden können, die in früheren Entwicklungsstadien nicht im Sinne konkreter Präformation enthalten waren. Diesen Fragen werde ich im Rahmen einer gemäßigten nativistischen Theorie des Spracherwerbs nachgehen - „gemäßigt" deshalb, weil sie durch Elemente einer Theorie der Selbstorganisation ergänzt wird. Den klassischen Kontrahenten Anlage und Umwelt, die das Individuum zur Passivität verurteilen, wird ein Dreiergespann gegenübergestellt, bestehend aus einem Apriori (der Universalgrammatik, folgend UG), dem sprachlichem Angebot der Umwelt und einem leistungsfähigen Verarbeitungssystem. Teil dieses Verarbeitungssystems ist der vernünftige „Hausverstand" des Kindes, um eine Metapher der biologischen Erkenntnistheorie Riedls (1980) zu benutzen. Diesem Hausverstand obliegt es, aus der Konfrontation zwischen UG und Input relevante Schlüsse zu ziehen. Dabei sieht er sich dazu veranlaßt, immer wieder abstrakte Konzepte und neue Ebenen der Repräsentation zu „erfinden", weil sich nur so Widersprüche zwischen Input und UG auflösen lassen. Ausgangspunkt meiner Überlegungen (Abschnitt 1) sind einige Aufgaben, die dem kindlichen Hausverstand weder durch eine universalgrammatische Grundausstattung noch durch die sprachliche Umwelt abgenommen werden können. Abschnitt 2 illustriert anhand einiger Beispiele von Randall (1990) einen Mechanismus, der das Kind zur Korrektur abweichender Interimshypothesen bewegen könnte. Abschnitt 3 liefert eine grobe Skizze des Erwerbs der deutschen Satzstruktur, und Abschnitt 4 erläutert anhand einiger hypothetischer Entwicklungskrisen, was ein Kind zum Aufbau immer neuer Strukturschichten veranlassen sollte. Abschnitt 5 und 6 runden diese Argumentation mit einigen Überlegungen über Handlungsspielräume, Umwege, Irrwege und weitere Herausforderungen für die Spracherwerbsforschung ab.
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2. Aufgaben fur den kindlichen Hausverstand
Mit der Erkenntnis, daß sich der Erwerb natürlicher Sprachen nicht mithilfe behavioristischer Vorstellungen vom Lernen durch Imitation, durch die Ausbildung assoziativer Gewohnheitsfamilien und die selektive Verstärkung oder Korrektur durch die Umwelt erklären läßt, vollzog die Spracherwerbsforschung die vielleicht wichtigste Grenzüberschreitung in ihrer noch recht jungen Laufbahn. Die Idee vom Spracherwerb durch Induktion scheitert daran, daß wesentliche Teile des impliziten Wissens, das im Verlauf des Spracherwerbs ausgebildet wird, der Erfahrung schlichtweg nicht zugängig sind. Gleichermaßen enttäuscht werden Hoffnungen, die man bezüglich der Rolle einer korrigierenden Umwelt hegen mag: Sofern überhaupt Korrekturen angeboten werden, sind sie weder konsistent noch informativ genug, um nützlich zu sein (Brown & Hanion 1970, Newport et al. 1977, Crain 1991, Tracy 1991b). Bemerkenswerterweise gerieten Assoziationstheorien schließlich sogar dort in Mißkredit, wo man sich ihren Einsatz eigentlich noch am besten vorstellen konnte, nämlich beim Erwerb lexikalischer Bedeutungen. Auch hier gilt, was Riedl in seiner biologischen Erkenntnistheorie generell als Kritik am Reiz-Reaktionslernen äußerte, daß nämlich der tabula rasa-Standpunkt keinerlei Erklärung anbietet. Anzunehmen, daß ein neuer Reiz, eine neue Aufgabe, ohne jede Fülle an Vorwissen der Programme durch blindes Versuchen schon die Verdrahtung zur zweckmäßigen Reaktion und Problemlösung finden werde, ist absurd. (1980:33)
Zu dem Vorwissen, das mittlerweile für den Aufbau des kindlichen Lexikons als unabdingbar erachtet wird, gehört das „Prinzip des ganzen Objekts", i.e. die Hypothese, daß sich eine neue Bezeichnung auf ein bislang namenloses Objekt als Ganzes bezieht und nicht etwa auf ein Detail (vgl. Clark 1993). Eine gleichermaßen wichtige Funktion kommt dem „Kontrastprinzip" zu, das es dem Kind nahelegt, hinter formalen Unterschieden (z.B. verschiedenen Lexemen) unterschiedliche Bedeutungen zu vermuten. 1 Die Leistung dieses Prinzips für den Lexikonerwerb ist klar: Es verhindert die Annahme, daß bunt, gestreift, groß, aufgeblasen, sichtbar, brennbar, lustig, zerfetzt, kostenlos und was sich sonst noch über Luftballons sagen ließe, gleiches bedeuten. Konsequenz des strikten Einhaltens dieses Prinzips ist der Verzicht auf vollständige Synonymie. Wie später (Abschnitt 4) zu zeigen sein wird, spielt das Kontrastprinzip auch beim Aufbau syntaktischer Strukturen und morphologischer Paradigmen eine wichtige Rolle (vgl. Pinker 1984, Clahsen 1988). Freilich ist mit der Stipulierung von Prinzipien an sich noch nichts über ihre Herkunft gesagt. Handelt es sich tatsächlich um angeborene Prädispositionen und wenn ja, stehen sie kontinuierlich zur Verfügung oder reifen sie (vgl. Borer & Wexler 1987)? Könnten sich die entsprechenden Erkenntnisse und Erwartungen in vorsprachlichen Entwicklungsphasen herausgebildet haben (vgl. dazu die Diskussion in Clark 1993:107f)? Und wie steht es mit der Domänenspezifik? Handelt es sich um allgemeine kognitive Beschränkungen oder um bereichsspezifische linguistische Vorgaben im Sinne der Modularitätstheorie Fodors (1983)?
1
In ihrer Funktionsweise ähnliche Prinzipien finden sich in der Literatur als „UniquenessPrinciple", „Unique Entry Principle", „Prinzip des Einfacheintrags" u.ä. (vgl. Slobin 1973, Wexler & Culicover 1980, Pinker 1984, 1989, Clahsen 1988, Randall 1990).
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Selbstorganisation
Diese Fragen muß man sich bei jedem vermeintlichen universalen Prinzip erneut stellen. In manchen Fällen wird die Frage nach der Bereichsspezifik deshalb sinnlos, weil sich für bestimmte sprachliche Konzepte keine allgemeineren kognitiven Äquivalente oder gar Vorläufersysteme anbieten. Was wären beispielsweise die kognitiven Korrelate von Komplementen und Adjunkten, engem und weitem Fokus oder die kognitiven Wegbereiter von Bindungsprinzipien oder Beschränkungen von Bewegungstransformationen? Auf den ersten Blick sind die Vorteile nativistischer Theorien offensichtlich: Sie bieten uns eine Lösung für das logische Problem der Lernbarkeit von Strukturen in Abwesenheit eines Modells, und sie können auch das Nichtauftreten denkbarer induktiver Fehlschlüsse erklären. Zugleich muß jedoch das ganze Spektrum natürlicher Sprachen lernbar bleiben. D.h. auch wenn sich ein Kind ausschließlich im Rahmen universalgrammatisch legitimierbarer Optionen bewegt, bleibt immer noch ein nicht zu unterschätzender Freiraum. Wie lassen sich mögliche Irrtümer vermeiden? Idealerweise würde sich der kindliche Hausverstand an einem Subset-Prinzip orientieren (vgl. Berwick 1985) und sich immer konservativ für eine Grammatik entscheiden, welche die jeweils kleinere Sprache generiert. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn Lerner, vor die Wahl des sogenannten Nullsubjekt-Parameters gestellt (vgl. Hyams 1986, Verrips 1994), zunächst davon ausgingen, daß Subjekte realisiert werden müssen. Nur aufgrund gegenteiliger Belege im Input (bestehend aus Sätzen ohne Subjekte) sollten sie sich davon überzeugen lassen, daß sie eine „weitere" Sprache erwerben, die beide Alternativen zuläßt. Abbildung 1 illustriert die entsprechende Mengenbeziehung. +/- Subjekt
+ Subjekt
(i.e. beide Optionen)
(nur eine Option)
Abb. 1. Subset-Prinzip Sollten Kinder hingegen mit der weitergehenden Hypothese (+/- Subjekte) beginnen, so müssten sie trotz konsistenter Begegnung mit realisierten Subjekten im Input nie von ihrer Ausgangshypothese abrücken, da die von ihnen gewählte liberale Sprache ja die eigentliche zielsprachliche Option als Teilmenge miteinschließt. Korrektur könnte hier nur über negative Evidenz erfolgen, z.B. durch Hinweise auf die Ungrammatikalität von Äußerungen, und diese Information bleibt dem Kind versagt. Leider stößt die Subset-Theorie schnell an massive theoretische und empirische Grenzen (vgl. Fodor & Crain 1987, Verrips 1994, Pinker 1984). Nicht immer lassen sich Alternativen, zwischen denen sich Lerner entscheiden müssen, wie im Falle des Nullsubjektparameters in ein Inklusionsverhältnis bringen. Dies zeigt sich u.a. im Fall des Kopf-Parameters, demzufolge Köpfe entweder rechts oder links ihrer Komplemente angesiedelt sind. Hier ergibt sich kein Unterschied, der sich in größeren versus kleineren Mengen generierbarer Sätze niederschlägt. In empirischer Hinsicht scheitert die Subset-Theorie daran, daß sich Kinder nicht konservativ genug verhalten, d.h. sie wählen nun einmal keineswegs zuerst die jeweils „kleinere" Lösung, die es ihnen erlauben würde, ihre Hypothese anhand positiver Belege zu
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revidieren. Statt dessen sind sie risikofreudig: Ihre frühen Sätze verzichten nicht nur auf Subjekte sondern auch auf andere, zielsprachlich obligatorische Elemente, und sie scheuen auch nicht vor Generalisierungen zurück (z.B. im Fall von Dativalternierungen wie in *Don't say me that, vgl. die Beispiele in Bowerman 1987, 1988, Pinker 1989, Randall 1990), für die es ihnen an zielsprachlichen Belegen fehlt. Nichtsdestotrotz werden unzulässige Generalisierungen schließlich und endlich zugunsten der zielsprachlichen Optionen eingeschränkt. Wie dies ohne explizite Korrektur geschehen kann, ist bisher weitgehend rätselhaft geblieben. Aber damit erschöpfen sich die Schwierigkeiten nativistischer Theorie noch lange nicht. Voraussetzung für den gewinnbringenden Einsatz eines Apriori ist die Herstellung eines Kontakts zwischen relevantem Input und universalen Prinzipien. Nehmen wir beispielsweise die verlangte Festlegung der Direktionalität syntaktischer Köpfe (Kopf-Parameter). Wie erkennt ein Kind überhaupt erst einmal einen möglichen Kopfkandidaten? Oder denken wir an die verschiedenen Bindungsprinzipien, welche die Interpretation von referentiellen Ausdrücken, Pronomina und Anaphern regeln: Wie entscheidet ein Kind, in welche dieser Kategorien ein Ausdruck fällt, i.e. wie erkennt es ein Pronomen oder eine Anapher? Genereller gefragt: Wie kommt ein Kind zu ersten lexikalischen Kategorien, unterschiedlichen Phrasentypen und syntaktischen Funktionen? Da die meisten Universalien auf abstrakte Konfigurationen Bezug nehmen, stellt sich die Frage, wie eine Struktur überhaupt bis zu dem Punkt aufbereitet werden kann, an dem sie in den Geltungsbereich eines Universals gelangt. In der Forschungsliteratur wurden hierfür diverse Bootstrapping-Mzc\amsmen vorgeschlagen, die hilfreiche Anfangskorrelationen zur Verfügung stellen und damit eine Art Steigbügelfunktion erfüllen (vgl. Pinker 1984, 1987, Clahsen 1988).2 Auch das sogenannte Trigger-Problem bleibt zu klären (vgl. Weissenborn et al. 1992, Verrips 1994). Gibt es bestimmte Einzelereignisse oder komplexe Bedingungskonstellationen, die einen Entwicklungsschritt verläßlich auslösen können. 3 Und wieso sollten potentielle Trigger erst in bestimmten Momenten wahrgenommen werden, obwohl sie theoretisch von Anfang an im Input vorhanden sind? Insgesamt steht die Spracherwerbsforschung vor einem interessanten Paradox: Ist der Erwerb der Grammatik natürlicher Sprachen nur mit Hilfe einer angeborenen Disposition denkbar, so benötigt umgekehrt die UG leistungsfähige kognitive Mechanismen, um die universalgrammatische Maschinerie überhaupt erst einmal in Gang zu setzen. Zugleich müssen diese kognitiven Fähigkeiten den Erwerb derjenigen Strukturbereiche garantieren können, die außerhalb der Zuständigkeit der Universalgrammatik liegen, i.e. den Bereich der einzelsprachlichen Idiosynkrasie. Aus diesen diversen Gründen kann auch eine nativistische Theorie nicht auf selbstorganisierende und konstruktivistische Elemente verzichten. Vielversprechende theoretische Ansätze finden sich in Theorien, die sich einerseits auf Piagets epigenetische Erkenntnistheorie berufen (vgl. Piaget 1967), aber zugleich (anders als Sinclair de Zwart 1973, Piaget 1980) darauf verzichten, linguistische Universalien auf die Errungenschaften der sensomotorischen 2
3
Diese Anfangskorrelationen (z.B. die Annahme, daß die thematische Rolle AGENS in Subjektfunktion auftritt) dürfen nicht allzu ernst genommen werden, weil sie sich auf Dauer als hinderlich erweisen würden (vgl. Pinker 1987). Lemer sollten sich daher von Anfang an nicht zum Reduktionismus verleiten lassen (vgl. Tracy 1991 a). So nahm Hyams (1986) an, daß englischsprachige Kinder ihre Nullsubjekt-Hypothese in dem Moment verwerfen, in dem sie merken, daß Englisch über expletive Subjekte (it/there) verfügt.
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Phase zurückzuführen (Karmiloff-Smith 1992, Tracy 1991a, 1995). Im folgenden wird skizziert, mit Hilfe welcher selbstorganisierenden Fähigkeiten der kindliche Hausverstand zur Lösung diverser Erwerbsprobleme beitragen kann.
3. Ein prinzipiengesteuertes Korrektiv: Randalls (1990) „Katapulthypothese"
Wie wir gesehen haben, liegt ein großer Vorteil nativistischer Theorien in der Prävention: Hypothesen, die überhaupt nicht mit der UG in Einklang gebracht werden können, bleiben idealerweise α priori ausgeblendet. Aber könnten universale Prinzipien sich nicht sogar a posteriori noch als hilfreich erweisen, nämlich dann, wenn Rückzug angesagt ist, weil unzutreffende Generalisierungen bereits getroffen wurden? Mithilfe ihrer Metapher des „Katapults", auf dessen Schleudersitz zwischenzeitlich eine von der Zielsprache abweichende Generalisierung des Kindes sitzt, erläutert Randall (1990), wie universale Prinzipien und Input kooperativ dafür sorgen können, daß eine unzulässige Form wieder eliminiert - quasi aus dem System „hinauskatapultiert" - wird. Aus der Reihe von Randalls Beispielen seien an dieser Stelle nur zwei herausgegriffen: der Fall morphologischer Übergeneralisierungen, die bei englischsprachigen Kindern zeitweise zur Bildung von abweichenden regularisierten Pluralformen wie feets oder childs führt, und der Fall übergeneralisierter englischer Dativalternationen (*Mary recited her brother the poem). Im ersten Fall, dem der Wahl einer fälschlichen Übergeneralisierung morphologischer Prozesse findet irgendwann im Lauf der Entwicklung die Ersetzung durch die zielsprachliche irreguläre Form statt. Dies kann mit Hilfe des bereits oben angesprochenen Prinzips des Kontrasts geschehen. Sobald das Kind den Verdacht hegt, daß die Zielsprache mit feets bereits eine Kodierung des Konzepts „Füße" zur Verfügung stellt, wird die abweichende Form mithilfe eines Katapults, i.e. folgender Schlußregel nach dem Schema des modus ponendo tollens, entfernt: Allgemeines Prinzip: Wenn feet, dann nicht foots Input: feet
Schluß:
not foots
Randalls Katapult übernimmt die Funktion indirekter negativer Evidenz. Der wahrgenommene Kontrast zwischen der eigenen und der zielsprachlichen Form löst eine Korrektur aus, bei der erstere durch letztere ersetzt wird (vgl. dazu auch Clark 1978, 1993). Dazu bedarf es allerdings noch der Bereitschaft des Kindes, sich im Konfliktfall konservativ an einer bereits von der Zielsprache zur Verfügung gestellten Form zu orientieren (Prinzip der Konventionalität, vgl. Clark 1993). Das Prinzip des Kontrasts darf also nicht grundsätzlich die Entdeckung der Bedeutungsgleichheit unterschiedlicher Formen vereiteln.
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Interessant an der Katapultidee ist nun, daß sie sich auch auf Fälle anwenden läßt, in denen der Input keine konkurrierende Form zur Verfügung stellt. 4 Das zielsprachliche Paradigma hat statt dessen eine Lücke. Man kann dies sehr gut anhand derjenigen dreiwertigen Verben des Englischen zeigen, welche Dativalternationen entweder ausschließen oder zulassen. Verben wie give, send, lend etc. verfügen über zwei Subkategorisierungsrahmen, [_NP PP] und [_NP NP] (I gave the book to him / I gave him the book), während die Verben der Klasse deliver, donate, report, describe etc. die zweite Variante nicht zulassen (I delivered
the book to him / */ delivered him the book). Das Prinzip des Kontrasts kann hier keine nennenswerten Dienste leisten, da das Dilemma j a gerade darin besteht, daß es in der Zielsprache keine etablierte Konkurrenzform gibt. Von daher muß für den erfolgreichen Einsatz eines Katapults ein anderes Prinzip gefunden werden. Randall (1990:1387) schlägt zu diesem Zweck ein „Order principle" vor. Bei denjenigen Verben, die eine Alternation nicht zulassen (i.e. donate, recite, report etc.) handelt es sich nämlich um Mitglieder einer Klasse, bei denen das indirekte Objekt nicht
obligatorisch ist, vgl. He donated/delivered the money, They reported the crime, He described the book - ein Verzicht, der im Falle der anderen Verbgruppe nicht möglich ist: *He gave/lend the book. Optionale Elemente aber sollten dem „Order principle" zufolge nur außerhalb der obligatorischen Komplemente angesiedelt werden können. Das entsprechende Katapult wäre (hier in meinen Worten) wie folgt zu formulieren: Prinzip:
Wenn ein Argument optional ist, dann kann es nicht zwischen Verb und obligatorischem Objekt auftreten.
Input:
John described the book (Beleg für die Optionalität der PP)
Schluß:
Eliminierung von [ _ N P NP] *describe the man the book
Das Antreffen von Belegen ohne indirekte Objekte führt dazu, daß Kinder den Subkategorisierungsrahmen des betroffenen Verbs modifizieren. Das indirekte Objekt wird als unmittelbarer Nachbar des verbalen Kopfes gelöscht und kann nur noch rechts vom direkten Objekt auftreten (i.e. He described the book to the man). Randalls Katapulte bestechen durch ihre Einfachkeit: Ohne zusätzliche Korrekturmechanismen sorgt die Kooperation von ohnehin benötigtem Prinzip und Input für ein effektives Ausschlußverfahren: Half of each catapult is a grammatical principle, supplied by universal grammar and, therefore, accessible to learners without their having to learn it. The other half is data, automatically supplied by the environment. The deductive way in which these two halves interact gets around the need for any 'external' learning mechanism or additional assumptions about how the learner or the data function. (Randall 1990:1397)
4
Zusätzlich müssen Pendelprobleme verhindert werden. Lerner könnten sonst nach erfolgreicher Korrektur von foots zu feet andere Formen wie hood und book als heet oder beek pluralisieren. Randall schlägt hierfür eine Domänenbeschränkung vor, die dafür Sorge trägt, daß Korrekturen jeweils bei den einzelnen Lexemen registriert werden.
Spracherwerb
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Selbstorganisation
Idealerweise ließen sich filr alle Übergeneralisierungen vergleichbare Katapulte formulieren (vgl. weitere Beispiele in Randall 1990). Aber natürlich sind wir in vielen Fällen von einer Identifikation der benötigten Prinzipien noch weit entfernt (vgl. auch Pinker 1989). Bowerman (1988:84) bringt unser konzeptuelles Problem auf den Punkt, indem sie schreibt: (1988:84): There seems to be no principled reason why a too-big bite can choke or gag us but not cough us [... ], why we can cheer someone up but not laugh her (for example, with tickling or a joke [...] and why we can quiet or burp a baby but neither comfortable (ox comfy) her when she is uncomfortable nor vomit her when she is nauseated [...].
Abgesehen von diesen Problemen haben wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch noch keine Vorstellungen davon, wie viele Belege benötigt würden, um die geschilderten Schlußverfahren auszulösen oder wodurch sich ein Kind in die Lage versetzt sehen sollte, auf einmal Konkurrenten eigener Formen wahrzunehmen, die schließlich bereits die ganze Zeit über im Input verfügbar waren. Randalls Katapult dient dem Ausschluß von Hypothesen. In den folgenden Abschnitten wird argumentiert, daß vergleichbare Mechanismen auch zur Bildung neuer Strukturebenen und neuer Zusammenhänge beitragen und damit das von Fodor (1980) beschriebene Problem der prinzipiellen Nichtlernbarkeit lösen könnten. Ein wesentlicher Unterschied zum Katapultscenario wird allerdings darin bestehen, daß angesichts eines Konflikts zwischen UG und Input ein einfacher Ausschluß nicht zum gewünschten zielsprachlichen Ergebnis fuhrt. Hier ergeben sich Widersprüche, die nur auf abstrakten Ebenen der Repräsentation aufgelöst werden können. Bevor ich mich diesen Konflikten und den Anforderungen an den kindlichen Hausverstand zuwende, sei kurz anhand des Deutschen erläutert, von welchen Strukturformaten dabei die Rede ist.
4. Schicht um Schicht: Meilensteine eines epigenetischen Strukturaufbaus
Wir sehen deuten sie, widerlegen Sternbildern, sind. (Riedl
in allem Gestalten und gleich, ob sie uns selbst oder ob, wie in den da gar keine Gestalten 1980:34)
Um ihren ersten Geburtstag herum produzieren normal entwickelte Kinder Einwortäußerungen, typischerweise Nomen, deiktische Partikel (da) und Verbpartikel (weg, rein, ab), letztere zunächst ohne dazugehörige Verbstämme. In der Regel stellen sich im Alter von eineinhalb bis zwei Jahren Wortkombinationen ein (ball rein, Mama auch ball werfen), wobei nichtfinite Verben anfänglich mehr oder weniger konsistent rechts ihrer Komplemente in einer Position auftreten, die sich bereits als Vorläufer der rechten Satzklammer des Deutschen analysieren läßt. Vgl. dazu A.a. und b. in (1).
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Rosemarie Tracy
(1) Übersicht:
Erwerb des Deutschen Satzklammer
A. (a) (b) B. (a) (b)
C.
V2 {+fin}
V-Partikel
Ball auf
V {-fin}
Mama Ball aufheben
V {-fin}
Da liegt ein Ball drin
Modalv./Auxiliar
COMP
Beispiele
Ich will das aufheben Wo liegt der drin? V {+fin}
daß.. .aufheben will
In der ersten Hälfte des dritten Lebensjahres (vgl. B.) treten grammatisch wohlgeformte Hauptsätze mit einem finiten Verb (zunächst Hauptverb, danach Auxiliar- und Modalverb) in der linken Satzklammer auf. Spätestens im vierten Lebensjahr wird die Syntax komplex (vgl. C.). Nun sind rekursive Strukturen belegt, die in syntaktischer Hinsicht kaum Wünsche offen lassen, wie die folgenden Äußerungen eines Kindes im Alter von 3;8 zeigen. (2)
wenn der Leo (= Hund) auf mein Bett geht, verbitte ich ihn das
(3)
Mein Opa der's aufn Lastwagen gewes und der hat hat aufh Panzer gewesen ... so sich hingeleg ... und dann kam ein Panzer und dann hat die den den ganzen Fuß abgeschossen ... ein Fuß totgefahrn\
Die Doppelung des abweichenden Hilfsverbs (i.e. hat hat anstelle von ist) in (3) sollte von der auf den ersten Blick vergleichbaren Wiederholung den den in der zweiten Zeile unterschieden werden. Ersteres ist in der Tat nur mehr desselben, während das zweimalige den dadurch zustande kommt, daß das Kind zu diesem Zeitpunkt systematisch den Akkusativ auf Dativkontexte übergeneralisiert, wie sich auch anhand von (2) belegen läßt. Das zielsprachliche Äquivalent von dann hat die den den ganzen Fuß abgeschossen wäre demnach (4): (4)
... dann hat der (i.e. der Panzer) dem (dem Opa) den ganzen Fuß abgeschossen.
Das Überblicksschema in (1) zeigt den Erwerb neuer struktureller Positionen als einen Stukturaufbau von rechts nach links. Wenn man diesen Verlauf auf einer weiteren Stufe der Abstraktion durch die Brille der X-bar-Theorie betrachtet, vgl. (5), erkennt man einen „fraktalen" Strukturaufbau: Jede maximale Phrase erweist sich als Ausbuchstabierung des gleichen (vielmehr: selbstähnlichen) strukturellen Prototyps, bestehend aus Kopf und Komplement (sowie einem hier ausgelassenen Spezifikator).
Spracherwerb durch Epigenese und
(5)
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(a) (b) (c) (d)
[zp
Z
°
tvp
V°]
[χρ
x
°
[vp
V°]]
[γρ
Y
°
txp
X
°
[yp
V0]]]
[γρ
Y
°
[χρ
X
°
[γρ
V°] ] ] ]
Jede Strukturschicht legitimiert sich mit Hilfe eines Kopfes, der sie projiziert. Von anderen Schichten unterscheidet sie sich (potentiell) durch die Positionierung des Kopfes (rechts oder links) bezüglich seiner Komplemente (und ggf. eines Spezifikators).5 Für die folgende Argumentation ist es wichtig, das Format an sich mit seiner binären, eine elementare Hierarchie begründenden Differenzierung von Kopf und Nichtkopf von der Frage einer schrittweisen Genese zu unterscheiden. Wie können Kinder relevante Kopfkandidaten im Input identifizieren? Könnten die einzelnen Strukturschichten datengetrieben entdeckt werden, wie es die Theorie des lexikalischen Lernens nahelegt (vgl. Pinker 1984, Clahsen 1988)? Zugleich zeigt die Verwendung von Platzhalterelementen, daß Kinder in der Lage sind, Positionen, deren Existenz bereits erkannt wurde, auch dann zu besetzen (z.B. durch mehr oder weniger idiosynkratische phonologische Füllelemente), wenn ihnen die zielsprachlichen Lexeme fehlen. Hier schlägt das deduktive Potential des skizzierten elementaren Bauplans durch. Wenn sich in der Tat immer wieder derselbe Bauplan durchsetzt, dann ist das Neue gewissermaßen doch schon im Alten enthalten, allerdings nicht als präformierte Elemente sondern aufgrund des Prinzips der Selbstähnlichkeit, das wir auch aus der Chaostheorie kennen (vgl. dazu zum Spracherwerb Hohenberger 1996). Im folgenden werde ich anhand einiger Beispiele skizzieren, wie sich dieser Aufbau in der Interaktion von UG-Prinzipien, Input und kindlichem Hausverstand vollziehen könnte.
5. Krisenmanagement
5.1. Von der Partikel zum komplexen Verb
Beim Erwerb des Deutschen hält die deutsche Verbpartikel als Vorläufer aller Verben früh Einzug in das kindliche Verblexikon (Mills 1985, Tracy 1991a, Penner, Wyman & Dietz 1998, Penner, Tracy & Wyman 1999). Ihr priviligierter Status läßt sich als Ergebnis einer geglückten Koalition verschiedener Strukturebenen betrachten und kann daher eigentlich nicht überraschen: Semantisch markiert die Verbpartikel den Endzustand eines Ereignisses; syntaktisch ist sie platzfest (i.e. auf die rechte Satzklammer beschränkt), morphologisch
5
Auf eine Rechtfertigung dieses Schemas gegenüber rivalisierenden Beschreibungsalternativen muß an dieser Stelle verzichtet werden. Eine entsprechende Diskussion findet sich in Fritzenschaft et al. 1990, Gawlitzek-Maiwald et al. 1992, Tracy 1994a, 1995.
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invariant und auf phonologischer Ebene betont (im Gegensatz zu Verben mit nichttrennbaren Partikeln wie Er umSCHIFFte die Gefahr / weil er die Gefahr
umSCHIFFte).
Das Erscheinen von Partikeln in verschiedenen thematischen Zusammenhängen (Mama Türe auf, Mann Brille ab) spricht dafür, sie im Lexikon mit einer eigenen Argumentstruktur zu versehen. Was aber passiert in dem Moment, in dem das Kind bemerkt, daß Hauptverben und Partikel im Input gemeinsam auftauchen? In Tracy (1991a) habe ich behauptet, daß sich hier ein Konflikt abzeichnet, den das Kind gewinnbringend für den Strukturaufbau nutzen kann. Verantwortlich für diese Entwicklung ist ein Restrukturierungsmechanismus, der sich folgender α priori verfügbarer Komponenten bedient: (a)
eines bereits im Lexikon etablierten Wissens um die thematischen Anforderungen von Partikeln und Verben. Dieses Wissen kann man als „relatives" Apriori bezeichnen. Damit verbindet sich zugleich die Erwartung, daß dieses Wissen auf syntaktischen und satzsemantischen Ebenen erhalten bleibt: eine absolute, erfahrungsunabhängige Konstanzerwartung des kindlichen Hausverstands, die dem „Projektionsprinzip" (Chomsky 1981:36) der linguistischen Theorie entspricht.
(b)
eines universalen Prinzips, des „Thetakriteriums", demzufolge jedes Argument nur eine thematische Rolle tragen und jede Rolle nur einer Argumentposition zugewiesen werden kann (Chomsky 1981).
Bemerkt ein Kind, daß im Input Verben und Partikel, die es selbst zunächst separat verwendet, gemeinsam auftreten, so steht es vor dem Problem zu klären, wie sich die vorhandenen Argumente auf beide potentielle Zuweiser von Thetarollen verteilen. Das Scenario in (6) illustriert einen dabei entstehenden Konflikt.6 (6)
Mama
η
Türe
η
η
η
auf
ι
machen
ι
Der Widerspruch zwischen (a) /(b) und dem Input läßt sich folgendermaßen lösen: Universale Prinzipien: Input:
Schlußfolgerung des kindlichen Hausverstands:
6
Projektionsprinzip (=(a)), Theta-Kriterium (=(b)) Zwei verbale Elemente, von denen jedem eigentlich zwei thematische Rollen/Argumente zustehen, treten mit nur einem Rollen-/Argumentset auf. Reanalyse von Partikel und Vollverb als Bestandteil eines einzigen Verbs.
Vgl. Tracy (1991a) für eine Diskussion weiterer Lernerhypothesen. Dieses Beispiel ist stark vereinfacht und berücksichtigt daher weder die vollständige Ereignisstruktur von „aufmachen" noch den besonderen Status von „machen" als sogenanntes „leichtes" Verb (zu beidem vgl. Penner, Wymann und Dietz 1998).
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Das Ergebnis entspricht der Darstellung in (7): (7)
Mama ft ft
Türe
auf machen V
Auf diese Art und Weise wird eine neue konzeptuelle Einheit geschaffen, deren Status langfristig auch durch das sonstige syntaktische Verhalten eines komplexen Verbs gestützt wird, z.B. im Falle einer Topikalisierung (Aufmachen wollte die Mutter die Türe schon seit langem.), bei der sich das Verb als Ganzes bewegt.
5.2. Varietas delectat: Die Konstruktion neuer Ebenen der Repräsentation Die vereinfachte Darstellung des Erwerbsverlaufs in (1) verzichtete auf die Diskussion von Übergangsphänomenen, u.a. auch auf die Erwähnung von Ausdrücken, die im Zeitraum A. neben mehr oder weniger vollständigen Prädikat-Argument-Strukturen als ganzheitlich gespeicherte idiomatische Formeln existieren (vgl. (8), s. auch Tracy 1991a, 1995). (8)
[da:z3] [takceta ] [zitsta]
Modell: da is(t)-er/sie Modell: da gehört (d)er (hin) Modell: sitzt da/der/er
Daß es sich dabei anfänglich nicht um zielsprachlich analysierbare Syntagmen handelt, zeigen u.a. Fälle wie in (9), die durch fehlende Subjekt-Verb-Kongruenz auffallen. (9)
[da:zö] Leute [izö] da Hühner drin?
Vielen dieser Ausdrücke ist gemeinsam, daß sie bereits die linke Satzklammer und die für das Deutsche typischen Verbzweiteffekte „simulieren". Hier steht der kindliche Hausverstand vor einem Aufschlüsselungsproblem, bei dessen Lösung das bereits erwähnte Prinzip des Kontraste eine zentrale Rolle übernehmen kann. Kinder, die [takoetö] produzieren, treffen im Input auf ein ganzes Spektrum ähnlicher Ausdrücke, u.a. alle möglichen Realisierungen von da gehören die hin, da gehört der/die/das/er/sie/es hin etc. Das Kontrastprinzip hilft dabei, überhaupt erst einmal Segmentierungsgrenzen zu identifizieren und bildet die Voraussetzung für jegliches distributionelle Lernen (vgl. Pinker 1984, Clahsen 1988). Dank des Prinzip des Kontrasts unterstellt der kindliche Hausverstand außerdem, daß es sich bei den sich abzeichnenden paradigmatischen Klassen nicht um frei variierende Elemente handelt, sondern daß die Variation motiviert ist, da sie einem Kontrast auf einer anderen Ebene der Repräsentation entsprechen sollte. Die in den Argumentstrukturen der Vollverben und der Partikel verfügbare thematische Information, die bereits im Zusammenhang mit der (Re-) Konstruktion komplexer Verben eine wichtige Rolle spielte (vgl. 4. 1) könnte dem Kind dabei helfen, die Natur dieser Bedeutungskontraste zu erschließen, denn zumindest bei einigen der anfänglich in idiomatischen Ausdrücken verborgenen Einheiten handelt es sich um Repräsentanten thematischer Rollen (z.B. Pronomen).
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Da diese formelhaften Wendungen zunächst zeitgleich mit den ansonsten bereits produktivem Verbendstrukturen auftreten, gehen Kaltenbacher (1990) und (Tracy 1991a, 1995) von einer Koexistenz verschiedener Erwerbsstränge oder getrennter linguistischer Systeme aus, die erst im Laufe der weiteren Sprachentwicklung konvergieren. Möglicherweise verhalten sich hier monolinguale Kinder so, wie man sich ein „ideales" bilinguales Kind vorstellt, das mit zwei simultanen Erstsprachen aufwächst und folglich mit dem Problem konfrontiert ist, getrennte Repräsentationssystem zu entwickeln (vgl. Tracy 1995, 1996,1999). Leider wissen wir noch zu wenig darüber, wann schließlich ein kritischer Zeitpunkt für die entsprechenden Reanalysen und die notwendigen abstrakten Restrukturierungen erreicht ist und wann ein System „kippt" (vgl. in diesem Zusammenhang die Überlegungen von Hohenberger 1996). Interessant ist jedenfalls, daß Formen älteren und neueren Typs zeitweilig koexistieren können, bevor die ganzheitliche, frühere Variante aufgegeben wird, vgl. die Selbstkorrektur in (10). Beispielpaare dieser Art liefern uns Aufschlüsse über metalinguistische Intuitionen des Kindes und die Rivalität zwischen unterschiedlichen Optionen. Die Großschreibung in dem Beispiel weist auf die betonten Silben hin. (10)
[da:zö] BAUernhof... da IS das bauernhof\
Der Prozeß der Strukturbildung, der sich im Zuge dieser Reanalysen vollzieht, entspricht im wesentlichen einigen Stufen einer „representational redescription", wie sie Karmiloff- Smith (1992:15) im Sinne hat, wenn sie schreibt: [...] that a specifially human way to gain knowledge is for the mind to exploit internally the information it has already stored (both innate and acquired), by redescribing its representations or, more precisely, by iteratively re-representing in different representational formats what its internal representations represent. Die bisherigen Ausführungen unterstreichen, was das Prinzip des Kontraste zu ersten Schritten der Strukturbildung und der Abstraktion beisteuern kann. Es nährt den Verdacht auf die Existenz abstrakter syntaktischer und morphologischer Zusammenhänge. Aber allein ein Aufbrechen der V2-Formeln führt nicht unbedingt gleichzeitig zur (Re-)Konstruktion eines Zusammenhangs zwischen Verbend- und V2-Strukturen. Warum sollte ein deutschsprachiges Kind nicht trotz einer Reanalyse anfänglicher V2-Formeln weiterhin zwei getrennte Systeme beibehalten? Oder noch etwas pointierter formuliert: Warum sollte sich ein Kind, das mit nur einer Zielsprache, aber verschiedenen Verbpositionen konfrontiert wird, dazu entscheiden, die anfängliche Mehrsprachigkeit aufzugeben?
