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German Pages [200] Year 2004
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Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus
Herausgegeben von Martin Brecht, Christian Bunners und Hans-Jürgen Schrader
Band 44
Vandenhoeck & Ruprecht
Schreibsucht Autobiografische Schriften des Pietisten Ulrich Bräker (1735–1798) Herausgegeben von
Alfred Messerli und Adolf Muschg
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 6 Abbildungen
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-55829-5 Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung Umschlagabbildung: Ausschnitt von der Abbildung von Ulrich Bräker und seiner Frau Salome (Joseph Reinhart, 1793), Historisches Museum Bern.
© 2004 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen / Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Inhalt
ALFRED MESSERLI Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ADOLF MUSCHG Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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KARL PESTALOZZI Stationen der Bräker-Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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KLAUS-DETLEF MÜLLER Leben. Schreiben. Zu Bräkers Autobiographie . . . . . . . . . . . .
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ALFRED MESSERLI Bräkers Schreibprogramme, Schreibmotive und Schreibpraktiken in seinen Tagebüchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ULRICH JOOST Tagebücher? Verstreute Beobachtungen zu Textsorte, Technik und Funktion. Ulrich Bräker, Georg Christoph Lichtenberg und einige ihrer Zeitgenossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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BETTINA VOLZ-TOBLER Ulrich Bräkers »Selbstaufklärung« im Spiegel seiner frühen Tagebücher
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HANS-JÜRGEN SCHRADER Sphärensprünge vom Landleben zur Literatur. Von Bräker bis Brandstetter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ANDREAS BÜRGI Das Reisen, die Schlacht. Zu einer Voraussetzung von Ulrich Bräkers Tagebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
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Inhalt
JÜRGEN KLOOSTERHUIS Donner, Blitz und Bräker. Der Soldatendienst des »armen Mannes im Tockenburg« aus der Sicht des preußischen Militärsystems . . . . . . 129 JEAN-LUC PIVETEAU Bräker et les cercles de l’espace . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
Vorwort Vorwort
Vorwort Zur Erinnerung an Ulrich Bräker (1735–1789) wurde am 11./12. Dezember 1998 in Zürich am Collegium Helveticum der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETHZ) – der damalige Leiter war Prof. Dr. Adolf Muschg – das Symposium ». . . weil doch die Schreibsucht mich beherrscht . . .« durchgeführt. Durch die Vermittlung von Prof. Dr. Hans-Jürgen Schrader, Universität Genf, konnten die Referate hier, in der Reihe »Arbeiten zur Geschichte des Pietismus«, erscheinen. Zwei der Referate sind an anderer Stelle publiziert worden, nämlich der Beitrag von Günter Niggl (vgl. Günter Niggl, Studien zur Literatur der Goethezeit, Berlin 2001 [Schriften zur Literaturwissenschaft; 17], S. 134–141, 289) und jener von Helmut Pfotenhauer (vgl. Helmut Pfotenhauer, Sprachbilder. Untersuchungen zur Literatur seit dem achtzehnten Jahrhundert, Würzburg 2000, S. 31–34, 227). Alfred Messerli Zürich, November 2003
AdolfMuschg Einführung
ADOLF MUSCHG
Einführung Hier legen berufene Referenten dar, für wie viele neue Einsichten in die merkwürdige Lebensarbeit des Armen Mannes sie, durch historische Erfahrung und persönliche Studien, frei geworden sind. Ich habe, statt einer Einführung, nur meine eigene Unfreiheit zu bekennen, und möchte sie in Form einer privaten Geschichte belegen. Mein Vater war ein pensionierter Schulmeister, Jahrgang 1872. Am Feierabend schrieb er Geschichten, die aus seiner Kindheit als Kleinbauernsohn im Zürcher Oberland geschöpft waren. In unserer Wohnstube, die zugleich als Schreibzimmer, und einmal in der Woche als Treffpunkt eines pietistischen Lesekreises alter Männer diente, gab es einen hohen verglasten Bücherschrank, und einen niedrigen, der offen war. Im einen standen Meyers Klassiker, im anderen die Bücher, die wirklich gelesen wurden: Axel Munthes »Buch von San Michele«, Carl Hilty »Was persönlich fördert«, Synnöve Christensen: »Ich bin eine norwegische Frau«, aber auch drei illustrierte Bände »Sitten der Völker« von Dr. Georg Buschan, und, hinter zwei Bänden von »Dr. Königs Ratgeber für gesunde und kranke Tage« mit vielen anatomischen Abbildungen, der verborgene dritte Band, in dem sich nachlesen ließ, was sittenlose Frauen der Großstadt mit ihrer Anatomie anstellten. Zuvorderst aber stand auch ein schwarzbrauner Pappband, dessen Muster Kunstleder imitierte, mit beschädigtem Rücken, auf dem in Frakturschrift zu lesen war: »Lebensgeschichte und natürliche Abentheuer des Armen Mannes im Tockenburg«. Das Buch hatte in einem der Kriegsjahre unter dem Christbaum gelegen, in dessen unsicherem Licht der Zehnjährige gleich zu lesen begann, obwohl das Buch gewiss nicht für mich bestimmt war. Und doch: Ich habe in den nächsten Jahren dieses Buch zu lesen nicht mehr aufgehört. Sie erinnern sich: Als der kleine Geißhirt seinen Tieren durch ein Hagelwetter nachjagen musste und dabei fast zu Tode kam, entdeckte sein Vater, Tage später, »mitten an der einen Fußsohle ein groß Loch, und Mooß und Gras darinn [. . .]. Der Aeti grub mir’s mit einem Messer heraus, und verband mir den Fuß.« Dieses Loch im Fuß, und das Messer darinn, verfolgte mich bis in den Traum. Als der Bub später seinem Ännchen »in den Wurf kam« und »wie versteinert« stand, sagte sie: »›Uli, komm heut z’Nacht ein Bißli zu mir, ich hab’ mit dir z’reden.‹« Aber zuvor hatte sie ihn zum Tanz gebeten: »›Uli! führ’ du mich auch Eins herum!‹ Ich feuerroth erwiederte: ›Ich kann’s nicht, Aennchen! gewiß, ich
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Adolf Muschg
kann’s nicht!‹ ›So zahl’ mir denn eine Halbe‹, versetzte sie, ich wußt’ nicht recht ob im Schimpf oder Ernst. ›Es ist dir nicht Ernst, Schleppsack‹, erwiedert’ ich darum. Und sie: ›Mi See, s’ist mir Ernst!‹« Ich kannte keinen Menschen, der so redete, und doch war es meine Sprache wie noch keine andere. Sie beglaubigte mir die schauderhaften Dinge, die ich von außen, aber auch im Innern auf mich zukommen sah. »Ich kann’s nicht, Aennchen, gewiß, ich kann’s nicht.« So war das, Wort für Wort war das wahr, und darum beschäftigte mich jedes, das mir fremd war, nur um so mehr: Würde ich jemals »Schleppsack« zu dem Schulschatz sagen, von dem ich schmerzhaft zu träumen anfing? und nur wusste: so, genau so wie dieses Ännchen spielte er – sie – mir mit. Ich grübelte jahrelang über diesem prophetischen Text, in dem meine Schuldigkeit stand und über den ich niemanden zu befragen wagte; ich wusste nicht, dass es ein Text aus einem fernen Jahrhundert war. Zu diesem Text gab es auch keinen anderen Autor, er deckte ja jedes Geheimnis meiner Kindheit auf, nicht der gelebten, sondern der wirklichen. Diese Armut, die sich vor der Lust fürchtete, die sie sich herausnahm: Das war ein Stück von mir. – Ich war zwölf, als meine Mutter mit dem dunklen Befund »gemütskrank« aus dem Haus verschwand; als bald danach auch mein Vater starb, zog, als Nothelferin, der leibhafte Schrecken in die leere Wohnung ein, in Gestalt meiner Gotte, der ältesten Schwester meiner Mutter. Sie war Gemeindeschwester einer Bodenseegemeinde und hatte immer überaus plastisch von ihren Schwerkranken und zuverlässig und meist grausam Sterbenden zu berichten gewusst. Die ließ sie nun alle im Stich, um bei mir zum Rechten zu sehen. Das Rechte bestand aus schrecklichen Worten über die Nachlässigkeit meiner abwesenden Eltern, aus Kartoffelstock, Sauerkraut und gelegentlich eine von Herzen gehasste Schüblingswurst, die restlos wegzuputzen war. Und jedes Mahl, das schweigend eingenommen wurde, gesegnete sie uns mit einem schwermütigen Tischgebet, bei dem ihre Stimme klein und brüchig wurde, wie diejenige eines gedrückten Vogels, der ihrer Leibesschwere verzweifelt zu entkommen suchte. Ich hatte diese Frau gefürchtet, seit sie mich zum ersten Mal auf den Arm genommen hatte, und vor ihrer herzinnigen Frömmigkeit graute mir noch mehr als vor dem dumpfen Groll, mit dem sie die kleine Stube zum Ersticken füllte. Ich versuchte mir die Schwere ihrer Einsamkeit vom Leib zu halten, und musste viel älter werden, um sie riechen zu können. Sie war ihr Leben lang ein verlorenes Kind geblieben, konnte sich selbst nur als unerwünscht denken und vergab sich nicht, dass sie, wie ihre Mutter ihr nachsagte, »im Rausch gemacht« worden war. Aber sie hatte, anders als ihre Mutter, den traurigen Mut, ihr Elend herzhaft, beinahe rechthaberisch zu tragen, wie die Rotkreuzbrosche auf ihrer Brust, und es jeden Abend geräuschvoll bei ihrem lieb genannten Gott abzuladen. Erst als sie schon pensioniert war, habe ich sie als Geschichtenerzählerin kennen gelernt, der meine eigenen Kinder gebannt zuhörten. Es waren immer noch leidige, ja haarsträubende Geschichten, die sie aber mit so viel Frische
Einführung
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ausrichtete, als wären sie ihr eben erst zugestoßen. Nach ihrem Tod fiel es mir zu, ihre Wohnung im Altersheim zu räumen. Da stieß ich, hinter der Deckung erbaulicher Schriften, plötzlich auf jenes schwarzbraune Büchlein mit dem Rückenschaden: »Der arme Mann im Tockenburg«. Ich hatte es längst nicht mehr vermisst; nun aber schlug ich es auf und verschwand wieder darin, wehrlos der Erinnerung an das Kind ausgeliefert, mit seinem Loch im Fuß, aus dem der Äti Moos und Gras ausgegraben hatte, das Zauberwort Schleppsack war wieder da und so undurchdringlich wie je. Aber warum hatte sie das Buch versteckt, wie meine Eltern die Schilderungen der Berliner Sittenpolizei? Es war nicht anders, die Tote musste das Buch ausgeführt haben, nachdem sie aufgehört hatte, bei mir zum Rechten zu sehen. Sie konnte sich nicht davon trennen, ich war ihr auf die Spur einer unrechten Tat gekommen, vielleicht der einzigen, die sie in ihrem Leben begangen hatte. Und plötzlich gingen mir die Augen auf, und auch ein wenig über: Wenn nun sie es gewesen war, die meinen Eltern das Buch einst zu Weihnachten geschenkt hatte, einen Schatz, den sie zurücknahm, als die Beschenkten seiner nicht mehr würdig waren, da sie mich, das arme Kind, verließ? Sie hatte es schamhaft aufgehoben, denn dieses Buch enthielt ihr Geheimnis, bevor ich das meine darin entdeckt hatte. Und jetzt, nach ihrem Tod, bekam ich es zurück – zurückgeliehen. Es war einmal die Gabe einer Fee gewesen, jetzt wurde es wieder dazu. Dies ist das Buch. Und wenn Bücher, wie es heißt, ihre Schicksale haben, so kann es auch vorkommen, dass Menschen ihre Schicksale in einem Buch zeichnen, ohne an seinen Buchstaben rühren zu müssen. Es ist schon in der Sprache geschrieben, die sie nun für ihr eigenes Leben nicht mehr zu finden brauchen. Dass es die Sprache eines Toggenburger Autodidakten aus dem 18. Jahrhundert war, der mit seinem Garn über den Grat einer fernen Zeitenwende hausieren musste, brauchte seine wahre Leserin nicht zu wissen. Sie fand sein Glück darin – auch wenn es nur darin bestand, dass er sich über sein Unglück in Gottes Namen, aber auch in seinem eigenen, hinreichend Rechenschaft zu geben getraute. So weit reichende, dass zwei Personen meiner nächsten Bekanntschaft – eine davon bin ich – glauben durften, sie selbst seien eigentlich nichts anderes als Figuren aus diesem Buch. Einer solchen Schrift begegnet man mit einer Philologie ganz eigener Art. Eine künftige Umschrift ist mir nicht gelungen, und vielleicht sollte sie auch nicht gelingen. Aber ich lese mit Spannung die Entdeckungen und Erfahrungen, die andere mit einer Schrift gemacht haben, die immer noch, nach zweihundert Jahren, wie frisch erzählt wirkt. Und ich erlaube mir, den höheren und tieferen Lesarten des Armen Mannes im Geist meiner Patentante ein wenig kindisch zu begegnen – mit jener unverfrorenen Vertraulichkeit, die Bräker selbst seinem Shakespeare entgegengebracht hat: »wann mann dich auch citieren kan, komm doch ein weyl zu mir – und gönne mir, du großer mann ein kurtz gespräch mit dir. – hört uns das gseind, u. spottet mein so bitt ich, hilff du mir – jch will dir dan dein rüpel seyn, sonst kan ich nicht darfür.«
KarlPestalozzi Stationend erBräkerEd ition
KARL PESTALOZZI
Stationen der Bräker-Edition Der folgende chronologische Durchgang durch die Editionen Ulrich Bräkers erfolgt unter zwei Fragen. Zum einen unter der engeren, editionsphilologischen, was die einzelnen Herausgeber jeweils aus Bräkers Schriften ausgewählt und wie sie es ediert haben, unter Umständen auch für wen. Das interessiert in erster Linie die Bräker-Philologie. Von allgemeinerem Interesse ist die andere Frage, welches Bild von Ulrich Bräker die Herausgeber bei ihrer Arbeit ausdrücklich oder stillschweigend geleitet hat und warum – Editionen also verstanden als Zeugnisse der Rezeptionsgeschichte. Antworten auf beide Fragen lassen sich den Einleitungen und Vorwörtern entnehmen, sie ergeben sich aber oft auch unausdrücklich aus Vergleichen zwischen den Ausgaben und ihrer Vorlage. Dass in der Darlegung die beiden Fragen nicht gesondert behandelt werden können, versteht sich von selbst1.
I. Am Anfang der Editionsgeschichte Ulrich Bräkers steht Johann Heinrich Füßli (1745–1832), der Zürcher Schriftsteller, Verleger und spätere Obmann. Er gehörte zur Generation der politisch und sozialkritisch aktiven jungen Zürcher aus regimentsfähigen Familien, die unter dem prägenden Einfluss Johann Jakob Bodmers aufgewachsen waren, wie sein Namensvetter, der spätere Maler, ferner Johann Kaspar Lavater, Johann Heinrich Pestalozzi, die Brüder Hess und andere. Er war auch ein tragendes Mitglied der »Helvetischen Gesellschaft« zu Schinznach. – Füßli wurde durch den Wattwiler Pfarrer Martin Imhof auf den schreibenden Toggenburger Landmann aufmerksam gemacht und fand an dessen Lebensgeschichte Gefallen. Er veröffentlichte sie, erst in Fortsetzungen im Schweitzerischen Museum 1788 und 1789. Das günstige Echo veranlasste ihn darauf zu einer selbstständigen Buchausgabe. 1789 erschien in Zürich bei Orell, Gessner, Füßli und Co. Lebensgeschichte und natürliche Aben1 Alfred Messerli, Vermittler, Herausgeber, Kritiker und Leser von Ulrich Bräkers Schriften. Zum Todestag des Armen Mannes aus dem Tockenburg, in: Das achtzehnte Jahrhundert. Zs. der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts. Wolfenbüttel, Jg. 22 (1998), Heft 2, S. 184–193. Ich danke Alfred Messerli, auch über diesen Aufsatz hinaus, für wichtige Informationen und Anregungen.