5.3. Abstraktes Gleichmachen durch Transformation Wie bereits erwähnt, sollte das beschriebene Aufbrechen formelhafter Äußerungen davon profitieren, daß es zeitgleich Verbpartikel und Vollverben gibt, die als lexikalische Köpfe im zuvor geschilderten Sinne Argumentstrukturen und damit auch thematisch vollständige Propositionen projizieren. Wer Mama Kissen sitzen analysiert, sollte aufgrund des Projektionsprinzips von der Argumentstruktur des Verbs dazu gedrängt werden, auch bei der Begegnung mit [zits-] in anderen Kontexten nach den verlangten thematischen Rollen zu suchen (vgl. die Details in Tracy 1991a). Dies setzt voraus, daß Lerner mit der Zeit erkennen,
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daß ein Lexem in unterschiedlichen Strukturformaten auftreten kann. Nur so können lexikalische Repräsentationen ihre Argument- und Theta-Erwartung an immer neue Kontexte herantragen. Aber falls mehrere Strukturformate eine Beziehung mit einer einzigen semantischen Repräsentation eingehen können, ist wieder ein Konflikt mit dem Kontrastprinzip vorprogrammiert,7 für den der kindliche Hausverstand eine Lösung finden muß. Wie könnte das geschehen? Kinder, die mit Deutsch als Muttersprache aufwachsen, hören nichtfinite Verben im Normalfall (i.e. von Sätzen mit topikalisierten Vollverben und ausgeklammerten Konstituenten abgesehen) rechts von ihren Komplementen, finite Verben hingegen tauchen rechts und links auf. Es ergibt sich also ein Konflikt der folgenden Art zwischen Kopf-Parameter und Inputwahmehmung: UG-Prinzip:
Ein Kopf regiert entweder nach rechts oder nach links, aber nicht in beide Richtungen zugleich.
Input:
V ... Ο und Ο ... V
Was verhindert hier ein permanentes Pendeln oder beispielsweise die Schlußfolgerung, daß eine der beiden Inputvarianten aufgrund von Versprechern zustandekam und ignoriert werden kann? In diesem Konflikt muß der kindliche Hausverstand die Rolle eines klugen Schiedsrichters übernehmen. Konfrontiert mit einem potentiellen Widerspruch zieht der kindliche Hausverstand den Schluß, daß der Schein trügt und die Wahrheit weiterhin konform geht mit der UGgestützten Erwartung, daß es pro Kopf nur eine authentische und konsistente Position geben darf. Daraus folgt, daß alle anderen Formate als „abgeleitet" behandelt werden, d.h. der Hausverstand sucht automatisch nach einer Möglichkeit, Verbend- und V2-Struktur in ein gemeinsames System zu bringen. Dies gelingt mithilfe der Konstruktion eines Transformationssystems. Zugleich ist das Kind Realist genug, um den Input ernst zu nehmen. Aus der Koexistenz von Verbend- und V2-Strukturen folgert es, daß es letztlich doch mehrere legitime Kopfpositionen mit jeweils unterschiedlicher Direktionalität geben darf, in denen Verben auftreten können, daß es sich aber (verboten durch den KopfParameter) nicht um Kopfpositionen derselben Stukturdomäne handelt. Daraus folgt eine Aufstockung des Strukturformats um eine weitere fraktale Schicht, vgl. (5) Während an dieser Stelle auf eine eingehendere Diskussion dieses Strukturbildungsprozesses verzichtet werden muß (vgl. Tracy 1995), bleibt festzuhalten, daß das Auffinden eines Lexems in unterschiedlichen Formaten einen Lerner im Prinzip immer wieder dazu bringen kann, eine neue Position (damit eine neue Schicht) zu (re-)konstruieren und nach einem Motiv für positionelle Beweglichkeit zu suchen. Wie wir an anderer Stelle argumentiert haben (vgl. Fritzenschaft et al. 1990, Gawlitzek-Maiwald et al. 1992, Tracy 1994a, 1995), bleibt trotz der prinzipiengesteuerten und im großen und ganzen verläßlichen Funktionsweise des kindlichen Hausverstandes bei diesem Entscheidungsprozeß genügend Spielraum für Irrtümer, Umwege und zeitweilige Stagnation. 7
Vgl. auch wieder Randall (1990:1384): „in the unmarked ease, each deep structure is realized as one and only one surface structure."
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6. Entscheidungsspielräume
Wie Randalls Katapult verliefen die von mir in Abschnitt 4 diskutierten Schlußprozesse UG- unterstützt. Dabei wurde an Prinzipien appelliert, die samt und sonders aus unabhängigen theorieinternen Gründen benötigt werden. In den geschilderten Entwicklungskrisen konnte sich das universalgrammatische Prinzip durchsetzen. Dies war allerdings im Falle der Partikelverben und des zuletzt diskutierten Falls multipler Verbpositionen nur mit Hilfe eines „Tricks" möglich. Die Konfrontation von Prinzip und Variabilität des Input führt weder zur Aufgabe des Prinzips noch zum Ignorieren einer Struktur, sondern zur Schaffung von neuen Repräsentationsebenen, auf denen Widersprüche aufgehoben werden können. Im Falle des Prinzip des Kontrasts handelt es sich um eine „vernünftige" Ausgangshypothese, die jedoch nicht um jeden Preis verhindern darf, daß verschiedene Formen mit einer und derselben Bedeutung in Verbindung gebracht werden. Die Substitution von foots durch feet wäre unmöglich, wenn der kindliche Hausverstand die semantische Gleichwertigkeit verschiedener Formen prinzipiell nicht erkennen könnte. Er soll sie nur nicht als Normalfall der Ebenenkorrelation favorisieren. Der kindliche Hausverstand muß beispielsweise auch dort richtige Schlüsse ziehen, wo mehrsprachiger Input vorliegt. Wie bereits Clark (1978) ausführt, sollte ein Kind mit Hilfe des Prinzips des Kontrasts aufgrund konsistent angebotener bilingualer Äquivalente im Input folgern, daß es zwei Lexika aufzubauen gilt.8 Den Entscheidungsprozeß könnte man sich in etwa wie folgt vorstellen: UG:
Wenn Form A, dann nicht Form Β
Input:
Form A (feet) und Form Β (Füße) :. Es handelt sich um zwei Sprachen
Auch im syntaktischen Bereich darf das Prinzip des Kontrasts nicht auf Dauer verhindern, daß verschiedene Strukturformate auf abstrakter Ebene mit gleichem propositionalem Gehalt verbunden werden. Die dadurch entstehenden Schwierigkeiten der Abbildung über Ebenen hinweg werden durch die Konstruktion von Ableitungssystemen aufgehoben. Im allgemeinen erzielt der kindliche Hausverstand dabei sicher eine hohe Trefferquote. Aber könnte nicht ein Lerner im Falle der variablen Verbstellung im Deutschen, die in 4.3 skizziert wurde, den Konflikt zwischen UG-Prinzip und Input lösen, indem er bei der Hypothese bleibt, daß er es mit zwei verschiedenen Sprachen zu tun hat? Diese Frage ist weniger abwegig, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Wir wissen, daß es entwicklungsverzögerte Kinder gibt, deren produktive Satzformate hauptsächlich aus Verbendstrukturen bestehen (vgl. Grimm & Weinert 1994). Bei diesen Kindern scheint es demnach nicht ohne weiteres zu den geschilderten produktiven Konflikten zu kommen. Ohne diese Konvergenz bleibt es bei der Koexistenz voneinander unabhängiger Systemfragmente, die
8
Zur Hypothese, daß bilinguale Kinder anfangs über ein Lexikon ohne Äquivalente verfügen vgl. Taeschner & Volterra 1978, Pearson et al. 1995.
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beim ungestörten Erwerb, wie ich in 4.2 argumentiert habe, nur ein mehr oder weniger ausgeprägtes Übergangsstadium darstellen. Aus therapeutischer Sicht wäre demnach zu fragen, wie man die eine Konvergenz begünstigenden Konflikte und Rekonstruktionsleistungen provozieren kann (vgl. Penner & Kölliker Funk 1992, Tracy 1994b). Schließlich gilt es zu bedenken, daß in der Tat im Prinzip alles mögliche lernbar sein sollte, sofern es dem Kind in Form positiver Belege zur Verfügung steht. Was immer dem Diktat der aktuellen Grammatik widerspricht, läßt sich (wenn es der Hausverstand nicht als Versprecher abqualifiziert!) gegebenenfalls als „spezielle Projektion" speichern (vgl. Tracy 1995, Roeper 1994). Für eine Reihe solcher Konstruktionen mag sich nie etwas an ihrem besonderen, isolierten Status ändern, während andere (wie die in 4.2 angeführten frühkindlichen V2-Formeln) zunehmend in Richtung kanonischer Strukturformate hin reanalysiert und angepaßt werden. Manchmal bedarf es dazu mehr als einer Generation von Lernern. Dabei sind interessante Kompromißlösungen denkbar. Bayer (im Druck) untersuchte Hybridsprachen, die als Folge von Sprachkontakt sowohl über initiale als auch finale Komplementierer verfügen. Allerdings bleibt das Auftreten jedes einzelnen Komplementierers auf eine der beiden Positionen beschränkt. Was auf den ersten Blick dem Prinzip des KopfParameters zu widersprechen scheint, läßt sich angesichts des distributionellen Privilegien einzelner Formen als „spezielle Projektion" im oben genannten Sinne interpretieren. Auch Hybridsprachen stürzen ihre Lerner nicht in unüberwindbare Pendelprobleme, da sich jeder einzelne Kopf konsistent und UG-konform verhält.
7. Abschließende Überlegungen
Mit der Behauptung „Languages are shaped by their learners" erinnern Fodor & Crain (1987:35) daran, daß die Eigenschaften natürlicher Sprachen eng mit den Fähigkeiten derjenigen verknüpft sind, die sie immer wieder für sich entschlüsseln müssen. Im Mittelpunkt meiner Überlegungen stand die Fähigkeit des Kindes, Entscheidungen zu treffen, die ihm niemand, nicht einmal eine bestens ausgestattete Universalgrammatik, abnehmen kann. Ich habe versucht zu zeigen, daß ein Kind auch potentiell verwirrendem Input nicht hilflos ausgesetzt ist und daß es im Schulterschluß mit einem universalen Prinzip eine „vernünftige" (wenn auch nicht immer logisch zwingende) Entscheidung treffen kann. In einigen der von mir entworfenen hypothetischen Krisen führte die diplomatischste Lösung zur Konstruktion neuer repräsentationeller Zusammenhänge und sogar (im Falle der Verbstellung) zu neuen Schichten der Phrasenstruktur, die in früheren Entwicklungsphasen noch nicht vorhanden waren. Die Verantwortung für die Wahrnehmung des Konflikts zwischen einem UG-Prinzip und potentiell verwirrendem Input wurde dem „gesunden" Hausverstand des Kindes überantwortet, dessen größter Vorteil vielleicht (wie ich in Tracy 1991a argumentiert habe) darin liegt, daß er nicht wissen kann, wie komplex seine Aufgabe ist, und der vielleicht schon aus diesem Grund nicht vor riskanten Hypothesen (z.B. unzulässigen Generalisierungen) zurückschreckt. Prozesse der Selbstregelung setzen dem Irrtum natürliche Grenzen.
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Im Rahmen dieser Überlegungen spielte die Metaphorik vom kindlichen Hausverstand, von seinen Schlußfolgerungen, Umwegen oder „Tricks" eine heuristisch nützliche Funktion. Künftigen Theorien bleibt es überlassen, diese gegenwärtig noch sehr rudimentären Vorstellungen über die Möglichkeiten sprachlicher Selbstorganisation zu präzisieren.
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Clemens Knobloch Wie man „den Konjunktiv" erwirbt
„ One has not accounted for a remark by paraphrasing 'what it means',, (B.F. Skinner) „... und wie die Eigenschaften des Dings bei einer Übertragung dem Namen folgen wie der Besitz dem Besitzer " (L.S. Wygotski)
Untersucht wird das kollektive Symbol- und Fiktionsspiel im Vorschulalter als ein lern- und generalisierungsrelevanter pragmatischer Kontext für die funktionale Dimension der Modalisierung. Ausgehend von der Beobachtung, daß die /hätte, wäre, würde/ -Formen im vorschulischen Fiktionsspiel eine (so nicht wiederkehrende) „Hochkonjunktur" haben, wird argumentiert, daß die fragliche Konstellation als Lernmatrix einen idealen „Einstieg" in die grammatikalisierende Recodierung und Re-Repräsentation modaler Äußerungswerte abgibt.
1. Zum Auftakt
Am Anfang steht eine altehrwürdige Beobachtung, fast ein psychologischer Gemeinplatz. Sie handelt von der außerordentlichen Bedeutung des Symbol- und Fiktionsspiels für die wachsende Sprach- und Kommunikationsfähigkeit des Kindes im Vorschulalter (vgl. Piaget 1975, Wygotski 1980, Bateson 1981, Auwärter 1983, Pellegrini 1985, Andresen 1995). Das besondere Gewicht und die außerordentliche Produktivität dieser Aktivitätsform sind immer wieder herausgestellt worden. Für Piaget (1975) indiziert das Symbol- und Fiktionsspiel einen entscheidenden Fortschritt in der Fähigkeit, Objekte in einer Situation wachzurufen, nachzuahmen und zu repräsentieren, obwohl im perzeptiven Orientierungsraum „eigentlich" nur andere Objekte verfügbar sind. „Im Spiel [worunter das Fiktionsspiel des Vorschulalters zu verstehen ist; CK] lernt das Kind, in der erkannten und nicht in der sichtbaren Situation zu handeln", schreibt Wygotski (1980:450).' Das Spiel etabliert eine scharfe Disjunktion zwischen Gesichtsfeld und Bedeutungsfeld. Das Kind „sieht" die reale Situation mit ihren Akteuren und Requisiten, handelt aber mit Bezug auf ein repräsentiertes inneres Schema. Und wenn das Spiel nicht solitär und „egozentrisch", sondern in Gesellschaft gespielt werden soll, dann erfordert es explizite 1
Hier ist „erkannt" gewiß ein Übersetzungsfehler; gemeint ist die durch Definition gesetzte, definierte, durch ein mentales skript gesteuerte Situation. Wenige Zeilen später folgt in einem ganz ähnlichen Zusammenhang die bei weitem passendere Formulierung von der „gedachten Situation".
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sprachliche Anweisungen, die den „realen" Rollen und Requisiten fallweise Spielwerte zuteilen, an denen sich dann auch die anderen orientieren können:2 /Das wäre jetzt wohl unser Haus, und du wärst die Mutter/ Gegenstand und Bedeutung werden auseinandergerissen, die Requisiten der Situation transformiert in provisorische und rasch wechselnde Außenstützen für die Disjunktion und Verselbständigung der Bedeutungen oder Repräsentationen. Bateson (1981:24Iff) sieht Spiele als Aktivitäten, die ein hoch paradoxes Bezugssystem (frame) etablieren. Die Kommunikationen des Spiels sind „unwahr", nicht eigentlich „gemeint", und das mit den Signalen Bezeichnete existiert nicht in der Situation. Für gewöhnlich orientieren wir uns in einem Territorium vermittels unserer repräsentierten „Karte". Das Spiel hilft uns dabei, das Verhältnis von „Karte" und „Territorium" zu entdecken und zu entautomatisieren. Denn im Spiel wird von der „Karte" her gehandelt, und das Territorium illustiert nur, was unsere „Karte" enthält. Die Orientierungssuggestionen des „Territoriums" müssen zum bloßen Grund heruntergespielt und die Orientierungssuggestionen der „Karte" zur eigentlich prägnanten Figur erhoben werden. Diese drei accounts gelten uns als Formulierungsvarianten der nämlichen Einsicht, daß nämlich das Handeln von selbstgesetzten und schemagesteuerten Orientierungsdaten her einen Wendepunkt in der Repräsentationsfähigkeit des Kindes markiert. Solch ein gewichtiger Umschwung in der repräsentationalen Aktivität ergreift naturgemäß auch die Sprache. Und es ist in der Tat vielfach argumentiert worden, Symbol- und Fiktionsspiel seien entscheidende Etappen in der Evolution dekontextualisierter und quasi-textueller Formen des Sprechens. Pellegrini (1985) vergleicht die im Spiel ausagierten Alltagsskripts mit den ebenfalls dekontextualisierten Bausteinen der kindlichen Narration, die ja immer das Beherrschen alltagsweltlicher Schemata in ihrer Normalform als Hintergrund voraussetzen.
2. Die pragmatische Konstellation des Symbol- und Fiktionsspiels
In scheinbarem Gegensatz zu den eben skizzierten Befunden stehen Auwärters (1983) Untersuchungen zu den hochkomplexen sprachlichen Kontextualisierungsprozeduren, die das gemeinsame Fiktionsspiel hervorbringt und stabilisiert. In solchen Spielen, so Auwärter (1983), sprechen die Kinder in drei verschiedenen Bezugssystemen, und sie stehen ständig vor der Ordnungsaufgabe, einander zu signalisieren, in welchem Bezugssystem eine Äußerung bündig werden soll. Die drei Bezugssysteme sind: (a) die Ebene der Alltagsrealität, in der Personen und Requisiten sind, was sie sind; „Kleinkinder sind nicht imstande, zwischen Bedeutungs- und Gesichtsfeld zu differenzieren", schreibt Wygotski (1980:452). Für sie verschränkt sich die Rede mit dem gegebenen Orientierungsraum zu einem Gefiige, dessen „äußere" und „innere" Elemente voneinander nicht getrennt werden können. Wygotski nennt das Experiment mit dem Zweijährigen, der (auf die sitzende Tanja blickend) sagen soll: „Tanja geht", den Satz aber immer abwandelt und statt dessen sagt: „Tanja sitzt".
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(b) die Ebene der Instruktion, in der den Personen und Requisiten Spielwerte zugeteilt werden; (c) die Fiktionsebene des Spiels selbst. Die Äußerung: /Aua, du hast mich in echt wehgetan!/ signalisiert mit der spieltypischen Wendung /in echt/, daß der Schmerz nicht als Bestandteil der Spielhandlung gelten soll. Er wird der Ebene (a) zugewiesen. Typische Formate für Instruktionshandlungen der Ebene (b), auf der fallweise und tentativ Spielwerte erteilt werden, haben das Format: /Also das wäre jetzt wohl.../ oder /du wärst jetzt die Mutter/. Auf der Ebene der vollständig inszenierten Fiktion (c) befinden wir uns, wenn sich die Kinder in ihren fiktiven Identitäten anreden und auf alle Requisiten nur in ihrer symbolisch transformierten Bedeutung Bezug nehmen. An diesen Äußerungen haftet der Spielcharakter in der Hauptsache, sie übertreiben und karikieren oft die Rollen des inszenierten Skripts, sie werden in verstellter Stimme getan etc.: /Mutter, unser Kind ist krank, wir müssen den Arzt holen!/ In der Realität dieser Spiele - das belegen Auwärters (1983) Dokumente ebenso schlüssig wie jeder genaue Blick in ein Kinderzimmer - wechseln die Bezugssysteme der Äußerungen ständig, manchmal mitten im Satz, ohne daß das zu ernsthaften Ordnungsproblemen führt. Auch „in" der Fiktion persistiert sowohl die Notwendigkeit, durch ad-hoc-Instruktionen den Fortgang der Handlung zu spezifizieren: /Jetzt wär der Arzt gekommen/ usw. als auch die Notwendigkeit, in der Alltagsrealität zu handeln: /Ich spiel nicht mehr mit/ usw. Und wer eine solche Szene verschriftet, der wird rasch lernen zu bewundern, mit welcher Souveränität die Kinder auf engstem Raum (bildlich gesprochen) von turn zu turn (und auch innerhalb ein und desselben turn) das Bezugssystem umschalten. Auch sprachliche Verschränkungen von Fiktion und Alltagsrealität kommen vor, so in Auwärters (1983:84) Material der Fall des Mädchens, das „in echt" nicht mehr mitspielen wollte, weil es im Spiel der Fuchs gebissen hatte, was bei den Mitspielern gleich mehrfach die Nachfrage: /In echt?/ auslöst.3 Auwärters Interesse liegt auf den Kontextualisierungspraxen der Kinder und auf den Signalen, die sie für einander produzieren, um die fallweise Zuordnung von Äußerungen zu einer der drei Ebenen zu steuern. Unser spezielles Interesse liegt in der Instruktionsebene (b), denn in dieser Ebene produzieren die Kinder in signifikanter Häufung (und oft erstmals) Formen, welche aus der Sicht der Erwachsenengrammatik als „Konjunktiv II", als dessen
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Solchc Verschränkungen sind gar nicht selten. Manchmal erfordert die Regie geradezu Äußerungen, die in mehreren Ebenen spielen. So hat das Rigol-Korpus das Beispiel: /Heij du darfst nicht einkaufen du wärst doch mein Kind/. Wir kommen darauf zurück.
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periphrastische Abart, als /hätte-würde-wäre/-Formen, als Konditional oder auch als Grenzund Übergangsfälle zwischen Modalverben und Konjunktiv beschrieben werden.4 Darauf kommen wir gleich zurück. Einstweilen sei noch festgehalten, was Auwärter (1983:84f) über die sprachlichen Merkmale der Äußerungen notiert, die es den Kindern erlauben, sie sicher und weitgehend störungsfrei auf eine der Ebenen (a) bis (c) zu projizieren. Die sind nämlich alles andere als sortenrein. Es handelt sich vielmehr durchweg um Merkmale, die dem Grammatiker als schmuddelig und unsauber vorkommen müssen. Das Signalement hängt nämlich grundsätzlich an Clustern, an Bündeln von Merkmalen, an denen jeweils bis zu vier Gebiete beteiligt sind: -
Stilmerkmale (Register, Formeln, Routinen, Anredeformen etc.) morphosyntaktische Merkmale (spezielle Modus- und Tempusformen) prosodische Merkmale (Stimmlage, Artikulation etc.) Transformation referentieller Bezugssyteme (ostensive Bezeichnung bzw. Behandlung von Objekten, Requisiten, Personen im Feld).
Dieser hochgradig synkretische Charakter der Ebenenmarkierung ist wichtig für unsere Argumentation. Er schließt die gleichermaßen simplistische und suggestive These von vornherein aus, es seien die /würde-hätte-wäre/-Formen semiotisch sauber und eins zu eins an die transformatorischen Äußerungen der Ebene (b) geknüpft. Das Gegenteil ist, wie gleich zu zeigen sein wird, der Fall. Weder haben diese Formen ein Monopol auf die Ebenenkennung in der Instruktionsebene noch kann man behaupten, daß sie nur dort vorkämen. Über- und Mehrfachcodierungen sind vielmehr gerade an den Übergangsstellen zwischen den Ebenen die Regel (vgl. Andresen 1995:37 und die dort zitierte Literatur). Zu erinnern ist weiterhin, daß zwar auch das „einsame" Symbol- und Fiktionsspiel oft sprachlich begleitet ist, aber nur das sozialisierte die (zunächst explizite) Kokonstruktion der drei Ebenen (und damit die explizite Instruktion der Mitspieler) verlangt. Aufschlußreich ist weiterhin das Entwicklungsschicksal der drei Bezugssysteme im kindlichen Spiel. Auwärter (1983) notiert (in Übereinstimmung mit anderen verfügbaren Daten) folgende Punkte: - mit zunehmendem Alter der spielenden Kinder treten die Ebenen (a) und (b) zurück; - die Sozialisierung des Spiels nimmt zu (Tendenz: vom Skript zur Regel); die jüngsten Kinder (2 bis 3 Jahre) melden in erster Linie Rollenwünsche an (/Ich bin die Mutter/); - im Alter von 4 bis 6 Jahren dagegen bilden die Instruktionshandlungen der Ebene (b) quantitativ den Schwerpunkt des Geschehens (bis zu 44%); - je älter die Kinder, desto eher generieren sie die Spielfiktion aus den Präsuppositionen des Sprechens und Handelns, also implizit (sie sagen dann nicht mehr: /Du wärst jetzt auch ein Schüler/, sie behandeln den Mitspieler einfach so); - die Requisiten werden abstrakter, ihre Stützfunktion verliert an Bedeutung.
4
Vom „Konditional" sprechen Buscha & Zoch (1984) allein mit Bezug auf die /würde/ + InfinitivBildungen, fassen diese dann aber mit ihrem flexivischen Pendant wieder zum Konj. II zusammen.
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Im Ergebnis zeigt die Instruktionsebene (b), diachron und quantitativ betrachtet, einen umgedreht U-förmigen Verlauf: Die kleinsten Teilnehmer reklamieren in erster Linie Rollen für sich, die größeren handeln einfach im Bezugssystem der Fiktion, das aber kaum noch durch explizite Instruktionen aufgebaut werden muß. Für die Vorschulkinder zwischen diesen beiden Polen markiert die Ebene (b) einen deutlichen Schwerpunkt des Geschehens. Während das soziologische Interesse am Symbol- und Fiktionsspiel dieses als eine höchst komplexe, nur kollektiv zu bewältigende Ordnungsaufgabe versteht, betrachten wir die Ordnung dieses Spieltyps als eine spezifische Lernmatrix, in der zum ersten Male systematisch Codierungsbedürfnisse auftauchen, die später in ein grammatisches Optionensystem hinein recodiert werden: in das der sog. „epistemischen Modalisierung".
3. Die kognitive Konstellation des Symbol- und Fiktionsspiels
Da „kognitiv" ohne weitere Präzisierung so gut wie alles sein kann, wollen wir hier darunter (Scheerer 1993 folgend) ausschließlich die Ebenen, Formate und Techniken der mentalen Repräsentation verstehen, von denen wir lediglich indirekte Evidenz im Verhalten der Individuen haben und über die daher nur mit mehr oder weniger guten Gründen spekuliert werden kann. Eine Reihe von Prämissen übernehmen wir, ohne sie weiter zu begründen: 1. Die weitgehend regelkonforme Beherrschung einer sprachlichen Domäne setzt die innere Repräsentation dieser Regeln nicht voraus, sie beruht weithin auf eher „konnektionistischen" Komplexen, in denen (begrenzt rekombinierbare) Formulierungsroutinen und Problemtypen zusammengeschlossen sind. 2. Dynamisiert werden die Repräsentationen im Sprachenverb u.a. durch den Umstand, daß sie selbst Objekte der Aufmerksamkeit, der Ausgliederung und der Recodierung in höheren Repräsentationsebenen werden können (Karmiloff-Smith 1992). 3. Die Steuerung des Sprechens wird durch Reanalyse und Re-Präsentation der beherrschten Routinen zusehends „verinnerlicht", ohne daß dabei die Verfügung über „primär" automatisierte Routinen verlorenginge. In diesem Sinne betrachten wir das Symbol- und Fiktionsspiel selbst als Indikator und Faktor dafür, daß eine Re-Repräsentation der außengesteuerten Nenn- und Bezeichnungsleistung des Wortes stattgefunden hat. Das Spiel steht „zwischen der reinen Situationsgebundenheit und dem von der realen Situation losgelösten Denken" (Wygotski 1980:455). In ihm operiert das Kind erstmals mit Wortbedeutungen, nicht mit Objekt-Bezeichnung-Komplexen. Die Fähigkeit, an sozialen Symbol- und Fiktionsspielen teilnzunehmen, markiert ein Stadium der Organisation des Sprechens, in welchem die Eigenwerte sprachlicher Zeichen ein relatives
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Übergewicht gegen die einfachen Gegebenheiten des perzeptiven Aktions- und Orientierungsraumes erlangt haben. Die mehr oder weniger ausgedehnte Phase des Symbol- und Fiktionsspiels ist gegenüber dem situationsgebundenen und dominant außengesteuerten Redemodus der frühen Spracherwerbsphase dadurch gekennzeichnet, daß eine neue Ebene der Re-Repräsentation des „Wortes"5 (Karmiloff-Smith 1992:22 sowie Kap. 5) verfugbar und in relativem Gleichgewicht mit den primären Situationsroutinen ist. Die außengesteuerten, an der Strippe lokal verfugbarer Referenz- und Handlungsbezüge laufenden Routinen werden von den nunmehr „intern" repräsentierten Schemata her unterbrochen und neu arrangiert. Die spieltypische Modalisierung (oder „Fiktionalisierung") der laufenden Bezüge bildet eine Art von Scharnier zwischen den beiden nunmehr getrennt adressierbaren Ebenen von lokaler Referenz und interner Repräsentation. „Bedeutung" löst sich damit aus der festen Verklammerung mit den jew. „Gegebenheiten". Ihre eigenständige Verfügbarkeit zeigt sich darin, daß sie „in Szene gesetzt" werden kann.6 Ohne Re-Repräsentation der jew. inszenierten Schemaelemente ist es unmöglich, beide Bezugssysteme, das der perzeptiven Situation und das der fiktiven Spielsituation, gleichzeitig präsent zu halten und zwischen ihnen sprachlich hin und her zu vermitteln. Wir vermuten vorerst, daß es auf dieser Ebene zwar relativ leicht gelingt, Einheiten zu segmentieren und zu rekombinieren, die insofern „gut" und prägnant sind, als sie mit handfesten Kookkurrenzen schon in der ersten Ebene der situierten Routinen zusammenhängen: Referenten, Rollen, Handlungsschemata - einschließlich der Schemata, die für das Spiel selbst stehen.
4. Vorstellung des Materials
Der Vermutung, es könne einen Zusammenhang zwischen expliziten sprachlichen Modalisierungsroutinen und dem kindlichen Symbolspiel geben, bin ich von zwei Seiten nachgegangen. Einmal habe ich, von der pragmatischen Seite ausgehend, eine große Zahl von Spiel-Äußerungen durchgemustert, die eindeutig der Definition und Vereinbarung fiktiver Spielwerte dienen (und ergo zur Instruktionsebene (b) gehören). Erhoben wurden die sprachlichen Formate und Formulierungen (zusammen mit den näheren Umständen ihrer Äußerung), mit denen solche Akte markiert werden. Der zweite und formbasierte Zugriff (in erster Linie anhand des Rigol-Korpus) sollte im Gegenzug alle Konjunktiv Ii-Verwendungen untersuchen und beschreiben, die in einer größeren Menge von Spracherwerbsdokumenten zwischen dem 3. und dem 7. Lebensjahr auftreten. 5
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Ich setze „Wort" in Anfuhrungszeichen, weil ich damit keine linguistische Struktureinheit, sondern eben nur ein ausgegliedertes und re-repräsentiertes Äußerungsformat meine. Daß es sich hier wahrhaftig um ein neues und voraussetzungsreiches Niveau nicht nur des Sprechens, sondern des ganzen sozial-kognitiven Verhaltens handelt, bestätigt die Beobachtung, daß der Versuch, kleinere Kinder in solche Symbol- und Fiktionsspiele einzubeziehen, bei diesen oft in tränenreicher Abwehr endet: /Ich bin nicht das Baby, ich bin der Simon!/.
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Erwartungsgemäß gibt es zwischen beiden Datenmengen weder vollständige noch weitgehende Überlappung. Eine grammatische Form, die, und sei es temporär, in ein und derselben pragmatischen Funktion gebunden wäre, wäre ein anachronistisches Unding. Denn Grammatikalisierung bedeutet ja auch in der Erwerbsperspektive Depragmatisierung und Desemantisierung, bedeutet die flexible Vereinbarkeit eines Formparadigmas aus mehreren, obligatorisch zu spezifizierenden Optionen mit einer Vielfalt von Zusammenhängen. Die hier einschlägige Mikrodimension des Sprechens wollen wir als „Modalisierung" bezeichnen, den Konj. II als eine (mäßig grammatikalisierte) Option innerhalb dieser Dimension. Eine wirklich gehäufte Verwendung des Konj. II findet man im Material jedoch nur im Kontext der Instruktionsebene (b) im sozialisierten Symbol- und Fiktionsspiel. Demgegenüber wirken die übrigen Konj. II-Belege isoliert und vereinzelt. Man darf durchaus vermuten, daß der pragmatische Kontext des Symbolspiels die Notwendigkeit hervortreibt, Äußerungen differenziert zu modalisieren. Neben den /hätte, wäre, würde/-Formen findet man freilich ebenso oft andere sprachliche Modalisierungssignale, z.B. Modalverben wie /wollen, sollen, müssen/, z.B.: /So, jetzt mußt du mir erst mal die Haare kämmen, wenn ich bitten würde/ [NB] /Bei mir sollst du das nicht machen/ (beide Belege aus Andresen 1995:62f) /Gell, jetzt sollt die Großmutter nimmer da sein? Soll ich's andere nehmen?/ - /Nein, du mußt die Großmutter nehmen/ (Auwärter 1983:82) „Mikropragmatisch" ist der Gebrauch von Modalverben eher verbunden mit direkten Handlungsanweisungen darüber, wie Rolle und Skript an einer bestimmten Spielstelle von bestimmten Akteuren ausgefüllt werden sollen. Sie sind modal im „deontischen" oder nichtepistemischen Sinne. Auffallend ist weiterhin, wenn man die Instruktionsebene betrachtet, daß namentlich „erfahrene" und ältere Spieler auf sprachliche Modalisierungen ganz verzichten können. Die Rollenfestlegung z.B. erfolgt dann oft einfach indikativisch: /Nein, er ist krank/ - /Nein, ich bin der Arzt/ - Ach will nicht krank sein. Wer bist du?/ (Andresen 1995:57) Gelegentlich findet man auch Indikativ und Modalverb im Wechsel: /Nun..nun ist einer der Ärzte auch krank geworden/... /Das ist gut! Nun soll Jonatan krank sein/ Festzuhalten ist also unbedingt, daß es im Kontext des Symbolspiels keine zwingende Notwendigkeit fllr den Konj. II gibt. Die modalisierte Festlegung von Rollen und Requisiten erfolgt mit Hilfe komplexer, über die Situation verteilter Indikatoren, und der Konj. II ist nur ein Baustein unter vielen. Schließlich dürfte niemandem entgangen sein, daß es eine Reihe von spieltypischen modalisierenden Wendungen wie /in echt, im Spiel/ Adverbien und Partikeln wie /wohl, jetzt, gerade, eben/ gibt, die zwischen modalisierenden und (in der Szene) lokalisierenden Signalwerten changieren.
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Der mikropragmatische Schwerpunkt der /hätte, wäre, würde/-Formeln scheint demgegenüber eher da zu liegen, wo entweder eine stattgehabte Spielhandlung auf der fingierten Ebene inferentiell „begründet" werden soll oder aber der Fortgang der Skript-Handlung durch fiktive „Tatsachen" inferentiell befördert und orientiert wird. Das läßt sich ohne den jew. Handlungskontext nicht restfrei plausibilisieren, aber vielleicht doch näherungsweise. Die folgende Belegliste stammt aus einer einzigen Spielsequenz aus dem Rigol-Korpus (Lara, 5;7): /Sie wärn Freunde gewesen; meine hätte nämlich ganz viele Kleider; Deine hätte schon auf meine Kleine gewartet; Die wärn jetzt hinten in den Stall geritten, das hätte niemand gesehen; Du mußtse anrufen, sie wär grad am ausziehn [NB];7 Niemand wär dran, weil alle böse auf sie wäm; Jetzt hätte meine angerufen und hätte gesagt „Ich komm gleich"; Jetzt hätts geklingelt; etc./ Die Formen des Konj. II haben in dieser Verwendung einen eigentümlichen Zwischensta-tus. Sie markieren nicht nur, daß eine „Feststellung" in die Ebene (b), in die Ausarbeitung der Spielfiktion, gehört, sondern sie begründen gleichzeitig auch inferentielle Zusammen- hänge mit der laufenden Spielhandlung. Sie treiben diese Spielhandlung weiter, indem sie da Inferenzbasen piazieren, wo das repräsentierte Skript den Fortgang der Spielhandlung alleine nicht hinreichend spezifiziert.8 Nimmt man die herkömmliche Einteilung der Modalverbverwendungen in „epistemisch" und „deontisch" zum Ausgangspunkt, so gehören diese Äußerungen eigentlich in beide Rubriken. Oder besser gesagt: sie liegen in einer Ebene, in der die Sprechereinstellung zur Faktizität der Aussage („epistemisch") und die Spezifizierung des Handelns („deontisch") eine undifferenzierte Einheit bilden. Der Sprecher markiert in einem die Faktizität als fiktiv, als der Spielebene angehörig, und spezifiziert einen Fortgang der (Spiel-)Handlung. Es ist ja ein epistemisches Vor-Urteil der grammatischen Beschreibungstradition, daß die Geltung der Proposition, die Abschattung ihres Darstellungswertes, als Grund- und Hauptsache der Modusoptionen zu gelten habe. Tatsächlich braucht aber in der vorliegenden Situation die Faktizität der Propositionen durchaus nicht extra markiert zu werden. Ihre Nichtfaktizität ist offensichtlich. Sie ist gewissermaßen die Geschäfts-grundlage des Spielgeschehens. Tatsächlich markiert der Konj. II die Propositionen als „framing"-Aktivitäten, als Bezugssysteme für die Interpretation anderer, gewissermaßen „benachbarter" Handlungen. „Framing"-Äußerungen komplettieren eine Situation so, daß in den definierten Rollen und Requisiten schlüssig weitergehandelt werden kann. Das KonditionalgefÜge ist der grammatische Erbe dieser pragmatischen Konstellation (s.u.). Das epistemische Vor-Urteil der Grammatik hat indessen noch einen Zwillingsbruder. Es handelt sich um das (Symbolverarbeitungs-)Vor-Urteil, jedes vom Grammatiker als Zeichen mit Morphemrang identifizierte Redesegment werde auch als relativ autonomer Funktions-
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Dieser Beleg zeigt, ähnlich wie der in Anm. 3 präsentierte, die typische Opposition zwischen Konj. II-Formen und Modalverben. Direkte Handlungsanweisung vs. Quelle für Aktions-inferenzen. Das erklärt auch den Rückgang der Ebene (b) bei erfahrenen Spielern, deren Skripts detaillierter repräsentiert und weniger auf ad-hoc-Spezifizierung angewiesen sind.
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oder Bedeutungsträger in der Kommunikation verarbeitet bzw. erzeugt.9 Es scheint dagegen wesentlich plausibler anzunehmen, daß die grammatischen Formen erst im Blick des Grammatikers zu dem werden, was sie von Anfang an zu sein scheinen: Zeichen mit einem bestimmten, die Redekonstellation transzendierenden Inhalt. Nach dieser Seite imponiert als „Grammatikalisierung" der Entwicklungsprozeß, der konstellativ verteilte pragmatische Feldwerte von Äußerungen innersprachlich recodiert und (wenigstens mit-) repräsentiert. Hat man diesen Zwillingen erst einmal entschlossen den Rücken gekehrt, dann scheint es sinnvoll zu sein, einer anderen Spur weiter zu folgen. Gegenüber dem Sprechen in gewissermaßen automatisch vorgegebenen „frames", so hatten wir oben gesagt, markieren die rahmensetzenden Sprechhandlungen des Symbolspiels einen Zugewinn an Autonomie und Situationsentbundenheit. Das ist gewiß richtig, aber doch nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte lautet, daß auch die Äußerungen vom Typ /und das wär jetzt ein.../ hochgradig situationgebunden bleiben, freilich auf eine andere und neue Weise. Nicht nur haftet die zumeist deiktisch indizierte Requisite fest am lokalen Orientierungsraum des Sprechens, auch der ihr provisorisch erteilte Spielwert muß erst auf der Ebene der spielerischen Fiktion „mit Leben erfüllt werden". Der folgende (zugegebenermaßen extreme) Beleg gibt einen Eindruck davon, daß es sich nicht gerade um situationsentbundene Rede handelt: /hier Robert / kommma / das kann / der äffe kann dem nicht / über dem pferd + Robert // Robert / Robert / ja wir hätten jetzt auf dem pferd geritten / kuck / so kanns eben / ((wiehert)) / das kamel spielt doch + /so / das hätte noch ein fohlen / ja die wollten das heute von der weide abholen / aber das wär / ++ / fohlen auf der weide / da / Robert/... (Rigol-Korpus: Pauline 5;5) Der Beleg zeigt die symbolische Transformation dessen, was auf der Alltagsebene gegeben ist, andererseits die symbolische Transformation dessen, was auf der Skriptebene des Spiels gegeben sein soll, in Ressourcen der Spielhandlung. Auf merkwürdige Weise grenzen hier logische und pragmatische Beschreibung unmittelbar aneinander. Kasper (1987), der den Konj. II im Deklarativsatz allein unter logisch-semantischen Gesichtspunkten (Wahrheit der Proposition) behandelt, definiert diesen als einen Satzoperator, der einen Satz wahr oder falsch macht mit Bezug auf eine „nächste" alternative Welt zur aktuell gegebenen. Diese „nächste" Welt wird von der „realen" - ein wenig zirkulär - dadurch unterschieden, daß der Konj. Ii-Satz in ihr sinnvoll indikativisch behauptet werden kann. Eine solche Beschreibung ist, wiewohl logisch gedacht, dem kindlichen Symbolspiel wie auf den Leib geschnitten. Denn was ist die Spielfiktion anderes als eine „nächste" Wirklichkeit zur aktuell gegebenen?10 Und was sind die Instruktionsäußerungen der Ebene (b) anders als Äußerungen, die einer offensichtlich nichtfaktischen Aussage in der „nächsten" Wirklich- keit des Spiels zu faktischer Geltung verhelfen?
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Zum primärsprachlichen Erwerb der deutschen Modalverben unter diesem Gesichtspunkt vgl. Adamzik (1985) und Ramge (1987). Zum Erwerb von Modalität allgemein vgl. Dittmar & Reich (1993). Was bei Bateson (1981) manchmal in und manchmal zwischen den Zeilen steht: daß nämlich die Pragmatik der Kommunikation und die Logik der propositionalen Darstellung einander näher und ähnlicher sein könnten, als man zu denken geneigt wäre, hier ist ein weiterer Beleg dafür.
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Lötscher (1994), der das gleiche Problem durch eine pragmatische Brille anschaut, kommt zu dem Ergebnis, der Konj. II sei im Kern eine Form, welche die Implikaturen des „entsprechenden" Indikativsatzes blockiert. Darin, in dieser Implikaturenblockade, so Lötscher (1994), bestehe auch der Abschwächungs- oder Höflichkeitseffekt, der bei der „Konjunktivierung" bestimmter Modalverben aufzutreten scheint: /Kannst du../ vs. /Könntest du../, /Du mußt.../ vs. /Du müßtest../, /Darf ich../ vs. /Dürfte ich../" Diese Beschreibung scheint auf den ersten Blick weit weniger auf die Gegebenheiten des Symbol- und Fiktionsspiels zu passen. Es sind ja im Gegenteil die praktischen Implikaturen des Indikativsatzes, die durch die /hätte, wäre, würde/-Formen auf der Spielebene in Kraft gesetzt werden. Lötschers (1994) Beispiele stammen einmal aus der Sphäre der Modalverben: /Jetzt kann ich deine Dame schlagen/ vs. /Jetzt könnte ich deine Dame schlagen/ Dann auch aus dem Gebiet, das Grammatiken oft als „Irrealis" bezeichnen: /Fast hatten wir den Gipfel erreicht/ vs. /Fast hätten wir den Gipfel erreicht/ Im Feld des Symbolspiels sind es nicht die Implikaturen des indikativischen Satzes, die blockiert werden, es sind die Implikaturen der wahrgenommenen Szene mit ihren „first order"-Rollen und -Objekten. Werfen wir zunächst noch einen Blick auf die Konj. II-Verwendungen, die nicht dem Umkreis des Symbol- und Fiktionsspiels entstammen. Sie teilen durchweg eine auffallende Eigenschaft: Sie gehören meist zu sprachlichen Formeln, in denen es nicht der Konj. II allein ist, der das Format der syntaktischen Variation markiert, sondern der Konj. II plus Redeformel. Ein paar Beispiele: /Das hätteste doch mitbringen können/, /Ich würde gerne mitgehen/, /Ich tu einfach mal so, als wärn das zwei/, /Das hätt ich nich gemacht/, /Sieht aus, als wär das in m Haus/, /Ich würd am liebsten blau nehmen/, /Könnte mal einer die Schaukel anhalten/, /So, das wär's/, /Jetzt hätt ich mir beinah in den Finger geschnitten/, /Wenn die größer wär, hätt ich mir die ausgesucht/, /Sonst hätte ich den als erster genommen/, /Der Stefan sagt immer, das wär ein A/, /Ich hab gedacht, das wärn Äste/, /Tu ich mal so, als wärs garnet fertig/, /Und wenn nun ein Vulkan ausgebrochen wär nochmal?/, /Hm, das sieht fast wie..als es es Spaghetti wärn/ Auf den ersten Blick ist das ein Querschnitt durch diejenigen Verwendungsweisen, die jede bessere deutsche Grammatik dem Konj. II zugesteht: Konditionalgeftlge, Redewiedergabe, Vergleichssätze (vgl. Grundzüge 1981:520ff), „abschwächender" Konj. bei den Modalver-
" Bei /mögen/ vs. /"möchten"/ liegt historisch ebenfalls eine solche Beziehung vor, wiewohl der historische Konj. II von /mögen/ inzwischen (qua „Lexikalisierung"?) als selbständiges Modalverb empfunden wird.
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ben. Das Formelhafte dieser Ausdrücke wird noch unterstrichen durch die Kovariation mit Partikeln oder anderen Ausdrücken, die ebenfalls in die Modalsphäre weisen: /Sonst + Konj. II/, /Beinahe + Konj. II/, /Sieht aus als ob + Konj. II/, /Würde, hätte, wäre gerne, lieber/, /Und wenn jetzt + Konj. II?/, /Wenn + Konj. II, dann + Konj. II/ Es sieht, um den Schlußfolgerungsprozeß abzukürzen, so aus, als ob der Konj. II in der Kindersprache zwei Stützen hätte, eine pragmatisch-situative im Symbol- und Fiktionsspiel, und eine „formulaische" in sprachlich über- und mehrfachcodierten relativ festen Wendungen. Zu notieren ist an dieser Stelle natürlich auch, was durchaus nicht auftritt in den Belegsammlungen der Kindersprache. Und das sind einmal die Formen des Konj. I, auch nicht in den periphrastischen Konstruktionen mit /sei, habe, werde/, und es sind die „morphologischen" oder nicht-periphrastischen Formen des Konj. II bei Vollverben. Neben den /hätte, wäre, wtlrde/-Konstruktionen finden sich in geringerer Zahl die Formen des Konj. II bei Modalverben, und man kann vermuten, daß die Modalverben gewisser- maßen die Brücke zur Aneignung der morphologischen Konj. II-Formen bei Vollverben bilden. Eisenberg (1989:135), der den Konj. I dem öffentlichen und schriftlichen Register, den Konj. II eher dem privaten, mündlichen und „kolloquialen" zuordnet, würde wohl die Vermutung bestätigen, daß „vor-schriftliche" Kinder dem Konj. I kaum ausgesetzt sind. Für Grammatiker ist es selbstverständlich und gehört geradezu zur zweiten Natur, daß die /hätte, wäre, würde/-Formen morphologisch dem Paradigma der grammatischen Verben /haben, sein, werden/ zugerechnet werden, als dessen Konj. II-Formen. Wenn wir uns jedoch in die grammatisch naturgemäß weniger aufgeklärte Optik des lernenden Vorschulkindes versetzen, dann melden sich arge Zweifel, ob das Kind ebenso verfährt. Der „praktische" paradigmatische Kontrast, den die /hätte, wäre, würde/-Konstruktionen vertreten, sieht nämlich ein wenig anders aus: /Das ist ein../ vs. /Das wäre ein../; /Der stößt sich den Kopf vs. /Der würde sich den Kopf stoßen/ bzw. /Der hätte sich den Kopf gestoßen/ Daß die /würde/-Form heute ohne Indikativ dasteht, notiert z.B. Eisenberg (1989:134), aber auch die übrigen Mitglieder dieser Kleinfamilie sehen gegenüber „ihren" Grundformen eher suppletiv aus und haben eine deutliche Tendenz, sich dem System der Modalverben von außen anzuschließen, selbst wenn sie von Modalverben abgeleitet sind. Ihre „präsentische" Bedeutung bringt sie in starken Gegensatz zu ihrer „präteritalen" Bildung. Jedenfalls gibt es nicht den mindesten Grund für die Annahme, auch das lernende Kind müsse 'realisieren', was der Grammatiker 'weiß': daß /wäre/ mit /ist/, /hätte/ mit /hat/ und /würde/ wenigstens entfernt mit /wird/ zusammenhängt. Wir haben eher Grund zu der Annahme, daß Kinder in die Sphäre, die hier zur Diskussion steht, mit wort- und konstellationsbezogenen Strategien (und nicht mit „morphologischen" oder „flexivischen" Strategien) einsteigen. Die „entsprechenden" indikativischen Formeln mit /ist/ und /hat/ sowie mit einfachen Vollverbformen sind zweifellos so geartet, daß die Hilfsverben und ihre Funktionswerte weniger prägnant und schwerer auszugliedern sind als ihre „konjunktivischen" Pendants. Nicht allein das schiere „Gewicht" der zweisilbigen /hätte-wäre-würde/-Formen prädestiniert sie gegenüber ihren „einsilbigen" Kollegen /hat-ist-wird/ fiir leichtere Ausgliederung, auch
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der hochprägnante pragmatische Wert, den sie in der Transformation von Spielwerten erlangen. Sie stehen für die Entautomatisierung primärer Automatismen des Sprechens. Und solche Entautomatisierungen markieren eine wichtige Etappe in den Regelkreisen des Grammatikerwerbs. Es wäre zweifellos interessant, der Frage nachzugehen, ob man es hier mit allgemeinen Bedingungen zu tun hat, die suppletive morphologische Paradigmen diachron stützen und erhalten. In jedem Falle haben wir es bei den suppletiven Komparativen /mehr, lieber, besser/ mit ganz ähnlichen Verhältnissen zu tun. Auch hier stehen die im System sekundären Komparative für aktional prägnantere und leichter ausgliederbare Symbolwerte als „ihre" positiven Grundformen.
5. Die Mikrodomäne der „Modalisierung von Propositionen"
Die Modalisierung gehört als Sub- oder Mikrodomäne in einen funktionalen Bereich, für den verschiedene Bezeichnungen vorgeschlagen worden sind. Lehmann (1991) spricht von „Situationsperspektion", aber auch, wie einige andere Linguisten, von der Time-AspectMode-Komponente (ΤΑΜ) des Satzes. In Seröbrennikows Handbuch der Allg. Sprachwiss. (1975) wird der Satz in die Sphären der „propositiven Nomination" und der „kommunikativen Aktualisierung" zerlegt. Gemeinsam ist all diesen Konstruktionen, daß die reine Proposition als primär und primitiv, die Modalisierung als zusätzliche Operation über dieser „zentralen Proposition" (Lehmann 1991) angesehen wird. Es versteht sich, daß diese Perspektivierung für die Spracherwerbsforschung nicht ohne weiteres übernommen werden kann. Denn für diese ist die „reine", die nicht modalisierte Proposition kein Primitiv, sondern ein spätes und voraussetzungsreiches Produkt, das sich erst durch die „Ent-Modalisierung" der gewöhnlichen und primären Aktionswerte des Sprechens ergibt. Auch in der diachronen Perspektive entstehen die Zeichen für „epistemische" Modalität spät durch inferenzbasierte Grammatikalisierung „deontischer" Modalitätsausdrücke (vgl. Diewald 1998). Für die ReRepräsentationslogik des Spracherwerbs (Karmiloff-Smith 1992) darf man wohl davon ausgehen, daß die expliziten „deontischen" Modalisierungen implizite Aktionsparameter des Sprechens explizit recodieren, während die „epistemischen" Modalisierungen durch deren semantische Abschwächung und weitere Grammatikalisierung entstehen. Dieser Gang der Dinge entspricht im Großen und Ganzen auch der Negation, die gleichfalls als „deontische" Zurückweisung aktionaler Zumutungen und Ansprüche, als „Nichtwollen", beginnt und erst nach und nach dazu kommt, Propositionen zu negieren. Maß für die Grammatikalisierung modalisierender Operationen ist u.a. der Grad ihrer Integration in die zentrale Proposition. Diese Integration ist (mit Bezug auf „rektive" oder „verbale" Strategien) am niedrigsten, wenn die TAM-Komponente Prädikat eines Satzes ist, zu welchem die zentrale Proposition ein Argument bildet. In diesem Falle spielt sich die Modalisierung leicht als rhematisch in den Vordergrund der Aussage. Sie ist am höchsten, wenn ΤΑΜ flexivisch in die Verbmorphologie der zentralen Proposition eingebaut ist. Dann ist die Modalisierung selbst nicht rhematisierbar, wohl aber die zentrale Proposition (vgl. zu diesem Komplex Plank 1981, Lehmann 1991). Eine solche Perspektive bietet sich an für den grammatischen Vergleich und für die Beschreibung von Sprachen. Für den Spracherwerb ist
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sie (wenigstens partiell) unangemessen, weil, wie oben dargelegt, die „reine" Proposition hier kein Primitiv, sondern eine späte und voraussetzungsreiche Errungenschaft bildet. Der Spracherwerb schreitet eher von den mo- dalen (im Sinne von „deontischen") Aktionswerten der Sätze zu deren „Propositionali- sierung" voran als umgekehrt. Alles „Epistemische", aller reine Darstellungswert, ist im Sprechen spät. Dennoch macht es auch aus der Spracherwerbsperspektive einen gewaltigen Unterschied für die Ausgliederung und Recodierung von modalisierenden Zeichen, ob diese durch leicht isolierbare, extrahierbare und rhematisierbare Lexeme oder durch hoch intergrierte, ohne Mithilfe der Schrift kaum extrahierbare und nicht rhematisierbare Flexionszeichen. Die Optionen, die in der Mikrodomäne der Modalisierung zur Verfügung stehen, reichen vom übergeordneten Satz (meist mit einem Verb der propositionalen Einstellung) via modalisierende Adverbien (die ebenfalls als übergeordnete Proposition, aber auch in der modalisierten Proposition selbst gebraucht werden können) und modale Partikel zu den modalen Hilfsverben und schließlich zu den am stärksten grammatikalisierten flexivischen oder periphrastischen Modusoptionen der Vollverben. Ich verweise hier pauschal auf Lehmann (1991) für Details.12 Die verschiedenen Grammatikalisierungsstufen sind nun keineswegs in irgend einem Sinne „äquivalent", sie verteilen sich, wenn auch natürlich nicht trennscharf, auf verschiedene Unterfunktionen. Kasper (1987:1 Iff) argumentiert völlig zu recht, daß es für den Satz: /Ich hätte das Angebot nicht akzeptiert/ keinerlei indikativisches Äquivalent dergestalt gibt, daß die Modalisierung des Konj. II durch ein übergeordnetes modales Prädikat o.ä. ausgedrückt werden könnte: ?/Es ist möglich, wahrscheinlich, falsch.., daß ich das Angebot nicht akzeptiert habe! Vielmehr wird durch solche Umformungen die Differenz zwischen Indikativ und Konj. II noch unterstrichen, denn beide „parallelen" Sätze behaupten etwas, nur eben nicht das gleiche: /Es ist möglich, wahrscheinlich, falsch.., daß ich das Angebot nicht akzeptiert hätte/ Kasper (1987) weist (und das m.E. ebenfalls zu recht) auch die „Lösung" zurück, welche die mehr als tausendjährige Ellipsenplage fortzuschreiben geeignet wäre, es handele sich nämlich bei derartigen Deklarativsätzen mit Konj. II „eigentlich" um unvollständige Konditionalgefüge. Und wir müssen für unsere Argumentation natürlich auch noch der Tatsache Rechnung tragen, daß die Bedeutung eines deklarativen /wäre, hätte, würde/-Satzes im pragmatischen Kontext des Symbolspiels ganz anders aussieht als im pragmatischen Kontext eines „normalen" Gesprächs. Ein Satz wie /Der wäre in den Dreck gefallen/ heißt im Spielkontext, daß wir so weiteragieren, „als ob" der Indikativ zuträfe, während wir im normalen Gespräch 12
Von dessen Unterteilung der Techniken in rektive und modifizierende (bzw. verbale und adverbiale) sehe ich ebenfalls ab.
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darüber erfreut sind, daß der Indikativ nicht zutrifft. In beiden Fällen jedoch (und damit kommen wir noch einmal auf die suggestive Formel von Kasper 1987 zurück) verweist der Konj. II auf einen hypothetischen Fortgang der Dinge in einer Welt, die der alltäglichen Rede unmittelbar „benachbart" ist, sei es die Welt der nicht realisierten Möglichkeiten oder die des Spiels. In beiden Fällen markiert der Konj. II eine Differenz zwischen dem, was der Fall ist, und dem, was der Fall sein könnte. Diese Differenz betrifft aber nicht den illokutiven Modus des Behauptens. Vielmehr sind im Deklarativsatz Indikativ und Konj. II gleichermaßen behauptend: /Ich hätte die Meisterschaft gewonnen/ (in beiden Lesarten) nicht weniger als /Ich habe die Meisterschaft gewonnen/. Ein Bindeglied zwischen dem Spiel- und dem Ernstkonjunktiv ist offensichtlich die Konditionalkonstruktion. Sie entsteht beinahe von alleine dadurch, daß das Symbol- und Fiktionsspiel nicht mehr gespielt, sondern angeeignet und in seinem (hypothetischen) Fortgang versprachlicht wird. Aus den Folgehandlungen, die das /hätte, wäre, würde/-Format konditioniert, wird die „Konsequenz", aus der hypothetischen Instruktion wird das „Antezedens".13 Aus /Das wär jetzt unser Haus/ und den durch diese Setzung konditionierten Folgehandlungen, wird durch Aneignung und sprachliche Repräsentation dieses Verhältnisses das konditionale Schema: /Wenn das unser Haus wäre, dann..../. Wir finden die Positionen des Schemas im Material auch auf zwei Sprecher verteilt: /Und wenn nun ein Vulkan ausgebrochen wär nochmal?/ Im Rigol-Korpus findet sich eine ausführliche Szene, an der man die konditionale Transformation des Symbol- und Fiktionsspiels mit Händen greifen kann. Corinna (5;2) spinnt eine Geschichte weiter, in der ein Wunschring die entscheidende Rolle spielt. Die Äußerungen schließen sich in großer Zahl an die Fiktion an, dieser Wunschring stünde zu ihrer Verfügung. Sie beziehen sich auf hypothetische Konsequenzen dieser Fiktion und auf deren Konsequenzen. Das Konditionalgefüge ist gewissermaßen die (sprachliche) Fiktionalisierung der Spielfiktion. Ein paar Beispiele: /Und ich würde eine Puppe wünschen die sprechen kann...dann bräucht ich keine Freundin mehr zu haben/ /Ich hätt mir gewünscht daß ich unsichtbar sein kann dann kann mich nämlich mein Bruder nicht sehn wenn ich ihn petzen hauen oder treten will/ etc.
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Wir benutzen hier die Terminologie, die Eisenberg vorschlägt, mit der einschränkenden Bemerkung, daß man „Antezedens" und „Konsequenz" natürlich nicht in dem Sinne nehmen darf, den die Ausdrücke im gewöhnlichen Kontext haben.
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6. Einstieg, Ausgliederung, Grammatikalisierung
Wir kommen allmählich an den Punkt, an dem wir die Unterstützung der diachronen Grammatikalisierungsforschung mehr als nötig haben. Das Symbol- und Fiktionsspiel, so vermuten wir, bietet einen prägnanten und gewissermaßen griffigen Einstieg in die Mikrodimension, die hier zur Debatte steht. Kein Lerner muß jedoch diesen Einstieg wählen. Ich vermute, daß die synchrone Koexistenz verschieden stark grammatikalisierter Optionen in ein und derselben Dimension den Erwerb der wesentlichen Optionen gegen die Kontingenzen schützt, die mit unterschiedlichen Einstiegen, unterschiedlichen Lernstrategien und unterschiedlichen „Expositionen" zusammenhängen. Im Spiel ist der Gebrauch der /wäre, würde, hätte/-Formen pragmatisch konditioniert durch die Festlegung von „Werten" für die fiktive Welt des Spiels. In den übrigen Verwendungen des Konj. II finden wir formulaische Konditionierung14 sowie den Übergang zur sententiellen Konditionierung besonders in Konditionalsatz (und ganz vereinzelt in der Redewiedergabe). Der Konj. II wird „phorisiert" (Diewald 1993:223). In allen Fällen bleibt der Konj. Bestandteil eines komplexen Signalements, dessen Komplettierung jedoch zusehends auf der „innersprachlichen" Ebene stattfindet. Etwas plakativ und vereinfacht: Aus dem Paar Deklarativsatz plus Spielhandlung wird das Paar Konditionalsatz plus Konsequenz. Auch diese Bewegung läßt sich als „Grammatikalisierung" interpretieren: Ein Zeichen nimmt seine stereotypen pragmatischen Implikaturen abgeschwächt und schematisiert in seine „Bedeutung" auf, die es nun in innersprachlichen Kontexten entfaltet (vgl. Diewald 1997:55).15 Die Hauptverwendungen des Konj. II in der Erwachsenensprache (bis hin zur Redewiedergabe) lassen sich ja durchaus als Recodierung, Entfaltung und Abschwächung des Wertes interpretieren, den der Konj. II im Kontext des Symbolspiels annimmt, wo er einen Satz wahr macht mit Bezug auf die hypothetische Welt des Spiels und gleichzeitig signalisiert, daß er in der aktuellen Welt der perzeptiven Orientierung nicht behauptet werden kann (vgl. Lötscher 1994:335 über Kasper 1987).16 Auf der Formebene scheint es einen Vorzug für das Modell der Modalverben zu geben, an welches sich die quasi-suppletiven /hätte, würde, wäre/-Konstruktionen anschließen, während die Ausbreitung des flexivischen Konj. II bei den (funktional und semantisch recht eigenständigen) Formen der Modalverben selbst zum Stehen kommt, also /könnte, müßte, bräuchte/. Sie sind den /hätte, wäre, würde/-Formen im Bildungsmuster am ähnlichsten. Im Material habe ich, wie gesagt, weder eine Konj. I-Form noch auch eine flexivische Konj. IIForm eines schwachen Verbs gefunden. Ich vermute, daß die Formen der konjunktivischen Modalisierung auf zu wenige Kontexte beschränkt sind, als daß sie eine weitere Grammatikalisierung hin zur flexivischen Ebene tragen könnten. Die sprachpflegerische Klage über den Verlust des (flexivischen) Konj. hat 14
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Also Kontexte wie /Ich würde gerne...; das hätte ich nicht gemacht; so tun als ob..; sieht aus als ob.../ „Bedeutung" ist hier in Anführungszeichen zu sprechen, denn eine halbwegs autonome Eigenbedeutung wächst grammatischen Zeichen nur in der hochgradig künstlichen Perspektive der „lexikalischen Isolierung" zu, die außer dem Grammatiker selbst kein Mensch je einnehmen würde. Der modusfreie Satz ist „wahr" in der fiktiven Welt des Spiels, aber weder die Voraussetzungen für seine sinnvolle Behauptbarkeit noch die für seine Negierbarkeit sind in der aktuellen Welt gegeben.
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m.E. ihren „Grund" darin, daß dieser ausschließlich von den expliziten Normen der („tertiären") Schriftsprache gestützt wird und damit von der primären Automatisierung ebenso abgeschnitten bleibt wie von den „sekundären" Reanalysen ihrer Routinen. Offenbar müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, damit eine bloß flexivische Einheit aus der Sicht des Sprache erwerbenden Kindes primär automatisiert werden kann (KarmilofF-Smith 1992 spricht von „behavioral mastery"), und andere zusätzliche Bedingungen, damit ein flexivisches Element ausgegliedert, als „Modifikation" identifiziert und auf höherer Ebene recodiert werden kann. Der flexivische Konj. steht am Rande dieser Bedingungen. Er hängt kognitiv gewissermaßen in der Luft, weil ihm das Fundament in der primären Automatisierung fehlt. Möglicherweise gibt dieser Komplex auch einen Hinweis auf die kognitiven Faktoren, die Suppletiwerhältnisse stützen. Sie treten da auf, wo es hinsichtlich der Extrahierbarkeit ein pragmatisches Prius derjenigen Form gibt, die morphologisch sekundär oder abgeleitet ist (vgl. die Komparativ-Beispiele /mehr, besser, lieber/). Die fiktiv-setzende Bedeutung von /hätte, wäre, würde/ ist für das Kind prägnanter und greifbarer als die einfache, unauffällige und hoch automatisch Assertion /hat, ist, ?/.17 Dieses Plus an Extrahierbarkeit geht jedoch mit einem Minus an Segmentierbarkeit einher (vgl. Peters 1983:99). Der historische Grammatikalisierungkanal für den /würde/-Konj. läuft über den (flexivischen!) Konj. II des Vollverbs /werden/, man müßte ihn also ursprünglich übersetzen mit /würde werden/ im Sinne des engl, /would become/ (vgl. Behaghel 1924 II:242ff). Aber müßte dieser Befund nicht eigentlich höchst befremdlich sein für die Erwartungen der Grammatikalisierungsforschung? Daß ein Vollverb (qua kombinatorischer Generalisierung, Bedeutungsabschwächung, Verlust der Komponente etc.) zum Hilfsverb mutiert, hat ja seine Richtigkeit. Aber hier verfügt das Vollverb bereits flexivisch über die Kategorie, deren periphrastischen (also eigentlich: weniger grammatikalisierten?) Ersatz das Hilfsverb bildet. Haben wir es hier mit dem nach Auskunft der Fachleute (Lehmann 1995, Diewald 1997) seltenen Fall einer Degrammatikalisierung, einer Umkehrung des an sich irreversibel (kreisförmig) konzipierten Prozesses zu tun? Denn daß die flexivische Unterscheidung selbst unklar und verstärkungsbedürftig geworden sei (vgl. Behaghel 1924 11:244), ist kein ganz unproblematisches Argument. Es ist keineswegs so, daß immer Umschreibungen eintreten, wenn zwei Formenreihen zusammenfallen (wie Indikativ und Konjunktiv Prät. bei den schwachen Verben). Es sind zwei Gründe, die dieses Argument schwächen. Einmal die oben skizzierte „konstellative" Natur des Konj., die ihn z.B. in der Redewiedergabe nach verba dicendi immer redundant macht. Dann aber auch der Umstand, daß der „präteritopräsen-
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Bruner & Olson (1978:315) argumentieren, Kopulaverben wie /ist, wird, hat/ seien eher schriftspezifische Mittel zur kontextfreien Definition sprachlicher Einheiten und Inhalte, für formelle symbolische Festlegungsprozeduren, an denen in situierter mündlicher Rede kein nennenswerter Bedarf aufkäme. In der Tat kann man beobachten, daß zu eben der Zeit, da das Symbolspiel blüht, viele Kinder noch beträchtliche Schwierigkeiten mit der „einfachen" Defintion durch /ist ein/-Sätze haben. Daß ein /Spatz/, ein /Adler/, eine /Nachtigall/ etc. gleichermaßen „Vögel" sind, leuchtet vielen Kindern dieses Alters offenbar weniger ein, als daß ein bestimmtes Spielzeug /jetzt ein Raubvogel sein soll/. Aus dieser Perspektive ist /wäre, hätte, würde/ offenbar prägnanter als /ist, hat, wird/.
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tische" Charakter der Konstellation im Konditionalsatz beide Verwendungen auch da leicht unterscheiden läßt, wo sie sich der nämlichen Form bedienen. Vgl. /Wenn Regula einen Professionalisten heiratete, dann .../ /Wenn nicht meine Mutter sehnlich auf mich wartete, dann .../ Problematisch sind in erster Linie die Kontexte, in denen die Konditionalfllgung mit einem /immer wenn/-Geflige verwechselt werden könnte: /Wenn er arbeitete, schwitzte er/ etc. Der synchronische Befund läßt sich freilich auch so interpretieren, daß der Konj. II auch da stabil ist, wo er instabil ist. Er lebt weiter im Inneren der Hilfsverbformen, die seiner Umschreibung dienen. Recht stabil ist er bei den Hilfs- und Modalverben, die selbst in modalisierenden Konstruktionen auftreten (/dürfte, könnte, müßte, sollte, wollte, würde, hätte, wäre/),18 bei den starken Verben finden wir das Schwanken zwischen flexivischer und periphrastischer Bildung (mit Tendenz zur Bevorzugung der letzteren, wenigstens in der gesprochenen Sprache), bei den schwachen Verben dominiert eindeutig die periphrastische Bildung. Die Bildungsdifferenz zum Indikativ ist schwach bei schwachen Verben und stark bei starken Verben (vgl. Eisenberg 1989:127).19 Offenbar „hängt" der Konj. im Niemandsland zwischen Modalverb und Flexion. Seine Repräsentanz ist, strukturell betrachtet, nicht mehr ganz das eine und noch nicht ganz das andere (und zwar von beiden Seiten betrachtet!). Für diesen Befund kann man diachrone Bedingungen angeben und synchrone Erwerbskonstellationen spezifizieren. Dieser Unterschied freilich relativiert sich beträchtlich im Lichte der Erkenntnis, welche die Kenner von Hermann Paul bis Eugenio Coseriu verbindet: daß nämlich die Bedingungen des Sprachwandels keine anderen sind als die der gewöhnlichen Sprechtätigkeit. Wir vermuten einstweilen, daß die (von Sprachpflegern wortreich betrauerte) Tradierungsschwäche des flexivischen Konj. damit zusammenhängen könnte, daß er einerseits in den primär automatisierten Routinen nicht vorkommt, und daß er andererseits in den „von oben" rerepräsentierten und bewußtseinsnahen Recodierungen als Zielgröße ebenfalls nicht gebraucht wird. Kurz: Der flexivische Konj. hängt in der Luft, weil er allein schriftsprachlich tradiert werden muß und nicht an der schriftinduzierten Reanalyse primärer Automatismen andocken kann.
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Laut Diewald (1993) sind das nota bene just diejenigen, die auch epistemisch gebraucht werden können. Die „Ersatzfunktion" des Konj. II für den Konj. I (etwa in der indirekten Rede) läßt sich in ganz ähnlichem Sinne auch nicht nahtlos begründen durch die Tatsache, daß die Formen des Konj. I auf weite Strecken mit denen des Indikativ zusammenfallen. Gerade in der 3. Person Singular, die fast 80% der Belege ausmacht, unterscheiden sich Indikativ und Konj. I immer (wie Eisenberg 1989) argumentiert.