Stationen der Bräker Edition
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theuer des Armen Mannes im Toggenburg, Hg. von H. H. Füßli, in zwei Ausgaben, einer billigen auf Druckpapier und einer doppelt so teuren auf Schreibpapier mit Illustrationen von Schellenberg. Damit war Bräker, wenn auch anonym, zum Autor geworden, der im deutschen Sprachgebiet gelesen wurde und den die Allgemeine Deutsche Bibliothek und die Allgemeine deutsche Literaturzeitung sehr positiv rezensierten. Ermutigt durch diesen Erfolg ließ Füßli der Lebensgeschichte 1792 eine Auswahl aus Bräkers Tagebüchern der Jahre 1779–1782 folgen. Beide Bände zusammen erschienen unter der Bezeichnung Sämtliche Schriften des Armen Mannes im Tockenburg gesammelt und herausgegeben von H. H. Füßli, 1789 und 1792. Der Band Tagebuch trug den Vermerk I. Theil. Zu der damit in Aussicht gestellten Fortsetzung kam es jedoch nie. Wahrscheinlich hatte der Umstand, dass der Tagebuch-Band in Berlin sehr kritisch besprochen wurde, Füßli von der geplanten Fortsetzung abgebracht. Bräker hoffte noch jahrelang vergeblich darauf und richtete zeitweise auch sein Tagebuchschreiben auf eine Veröffentlichung ein. Man kann Füßlis Druck der Lebensgeschichte als »autorisierten«, d. h. vom Autor ausdrücklich gebilligten Text bezeichnen, nicht obwohl, sondern weil Füßli massiv in die Textgestalt eingegriffen hatte. Bräker war dankbar für Füßlis Redaktion, er wusste, dass er selbst nicht in der Lage war, ein druckfertiges Manuskript herzustellen, das den Ansprüchen genügte, die die Bücher zeitgenössischer Autoren, die er las, repräsentierten: »Denn das Feilen war nie meine Sache, und ich glaube, es wäre in Ewigkeit nie dazu gekommen« (Füßli I, S. 286). Als Autorisierung lässt sich die folgende Stelle in Bräkers Tagebuch, die das Erscheinen der Lebensgeschichte kommentiert, auffassen: »nicht mein geschmier wars, das mir so freüde machte – das kandt ich schon lange – freilich, als mein keind – das ich besser wünschte – nein die schönen verbesserungen u. anmerkungen meines guten verlegers – der sich meines geschmiers – so herablassend und güttig annahm – durch eine schmeichelhaffte zierliche vorrede – demselben den weg bante – das wars – das mir so innig wohlthat – solch eine meisterhand brauchte mein geschmiere – dachte ich.« (22. Mai 1789; Sämtliche Schriften Bd. 3, S. 158)
Da weder Handschrift noch Druckmanuskript erhalten sind, kann man nur vermuten, in welcher Richtung Füßlis Verbesserungen gingen. Claudia Holliger hat das untersucht, aufgrund der überprüfbaren Änderungen Füßlis an Tagebuchtexten Bräkers, und das Ergebnis folgendermaßen zusammengefasst: »So korrigierte Füßli grammatikalische Fehler, indem er unvollständige Sätze ergänzte, den Tempus und Modusgebrauch differenzierte und alle Wortwiederholungen durch andere Ausdrücke ersetzte. Den meist additiv gebauten Text Bräkers mit der häufigsten Konjunktion ›und‹ suchte Füßli logisch zu strukturieren, indem er eine Anzahl neuer Beziehungswörter einführte. [. . .] Der stockende, stark mundartlich gefärbte Stil Bräkers wurde dadurch zur leicht fließenden, eleganteren Schriftsprache.«2 2 Claudia Wiesmann, Autor und Verleger, in: Ulrich Bräker. Die Tagebücher des Armen
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Karl Pestalozzi
Das Bild, auf das hin Füßli Bräkers Lebensgeschichte redigierte, kann man aus den Anschauungen erschließen, die hinter Füßlis Interesse an Bräker als Mensch und Schriftsteller standen, die er mit seinen Zürcher Gesinnungsfreunden teilte. Als Physiokraten, die die Grundlagen des allgemeinen Wohlstandes in der Landwirtschaft sahen, lag ihnen das Wohl der bäuerlichen Landbevölkerung besonders am Herzen. Als Bodmer Schüler und Patrioten sahen sie auf dem Lande Überreste der moralischen und geistigen »Simplizität« erhalten, die ehedem die alten Eidgenossen ausgezeichnet habe, die aber in den Städten, besonders in Zürich, unter dem Einfluss der französischen aristokratischen Kultur verschüttet sei. Als Aufklärern war ihnen Bräker ein Beweis dafür, dass die Vernunft weder regionale Grenzen kannte noch solche des Standes: Als »Eine Dosis gesunden Menschenverstandes aus den Bergen« waren 1789 Bräkers Tagebuchauszüge im Helvetischen Calender angekündigt worden, und in der Vorrede zur Lebensgeschichte schrieb Füßli, Bräker habe die Fähigkeit, viele seiner Mitmenschen »nützlich zu ergötzen«, was dem für die Aufklärungspoetik zentralen »prodesse et delectare« aus der ars poetica des Horaz entsprach. Man darf insgesamt annehmen, dass Füßli Johann Kaspar Hirzels Wirtschaft eines philosophischen Bauers von 1761 vor Augen hatte, als er sich Bräkers Schreiben annahm. Hirzel selbst zog später diesen Vergleich und stellte Bräker über seinen Kleinjogg. Zusammenfassend kann man sagen: Füßlis Edition präsentierte Bräker für ein aufgeklärtes, patriotisches, physiokratisch interessiertes bürgerliches Lesepublikum in der Schweiz und im weiteren deutschen Sprachgebiet, das literarisch gebildet und entsprechend anspruchsvoll war. Bräkers Standesgenossen im Toggenburg, soweit sie davon Kenntnis bekamen, brachten für seine Schriften keinerlei Verständnis auf, ja sie sahen darin ein Zeichen von Überheblichkeit.
II. Der nächste Bräker Herausgeber war der St. Galler Universalgelehrte, Prediger und Pädagoge Peter Scheitlin (1779–1848), der Bräker noch persönlich gekannt hatte. In der von Karl Steiger herausgegebenen Reihe Volks und Jugendschriften gab er 1844 zwei Bände heraus: Lebensgeschichte des armen Mannes im Tockenburg genannt Näbis Uli. Ein Volks und Jugendbuch. Scheitlin hatte die Lebensgeschichte durch Auszüge aus späteren Tagebüchern ergänzt, die er offensichtlich aus eigener Anschauung kannte, wie seine genaue Beschreibung davon zeigt (vgl. Scheitlin, Bd. II, S. 156–158). Zu seinen Bearbeitungsprinzipien sagt er: Mannes im Toggenburg als Geschichtsquelle. 118. Neujahrsblatt, Hg. von Historischen Verein des Kantons St. Gallen, Flawil 1978, S. 17–25. hier S. 23.
Stationen der Bräker Edition
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»[Seine Schriften] sind vom Verfasser zunächst nur für seine Kinder geschrieben. Auch enthalten sie in der Darstellungsweise und Sprache soviel reinschweizerisches und sogar Tockenburgisches, dass ein großer Theil für den deutschen Leser unverständlich und ungenießbar ist. Überdies passt gar Manches in eine Jugendschrift durchaus nicht, oder wenigstens nicht mehr. Diese unsre Bearbeitung fürs Volks und für die Jugend aller deutschen Lande lässt nun aber einerseits nicht den Ulrich selbst erzählen, sondern erzählt, was er erzählt hat, ihm nach, anderseits hat sie alles, nicht Allgemeinverständliche entweder ausgemerzt oder durch Verständlichkeit ersetzt, und manches nur Witzige, aber Unvolksthümliche und für junge Leute nicht Passende, ganz weggeschnitten, jedoch das eigenthümliche muntere Gewand, in welchem der Held des Buches seine Geschichte und Gedanken darstellt, so viel möglich und thunlich beibehalten, so dass dieses unser Büchelchen dennoch ihn selbst gibt. Auch sollen die hie und da eingestreuten Bemerkungen auf die Erzählungen keinen störenden Einfluss haben, sondern die Erzählung nur lehrreicher machen.« (Scheitlin, Bd. 1, S. VIII/IX)
Scheitlin hat Bräkers Lebensgeschichte nicht nur in die er-Form umgeschrieben, sondern auch seinem Bild von Jugendgemäßheit eingepasst. Auf diese Weise wurde Scheitlins Bräker zu einem Gegenstand religiöser und pädagogischer Erbauung, an dessen Lebensgang man die weise Führung der Vorsehung erkennen könne und was es heiße, mit seinem Pfunde zu wuchern. Editorisch gesehen ist Scheitlins Bräker-Bearbeitung wertlos. Aber sie hat dazu beigetragen, das Andenken Ulrich Bräkers lebendig zu erhalten, vor allem in der Ostschweiz. Scheitlin war es offensichtlich auch darum gegangen, dem noch jungen Kanton St. Gallen eine geistig-literarische Tradition zu geben. Das Buch erlebte mehrere Auflagen, ein Verehrer Scheitlins, Johann Jakob Bernet, stellte es in seinem Nekrolog auf ihn sogar über das Original.3
III. Der wichtigste und folgenreichste Bräker Editor des 19. Jahrhunderts war Eduard von Bülow (1803–1853), übrigens der Vater des Komponisten und Dirigenten Hans von Bülow. Bülow war ein deutscher Literat, Freund des alten Ludwig Tieck, »dem er sich in Dresden innigst anschloss« (ADB), auch, kann man ergänzen, in seiner literarischen Produktivität und deren Folgen. Er schrieb zahllose Novellen, in denen er Stoffe aus der gesamten Weltliteratur adaptierte. Daneben war er als Herausgeber von Dichtern tätig, Grimmelshausen, Novalis, Kleist. 1838 habe er, wie er später schrieb, Bräkers Schriften zufällig kennen gelernt. Gleich machte er daraus eine Novelle mit dem Titel Die Jugend des armen Mannes im Tockenburg, ein Idyll nach einer Autobiographie (1841). Daran erinnerte er sich wieder, als er 1849, vermutlich aus privaten und politischen Gründen, seinen Wohnsitz in den Thurgau verlegte, wo er Schloss Oetlishausen kaufte. 3 J.[ohann] J.[akob] Bernet, Nekrolog von Peter Scheitlin, St. Gallen 1852, S. 73.
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Er erkundigte sich nach Bräkers Nachlass und kam so mit einem der Besitzer, Pfarrer Johann Jakob Rietmann in Lichtensteig, in Kontakt, der ihm die Aufgabe, Bräker herauszugeben, überließ, zu der er selber nicht mehr kam. Bülow erhielt Zugang zu sämtlichen erhaltenen Tagebüchern, auch denen auf dem St. Galler Stadtarchiv bei Archivar Wegelin. So beschreibt Bülow seinen Weg zu Bräker in der Vorrede zu seiner Bräker Ausgabe Der arme Mann im Tockenburg. Nach den Originalhandschriften herausgegeben, Leipzig 1852. (I. Selbstbiographie, II. Tagebücher, III. Etwas über Shakespeare). Für die Lebensgeschichte hatte Bülow natürlich auch nur Füßlis Ausgabe als Textgrundlage. Er kritisierte sie heftig. Zwar anerkennt er in seinem Vorbericht Füßlis Verdienste um Bräkers Nachleben, fährt dann aber fort: »Allein er stand literarisch nicht auf der eigentlichen Höhe des Bräkerschen Werths, und hat so vieles wahrhaft Schöne, Naive, Poetische der Handschrift von ihrer ungehörigen und prosaischen Wortfülle gleichsam ersticken lassen. Hier und da ›verbessert‹ er sie wohl auch durch eigene Wohlredenheit und Bildung und steht selbst nicht an, wo es ihn gutdünkt, Füßlische Ansichten und Urtheile Bräker unterzuschieben.« (Bülow, S. IV)
Ohne im einzelnen darauf hinzuweisen, ging Bülow daran, Bräkers Text von den vermuteten Zutaten Füßlis zu reinigen. Die nun in Selbstbiographie umbenannte Lebensgeschichte gliederte er, unter Auflösung der ursprünglichen Kapiteleinteilung, nach Lebensphasen: Kindheit, Bubenjahre, Erste Liebe, Wanderschaft, Heimkehr, Ehe und Wehestand, Schluss. Innerhalb des Textes tilgte er, was auf Bräkers Belesenheit verwies; wo Bräker z. B. von seiner »Dulcinee« spricht, eine Cervantes-Reminiszenz, setzt Bülow »Schatz«. Zitate aus andern Werken ließ er aus, desgleichen Eigennamen resp. deren Abkürzungen. Das macht den Text ausgeglichener, flüssiger, Bülow hätte wohl gesagt, dichterischer; denn auf Bräker als Naturdichter kam es ihm an. Er schreibt in der Einleitung: »Fassen wir das Ergebnis dessen, was wir von Ulrich Bräker, dem armen Manne, man dürfte jetzte sagen, dem Proletarier im Tockenburg, wissen, in Eins zusammen, so hat die ganze neuere Literatur bis auf Hans Sachs nirgends seines Gleichen aufzuweisen.« (Bülow, S. IX)
Wie in Hans Sachs, dem »Schuhmacher und Poet dazu«, sah Bülow in Bräker eine Verbindung von einfachem Handwerker und Dichterberuf. Darum wollte er ihn wieder zu Ehren bringen. Für die Tagebuch-Auswahl hatte Bülow den ganzen erhaltenen Bestand zur Verfügung. Da ihm offenbar der pietistische Bräker nicht ins Konzept passte, begann er 1771 und berücksichtigte die Jahrgänge bis 1782. Die neunziger Jahre ließ er weg, wie Voellmy vermutet, ihres politischen und lokalen Inhalts wegen. Erst das Todesjahr 1798 ist wieder vertreten. Dass Bülow auch bei dieser Auswahl vor allem den Dichter im Auge hatte, zeigt seine Erklärung:
Stationen der Bräker Edition
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»So wie die Noth zu aller Zeit die unsterbliche Mutter des Talents bleibt, habe ich aus den Tagebüchern der Jahre, welche dem armen Mann die schwerste Not bereiteten, den reichsten Stoff entnehmen können. Hinzugefügt oder vermeintlich verbessert habe ich in den Bräkerschen Handschriften nicht das Geringste; um die Eigenthümlichkeit des Verfassers aber desto besser hervorzuheben, vieles Störende und Geschwätzige entfernt.« (Bülow, S. VI)
Tatsächlich hielt sich Bülow bei den aufgenommenen Tagebuchpartien ziemlich an den Wortlaut, normalisierte aber stillschweigend Orthographie und Interpunktion. – Da Bülow noch den Ausleihkatalog der Lichtensteiger Lesegesellschaft einsehen konnte, wissen wir dank seiner Liste, welche Bücher Bräker 1776 bis 1792 gelesen hat (vgl. Bülow, S. VIII) – Bülows Ausgabe war die Textgrundlage der ersten Ausgabe der Lebensgeschichte in der Universalbibliothek des Verlages Philipp Reclam jun., Stuttgart 1889.4 Erklärtermaßen beschränkte sich auch Ludwig Zürn, Professor am Gymnasium in Freiburg i. B., »auf die Selbstbiographie und das Tagebuch in der Bülowschen Bearbeitung« (Zürn, S. XII), als er 1892 Der arme Mann im Tockenburg »neu herausgegeben« veröffentlichte. Er habe nur hie und da einen mundartlichen Ausdruck, den Bülow ausgemerzt habe, wieder aufgenommen. Sein eigener Beitrag bestand in Anmerkungen, die besonders mundartliche Ausdrücke erklären, einmal auch eine Fehllesung berichtigen, und in einem Hinweis auf Bräker-Bildnisse. Im gleichen Jahr 1892 brachte der »Verein für Verbreitung guter Schriften«, Zürich, Naebis Ueli, der arme Mann im Toggenburg in 30 000 Exemplaren heraus, in der Bearbeitung des »Sonntagsblattes der Thurgauer Zeitung«, deren Autor anonym blieb. Dieser hielt sich weitgehend an Bülows Version, kürzte sie aber an manchen Stellen und schaltete Überleitungen in der dritten Person ein. Auffallend ist die Purgierung erotischer Stellen, z. B. in der Geschichte mit Ännchen. So kann man sagen, dass das 19. Jahrhundert Bräkers Schriften, und vor allem die Lebensgeschichte, nur in bearbeiteter Form zur Kenntnis nahm, und ausschließlich in normalisierter Sprache und Orthographie. Sosehr man sich für ihn als naturwüchsigen Autor aus der ländlichen Unterschicht, Bülow nennt ihn gar einen »Proletarier«, interessierte, man unterwarf ihn durchgehend Normen, die in der zeitgenössischen bürgerlichen Gesellschaft galten. IV. Bülow hatte im Teil III seiner Ausgabe erstmals nachdrücklich auf Bräkers Shakespeare-Lektüre hingewiesen und das Shakespeare-Büchlein mitgeteilt, allerdings nur unvollständig. Zwar berücksichtigte er die Besprechungen sämt4 Messerli, Vermittler, Herausgeber, Kritiker (wie Anm. 1), S. 191.