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7. Integrität und Extraktion
Prima facie bietet das Vorkommen eines Wortes, einer Form, einer Formulierung, keine direkten Hinweis auf die „Integrität" des jeweiligen Zeichens für den Benutzer. Auch das Vorkommen des (durch den grammatischen Beobachter!) isolierten Segmentes in anderen Zusammenhängen bildet, so suggestiv es auch sein mag, keinen sicheren Hinweis. Die Vorsicht gebietet es, zunächst auch komplexe Äußerungsformate mit den (nicht weniger komplexen) Umständen ihrer Hervorbringung zu Gesamtzeichen zusammenzuschließen. Routinen mit variablen slots für leicht extrahierbare Formate (Objektbezeichnungen, Situationsindizes etc.) sind in der Regel bessere Hypothesen als alles, was strikt kompositioneile Vorgänge in sprachstrukturellen Ebenen hypostasiert. Es könnte für die (hypothetisch) „reine" Sprechsprache des präliteralen Kindes sogar empfehlenswert sein, nicht das Wort als primär operative Einheit anzusehen, sondern die begrenzt variable Formel mit situativ zu präzisierenden slots (vgl. Scheerer 1993).20 Die Spracherwerbsforschung gebraucht in diesem Zusammenhang auch den Ausdruck „limited scope formula". So brauchen wir für die Konstellation des Symbolspiels zunächst nicht mehr als die Annahme, daß Formeln des Typs /X wäre wohl, jetzt Y/ und pragmatische Anweisungen über den Spielwert von Rollen und Requisiten sich wechselseitig ausgliedern. Diese Formeln verfügen charakteristischerweise über einen slot, der pronominal eine lokal verfügbare Rolle oder Requisite referentiell indiziert, und einen slot, in den eine situativ nicht verfügbare „orientierende" Bedeutung eintritt. Sie sind darin strikt asymmetrisch. Die unübersehbare Tendenz zu (sprachlichen) Mehrfachcodierungen mit (gleichfalls modalen) Partikeln - man findet sie sowohl im Spiel als auch in den übrigen Verwendungssphären des Konj. II - unterstreicht die Probleme der feineren symbolischen Korngrößen und der separaten Ausgliederung in der ansonsten so beliebten Ebene Wort-Bedeutung. Offenkundig ist jedoch, daß die Routinen des Symbolspiels eine andere wichtige Extraktionsfähigkeit indizieren und strukturieren: die Fähigkeit nämlich, situativ-referentiell verfügbare Größen und bloß repräsentierte „Bedeutungen" getrennt auszugliedern. Die auxiliare Strategie spaltet den Satz just nach diesem Muster: Das Hilfsverb nimmt den „realen" Referenzbezug als Subjekt und regiert den modalisierten Rest der Proposition, deren Hauptverb eingeschlossen. Was aber hat die Fähigkeit zur Disjunktion von Referenz und Bedeutung mit der Modalisierung zu tun? Nun, es fällt uns nicht schwer, diesen Zusammenhang herzustellen. Aber das beantwortet die Frage nicht, ob das lernende Kind genau so oder auch nur ähnlich verfährt. Wir haben oben behauptet, die Modalisierung der Instruktionshandlungen sei sowohl epistemisch als auch „deontisch" (oder weder noch). Sie tritt also einerseits als „dritte" Option in das („epistemische") Zweiersystem von positiven und negierten Aussagen, 21 andererseits tritt sie auch in das genuin modale Subsystem „deontischer"
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In diesem Zusammenhang sei an Werner & Kaplan (1963) erinnert, die mit Hilfe eines höchst originellen Wort-Kontext-Testes herausgefunden haben, daß die Operation, welche ein isoliertes und ausgegliedertes Wort auffaßt, kognitiv völlig anders organisiert ist als die Operation, welche dasselben Wort als unselbständiges Element eines Aktions- und Äußerungszusammenhanges verarbeitet. /Das ist ein Auto/ - /Das ist kein Auto/ - /Das war (jetzt) ein Auto/.
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Modalisierungen ein.22 Prinzipiell ausgliederbar, wenn auch vielleicht nur in der Ebene der situierten Formel, ist mit den Konj. II-Verwendungen eine reichlich verwickelte Operation. Nehmen wir an, daß nur im Lichte potentiell ebenfalls verfügbarer Alternativen „kleinere" Einheiten aus dem komplexen Signal extrahiert werden können, dann geraten wir erst recht in die Paradoxie. Einmal kann man (vom epistemischen Vor-Urteil her) argumentieren, daß der Satz /Das war (jetzt) ein Auto/ nur dann zur Verfügung steht, wenn der Satz /Das ist ein Auto/ nicht zur Verfügung steht. Andererseits zeigen die Daten (und lehrt die Pragmatik), daß Werte, die auch so aus der Konstellation hervorgehen, nicht eigens codiert werden müssen. Wer im Spiel auf eine Streichholzschachtel zeigt und dazu sagt /Das ist (jetzt) ein Auto/, der kann gar nicht mißverstanden werden. Und in der Tat finden wir ja bei den Instruktionshandlungen ein buntes Durcheinander von Indikativ, Modalverb und Konj. II. Die pragmatische Operation ist (im Kontext) auch verfügbar, wenn sie grammatisch nicht codiert ist. Das ändert sich freilich radikal, wenn man die „phorisch" konditionierten übrigen Verwendungen der Konj. II-Formen dazunimmt. Erst diese Verwendungen können den Gebrauch der Form auch sprach-intern stabilisieren, indem sie ihn von einer bestimmten prototypischen pragmatischen Konstellation ablösen. Sie sind aber andererseits weniger günstig für die Extraktion der dazugehörigen Operation. Über diesen Punkt komme ich vorderhand nicht hinaus. Nach der These von Anne Peters (1983:99) ist es die vorhersagbare Rekurrenz einer Zeicheneinheit, die für ihre Extraktion aus dem Kontinuum des Sprechens wichtig ist, demgegenüber ist die begrenzte Variation der Form entscheidend für ihre Segmentierung. Stärker vorhersagbar sind die Konj. II-Formen in den Gebrauchsweisen, die nicht zum Symbolspiel gehören, aber pragmatisch prägnanter und salienter ist ohne Zweifel der Spiel-Konjunktiv, der, wenn er denn auftaucht, ganz massiv vertreten ist. Die Segmentierbarkeit der Formen freilich ist höchst eingeschränkt, denn neben /hätte, wäre, würde/ gibt es in beiden Verwendungstypen nur noch wenige „präteritopräsentische" 23 Modalverben (/der mtißte, könnte, dürfte, sollte/) mit etwas besseren Bedingungen für eine Segmentierung. Wenn wir noch einmal die Operation ins Auge fassen, die mit Hilfe der Konj. II-Formen codiert wird, so erscheint sie als eine transponierende. Nicht nur die typischen Spielformeln, sondern auch die phorisch konditionierten Verwendungen des Konj. II repräsentieren Propositionen, die „mit einem Fuß" in der Alltagsrealität des Spreches stehen, und mit dem anderen Fuß in der Sphäre des bloß Gedachten, Vorgestellten, Fingierten. „Modalisierend" ist sie darin, daß nicht mehr die Proposition des Hauptverbs, sondern eben dessen Modalisierung behauptet wird, die aber durchaus konventionell. Das Subjekt gehört zur einen, das Prädikat zur anderen Welt. Und wie die bloß gedachte Welt von der gegebenen abgesetzt werden soll, das verraten beim Konj. II die übercodierenden Elemente, Partikeln, Konj., Adverbien: 24 /Beinahe, gerne, lieber, so tun als ob,../ 22 23
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/Das soll ein Auto sein/, für den Augenblick des Spiels. Hier wie anderswo in diesem Text meine ich mit „präteritopräsentisch" nicht allein die bekannte morphologische Besonderheit der Modalverben, sondern den Umstand, daß auch deren Konj. IIFormen ihrerseits wieder das nämliche Strukturmuster zeigen: sie nehmen präsentische Bedeutung an und sind doch aus dem Präteritum-Stamm gebildet - und sie zeigen die nämliche Tendenz zur suppletiven Isolierung. Die stärkste Übercodierung ist natürlich ein verbum dicendi im Hauptsatz!
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Und wenn sie es nicht verraten, dann muß dieses Verhältnis lokal konstruierbar sein. Der Konj. ist weniger eindeutig als die Modalverben und er überschreitet deren eindeutig „deontischen" Charakter - in der Sprache der Vorschulkinder gibt es, so weit ich sehe, kaum epistemische Verwendungen von Modalverben - hin zum Epistemischen. Diewald (1993) hat also durchaus Recht, wenn sie den Konj. II in synchroner Betrachtung dem Subsystem, der Mikrodomäne der epistemisch gebrauchten Modalverben zuordnet. Die „deontische" Komponente verblaßt jedenfalls beim „Übergang" vom Symbolspiel zu den phorisch konditionierten Gebrauchsweisen. Das macht auch den Hauptunterschied zum Status des Konj. I, der auch in synchroner Betrachtung weit eher dem „deontischen" Subsystem zugerechnet werden muß. Das belegen nicht nur die vereinzelten ,jussiven" und „Optativen" (vgl. Wunderlich 1901:275ff) Verwendungsweisen des Konj. I im Hauptsatz und in isolierten Formeln:25 /man nehme.., man vergleiche..; es werde Licht; Gott sei Dank; er lebe hoch! es lebe der König!/ Blatz (1896 II:522ff) notiert als instinktsicherer Grammatiker nicht nur, daß sämtliche Erscheinungen des Konj., im Haupt- wie im Nebensatz, auf die wünschende (d.i. die „deontische") und auf die vermutende (d.i. die „epistemische") Modalität zurückgeführt werden können. Er notiert auch, daß für den „wünschenden" Konj. I im Hauptsatz die Inversion da zwingend eintritt, wo die Flexionsform von der indikativischen nicht unterschieden ist: /Beruhigen Sie sich; führen wir als Männer jetzt das Schwert; erfahren Sie zuvörderst, daß.../ Die „phorisierten" Verwendungen des Konj. I haben ihren Schwerpunkt (in der Schriftsprache) bei den verba dicendi (bzw. den von ihnen regierten Konstruktionen), welche von vornherein mit der Ambivalenz zwischen epistemisch-konstatierend und deontisch-jussiv behaftet sind und diese Ambivalenz auch in ihre Objektsätze einführen. Das hat einen auf den ersten Blick paradoxen Effekt. Sofern nämlich die „phorische" Beziehung zu den verba dicendi grammatikalisiert wird, verschwindet die deontische Bedeutung und steht nicht mehr zur Verfügung. Der Konj. I markiert dann nur den Bezug der Proposition auf eine andere als die Sprecher-Origo, auf das Subjekt des übergeordneten verbum dicendi; mit dem Effekt, daß ,jussive" oder optative Modalität, wenn sie zum Ausdruck kommen soll, semantisch verstärkt bzw. neu eingeführt werden muß. Und mit dem weiteren Effekt, daß der Anspruch auf „Faktizität" der Proposition vom Sprecher auf das Subjekt-Argument des verbum dicendi übergeht: /Bild berichtet, behauptet, daß der Graf verhaftet worden ist, sei/ (vgl. Eisenberg 1989:1300 In der phorisch konditionierten Zone des Konj. I nimmt dieser also auch „epistemische" Werte an. Dazu paßt, daß ihn die Sprech- und Umgangssprache in dieser Funktion auch gerne durch den Konj. II ersetzt, was ihn auch von der Sphäre der (sekundären) Automatisie25
Gewöhnlich wird an dieser Stelle aufgeführt, der Konj. II habe ebenfalls „optative" und Jussive" Verwendungen: /ich möchte gerne, ich hätte lieber.../; das ist eine Verkennung der Tatsachen, denn die „deontische" Bedeutung hängt in diesen Fällen ausschließlich an der Partikel /gerne/.
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rung im Schreiben noch weiter distanziert (und was, darwinistisch gesprochen, die Selektions- und Überlebenschancen des Konj. I weiter vermindert). Umgekehrt kann der Konj. II in seinen phorisch konditionierten Verwendungen, namentlich im Konditionalsatz, nicht durch den Konj. I vertreten oder ersetzt werden. Die fast ausnahmslose Regelmäßigkeit der Flexionsformen des Konj. I bietet diesem also keinerlei Selektionsvorteil, während umgekehrt die quasi-suppletive und zerklüftete Formenbildung des Konj. II dessen Überleben nicht behindert (was naiven Natürlichkeitstheoretikern wenigstens zu Denken geben müßte).
8. Grammatikalisierung „von oben" und „von unten"
Daß sich aus der Erwerbsperspektive nicht alle grammatischen Kategorien gleich oder auch nur ähnlich darstellen, ist bekannt. Was mechanisch automatisierbar und ohne extrahierbaren Bezug zur „Semantik" (im weitesten Sinne) ist (Kasus, Genus, Kongruenzmorphologie in der NG), wird offenbar weitgehend „von unten" automatisiert und erfährt auch durch die schriftlich induzierte Neuordnung der Routinen keine grundlegende Re- Repräsentation. Es spricht einiges dafür, daß in den Anfängen des Sprechens die automatische Selbst- und Außensteuerung - Situationsformeln mit geringer Variation, hoch variable „slots" - weiter reicht als die Intentions- und Innensteuerung „von oben".26 Zum Spracherwerb gehört die Entautomatisierung der Situationsbezüge des Sprechens ebenso wie dessen „Reautomatisierung" mit Bezug auf frei gesetzte und gewählte Routinen, Formeln, Muster. Beide Motivreihen, die Entautomatisierung der Situationsbezüge wie die Reautomatisierung der frei gewählten Muster, setzen eine kontinuierliche Reanalyse und Recodierung zuvor bereits automatisierter Formeln und Formate voraus (Karmiloff-Smith 1992). Die wohlbekannten „Rückfälle" in der Beherrschung morphosyntaktischer Regularitäten (nach deren scheinbarer Beherrschung) entfalten hier ihren indikativen Wert. Sie zeigen an, daß eine Routine reanalysiert und auf höherem Niveau wieder zusammegesetzt worden ist. Was nun den Konj. II betrifft, so finden wir hier eine Art von „Zangenbewegung" zwischen einer bewußt verfügbaren pragmatischen Modalisierungsoperation „von oben" und einer phorischen Konditionierung „von unten". Das könnte die Regel sein in Mikrodomänen des Sprechens, die nicht sehr tief grammatikalisiert in dem Sinne sind, daß sie relativ „semantiknah" bleiben.27 Was da freilich bei Reanalyse und Recodierung zusammenschießt, das sind nur die relativ wortnahen Formate des periphrastischen Konj. Der flexivische Konj. bleibt von diesem 26
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Lurijas (1978, 1981) Formel lautet: von Handlungen, die durch unmittelbar wahrnehmbare Signale aus der Umgebung gesteuert werden, zu Handlungen, in deren Organisation die Struktur des Sprechens selbst zunehmend eingeht. Das Sprechen distanziert generell vom perzeptiven Situationsdruck. Ein recht ähnliches Beispiel könnte die Steigerung der Adjektive sein. Indikativ wären da zunächst die plötzlich auftauchenden „fehlerhaften" Recodierungen des Typs /viel-er, gut-er bzw. güt-er, gem-er/. Auch sie stehen als Suppletiva für Konstellationen, in denen die „Komparative" für salientere und elementarere semantische Operationen stehen als ihre Grundformen. Ein weiteres Feld für das Studium der hier skizzierten Verhältnisse liefert die Derivation.
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Prozeß ausgeschlossen, weil die situativ automatisierten Formen als quasi-suppletive keinen „Durchgang" zu einem regelmäßigen flexivischen Paradigma öffnen. Dieser Zusammenhang würde sich anders darstellen, wenn es einen primär automatisierungsfähigen Konj. etwa in bestimmten Typen von Nebensätzen gäbe (wie z.B. im LAT).
9. S c h l u ß f o l g e r u n g e n und A u s b l i c k
Die Frage, wie man „den Konjunktiv" erwirbt, können wir jetzt provisorisch beantworten. Zuerst einmal ist es natürlich gar nicht „der Konjunktiv", was im Spracherwerb „erworben" wird. Gewisse Formen, die der grammatische Beobachter „Konjunktive" zu nennen geneigt ist, tauchen auffallend häufig in der pragmatischen Verwendungskonstellation des Symbolund Fiktionsspiels auf, und zwar in einer Funktion, die den Grammatiken unbekannt ist. Ich habe sie in keiner erwähnt gefunden. Diese pragmatische Konstellation liefert jedoch einen höchst prägnanten Einstieg in die stärker grammatikalisierten Verwendungen des Konj. II. Sie erleichtert die Ausgliederung einer Operation, welche das, was gerade ist, abgesetzt von dem, was sein kann oder soll. Das kindliche Symbol- und Fiktionsspiel liefert den pragmatisch-situativen Prototyp einerseits für die „Versetzung" der Sprecher in eine nichtfaktische Welt, andererseits auch fllr die deontischen (optativen etc.) Modalisierungen, die für den erwachsenen Sprecher eher mit den Verwendungen des Konj. I verbunden sind. Die /hättewäre-würde/-Formen kann man somit als „Einstiegs- muster" in die höher grammatikalisierten nicht-indikativischen Modalitäten überhaupt auffassen. Der sprachliche „Operator" dieser Transformation hat eine Tendenz, in der Wortebene zu bleiben und schließt sich da quasi-suppletiv den modalen und kopulativen Hilfsverben an. Er markiert Grenze und Übergang zwischen den prägnanten und früh verfügbaren „deontischen" Werten in der Domäne der Modalisierung und den eher subtilen und späten „epistemischen" Werten. Für eine Grammatikalisierung „von oben" scheint der Weg über die hohe Integrität und Extrahierbarkeit der Wortebene naheliegender und vielversprechender zu sein als der Weg über die Funktionsmorphologie. Die scheint nur dann aus ihren primär automatisierten Routinen gelöst und auf höherer Ebene recodiert werden zu können, wenn diese Reanalyse von weniger grammatikalisierten und wortnäheren Optionen in der nämlichen funktionalen Domäne gestützt wird (vgl. hierzu die Arbeit von Klaus-Peter Kappest über den Komparativerwerb in diesem Band). Der flexivische Konj. bleibt trotz seiner höchst regelmäßigen Bildung sowohl von den Prozessen der primären Routinisierung als auch von den Prozessen der Reanalyse und Recodierung weitgehend abgeschnitten. Die lebenslangen Unsicherheiten „normaler" Sprecher und vor allem Schreiber mit den Normen der Verwendung des Konj. I, die sehr zum Leidwesen der Sprachpfleger und Puristen kaum ausrottbare Neigung, ihn, wo immer das möglich ist, durch die /hätte-wäre-würde/-Formen zu ersetzen, all das ratifiziert den prekären Ort der flexivischen Konjunktivformen im System und in der Logik des Erwerbs. Ungeklärt, aber klärungsbedürftig ist, wie die Besonderheiten der Erwerbslogik mit den diachronen Grammatikalisierungsprozessen in dieser Domäne zusammenhängen. Die gram-
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matikalisierungstheoretische Standarderklärung für den diachronen Prozeß wäre eine Art von Fließbandmodell: der Rückgang des flexivischen Modussystems mit Optativ, verbreitetem flexivischem Konj. etc. führt zu einer stärkeren Grammatikalisierung der Modalverben, die gleichsam in dem Maße nachrücken, wie flexivische Modalisierung am Ende des Bandes herunterfällt. D i e synchronisch interessante Frage wäre freilich eher, ob man etwas daraus schließen kann, daß die gesprochene Sprache die Modalisierung auf einer anderen, wortnahen Ebene einfriert, während der flexivische Konj. in der Schriftsprache gewissermaßen von der Erwerbsdynamik abgeschnitten ist und als schulisch vermittelte „Bildungsform" mehr schlecht als recht überlebt.
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Klaus-Peter Kappest Rekodierungen auf dem Weg zum „Komparativ"
Der Schriftspracherwerb galt in der Linguistik lange Zeit als ein Problem aus dem Bereich der Didaktik. Aus der Vorstellung heraus, daß das Schreibenlernen ausschließlich auf Unterweisung beruht, kam die Überzeugung, daß der Schriftspracherwerb nicht zum Thema fur die linguistische Grundlagenforschung taugt. Inzwischen aber hat man erkannt, daß der Schriftspracherwerb in einer durch und durch literalisierten Kultur wie der unseren ein genuiner Bestandteil des Hineinwachsens in die Sprache ist, der bei der Erforschung des kindlichen Spracherwerbs keinesfalls unberücksichtigt bleiben darf. Wie ein Kind in unserer Kultur das Sprechen lernt und vor allem wie das Kind in die Benutzung sprachlicher Strukturformen hineinwächst, die wir dann als Grammatik beobachten, wird man nur dann adäquat beschreiben können, wenn man den Schrifterwerb als einen zentralen Baustein dieses Prozesses mit berücksichtigt, weil entscheidende Schritte der ontogenetischen Entwicklung der grammatischen Sprachstrukturformen erst dann vollzogen werden, wenn das Kind sich schon lange aktiv mit Schrift und Schreiben auseinandergesetzt hat. Am Beispiel des Hineinwachsens in den Gebrauch des Komparativs möchte ich im Folgenden diesen Zusammenhang skizzieren, um dann auf ein Modell hinzuweisen, daß gut dazu geeignet ist, den Schrifterwerb als zentrale Größe im Spracherwerb zu berücksichtigen, auch wenn es ursprünglich gar nicht dafür konzipiert wurde.
1. Ein Sprecher lernt das Schreiben
Wenn ein Kind damit beginnt, in die Welt der Schriftlichkeit einzutauchen, ist dies vermutlich einer der nachhaltigsten Einschnitte in der Entwicklung seiner kommunikativen Fähigkeiten. Ihm öffnet sich plötzlich das Tor zur Partizipation an einem der wesentlichen Handlungszusammenhänge unserer Kultur, der Literalität, mit allen ihren Möglichkeiten der erweiterten Kommunikation sowie der Kultur- und Wissenstradierung. Vor allem aber öffnet sich dem Kind ein neuer Weg zur Organisation des Denkens. Sollte eine so weitgreifende Veränderung der Fähigkeiten des Kindes und auch seiner soziokulturellen Einbettung tatsächlich ohne Folgen bleiben für das Sprechen des Kindes? Ist in der Erwerbsperspektive das Schreiben eine sekundäre Form des Sprachgebrauchs, die dem Sprechen folgt, aber nicht auf dieses zurückwirkt? So einfach ist der Zusammenhang zwischen Schreiben und Sprechen ohne jeden Zweifel sicherlich nicht zu beschreiben. Doch was passiert nun genau, wenn ein Kind neben dem Sprechen plötzlich noch eine andere Form der Sprachverwendung erwirbt? Welche Folgen hat das Schreibenlernen für den Spracherwerb und das spätere Sprechen des Erwachsenen? Daß das Sprechen Einfluß auf das Schreiben hat, leuchtet unmittelbar ein, da es hervorragend zur außerwissenschaftlichen Konzeption der Beziehung zwischen Sprechen und
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Schreiben paßt, die das Schreiben als eine dem Sprechen nachgeordnete Sprachverwendung einstuft. Wie aber ist es um die entgegengesetzte Einflußrichtung bestellt? Vor einer eingehenden, wissenschaftlichen Untersuchung kann man sehr unterschiedliche Hypothesen über diesen Gegenstand formulieren. Im einfachsten Falle wäre es beispielsweise denkbar, daß die Rückwirkung des Schreibens auf das Sprechen lediglich darin besteht, daß speziell schriftsprachliche Formulierungen nach einigem Gebrauch im Geschriebenen plötzlich auch im Gesprochenen auftauchen (z.B. Formulierungen wie „unter Berücksichtigung...", „Wir werden euch in Kürze noch einmal besuchen." usw.). Die Rückwirkung des Schreibens auf das Sprechen wäre nach dieser Annahme ausschließlich auf der Ebene der Verwendung bestimmter idiomatisch geprägter Ausdrücke oder bestenfalls noch auf lexikalischer Ebene zu suchen. Im Gebrauch als schriftsprachlich markierte Ausdurcksformen erscheinen im Sprechen. Vermutlich aber sind die Rückwirkungen der Schriftlichkeit auf das Sprechen viel weitgehenderer Art. Es scheint, als beträfen die Rückwirkung des Schreibens auf das Sprechen nicht nur alle Ebenen der Sprache, sondern als seien sie auch noch von ganz anderer Art, als es die vorwissenschaftliche Überlegung nahelegt.. Natürlich ist die Rückwirkung auf den verschiedenen Ebenen der Sprache jeweils von ganz eigener Art, doch kann man angefangen von der Textebene hinunter bis zur Phonemebene prinzipiell eine solche Rückwirkung feststellen. Bei der Formulierung dieser These stütze ich mich zunächst auf Arbeiten des Oldenburger Psychologen Eckart Scheerer, der vor allem auf dem Gebiet des soziogenetischen Aspektes des Zusammenhanges zwischen Sprechen und Schreiben schon umfangreiche Vorarbeit geleistet hat. Scheerer leitete aus seinen Arbeiten unter anderem die These ab, daß die Phonemebene der Sprache unter genetischer Perspektive überhaupt erst durch die Schriftlichkeit eingeführt wird. Phoneme sind in seiner Sicht sekundäre Analysekategorien, die erst derjenige entwickeln und nutzen kann, der vollständig literalisiert ist. Diese starke und fundamentale These zu stützen oder zu stürzen kann nicht Gegenstand dieses kleinen Beitrages sein. Ihre Behandlung bleibt umfangreicheren Arbeiten vorbehalten.1 Für die Belange dieses Beitrages reicht es aus, den Grundgedanken kurz zu skizzieren, auf dem Scheerer diese und andere seiner Thesen aufbaut:2 Scheerer geht davon aus, daß Sprechen und Verstehen zunächst grundsätzlich keine Prozesse sind, die als Symbolmanipulation3 beschreibbar wären. Nur dadurch, daß wir das Sprechen innerhalb einer vollständig literalen Kultur lernen, kommt es dazu, daß Sprechen und Verstehen beim erwachsenen Sprecher immer auch Prozesse der Symbolmanipulation sein können. Grundsätzlich bewirkt die Literalität unserer Kultur zunächst nur, daß Sprechen und Verstehen uns in der Beobachtung und sekundären Analyse als Symbolmanipulation erscheinen. Das Funktionieren des alltäglichen Sprechens läßt sich hingegen wissenschaftlich häufig nicht als Symbolmanipulation beschreiben. „Alltägliches Sprechen" meint in diesem Zusammenhang Fälle wie den Smalltalk beim Essen, die Unterhaltung von spielenden Kindern, Ehegespräche, die mit „Und wie war dein Tag?" anfangen, den Ehekrach usw.. Zu den Merkmalen dieser Fälle 1 2 3
s. Kappest, im Druck. Für eine ausführliche Darstellung des Gedankens siehe: Scheerer (1993) und Scheerer (1996). „Symbol" ist hier nicht im semiotischen, sondern im mathematischen Sinne zu verstehen. Scheerer wendet sich mit seiner Grundthese vor allem gegen den häufig unternommenen Versuch, jede natürliche Sprache grundsätzlich von vornherein als mathematisches Kalkül zu beschreiben (analog zu künstlichen Sprachen wie Computersprachen).
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gehört, daß die bewußte Aufmerksamkeit sehr wenig der Form der sprachlichen Äußerung sondern vielmehr stark ihrem Inhalt zugewandt ist. Ein Gegenbeispiel ist unter anderem das Aufsetzen eines Vertrages. Auch die Diskussion dieses Grundgedankens Scheerers soll nicht im Rahmen dieses Beitrages geleistet werden. Wenn wir sie jedoch einmal als Ausgangsthese setzen, folgt für die Fragestellung dieses Beitrages daraus, daß die Ebene der Grammatik durch die ontogenetische Literalisierung beim individuellen Sprecher eine nachhaltige Veränderung erfahren könnte. Die Aufgabe dieses Beitrages soll es nun sein, an einem kleinen Beispiel - nämlich der Aneignung der sprachlichen Strukturformen, die wir analytisch als den Komparativ bezeichnen - aufzuzeigen, wie man sich auf der Ebene der Grammatik die Rückwirkung des Schreibens auf das Sprechen vorstellen kann und welche theoretischen Modelle besonders geeignet sind, allgemein Probleme dieser Art zu behandeln. Dafür wird es notwendig sein, zunächst allgemein auf die sekundär als Komparativ analysierten sprachlichen Strukturformen einzugehen und dann ihre Aneignung zumindest rudimentär auch schon vor der Einflußnahme des Schreibens zu skizzieren.
2. Analysekategorie Komparativ: ein exemplarisches Problemfeld
Die Grammatik der Adjektive im Allgemeinen ist unter Erwerbsperspektive besonders dann ein interessantes Feld, wenn es darum geht, nach Alternativen zu regelgestützten Modellen für Prozesse des Sprechens und Verstehens zu suchen. Genau nach solchen Modellen muß man suchen, wenn man mit Eckart Scheerer davon ausgeht, daß ein regelgestütztes Sprechen und Verstehen, das als Symbolmanipulation modellierbar ist, erst durch den Einfluß des Schreibens aufkommt. Interessant wird die Grammatik der Adjektive für diese Aufgabe deshalb, weil schon bei der reinen Deskription dieses grammatischen Feldes Probleme auftauchen, die sich der regelgestützten Behandlung widersetzen.4 Die Probleme beginnen bereits bei der Abgrenzung der Wortart „Adjektiv".5 Zu den vielen Besonderheiten der Adjektivgrammatik gehört, daß sich unter bestimmten Umständen zwei Flexionsarten überlagern: die Deklination und die Komparation. Bereits die Deklination allein weist einige „Untiefen" auf, die ich allerdings im Rahmen dieses Beitrages außer Acht lassen möchte. Auch den Bereich der Komparation kann ich aus Platzgründen nur rudimentär behandeln. Bereits die einfachen Kategorien, die ich im Folgenden skizziere reichen aber aus, um die Phänomene aufzuzeigen, um die es in diesem Beitrag gehen soll. Auf den ersten Blick ist der Bereich der Komparation einfacher gebaut. Der überwiegende Teil der deutschen Adjektive wird regelmäßig kompariert. Die Liste der unregelmäßig komparierten Adjektive ist relativ kurz, wird aber interessanter Weise in 4
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Ich möchte durchaus nicht behaupten, daß es unmöglich ist, die Adjektivgrammatik regelhaft zu beschreiben. Was ich allerdings behaupte ist, daß jede vollständige regelhafte Beschreibung der Adjektivgrammatik so komplex sein und so viele Sonderregeln enthalten muß, daß sie nicht plausibel als Basis für das Sprechen und Verstehen angenommen werden kann. s. Bhat(1994).
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kaum einer der deskriptiven Grammatiken des Deutschen vollständig aufgeführt. Zu den unregelmäßig komparierten Adjektiven gehören zunächst diejenigen, die mit Suppletivformen arbeiten: viel - mehr - am meisten gut - besser - am besten gern - lieber - am liebsten bald - eher - am ehesten und (veraltet) wenig - minder - am mindesten. Hinzu kommen zwei Adjektive, die bei der Steigerung einen lautlichen Wechsel aufweisen: hoch - höher - am höchsten und nah - näher - am nächsten. Die Möglichkeiten zur syntaktischen Einbettung einer Komparativform entsprechen - von Sonderfällen abgesehen - denen anderer Adjektivformen. Auch in diesem Fall reicht zur Behandlung der Phänomene, um die es hier gehen soll, eine einfache, grobe Einteilung in drei Kategorien aus: 1. attributiv: „das schnelle Auto", 2. prädikativ: „das Auto ist schnell" und 3. adverbial: „das Auto fährt schnell". Gegenüber dem Positiv weisen Komparativformen aber noch eine wichtige Besonderheit auf: Eine Komparativform eröffnet in den meisten Fällen einen syntaktischen Slot als Option zur Einführung einer Vergleichsgröße: „Ein Porsche ist schneller als ein BMW." Bei Verwendung eines Adjektivs im Positiv muß man demgegenüber zu einer Hilfskonstruktion in Gestalt des kleinen, vielseitig verwendbaren Wörtchens „so" greifen, um syntaktisch eine Vergleichsgröße einführen zu können: „Ein Porsche ist so schnell wie ein BMW." Der Vergleichs-Slot wird also entweder durch eine Flexionsform oder durch ein Hilfspartikel eröffnet. Bereits diese einfachen Kategorien reichen aus, um bei der Untersuchung des Spracherwerbs interessante Beobachtungen machen zu können. Um so verwunderlicher ist es, daß wohl seit den Untersuchungen des Ehepaars Stern von 19286 niemand mehr explizit und detailliert die Aneignung sprachlicher Strukturformen im Bereich der Adjektivgrammatik des Deutschen untersucht hat.
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s. Stern (1928).
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3. Die Datengrundlage: das Rigol-Korpus
Bevor wir uns mit der Rolle des Schreibenlemens in der ontogenetischen Entwicklung der Grammatik beschäftigen können, möchte ich zunächst einige allgemeine Befunde aus der Spracherwerbsforschung referieren, die die Anwendung eines neuen Theoriemodells nahelegen, das dann für den Einflußbereich des Schreibenlernens extrapoliert werden kann. Erst in einem zweiten Schritt komme ich dann auf die weiteren Schlüsse für den Gegenstand dieser Arbeit zurück, die das Modell erlaubt. Die im Folgenden referierten Daten entstammen einem von Rosemarie Rigol zusammengestellten Korpus zur Kindersprache. Rosemarie Rigol hat das Sprechen von 21 Kindern teilweise von Geburt an bis zur Einschulung oder etwas darüber hinaus - dokumentiert, indem sie alle 14 Tage eine mehrstündige Videoaufzeichnung der kommunikativen Interaktionen der Kinder angefertigt hat. Die Videos zeigen die Kinder sowohl im Spiel miteinander als auch im Spiel und im Gespräch mit Erwachsenen. Darüber hinaus umfaßt das Material Aufzeichnungen von gezielten, als empirische Settings konzipierten Sitzungen mit den Kindern zu bestimmten sprachlichen Themen. Der größte Teil des Materials liegt bereits in transkribierter und maschinell verarbeitbarer Form vor. Die besondere Leistungsfähigkeit des Korpus besteht darin, daß das Material sowohl Längsschnitt- wie auch Querschnittsuntersuchungen mit den gleichen Probanden und dem gleichen Sprachmaterial ermöglicht. Für die Untersuchung, deren Ergebnisse in diesem Beitrag kurz skizziert werden sollen, wurde lediglich ein kleiner Ausschnitt aus der von Rosemarie Rigol zusammengestellten Materialfülle verwendet. Es handelt sich um ein Teilkorpus von 300.000 laufenden Textwörtern. Aufgenommen in diese Auswahl wurden nur frei gesprochene Texte aus alltäglichen Sprechsituationen (in der Regel dem Spiel mit Freunden, Geschwistern und Eltern) aus der Zeit zwischen dem 24. und dem 84. Lebensmonat. Der erste Schritt der Auswertung bestand aus einer Reihe von Querschnittsuntersuchungen, für die der Zeitraum zwischen dem 24. und dem 84. Lebensmonat in 10 sechsmonatige Abschnitte unterteilt wurde. Alle in das Teilkorpus aufgenommenen Kinderäußerungen, die von einem Kind innerhalb des jeweiligen Lebensabschnittes gemacht wurden, sind jeweils zu einem Textblock zusammengefaßt worden. Gleichzeitig war es jedoch jederzeit möglich, zurückzuverfolgen, welche Äußerung von welchem Kind stammt. Die so entstandenen Textblöcke wurden von Hand durchgesehen und alle potentiellen Kandidaten für eine Klassifizierung als Komparativform für verschiedene spätere maschinelle Auszählungen indiziert. Eine gebührende Behandlung der Problematik der Klassifizierung von Wortformen aus gesprochenen Kindertexten, die unter Umständen bereits bei der Frage beginnt, was in den Kindertexten überhaupt als ein eigenständiges Wort angesehen werden darf, paßt leider nicht in den Rahmen dieses Beitrages. Folgende Frage mag stellvertretend für eine Reihe von anderen die Problematik verdeutlichen: Handelt es sich bei der Form „schneller" in der Phrase „ein schneller Wagen" um eine Komparativform oder nicht? Auf den ersten Blick scheint diese Frage unsinnig zu sein. Auf den zweiten Blick aber muß man einräumen, daß „schneller" hier sowohl die korrekt deklinierte Positivform, als auch die korrekt gebildete Komparativform sein kann, bei der das Kind lediglich auf die zusätzlich notwendige Deklinationsendung verzichtet hat. Wenn man Problemfälle dieser Art diskutiert, muß man sich
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allerdings darüber im Klaren sein, daß auch, wenn die Phrase „ein schnellerer Wagen" gelautet hätte, man aus dem Vorkommen der Äußerung nicht sofort schließen dürfte, daß das Kind hier eine Komparativform gemeint hat; es läge dann lediglich eine Form vor, die von uns die Äußerung grammatisch analysierenden Erwachsenen als Komparativform klassifiziert würde. Was das Kind „meint" ist der Äußerung unmittelbar nicht zu entnehmen; die Klassifizierung als Komparativ interpretieren wir als Erwachsene zunächst in die Äußerung hinein. In vielen Fällen erlaubt allerdings eine Analyse des Äußerungskontextes, eine begründete Mutmaßung darüber anzustellen, was das Kind „tatsächlich meint". Bestätigt der Äußerungskontext die Klassifizierung als Komparativform, so kann man wohl getrost annehmen, daß das Kind eine Komparativform „meint", und zwar unabhängig davon, ob die Form innerhalb dieser Phrase nun „schneller" oder „schnellerer" lautet. Im Rahmen der hier skizzierten Untersuchung sind Überlegungen dieser Art allerdings zunächst gar nicht relevant. Im ersten Untersuchungsschritt geht es hier nur darum, diejenigen Formen zu indizieren, die von erwachsenen Sprechern, die mit dem Kind interagieren, als Komparativformen analysiert werden könnten. Warum dies eine plausible und erlaubte Zugehensweise ist, wird deutlich werden, sobald wir zur Interpretation der Untersuchungsergebnisse kommen. Nach einer statistischen Auswertung der somit nun indizierten Komparativformen konnte im zweiten Schritt der Untersuchung die individuelle Aneignung der als Komparativ klassifizierten sprachlichen Strukturformen beim einzelnen Kind im Lichte der statistisch gewonnenen Daten verfolgt werden.
4. Erste Beobachtungen der Aneignung komparativischer Sprachstrukturformen
Zu Beginn des Untersuchungszeitraumes, im 24. Lebensmonat, sind einige wenige formal als Komparative klassifizierbare Formen im Sprechen der Kinder bereits vorhanden. Bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres weisen die Verwendungen dieser Formen allerdings einige Besonderheiten auf. Vor allem tauchen - mit einer Ausnahme, nämlich dem Wörtchen „weiter", das immer eine Sonderrolle spielt - ausschließlich unregelmäßig gebildete Komparativformen auf wie „mehr", „lieber" und „besser". Vereinzelt im Laufe des dritten und verstärkt im Laufe des vierten Lebensjahres kommen dann regelmäßig gebildete Komparativformen hinzu. Sobald dann gegen Ende des vierten Lebensjahres der statistische Anteil von Komparativformen an der gesamten Wortmenge des Gesprochenen gegenüber der Sprache der Erwachsenen keine großen Auffälligkeiten mehr aufweist, wird meist die grammatische Entwicklung der Kinder in diesem Sektor als abgeschlossen betrachtet. In Ihrem Kommentar zum Videotransskript notiert Rosemarie Rigol über die 45 Monate alte Corinna: „Bei ihr ist die grammatische Sprachentwicklung komplett; jetzt interessieren nur noch die Themen." Erst eine sehr eingehende Betrachtung des Sprechens von Kindern in diesem Alter auf der Basis eines derart umfangreichen Materials, wie sie das Korpus von Rosemarie Rigol bietet, zeigt, daß diese erste Einschätzung wohl falsch war. Gerade in den Kernbereichen der Grammatik werden entscheidende Entwicklungsschritte hin zu einer uneingeschränkten
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Verfügbarkeit grammatischer Formen - wie sie beim erwachsenen Sprecher zu finden ist erst nach Vollendung des sechsten Lebensjahres vollzogen. Auf dem Weg dorthin muß eine Kette von Entwicklungsschritten gegangen werden, in deren weiterem Verlauf auch das Schreibenlernen eine wichtige Rolle spielt. Daß ein Kind am Ende des vierten Lebensjahres noch nicht über die gleichen sprachlichen Fertigkeiten verfügt, wie ein Erwachsener, dürfte niemanden überraschen. Was man Kindern dieses Alters jedoch häufig bescheinigt, ist, daß sie im Kernbereich der Grammatik über alle „Bauelemente" ihrer Muttersprache verfügen. Die weitere Entwicklung wird häufig vor allem auf den Gebieten der syntaktischen Komplexität (d.h. u.a. die Menge der miteinander verknüpften „Bauelemente") und im Bereich des Wortschatzes gesehen. Daß das nicht so ist, wird erst deutlich, wenn man sich das Sprechen der Kinder auf breiter Basis sehr genau ansieht. Die Verwendung von als Komparativ klassifizierten Formen weist bis zur Vollendung des fünften Lebensjahres bei näherer Betrachtung einige interessante Eigenschaften auf: - Regelmäßige Komparativformen („größer", „schneller", „böser") werden fast ausschließlich prädikativ verwendet. - Die unregelmäßigen Komparativformen werden prädikativ und adverbial verwendet, was dazu führt, daß sie den adverbialen Bereich fast vollständig beherrschen. - In attributiver Verwendung erscheint fast ausschließlich das Wörtchen „mehr" (ca. 7% aller verwendeten Komparativ-Tokens), und zwar in Gestalt des universellen Operators, der bereits aus der Phase der Zweiwortäußerungen bekannt ist und der über diese Phase hinaus noch viele Jahre lang Verwendung findet. (z.B. Corinna (45; 3): „hier sin Schlafzimmer / ein Schlafzimmer / zwei Schlafzimmer / mehr Schlafzimmer", Sebastian (49; 27): „aber erst muß ich noch mehr blume", Jan (50; 1): „ich hab mehr Würste") - Von einem Beleg abgesehen („das dauert länger als..."), der als ein unsegmentierter Phraseologismus angesehen werden kann, wird mit „als" ausschließlich an prädikativ verwendete Komparative angeschlossen. Durch diese und noch einige andere, weniger wichtige Punkte unterscheidet sich die Verwendung der Komparativformen nach angeblich „abgeschlossener grammatischer Sprachentwicklung" sowohl von der Verwendung von Komparativformen im Sprechen von Erwachsenen, als auch davon, wie die selben Kinder wenige Monate später die gleichen Komparativformen verwenden. Wichtig ist es, zu beachten, daß die eben aufgezählten Eigenschaften der Verwendung von Komparativen im Sprechen von Kindern bis zur Vollendung des fünften Lebensjahres, durch die sie sich von Komparatiwerwendungen von Erwachsenen unterscheiden, alle darin bestehen, daß ein großer Teil der Möglichkeiten, die das grammatische System theoretisch bietet und die von Erwachsenen auch genutzt werden, im Sprechen der Kinder nicht zu finden sind. Von Abweichungen und „Fehlern" in Bildung und Verwendung des Komparativs kann hingegen ausdrücklich keine Rede sein. Sowohl die Komparativbildung als auch die Komparativverwendung weist bei den Kindern der besprochenen Altersgruppe so gut wie keine grammatischen Unregelmäßigkeiten, Abweichungen oder auch nur Unkonventionalitäten auf. Ferner fällt der Umstand, daß die Kinder die Möglichkeiten des
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grammatischen Systems weniger intensiv ausschöpfen, als erwachsene Sprecher dies tun, bei vorwissenschaftlichen Alltagsbeobachtungen wenig bis gar nicht ins Auge. In der Regel kurz nach Vollendung des fünften Lebensjahres (wobei der Zeitpunkt von Kind zu Kind um mindestens sechs Monaten schwanken kann) erfährt dieser Umstand jedoch eine überraschend plötzliche Veränderung. Bemerkenswerterweise zeigen sowohl der Bereich der Komparativverwendung als auch der Bereich der Komparativbildung innerhalb weniger Wochen ein völlig verändertes Bild: - Die explizite Nennung von Vergleichsgrößen wird nun sowohl an prädikativ verwendete als auch an adverbial verwendete Komparative angeschlossen. - Der bisher ausschließlich korrekt mit „als" konstruierte Anschluß wird innerhalb weniger Wochen plötzlich in ungefähr der Hälfte aller Fälle mit „wie" gebildet, also nach dem Vorbild des Anschlusses, der in mit dem Positiv gebildeten Vergleichskonstruktionen seit Vollendung des dritten Lebensjahres im Sprechen der Kinder vorkommt. - Der Anteil der mit „wie" gebildeten Anschlüsse an den Vergleichskonstruktionen mit aufgefülltem Slot für die Vergleichsgröße beginnt bereits nach wenigen Wochen wieder deutlich abzusinken und unterschreitet ca. ein Jahr nach dem plötzlichen Auftauchen dieses Anschlusses wieder die 15%-Marke. Gänzlich verschwindet er allerdings im Untersuchungszeitraum nicht mehr. - Genau zeitgleich mit den syntaktischen Veränderungen tauchen plötzlich auch Veränderungen in der Bildung der Komparativformen auf, und zwar in Gestalt der sog. „Übergeneralisierungen". Phänomene dieser Art kommen im Bereich der Komparativbildung vor der beschriebenen Umbruchphase nach Vollendung des fünften Lebensjahres nicht vor; dann aber erscheinen sie fur einige Wochen oder (in wenigen Fällen) auch Monate sehr häufig im Sprechen der Kinder. Bei Alisa trat die Erscheinung relativ spät in ihrer Entwicklung auf: Alisa (80; 17): „hm / die hat vieler als ich". Ein besonders interessanter Beleg stammt aus der Phase kurz vor dem endgültigen Verschwinden der Übergeneralisierungen: Alisa (82; 23): „Vanille trink ich besser / gerner als dieses andere Zeuch". Gerade die Selbstverbesserung erlaubt hier einen Blick hinter die Kulissen des ablaufenden Aneignungsprozesses. Die vorgefundenen Daten aus dem Bereich der Aneignung sprachlicher Strukturformen im Bereich der Komparativgrammatik lassen sich sicherlich in verschiedener Weise deuten. Die Interpretation, die ich im Rahmen dieses Beitrages vorschlagen möchte, zeichnet sich allerdings meiner Ansicht nach dadurch aus, daß sie in besonders plausibler Weise Prozesse der hier angesprochenen Art beschreibt.
5. Rekodierungen in der Aneignung sprachlicher Strukturformen
In der kognitionswissenschaftlich ausgerichteten Spracherwerbsforschung sind ebenso wie in der Psychologie Prozesse mit einer Symptomaktik, wie ich sie eben geschildert habe, durchaus nicht unbekannt. Man spricht in diesem Zusammenhang von den sog. „U-Kurven":
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- Ein Kind erwirbt die Fähigkeit, eine bestimmte sprachliche Konstruktion in einem fest vorgegebenen kontextuellen Rahmen zu gebrauchen. - Für die Verwendung dieser Konstruktion gibt es zunächst eine ganze Reihe von Beschränkungen, die sich aus dem vorgegebenen Kontextrahmen ergeben, d.h. die Konstruktion kann nur in einem bestimmten kleinen Teilbereich aus dem ihr gebührenden Einsatzrepertoire bei erwachsenen Sprechern vom Kind tatsächlich verwendet werden. - In den Fällen, in denen das Kind allerdings die Konstruktion verwendet, geschieht dies absolut konventionskonform und fehlerfrei. - Nach einer längeren Phase, in der das Kind die Konstruktion unter diesen Bedingungen sehr erfolgreich in der Kommunikation eingesetzt hat, treten - nachdem eventuelle Beobachter den entsprechenden sprachlichen Bereich bereits als komplett erworben eingestuft haben - dort plötzlich zahlreiche Unkonventionalitäten und Abweichungen von der Norm auf, die häufig die Gestalt von Übergeneralisierungen haben. - Nach einer relativ kurzen, dem Beobachter chaotisch erscheinenden Phase verschwinden die Abweichungen wieder. Mit ihnen verschwinden aber auch die Verwendungsbeschränkungen, denen der Einsatz der betreffenden Konstruktion bis zu diesem Zeitpunkt noch unterworfen war. Das Kind ist nun in der Lage, von der sprachlichen Konstruktion freien, produktiven und konventionskonformen Gebrauch machen, und zwar nicht nur dergestalt, daß jede vorkommende Verwendung der Konvention entspricht (was ja auch vorher schon zutraf), sondern vor allem auch dergestalt, daß das Kind nun die Konstruktion überall dort gebrauchen kann, wo die Konvention es erlaubt (was vorher nicht möglich war). Schon vor einiger Zeit hat die in London lehrende Psychologin Annette Karmiloff-Smith Phänomene dieser Art beschrieben.7 Um sie theoretisch fassen zu können, hat sie das RRModell entwickelt, das mit Prozessen der „representational redescription" arbeitet. Im deutschen Sprachraum wird dafür häufig auch der Terminus „Rekodierung" verwendet. Im Folgenden möchte ich nun nicht nur das RR-Modell von Annette Karmiloff-Smith kurz skizzieren und erklären, was genau unter „Rekodierung" zu verstehen ist, sondern vor allem auch zeigen, daß das Modell mit einigen (zum Teil größeren) Änderungen hervorragend dazu geeignet ist, gerade solche Aneignungsprozesse von sprachlichen Strukturformen zu beschreiben, in denen das Schreibenlernen eine wichtige Rolle spielt. Gemeinhin geht man davon aus, daß es in einem Bereich sprachlicher Strukturformen, in dem vom Kind verwendete sprachliche Muster über eine gewisse Zeit hinweg erfolgreich in der Kommunikation eingesetzt wurden, zu keiner Umstrukturierung oder Neubildung von sprachlichen Mustern kommt, daß also in diesem Bereich die Aneignung sprachlicher Strukturformen abgeschlossen ist. Das RR-Modell hingegen besagt, daß das nicht so ist, sondern daß erst die (mehrfache) Rekodierung sprachlicher Muster, die schon eine gewisse Zeit lang erfolgreich in der Kommunikation eingesetzt wurden, dem Sprecher die Palette der Möglichkeiten aufschließt, die System und Konvention der Sprache aus dem Blickwinkel des Beobachters theoretisch bereitstellen. Gemäß des RR-Modells eignet sich ein Kind ein sprachliches Muster zunächst als relativ unstrukturierte Einheit an, die es allerdings nach relativ kurzer Zeit schon kommunikativ beherrscht. Diese Beherrschung des Musters in der Kommunikation hat dann zunächst den 7
s. Karmiloff-Smith (1992).
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Status einer impliziten Fähigkeit, die das Kind nur in dem Rahmen (oder wie KarmiloffSmith sagt: in der Domäne) anwenden kann, in der es das Muster erworben hat, auf die es keinen bewußten Zugriff hat und die es natürlich auch nicht zum Gegenstand einer Metakommunikation machen kann (I-Level). Wenn die Muster des I-Levels eine Zeitlang erfolgreich in der Kommunikation eingesetzt wurden, kann - durch verschiedene auslösende Faktoren verursacht - der Prozeß einer Rekodierung beginnen. Die kommunikativ beherrschten sprachlichen Strukturformen werden zunächst unbewußt, auf höheren Rekodierungsstufen später u. U. auch bewußt - reanalysiert und parallel zu dem bereits bestehenden sprachlichen Mustern ein neues sprachliches Muster angelegt. Die durch Rekodierung entstandenen Muster gehören dem expliziten Level (Ε-Level) an, das sich selbst noch einmal in drei Ebenen unterteilen läßt: - El: einfacher, domänenübergreifender Mustereinsatz - E2: bewußtseinsfMhiger Mustereinsatz - E3: metakommunikativ behandelbarer Mustereinsatz Nach Annette Karmiloff-Smith ist es das Ziel des Rekodierungsprozesses, in allen Bereichen der sprachlichen Strukturformen Muster des E3-Levels anzulegen. Wenn dies geschehen ist, regeln die Muster des E3-Levels das aktuelle Sprechen und Verstehen. Die Muster niedrigerer Rekodierungsstufen bis hin zum I-Level bleiben allerdings latent vorhanden und können bei Bedarf revitalisiert werden. Entgegen dieser Auffassung möchte ich jedoch hier die These vertreten, daß Muster höherer Rekodierungsstufen immer nur als zusätzliche Optionen zur Verfügung gestellt werden. Im alltäglichen Sprechen hingegen werden immer so einfache und globale Muster wie möglich eingesetzt, d.h. auch beim erwachsenen Sprecher bilden die Muster des ILevels die Basis des Sprechens; das Sprechen geht von ihnen aus; nur wenn die Möglichkeiten, die das I-Level bietet, nicht den kommunikativen Anforderungen genügen, greift der Sprecher zu Mustern höherer Rekodierungsgrade. Nur bei konkretem, aus der Kommunikation erwachsendem Bedarf wird auf komplexere, abstraktere und variablere Muster höherer Rekodierungsstufen zurückgegriffen. Je höher rekodiert die Muster dann sind, die ein Sprecher verwendet, desto eher kann ihm auch der Formaspekt der Sprache bewußt werden. Wenn jedoch kein konkreter kommunikativer Bedarf nach komplexen, abstrakten und variablen Mustern besteht, „übersieht" der Sprecher den Formaspekt der Sprache - er verwendet dann meist nicht die dem Bewußtsein zugänglichen Muster des E2 und E3-Levels - und betrachtet nur den kommunikativen oder inhaltlichen Wert einer Äußerung. Während die Rekodierung, die vom I-Level zum El-Level führt, ein Schritt ist, der bei den allermeisten Kindern zu einem relativ ähnlichen Zeitpunkt vollzogen wird, läßt sich für die weiteren Rekodierungen in zunehmendem Maße schlechter voraussagen, wann sie vollzogen werden. Vor allem bei der Rekodierung, die von E2 zu E3 führt, ist keinesfalls sicher, ob sie überhaupt vollzogen wird. Verschiedenste Aspekte des Schreibenlernens können dabei wichtige auslösende Faktoren für Rekodierungen sein. Niemals jedoch sind es nur Aspekte des Schreibenlernens, die eine Rekodierung auslösen können; immer gibt es zumindest theoretisch auch noch andere Möglichkeiten. In einer literalisierten Kultur aber wird das Schreibenlernen auf jeden Fall zu einem „Turbolader" für Rekodierungsprozesse, der die Entwicklung erheblich beschleunigt und deutlich weiter treibt, als dies ohne das
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ob sie überhaupt vollzogen wird. Verschiedenste Aspekte des Schreibenlernens können dabei wichtige auslösende Faktoren für Rekodierungen sein. Niemals jedoch sind es nur Aspekte des Schreibenlernens, die eine Rekodierung auslösen können; immer gibt es zumindest theoretisch auch noch andere Möglichkeiten. In einer literalisierten Kultur aber wird das Schreibenlernen auf jeden Fall zu einem „Turbolader" für Rekodierungsprozesse, der die Entwicklung erheblich beschleunigt und deutlich weiter treibt, als dies ohne das Schreibenlernen geschehen würde. Zumindest theoretisch könnte aber jede Rekodierung auch ohne das Schreibenlernen vollzogen werden. Ferner kann die Gestalt des Musters, das als Ergebnis aus dem Rekodierungsprozeß hervorgeht, durch die Literalität bestimmt sein, indem es beispielsweise mit Kategorien operiert, die die Literalität erst hervorbringt. Das Schreibenlernen bestimmt also nicht zwangsläufig das Ob, wohl aber das Wie und Wohin höherer Rekodierungen. Die oben geschilderten Beobachtungen aus dem Bereich der Aneignung sprachlicher Strukturformen im Bereich der Komparativgrammatik lassen sich hervorragend mit einem auf entsprechende Weise modifizierten RR-Modell beschreiben: - Das Kind erwirbt zunächst Komparativformen unabhängig von jedem Komparativparadigma, meist als Teil fester Ausdrucksverbindungen, die vor allem in ganz bestimmten Kontexten gebraucht werden können. Ein gutes Beispiel dafür ist das Wörtchen „mehr", das bereits seit der Phase der Zweiwortäußerungen als universeller Operator aus Äußerungen wie „mehr Milch", „mehr Mama" und „mehr Auto" bekannt ist. Häufig vorkommende und früh beherrschte Verbindungen wie „will lieber" sind auch in diesem Zusammenhang zu nennen. - Unabhängig von diesen Verwendungsmustern erwirbt das Kind regelmäßige Bildungsmuster fur Komparativformen. Die auf diese Weise neu gebildeten Wortformen werden aber nur in prädikativer Stellung gebraucht, d.h. die Anwendung von Bildungsmustern ist auf den prädikativen Gebrauch beschränkt. - Die Anwendung der komplizierten Adjektiv-Flexion (Überlagerung von Komparation und Deklination), die in attributiver Stellung notwendig würde, kommt zunächst nicht vor. (Die notwendigen Muster für die reine Deklination der Adjektive werden allerdings schon früher erworben, als die Muster, die mit der Bildung der Komparativformen zu tun haben.) - Nach einigen Monaten des beziehungslosen Nebeneinander von Mustern zur Bildung und solchen zur Verwendung des Komparatives kommt es zu einer Rekodierung dieser Muster, die eine Verbindung zwischen den beiden Bereichen schafft. An der Formoberfläche des Sprechens zeigt sich dieser Vorgang dem Beobachter vor allem durch zwei Symptome: 1) Die Grenzen der Domänen, in denen die Muster bis zu diesem Zeitpunkt eingesetzt werden konnten, brechen auf, und die Muster werden plötzlich in vielfältiger Weise domänenübergreifend eingesetzt. 2) Während der kurzen Umbruchphase wird der Einsatz neuer Muster trainiert, und wie beim Training der alten Muster kann es zu auffälligen Abweichungen von den Formerwartungen der erwachsenen Beobachter kommen. Auch zur Unterstützung der These, daß es die Muster des I-Levels sind, denen die Führungsrolle im alltäglichen Sprechen zukommt, lassen sich im Bereich der Komparativgrammatik Evidenzen finden. Für eine solche Führungsrolle spricht beispielsweise, daß in der
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6. Weitere Rekodierungen und der Einfluß des Schreibenlernens
Bei den von mir betrachteten Kindern ist die Entwicklung bis zur Vollendung des siebten Lebensjahres - dem Zeitpunkt, zu dem die Aufzeichnungen von Rosemarie Rigol in der Regel enden - mindestens bis zu dem gerade beschriebenen Punkt fortgeschritten. Das RRModell nach Annette Karmiloff-Smith läßt allerdings deutlich erwarten, daß der Endpunkt der Entwicklung in diesem Bereich bei Weitem noch nicht erreicht ist. Auf der Basis des modifizierten Rekodierungsmodells läßt sich ein Szenario der weiteren Entwicklung entwerfen. Auch wenn das bisher gesichtete Material bereits einige Anzeichen dafür enthält, daß das Szenario die tatsächliche Entwicklung einigermaßen gut wiedergibt, bleibt eine detaillierte empirische Untersuchung einem größeren Projekt vorbehalten. Bisher war ja nur die Rekodierung Gegenstand der Betrachtung, die vom I-Level zum El-Level fuhrt. Um nun von El nach E2 zu gelangen, bedarf es einer weiteren Rekodierung, bei der nun das Schreibenlernen einhakt. Zwar würde ein weiterer Rekodierungsschritt höchstwahrscheinlich auch ohne das Schreibenlernen erfolgen, doch nicht zu einem so frühen Zeitpunkt. Ferner bestimmt in unserer Kultur das Schreibenlernen entscheidend das Wie dieser Rekodierung; die zweite Rekodierung wird letztlich vom Schreibenlernen geformt. Das Schreibenlernen fördert stark die Reanalyse von bereits häufig und erfolgreich in der Kommunikation eingesetzten sprachlichen Mustern durch das Kind. Durch die physische Materialisation von Sprache wird der Formaspekt insgesamt und die Details der sprachlichen Formgebung speziell erheblich leichter beobachtbar. Auf der Basis dieser neugewonnenen Beobachtbarkeit entwickelt das Kind eine Vorstellung davon, wie Sprache funktioniert. Diese Vorstellung ist von einer Reihe von Faktoren geprägt, die alle mehr oder weniger mit der Literalität unserer Kultur zusammenhängen. Zu nennen sind da beispielsweise: a) die soziokulturell tradierte Sprachkonzeption, b) die durch den Umgang mit der Schrift geprägten Reaktionen der Erwachsenen auf das Sprechen der Kinder und c) der eigene Umgang der Kinder mit Schrift und Schreiben. Durch die Punkte b) und c) wird die soziokulturell tradierte Sprachkonzeption individuell konkretisiert. Man kann hier auch im Anschluß an Michael Silverstein8 von einer „linguistischen Ideologie" sprechen. Eine Sprachkonzeption, die ein soziokulturell tradiertes Vorstellungsbild von dem ist, was Sprache und Sprechen ausmacht - ein Erklärungsmodell, das nichts über das Funktionieren von Sprache und Sprechen aussagt, sondern nur darüber, wie die Sprechergemeinschaft kulturell bedingt über diese Phänomene denkt wird vom Individuum internalisiert und für sich dergestalt konkret verfügbar gemacht, daß das Individuum aus der Sprachkonzeption heraus Routinen ableiten kann, die tatsächlich praktisch im Sprechen einsetzbar sind, ohne daß die Vorstellungen mit dem Funktionieren des Sprechens übereinstimmen müssen. Das Kind versteht es nun, die linguistische Ideologie nicht nur für die Metakommunikation, sondern auch für das Sprechen selbst nutzbar zu machen. Dieser Vorgang hat die Form einer Rekodierung: Die in praktische Fertigkeiten umgesetzte Ideologie bildet neue sprachliche Muster der Stufe E2, die nun parallel zu den El - und I-Level-Mustern zur Verfügung stehen. (Nur diese Muster bilden den Ausgangspunkt für jenes Sprechen, das den Charakter einer Symbolmanipulation bekommen kann.) 8
s. Silverstein (1979).
Rekodierungen auf dem Weg zum „ Komparativ "
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Die rekodierten Muster des E2-Levels sind zunächst nur im Bereich geschriebener Sprache verfugbar, da es die Welt der Schriftlichkeit ist, in der sie erworben und ausgebaut werden. Nach kurzer Zeit können sie aber bei Bedarf auch im Bereich des Gesprochenen eingesetzt werden. Allerdings darf man nun nicht etwa annehmen, daß diese „höher entwickelten" Rekodierungsstufen für das alltägliche Sprechen die Führungsrolle übernehmen würden, wenn sie erst einmal zur Verfügung stehen; vielmehr sind sie nur Optionen, auf die der Sprecher bewußt zurückgreifen kann, wenn sich für ihn aus der laufenden Kommunikation heraus ein konkreter Bedarf ergibt. Im kognitiven Prozessieren gesprochener Sprache sind rekodierte Muster um so unwichtiger, j e komplizierter und abstrakter sie rekodiert sind (d.h. je höher die Rekodierungsstufe ist, der sie angehören). Im Fall der geschriebenen Sprache ist es aber umgekehrt; hier sind die abstrakter rekodierten Muster von größerer Bedeutung und wahrscheinlich kommt ihnen auch die Führungsrolle zu. 9 Aus der Untersuchung der Entwicklung komparativischer Sprachstrukturformen lassen sich tatsächlich zwei Befunde anführen, die diese These stützen: 1) Der Anteil attributiv verwendeter Komparative liegt in den geschriebenen Texten mit einem Durchschnittswert von ca. 50% deutlich höher als mit ca. 10% in den gesprochenen Texten. Die Ursache dafür könnte darin zu suchen sein, daß attributiv verwendete Komparative eine erheblich komplexere grammatische Strukturform fordern (u.a. durch die Überlagerung zweier Flexionen oder durch die oben schon erwähnte Problematik des als -Anschlusses) als adverbial oder prädikativ verwendete. Diese höhere Komplexität erfordert vielleicht den Einsatz höher rekodierter Muster, die bei jüngeren Kindern noch nicht vorhanden sind (was dazu fuhrt, daß die Kinder nur ganz bestimmte komparativische Formen attributiv verwenden) und die, wenn sie später vorhanden sind, im Schreiben deutlich häufiger eingesetzt werden als im Sprechen, weil das Schreiben eine Form der sprachlichen Betätigung ist, an der das Bewußtsein einen erheblich höheren Anteil hat als am Sprechen. 2) Auch das Gegenstück zu diesem Fall läßt sich beobachten: In der gesprochenen Sprache kommen sehr niedrigkomplexe Formen mit einem weiten Feld der Einsatzmöglichkeiten erheblich häufiger vor, als in der geschriebenen: Ein gutes Beispiel ist die vielfältige Verwendung des Wörtchens „mehr". Die Wortartenzuordnung eines einzelnen Tokens ist in diesem Falle häufig recht schwer, was eigentlich nicht der Fall sein sollte, wenn den entsprechenden Verwendungen rekodierte Muster des E2 oder E3-Levels zugrunde lägen.
9
Eventuell liegt hier auch die Ursache dafür, daß man überhaupt ein Phänomen wie die Schriftsprache als spezielle Ausprägung einer Einzelsprache beobachten kann. Die Schriftsprache als spezielle Ausprägungsform muß dabei nicht zwangsläufig ausschließlich in geschriebener Form vorkommen. Ebensowenig ist jedes Stück geschriebene Sprache eine Manifestation der Schriftsprache. (Immer dann, wenn man über ein Stück geschriebene Sprache sagen möchte: „Das kann man zwar sagen, aber so nicht Schreiben!", beobachten wir eine Diskrepanz zwischen dem Geschriebenen und den Erwartungsnormen der Schriftsprache.) Interessant sind immer die Fälle, in denen spezielle Eigenschaften der Schriftsprache im Gesprochenen in Erscheinung treten. Es muß allerdings anderen, zukünftigen Untersuchungen vorbehalten bleiben, zu überprüfen, ob die Ursache für diese Phänomene darin zu suchen ist, daß E2 und E3 Muster in speziellen Fällen die Führungs- rolle übernehmen und sie kurzzeitig die im alltäglichen Sprechen normalerweise führenden Muster des I-Levels zurückdrängen.
104 „Das Julchen war mehr so ne Schäferhundmischling. „Brauch ich nicht mehr" „Ist noch mehr da? " „Es war niemand mehr da. " u s w . 1 0
Klaus-Peter
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Da jeder Versuch einer systematischen grammatischen Behandlung dieser Fälle problematisch ist, wäre es höchst unplausibel anzunehmen, daß diesen Fällen hochabstrakte Muster des E2- oder gar E3-Levels zugrundelägen, die ja zumindest einen bewußten oder gar metakommunikativen Zugriff erlauben müßten. Vielmehr scheint es hier plausibel zu sein, von zugrundeliegenden Mustern des I-Levels auszugehen. Wenn man nun - nur um einen Vergleich der Tendenzen zwischen geschriebener und gesprochener Sprache deutlich zu machen - das Wörtchen „mehr" in jedem Fall als Komparativ behandeln würde, was wohl höchst wahrscheinlich falsch wäre, dann ergäbe sich folgendes interessante Bild: „Mehr" würde dann zwischen 50% und 80% aller Komparativtokens der gesprochenen Kindertexte in den verschiedenen Altersgruppen ausmachen. Hingegen läge dieser Wert für die geschriebenen Texte - von sehr wenigen Ausnahmen besonders interessanter einzelner Texte abgesehen - unter 5%. Selbst wenn man nun davon ausgehen muß, daß sich bei weitem nicht alle Vorkommen des Wörtchens „mehr" als komparativische Sprachstrukturformen behandeln lassen, ist der Unterschied zwischen den beiden Werten fur die geschriebene und gesprochene Sprache immer noch so groß, daß eine nicht zu übersehende Tendenz hier deutlich wird. Dadurch weißt auch dieser Befund eindeutig darauf hin, daß in der gesprochenen Sprache die Führungsrolle bei den Mustern des I-Levels liegt, während in der geschriebenen Sprache verstärkt Muster aus verschiedenen Ε-Levels zum Einsatz kommen.
7. Die ontogenetische Selbstorganisation der Grammatik
Die Betrachtung der letzten Rekodierung, die vom E2- zum E3-Level fuhrt, läßt sich sehr kurz fassen. Auch bei diesem Schritt kommt dem Schreibenlernen eine wichtige Rolle zu. Die dritte Rekodierung versetzt das Kind in die Lage, nicht nur sich die Muster, die es im Prozessieren von Sprache gebraucht, bewußt zu machen, sondern auch über sie zu sprechen. Die dritte Rekodierung stellt metasprachliches Material zur Verfugung, das es erlaubt, über Sprachstrukturformen und Grammatik zu sprechen. Dieses Material kann dem von wissenschaftlichen Grammatikern gebrauchten mal mehr und mal weniger ähnlich sein. Ob Kinder in ihrer Entwicklung diesen dritten Rekodierungsschritt überhaupt vollziehen und wie wissenschaftlich oder unwissenschaftlich ihr Sprechen über Grammatik dann ist, ist individuell derartig unterschiedlich, daß sich für den Einzelfall keine gültigen und plausiblen Aussagen mehr treffen lassen. Bei sehr vielen Menschen wird es zweifellos in den allermeisten Bereichen der Grammatik gar nicht zu dieser dritten Rekodierung kommen. Wenn sie jedoch 10
Daß „mehr" in einigen dieser Fälle unter Systemaspekt vielleicht gar nicht als Komparativ analysiert werden kann, spielt in unserem Zusammenhang keine Rolle. Wichtig ist nur, daß das Wörtchen durch den reinen Formaspekt im Erwerb in den hier behandelten Bereich hineinspielt.
Rekodierungen auf dem Weg zum
„Komparativ"
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vollzogen wird, sind der Umgang mit in der Schrift materialisierter Sprache und sogar expliziter, schulischer Grammatikunterricht Einflußfaktoren, die zunächst - neben anderen denkbaren Größen - zum Auslöser einer dritten Rekodierung werden können und die dann vor allem das Wie dieser Rekodierung bestimmen. Abschließend kann man nun also festhalten, daß die ontogenetische Entwicklung der Grammatik wohl auf einer Kaskade von Rekodierungen beruht, an deren Anfang der Erwerb einfacher und vielfältig einsetzbarer Muster des I-Levels steht, die dann bereits eine breite Kommunikationsfähigkeit gewährleisten. In mehreren Rekodierungsschritten werden parallel dazu abstraktere Muster angelegt. Bei der Bildung dieser abstrakteren Muster spielt das Schreibenlernen in unserer Kultur entscheidend in den Rekodierungsprozeß hinein. Im Sprechen aber geht die Sprachproduktion immer von den einfachsten Mustern des I-Levels aus, und der Sprecher greift nur bei Bedarf auf die komplexeren Muster der verschiedenen Ε-Levels zurück. Im Schreiben hingegen ist es vermutlich - zumindest tendenziell umgekehrt. Ein so aufgebautes Rekodierungsmodell ermöglicht manchen neuen Blick auf altbekannte Befunde der Spracherwerbsforschung. Vor allem eröffnet es die Möglichkeit, Ansatzpunkte aufzuzeigen, an denen das Schreibenlernen in die ontogenetische Entwicklung der Grammatik einhakt. Wenn es gelingen würde, die Details dieses Vorganges dergestalt zu beschreiben, daß sowohl die Auslösefaktoren für Rekodierungen als vor allem auch die Faktoren, die Verlauf und Ergebnis der Rekodierungen bestimmen (oder kanalisieren), genau benannt werden können, wäre das ein entscheidender Schritt, um auffallige Erklärungslücken in der Spracherwerbstheorie zu schließen. Vielleicht könnte daraus sogar eine gänzlich neue Spracherwerbstheorie erwachsen. Abschließend möchte ich zumindest noch eine Richtung andeuten, in der vielleicht eine solche neue Theorie des Spracherwerbs zu suchen ist: Rekodierungen könnten als Bausteine verstanden werden, aus denen sich eine ontogenetische Selbstorganisation der Grammatik aufbaut. Wenn es möglich wäre, die ontogenetische Entwicklung der Grammatik als einen Selbstorganisationsprozeß zu beschreiben, könnte dadurch die Spracherwerbsforschung aus der Zwickmühle zwischen nativistischen und empiristischen Positionen herausfinden, in der sie zur Zeit gefangen ist. Zur Zeit scheint es ja nicht weniger unplausibel zu sein, die Ordnungsstruktur einer Grammatik als im System (der kindlichen Kognition) von Geburt an gegeben vorauszusetzen, als davon auszugehen, daß sie komplett von außen in das System eingeführt werden muß. Ein Selbstorganisationsansatz wäre hier der dritte Lösungsweg, der sowohl die genuinen Probleme nativistischer wie auch empiristischer Lösungsmodelle umgeht. Um die ontogenetische Entwicklung der Grammatik als Selbstorganisationsprozeß zu beschreiben, kommt es allerdings weniger darauf an, das prinzipielle Vorhandensein von Rekodierungen festzustellen und ihre Symptome zu beschreiben (was bisher geschehen ist), als vielmehr darauf, zwei Fragen zu klären: 1) Was sind die Faktoren, die eine Rekodierung auslösen, und 2) was sind die Faktoren, die den Weg der Rekodierungen, die innerhalb der Kognitionen von höchst unterschiedlichen Individuen unter manchmal sehr verschiedenen Rahmenbedingungen vollzogen werden, dahingehend kanalisieren, daß sich das Sprechen der Kinder durch sie den in der jeweiligen Sprechergemeinschaft herrschenden Konventionen annähert, statt sich von ihnen zu entfernen. Diese Fragen zu klären, würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Ihre Behandlung muß erheblich umfangreicheren Arbeiten vorbehalten bleiben. Auch sie können
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Klaus-Peter
Kappest
dann allerdings vermutlich weniger eine neue Spracherwerbstheorie liefern, als vielmehr eine Richtung etwas genauer angeben, in der neue Theorien zu suchen sind.