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Karl Pestalozzi
licher Stücke, aber nur gekürzt und in korrigierter sprachlicher Gestalt. Bräkers einleitende Anrede an den »Großen Mann« ließ er ebenso weg wie alle Hinweise auf Shakespeares göttliche Sendung. Das Shakespeare-Büchlein erstmals zur Gänze und mit philologischer Sorgfalt publiziert zu haben war das Verdienst des St. Galler Kantonsschulprofessors Ernst Götzinger (1837–1896). Er gab es im Shakespeare Jahrbuch XII, 1877 vollständig heraus: »Gegenwärtige Ausgabe bringt die Originalhandschrift zum ersten Mal in ihrem ganzen Umfange und philologisch genau zum Abdruck.« (Götzinger, S. 5) Götzinger hatte damit der deutschen Shakespeare-Rezeption ein wichtiges weiteres Zeugnis zugänglich gemacht, auch wenn es Friedrich Gundolf in Shakespeare und der deutsche Geist (1911) nicht zur Kenntnis nahm. Aufgrund des Shakespeare-Büchleins wurde Bräker nun gern der Genie-Bewegung zugeordnet. Schnorf in seinem Buch Sturm und Drang in der Schweiz (1914) folgert daraus: »Die Einflüsse der Stürmer und Dränger [. . .] drangen in die entlegensten Schweizer Bergtäler und machten auf mehr als ein schlichtes Kind des Volkes mächtigen Eindruck«5, was er freilich nur mit Bräker und dessen Freund Ambühl belegt. Dass Götzinger unter »philologischer Genauigkeit« nicht unbedingte Texttreue im modernen Sinne verstand, zeigt ein Vergleich mit der heute im Faksimile leicht zugänglichen Handschrift. Dieser lässt erkennen, dass Götzinger Bräkers Zeichensetzung und Orthographie nicht übernahm, gelegentlich auch ein Wort ausließ, was in einer Zeit, in der die Drucklegung handschriftlich vorbereitet wurde, wohl nicht völlig zu vermeiden war. Schon Götzinger löste das Problem der vielfachen Unentscheidbarkeit zwischen Groß- und Kleinschreibung zugunsten einer konsequenten Kleinschreibung, allerdings wiederum stillschweigend. Die späteren Ausgaben des Shakespeare Büchleins von Hermann Todsen (1911) und Walter Muschg (1942) basieren ausdrücklich auf Götzingers Edition, auch wenn sie deren Text nicht einfach übernehmen.
V. Im 20. Jahrhundert näherte man sich schrittweise dem originalen Bräker-Text, zunächst seiner Lebensgeschichte in Füßlis Gestalt. Den Anfang machte erstaunlicherweise 1916 Naebis Ueli, der arme Mann im Toggenburg, von Ulrich Brägger, bei »Gute Schriften, Zürich«. Der Herausgeber Heinrich Moser weist darauf hin, er habe den Urtext der Füßlischen Ausgabe zugrunde gelegt. Er übernahm viele von Füßlis Untertiteln und setzte Kapitel wieder ein, die in der 1. Auflage des gleichen Verlages weggelassen worden 5 Hans Schnorf, Sturm und Drang in der Schweiz, Zürich 1914, S. 216. Messerli, Vermittler, Herausgeber, Kritiker (wie Anm. 1), S. 193.
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waren. Im Hinblick auf das jugendliche Zielpublikum kam er allerdings auch nicht völlig ohne Purgierungen aus, doch sind die Auslassungen, wenn auch nur mit . . ., mindestens markiert. 1934 erfuhr diese Version eine Neuauflage, unter Verzicht auf die aus Füßli in die zweite übernommenen Illustrationen. Auf dem damit eingeschlagenen Weg ging ein Anonymus weiter mit seiner Ausgabe der Lebensgeschichte, die 1920 im Zürcher Morgarten-Verlag erschien, »mit zwölf Originalholzschnitten von Ernst Wuertenberger«. Im zweiseitigen Nachwort heißt es: »Der vorliegenden Neuausgabe der Lebensgeschichte des Armen Mannes liegt der an einigen wenigen Stellen verkürzte Text der Originalausgabe Füßlis vom Jahre 1789 zu Grunde.« Nachgewiesen werden die Kürzungen nicht. Ein angefügtes »Verzeichnis seltener Worte« umfasst knapp 50 Ausdrücke in alphabetischer Reihenfolge. In dieser Ausgabe soll Robert Walser Ulrich Bräker gelesen haben.6 »Dadurch sind sämtliche bisherigen Ausgaben überholt.« (Voellmy, Bd. I, S. 29) In diesem stolzen Bewusstsein legte Samuel Voellmy (1886–1984) 1945 seine dreibändige Bräker Ausgabe in den Birkhäuser-Klassikern vor: Leben und Schriften Ulrich Bräkers, des Armen Mannes im Tockenburg, dargestellt und herausgegeben von Samuel Voellmy. Voellmys Anspruch war durchaus gerechtfertigt: Für die Lebensgeschichte ging er konsequenter als alle seine Vorgänger auf Füßli zurück. Wo er davon abwich, wie bei der Gestaltung der Vorrede und des Nachtrags, gab er darüber Rechenschaft und befolgte damit mindestens ansatzweise die Grundregel der modernen Editionsphilologie, jeder Herausgeber habe seine Entscheidungen transparent und damit überprüfbar zu machen. Für das Shakespeare-Büchlein ging Voellmy auf die Handschrift zurück: »Unsere Ausgabe fußt auf einer genauen Durchsicht der Handschrift und bringt den getreusten Text«, allerdings mit der Einschränkung: »Orthographie, Interpunktion wird unserer Schreibweise angeglichen.« (Voellmy, Bd. III, S. 331) So löste er das Dilemma zwischen Originalität und Lesbarkeit. Aus den Tagebüchern gab Voellmy die bisher größte Auswahl. Er betont besonders, dass er auch die Neunziger Jahre bringe, die Bülow übergangen habe. Bülow und Zürn hätten nur solche Tagebücher ausgewählt, »wie sie deutschen Literaten passten! [. . .] Die Aufgabe ist klar, welche eine schweizerische Ausgabe der Tagebücher, wenn auch nur in Auszügen, zu erfüllen hat. Sie wird, und das geschieht hier nach den Handschriften zum erstenmal, das für die Geschichte der Heimat Wertvolle stark berücksichtigen.« (Voellmy, Bd. II, S. 15 f.)
Hier spürt man den Zeitgeist der Kriegsjahre. Voellmy kam es auf einen autochthonen Bräker an. Die Einleitung zu den Tagebüchern ist überschrieben »Die Umwelt« und beginnt: »Ulrich Bräker ist ganz gewiss auch ein Kind seiner Zeit. Er ist in allen äußeren Dinge ein echter Toggenburger gewesen 6 Ebd., S. 193.
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und zeitlebens geblieben.« (Voellmy, Bd. II, S. 18) Was nicht in die Dominanz des Heimatlichen passte, lagerte Voellmy in den dritten Band aus. Er verließ dort die chronologische zugunsten einer thematischen Anordnung, die konsequent im »Shakespeare-Büchlein« endet. Bei der Auswahl spielten auch persönliche Qualitäts- resp. Geschmackskriterien eine Rolle; so nahm Voellmy den drastischen Jauß-Roman nur in Teilen auf und bezeichnete ihn als Satire, die Komödie »Die Gerichtsnacht« hielt er nicht für veröffentlichungswürdig. Samuel Voellmy war und bleibt als Bräker-Herausgeber einzigartig, auch dadurch, dass er Bräker zum Gegenstand lebenslanger Forschung gemacht hatte. Die Birkhäuser-Ausgabe stellt davon nur ein Ergebnis dar. 1928 hatte er promoviert über Daniel Girtanner von St. Gallen, Ulrich Bräker aus dem Toggenburg und ihr Freundeskreis. Fünf Jahre zuvor war bereits sein erstes BräkerBuch erschienen: Ein Kultur und Charakterbild aus dem achtzehnten Jahrhundert; nach den Handschriften dargestellt. 52 Jahre später brachte er seine letzte Publikation heraus, sie galt Ulrich Bräkers Lieblingslektüre (1975). So dürfte es nie einen gründlicheren Kenner Bräkers und seines Umfelds gegeben haben, zumal er 15 Jahre lang in Wattwil Lehrer gewesen war. Voellmys Bräker-Bild war eher konservativ. Gemäß der Betonung des Autochthonen sah er in Bräkers geistiger Emanzipation aus dem Denken seiner Jugend und aus seiner sozialen Umgebung keine Befreiung, sondern eine Entwurzelung. Mindestens war das die Auffassung, die der Neunzigjährige in einem Gespräch mit der Basler Arbeitsgruppe vertrat, die daran war, die Chronik Ulrich Bräker für dessen 150. Geburtstag vorzubereiten. Die Bräker-Forschung wird Samuel Voellmys immer mit größter Dankbarkeit gedenken. VI. Überblicke wie dieser pflegen mit der Aufzählung von Desiderata zu enden, von Wünschbarkeiten, die sich aus dem historischen Durchgang durch Ausgaben, die alle neben ihren Meriten auch ihre Mängel haben, ergeben. Im Falle Ulrich Bräkers ist das nicht so. Gegenwärtig ist die Bräker-Edition dabei, ihre Ziele auf optimale und damit wohl für lange Zeit endgültige Weise zu erreichen, und zwar auf verschiedenen Wegen. Zum einen mit den von Alois Stadler und Peter Wegelin veranstalteten Einzelausgaben, des Dialogs Räisonierendes Baurengespräch, der Komödie Die Gerichtsnacht und des Shakespeare-Büchleins. Mit der Präsentation von Faksimile und Umschrift in jeweils zwei Bändchen, die man nebeneinander lesen kann, wurde ein Problem lösbar, das sämtlichen Bräker-Ausgaben zu schaffen machte, eine philologisch vertretbare Wiedergabe von Bräkers eigenwilliger Schriftsprache und Schreibweise. Für beides gab es seit Füßli verschiedene Erklärungen, die sich jeweils auf die Nähe bzw. Ferne des edierten Textes zu Bräkers Original auswirkten:
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a) Man machte Bräkers mangelnde Schulbildung dafür verantwortlich, dass er Mundartliches und Schriftsprachliches vermengte, unsicher war, was die neuhochdeutsche Diphthongierung betraf, und in der Orthographie nicht konsequent. Füßli sah sich dadurch zu seinen redaktionellen Eingriffen berechtigt, und noch Walter Muschg argumentierte in seiner Ausgabe des Shakespearebüchleins: »Denn es war Bräkers Bestreben, sich schriftdeutsch verständlich zu machen; deshalb ist namentlich alles geändert, worin er wider Willen geirrt hat.«7 b) Bereits Peter Scheitlin erkannte, dass Bräkers Abweichungen von der Schriftsprache auch regional bedingt waren. Wenn er Bräkers Sprache und Stil verbesserte, tat er das, um ihn über die Grenzen der Ostschweiz hinaus lesbar zu machen. Ähnliches hatten auch von Bülow und Zürn im Sinne. c) Bei Voellmy habe ich erstmals den Hinweis gefunden, Bräker teile seine eigenartige und inkonsequente Sprache und Orthographie mit namhaften anderen schweizerischen Autoren der Zeit, z. B. Johann Heinrich Pestalozzi. Tatsächlich war man im ausgehenden 18. Jahrhundert in der deutschen Schweiz im Gebrauch der neuhochdeutschen Schriftsprache generell unsicher, was die Kritik in Deutschland jeweils gern anmerkte. Sogar ein Bodmer ließ seine Texte in Leipzig auf Fehler hin durchsehen, bevor er sie zum Druck gab. Da sich die drei Gründe nicht auseinander dröseln lassen, vor allem aber aufgrund des modernen editorischen Grundsatzes, der Editor habe so wenig wie möglich in den Text einzugreifen, kommt heute nur eine diplomatische, d. h. buchstabengetreue Textwiedergabe in Frage. Dabei bleibt jedoch als crux bestehen, dass sich in Bräkers Handschrift, die durchaus eine Reinschrift ist, Groß- und Kleinschreibung in vielen Fällen nicht zweifelsfrei unterscheiden lassen. Das Nebeneinander von Faksimile der Handschrift und gedruckter Umschrift in den genannten Einzelausgaben gibt dem Benutzer die Möglichkeit, sich selber von Fall zu Fall ein Urteil zu verschaffen. So ist es auch vertretbar, dass sich die Herausgeber bei der Umschrift in Hinblick auf die Lesbarkeit für die Anwendung der heutigen Groß- und Kleinschreibung, also für Modernisierung, entschlossen haben. Dasselbe Prinzip der Modernisierung der Groß- und Kleinschreibung wendet auch die in der damaligen DDR in der Bibliothek deutscher Klassiker erschienene einbändige Bräker Ausgabe in ihrer 2. Auflage an, die neben der Lebensgeschichte (nach Füßli) das Shakespeare Büchlein nach der Handschrift enthält. Zur Krönung gelangt die Geschichte der Bräker Edition in der auf fünf Bände angelegten Ausgabe der Sämtlichen Schriften, wovon die ersten drei Bän7 Walter Muschg (Hg.), Etwas über William Shakespeares Schauspiele, Basel 1942, S. 25.