Literatur
Bhat, D.N.S. (1994): The Adjectival Category. Criteria for Differentiation and Identification. Amsterdam, Philadelphia. Kappest, Klaus-Peter (im Druck): Die gemeinsame Entwicklung von Sprechen und Schreiben. Aspekte der Selbstorganisation sprachlicher Strukturformen im Erstspracherwerb. Karmiloff-Smith, Anette (1992): Beyond Modularity. A Developmental Perspective on Cognitive Science. Cambridge, Massachusetts. Knobloch, Clemens (1997): Kategorisierung, grammatisch und mental. In: Redder, Angelika und Jochen Rehbein (Hrsg.): Grammatik und mentale Prozesse. Tübingen: Stauffenburg. 31-48. Scheerer, Eckart (1993): Neue Wege in der Kognitionsforschung. Berichte aus dem Institut für Kognitionsforschung Nr. 11. Universität Oldenburg. Scheerer, Eckart (1996): Orality, literacy and cognitive modeling. In: Velichkovsky, Boris M. / Rumbaugh, Duane, M. (eds.) (1996): Communicating Meaning: The Evolution and Development of Language. Mahwah/New Jersey, 211-256. Silverstein, Michael (1979): Language structure and linguistic ideology. In: Clyne, P. u. a. (Hrsg.): The elements: A parasession on linguistic units an levels. Chicago. S. 193-247. Stern, Clara und Stern, William (1928): Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung. Darmstadt.
Helmuth
Feilke
Grammatikalisierung und Textualisierung „Konjunktionen" im Schriftspracherwerb
„... to understand something is to sense the simpler structure that underlies a range of instances " (Jerome S. Bruner)
1. Kontexte der Diskussion
Die folgende Diskussion führt drei Frageperspektiven zusammen, die zumindest auf den ersten Blick weit auseinander zu liegen scheinen: Grammatikalisierung, Spracherwerb und die Schriftlichkeitsdiskussion in der Linguistik. Einleitend werden daher einige Bemerkungen zum Zusammenhang des Themas vorausgeschickt. Der Terminus „Grammatikalisierung", der hier als übergreifende theoretische Klammer eingesetzt wird, um verschiedene fachliche Diskurse aufeinander zu beziehen, wird dabei in seiner begrifflichen Extension strapaziert. Ob dabei Begriffsgrenzen verwischt werden, die ohnehin schon schwer genug zu ziehen sind, oder aber die Strapazierung des Begriffs einen Gewinn für das Problemverständnis bringt, mag der Leser nach dem Versuch von der Sache her entscheiden.
1.1. Grammatikalisierung und Spracherwerb Der folgende Beitrag diskutiert Ergebnisse aus einigen Teilprojekten zum Schriftspracherwerb. Dabei geht es am Beispiel der Satzkonjunktionen um Auffälligkeiten der Interaktion von Textbildung und syntaktischer Strukturierung. Methodologisch gibt es hier ein bekanntes Problem: Man kann einerseits den Spracherwerb wie auch den Erwerb der schriftlichen Sprache nur untersuchen auf der Grundlage einer theoretisch und deskriptiv expliziten Konzeption und Beschreibung des zu erwerbenden Gegenstandes selbst, also einer Sprache und ihrer Struktur, wie sie in Grammatiken expliziert ist. Anderseits jedoch ist jedem am Spracherwerb Interessierten die Erfahrung vertraut, dass man mit auf das System bezogenen grammatischen Kategorien oft lange und vergeblich versucht, vorfindliches Spracherwerbsmaterial strukturell zu interpretieren. Welches Wissen etwa fehlt demjenigen, der die Konjunktion „daß" mit „s" schreibt, bzw. positiv formuliert, welches Wissen nutzt er für die Schreibung? Geht es um ein orthographisches oder grammatisches Erwerbsproblem oder um beides zugleich? Und schließlich, abhängig von den Antworten auf solche Fragen, das im engeren Sinne linguistische Beschreibungsproblem: Was für eine Form liegt vor, und liegt überhaupt eine Form des Systems vor? Für Antworten auf Fragen dieser Art fehlt eine adäquate Theorie.
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Helmuth Feilke
Grammatische Beschreibung und Sprache im Erwerb sind methodologisch grundsätzlich disparat. Zwar mag dem grammatischen Beobachter einerseits die Entwicklungsbedeutung eines Elements lediglich als sukzessive Approximation der strukturellen Bedeutung erscheinen, andererseits jedoch ist bereits der Status der Elemente als Elemente, ihre Form und Abgrenzung Sache der Enwicklung selbst. Entwicklung ist in diesem Sinne zu verstehen als ein komplexer Transponierungszusammenhang, in dem die Zielgrößen semiotisch, repräsentational und operational erst erzeugt werden. Hierüber belehrt uns die Theorie des Sprachwandels, der eben keinen Zielzustand kennt, von dem her eine gegebene Bedeutung oder Struktur als defizient zu charakterisieren wäre. „Change is the essence of meaning" schreibt Raimo Antilla.1 Wenn dies stimmt, dann ist ein Ausdruck im Kontext des Gebrauchs und seiner soziogenetischen oder ontogenetischen Entwicklung schon rein methodologisch völlig anders bestimmt und zu bestimmen als der Status desselben Ausdrucks im System.2 Deshalb ist es sinnvoll, Anführungsstriche zu setzen, wenn vom Erwerb „des Konjunktiv", der „Komparation" oder auch der „Konjunktionen" die Rede ist. Um etwas darüber herauszubringen, was die im Erwerb beobachteten sprachlichen Formen eigentlich bedeuten, braucht man eine Theorie, die die Diachronie, respektive die Aneignung beschreibt. Geeignete Konzepte dazu sind einerseits in der Entwicklungspsychologie, - etwa bei Piaget, Wygotski, Bruner, Karmiloff-Smith - andererseits in den theoretischen Konzeptionen zum Sprachwandel, namentlich der jüngeren Grammatikalisierungsdiskussion, zu finden. Dabei fallen zunächst konzeptionelle Parallelen in der Beschreibung der Prozesse auf, die zumindest heuristische Werkzeuge für die Modellierung des Erwerbs abgegeben. Wenigstens einige zentrale Konzepte seien genannt, die Entwicklungen in beiden Forschungsbereichen charakterisieren: Dekontextualisierung, Abstrahierung, Gerichtetheit & Unumkehrbarkeit, Paradigmenbildung, Ungeplantheit bzw. Implizitheit und Spontaneität der Entwicklung. Auch spezielle Teilkonzepte wie das der „Reanalyse" (vgl. Langacker 1977, Lehmann 1995a: 1261 f.) oder der „Feld-Transponierung" (Ehlich 1987) oder auch der „konzeptuellen Verschiebung" (vgl. Meibauer 1994) scheinen wechselseitig auf die Fragestellungen übertragbar. Was durch die Heuristik erreicht werden kann, ist allerdings dann eine Sache der empirischen Bestimmung und Konkretisierung. So wie die Grammatikalisierungstheorie einerseits den Blick für Transponierungslinien in der Aneignung öffnen und spracherwerbstheoretisch fruchtbar sein kann, könnte umgekehrt ein Potential für die Sprachtheorie genau an den Stellen liegen, wo sich empirisch herausstellt, dass die Übertragung nicht funktioniert, wo sich also der Erwerb systematisch anders verhält, als es der Sprachwandel und die Ordnung des Systems erwarten lassen. Dies ist in der Tat ein sehr wahrscheinlicher Fall; hier kann die systemische Orientierung von der auf die Genese bezogenen lernen, - in der Psychologie wie in der Linguistik.3
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Antilla/Embleton (1989:157) Strömsdörfer/Vennemann (1995) diskutieren die sprachtheoretischen Konsequenzen dieser Einsicht und fordern anschließend an Paul Hoppers Konzeption der emergenten Grammatik die „Betrachtung von Sprache als eine Struktur von Prozessen und nicht als eine Struktur von Zuständen", (ebd. 1133) Analog reklamiert Karmilloff-Smith (1992:26f.) den Nutzen der Entwicklungspsychologie für die Cognitive Science. Unter der Prämisse, dass Entwicklung Kategorien allererst konstituiert, resultiert aus der Untersuchung der Entwicklung in verschiedenen Forschungsfeldern potentiell eine neue Sicht auf die kategorialen Ordnungen selbst.
Grammatikalisierung
und Textualisierung
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1.2. Schriftlichkeit und Grammatikalisierung Schriftlichkeit und Textualität sind in hohem Maße affine Begriffe. Die Sprechsituation wird im Übergang zu schriftlicher Kommunikation zeitlich und räumlich „zerdehnt", wie Konrad Ehlich formuliert. Die Rezeption wird in stärkerem Maße dekontextualisiert und das heißt, gebunden an zeichenvermittelte Orientierungsleistungen. Der Zeichengebrauch wird reflexiv. Sprache wird als Text selbst zum Fundament der Orientierung, und die illokutionären und propositionalen Bestandteile der Rede gewinnen unter Bedingungen der Schriftlichkeit sprachlich eine eigenständige Formalität (vgl. Ehlich 1994). Das zeigt die Analyse von Situationen der Diglossie ebenso wie die Tatsache, dass der Beginn des Schriftspracherwerbs offenkundig dazu führt, dass ein Wissen neu aufgebaut werden muss, das im Sprechen bereits fraglos gesichert zu sein schien. Die wesentliche Leistung dieser neu aufzubauenden, eigenständigen Formalität der schriftlichen Sprache besteht dabei nicht etwa in der Kompensation vermeintlich „verloren gegangener" Möglichkeiten mündlicher Kommunikation im Medium der Schrift. Vielmehr geht es umgekehrt, um den Ausbau der Optionen zur Kontextentbindung von Kommunikation und Kognition. Schriftliche Sprache kann - das ist keine Frage - auch ganz anderen Optionen (liturgischen, ästhetischen, politischen) dienen (vgl. Scribner/Cole 1981). Gleichwohl: Dekontextualisierung der Kommunikation und der Kognition sowie vice versa die Option auf Kontextualisierung qua Text, sind der semiotische Blankocheque der Schriftlichkeit, der nach Maßgabe der je kulturell bestimmten Funktionalität schriftlicher Sprache in beliebiger Höhe ausgeschrieben werden kann. Textualisierung im Medium der Schrift hat damit semiotisch eine prototypische Funktionalität, .wie sie etwa Koch/Oesterreicher (1985, 1994) mit ihrem Konzept der „konzeptionellen Schriftlichkeit" fassen. Sprache selbst wird konzeptionell schriftlich gefasst, sie wird sozusagen literal idealisiert. Das gilt im Blick auf die formale Fassung und Beschreibung von Volkssprachen im Zuge ihrer Verschriftung ebenso wie im Blick auf die Selbstversorgtheit und Kontextentbindung von „Text". Den ersten Aspekt fasst Stetter (1997), wenn er im Blick auf die Transkription der Volkssprachen den Zusammenhang zwischen der Verschriftung und der Herausbildung eines neuen Konzeptes von Sprache betont: „Grammatik ... ist nichts anderes als die Systematisierung einer Sprachauffassung, die mit der allmählichen Herausbildung der orthographischen Register ausgeprägt wurde". (Stetter 1997:10) „Was verschriftet wird, ist nicht die mündliche Sprache, kann es gar nicht sein, sondern ... eine Zurechtstellung, technische Aufbereitung dieser Sprache, die allererst ihre Übertragung in die Schrift ermöglicht." .(ebd. 126)... „Eine Grundbedingung jeder Transkription ist hinreichende Abstraktion von Zeit, Ort und Person der Aufzeichnung, sonst wäre sie wert- und funktionslos." (ebd. 127) ... „Per se ist jede Transkription eine Kompromiß zwischen dialektalen Idiosynchrasien und einer allgemeinen Sprachnorm, die in die Verschriftungskonventionen und in der Folge in die Schreibnormen projeziert wird." (ebd. 128).
In der Konsequenz verändert sich das Konzept von Sprache selbst. Für die Textebene zeigt sich die literale Idealisierung z.B. im folgenden Zitat von Koch/Oesterreicher (1994:590) „Generell zeichnet sich Schriftlichkeit durch einen nahezu ausschließlich mit sprachlichen Mittel hergestellten Typ von Textkohärenz aus, der eine durchstrukturierte semantische Progression und eine explizite Verkettung zwischen Sequenzen im Text erfordert."
Als semiotische Funktion kann literale Textualisierung und Grammatikalisierung sich nicht exklusiv in der Darstellungsdimension bewegen, auf die sich Koch/Oesterreicher hier primär
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Helmuth Feilke
beziehen. Literale Ideale haben vor allem auch eine nicht zu leugnende konnotative Qualität, und die Motive für die Aneignung von Formen schriftlicher Sprache können für die Handelnden durchaus auch wesentlich auf der Ebene des Habitus i.S. Bourdieus liegen. Grammatikalisierung und Textualisierung schaffen nicht nur sprachlich kontextualisierende Unterscheidungsmöglichkeiten, sie eröffnen auch sozial die Option auf die Konstruktion der „feinen Unterschiede" (Bourdieu), und die Übernahme von Innovationen ist - gerade und besonders im Bereich der Schriftlichkeit - auch durch die konnotative Qualität motiviert (vgl. Maas 1991a, Raible 1992:197 u. 221). D.h. in Abhängigkeit von der sozialen Geltung der entsprechenden sprachlichen Unterschiede knüpft die Aneignung u.U. wesentlich auch an den Appeal der entsprechenden Formen an. Grammatikalisierung im Spracherwerb unterliegt damit mindestens einer dreifachen Beziehung: - der Beziehung auf die Verwender, mit dem Zug zur konnotativen Markierung und idiomatischen Prägung unterschiedener Optionen der Codierung. - der Beziehung auf das System mit dem Zug zur Paradigmenbildung (niedrigere Ebenen) - der Beziehung auf den Gebrauch, mit dem Zug zur Textualisierung (höhere Ebenen) Damit sind die verschiedenen Motive der Grammatikalisierungsdynamik im Erwerb angesprochen. Der erste Punkt betrifft die Frage, ob zentrale Motive der „Grammatikalisierung" im Schrifterwerb im konnotativen Mehrwert stärker grammatikalisierter Ausdrucksoptionen selbst liegen. Der zweite betrifft die sprachimmanente Kategorienbildung und Systematisierung. Beim dritten Punkt geht es um die Frage, inwiefern die besonderen Produktions- und Rezeptionskontexte konzeptioneller Literalität im Erwerb Grammatikalisierungsprozesse in Gang setzen. Dieser Beitrag stellt die dritte der Beziehungen in den Mittelpunkt, das Verhältnis von Grammatikalisierung und Textualisierung. Für die Grammatikalisierungsdiskussion zentral ist die Annahme, dass grammatische Formen durch ein „Durchschieben" von höheren zu niedrigeren „Ebenen" der Sprache entstehen. Im Sinne dieser Metapher betont Lehmann in dem folgenden etwas längeren Zitat den Zusammenhang zwischen der Sprachtätigkeit und den resultierenden Sprachformen und bezieht ihn abschließend auf die Synsemantika, zu denen der Untersuchungsbereich dieses Aufsatzes zählt. „Sprache und somit auch Grammatik wird immerfort geschaffen. Die zielorientierte Kreativität des Sprechers [respektive Schreibers, H.F.] setzt freilich an den oberen grammatischen Ebenen an, wo er die Freiheit zum Manipulieren hat. Des Sprechers unmittelbares Ziel ist es, expressiv zu sein. Dadurch überlagert er immer wieder schon vorhandene Ausdrucksmittel, deren Einsatz sich automatisiert. Dadurch entsteht Grammatik. Den Bodensatz dieses Durchschubs von Ausdrucksmitteln auf die niedrigeren Ebenen bilden die fossilierten Strukturen, die als nächste absterben. Die Schaffung von Synsemantika wird also nicht als eigenes Ziel angestrebt, sondern ist das notwendige Ergebnis der Neugestaltung von Ausdrucksformen auf den höheren Ebenen." (Lehmann 1995a: 1265)
Im Umfeld der Schriftlichkeit geht es bei Lehmanns 'Neugestaltung von Ausdrucksformen auf den höheren Ebenen' vor allem um die Option zur Kontextentbindung der Kommunikation. Soziogenetisch oder historisch kennzeichnend für diese Option ist unter anderem die Ausdifferenzierung satzübergreifender integrativer Techniken der Textbildung. Die gesprochene Sprache stützt sich in erheblichem Umfang nicht nur auf den Kontext, sondern semiotisch auf suprasegmentale Kohäsionsmittel. Die schriftliche Sprache operiert wesentlich syntaktisch. Die Entkopplung von Produktion und Rezeption schafft für beide Seiten Zeit und motiviert die Ausdifferenzierung einer komplexen Syntax. „Die Bildimg komplexer Sätze, einschließlich der Relativsatzbildung ist ein allgemeines Verfahren, das ungleich auf die Sprachen der Welt, nämlich auf Schriftsprachen gegenüber bloß oralen Sprachen verteilt
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und Textualisierung
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ist. (...) Alle Sprachen, in denen bisher keine Relativsätze entdeckt wurden, sind schriftlose Sprachen", schreibt Christian Lehmann (1995b:1205). Dabei ist freilich nicht impliziert, der Relativsatz sei im strikt kausalen Sinne eine Konsequenz der Schriftlichkeit. Aber es gibt durchaus ein Spektrum sprachlicher Inhaltsformen, deren Entwicklung durch die spezifischen Bedingungen der Produktion und Rezeption medial und konzeptionell schriftlicher Texte motiviert und begünstigt ist. Wolfgang Raible (1992:191f, 215ff) macht in seiner Untersuchung zur „Junktion" wiederholt auf den exemplarischen Status quasi-rechtlicher und juristischer Texte bzw. Formulierungen bereits im Mittelalter und verstärkt im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit aufmerksam. In diesen Texten lassen sich in hohem Maße schriftlichkeitsaffine Lexikalisierung und Grammatikalisierung nachweisen [z.B. präpositionale Fügungen, komplexe Infinitive, Konjunktionaladverbien, mehrteilige Konjunktionen (so daß, wenn so), die Grammatikalisierung des Spektrums der Linkserweiterungen u.a.m.]. Das wesentliche Motiv dafür sieht Raible - im Anschluss an Heger (1977) - nicht etwa im Faktor kognitiver Ökonomie, die die integrativen Techniken bieten, sondern auf der pragmatischen Ebene: Nur beim komplexen Satz bzw. integrierten Satzgefüge sei auch der Zusammenhang der Aussagen - die Textaussage also - assertiert, während im asyndetisch parataktischen Modus die Textaussage strukturell unbestimmt bleibe. Die pragmatische Anschließbarkeitsobligation für den Rezipienten bleibt danach strukturell unspezifiziert. Demgegenüber will der komplexe Satz als Text verstanden sein. Die Integration erlegt dem Rezipienten auf, die gesamte Sequenz als assertiert zu behandeln (vgl. Raible 1992:217). Gerade auch die Konjunktionen sind ein Produkt der jüngeren Sprachgeschichte und hängen in ihrer Differenzierungsdynamik historisch eng zusammen mit,der Option zur satzübergreifenden Textbildung. Karl-Ernst Sommerfeldt schreibt dazu: „Es handelt sich vor allem bei den Konjunktionen um eine relativ junge Wortart, da besonders das Verbinden von Sätzen und damit das Herstellen bestimmter Bedeutungsbeziehungen zwischen Sachverhalten erst in den letzten Jahrhunderten vervollkommnet wurde. Das führte dazu, dass sich die Wörter anderer Wortarten zu Konjunktionen entwickelten und weiterhin entwickeln." (Sommerfeldt 1992:170)
Dieser Grammatikalisierungsaspekt ist mit Sicherheit keine exklusive Domäne der Schriftlichkeit, aber unzweifelhaft steht der schriftliche Text hinsichtlich der Produktion und Rezeption völlig anders da als das gesprochene Wort (vgl. auch Betten 1987:77ff.). Das vergleichsweise sprachgeschichtlich Frische an den Konjunktionen ist es auch, das sie für die Untersuchung von Grammatikalisierungsprozessen im Schriftspracherwerb prädestiniert. Denn in die Formen ist die Geschichte sich überlagernder Rekodierungen vielfach noch eingeschrieben und synchron an ihrer Polysemie und pragmatischen Polyvalenz ablesbar.4 Hier ist es eine spannende Frage, wie sich der Erwerb zu dieser synchronen Mehrschichtigkeit älterer, d.h. weniger grammatikalisierter und jüngerer, d.h. stärker grammatikalisierter Verwendungen verhält. In der jüngeren Geschichte sind ökologisch vor allem das Zusammenfallen von Produktion und Rezeption beim Schreiben sowie der Buchdruck und die damit verbesserten Erfassungs- und Integrationsoptionen Faktoren, die die integrativen Tendenzen und damit 4
Vgl. exemplarisch etwa die Analyse von Ehlich (1987) zu „so". Ehlich schlägt hier das methodologische Konzept einer „funktionalen Etymologie" vor, die die Schritte der Ausdifferenzierung solcher Formen anhand des synchron vorfindlichen Funktions-Spektrums rekonstruiert.
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literale Textbildung akzeleriert haben (vgl. Illich 1991, Ludwig 1996). Der Vorgang bleibt der Sprache nicht äußerlich: Sprache wird strukturell im Medium der Schrift neu bestimmt als schriftliche Sprache; im Kontext einer normativ verfassten Schriftkultur wird sie darüber hinaus in variablem Maße bestimmbar als Schriftsprache i.S. einer standardsprachlichen Varietät. Dabei vollzieht sich Entwicklung der neuen Formen stets zunächst als eine Transponierung alter Formen in neue grammatische, semantische bzw. pragmatische Kontexte der Funktion. Die Transponierung ist in den seltensten Fällen ein intentionaler Akt eines Einzelnen, wie es etwa das Modell der metaphorischen oder metonymischen Bezeichnung nahelegt. Vielmehr wird die Transponierung eines Ausdrucks erst im Zuge des Prozesses als Option erkennbar und deutlich; sie wird als Möglichkeit künftigen Handelns „entdeckt" bzw. reanalysiert (vgl. schon Wegener 1885:34f.). Dies gilt sprachhistorisch und für die Aneignung gleichermaßen. Allerdings haben wir hier zugleich einen wesentlichen, ja sicher zentralen Unterschied zu bedenken: Sprachwandel ist prinzipiell ein offener Prozess, Spracherwerb aber prinzipiell auf ein Ziel hin orientiert.5
1.3. Schriftlichkeit und Spracherwerb Zu diesem Aspekt der Thematik wäre eigentlich sehr viel Grundsätzliches zum Verhältnis von Sprache und Schrift, zum Begriff des Spracherwerbs etc. nicht nur zu sagen, sondern auch argumentativ auszuführen. Im Folgenden werden jedoch die Hauptpunkte lediglich angeführt und sehr knapp entwickelt, um ausführlicher auf die Empirie zum Thema eingehen zu können. - Das Schreibenlernen ist fundiert im Sprechen (vgl. Maas 1992), aber es bildet das Sprechen nicht ab, ebensowenig wie das Sprechenlernen seinerseits Strukturen der vorsprachlichen Handlungskoordination abbildet. Wie in jeder Semiose geht es auch beim Erwerb der Schrift als Zeichen um den im Begriff der Artikulation -sensu Humboldt- konzentrierten Zusammenhang von Analyse, Interpretation und Formbildung (vgl. Stetter 1997), und zwar auf allen Ebenen schriftlicher Sprache. Umgekehrt formuliert: Wie bereits beim Sprechenlernen, so geht es auch im Schriftspracherwerb um qualitative Neubestimmung und fortgesetzte Differenzierung von Strukturen der Kompetenz. - Der Schriftspracherwerb soll hier definiert werden als die Aneignung der Formen der schriftlichen Sprache (Formaspekt, konzeptionell literat) und der Normen der Schriftsprache (Normaspekt) im Medium geschriebener Sprache (medialer Aspekt). Dies ist näher zu erläutern: - Der Erwerb der Formen konzeptioneller Literalität, also der Strukturen schriftlicher Sprache setzt danach bereits ein vor dem Schriftspracherwerb, da die Schriftsprache als standardsprachliche Varietät auch das Sprechen prägt. Dabei folgt allerdings der Erwerb wesentlich dem Muster der „Repräsentation von Struktur, ohne strukturierte Repräsentationen" (vgl. Karmiloff-Smith 1992, Scheerer 1993). Formen schriftlicher Sprache werden 5
Vgl. hierzu auch die Diskussion in der Einleitung zu diesem Band.
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zunächst medial und konzeptionell mündlich und in einem unanalysierten Modus angeeignet. Obwohl dem Anschein nach also bereits im Sprechen schriftgrammatische Formen vorzuliegen scheinen, gibt es deutliche Hinweise darauf, dass der Repräsentation solcher Struktur im Sprechen nicht zugleich auch konzeptionell schriftlich strukturierte Repräsentationen zugrundeliegen. Diese These ist methodisch höchst problematisch, aber sie ist theoretisch u.E. zwingend. Sie ist Konsequenz der Einsicht, dass Mündlichkeit und Schriftlichkeit nicht nebeneinander, sondern, wie Günther (1997:68) treffend formuliert, „durcheinander" existieren. Dieses „Durcheinander" auch empirisch zu klären, fordert entsprechend verstärkte methodische Anstrengungen. - Der mediale Aspekt, die Tatsache also, dass ab einem bestimmten Erwerbszeitpunkt auch geschrieben wird, bringt eine neue Qualität in den Erwerb ein und wird daher als Definiens ftir Schriftspracherwerb genutzt. Erst die schriftliche Artikulation führt zur Aneignung der Schriftsprache i.S. einer Ausdifferenzierung der Artikulationsformen der schriftlichen Sprache. Erst die Artikulation konstituiert Formen als Inhaltsformen schriftlicher Sprache. Das kann empirisch gezeigt werden. - Der Schriftspracherwerb gliedere ich in die Teilprozesse: Graphemisierung (graphematische Artikulation wortbezogener phonologischer, morphologischer und grammatischer Unterscheidungen), Grammatikalisierung (Artikulation satzbezogener Unterscheidungen) und Textualisierung. Grammatikalisierung findet dabei sowohl durch graphematische Auszeichnung (Graphemisierung) als auch durch Ausdifferenzierung syntaktischer Mittel statt (Syntaktisierung). Die Prozesse sind in entscheidenden Bereichen jeweils unabhängig voneinander analysierbar, in Teilbereichen auch analytisch interdependent. Ich komme zurück auf den eingangs bereits angedeuteten zentralen Gesichtspunkt: Der Schriftspracherwerb ist keine abgeleitete Variante des Primärspracherwerbs, auch kein theoretisches und begriffliches Additum. Es spricht vieles dafür, ihn in literalen Gesellschaften unter den Begriff des Primärspracherwerbs zu zählen, und er ist in dieser Hinsicht auch ein theoretischer Testfall für die allgemeine Spracherwerbstheorie. Das zentrale Erklärungsproblem ist dabei das aus der Entwicklungspsychologie bekannte Phänomen der „d6calages" (Piaget) bzw. der „Verschiebung". Gemeint ist hier das Faktum, dass vordergründig homologe Strukturen z.B. grammatisch, aber auch textuell im Bereich des Schreibens gegenüber dem des Sprechens um bis zu mehreren Jahren zeitlich verschoben angeeignet werden (vgl. Feilke 1996b). Diese Tatsache legt die Hypothese nahe, dass Entwicklung nicht in erster Linie charakterisierbar ist als ein Prozess sukzessiven Formenerwerbs. Dies ist zwar auch ein Moment der Entwicklung. Wichtiger aber ist, dass Entwicklung den repräsentationalen Status des Verhaltens verändert. Für Karmiloff-Smith (1992) ist dies eine Folge zyklischer Reanalysen des Verhaltens, die zwar an der Oberfläche unter Umständen wenig, qualitativ jedoch sehr viel verändern. Ihr Konzept der U-Kurven, auf das wir bereits in der Einleitung zu diesem Band eingegangen sind, steht für diese Einsicht. Das Problem, bei auf den ersten Blick homologen sprachlichen Formen im Sprechen und im Schreiben nachzuweisen, dass gleichwohl ein Erwerbsprozess mit weitreichenden Konsequenzen vorliegt, steht im Mittelpunkt der folgenden Argumentation. Der Konjunktionenerwerb ist bzw. scheint in der gesprochenen Sprache bereits weitgehend abgeschlossen, wenn der Schriftspracherwerb beginnt. Dies gilt
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Helmuth Feilke
zumindest für die im Folgenden im Zentrum stehenden Konjunktionen weil und daß (vgl. z.B. Müller 1993). Die Analyse des Schriftspracherwerbs aber gibt deutliche Hinweise darauf, dass der Formenerwerb keineswegs abgeschlossen ist, sondern eigentlich erst im Schriftspracherwerb die Grammatikalisierung dieser Formen im Sinne der Entwicklung einer syntaktischen Interpretation einsetzt. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei im folgenden dem Zusammenhang von Textualisierung und Grammatikalisierung, das heißt der Frage nach dem Zusammenhang von Pragmatik und Grammatikalisierung der Formen. Datengrundlage ist ein an der Universität Siegen von 1984 - 1994 erhobenes und kontinuierlich erweitertes Korpus argumentativer Briefe, von Schreibern zwischen 6 und 23 Jahren. Thema der etwa 360 Briefe, die an einen Hochschullehrer gerichtet waren, ist die schulische Hausaufgabe. Die Aufgabe der Schreiberinnen bestand darin, dem Adressaten, der für die Abschaffung der Hausaufgaben plädierte, in einem Brief die eigene Meinung zur Sache mitzuteilen (vgl. Augst/Faigel 1986).
2. Textualisierung und Konjunktionenerwerb
2.1. Makroskopische Perspektive Einleitend zunächst ein makroskopischer Blick auf das Thema. Ich bin in einer Untersuchung der Frage nachgegangen, wie denn überhaupt die im Erwerb sich augenscheinlich erweiternden Fähigkeiten zur Textbildung, d.h. die Produktion zunehmend kohärenter und argumentativ anspruchsvoller Texte sich in toto zur Entwicklung der konjunktionalen Verknüpfung in diesen Texten verhält (vgl. Feilke 1996). Das Resultat ist durchaus überraschend, wie die untenstehenden Graphiken in Abbildung 1 und 2 zeigen. Einerseits steigen Textlänge und Satzlänge und letztere vor allem deshalb, weil die Zahl der Propositionen pro Satz durch komplexe Sätze, Partizipialattribute und Nominalisierungen kontinuierlich steigt. Dies ist zusammengefasst im Parameter „Verbalkonstruktionen". 6 Hier sollte man erwarten, dass die zunehmende Integrationstendenz vor allem in argumentativen Texten wesentlich auch gestützt ist, auf den zunehmenden Gebrauch von Konjunktionen, vor allem Subjunktionen. Dies insbesondere deshalb, weil die koordinative Verknüpfung nachweislich deutlich zurückgeht und die Subjunktion im Kontext der Argumentation ja nicht nur syntakische, sondern vor allem auch semantische Dienste tut. Das tatsächliche Bild sieht aber ganz anders aus als erwartet: der Gebrauch der Konjunktionen steigt eine gewisse Zeit lang zwar an, geht aber mit zunehmendem Alter der Schreiber (und zunehmender Qualität der Texte) stark zurück, wobei der Rückgang nun auch noch gerade bei den kausalen subordinierenden Konjunktionen überproportional stark ausfällt. Erstaunlich ist dieses Ergebnis auf den ersten Blick vor allem für denjenigen, der Argumentation als eine Sache der Explizierung von logischen Relationen zwischen Propositionen ansieht. Sie ist erstaunlich auch für denjenigen, der gerade in der Entwicklung der schriftlichen Ar6
Der Parameter fasst die Zahl der potentiell prädikativen Konstruktionen bzw. grammatisch ausgedrückten Propositionen pro Satz., d.h. koordinierte und subordinierte finite Verben, nominalisierte Verben, Abstraktbildungen und erweiterte Partizipialattribute (vgl. Feilke 1996:200).
Grammatikalisierung
und
115
Textualisierung
gumentationsfähigkeit den sprachlichen Niederschlag gestiegener textueller Kontextualisierungsanforderungen sucht. Zu den Zahlen im Einzelnen vgl. Feilke (1996).
- Satzlange - Koordination -Subordinat.2.-n - Integration - Verbale Konstr.
Erwachsene
Abb.l: Satzentwicklung
(relative Werte)
-Konj ./Satz -kaus. Konj./Satz -Konj.-Types
12.Sj.
Abb.2: Konjunktionengebrauch
Erwachsene
und Types (relative Werte)
Auf den zweiten Blick jedoch klärt sich die Frage: Zum einen gibt es grammatisch eine Art „Implosion" syntaktischer Relationen in die linkserweiterten Nominalgruppen nach dem Muster „ die von ihnen in Erwägung gezogene und an der Hochschule diskutierte Abschaffung der Hausaufgaben etc.". Das erklärt, wo die steigende Satzlänge herkommt. Diese Entwicklung ist ablesbar im Parameter „Integration". Zum anderen zeigt sich, dass die Schreiber mit zunehmendem Alter pragmatisch umsichtiger werden. Soweit Kohärenz auf der Ebene von Implikaturen, semantischer Makrostruktur und pragmatischer Superstruktur der Texte erzeugt werden kann, wird sie gerade nicht durch explizite Konnexion gestützt. Wachsende Kontextualisierungsfähigkeit im Schreiben zeigt sich vor allem auch darin, dass der Schreiber lernt, dem Leser zuzutrauen, dass er einen nicht eigens sprachlich demonstrierten Zusammenhang zwischen Sätzen herstellen kann. Die Tendenz zur „Dekontextuali-
116
Helmuth Feilke
sierung der Vermittlungssysteme" (Wertsch 1996:51) im Schreiben darf also keinesfalls auf der Ebene der grammatischen „tools" reifiziert werden. Kontextentbindung der Texte, Textualisierung also, bedeutet keinesfalls automatisch eine Verstärkung expliziter konjunktionaler Verknüpfung. Das heißt, dass hinsichtlich des Erwerbs eine triviale Lesart von Grammatikalisierung hinfällig wird, die nämlich, die Grammatikalisierung funktionalistisch als semiotische Folge eines pragmatisch motivierten und kognitiv in Szene gesetzten „Grammatikalisierungsdrucks" analysieren möchte. Die Grammatikalisierung der Konjunktionen ist nicht bloß der verlängerte Arm des Texthandelns. Zumindest für den Bereich der Konjunktionen kann dies hier ausgeschlossen werden. Umso erstaunlicher ist vor diesem Hintergrund - gleichfalls noch makroskopisch - ein anderes Ergebnis der Untersuchung, das freilich eher den Erwartungen entspricht: Während der Gebrauch der Konjunktionen stark zurückgeht, steigt die Zahl der Types, der verschiedenen Konjunktionen also, mit dem Alter stark an. Dies ist nun ein interessantes Datum. Offenbar gibt es so etwas wie eine starke intrinsische Motivierung des Differenzierungsprozesses. Obwohl der Gebrauch zurückgeht, steigt die formseitige Differenzierung weiter an. Das heißt, dass keineswegs ein unmittelbar pragmatisch-funktionaler Zusammenhang gesehen werden kann zwischen Gebrauch und Erwerb. Dies schließt freilich nicht aus, und dies wird in der im folgenden eingenommenen Mikroperspektive auf Einzelfälle deutlich werden, dass die Konjunktionen Funktionen auf sich nehmen. Gerade, dass sie im Text verschiedene Funktionen auf sich nehmen, ist für ihre Entwicklung scheinbar wesentlich. Und die Kurve des Gebrauchs scheint ja mit ihrem Peak so etwas wie eine sensible Phase des Konjunktionenerwerbs anzuzeigen, in der sehr viel geschieht (Stichwort: „Hochkonjunkturen"), während danach das Interesse deutlich zurückgeht. Brigitte Schlieben-Lange (1991) und Erfurt (1996:1395) zeigen hier interessanterweise sehr ähnliche Entwicklungsverläufe für die Soziogenese der Konjunktionen auf.