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de mit sämtlichen Tagebüchern 1998 erschienen, der vierte Band, enthaltend »Lebensgeschichte und vermischte Schriften«, im Jahr 2000 herauskam. Herausgegeben wird sie von einem Editionsteam, dem Andreas Bürgi, Heinz Graber, Christian Holliger, Claudia Holliger Wiesmann, Alfred Messerli und Alois Stadler angehören, mit Peter Wegelin als unbeirrbarem, unermüdlichem spiritus rector und Mittelbeschaffer. Diese Ausgabe wird erstmals alles bringen, was sich von Ulrich Bräker erhalten hat. Alle vorangegangenen, auch diejenige Voellmys, waren Auswahl- resp. Teilausgaben. Dass nicht alles überliefert ist, was Bräker je geschrieben hat, vor allem auch keine Vorstufen und unterschiedlichen Textfassungen, bildet eine Ausgangslage, die die Herausgeber als »komfortabel« bezeichnen. Erstmals wird Bräkers Text streng diplomatisch wiedergegeben: »Die Herausgeber nahmen weder auf der orthographischen noch auf der syntaktischen Ebene Texteingriffe vor, auch die sehr eigenwillige Zeichensetzung wurde übernommen. Der Text vermittelt daher unkommentiert auch die häufig typischen Schreibfehler Bräkers.« (Sämtliche Schriften, Bd. 1, S. X) Angesichts der erwähnten häufigen Unentscheidbarkeit von Groß- und Kleinbuchstaben griffen die Herausgeber wie seinerzeit Götzinger zur radikalen Kleinschreibung, außer bei Namen. Bräkers Selbstkorrekturen sind in einem textkritischen Apparat aufgelistet, ebenso unumgängliche Eingriffe der Herausgeber. Man begegnet also in dieser ersten Gesamtausgabe Bräker auch in seiner ganzen bildungsmäßigen, regionalen und historischen Eigenart und heutigen Fremdheit. Damit ist es an den Leserinnen und Lesern, Zugang zu ihm zu finden. Sie werden dabei nicht mehr von einem Herausgeber, seinen Urteilen und Vorurteilen angeleitet. Kommentar und Register wird der fünfte Band enthalten, bis zu dessen Erscheinen die Chronik Ulrich Bräker als Erschließungsmittel dienen kann. Unser Durchgang durch die Stationen der Bräker Edition hat gezeigt, dass jeder der Herausgeber Bräkers Werke aufgrund eines bestimmten Bräker-Bildes auswählte und präsentierte. Bräker war der bäuerliche Aufklärer für Füßli, Gegenstand christlicher Erbauung für Scheitlin, der Handwerkerdichter à la Hans Sachs für Bülow, der Stürmer und Dränger für Götzinger, der Sohn des damaligen Toggenburg für Voellmy, der Plebejerdichter für Thalheim etc. Solche den Herausgebern selbst nicht immer klar bewussten Vorentscheidungen zeigen sich meist erst im Nachhinein aus der zeitlichen Distanz. Dennoch kann man sich fragen, welche gewandelten Voraussetzungen die heutige Ausgabe von Bräkers »Sämtlichen Schriften« möglich gemacht haben. Folgendes möchte ich dazu zu erwägen geben: In der Germanistik ist seit 1968 eine Erweiterung des Literaturbegriffs auf alles Geschriebene eingetreten. Besonderes Interesse richtet sich auf Gebrauchsgattungen wie Brief, Tagebuch, Autobiographie. Ebenfalls seit den 60er Jahren interessiert man sich vermehrt für Autoren außerhalb des offiziellen Kanons und besonders für solche aus der sog. Un-
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terschicht. In der ehemaligen DDR stand Bräker früh als plebejischer Autor in hohem Ansehen, doch galt das bald auch für den anderen Teil Deutschlands. Ebenfalls in den letzten Jahrzehnten hat das ausgehende 18. Jahrhundert verstärkte Aufmerksamkeit gefunden als sog. »Sattelzeit« (Reinhart Koselleck). Mit dieser Bezeichnung weist man dieser Epoche den Charakter eines Umbruchs zu, einer »rupture« (Michel Foucault), in der sich in kurzer Zeit viele neue Denkkategorien herausbildeten, die bis heute unser Weltbild bestimmen. Bräker ist, vor allem in den Tagebüchern, ein eindrücklicher Zeuge dieses Umbruchs. Was Bräker im öffentlichen Bewusstsein präsent gehalten hat, war immer ein starkes regionales Interesse. Alle entscheidenden Bräker Herausgeber hatten eine besondere Beziehung zur Ostschweiz, oft speziell zum Toggenburg. Dieses Interesse an regionaler Literatur hat in den 80er Jahren auch in der deutschen Literaturwissenschaft wieder Berechtigung erlangt, nachdem man lange die Blut-und-Boden-Doktrin der Nazi im Gefolge Josef Nadlers darin am Werk gesehen und sie entsprechend tabuisiert hatte. Über die Literaturwissenschaft hinaus konnte Bräker aber auch neuerdings für einen Regionalismus instrumentalisiert werden, der zur Gegenkraft der Europäisierung und der Globalisierung ausgerufen wurde. Als jüngstes Interesse, das Bräker zugute kommt, ist die sog. Xenologie hinzugekommen, die Erforschung des Fremden, des Anderen im geographischen, historischen, kulturellen und mentalen Sinne. Auch dafür ist Bräker ein fruchtbarer Gegenstand. Schließlich kann man an Bräker wie an kaum einem anderen Autor seiner Zeit studieren, was reflektiertes Lesen und Schreiben zur Herausbildung und Stabilisierung einer individuellen Ich-Identität beitragen können, wo das traditionelle Rollenverständnis verlassen wird. Diesen Hof aktueller wissenschaftlicher Interessen mögen wohl kommende Nachgeborene dereinst als Voraussetzungen der neuen und gewiss für lange endgültigen Bräker-Ausgabe ausmachen. Aber primär bleibt doch, dass es sich bei Ulrich Bräker um einen »schreibenden Erdensohn« handelt, dessen Eigenart und Einzigartigkeit uns fast aus jeder Seite, die er hinterlassen hat, unmittelbar anspricht, ja anrührt. Der letzte Anstoß, Bräker zu edieren, liegt, denke ich, in ihm selbst.
Chronologisches Verzeichnis der wichtigeren Bräker Ausgaben H.[ans] H.[einrich] Füßli (Hg.), Sämtliche Schriften des Armen Mannes im Tockenburg, Erster Theil: Lebensgeschichte, Zweiter Theil: Tagebuch (Erster Theil), Zürich: Orell, Gessner, Füßli u. Co. 1789 und 1792 (vielm. 1793).
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P.[eter] Scheitlin (Hg.), Lebensgeschichte des armen Mannes im Tockenburg, genannt Näbis Uli. Ein Volks und Jugendbuch, 2 Bde., Zürich/St. Gallen 1844/1845. (Volks und Jugendschriften, Hg. von Karl Steiger, 9. Bändchen). [Karl] Eduard [von] Bülow (Hg.), Der Arme Mann im Tockenburg, Leipzig: Georg Wiegand 1852. – dass., Neue Ausg., Leipzig o. J. (1888). – (Textgrundlage für die Ausgabe der »Lebensgeschichte« bei Philipp Reclam jun., Leipzig 1889). Ernst Götzinger (Hg.), Das Shakespeare Büchlein des Armen Mannes im Toggenburg von 1780, in: Jb. der Shakespeare-Gesellschaft Bd. 7 (1877), S. 100–168. Ludwig Zürn (Hg.), Der arme Mann im Toggenburg, Halle: Otto Hendel 1892. [anonym.] Näbis Ueli, der Arme Mann im Toggenburg, in der Bearbeitung des »Sonntagsblattes der Thurgauer Zeitung«, Zürich: Verein zur Verbreitung guter Schriften 1892. Adolf Wilbrandt (Hg.), Das Leben und die Abentheuer des armen Mannes im Tockenburg. Von ihm selbst erzählt, Berlin: Meyer und Jessen 1910. Hermann Todsen (Hg.), Etwas über William Shakespeares Schauspiele, Berlin: Meyer und Jessen 1911. Heinrich Moser (Hg.), Näbis Ueli, der arme Mann im Toggenburg, von Ulrich Brägger, Zürich: Gute Schriften 1916, 1920, 1934, 1960. [anonym.] Lebensgeschichte und natürliche Abentheuer des Armen Mannes im Tockenburg (Ulrich Braeker), mit zwölf Originalholzschnitten von Ernst Wuertenberger, Zürich: Morgarten o. J. (1920). Walter Muschg (Hg.), Ulrich Bräker. Etwas über William Shakespeares Schauspiele, Basel: Benno Schwabe 1942 (Sammlung Klosterberg, Schweizerische Reihe). Samuel Voellmy (Hg.), Leben und Schriften Ulrich Bräkers, des Armen Mannes im Tockenburg. 3 Bde., Basel: Birkhäuser 1945 (Birkhäuser Klassiker). (Diese Ausgabe wurde später vom Diogenes-Verlag, Zürich, übernommen und als Taschenbuch vertrieben; 3. Aufl. 1998, Vorwort zur »Lebensgeschichte« von Hans Mayer). Hans-Günther Thalheim (Hg.), Bräkers Werke in einem Band. Berlin/Weimar: Aufbau-Verl. 1964 (Bibliothek deutscher Klassiker) (enthält Shakespearebüchlein, Lebensgeschichte). 3., neubearbeitete Auflage 1989. Werner Günther (Hg.), Lebensgeschichte und natürliche Ebenteuer des Armen Mannes im Tockenburg, Stuttgart: Philipp Reclam o. J. (Reclams UB; 2601). Wolfgang Pfeiffer-Belli (Hg.), Der arme Mann im Tockenburg, vollständiger Neudruck der Originalausgabe von 1789, München: Winkler 1965 (Die Fundgrube; 7). Joachim Novotny (Einführung) u. Michael Niedermeier (Nachwort) (Hgg.), Lebensgeschichte und natürliche Abenteuer des armen Mannes aus dem Tockenburg. Illustrationen Ralf Bergner, Berlin: Verl. Neues Leben 1985. Christian Holliger, Claudia Holliger Wiesmann, Heinz Graber, Karl Pestalozzi (Hgg.), Chronik Ulrich Bräker. Auf der Grundlage der Tagebücher 1770–1798, Bern/Stuttgart: Paul Haupt 1985. Alois Stadler u. Peter Wegelin (Hgg.), Ulrich Bräker. Räisonierendes Baurengespräch über das Bücherlesen und den üßerlichen Gottesdienst. Bd. l: Handschrift, Bd. 2: Umschrift, St. Gallen: Erker 1985. Alois Stadler u. Peter Wegelin (Hgg.), Ulrich Bräker. Die Gerichtsnacht oder Was ihr wollt. Bd. 1: Handschrift, Bd. 2: Umschrift, St. Gallen: Erker 1987.
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Alois Stadler u. Peter Wegelin (Hgg.), Ulrich Bräker. Etwas über William Shakespeares Schauspiele. Bd. l: Handschrift, Bd. 2: Umschrift, St. Gallen: Erker 1998 Andreas Bürgi, Heinz Graber, Christian Holliger, Claudia Holliger Wiesmann, Alfred Messerli, Alois Stadler (Hgg.), Ulrich Bräker. Sämtliche Schriften, 5 Bde. München: Beck; Bern: Paul Haupt, Bde. 1–3 1998, Bd. 4 2000.
Klaus-DetlefMüller Leben.Sch reiben
KLAUS-DETLEF MÜLLER
Leben. Schreiben Zu Bräkers Autobiographie Hans-Georg Kemper zum 60.Geburtstag
Was den Schriften Ulrich Bräkers ihren Wert und ihre Bedeutsamkeit verleiht und was noch 200 Jahre nach seinem Tod das Interesse an ihm sichert und rechtfertigt, ist nicht allein, was er schreibt, sondern mindestens in gleichem Maße die Tatsache, dass er schreibt. Zwar ist autobiographisch inspiriertes und begründetes Schrifttum von Angehörigen der Unterschicht im 18. Jahrhundert nicht außergewöhnlich, sind die Lebensbedingungen von Autoren des vierten Standes sogar ein gattungsbestimmender Bereich der literarischen Autobiographie dieses Zeitraums,1 aber im Unterschied zu Karl Philipp Moritz, Johann Heinrich Jung-Stilling, Johann Dietz, Daniel Friedrich Schubart, Johann Gottfried Seume und anderen vergleichbaren schreibenden Zeitgenossen, ist Bräker nie aus den engen Lebensverhältnissen seiner bäuerlich-plebejischen Herkunft herausgetreten und war deshalb nicht durch die Zugehörigkeit zur literarisch-publizistischen Öffentlichkeit zu einer Selbstdarstellung legitimiert, die Autorschaft als eine kommunikative Handlung nahegelegt hätte. Selbst der aus ähnlichen Verhältnissen stammende und in seiner Herkunftssphäre verbliebene »Hoftiroler« Peter Prosch war sich der Aufmerksamkeit des lesenden Publikums sicher, weil seine »natürlichen Abenteuer« ihn in den Bereich der Höfe geführt hatten und weil er dort eine akzeptierte närrische Rolle gespielt hatte.2 Bräker ist hingegen ein Autor ohne Publikum, ein Schreibender, der sich bis 1 Vgl. hierzu Günter Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung, Stuttgart 1977; Ralph-Rainer Wuthenow, Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert, München 1974; Klaus-Detlef Müller, Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit, München 1976, S. 169–183; Klaus-Detlef Müller, Zum Formen- und Funktionswandel der Autobiographie, in: Hans-Friedrich Wessels (Hg.), Aufklärung. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch, Königstein 1984, S. 136–160; Wolfgang Emmerich, Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland. Bd. I: Anfänge bis 1914, Hamburg 1974. 2 Leben und Ereignisse des Peter Prosch, eines Tyrolers von Rieth im Zillerthal, oder Das wunderbare Schicksal. Geschrieben in den Zeiten der Aufklärung, München 1964. Vgl. hierzu Niggl (wie Anm. 1), S. 87–89; Wuthenow (wie Anm. 1), S. 157–161.
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zur unerwarteten und nicht vorhersehbaren Veröffentlichung seiner Autobiographie seine Leser nur fingieren kann, für den das Schreiben bis etwa zu seinem 50. Lebensjahr ein nahezu selbstgenugsames Rollenspiel ist, über das er auch später kaum wirklich hinausgelangt.3 Es gehört zu den Eigenarten seiner Schriften, dass er das weiß und dass er sich darüber immer wieder Rechenschaft ablegt. Damit unterwirft er sich einem ständigen Zwang zur Selbstrechtfertigung, in der er sich selbst gegenübertritt und sich selbst gewissermaßen dialogisch objektiviert. Das Schreiben ist ihm ein Lebensbedürfnis, und der in den Zwängen seines mühseligen Broterwerbs befangene Autodidakt hat in seinem Horizont nur einen einzigen geeigneten Stoff – sein eigenes Leben. Er muss einen Weg finden, wie er sein Leben schreiben kann, und er macht damit das Schreiben zugleich zum eigentlichen Inhalt seines Lebens, nicht als Autor, der er nicht sein darf, sondern als sich selbst in seinem alltäglichen Leben Beobachtender und Wahrnehmender,4 als eine sich selbst objektivierende Instanz. In diesem Sinne ist er, worauf schon Hans-Günter Thalheim hingewiesen hat,5 ein »Naturprosaist« nach der Definition Goethes. Damit ist die intuitive und naive Anverwandlung literarischer Verfahrensweisen gemeint, deren fingierter Wirklichkeitsgestus beim Wort genommen wird und damit zur Folie der eigenen vermeintlich unmittelbaren Weltwahrnehmung werden kann, wobei unbemerkt bleibt, dass sie in der von der Literatur geleiteten Erinnerungsarbeit einen Literarisierungsprozess durchmacht. Erinnerung ist ja nicht nur gegenständlich begründet, sondern von der diskursiven Form ihrer Objektivierung mitbestimmt und dadurch sowohl kommunikativ als auch zur Selbstreflexion einladend. Goethe hat das am Beispiel der Aufzeichnungen des Weimarer Bibliotheksdieners Johann Christoph Sachse demonstriert, die er als »natürlichen« Schelmenroman im Sinne von Alain René Lesages Gil Blas de Santillane wahrgenommen und unter dem Titel Der deutsche Gil Blas zur Veröffentlichung empfohlen und mit einem Vorwort an das lesende Publikum auch der »oberen Stände« vermittelt hat.6 Bräker ist ein »Naturprosaist« oder Naturdichter in einem noch sehr viel weiteren und direkteren Sinne. Er ist nicht nur in einem unliterarischen, son3 Zu Bräkers Schreibmotivationen vgl. Christoph Siegrist, Zwischen Objekt und Subjekt: Darstellung und Selbstdarstellung des Bauern in der Schweizer Literatur des 18. Jahrhunderts, in: Recherches Germaniques 11 (1981), S. 7–27, hier S. 17 f. 4 Zu den Konsequenzen dieser Schreibkonstellation s. Hans Mayer, Aufklärer und Plebejer: Ulrich Bräker, der arme Mann im Tockenburg, in: Hans Mayer, Von Lessing bis Thomas Mann. Wandlungen der bürgerlichen Literatur in Deutschland, Pfullingen 1953, S. 110–133. 5 Hans-Günther Thalheim, Ulrich Bräker. Ein Naturdichter des 18. Jahrhunderts, in: H.G. T., Zur Literatur der Goethezeit, Berlin 1969, S. 38–84. Vgl. auch Walter Hinderer, Ulrich Bräker, in: Benno v. Wiese (Hg.), Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk, Berlin 1977, S. 371–392. 6 Der deutsche Gil Blas. Eingeführt von Goethe. Oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Hg. v. Wulf Segebrecht, München 1964. Dazu auch Müller (wie Anm. 1), S. 215–220.
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dern in einem literaturfernen und literaturfeindlichen Umfeld aufgewachsen, das seine Lese- und Schreibbedürfnisse nur als Unnatur wahrnehmen konnte. Er verfügt deshalb zunächst weder über geeignete Wahrnehmungs- und Darstellungsmuster, noch darf er seinem Antrieb trauen, der in der ständisch verfassten Gesellschaft dem Habitus der unteren Stände widerspricht. Bezeichnenderweise sind es vor allem die Angehörigen der eigenen Schicht, die ihm besonders feindselig begegnen, während die aufgeklärten »Menschenfreunde« ihn später mit einem begrenzten Wohlwollen akzeptieren, nachdem er seine schreibende Revolte erst einmal im Produkt objektiviert hat. Am Beginn der Schriften stehen deshalb Äußerungsformen, die so weit konventionalisiert sind, dass sie als relativ unverfänglich gelten müssen: Gebete, Bibelauslegungen und Bußpredigten im Geiste der Inspirierten, die als eine außerkirchliche Erweckungsbewegung das geistliche Leben in Bräkers Jugendzeit bestimmten. Sie lenkten das Interesse auf die eigene Lebensführung und forderten zur ständigen Selbstprüfung heraus. Bräker hat dieses Angebot, das in der Traktatliteratur schon verschriftlicht war, in geradezu exzessiver Weise genutzt und hat seine Buß- und Andachtsübungen in seinen Tagebüchern festgehalten. Daraus ergibt sich ein im mehrfachen Sinne dialogisches Schreiben, das schon das früheste Zeugnis, die von Bräker auf 1768 datierte »Vermahnung«7 bestimmt. Das Gebet ist ja ein Dialog mit Gott, der, wenn er schriftlich festgehalten wird, zugleich an ein lesendes Publikum adressiert ist und damit ein Rollenspiel begründet, das in der Form von Bibelauslegungen, Predigten und Andachtsübungen ebenfalls implizit adressatenbezogen ist. Da Bräker die Rolle des Predigers nur imaginieren und fingieren kann und da ihm die ihr zuzuordnende Öffentlichkeit fehlt, muss er sich ein Publikum erst selbst schaffen, und er gewinnt es in der Unterstellung, dass er sich an seine Kinder wendet, deren ältestes zum Zeitpunkt der Niederschrift der »Vermahnung« sechs Jahre alt ist. Es ist aber bezeichnend, dass er seine Aufzeichnungen erst rechtfertigen kann, als er sie im Sinne der Hausbücher als Vermächtnis an seine Nachkommen adressieren darf und als er damit auch für seine Tagebücher Leser imaginieren kann. Schon vorab ist aber auch das Tagebuch eine dialogische Form, in der das schreibende Ich mit sich selbst ins Gespräch kommt. Bräker hat das in Dialogen zwischen dem Tagebuch und dem Diaristen als Erzählprinzip verdeutlicht8 und so die monologische Form zum Gespräch geöffnet. In der »Vermahnung« wendet er sich denn auch zuerst nicht, wie vielfach sonst, direkt an seine Kinder, sondern beschreibt von einer gewissermaßen 7 »ein wort der vermahnung, an mich und die meinigen daß nichts besers sey den gott förchten zuallenzeitten.« 1768, in: Ulrich Bräker, Sämtliche Schriften, 1. Bd., Tagebücher 1768–1778, bearbeitet von Alfred Messerli u. Andreas Bürgi, München/Bern 1998, S. 5–118. Im folgenden zitiert als: Tagebücher 1. 8 Vgl. etwa »Gespräch mit seinem Büchelgen«, in: Tagebücher 1 (wie Anm. 7), S. 735–737 (18.3.1777).
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objektiven Warte seine Erzählintention: »ich hofe daß eine vermahnung an sey alß von ihrem vatter nach meinem tod noch auf ihre hertzen würke.«9 Das ermöglicht den direkten Übergang zur Gebetsform als dem die Darstellung umgreifenden Diskurs. Er verbürgt die Aufrichtigkeitsbedingungen, die zusätzlich eine Rechtfertigungsfunktion haben, wenn er versichert, dass er »nicht etwaß zum schein, oder aus hochmuht«10 schreibe, dass er also nichts fingiere oder sich aus Eitelkeit eine Autorschaft anmaße. Das ist eine lebensweltliche Verifikation des Bescheidenheitstopos, die zugleich auf eine vorgängige Kritik der Schreibmotivation reagiert. Sie steht in Verbindung damit, dass der eigentliche Gegenstand des Schreibens das eigene Ich und die Lebensgeschichte ist, die durch die überwuchernden religiösen Passagen maskiert wird. Diese Maske nimmt ihr das Anstößige einer Selbsterhöhung durch die Schrift, wobei zugleich der Gestus einer affirmierten gesellschaftlich akzeptierten Norm lustvoll, weil zur Artikulation herausfordernd, überboten wird. Bräker führt sich mit einem Sündenbekenntnis ein (»ermahnung an mich selbst«),11 bevor er nach einem weiteren Gebet zum ersten Mal einen knappen Lebensbericht gibt, der als »beschribung. meiner leiblichen reiß und pilgerschafft, in diser armen welt«12 wiederum in ein geistliches Gewand eingekleidet ist und in der Folge in ein umfangreiches religiöses Erziehungskompendium mündet. Der eigene Lebenslauf, die individuelle Existenz und die in der Selbstreflexion entwickelten Ansichten gewinnen so exemplarischen Charakter, was ihre Aufzeichnung legitimiert. Zugleich ist damit ein zeitspezifisches Muster der Identitätsbildung bezeichnet: Das Individuum erfährt sich selbst, indem es sich über seine Sündhaftigkeit Rechenschaft ablegt, sich das eigene Leben in Gestalt einer Beichte bewusst macht und nach vorgegebenen Normen kritisch verurteilt. In einer sich immer stärker säkularisierenden Praxis der Selbsterforschung entsteht so das neue Individualitätsbewusstsein. Sein literarischer Ort ist insbesondere die Autobiographie.13 Bei Bräker ist dieser zeitspezifische Prozess wiederum unmittelbarer: Er schreibt seinen Lebenslauf in die Verkündigungspraxis der Inspirierten ein und nimmt diese dann fortlaufend zurück, in dem Maße, wie ihm seine Praxis bewusst wird. Ähnlich war auch Karl Philipp Moritz in seinem autobiographischen Roman Anton Reiser verfahren, indem er psychologisch begründete, inwiefern das hysterische Sündenbewusstsein zur Ausbildung einer negativen Form der Identität führen konnte. Wenigstens als exemplarischer Sünder kann das in seiner Lebenswelt unterdrückte Ich sich groß fühlen, das Interesse Gottes 9 Ebd., S. 5. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 12–17. 12 Ebd., S. 19–24. 13 Vgl. hierzu besonders Günther Niggl (wie Anm. 1) und Günther Niggl, Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert, in: Dieter Grimm u. a. (Hg.), Prismata, Pullach 1974, S. 155–172.
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damit in gesteigerter Weise beanspruchen und sich so als Individuum erfahren. Im Vorbericht zu seiner »Vermahnung« und zu den an den Pfarrer Imhof übersandten Tagebuchauszügen aus dem Jahre 1789 bekennt Bräker sich dazu, dass er in seinen frühen Aufzeichnungen seine Zuflucht »zu erzwungener frömeley« genommen habe und durch »einen gantzen hauffen mistisches quark«14 verleitet worden sei, sich selbst als einen großen Sünder darzustellen. Der eigentliche Antrieb für die fromme Pose sei aber die Hoffnung gewesen, dass diese Bekenntnisse wegen ihrer erbaulichen Wirkungen gedruckt werden könnten, und auch als diese Hoffnung sich nicht erfüllte, habe er sich durch »allewil sünden bekentnüße – und meistens erzwengte frömeleien«15 in seinen Tagebüchern zum Schreiben legitimiert. Die religiös begründete Selbstobjektivierung ist also ein Rollenspiel, das von vornherein Autorschaft fingiert. Und daraus folgt nun umgekehrt, dass das erschriebene, das heißt im Schreibvorgang gewonnene Selbstbewusstsein eine ganz persönliche Säkularisierung zur Folge hat. Waren die eigenen Erfahrungen zunächst nur als Exempelmaterial in den missionarischen und predigthaften Diskurs eingegangen und hier tendenziell zu Übungen in Reue und Buße missbraucht worden, so wird die fast selbstzwecklich wuchernde religiöse Rhetorik immer mehr aufgehoben, je mehr der Schreibende ihre Funktion durchschaut und damit ein nicht vorsozialisiertes Selbstbewusstsein gewinnt. Der Aufrichtigkeitsgestus verlagert sich dabei vom geistlichen Leben, das in der Beichtpraxis erst produziert wird und das bei seinem falschen primären Antrieb zur Pose erstarrt, auf das wirkliche Leben, dem nun ein Wert zugeschrieben werden kann, weil es zuvor als bedeutungshaltig verstanden und so objektiviert wurde. Dieser mit dem Persönlichkeits- und Individualitätsverständnis des 18. Jahrhunderts zusammenhängende Prozess lässt sich bei Bräker besonders deutlich bemerken, weil er zunächst auf die beiden Momente Religion und Lebenslauf eingeschränkt ist. Dabei ergibt sich ein Wechsel in der Gegenständlichkeit. In der »Vermahnung« wird die »leibliche reiß und pilgerschafft, in diser armen welt« auf nur 6 von insgesamt 115 Seiten dargestellt16 – der gesamte übrige Text ist Andachts-, Beicht- und Verkündigungsrhetorik, formal adressiert an Kinder und Nachkommen. In der »Lebensgeschichte«, die die gleichen Sachverhalte in der seither erschriebenen säkularisierten Form zum Gegenstand hat, bleiben die religiösen Momente marginal und werden noch zusätzlich relativiert. So heißt es etwa über die Tagebuchaufzeichnungen aus den Hungerjahren seit 1770, dass »ich nämlich an mancher Stelle viel Lermens von meinem sonderbaren Vertrauen auf die göttliche Vorsehung gemacht – und zwar meist gerade 14 Tagebücher 1 (wie Anm. 7), S. 4. 15 Ebd. 16 Angaben nach ebd., S. 19–24.
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wo ich am kleingläubigsten war« (254).17 Der Vorsehungsglaube erscheint im Nachhinein als eine entlastende Rechtfertigung des »angebohrenen Leichtsinns« (255) und kann damit biographisch integriert werden. Er ist aber zugleich die durchschaute Quelle der zur selbstgenugsamen Pose objektivierten Schreibmotivation. Als ein »wie es mir itzt vorkömmt, [. . .] unerträglicher, eher gottloser Mann, der alle andern Menschen um ihn her für bös, sich selber allein für gut hielt« (250), ist er versucht, nach dem Muster der Herrnhuter und Inspirierten zum Bußprediger zu werden, erkennt aber seine mangelnde Befähigung und kommt so auf die Idee, »ich könnte vielleicht besser mit der Feder zurechte kommen, und flugs entschloß ich mich ein Büchlin zum Trost und Heil wo nicht ganz Tockenburgs, wenigstens meiner Gemeinde zu schreiben, oder es zuletzt auch nur meiner Nachkommenschaft – statt des Erbguts zu hinterlassen.« (250 f.)
Diese selbstkritische Reflexion bezieht sich auf die »Vermahnung«, die damit aus einer neuen Perspektive aufgehoben wird.18 Diese neue Perspektive ist durch die Lektüre weltlicher statt bisher geistlicher Literatur begründet, die in den 70er Jahren durch die Unterstützung Johann Ludwig Ambühls und die von ihm vermittelte Aufnahme in die Toggenburgische Moralische Gesellschaft möglich wird. Bräkers Lektüreverhalten ist identifikatorisch. Er liest Goethes Werther, Goldsmith’s Vicar of Wakefield, Butlers Hudibras, Smolletts Humphrey Clinker, Nicolais Sebaldus Nothancker in der gleichen Weise als Lebenszeugnisse wie die Autobiographien Rousseaus, Moritz’ und Jung-Stillings oder als wirklichkeitsorientierte Stellungnahmen wie Schubarts Vaterländische Chronik und Shakespeares Dramen. Der Wahrnehmungsmodus ist ein erbaulicher: Die Lektüre regt zum Nachdenken über die eigene Lebensführung und zur Meinungsbildung an und provoziert zur Mitteilung seiner Gedanken. Da er keine Gesprächspartner hat, wird ihm der im Lesen erreichte Erkenntnisgewinn zur Schreiblegitimation, am sinnfälligsten in seinem Shakespeare-Büchlein Etwas über William Shakespeares Schauspiele. Von einem armen ungelehrten Weltbürger, der das Glück genoß, ihn zu lesen.19 Wie er las, hat Bräker in einem Brief an den Pfarrer Eckenstein in Wattwil am 22. März 1784 bezeugt: »Der Dorfprediger von Wakefield gefiel mir ausnehmend – und das um destomehr da so viele seiner lebensscene auch die meinigen sind – nehmlich, ohne absicht des stands. 17 Bräker-Zitate nach: Ulrich Bräker, Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes in Tockenburg, in: Samuel Voellmy (Hg.), Basel 1945 (wie Anm. 19), Seitenzahlen im Text nach dieser Ausgabe. 18 Helmut Pfotenhauer, Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – ein Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987, weist auf die Notwendigkeit anderer Stilisierungen und dem Verlust der religiös abgesicherten Selbstinterpretation hin (S. 52). 19 Leben und Schriften Ulrich Bräkers, des Armen Mannes im Tockenburg. Dargestellt und herausgegeben von Samuel Voellmy, 3 Bde., Basel 1945, Bd. 3, S. 333–442.