2.2. Mikroskopische Perspektive Das folgende Referat ist für die beiden Beispiele „daß" und „weil" jeweils analog so aufgebaut, dass ich versuche, Phasen der Aneignung zu charakterisieren. Dabei gehe ich von drei idealisierten Haupt-Phasen aus, die das in der Grammatikalisierungsforschung bekannte Transponierungsschema A - AB - Β reflektieren. Auf ein systematisches Referat der grammatischen Verhältnisse bei den Zielformen verzichte ich hier.7
2.2.1. Die Konjunktion „daß" Die Konjunktion daß ist nach und mit und die häufigste Konjunktion in unserem Korpus. Das entspricht auch der Sprachstatistik. Der Ausdruck das ist polysem und als Demonstrativum, Relativum, Artikel und Konjunktion grammatikalisiert. Die Grammatikalisierungstheorie spricht in Fällen wie diesen von Polygrammatikalisierung (vgl. Lehmann 1995: 1258; Diewald 1997: 113fF.). Die Form der Konjunktion ist dabei sprachhistorisch die jüngste, in der schriftlichen Sprache seit dem Ende des 16. Jahrhunderts lexikographisch mar7
Vgl. dazu Feilke (1996a, 1998).
Grammatikalisierung und Textualisierung
117
kiert durch eine Heterographie.8 Die Einführung der Heterographie folgt einer sprachhistorisch bereits im Althochdeutschen beginnenden grammatischen Differenzierung der pronominalen und konjunktionalen Funktionen des Ausdrucks [daz]. Diese resultiert zu Beginn der Neuzeit in einer Reanalyse und subordinierenden Verschiebung der Satzgrenze. Ich höre das. Er kommt, wird nach dem Beispiel Behaghels zu Ich höre, das er kommt. Die Fehlschreibung daß/das ist fehlerstatistisch die häufigste wortbezogene Fehlschreibung im Deutschen (Menzel 1985). Wie vollzieht sich die Aneignung dieser Konjunktion in der schriftlichen Sprache? Ich greife drei Zusammenhänge heraus, die mir besonders wichtig erscheinen: Die Konjunktion das ist für die Lerner zunächst ausdruckseitig nicht markiert. Die Ausdrucksform das ist für Sprecher wie Schreiber distributionell polyvalent, wobei - nicht unwichtig - Demonstrativum und Konjunktion über alle Altersklassen hinweg die stärksten Gruppen bilden. Gleichwohl: Das das taucht in den verschiedensten syntaktischen Kontexten auf, ohne dass hierüber reflektiert werden müsste. Es liegen verschiedene Instanzen der Verwendung eines Ausdrucks vor, die unproblematisch nebeneinander bestehen. Bei der konjunktionalen Verwendung im Schreiben fällt nun auf, dass diese im Erwerb in bestimmten Zusammenhängen textuell prominent wird. Dies zeigen die Unterschiede zwischen folgenden beiden Beispielen aus dem 1. und 2. Schuljahr: (1) Wi(e)r prauren hausaufgaben (Text 1.11) (2) Ich finde Hausaufgaben schön. Ich finde das die Schule schön ist. (Text 2.15) Das das stützt im Zusammenhang von Einstellungsäußerungen die syntaktische Ausgliederung des Einstellungsobjekts und legt damit grammatisch einen Schnitt zwischen Illokution und Proposition (Beispiel 2). Damit liegt distributionell und funktional ein prototypisches Schema für die Verwendung der Konjunktion vor. Es ist dies ein in erster Linie aktional repräsentiertes und als solches strukturell irreversibles Schema, ablesbar an der außerordentlichen Stereotypizität des Musters in unserem Korpus: 1. Pers. Singulare subjektives Verb (finden, glauben, meinen etc.) + Konjunktion. „Ich finde das Hausaufgaben abgeschafft werden sollen weil Textuell wird der ausgegliederte Objektsatz zum Träger für Kausalsätze, die in der Regel mit weil angeschlossen werden. Ein typisches Beispiel dafür aus dem 3. Schuljahr: (3) Ich finde es gut das es Hausaufgaben, weil die Kinder auch was lernen sollen. Aber auf der anderen Seite finde ich es blöd das wir Kinder Hausaufgaben weil wir auch spielen wollen. (Text 3.3) Die Verwendung von das als Konjunktion bleibt quantitativ bis nach Ende der Grundschulzeit an das distributionelle Muster von Sätzen dieses Typs gebunden. Dieses Muster wird, wie Beispiele aus dem 7. und 10. Schuljahr zeigen, dann erst allmählich abgelöst. An die Stelle der ersten Person treten zunehmend dritte Personen und unpersönliche Subjekte.
8
Hier wird in der Regel Sattlers Wörterbuch von 1607 als erster Beleg angeführt.
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Helmuth Feilke
Einen weiteren Hinweis auf die Grammatikalisierungsdynamik geben die folgenden Beispiele aus dem 4. und 6. Schuljahr. In den gepunktet unterstrichenen Beispielen oszillieren pronominal-demonstrative und konjunktionale Funktionen. (4) (5) (6) (7)
Also ich finde das nicht richtig das es keine Hausaufgaben mehr geben soll. (Text 4.1) Ich finde das Hausaufgaben nicht gut sind. (Text 4.28) Ich finde das gut wenn wir keine Hausaufgaben aufkriegen (Text 4.29) Ich meine dasL wenn z.B. eine Mathearbeit geschrieben wird, dann sind die Hausaufgaben nützlich (Text 6.15) (8) Daß die Eltern bei den Hausaufgaben mithelfen, glaube ich nicht, denn die meisten sind wohl so vernünftig, daß sie einsehen, daß die Hausaufgaben zur Bestätigung der Kinder da sind. (Text 7.15) Aufgrund der erhöhten Variabilität der Formen taucht das Demonstrativum nun auch an der Position auf, die vorher exklusiv für die Konjunktion reserviert war. Solche Beispiele, die sich in unserem Material in größerer Zahl finden, stützen die Annahme, dass es hier zu einem Schemakonflikt von Konjunktion und Demonstrativum kommt.9 Schemakonflikte sind entwicklungspsychologisch einer der Hauptgründe für Reanalyse bzw. repräsentationale Redeskription. Genau diese Redeskription scheint bereits in den Texten des 6. Schuljahrs verstärkt einzusetzen und im 7. Schuljahr weitgehend durchgeführt zu sein. Hier können wir annehmen, müssen aber theoretisch gerade nicht unterstellen, dass dieser Prozess durch Instruktion gefördert ist. Es scheint mir sinnvoll, hier zwischen Reanalyse und Rekodierung zu unterscheiden: Die Reanalyse betrifft den subjektiven Aspekt der Aneignung. In der Produktion der Lerner und in Abhängigkeit von ihrer Produktion tauchen Schemakonflikte auf oder nicht auf. In Abhängigkeit auch von ihrer Sensibilität für diese Konflikte, entsteht eine Option für Reanalyse. Hier gibt es keinerlei zwingende Gesichtspunkte. Im Unterschied dazu führt Rekodierung einen neuen Gesichtspunkt ein. Sie besteht in der Berücksichtigung einer dritten Qualität, nämlich der markierten Ausdrucksform, in diesem Fall der Heterographie. Sie ist der objektive Katalysator der repräsentationalen Redeskription. Nahezu in den Rang eines Beweises dafür, dass in diesem Fall auch ontogenetisch eine echte Reanalyse i.S. des grammatischen terminus technicus vorliegt, rückt ein weiteres Ergebnis: Eines der verblüffendsten Resultate der Untersuchung ist der Zusammenhang von Richtigschreibung und Kommatierung einerseits - hier neigt mancher noch zu einer didaktogenen Erklärung - insbesondere aber der Falschschreibung und Nichtkommatierung des Konjunktionalsatzes andererseits, wie sie in der Graphik in Abbildung 3 gezeigt werden. Dieser zweite Zusammenhang weist m.E. deutlich darauf hin, dass Schreiber bei Konstruktionen wie in Beispiel 2: Ich finde das die Schule schön ist zwischen Prädikat und Komplement überhaupt keine syntaktische Grenze erkennen, wie sie sie etwa bei einem Relativanschluss, der aber ja bei dieser Typik schon distributionell als Option ausscheidet, erkennen müssten
9
Es ist aufschlussreich, dass genau dieses Oszillieren auch die sprachhistorische Ausbildung der Konjunktion kennzeichnet, bei der, wie Anne Betten (1987) unter Rückgriff auf eine Formulierung Tschirchs schreibt, das ganze Mittelalter hindurch in vielen Verwendungen der Konjunktion der Augenblick des Umschlags von der vorausweisenden zur konjunktionalen Funktion wie in eine Momentaufnahme festgehalten zu sein scheint (vgl. Betten 1987:84).
Grammatikalisierung
119
und Textualisierung
und empirisch auch erkennen. Dies zeigt die ansonsten durchaus frühe Kommatierung eingeleiteter Nebensätze im Erwerb (vgl. Afflerbach 1997 u. i.d.B.).
2. Sj.
3. Sj.
4. Sj.
5. Sj.
6.Sj.
Abb. 3: Schreibung der Konjunktion "daß" in % jeder Verlauf zweier ausgewählter Formen
7. Sj.
10. Sj.
Altersgruppe.
Die drei Stufen der Grammatikalisierung des Ausdrucks das zur schriftgrammatischen Form der Konjunktion sind abschließend im folgenden Schema gefasst (vgl. Feilke 1998). Formstufe
1. Prototypische Form (Lernerform 1 = das )
2. Intermediäre Form (Lernerform 2 = d a s )
3. Schriftgrammatische Form daß
Merkmale -
ausdruckseitig phonetisch motiviert pragmatisch motivierte Funktionstypik hohe Frequenz breite Distribution semantisch undifferenziert früher Erwerb
-
ausdruckseitig „alte" Form distributioneile Ambivalenz semantische Ambivalenz noch nicht syntaktisch interpretiert satztopologisch begrenzte Variabilität vollständig grammatikalisiert: spezifische syntaktische Interpretation satztopologische Variabilität verbreitertes Funktionsspektrum Ausbau der Stützungsfunktionen
2.2.2. Die Konjunktion „weil" Das Beispiel „weil" ist im Erwerb vor allem deshalb auffällig, weil es ausdruckseitig hinsichtlich der syntagmatischen Kontexte eine sehr große Variationsbreite aufweist. Exemplarisch wird am Beispiel der Konjunktion deutlich, wie weitgehend schriftsprachliche Realisierungsstandards auch normativ verfestigt sind und vice versa im Erwerb zwangsläufig kreativ aufgebrochen werden. Alleine in einem zweiten Schuljahr finden sich mindestens acht verschiedene Varianten bzw. Typen des „weil"-Gebrauchs. Typen des Gebrauchs der Konjunktion „weil" in Texten eines zweiten Schuljahres:
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(1) Die Hausaufgaben. Weil man dann nicht soviel spielen kann. (2.36) (2) Ich bin auch wie Sie gegen die Hausaufgaben. Wieso? 1. Weil die Zeit für die Hausaufgaben besser fürs Spielen vorhanden ist. 2. Weil ich Dienstags gar keine Zeit mehr zum spielen habe. Warum? Dienstags haben wir 6 Stunden...(2.25) (3) Ich finde Hausaufgaben schön. Weil ich dann noch mehr lerne. (2.14) (4) Ich finde die Schule schön, weil man da lernt. (2.15) (5) Ich finde diese Hausaufgaben schrecklich: weil dann kann ich nicht spielen ...(2.29) (6) Hausaufgaben sind gut, weil ich lerne dabei. (2.19) (7) Ich finde das Hausaufgaben sehr gut sind. Weil das macht Spaß... (2.8) (8) Ich finde Hausaufgaben doof! Weil: Man hat manchmal überhaupt keine Zeit (2.31) Die angeführten Varianten sind durch verschiedene Aspekte unterschieden: 10 - Die Fälle 1-4 umfassen Gebrauchsweisen von 'weil' mit Verb-Endstellung. Die 'weil'Sätze sind von der Wortstellung her scheinbar syntaktisch subordiniert. An der Oberfläche sind sie jedoch erstaunlicherweise durch Interpunktion, Großschreibung und/oder eingeschobene Fragepronomina (Wieso?; Weshalb? etc.) als eigenständige Äußerungseinheiten markiert. Nur bei Typ 4 zeigen Kleinschreibung und Interpunktion, daß der Kausalsatz i.e.S. syntaktisch subordiniert wird. - Die Fälle 5-8 zeigen Gebrauchsweisen von 'weil' mit Verb-Zweitstellung. Großschreibung am Satzanfang und Abtrennung gegenüber dem Vordersatz durch Punkt oder Doppelpunkt signalisieren eine syntaktische Eigenständigkeit des 'weil'-Satzes wie bei 1-4. Die fast ausschließliche Konzentration der grammatischen Diskussion auf die Stellungsfrage Verbzweit vs. Verbletztstellung blendet spezifisch schriftgrammatische Strukturierungsmöglichkeiten aus, die aber ontogenetisch durchaus bereits genutzt werden (Großschreibung, Interpunktion). Zwei Punkte fallen unter dem Grammatikalisierungsapekt besonders auf: Erstens: Das „weil" ist in fast allen Fällen ein expressives, handlungsbegründendes „weil". Der weil-Gebrauch bezieht sich in den argumentativen Texten der Lerner bis zum 13. Lebensjahr nicht auf Realgründe (faktisches „weil") oder Erkenntnisgründe (epistemisches „weil"). Hier wäre zu fragen, inwiefern prototypische Kontexte der Spracherfahrung Motive für die Bestimmung der Ausgangspunkte von Grammatikalisierungsprozessen im Spracherwerb bilden. Die in der Linguistik und auch in der Grammatikalisierungsdiskussion so beliebte Prozess-Metapher „Vom Konkreten zum Abstrakten" hat in der Diskussion über den Bedeutungswandel bei „weil" zu der Auffassung geführt, das kausale, propositionsbezogene „weil" sei der eher konkrete Ausgangspunkt für die sukzessive Übertragung auf eine abstraktere, epistemisch sprecherbezogene Bedeutung (Keller 1993, Redder 1990). Zumindest für den Erwerb scheint eine solche Hypothese wenig Sinn zu machen. Zweitens: Die vorliegenden Beispiele aus dem Schriftspracherwerb, legen eher die Hypothese nahe, dass der kommunikative Kontext der Spracherfahrung Motive nicht nur für die semantische, sondern auch für die grammatische Strukturierung bereitstellt. Denn, wie kommen die Schreiber - immerhin beim Großteil der Fälle - dazu, den „weil"-Satz trotz einer Verbletztstellung durch Interpunktion und Großschreibung vom Hauptsatz abzu10
Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Ergebnisse aus Feilke (1996a).
Grammatikalisierung
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und Textualisierung
trennen? Wie kommen sie überhaupt zur Verbletztstellung? Einen Hinweis darauf liefert der Kontext des weil-Gebrauchs im Sprechen, der erhebliche Parallelen, zur vorliegenden Schreibaufgabe aufweist. Das „weil" ist diejenige kausale Konjunktion, die im Dialog äußerungseinleitend als Antwort auf eine Frage gebraucht werden kann. In der jüngsten grammatischen Diskussion bestätigt die Analyse von Uhmann (1998) die Notwendigkeit, ein solches „weil" kategorial auszuweisen und eine „dritte Variante der Konjunktion anzunehmen: weil3, das VL-Sätze einleitet, aber illokutionär selbständige, auf Sprechereinstellungen bezogene Begründungen zulässt" (Uhmann 1998:127). Solche „weil-Sätze" sind im übertragenen Sinne dialogisch subordiniert. Wie beim prototypischen Muster der Einstellungsbekundung im daß-Satz kann man auch hier im Sinne Bruners u. Kaimiloff-Smiths eine aktionale Repräsentation in einem stereotypen Handlungsschema annehmen. Das „weil" scheint in der Ontogenese des Schreibens über diesen Weg in die Syntax zu finden. Damit ist in diesem Fall - und im Unterschied zu daß - der ontogenetische Grammatikalisierungskanal vollständig anders zu analysieren als in der Soziogenese. Der Kanal allerdings ist hochgradig wirksam: In der Tat hat die Grammatikalisierung - vermutlich wiederum als Rekodierung-, d.h. .angetrieben von den objektiven Merkmalen geschriebener Sprache, auch hier einen deutlichen Zielpunkt in der Struktur der vorfindlichen Sprache, der sehr direkt erreicht wird. Die Verteilung der Varianten (8, 6, 4, 2 Varianten) zeigt bis zum 7. Schuljahr einen deutlich konvergenten Verlauf im Sinne der Aneignung der vom System vorgesehenen Option (Typ 4) (vgl. folgende Graphik). SITypl El Typ 2 IS Typ 3
100
80 60
40 20
0 2. Sj.
3Sj.
I
4. Sj.
• Typ 4 • Typ 5 II Typ 6 Π Typ 7 Η Typ 8 7. SS.
Abb.4:Typen des "weil"-Gebrauchs: Verteilung 2.-7. Schuljahr
Daran ändert sich auch später nichts mehr. Theoretisch höchst interessant ist dabei, dass das Motiv dieser hochgradig zielführenden Grammatikalisierung weit außerhalb der systemischen Charakteristik des Ergebnisses zu liegen scheint, zumindest dann, wenn tatsächlich das sogenannte illokutionäre weil der prototypische Ausgangspunkt aller anderen Verwendungen ist. Es klingt paradox, aber weil scheint gerade aus diesem Grund in der Aneignung schriftlicher Sprache zu einer Art Joker der Grammatikalisierung zu werden. Weil die Konjunktion stets pragmatisch und syntaktisch voll belegbar bleibt, scheint sie zu einer Art Transmissionsriemen der Grammatikalisierung von Nebensätzen im Schriftspracherwerb zu werden. Der außerordentlichen Variabilität der konkreten syntagmatischen Artikulation des weil im 2. Schuljahr und darüber hinaus korrespondiert nämlich ein zentrales Element der Konstanz.
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Das ist die Zäsur vor der Konjunktion, die in der Spracherfahrung motiviert und verstärkt wird durch die Struktur des Frage-Antwort-Dialogs beim illokutionären weil. Vielleicht ist weil - ganz im Sinne des Eingangsmottos von Jerome S. Bruner - wegen dieser Gleichzeitigkeit von polyvalenter Funktionalität und konstanter struktureller Charakteristik die prototypische kausale Konjunktion und die saliente Konjunktion für den Erwerb schlechthin. Weil hat, um einen Ausdruck Klaus-Michael Köpckes (1993) zu gebrauchen, eine hohe „Signalreliabilität" für Subordinationsverhältnisse. Die Transmissionsfunktion wird exemplarisch deutlich auch in einem Ergebnis der Siegener Dissertation von Sabine Afflerbach (1997) zur Entwicklung der Kommasetzungsfähigkeiten: weil wird im Erwerb lange vor allen anderen subordinierenden Konjunktionen kommatiert - im 2. Schuljahr bei darauf bezogenem Arbeitsauftrag bereits zu 90 % - und damit zu einem selbst erzeugten Modell syntaktischer Strukturierung. Welcher Art aber dieses grammatische Können ist und ob es als ein Wissen beschrieben werden kann, das ist erst noch zu klären. Als Beobachter haben wir am Ende - mit Kleinschreibung des „weil" und Kommatierung - lediglich die Zeichen einer nunmehr grammatisch verstandenen Form. Deren Genese können wir prinzipiell nach dem gleichen dreistufigen Schema rekonstruieren, wie es auch bei das/daß angewendet wurde.
3. Schlusskommentar
Die hier vorgestellten Untersuchungen zum Erwerb von Satzkonjunktionen geben deutliche Hinweise darauf, dass der Schriftspracherwerb ein Spracherwerb im vollen Wortsinne ist. Charakteristika der Syntax schriftlicher Sprache, die bereits zu einem frühen Zeitpunkt in medial mündlicher Kommunikation angeeignet werden, werden erst im Schriftspracherwerb selbst ausdruckseitig und repräsentational grammatikalisiert. Wie in der Soziogenese des Übergangs von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit auch, werden im Schriftspracherwerb Grammatikalisierungsprozesse mit den genuinen Formen schriftlicher Sprache fortgesetzt. Der Aneignungsprozess der untersuchten Formen schriftlicher Sprache ist ablesbar an der Beherrschung der ausdruckseitig manifesten Formbestimmungen. Dazu zählen graphemisch realisierte Formelemente wie Heterographie (bei das), Kleinschreibung und Interpunktion (bei weil), aber auch die distributionelle Charakteristik der Formen, die sich historisch wie ontogenetisch erst sukzessive ausbildet. Die Konjunktionen lösen sich im Schriftspracherwerb aus stärker pragmatisch motivierten stereotypen Mustern der Verwendung und erreichen Schritt für Schritt über charakteristische intermediäre Formen den „collocational range", d.h. das Distributionsspektrum ihrer sprachsystemischen Wertigkeit. Die Ausweitung der Distribution ist damit gleichermaßen ein charakteristisches Merkmal sprachhistorischer und ontogenetischer Grammatikalisierung (vgl. Diewald 1997:29). Der Motor der Entwicklung liegt dabei - zumindest in den hier untersuchten Fällen nicht in den Zielformen.11 Vielmehr deuten die vorliegenden Beobachtungen daraufhin, dass - ganz im Sinne der oben diskutierten „Durchschiebe-These" Christian Lehmanns 11
Unter dieser Perspektive wäre etwa in der Anfangsphase des Erwerbs eine Übergeneralisierung der Heterographie „daß" zu erwarten gewesen, die aber gerade nicht beobachtet werden kann.
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und Textualisierung
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durch die Textproduktion selbst erst das Spektrum derjenigen Verwendungsoptionen für die Proto-Konjunktionen entdeckt wird, die im System grammatikalisiert bzw. als Funktionsbedeutungen eines Ausdrucks konventionell geworden und in diesem Sinne lexikalisiert worden sind. Verschiedene textuell-semantische Instanzen der Verwendung eines Ausdrucks werden zunächst durch die Textproduktion bzw. das Schreiben hervorgebracht und geraten in der Folge in Konflikt miteinander. Erinnert sei an die Verwendungen des weil oder an die einander oftmals überlagernden demonstrativen und konjunktionalen Funktionen des das. In diesem Sinne führt das Schreiben und die spezifischen Bedingungen der Vertextung im Medium der Schrift zu strukturellen Differenzierungsoptionen, die dort, wo das System der schriftlichen Sprache zur Realisierung dieser Optionen auch ausdruckseitig Formen bereitsstellt, angeeignet werden. Die Resultate dieser mikroskopischen Perspektive auf den Erwerb am Beispiel von das und weil könnten zu der Auffassung verleiten, es gebe einen kognitiven Automatismus fortschreitender semasiologischer Differenzierung von Formen, der orientiert am Ideal konzeptioneller Literalität dem Ziel des semantisch „selbstversorgten" Textes zuarbeitet. In gleicher Weise wie jedoch die Textproduktion selbst die Motive für die beschriebenen Grammatikalisierungsprozesse liefert, ist sie umgekehrt auch der begrenzende und kontrollierende Faktor in der Anwendung. Das hat die einleitende Makroperspektive auf die Aneignung der Konjunktionen gezeigt: Zwar steigt die Zahl der Konjunktionen-Types mit dem Alter und zunehmender Schreiberfahrung kontinuierlich, aber die Verwendung bzw. der Gebrauch geht deutlich zurück. Nach einer Hochkonjunktur im Gebrauch, die zusammenfällt mit den intrinsischen Grammatikalisierungsmotiven, geht das Interesse an der konjunktionalen Verknüpfung offenbar zurück. Es ist u.E. kein Zufall, dass genau dieser Zusammenhang von Grammatikalisierung, Hochkonjunktur der grammatikalisierten Formen im Gebrauch und anschließendem Rückgang ontogenetisch und soziogenetisch bei den Konjunktionen in gleicher Weise belegbar ist.12 Alternative, pragmatisch anspruchsvollere Mittel der Verknüpfung, die z.B. an das Weltwissen möglicher Leser appellieren, werden demgegenüber verstärkt zum Einsatz gebracht. Der konzeptionell mündliche Text ist für den Leser unter Umständen nicht verstehbar, der semantisch selbstversorgte, ideale konzeptionell schriftliche Text aber möglicherweise langweilig, weil bereits alles expliziert ist. Erfolgreicher Schriftspracherwerb zeigt sich in diesem Sinne gerade auch in der Fähigkeit, mediale und konzeptionelle Schriftlichkeit im Licht der kommunikativen und kognitiven Chancen konzeptioneller Mündlichkeit zu reflektieren.13
12
13
Erfurt (1996:1395) schreibt in seinem Überblick zu Sprachwandel und Schriftlichkeit: „Sprachgeschichtlich betrachtet ist zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert und dem 16. Jahrhundert zunächst ein starker frequentativer Zuwachs und vom 17. Jahrhundert an wieder eine Reduktion der Konjunktionen zu konstatieren." Erfurt wertet die Hochkonjunktur als Ausdruck einer „bemühten Schriftlichkeit", die aber nach dem erzielten Strukturgewinn wieder stärker pragmatisch kontrolliert wird. Vgl. hierzu den Ansatz von Sieber (1998), der das verstärkte Aufkommen von konzeptionell mündlichen Mustern in medialer Schriftlichkeit („Parlando") unter dem Gesichtspunkt kulturell und sozialisatorisch bedingten Sprachwandels diskutiert.
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Feilke
Literatur
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Jakob Ossner
Orthographische Formulare1
1. Vorbemerkungen
Gewöhnlich wird Orthographie unter dem Gesichtspunkt betrachtet, daß in ihr Regeln gewöhnlich explizit als Normen - formuliert sind, an die sich die Benutzer, nachdem sie sich diese in der Institution der Schule angeeignet haben, bei ihrem Schriftverkehr halten. In diesem Aufsatz wird ein anderer Vorschlag gemacht. Orthographie wird als Teil der Sprache betrachtet dergestalt, daß sie für den (schriftlichen) Ausdruck der Sprache ein Formular bereithält, das im Akt des Schreibens auszufüllen ist. Dabei ist es - vom Formular aus betrachtet - ganz unerheblich, ob dies vom Schreiber als Zwang oder als koordinative Bemühung der Schriftteilnehmer, v.a. zwischen Schreiber und Leser, begriffen wird. Die Rede von Formularen sollte helfen, zwei Sachverhalte in das ihnen gebührende Licht zu rücken, die bei ihrer Betrachtung einiges an Schwierigkeiten verursachen: Zum einen ist Schrift sowohl ein sekundäres Medium, insofern sie einer von ihr unabhängigen Sprache eine Form gibt, sie ist aber auch autonom und primär, insofern sie von der Sprache nicht determiniert wird, sondern ihr eigenes „Leben" und ihre eigene Entwicklung hat.2 Als Formular ist sie immer Formular für etwas, nämlich für die von ihr unabhängige Sprache, aber indem sie diese in ihre Form zwingt, leistet sie auch, wie Formen insgesamt, ihren Beitrag zur Ideenentwicklung. Nirgends wird dies in der Orthographie deutlicher als in dem formalen Zwang, den kontinuierlichen Text in Sätze und diesen in Wörter zu gliedern. Die Grundvorstellung, die also diesem Aufsatz zugrunde liegt, ist die, die seit Humboldt (1822/1963) als Grammatikalisierung beschrieben wird. Während es in dieser Tradition darum geht, die natürliche Sprache als Form des Denkens zu beschreiben und die Lösungsmöglichkeiten, die dafür gefunden wurden und immer wieder werden, zu diskutieren, frage ich in diesem Text nach der (schriftlich medialen) Form für die sprachliche Form des Gedankens - in gewisser Weise könnte man sagen: das schriftliche Formular für das sprachliche Formular des Gedankens. (Daß uns dieses oft als das eigentliche Formular des Gedankens erscheint, zeigt, daß es nicht nur um ein sekundäres Formular geht, sondern daß es als Formular (wie jedes andere auch) seine eigene Kraft entwickelt - und natürlich verweist es auch darauf, daß es als schriftliches Formular andere mediale Möglichkeiten hat als in der natürlichen Sprache angelegt sind.) Lehmann (1985; 1995) hat darauf hingewiesen und gezeigt, daß Grammatikalisierung nicht nur beschrieben werden kann als Prozeß der Höherentwicklung der Sprache hin zu einer alles durchdringenden Formalität,3 sondern daß es sich um eine „zielgerichtete, kreative, und problemlösende Tätigkeit der Sprecher [handelt], die die Veränderungen auslöst"
1 2 3
Für wertvolle Ratschläge gilt mein besonderer Dank Rolf Meier. Dies gilt zwar nicht für jede Form der Schrift, aber für alle entwickelten Schriften. Vgl. Humboldt 1822/1963, S. 55: „Die Formalität dringt endlich durch."
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(Diewald 1997:105), wobei die Entwicklung selbst „in gewisser Weise mit Mode vergleichbar [sei], hier wie dort gebe es viel Wandel um des Wandels willen" (ibd.:106). Zu den seit von der Gabelentz genannten Antriebskräften, dem Bequemlichkeitstrieb und dem Deutlichkeitstrieb (vgl. Lehmann 1995:3), kommt offensichtlich so etwas wie der Wunsch nach Expressivität (Lehmann 1985:315) hinzu. Dabei betont Lehmann, daß nicht anonyme Kräfte am Sprachwandel beteiligt sind, sondern ihn die Sprachteilnehmer selbst vorwärts bringen. Bei einer Parallelisierung der Grammatikalisierung als sprachlicher Formularisierung mit der schriftlichen Formularisierung ist hier Skepsis angebracht. Schrift ist ein konservatives Medium. Wir erobern sie uns nicht durch ihren Gebrauch, sondern erlernen sie als orthographische Form in der Schule. Die Sprache mag in Teilen schon ganz andere Wege gehen, wo die Schrift sich noch konservativ gebärdet. Deutlich ist dies im Deutschen beispielsweise bei enklitischen Formen wie v a s h a s t n , d e m ein schriftliches Was hast du denn? entspricht. Schrift ist auch da, wo sie noch nicht einer staatlichen Norm ausgesetzt ist, gegenüber der mündlichen Sprache konservativ, da ihr das frische Blut des unmittelbaren kommunikativen Austausches fehlt. Für sie ist die angeredete Person, die in der mündlichen Sprache synthetisiert ist, eine nichtanwesende fremde. 4 Zur wichtigsten Triebkraft der Ausbildung eines orthographischen Formulars wird daher der Deutlichkeitstrieb, der selbst wieder die Grenzen eines sinnvollen ökonomischen Gebrauchs nicht überschreiten darf. Wiederum ist hier die doppelte Ausrichtung des orthographischen Formulars wichtig. Die lexikalischen Einheiten und die grammatischen Verhältnisse müssen adäquat - und das bedeutet, daß dies nicht ganz anders, als das natürlichsprachliche Formular es vorgibt, geschehen kann - ausgedrückt werden und es muß in der eigenen Ausbildung des Formulars dem Ausdrucksbedürfnis ein ökonomischer Weg gewiesen werden. Die Rede vom orthographischen Formular wird am Schluß dieses Aufsatzes didaktisch perspektiviert werden. So wie in der Grammatikalisierungsforschung die Frage gestellt wird, auf welche Weise kognitive, kommunikative und expressive Bedürfnisse befriedigt werden, kann in der Übertragung auf die Orthographie gefragt werden, wie dieses Formular beschaffen ist, damit es seine Aufgabe erfüllen kann. Von hier aus könnte v.a. auch der Frage nachgegangen werden, wie sich orthographische Formen entwickeln, wie etwa aus dem Demonstrativum das sich die Konjunktion daß herauskristallisiert und wie die Orthographie dem folgt. Und den (phylogenetischen) Gedanken der Grammatikalisierung, die - wie Humboldt (1822/1963:31) sagt - das „Werden der Grammatik" beschreibt, aufnehmend und übertragend, könnte - didaktisch gewendet - das ontogenetische Werden solcher Formen beim Individuum untersucht werden.5 In diesem Aufsatz wird meistenteils ein anderer Weg eingeschlagen. Nachdem in den ersten Kapiteln der Begriff des orthographischen Formulars an einschlägigen Beispielen (in groben Umrissen) diskutiert wurde, wird im letzten Kapitel, das sich dem Erwerb der Orthographie widmet, gefragt, wie ein solches Formular erlernt werden kann.
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Vgl. in diesem Zusammenhang die mündlich-dialektale Konstruktion im Bayrischen: venst koD rua gipst, grrokst mks, wo die Endung der 2. Ps. Sg. im Nebensatz an die Konjunktion angegliedert ist und im Haupt- und Nebensatz auf das Personalpronomen als Ausdruck des direkt anwesenden Hörers verzichtet wird. Ein solcher, außerordentlich überzeugender Ansatz liegt vor in Feilke (1998).
Orthographische Formulare
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Auch hier ist ein Gedanke, der sich aus der Gedankenwelt der Forschung zur Grammatikalisierung ergibt, leitend: Häufig existieren im Laufe der Entwicklung grammatikalisierte und lexikalische Formen innerhalb einer grammatisch-funktionalen Domäne nebeneinander (etwa Präteritum und Perfekt als Ausdruck der Vergangenheit). Der Gefahr eines undifferenzierten Überangebots wird gewöhnlich durch Ausdifferenzierung begegnet. In diesem Sinne kann das gesamte Sprachsystem erweitert und höher systematisiert werden, wobei es teilweise auf alle Bereiche der Domäne einen höheren Systematisierungsdruck gibt (vgl. Diewald 1997, 107 f.) Dies hat allerdings zur Folge, daß durch Grammatikalisierung der instrumenteile Gebrauch der Sprache, ihr denotativer Weltbezug undurchschaubarer, aber die Sprache selbst einfacher handhabbar wird, wenn man ihr Formular nur einmal begriffen hat. Zudem wird durch den Vorgang die Sprache selbst eine Produktivkraft, da sie ihres rein instrumenteilen Charakters enthoben nunmehr den Weltbezug über das interne Formular regelt. Eine Konsequenz dieses Vorganges ist allerdings, daß sprachliche Funktionen auf der sprachlichen Oberfläche undurchschaubarer werden. Da es sich bei der Orthographie um einen kulturellen Gegenstand handelt, der - wie eigenständig auch immer der individuelle Zugriff sein mag - auf der Grundlage von Unterweisung erworben wird, stellt sich die Frage, wie Zugänge zum schriftlichen Formular eröffnet werden können. In diesem Zusammenhang werde ich empirische Daten aus dem Schreibunterricht diskutieren.