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es ist sonderbar tröstlich – solche geschichten zulesen (wahr oder erdicht) die ein so sehr – so nah angehen – viele von seiner eignen lebensgesichte – seines geschiks – gedrukt zulesesen – so net – so trefent geschildert – das ichs selber nicht zusagen noch zu schreiben im stande wär – das ist mir – wie mich dünkt wahres vergnügen – macht manchs drükendes plunderpäkgen des lebens – das offt so schwär auf dem rüken ligt – lichter – macht froher – muthiger – sorloser – sich auf die allgütige vorsehung stützender. – muthvoll – auf dem weg nach der ewigkeit fortzuwandel – das unnütze gepäk abzustreifen – wo man kan – und das gedultig zutragen – was man tragen muß – Wakefield wäre mir in vielen stüken ein trefliches muster – aber so weit in der selbst verleügnung zu gehn, da wär ich by weitem nicht der mann darzu.«20
Die literarische Figur wird zum Reflexionsmedium für das eigene Leben, das in der Fiktion wiedererkannt wird, und das in der verfremdenden Spiegelung wahrgenommene Schicksal dient auf erbauliche Weise als Antrieb zur Lebensbewältigung, auch wenn das Gelingen in Frage gestellt ist. Das ist die Übertragung religiöser Praktiken der Lebenshilfe in den weltlichen Bereich, die dem wirkungspoetischen Anspruch volksaufklärerischer Schriften entspricht, hier aber auf komplexe ästhetische Gebilde übertragen wird. Lesen ist für Bräker also ein Prozess der Selbstwahrnehmung und der Wirklichkeitserfahrung in anderen, allein schon durch die Schriftlichkeit als sinnerfüllt erfahrenen Konstellationen. Das erklärt den Antrieb zum Aufschreiben der eigenen Lebensgeschichte, in der der Schreibhang und die Faszination der in der Lektüre wahrgenommenen Transformation von Wirklichkeit in Bedeutsamkeit enggeführt sind. Als Naturschriftsteller im Sinne Goethes hat Bräker nur das eigene Leben als Erzählstoff, wie er es schon in der »Vermahnung« skizziert hat. Und es tritt nun genau das ein, was Goethe als die unvermeidliche Grenze dieser Art von Schriftstellerei bezeichnet hat: »In diesem Sinne kann man solche Bücher wahrhaft erbaulich nennen, wie es der Roman, moralische Erzählung, Novelle und dergleichen nicht sein sollen: denn von ihnen als sittlichen Kunsterscheinungen verlangt man mit Recht eine innere Konsequenz, die, wir mögen durch noch so viel Labyrinthe durchgeführt werden, doch wieder hervortreten und das Ganze in sich selbst abschließen soll. Das Leben des Menschen aber, treulich aufgezeichnet, stellt sich nie als ein Ganzes dar; den herrlichen Anfängen folgen kühne Fortschritte, dann mischt sich der Unfall drein, der Mensch erholt sich, er beginnt, vielleicht auf einer höheren Stufe, sein altes Spiel, das ihm gemäß war, dann verschwindet er, entweder frühzeitig, oder schwindet nach und nach, ohne dass auf jeden geknüpften Knoten eine Auflösung erfolgte. Wie man nun aber von keinem Roman, groß oder klein, sagen soll, hier sei viel Lärmen um Nichts, denn dies könnte man auch von der Ilias behaupten, noch weniger verdient ein Menschenleben verächtlich behandelt zu werden, weil es offenbar im
20 Ulrich Bräker, Sämtliche Schriften, 2. Bd.: Tagebücher 1779–1788, bearbeitet von Heinz Graber u. Claudia Holliger, München/Bern 1998, S. 461.
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Leben aufs Leben und nicht auf ein Resultat desselben ankommt, und wir den Geringsten mit Achtung anzusehen haben.«21
Auch den Hang zum »Didaktischen, Belehrenden, Sittenverbessernden« solcher Schriften, die sich im Horizont aller »poetischen Anfänge« bewegen, hat Goethe als unvermeidlich bezeichnet22 und solche Bücher als »wahrhaft erbaulich« aber zugleich als nicht künstlerisch verstanden, weil sie nicht »das Ganze in sich selbst abschließen« können.23 Bräker hatte offenbar die Illusion, dass er durch das Schreiben ein solches Ganzes herstellen könnte, wie er es in dem von ihm geschätzten Romanen und Autobiographien vorgefunden und wahrgenommen hatte. Dabei ging es ihm darum, seinen Papieren, »von denen ich viele mit Eckel ansehe« (71) durch den Auszug des Wesentlichen eine neue Qualität zu verleihen und damit auch seinen »Schreibhang« zu rechtfertigen. Er befindet sich in einer Situation, in der sowohl seine Frau als auch die Personen seiner näheren Umgebung seine Lektüre und sein Schreiben als Vernachlässigung der den Lebensunterhalt seiner Familie sichernden beruflichen Pflichten missbilligen und kritisieren.24 Bräker ist sich bewusst, dass er seinen Beruf nur widerwillig betreibt, und er kennt seine Sozialisationsbedingungen zu gut, um nicht Hochmut und Eitelkeit einzugestehen, aber er bezieht das auf das in seinem Stand nicht zulässige Bedürfnis nach Autorschaft, das er schon deshalb nicht rechtfertigen kann, weil er nicht hoffen darf, dass seine Schriften gedruckt werden, weil es also nach dem gängigen Vorurteil kein Lesepublikum gibt und weil ihm deshalb nur die Hoffnung bleibt, von seinen Kindern gelesen zu werden und dafür Verständnis zu finden, dass er ihnen mit seinem Büchlein ebenso viel nutzen könne, als wenn er »die wenige daran verwandte Zeit mit meiner gewohnten Arbeit zugebracht hätte«. (71) Insgeheim wünscht er sich aber weitere Leser, nur weiß er auch, dass ihm das als Hybris ausgelegt würde, wie es denn ja auch der Fall war. Die Rechtfertigung müsste dann aus dem Wert des Geschriebenen stammen, und so hat er die Hoffnung, dass das erzählte Leben das gelebte Leben in eine andere Qualität transformieren und dadurch aufheben könnte, wie er es bei seiner Lektüre erfahren hat. Das misslingt gründlich, und Bräker ist souverän genug, sich sein Scheitern einzugestehen: »Als ich dieß Büchel zu schrieben anfieng, dacht’ ich Wunder, welch eine herrliche Geschicht’ voll der seltsamsten Abentheuer es absetzen würde. Ich Thor!« (291 f.)
21 Der deutsche Gil Blas (wie Anm. 6), S. 6 f. 22 Ebd., S. 11. 23 Ebd., S. 6 f. 24 Vgl. hierzu den Dialog: »Balz und Andres – ein Gespräch«, in: Leben und Schriften Ulrich Bräkers, des Armen Mannes im Toggenburg (wie Anm. 19), Bd. 1, S. 359–363 sowie den in der Argumentation gleichlautenden Dialog Füßlis »Peter und Paul« (ebd. S. 346–358).
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Mit fremden Augen betrachtet erweist sich die eigene Geschichte als »ein Bißel langweilig« (292), wird sie ein »kuderwelsches Ding« (292), das die eigene Misere bestätigt, statt sie interessant zu machen und das ihr damit den Anspruch auf Publizität entzieht, noch bevor sie ihn überhaupt geltend machen könnte. Bräker verwirft aber zugleich die Möglichkeit einer Stilisierung nach dem Muster Jung-Stillings oder Rousseaus, weil das den Anspruch auf »pur lautere Wahrheit« (293) als der letzten verbliebenen Rechtfertigung widerspräche. Und so bleibt nur das Eingeständnis, dass er sich vor dem »Gickel Gackel meiner bisher erzählten Geschichte« (290) selbst ekle, dass sie ihm »recht pudelnärrisch« vorkomme (290). Seine Kritik bezieht sich auf die Phase des Lebens, für die in den Tagebüchern schon schriftliche Aufzeichnungen vorliegen, die also den Vorgang des Wiederschreibens und den Versuch des Umschreibens bezeichnet. Bräker will sie als die wichtigste seines Lebens verstehen, weil sie mit Eheschließung, Berufswahl und Familiengründung seine soziale Existenz bezeichnet.25 Aber gerade hier ist das Darstellungsvermögen überfordert, das in der romanhaften Schilderung der Kindheit, Jugend und im Abenteuer des preußischen Dienstes noch erzählerisch inspiriert war. Die Darstellung ist damit auch in der Erzählform zweigeteilt: Mit der Rückkehr aus dem unfreiwilligen Söldnerdienst und mit der Eheschließung setzt der Chronikstil der Hausbücher ein,26 mit dem sich der Schreibende zugleich die erhoffte Perspektive einer lesenden Öffentlichkeit entzieht, erzwungenermaßen in die reine Privatheit seiner Existenz zurückfällt. Die »natürlichen Abenteuer« bleiben folgenlos, es entsteht keine Ganzheit, sondern nur die nüchterne Bilanzierung einer selbstentfremdeten Existenz in der kleinbürgerlichen Realität einer unglücklichen Ehe und der Perspektivelosigkeit des materiellen Elends in handlungsloser Statik. Dass Bräker das sehen und dass er es aufschreiben 25 »Daß ich in meiner obigen Geschichte über die allerernsthaftesten Scenen meines Lebens – Wie ich an meine Dulcinea kam – ein eigen Haus baute – einen Gewerb anfieng, u.s.f. so kurz hingweggeschlüpft, kömmt wahrscheinlich daher, daß diese Epoche meines Daseyns mir unendlich weniger Vergnügen als meine jüngern Jahre gewährten, und darum auch weit früher aus meinem Gedächtniß entwichen sind. Soviel weiß ich noch gar wohl: Daß, als ich auch im Ehestand mich betrogen sah, und statt des Glücks, das ich darinn zu finden mir eingebildet hatte, nur auf einen Haufen ganz neuer unerwarteter Widerwärtigkeiten stieß, ich mich wieder aufs Grillenfängen legte, und meine Berufsgeschäfte nur so maschienenmäßig, lästig und oft ganz verkehrt verrichtete, und mein Geist, wie in einer anderen Welt, immer in Lüften schwebte [. . .]. Da ich hiernächst um die nämliche Zeit anfieng, mich aufs Lesen zu legen, und ich zuerst auf lauter mystisches Zeug – dann auf die Geschichte – dann auf die Philosophie – und endlich gar auf die verwünschten Romanen fiel, schickte sich zwar alle dieß vortreflich in meine idealische Welt, machte mir aber den Kopf noch verwirrter. Jeden Helden und Ebentheurer alter und neuer Zeit macht’ ich mir eigen, lebte vollkommen in ihrer Lage, und bildete mir Umstände dazu und davon wie es mir beliebte. Die Romanen hinwieder machten mich ganz unzufrieden mit meinem eigenen Schicksal und den Geschäften meines Berufes, und weckten mich aus meinen Träumen, aber eben nur zu grösserm Verdruß auf.« (305 f.). 26 Hierzu Niggl (wie Anm. 1), S. 14 f.
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kann, verdankt er dem preußischen Dienst, der ihn vorübergehend aus seinem Lebenskreis herausgeführt hat und der ihm einen Blick von außen verschaffte, den er zusätzlich durch seine Lektüre schärfen konnte, indem er dadurch zugleich zu einem kritisierten Außenseiter in seiner Lebenswelt geworden war. Wenn er sich auch immer wieder selbst ermahnt, mit seinen Lebensumständen zufrieden zu sein, so ist doch gerade das ein Indiz der Selbstentfremdung, die er sich nicht eingestehen darf. Aber genau in dieser Spannung wird das Schreiben zum Moment des Lebens und das Leben zu einem objektiven Gegenstand des Schreibens. Dass die Lebensgeschichte durch Vermittlung des Pfarrers Imhof dann tatsächlich veröffentlicht wurde, ist in diesem Kontext durchaus ambivalent. Zwar konnte Bräker sich bestätigt fühlen, denn nun hatte er Leser und fand er eine unerwartet große Resonanz, aber ein Autor war er damit noch keineswegs. Denn das Interesse des Publikums gilt dem Illiteraten, auf dessen »schriftstellerische Gebrechen« (69) im »Vorbericht des Herausgebers« ausdrücklich hingewiesen wird. Damit bleibt das Leben der einzige publizierbare Gegenstand, obwohl er sich bereits verbraucht hatte. Das Leben als Gegenstand des Schreibens erweist sich zugleich als Grenze des Schreibvermögens. Die in den chronikalischen Schlusspartien der Lebensgeschichte sich abzeichnende Tendenz zur Reflexion ökonomischer, politischer und aktueller Probleme, die literarischen Betrachtungen, Reisenotizen und vollends die eigentlich poetisch gemeinten Versuche trafen auf keine Nachfrage, und so ist gerade der scheinbare Durchbruch zur Autorschaft der Kontext von deren Verhinderung. Für die Aufgeklärten blieb Bräker Gegenstand eines letztlich doch gönnerhaften Wohlwollens, das das erstaunliche Bemühen in seinem nur teilweisen Gelingen respektierte. Das war aber nur so lange von Interesse, wie Bräker in seinen Lebensverhältnissen verblieb, von denen er sich jedoch durch die punktuell gelungene Autorschaft vollständig entfremdete. Der Zugang zur publizistischen Öffentlichkeit wurde ihm aber gerade durch diese Erwartungshaltung verwehrt, obwohl seine späteren Aufzeichnungen ihn als einen hellsichtigen und reflektierten Schriftsteller erweisen, der durchaus publizistische Fähigkeiten hatte und der sich durch die Veröffentlichung seiner Autobiographie bestätigt sehen durfte. So blieb ihm nichts anderes übrig, als seine politischen, ökonomischen, teilweise sogar philosophischen Überlegungen im Tagebuch festzuhalten, das über seine ursprüngliche Funktion der Aufzeichnung von Lebensmomenten hinauswuchs und so für die Nachwelt zum Dokument der zugleich geglückten und missglückten Autorschaft werden konnte. Die Grenzlinie ist der Lebensbericht, in dem Leben und Schreiben gerade noch zusammenfallen und für den sich der entstehende literarische Markt noch aufnahmefähig erweist. Aber gerade indem Bräker sein Rollenverständnis realisiert, wird er von seinem sozialen Status eingeholt und fällt dann wieder in das bloße Rollenspiel zurück, jetzt allerdings mit dem verstärkten Bewusstsein des Abgedrängtseins.
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Dafür ist die Frage der Honorierung symptomatisch. Bräker, der durch die Veröffentlichung der »Lebensgeschichte« im »Schweizerischen Museum« und dem Nachdruck in der Zürcherischen Bürklinzeitung stigmatisiert ist und deshalb die Fortsetzung des Nachdrucks sogar verhindert,27 der also von der Realisierung seiner Wunschprojektion überrascht und überfordert ist, kann sich auch zu dem völlig unerwarteten Honorarangebot des Verlegers Johann Heinrich Füßli, den er als Ratsherrn und Menschenfreund (Philantropen) wahrnimmt, nicht verhalten und lehnt es zunächst ab.28 Erst nachträglich begreift er, dass Schriftstellerei auch Gelderwerb ist und veranlasst Imhof zu einer Intervention, um das Angebot anzunehmen, wobei es ihm vor allem darauf ankommt, den symbolischen Wert der gebotenen Chance zu realisieren. Er sieht jetzt die Möglichkeit, »die unzehlichen Vorwürfe, die ich wegen meinem Schreiben, vor nichts und wieder nichts, wie mans nennt, in mich schlucken muss, zu mindern oder doch wenigstens zu mildern.«29 In der Folge behauptet sich sein ökonomischer Sachverstand, und er unternimmt immer wieder Versuche, seine wirtschaftliche Lage durch den Verkauf von Manuskripten zu verbessern, ist dabei aber auf Mittelsmänner angewiesen30 und erreicht nichts. Immerhin beginnt er damit aber, sich als Berufsschriftsteller zu fühlen, was den Gestus des Schreibens verändert und die vorläufigen, sehr privaten und lebensbezogenen Rechtfertigungen aufhebt.31 In dem Augenblick, wo er das Schreiben als Möglichkeit des Broterwerbs entdeckt hat, ist die Quelle schon versiegt, aber er versteht sich nun als Autor, der zumindest fiktiv mit seinem ›Publikum‹ kommuniziert: »also – gebt auch, jhr lieben, dem armen mann im Toggenburg sein brodt – vor seine hirnproducten – dan wirdt er sich hertzlich freühen – zu eüeren diensten zuleben – und bis in den tod bleiben – der dienstgefliesneste screibler seiner l.[ieben] lesewelt.«32
27 Chronik Ulrich Bräker. Auf der Grundlage der Tagebücher 1770–1798. Zusammengestellt und herausgegeben von Christian Holliger, Claudia Holliger-Wiesmann, Heinz Graber, Karl Pestalozzi, Bern/Stuttgart 1985 (im folgenden zitiert als: Chronik). Hier: Chronik, S. 324 (6.4.1788). Vgl. dazu auch: »Balz und Andres« (wie Anm. 24). 28 Chronik, S. 328 (7.7.1788). 29 Ebd. 30 Vgl. hierzu Voellmy, Bd. 2 (wie Anm. 19), S. 35 f. 31 Dafür seien nur einige Beispiele genannt: Bräker begreift das Leben als ein »fortdaurendes selbstgespräch« (Tagebücher, Bd. 2 [wie Anm. 20], S. 545; 6.3.1787), entschuldigt sich bei seinem »Lieben Leser« für die Geringfügigkeit seiner »täglichen Begegniße« (Tagebücher, Bd. 2, S. 566; 23.4.1787) und hat das Bedürfnis nach mehr Welt. »Einfach ist mein würkungskreiß – einfach mein wüssen – und doch streb ich immer nach mehr – möchte alleweil mehr würken – mehr wüssen.« (Tagebücher, Bd. 2, S. 573; 5.5.1787). 32 Ulrich Bräker, Sämtliche Schriften, 3. Bd.: Tagebücher 1789–1798, bearbeitet von Andreas Bürgi u. Alfred Messerli, München/Bern 1998, S. 272 (1.1.1790).
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Leben und Schreiben verschränken sich also bei Bräker in ganz eigentümlicher Weise zum Traum einer Autorschaft, dessen Erfüllung er in seinem Zeitkontext nur ahnen konnte und der gerade in seiner Unerfüllbarkeit seine Wahrheit hat. Denn ob er als Schriftsteller so überzeugend gewesen wäre wie in seinem Ringen um die Schriftstellerei, ist doch eher zweifelhaft.
AlfredMesserli BräkersSchreibpro gramme
ALFRED MESSERLI
Bräkers Schreibprogramme, Schreibmotive und Schreibpraktiken in seinen Tagebüchern Wiederholt hat sich Ulrich Bräker zu seiner Neigung zum Schreiben geäußert. Er spricht von seinem »unwiderstehliche[n] Hang zum Lesen und Schreiben«1, von einem »unentberlichen Bedürfniß«2, nennt sich einen »erdensohn der gerne schreibt«3 oder einen »arme[n] schreibsüchtige[n] weltbürger«.4 Es befriedige etwas in ihm »allzusehr« und dieses etwas sei die Triebfeder: »es muß irgend ein geist sein, der nicht nur gelehrte sondern auch läien begeistert«.5 Diese Lust zum Schreiben schloss sowohl den Text, als auch den Akt des Schreibens und die konkrete Gestaltung der Buchstaben in sich.6 Die »zierlich geschweifte[n] Buchstaben aller Art [hatten] sehr viele Reitze«7 für ihn. Sie waren als eine Art »ornamentale[r] Jubel«8 (Nicolas Bouvier) der Versuch, wie 1 Ulrich Bräker, Sämtliche Schriften, Bd. IV: Lebensgeschichte und vermischte Schriften, bearbeitet von Claudia Holliger-Wiesmann, Andreas Bürgi, Alfred Messerli, Heinz Graber zusammen mit Christian Holliger und Alois Stadler, München/Bern 2000, S. 506. – »ein mahl ich fühle einen trib in mir zum schreiben, für mich wil ich schon nutzen davon gespürt an meinem hertzen sit dem ich angefangen zuschriben.« Ulrich Bräker, Sämtliche Schriften, Bd. I: Tagebücher 1768–1778, bearbeitet von Alfred Messerli, Andreas Bürgi zusammen mit Heinz Graber, Christian Holliger, Claudia Holliger-Wiesmann, Alois Stadler, München/Bern 2000, S. 29. 2 Bräker, Bd. IV, S. 546. 3 Ulrich Bräker, Sämtliche Schriften, Bd. III: Tagebücher 1779–1788, bearbeitet von Andreas Bürgi, Alfred Messerli zusammen mit Heinz Graber, Christian Holliger, Claudia Holliger-Wiesmann, Alois Stadler, München/Bern 1998, S. 3. 4 Ulrich Bräker, Sämtliche Schriften, Bd. II: Tagebücher 1779–1788, bearbeitet von Heinz Graber, Claudia Holliger-Wiesmann, zusammen mit Andreas Bürgi, Christian Holliger, Alfred Messerli u. Alois Stadler, München/Bern 1998, S. 40 (16. Februar 1779). – »Einmal ist die Schreibsucht da.« (Bräker, Bd. IV, S. 363) 5 Bräker, Bd. II, S. 4. 6 »jch hatte von jugent auf, grose lust zum schreiben, und habe daher alle schrifften insonderheit die schönen gerngesehen; in der jugent hate ich eine hertzliche freüde mit grosen zierlich gemachten buchstaben, wo ich einen haben konte machte ich den selben in der einfalt nach: wil ich aber nie, keine anführer oder lehrmeister darzu hate bleib ich beständig in dem a. b. c. so das ich noch jetz die thorheit besitze deises kindische lallwerk zumachen; wie ich auf vorgehenden bletteren das grose a.b.c. nach der vorigen kindheit gemacht.« (Bräker, Bd. I, S. 538 [5. September 1773]) 7 Bräker, Bd. IV, S. 513. 8 Nicolas Bouvier, Volkskunst, Disentis: Desertina 1991 (Ars Helvetica, Die visuelle Kultur der Schweiz; IX), S. 180 f.
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Bräker zwanzig Jahre später, 1789, in einem Brief an Pfarrer Martin Imhof (1750–1822) selbstkritisch anmerkte, den »hohen und wichtigen wahrheiten«9 den angemesse Ausdruck zu vermitteln.10 Man hat allgemein im Pietismus die entscheidende Voraussetzung für Bräkers Schreibpraxis sehen wollen. Zu den Büchern, von denen Bräker seit seiner Jugend durch eigene Lektüre oder durch Zuhören bei den privaten Zusammenkünften, die in der Folge der Missionierung des Toggenburgs durch pietistische Inspirierte in den späten zwanziger und den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts Mode wurden, Kenntnis hatte und die er schätzte, zählen neben der im gesamten Protestantismus schon halbkanonisch gewordenen asketischen Andachtsliteratur eines Johann Arndts vor allem pietistische Werke.11 Weiter spielten die Bibel und Gesangbücher eine wichtige und formbildende Rolle. Diese religiösen Voraussetzungen im Bereich des Hauses und der Landschaft trugen zweifellos dazu bei, den jungen Bräker zum Lesen und Schreiben zu motivieren und seinen Hang zur Bücherwelt zu fördern.12 Eine weitere Voraussetzung war die Schule. Aber gerade sie hatte vor 1800 wenig Neigung, eine aktive Schreibpraktik zu fördern. Es fehlten die entsprechenden didaktischen Einsichten und Präferenzen. Da Schreiben erst erlernt und eingeübt wurde, wenn man bereits lesen konnte (oft nach vier oder fünf Winterschuljahren) und deshalb überhaupt nur wenig Zeit bis zum Schulaustritt übrig blieb, Schreiben meist Kopieren bedeutete und der kalligraphischen Gestaltung eine entscheidende Bedeutung beigemessen wurde (Vorschriften, Examensschriften, Osterschriften), auf Kosten inhaltlicher Eigenständigkeit und orthographischer Richtigkeit, der ganze Unterricht überhaupt zeitlich äußerst limitiert und materiell karg ausgestattet war, entließ die Schule des Ancien Régime ihre Schüler, was das Schreiben anbelangte, nur mit partiellen, ihre Schülerinnen oft ohne alle Kenntnisse. In seiner konservativen Orientierung übertraf der Schreibunterricht, wenn er denn stattfand, bei weitem den Leseunterricht, der sich bei aller didaktischen Fixierung auf religiöse Lesestoffe daneben eines heterogenen, oft zufällig zustande gekommenen Textkorpus’, bestehend aus gedruckten Lesestoffen wie Andachtsbüchern, Psalmenbüchern, 9 Bräker, Bd. I, S. 4. 10 »ich hete noch lange nachher alles drum gegeben – wenn ich – [. . .] – recht zierliche buchstaben machen gelehrnt hete – meinen wichtigen hirngeburthen – einen desto grösseren eindruk zuverschaffen –« (ebd.) 11 Eine Übersicht der »oft erwähnten Bücher der I. Periode« findet sich bei Samuel Voellmy, Daniel Girtanner von St. Gallen, Ulrich Bräker aus dem Toggenburg und ihr Freundeskreis. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung in der Schweiz in der 2. Hälfte des XVIII. Jahrhunderts, Diss. Basel 1927, Basel 1928, S. 102–107. 12 Vgl. Gerhard Sauder, Die Bücher des Armen Mannes und der Moralischen Gesellschaft im Toggenburg, in: Buch und Sammler. Private und öffentliche Bibliotheken im 18. Jahrhundert. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert; Düsseldorf vom 26.–28. September 1977, Heidelberg 1979, S. 167–186.
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Kalendern, Zeitungen und Lesebüchern einerseits und handschriftlichen Schriftmedien wie Briefen, Verträgen, Prozessakten usw. andererseits bediente. Das Schreiben wurde, anders als das Lesen von Gedruckten, für das Seelenheilen der Leute (wenigstens im protestantischen Kontext) nicht für notwendig erachtet. Als die Mitglieder des Stillstands der Gemeinde Pfungen (Kanton Zürich) im Jahre 1771 forderten, der Schulmeister solle den Schulkindern in der kommenden Winterschule auch das Schreiben lehren, widersprach der Pfarrer Johann Jakob Meyer (1731–1792) – im übrigen ein aufgeklärter Mann – mit den folgenden Worten: »Laut Schulordnung sollen die Kinder [Gedrucktes] lesen und Geschriebenes lesen, das ist das Wichtigste. Schreiben ist ein zeitlicher Vorteil, Lesen aber ist der Seelen Vorteil für die Ewigkeit. Jeder soll Gottes Wort lesen können, denn keiner wird zum Abendmahl zugelassen, der nicht das Neue Testament lesen kann.«13
Diese konservative Ausrichtung des Grundschulunterrichts im 18. Jahrhundert mit seiner einseitigen Privilegierung des Lesens entsprach nun in keiner Weise den Alltagsanforderungen. Schreiben wurde im 18. Jahrhundert auch für Teile der Unterschicht eine immer wichtigere Kulturtechnik innerhalb einer zunehmend arbeitsteiligen Gesellschaft. Informelle Lernprozesse – heute würde man von Erwachsenenbildung sprechen (›home schooling‹) – und Selbstbildung waren wichtige Elemente bei der individuellen Aneignung dieser Kulturtechnik. Die Zunahme der Zahl derjenigen, die in diesem Prozess zu einer aktiven Schreibpraktik hingeführt wurden, kam in den meisten Fällen nur durch verschiedene, sich mitunter widersprechende, in der Hauptsache ökonomische und politische Zwänge und Bedürfnisse zustande. Die Ursachen dieser Zwänge hängen zusammen mit dem Aufkommen einer zunehmenden Rechenhaftigkeit und Marktorientierung, mit der schon im 18. Jahrhundert einsetzenden, zumeist unterschätzten Mobilität und dem damit einhergehenden Bedürfnis nach schriftlicher Kommunikation (als ›Redeersatz‹ mit den Angehörigen), mit der Krise eines oral weitergegebenen Wissens (das fragwürdig geworden zu sein scheint), mit der Suche nach einem Instrument der Selbstvergewisserung (auch im religiösen Sinne), mit dem Wunsch nach Freiraum und Flucht innerhalb und aus der dörflichen Enge, mit der Möglichkeit, eine zunehmend durch gedruckte Texte vermittelte und erweiterte Welt analog im Medium der Handschrift darzustellen, zu reflektieren und zu ›bewältigen‹, mit der Vorstellung endlich, eine ›Spur‹ für die Nachkommenden zu hinterlassen. Nach Utz Mass eröffnet die Schrift symbolische Potentiale der Bearbeitung der Realität, die es erlauben, aus der puren Reproduktion gleichsam ›auszusteigen‹.14 13 Heini Steiner, Pfungen. Ortsgeschichte und Heimatbuch, Pfungen 1954, S. 226. 14 Utz Maas, Ländliche Schriftkultur in der Frühen Neuzeit, in: Andreas Gardt, Klaus J. Mattheier, Oskar Reichmann (Hg.), Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien, Tübingen 1995 (Reihe germanistische Linguistik; 156), S. 249–277, hier S. 253.