2. (Ortho-)graphische Formulare 6
Das Verhältnis von Sprachtyp zu Schrifttyp wird man beschreiben können als das zwischen Schloß und Schlüssel mit einer alphabetischen Schrift als Universalschlüssel. Entsprechend bietet eine alphabetische Schrift ein universales Formular für die verschiedenen grammatischen Formen. In den westlichen alphabetischen Schriften ist dieses mediale Formular geprägt durch eine gewisse strukturierte Abfolge graphischer Zeichen aus einem gemischten Grapheminventar aus Majuskeln und Minuskeln in einer festgelegten Richtung im Raum durch ein Vierliniensystem. Die festgelegte Richtung ist bereits ein Ergebnis einer Formularisierung. Brekle (1996) hat gezeigt, daß die Schreibrichtung einmal der Sprechrichtung gefolgt ist, wobei der Ausgangspunkt des Schreibens der Sprechort ist. Erst im Laufe der Zeit stellt sich so etwas wie eine feste Direktionalität ein.7 Das gemischte Grapheminventar ist einerseits das Ergebnis einer erhöhten Schreibgeschwindigkeit (vgl. Brekle 1994, Hasert 1997); andererseits aber wird durch die Ausbildung eines Gemischtinventars auch eine Optimierung des Schriftbildes als sekundärem Medium möglich, da nun Satzanfänge, Eigennamen und schließlich im Deutschen auch bestimmte Strukturen (s.u.) ausgezeichnet werden können. In den westlichen Alphabetschriften haben 6
7
Von Orthographischen Formularen ist dann die Rede, wenn es eingefahrene orthographische Konventionen gibt, die möglicherweise auch über eine Instanz normiert sind. Für das, was im folgenden Formularisierung genannt wird, ist eine solche Konventionalisierung und Normierung nicht nötig. Beispiele von Juna (1989) zeigen, daß auch Kinder Direktionalität zuerst nicht formal interpretieren, sondern natürlich.
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sich außerdem Wort- und Satzgliederungen herausgebildet. Bei diesen Erscheinungen handelt es sich allerdings um keine notwendigen Gliederungen einer alphabetischen Schrift überhaupt: Koreanisch etwa kennt nur ein Zweiliniensystem, keine Wortgliederung, sondern eine Silbengliederung (Jensen 1969:206), ebenso keine Satzgliederung. Soweit besagt die Darstellung, daß ein bestimmter Sprachtyp ein angemessenes graphisches Formular hervorbringt (etwa das Griechische eine Alphabetschrift mit Konsonant- und Vokalgraphemen). Bei der innersprachlichen Ausprägung stellen sich in einem entwickelten Stadium omographische Tendenzen ein dergestalt, daß Sprache nicht nur innerhalb des Formulars wiedergegeben wird, sondern das Formular die Wiedergabe konventionell oder normativ vorschreibt.8 Dies ist bei einer fortgeschrittenen Orthographie sogar aus zwei Gründen notwendig. Zum einen muß der Schreiber entlastet werden. Keine geregelte Orthographie zu haben, bedeutet für den Schreiber, sofern er die ganze Arbeit nicht vollständig dem Leser überantworten möchte, tendenziell bei jedem Ausdruck nachdenken zu müssen, wie er geschrieben werden sollte. Daß eine geregelte Orthographie zum andern den Leser entlastet, weil er sich nun nicht immer aufs Neue auf ein neues Formular einstellen muß, versteht sich von selbst. Der Gang der Entwicklung ist, daß in der Orthographie gewisse Schematismen ausgebildet werden, die sich einerseits nicht zu weit von der ursprünglichen Aufgabe, der Wiedergabe der natürlichen Sprache, entfernen dürfen, die aber die Aufgabe der Aufzeichnung sowie der Erfassung durch das Erlesen (vgl. Nerius 1986) erleichtern. Als ein solches Schema hat sich etwa die deutsche Großschreibung herausgebildet, die unter dieser Sicht nicht einem grammatischen Prinzip geschuldet erscheint, sondern das Ergebnis orthographischer Schematisierung ist. Im Begriff des orthographischen Formulars findet sich auch eine Erklärung für die Beobachtung, Schrift sei konservativ. Zum einen zeigt sich darin der Bequemlichkeitstrieb, aber auch die Beharrungstendenz des einmal visuell Fixierten, zum andern werden v.a. die Formulare eine besondere Lebenskraft haben, die sich auf der Grundlage eines tieferen Sprachbezugs herausgebildet haben (vgl. unten etwa die Schreibung der deutschen Verben als zweisilbig.) Man kann also im folgenden unterscheiden zwischen einer - (ortho-)graphischen Formularisierung als demjenigen Teil, der für die natürlichen Sprachen ein graphisch mediales Formular bereitstellt und einer - orthographischen Schematisierung als demjenigen Teil, in dem sich die Orthographie autonom entwickelt. Da die Orthographie nicht als solche einen kognitiven Wert hat, sind es nicht eigenständige Formierungsprozesse, sondern Schematisierungen zur leichteren Handhabbarkeit. Als Zwischenglied werde ich zu zeigen versuchen, wie die Orthographie selbst ein Formular ausbildet. Dies wird am Beispiel des feministischen I geschehen.
8
Dabei muß es sich nicht notwendigerweise um eine staatliche Regelung handeln. Ob es zu einer solchen kommt, wird sehr davon abhängen, wie das Schulsystem einer Nation geregelt ist.
Orthographische Formulare
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3. (Ortho-)graphische Formularisierung
Seit dem 17. Jahrhundert, seit den „Grammatischen Vereinen", ist im Deutschen die Orthographie eine Magd der Grammatik, indem sie „grammatisch kontrolliert" ist, wie Maas (1992) sich ausdrückt. D. h. in der Orthographie wird die grammatische (in einem weiten Sinn des Wortes) Grundstruktur nachvollzogen. Im einzelnen sind hier zu nennen: Die Phonem-Graphem-Beziehung als Grundlage der deutschen Orthographie, darauf aufbauend die Auszeichnung von Wörtern im Satz durch Majuskelschreibung. In der Getrennt- und Zusammenschreibung werden lexikalische Informationen und syntaktische Beziehungen herangezogen, um zu einer Schreibung zu kommen. Die Interpunktion bedient sich syntaktischer Informationen (teils mit, teils ohne phonologischen Reflex). Der Teil Worttrennung am Zeilenende gehört in dem Teil, in dem er sich auf die Zusammenschreibimg bezieht (Trennung zusammengesetzter Wörter), ebenfalls zur grammatischen Formularisierung, der Teil der sog. Silbentrennung ist dagegen das Ergebnis von Schematisierung, wie noch zu zeigen sein wird. Exemplarisch greife ich einige Phänomenbereiche heraus: Daß die Orthographie der Grammatikalisierung folgt, belegen Schreibungen wie das - daß, wo der Wortartenunterschied, wie er sich im Laufe der Zeit herausgebildet hat, auch graphisch sichtbar ausgedrückt wird. Dadurch wird ein orthographisches Formular geschaffen, das den grammatischen Unterschied sichtbar macht. Andere Beispiele finden sich bei der sog. „Desubstantivierung", z.B. dank, kraft, um.... willen - überhaupt Genitivkonstmktionen, die syntaktisch präpositional eingeleitet werden, ohne daß die substantivische Kategorie schon vollständig verblaßt wäre.9 Die Orthographie vollzieht diesen Schritt mit, indem sie vorschreibt, daß die Substantive in der präpositionalen Verwendung klein geschrieben werden. Damit findet die formale Angleichung an das Paradigma der Präpositionen statt. Diese Art einer Umwidmung ist bezogen auf die Aufzeichnungsfunktion spektakulär, da die eingefahrenen Schreibgewohnheiten verändert werden müssen; bezogen auf die Erfassungsfunktion jedoch nötig, da dadurch wichtige Informationen im Schriftbild entdeckbar sind.10 Wie das Beispiel der sog. Desubstantivierung bereits zeigt, werden in der deutschen Orthographie nicht einfach Wörter geschrieben, sondern jeweils nach Maßgabe eines vorhegenden Satzes wird entschieden, wie jeweils zu schreiben ist. Die Formularisierung ist also syntaktisch motiviert. Dies wird ganz besonders deutlich bei der Getrennt- und Zusammenschreibung, die, wie Maas (1992) ausführt, sich nach den „syntaktischen Sollbruchstellen" richtet. Die (ortho-)graphische Formularisierung bildet das Grundgerüst der deutschen Orthographie. Sie stellt die Verbindung der Orthographie zu den einzelnen Modulen der Sprache sicher, nicht aber die je besondere Ausprägung.11 9
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Wo dies, wie bei wegen, der Fall ist, ist der Wechsel zur Dativkonstruktion festzustellen, die in Teilen schon fest etabliert ist. Diese Aussage bezieht sich natürlich nicht auf den Erwerb grammatikalisierter Formen; vgl. hierzu Feilke 1998. Für Erwerbsfragen hat diese Sicht der Dinge einen wichtigen Reflex. Unterstellt man etwa das Erwerbsschema von Frith (1986), so gehören das logographemische sowie das alphabetische Stadium
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4. Autonomie der Orthographie
Gegenwärtig sind wir Zeuge einer Umwidmung, die ein bezeichnendes Licht auf die Möglichkeiten der Ausbildung eines orthographischen Formulars wirft. Beim sog. feministischen I wird eine Schreibung vorgeschlagen, die unikal ist: Majuskeln keimen wir nur am Wortanfang, nicht im Wortinnern.12 Auf die Herkunft, die Problematik und die damit verbundenen Schwierigkeiten hat Ludwig (1989) aufmerksam gemacht. Ludwig beschreibt den Vorgang als eine Verkürzung, eine Darstellung, die einer grammatikalisierenden Sicht nicht fremd wäre. Innerhalb der Gedankenwelt der Grammatikalisierung kann jedoch noch eine andere Beschreibung gewählt werden. Es hegt ein kommunikatives und ein ökonomisches Bedürfnis vor. Das kommunikative Bedürfnis fiihrt zu einer ungewöhnlichen Aufblähimg der Texte, die sich aus der „Alternativschreibung" zwangsläufig ergibt. Dies kann durch den „Trick", ein Majuskel-Element, das in dieser Stelle grundsätzlich keinen kognitiven Schaden anrichten kann, umzuwidmen, aufgefangen werden. Einen Schaden kann die Majuskel nicht anrichten, da es normalerweise immer nach einem Spatium steht, jetzt aber ohne Spatium. Das bedeutet, daß die Majuskel nicht als Auszeichnung des Wort- oder Satzanfanges interpretiert werden kann. So wie Grammatikalisierung häufig zu einer Verkürzimg, zu einem Formular eben, führt, so auch hier. Bei den vorher betrachteten Beispielen war das orthographische Formular eine Magd des grammatischen. Es vollzieht nach, was dieses vorgibt. Beim feministischen I schafft die Orthographie ein Formular, das im Sprachsystem so gar nicht vorgesehen ist. Die Binnenmajuskel ist vielmehr eine Leseanweisung, sowohl die maskuline als auch die feminine bzw. eine neutrale Form mitzulesen. Damit haben wir - wenn auch am Rande der Orthographie angesiedelt - ein deutliches Beispiel für ein autonomes Modul Orthographie.
5. Schematisierung
Unter Schematisierung ist im folgenden gemeint, daß sich die Orthographie als ein autonomer Gegenstand seine eigenen Schemata ausbildet. Gemeinhin wird es so sein, daß diese einen grammatischen (im weiten Sinne des Wortes) Bezug haben, also einen Bezug zum (ortho-) graphischen Formular, ohne daß dieses aber den Bereich vollständig erklären könnte.
12
zur (oitho-)graphischen Formularisierung. Hier wird die grundsätzliche Orientierung erworben. Dieses Stadium muß aber zum orthographischen hin überwunden werden. Der Ansatz hier aber besagt noch mehr, nämlich daß jeder orthographische Bereich ein grundlegendes und ein schematisiertes Formular hat und daß sich deswegen der Erwerb der Orthographie als eine Berg- und Wellenbewegung mit ansteigendem Niveau darstellt. Auf Schreibungen wie BahnCard, die sich werbepsychologischen Gesichtspunkten verdanken, gehe ich nicht weiter ein.
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5.1. Großschreibung Das vielleicht bedeutendste Beispiel fur eine orthographische Schematisierung ist die Substantivgroßschreibung. Auch hier handelt es sich um eine Leseanweisung in einem erweiterten Sinn. Nach den Untersuchungen von Bock (Bock 1989, 1990; Bock/Hagenschneider/Schweer 1989) erschließt die Substantivgroßschreibung die propositionale Struktur und sichert auf diese Weise ein schnelles, leises Lesen. Die Funktion der Substantivgroßschreibung besteht in der Möglichkeit der schnellen Erfassung des Inhalts des Geschriebenen. Unterstellt man, daß den gemeinten Sinn niemand besser kennt als der Schreiber selbst, so obliegt ihm zuerst einmal die propositionale Gliederung des Inhalts. In diesem Sinne steht der Schreiber vor der Aufgabe, eine seiner Intention entsprechende propositionale Gliederung für seinen Inhalt zu finden. Hier lohnt sich ein Blick auf verschiedene Möglichkeiten, da man verschiedene Strukturierungen vornehmen kann:13 1. aristotelisches Schema: P(A), das einen Satz in Subjekt und Prädikat (beide Begriffe im ursprünglichen Sinn gebraucht) teilt. 2. Relationsschema: Ρ (Αι, A2, ...Ai, ...An) 3. Kernproposition + „Bestimmungen" (vgl. ζ. B.: Aebli 1980: 113 ff.) Nach der 1. Strukturierung würde man einen Satz wie (i) am abend melkt der bub unseres nachbarn auf der aim voll stolz seine stinkenden Ziegen
propositional so strukturieren. (ii) JEDEN-ABEN^VOLL^TOI^EIb^TINKENDEN-ZIEGEN-MELKEN (buboes „achbam) Wenn die Argumente zu einem Prädikat mit einer Initialmajuskel geschrieben werden sollen, dann ergäbe sich aufgrund von (ii) die folgende Graphie: (iii) Am abend melkt der Bub unseres nachbarn auf der aim voll stolz seine stinkenden Ziegen
Nach der 2. Strukturierung hätte man folgendes Format: (iv) MELKEN (bulw,» „achbam, ziegenseme e „ d e n , abend, aim, stolz) Das hätte die Schreibung (v) zur Folge: stink
(v) Am Abend melkt der Bub unseres nachbarn auf der Alm voll Stolz seine stinkenden gen.
Zie-
Nach der 3. Strukturierung läge folgendes Format vor: (vi) MELKEN Z e i t : Abend Ort: Alm Modus: Stolz ( b u b y n s e r e s nachbam» Zi^gC^eine stinkenden) Als Schreibung: (vii) Am abend melkt der Bub unseres nachbarn auf der aim voll stolz seine stinkenden gen.
Man kann die „Bestimmungen" natürlich wieder propositional auflösen:
13
Es gibt durchaus mehr Strukturierungsmöglichkeiten als hier angegeben sind; vgl. Hinst 1974.
Zie-
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(viii) MELKEN (bub, ziegen); MELKEN-GESCHEHEN (abend, aim, stolz); STINKENDSEIN (ziegen) BUB-ZUGEHÖRIG SEIN (nachbar) und kommt dann zur Schreibung (ix): (ix) Am Abend melkt der Bub unseres Nachbarn auf der Alm voll Stolz seine stinkenden Ziegen. Verändert man den Ausdruck stilistisch leicht und erweitert ihn: (x) mittwoch abend melkt der bub unseres nachbarn stolz seine stinkenden ziegen. da ist er dann voll eifer und schließlich glücklich. würde er nach dieser Analyse wie in (xi) geschrieben: (xi) Mittwochabend melkt der Bub unseres Nachbarn Stolz seine stinkenden Ziegen. Da ist er dann voll eifer und schließlich glücklich. Eine solche Schreibung hätte ihre Vorteile. Die Majuskeln würden schnell den Weg zum Verständnis des Textes weisen. Daß es historisch zu einer solchen Schreibweise nie kam, hängt m.E. mit den Mühen zusammen, denen sich der Schreiber unterziehen müßte, würde er so schreiben (müssen). Die Schwierigkeit läge v.a. darin, daß er eine formale Sinnanalyse vornehmen müßte, daß aber der individuelle Sinn, den er möglicherweise ausdrücken möchte, unter Umständen keine Rolle spielen dürfte. Möglicherweise wäre ihm ja gerade wichtig, daß die Ziegen stinken. Man könnte auch sagen, daß alle Schwierigkeiten dem Schreiber aufgehalst würden und der Leser der ausschließliche Nutznießer wäre. Eine solche Arbeitsteilung wird sich schwer durchsetzen können. Schließlich käme noch hinzu, daß ein solches inhaltsorientiertes Schreiben außerordentlich langsam vor sich gehen würde. Aussage für Aussage müßte auf die Inhaltsstruktur hin überprüft werden. Auf die Frage, welche Wörter man groß schreibe, wäre die Antwort: Das hängt von der betreffenden Aussage ab. Ein solcher Sachverhalt schreit geradezu nach festen Formaten auf der Basis der Ausdrucksmittel. Danach werden die Wörter, deren Hauptfunktion es ist, die Argumente der propositionalen Struktur zu bilden, groß geschrieben. Einsichtigerweise wird allerdings nicht der ganze Ausdruck groß geschrieben, sondern nur der Kern mit einer initialen Majuskel markiert. Genauer gesagt: Jeder Kern einer Substantivgruppe wird mit einer initialen Majuskel markiert. Entscheidend ist nun nicht mehr die Einzelanalyse der Aussage, sondern ein schematisches Verfahren. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Mag in einem konkreten Fall zwischen (xii) der väterliche Rat und (xiii) der Rat des Vaters kein Unterschied bestehen, so kann die unterschiedliche Schreibung auf der Grundlage der Substantivgroßschreibung zum Ausdruck bringen, daß der zweite Ausdruck im Gegensatz zum ersten eine „Argument-Potenz" hat: der rat meines verstorbenen voters. Dies entspricht den beiden Analysen: (xiv) VÄTERLICH-SEIN (rat) bzw. (xv) VERSTORBEN-SEIN (vater)14 14
Natürlich könnte man DER VÄTERLICHE RAT auch so analysieren: RAT-ZUGEHÖRIG-SEIN (vater); dies hätte zur Folge, daß VÄTERLICH groß geschrieben werden müsste. Bei dem Ausdruck DER LIEBLICHE MAI müsste aber LIEBLICH dennoch klein geschrieben werden.
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Die Substantivgroßschreibung bringt damit auch ein höheres Maß an grundsätzlicher Systematik (wenn auch nicht Systematik im konkreten Fall), nämlich kategoiial Gleiches gleich zu behandeln, mit sich. Ausdrücke werden auch da groß geschrieben, wo sie konkret gar nicht die Aufgabe haben, Argument innerhalb einer propositionalen Struktur zu sein, aber grundsätzlich eine „Argument-Potenz" haben. Diese Regelung bringt einen großen Vorteil für den Schreiber, denn er muß nun nicht mehr Ausdruck für Ausdruck die propositionale Struktur ermitteln, sondern kann alle Substantive groß schreiben. Der Nachteil für den Leser ist evident. Er wird nicht auf den je besonderen Text hin orientiert, sondern auch auf mögliche Argumentstrukturen überhaupt. Dies ist eine typisch formularische Lösung. Es wird nicht ein Einzelfall gelöst, sondern der Einzelfall dem Formular angepaßt. Damit muß weder das Lesen noch das Schreiben jeweils von neuem beginnen. Der Schreiber folgt dem vorgegebenen Formular, der Leser profitiert von optisch gleichen Gestalten. Die Lösung des Problems - und das ist typisch für die deutsche Orthographie vor der Reform - erfolgt jedoch nicht rein schematisch ohne Bezug zur orthographischen Formularisierung, wie es die Regelformulierung Substantive schreibt man groß nahelegt. Die orthographische Formularisierung stellt den Bezug zu den propositionalen Strukturen her. Daher werden nicht einfach Substantive groß geschrieben, sondern, wie Maas (1992) formuliert: „Die Kerne nominaler Gruppen". Diese Formulierung nimmt Bezug auf einen Satz (und damit vermittelt auf eine Proposition). Die Schematisierung hält sich daher in Grenzen.15
5.2. Worttrennung am Zeilenende Ähnlich liegen die Verhältnisse bei der Worttrennung am Zeilenende. Sowohl die alte Regelung als auch die reformierte spricht davon, daß sich die Trennung am Zeilenende nach den Sprechsilben ausrichten würde. Dabei wird unterstellt, daß es einen einfachen, natürlichen Zugang durch langsames Sprechen gäbe. Bekanntlich gibt es aber eine Reihe von Wörtern, bei denen die Silbengrenze nicht intuitiv erfaßbar ist. Dies ist der Fall, wenn ein möglicher Silbenonset nicht mit wortinitialen Anfangsrändern zusammenfällt, etwa bei Adler, Klempner, Kanzler etc. Schwierig ist ebenfalls die Bestimmung der Silbengrenze, wenn sie zwischen drei Konsonanten zu ziehen ist, etwa bei knusprig (s. auch unten). Um Schwierigkeiten dieser Art zu entgehen, wurde der Bereich bereits in der II. Orthographischen Konferenz schematisiert, so daß faktisch nicht wie im § 23 des Regelwerks von 1901 - und so in allen Folgen bis zur 20. Auflage des Duden und jetzt auch im neuen Regelwerk - nahegelegt wird, nach Sprechsilben getrennt wird, sondern schematisch so, daß eine neue Zeile bei mehrsilbigen Wörtern mit einem Konsonantenbuchstaben beginnt. Die-
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Folgt man der angegebenen Perspektive, ergibt sich ein interessanter Blick auf die Rechtschreibreform. Dort wurde der Bezug zur orthographischen Formularisierung weitgehend gekappt dergestalt, daß so gut wie immer nach Artikelwörtern groß geschrieben wird. In der Folge der „Vorbemerkungen" zur Groß- und Kleinschreibung werden nach dem reformierten Regelwerk auch im Übrigen, im Großen und Ganzen, im Folgenden, im Unklaren etc. groß geschrieben. Ein solcher Schematismus hat allerdings keine andere Funktion mehr als die, daß es dem Schreiber einfacher gemacht wird, wobei die möglichen kognitiven Steuerungsmechanismen durch die Schrift außer Sichtweite kommen.
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sen schematisierenden Zusatz zur Grundaussage, daß nach Sprechsilben getrennt würde, gibt es seit 1901, ohne daß daraus auch die nötigen Konsequenzen gezogen würden.16 Der Schematismus bei diesem Bereich, der wiederum die Verbindung zum Sachgegenstand nicht völlig aufgibt, bewahrt davor, bei Wörtern, die mehrere Konsonanten an der Silbenfuge haben, überlegen zu müssen, wo die neue Silbe beginnt.
6. Orthographisches Formular und orthographische Schematisierung: Phonem-Graphem-Beziehung
Im Rahmen der grammatischen Formularisierung muß man fragen, welche grammatischen Formulare durch die Orthographie in diesem Feld auszufüllen sind, konkret, wie die Phonem-Graphem-Zuordnimg vonstatten geht. Entgegen den herkömmlichen Vorstellungen, daß diese Zuordnung auf der Ebene des Wortes geschehe - eine Vorstellung, die im Deutschen die Phonem-Graphem-Zuordnung als sehr komplex erscheinen läßt - gehe ich im folgenden davon aus, daß die Silbe die Zuordnungseinheit ist, da mit ihrer Hilfe die Zuordnung der Grapheme zu den Phonemen widerspruchsfreier und einfacher erklärt werden kann als beim Wort als Ausgangseinheit (vgl. Eisenberg 1995: 65; Ossner 1996). Dieses Formular muß als erstes gefunden werden. Man kann unterstellen, daß es sich hier um keinen natürlichen Vorgang handelt (s.u.) Innerhalb des Formulars gibt es weitere Vorgänge, die mit dem hier vorgestellten Gedankengebäude beschrieben werden können. Als Beispiel nehme ich die im Deutschen fast durchgängige Schreibung von für betontes / i : /. Ausnahmen von dieser Schreibimg sind - Flexionsformen von er (ihn, ihrer...) - lediglich diese Formen keimen außer dem Fachwort Ihle die Graphie -ih -
Lehnwörter wie Bibel, Fibel, Maschine...
und
- einige deutsche Wörter wie Biber... Im Mittelhochdeutschen war der graphische Ausdruck eines entsprechenden fallenden Diphthongs. Mit der Durchführung der neuhochdeutschen Monophthongierung wird die Graphie obsolet. Sie erhält sich aber und übernimmt die neue Aufgabe. Auf der einen Seite mag man das als den schon erwähnten Konservativismus der Schrift ansehen, die es als visuelles Medium schwerer hat sich zu ändern als das akustische. Unterstellt man allerdings kommunikative Bedürfnisse, etwa das der schnellen Diskriminierbarkeit, so zeigt sich, daß die Druckgestalt des von allen Graphemen räumlich den kleinsten Platz einnimmt. Dem bereits vorhandenen wird nun eine neue Aufgabe zugeordnet; es zeigt das an, was mit der ganzen Gestalt passiert ist - die Länge - , es wird zu einem formalen Zeichen.17 16
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Interessanterweise zieht die Reform zwar terminologische Konsequenzen - „Worttrennung am Zeilenende" heißt jetzt der Bereich - ohne daß diese aber auch in der Regelformulierung und Regelanordnung durchschlagen würden. Der beschriebene Sachverhalt läßt sich gut auch mit dem Begriff der Reanalyse, wie ihn Langacker (1977:58) definiert, fassen: „I will define ,reanalysis' as change in the strucure of an expression or
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Für die stumme -Schreibung im Deutschen kann man ähnliches zeigen. Bei dieser Schreibung ist auffallig, daß sie nur vor den Graphemen , , , auftaucht, sofern diese Grapheme eines Wortstammes sind. Sprachstatistisch sind und die häufigsten Grapheme am Wortende.18 Die Werte kommen bei und wesentlich durch die 3. Person, bei durch Derivationsformen zustande. Für die folgenden Überlegungen ist wichtig zu sehen, daß in der deutschen Orthographie der Stamm Ausgangspunkt für die Graphie ist. Die Schreibung eines stummen dient dazu, den Stamm optisch auszuzeichnen. Ein stummes signalisiert in dieser Hinsicht, daß der nachfolgende Buchstabe zum Stamm gehört und nicht Teil des Suffixes ist. Bei dieser Darstellung fehlen noch drei Bausteine. 1. Warum wird dann nicht auch ein Stamm - ausgezeichnet? 2. Warum ist das Verfahren nicht vollständig durchgeführt? 3. Warum erledigt diese Aufgabe?
Phonotaktisch kann /h/ nur einen einfachen Silbenonset bilden. In Einsilbern wie / b a : η/, orthographisch , kann daher kein Lautwert entsprechen. Das bedeutet, daß das Graphem an dieser Stelle nicht in das alphabetische System eingebunden ist und daher eine andere Aufgabe übernommen hat, eben die - wie oben auszuführen versucht wurde - , das folgende als Stammbestandteil zu kennzeichnen. Wie in der Argumentation beim feministischen I kann man auch hier sagen, daß das graphische Zeichen keinen Schaden anrichten kann. Die Umwidmung (und damit verbunden die Reanalyse) des graphischen Zeichens ist daher möglich.19 Die zweite Frage beantwortet sich durch einen Blick auf das Flexionsparadigma. kommt wesentlich als Graphem der 3. Person Singular im Verbparadigma vor. Die Frage ist jetzt, warum z.B. (er) betet nicht parallel zu (sie) bahnen behandelt wird, so daß entweder in beiden Fällen oder in keinem eine besondere Auszeichnung nötig ist. Diese Sachlage tritt allerdings mn· bei den schwachen Verben auf, während und weder auf eine Verbklasse noch auf Verben überhaupt beschränkt sind. Ein weiterer Grund, der vor unterdrückt, mag darin liegen, daß beide Grapheme Oberlängengrapheme sind. Allerdings gehört zu den auserwählten Graphemen auch , also ein Buchstabe mit einer Oberlänge. Während aber und ebenso zu den Sonorantengraphemen gehört, ist Repräsentant einer anderen Klasse. Sonorantengrapheme sind Repräsentanten potentieller Silbennuclei. Die sonoranten Konsonanten sind aber nie im Stamm Nucleus, dieser hat immer einen vokalischen Kern. Daher kennzeichnet nun das stumme das nachfolgende Sonorantengraphem als eines, das niemals silbischer Nucleus sein kann.
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class of expressions that does not involve any immediate or intrinsic modification of its surface manifestations." Meier ( 1967) gibt die folgenden Prozentränge an: : 22,64, : 17,47; : 13,18. Wie man rein systematisch betrachtet schnell sehen kann, hätte auch < j > diese Aufgabe übernehmen können, allerdings um den Preis der optischen Verwechslung mit Diphthongbuchstaben wie .
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Bei der ganzen Argumentation aber muß man sich hüten zu unterstellen, daß der Vollzug einer Schematisierung an einer Stelle grundsätzlich den Vollzug an einer anderen zwangsläufig nach sich ziehen müßte. Betrachtet man die Wörter, die trotz eines sonoranten Stammoffsets, repräsentiert durch die Grapheme , , , , kein stummes aufweisen, so ergibt sich die folgende Übersicht:20 Lehnwörter
Areal-und Fachwörter
Altertümliche Wörter
Sonstige
Bar
Bram (fachsprachl.) Breme (bayr./österr.) Dole (fachsprachl.) Düne (mniederdt.)
Bar (regelm. gebautes Lied des Meistergesanges)
bar Blume
Fron
dar der / dem /den
Fön (fachsprachl.)
Feme (+areal: mniederdt.)
Flur
Gör (berl.)
Gral
gar gram grölen grün
Dame Dom Drama Dränieren Dur ' Femel Flanieren Flor Gran
Klar Klonen Krone Kur
Name
Ol Plan 20
Kar (fachsprachl.) Kral (afrikaans) klönen (niederdr.) Mure (bayr./tirol.)
Kür, kören; auserkoren
Mär
nölen (norddt.) vermutlich lautmalend pulen
Als Grundlage der Darstellung diente Mater 1965.
Häme Hüne holen Hure jener / jenseits.. König Kram Kran
Mal Nun Nur
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Pol Pore Rar
(mniederdt.)
Samen Ster
Sur (bayr./österr.)
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Rune Selig Star Stören Stur Ur
Verpönen Zar Zone
Wer / wem / wen
Danach zeigt sich, daß das stumme bei Lehnwörtern regelmäßig nicht auftaucht,21 genauso in Areal- oder Fachwörtern unterrepräsentiert ist und bei den genuinen deutschen Wörtern dort vernachlässigt ist, wo es sich um ausgesprochen seltene Wörter oder um Funktionswörter handelt. Für seltene Wörter fehlen die echten kommunikativen Bedürfnisse, die Formularisierungs- und Schematisierungsvorgängen zugrunde hegen. Dies ist gut auch an Beispielen der Umlautschreibung zu sehen, die sich aus der überschriebenen Anzeige des Lautwertes zum graphischen Wortfamilienzeichen entwickelt hat: Hier finden sich Fälle, bei denen man unterstellen kann, daß ein Sprachzustand fossiliert wird, der synchron nicht ohne weiteres für den Sprachbenutzer zugänglich ist und solche, bei denen „Formularanweisungen" vorliegen, ohne daß sie vollständig synchron rekonstruiert werden könnten. Zur Verdeutlichung die Beispiele Säule und Geländer. (xvi) Säule Die Umlautschreibung durch Ausweisung eines Tremas ist synchron nicht nachvollziehbar, da saule nicht vorliegt. Im Grimmschen Wörterbuch wird auf eine gotische ακ-Form verwiesen und auf ein bair. saulen. Das bedeutet, daß eine einmal richtige Formularanweisung beibehalten wurde, deren Sinn gegenwärtig aber - von einigen bayrischen Gegenden einmal abgesehen - schwer zu durchschauen ist. Betrachtet man die deutsche Orthographie, so fallt auf, daß das, was man traditionell als Ausnahmebereich beschreibt, oft mit der Häufigkeit der gebrauchten Wörter zusammenhängt. Je häufiger Wörter sind, desto eher bewegen sie sich im üblichen Formular oder sind - bei den häufigsten - eigens ausgewiesen, bilden sozusagen ein eigenes Formular im Formular. Dies ist beispielsweise beim Flexionsparadigma von er der Fall, wo die Schreibung ih unikal vorkommt: ihn, ihm, ihnen, ihr... Bei seltenen Wörtern gibt es eine Tendenz, aus dem Paradigma herauszufallen, aber nicht wie bei den sehr häufigen, um einen Sonderstatus zu beanspruchen, sondern weil offenbar Gründe für eine Formularisierung oder Schematisierung, d.h. Anpassung an verschiedene Schreiber und Schreibergruppen gefehlt haben. Säule gehört in diesen Bereich. Ein vergleichsweise seltenes Wort, bei dem der Bequemlichkeitstrieb obsiegte, so daß es sich einer entsprechenden Formularisierung entzogen hat. (xvii) Geländer 21
Man denke daran, daß auch das stumme bei in Lehnwörtern wie Bibel, Fibel, Tiger, Maschine.... nicht repräsentiert ist.
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Auf den ersten Blick scheint bei Geländer der Fall nicht anders zu liegen als bei Säule, es handelt sich ebenfalls um ein seltenes Wort. Der Fall stellt sich aber anders dar, wenn man sieht, daß es sich historisch um eine Kollektivbildung zu mhd. lander (ebenfalls im Bairischen heute zusammen mit glander noch geläufig) handelt. Das „Formularfeld" ge- als Kollektivpräfix bewirkt Umlautung und im entsprechenden Fall Umlautschreibung durch Ausweisung des Tremas (Gebirge, Gebäude, Gelände, Gebälk, Geräusch, Gesäß etc.).
Um eine Schematisierung handelt es sich also hier deswegen, weil keine inhaltliche Verwandtschaft den Angleichungsprozeß auslöst, sondern das mit ge- gebildete Kollektivparadigma. Eine gewisse Schematisierung findet sich im Deutschen auch auf der medialen Ebene, nämlich bei der unterschiedlichen Schreibung der Funktionswörter gegenüber den Inhaltswörtern. Erstere tendieren in gewissen Grenzen zu einer kürzeren Schreibung als letztere (und folgen so dem Zipfschen Ökonomiegesetz, wonach die Silbenanzahl eines Wortes um so geringer ist, je häufiger das Wort ist; vgl. Crystal 1993:87). Dieses Gesetz - wobei man vielleicht besser von einer Tendenz sprechen sollte - gilt auch für die geschriebene Sprache. Allerdings sind dabei geschlossene Paradigmen offenbar in ihrer medialen Gestalt nicht betroffen. Ein interessantes Beispiel ist hier die Schreibung des Artikels die, der nach der Tendenz der Verkürzung auch als *di geschrieben werden könnte. Medial wird aber eine trisegmentale Form erfordert, so daß das gesamte Paradigma dieselbe graphische Gestalt hat.22 Ein typischer Fall von orthographischer Formularisierung liegt bei den zweisilbigen Formen des Verbparadigmas vor. Im umgangssprachlichen Deutsch finden wir einsilbige Verbformen ebenso wie zwei- und mehrsilbige. Einsilbige sind [ t u n ] , [ g e : η] , [ s e : η] , [ f l e : n] etc. Zweisilbige mit konsonantischem Nukleus der 2. Silbe liegen vor bei [ r a : t n ] , [ v l s n ] , [ g r a : b n ] , mit vokalischem Nukleus der 2. Silbe [renan] etc. Der Befund ist zuerst nicht auffällig, da auch bei anderen Wortarten ein- und zweisilbige genuine Ausdrücke vorkommen (Tisch - Kasten; feig -feige..)·, auffallig wird er erst in der Graphie, wo die Verben durchgehend - ausgenommen die Verben sein und tun - zweisilbig in der Grundform erscheinen, so daß die phonetischen Unterschiede nivelliert erscheinen. Nun kann man sich fragen, ob die Graphie hier einen grammatischen Befund wiedergibt oder einen eigenen Weg einschlägt. Wenn man sagt, die Verbformen seien einsilbig im Lexikon und nur die Schrift greife zu einer zweisilbigen Form, kommt man in Beschreibungsschwierigkeiten. Denn man kann durchaus die einsilbigen Formen, die im Mhd. ja auch schriftsprachlich auftreten (hän < haben, län