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Bräker selber hat nicht in der kurzen Schulzeit schreiben gelernt,15 sondern für sich allein:16 »ganz aus mir selbst, ohne andern Unterricht gelernt, dafür aber auch erst in meinem dreyßigsten Jahr etwas Leserliches, doch nie nichts recht orthographisches, auch unlinirt bis auf den heutigen Tag nie eine ganz gerade Zeile herausbringen konnte.«17
Er ist nun, was sein Schreibbedürfnis und die damit verbundenen Absichten, was Rechtfertigungen, Begründungen und Rationalisierungen von Schreibakten betrifft, besonders in den ersten zehn Jahren seines Tagebuchschreibens, äußerst beret. Das hat gewiss seine Ursache darin, dass die Rollenerwartungen an den Hausvater als Ernährer der Familie keinerlei arbeitsfremde Aktivitäten während der Arbeitszeit erlaubten. Darin, dass Bräker sich Zeit zum Schreiben erübrigen musste, über die er im Grund nicht verfügte, und diesem Dilemma nur dadurch zu entgehen vermochte, indem er durch strenge Gliederung und Planung des Tagesablaufes und Entmischung der Tätigkeiten (Departementialisierung von Arbeit und Reproduktion), durch den Verzicht auf traditionelle Reproduktionsformen18 und durch das Verschieben der Schreibaktivität in die Nacht die Dauer der Reproduktion verkürzte, werden sowohl der ökonomische Druck als auch diese Rollenerwartungen sichtbar. Und während seine Frau, Salome, ihm vorhielt (so behauptete er wenigstens) mit seinem Lesen und Schreiben sich und seinen Kindern kaum »den Betelstab daraus kaufen [zu] können«19, hielt er ihr entgegen: »[. . .] freylich hat mir mein Schreib= und Lesehang manche Stunde geraubt! Aber der Himmel weißt’s, daß ich doch die mehrern derselben dem Schlaf entrissen, oder solche dazu angewandt, welche andre verhockt oder sonst vertändelt haben.«20
Die dem Lesen und Schreiben gewidmeten Stunden sind Freiräume, die er gegen die Versuche seiner Umgebung, sie einzuschränken, aber auch gegen wirtschaftliche Notwendigkeit verteidigt. Der vielen Arbeit wegen kam Bräker jedoch oft nicht dazu, mehr als die Aussage festzuhalten, keine Zeit zu haben: »kaum zeit diese zielen zu schreiben – ginken u.[nd] zapeln bis in die 15 »in die schul bin ich wenig gegangen was ich gegangen bin bin ich zu Kreinau zum Hans Jörg Bruner der war mein guter schulmeister, dem buchstaben-nach. im übrigen hab ich auch mehr böses als gutes gelehrnet, wil sehr wenig gut artige schulkinder waren.« (Bräker, Bd. I, S. 19 f.) 16 »auch von selbst ein wenig schreiben lernte, weil ich grosse Lust dazu hatte.« (Bräker, Bd. IV, S. 504) 17 Ebd., S. 513. 18 »witers hab ich freilich wenig zeit, allein der herr schenckt mir dan und wan eine einsamme stunde. ich kan die stunden die ich vorhin unütz zugebracht darzu anwenden auch habe ich den sabath des herren und nächtliche stunden.« (Bräker, Bd. I, S. 29) Vgl. ebenso S. 176 (Eintrag vom 5.–9.6.1770). 19 Bräker, Bd. IV, S. 499. 20 Bräker, Bd. I, S. 736 (18. März 1777).
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schwartze nacht hinein –«21 Vieles gäbe es, das ihn würdig dünkte, aufgeschrieben zu werden, aber »die tage sind kurtz – und der hindernussen viel – kaum kan ich die nacht provitieren – und da sind die augen dunkel, und die hände träge.«22 Oder es fehlen ihm »schreibenswürdige« Gegenstände.23 Mangelt ihm die entsprechende Zeit, so macht er die Feststellung, er würde das Fehlende nachholen. Doch dann bleibt es beim Vorsatz: »wanns feyrabend ist, hast du mit guter muse noch einen gantzen korbvoll über diese materie zuschreiben. – jez ists nacht – ich staunte und dachte – und konte gar nichts mehr von diesen gedannken feinden – betäübt von dem gelärm bis in die nacht hinein, suchte ich die gestrigen zukersüsen jdeen, und wolts erzwengen. – aber, o ho – als ich meinte völlige ruhe zuhaben und in starkem anstergen war; bifzgete mir mein schlaf camerad allerhand zeüg in die ohren, das ich bloß halb hörte, und und vor staunen nicht antwortete. er setzte mir hefftiger zu; ich antworte verworren und verdrüssig: noch hefftiger – ey, sagte ich, um gottwillen last mir doch dis einsame stündchen, wos mich den gantzen tag draufhin freüthe im frieden. da fiengs an wettern; ich ward gantz confus – schmiß die feder weg, und brumte ungereimt zeüg –«24
Wegen dieses Zeitdruckes hadert er mit seinen »knoden«, dass sie »so stabig« seien und dass seine Hand nicht dahinflöge, »wann die gedannken über einandern aus trollen; und mir die ausdrüke recht herflössen«.25 An anderer Stelle heißt es, er gäbe ein Halbdutzend Taler drum, »wenn ich so flink und fertig schreiben könte, wie diß und iennes herrchen – das im hui eine quartseite herunter gekritzelt hat – o das meine hand den gedannken nachkomen möchte – aber das ist nun nicht anderst – die gedannken verliehren sich gar offt wieder – das ich recht böße auf meine stokfischhand schimpfe – die gedannken fliegen meilenweit voraus – da die klotzhand noch kaum den weg an[g]etretten hat«.26
Bräker kennt auch eine Vielzahl sprachlicher Formulierungen für die Tätigkeit des Schreibens, wie ›ankleksen‹, ›anschmieren‹ oder ›aufs weiße Papier herschmieren‹, die den Schreibakt sehr konkret ausdrücken.27 Die in der Mehr21 Bräker, Bd. II, S. 51 (4. März 1779). – »zudem habe ich keine zeit dazu, ich habe ja kaum zeit genug zur arbeit, und für den leib zusorgen.« (Bräker, Bd. I, S. 28) Vgl. ebenso S. 137 (11. Februar 1770), 333 (26.–31. Mai 1771); Bräker, Bd. II, S. 34 (9. Februar 1779), 148 (14. April 1780), 356 (28. Januar 1783). 22 Bräker, Bd. II, S. 441 (21. Dezember 1783). 23 Vgl. Ebd., S. 187 (16. Juli 1780), 366 (21. Februar 1783). 24 Ebd., S. 61 f. (19/20. März 1779). 25 Ebd., S. 28 (4. Februar 1779). 26 Bräker, Bd. III, S. 298 (25. Februar 1790). 27 Eine kleine Auswahl aus Bräkers Tagebüchern stellen die folgenden Ausdrücke dar: »das Papier besudlet« (Bräker, Bd. II, S. 185 [Eintrag vom 2. Juli 1780]), »dem papeir angeklekt« (ebd., S. 199 [Eintrag vom 31. Juli 1780]), »angehenkt« (ebd., S. 223 [Eintrag vom 28. August 1780]), »kleks dem papeir an« (ebd., S. 253 [Eintrag vom 6. Januar 1782]), »ankleken« (ebd., S. 531 [Eintrag vom 8. Februar 1787]), »hinklekse« (598 [Eintrag vom 12. August 1787]), »aufs weiße
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zahl pejorativen Verben belegen die von Bräker selber als prekär erlebte Schreibpraxis. Am Anfang seines Tagebuches versuchte sich Bräker in traditionelle und populäre Genres wie dem Chronikschreiben,28 dem Erstellen von Preislisten und Wetteraufzeichnungen, der Predigt bzw. der Vermahnung oder der »zufälligen Andacht«, wie sie ihm aus Christian Scrivers Andachtsbuch Gottholds zufälliger Andachten vertraut waren. Ja, wir finden selbst so elementare Formen wie das Abschreiben oder Variieren biblischer Stoffe. Zwei Grenzen dieses Schreibprogrammes der imitatio und der tractatio, das nur »jhm [sc. Gott] allein zur ehre [. . .] von seinen werken von seinen wegen, und von seiner gütte«29 künden will, zeichnen sich ab. Es ist einmal die Gefahr, in eitler Selbstüberschätzung den biblischen Horizont zu überschreiten. Was nicht mit der Schrift konform ist und aus ihr fließt, entspringt – nach orthodoxem und pietistischem Selbstverständnis – eigener Willkür, ist Erdichtetes, kurz: Lüge, Selbstvergottung. So versichert denn Bräker in seiner Vermahnung an seine Kinder, darin nichts »in eigner macht, oder nach eigenem gutdünken gelehret«, sondern sie nur »in das wort des herren gewisen«30 zu haben. Die Angst, im Schreiben weniger die Ehre Gottes besungen als vielmehr eitle Weltdinge verhandelt und das Eigene befördert zu haben, konnte zum Abbruch des Schreibens oder gar zur Vernichtung des schon Geschriebenen führen. In dem bereits zitierten Brief an Pfarrer Imhof bekannte Bräker, vor 21 Jahren das bis dahin auf einzelne Blätter Geschriebene gesichtet, einzelnes davon ausgezogen und überarbeitet, das übrige aber wie Gassenliedchen, Liebesbriefe, da es ihn nicht erbaulich dünkte, vernichtet zu haben.31 Es ist nur logisch, wenn er Gott bittet, ihm einzugeben, »was ich schreiben oder lasen sol«32 oder ihm »die feder selbsten [zu] führen«.33 Der anderen Grenze begegnen wir in den Eingeständnissen der eigenen Insuffizienz. Es ergäbe, schreibt Bräker, ein imaginäres, »ungeheüres buch«, wenn man die Wohltaten, die einem nur während eines Jahres von Gott wiederfahren, aufzählen und aufschreiben wollte. Und ebenso umfangreich
papeir her zuschmieren« (ebd., S. 546 [Eintrag vom 6. März 1787]) oder »aufs papeir zukrizeln« (Bräker, Bd. III, S. 262 [nach dem 11. Oktober 1789]). 28 »was mir das jahr hindurch, begegnet von dem herren, das sol nach meinem brauch mir deise bletter zieren; es sey wohl oder weh, auf deiser bilger bahn, es gehe wie es geh, ich nehme beydes an.« (Bräker, Bd. I, S. 489 [1. Januar 1773]) – »jm übrigen ist mein vorsatz, auf zuschreiben die wege u.[nd] werke des herren mit uns; zu preisen seine gütte, und seine warheit zuverkündigen; auch mich zu erlustigen in in den werken seiner henden, u.[nd] zu verwunderen über seine allmacht.« (ebd., S. 494 [3. Januar 1773]) 29 Ebd., S. 589 (2. Januar 1774). 30 Ebd., S. 115. 31 Ebd., S. 3. 32 Ebd., S. 123 (vor 1. Januar 1770). 33 Ebd., S. 489 (vor 1. Januar 1773).
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wäre das Sündenregister, hätte er ein solches seit seiner Jugend geführt.34 Die Endlichkeit des Schreibens steht gegen die Ewigkeit der Güte Gottes, das eigene Schreibbuch gegen das unendliche Buch der Natur. Wie sollte er auch »alle sein gütte auf deise wenige bleter schreiben könen, da doch himmel, erde und das meer vol geschreiben sind von seiner gütte«35. Und weiter: »solte ich armer staub alle sein gütte auf deise wenige bleter schreiben könen, da doch himmel, erde und das meer vol geschreiben sind von seiner gütte, und doch noch nicht alle[s] geschriben ist: solte ich sey außsprechen könen; nein, dan seine gütte wehret ewiglich.«36
Neben das Problem der ungenügenden Schreibleistung tritt das dem Schreiben vorausgehende Wahrnehmungsproblem.37 Die Leiden, die Jesus durchgestanden habe, sei er nicht im Stande zu beschreiben. Sein Verstand begreife 34 »o mein gott, wan alle deine wolthaten aufgeschriben wären, die du an mir armen erden wurm gethan hast, von meiner kindheit an; o so wären der schrifften mehr dan sand am meer. o ich bin vil zu gering und zu unwüsend, alle deine wolthaten zu erkennen, wil geschwigen aufzuschriben. wan aber auch alle meine laster, sünden und übertretungen, von jugent auf solten aufgeschriben sein. o wie gäbe es ein ungeheüres schwartzes schuldregister buch. ich werde auch nimmer mehr alle meine fähler könen aufschriben, dan wer kan wüsen wie offt er fählet, ach mein heyland verzeihe mir doch auch meine verborgene fähler, und lehre mich meine eigene wege prüfen, befreye mich von der eigen liebe, und von aller selbst gefehligkeit, das ich alles nur zu deiner ehre vornehme.« (ebd., S. 123 f. [vor 1. Januar 1770]) 35 Ebd., S. 584 (31. Dezember 1773). – »was hat uns doch je gefählet, deises gantze jahr hindurch, wan man es nur nicht verhelet; gäbs ein ungeheüres buch« (ebd.) 36 Ebd. – »aber wan ich alle dise bläter überschribe könte ich o. mein heiland deine liebe deine müh deine arbeit gedult und langmuth nur ein tropfen davon auf schreiben was dur an mir armen made gethan« (ebd., S. 26) – »und was thut nicht gott für guts den seinigen schon hier in der zeit, welches mit keiner feder zubeschriben ist, die es erkenen die wüsen es, aber wer kan es genug erkenen, wir haben wol unsere gantze lebens zeit zu studieren an der gute und langmuth gottes« (ebd., S. 42) – »ach meine kinder ich bin vil zuschwach und zu gering die herlichkeit zubeschriben die mann unter disem konig hat sey ist in der h. schrifft und sonst in vil guten bücheren beschriben aber die glücksäligkeit ein unterthan dises konigs zusein ist nicht außzusprechen und mit keiner feder zubeschriben« (ebd., S. 46) – »o mächtiger gott, wer kan deine macht begriffen, wer kan sey außsprechen, oder beschriben, wer acht hat auf deine thaten, der kan es merken, aber doch nicht begriffen; dan du bist wunderbar in deinen wegen, u.[nd] herlich in deinen thaten.« (ebd., S. 340 [4. Juli 1771]) – »jch wil sein lob verkündigen nach meinem vermögen, und sein gütte den nachkomenden erzehlen. ach das ich dieselbe noch so wenig erkenne; und so träge bin zu seinem lob. ach das ich noch so offt übel zufrieden bin mit meinem schiksaal, das ich nicht in allem die gütte des herren sehe u.[nd] lobe, da sey doch gewüß in allem, auch in der züchtigung ist.« (ebd., S. 461 f. [29. November 1772]) – »dje vielen und grosen guthaten, meines gütigen und liebreichen gottes, alle nach ihrer viele und gröse zu erzehlen, wäre ein unmögliche sache; dan sey sind alzu groß, unzahlbar, und unbeschreiblich: jch reichte nur meine gedanken, nach der schwachheit meines verstands, nachzudenken, und aufzuschreiben, was mir mein gütiger und liebricher schöpfer, abermahlen das bald vergangene jahr guttes beweisen hat.« (ebd., S. 577 [19. Dezember 1773]) 37 »jch habe schon je u.[nd] je von der gütte des herren geschriben; und wil noch mehr davon schreiben, dan sey erfühlet mein hertz; und doch hab ich noch das wenigste darvon erkandt«. (ebd., S. 461 [Eintrag vom 29. November 1772])
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es nicht, seine Sinne vermöchten es nicht nicht zu fassen, es sei unbegreiflich, unbeschreiblich und übersteige allen Menschenverstand.38 Der Topos der Unbeschreibbarkeit ist durchaus populär. In der Frühen Neuzeit – bis auf Johann Caspar Lavater (1741–1801) – war das Bewusstsein »von Dichtung als schöpferisch neu geschaffenen Eigenrealität« nicht eben stark ausgebildet. Dem entsprachen die etablierten Poetiken mit dem Konzept der imitatio als artifizielle »Verwandlung und Variation von Vorgegebenem«.39 Zudem barg diese ›doppelte Buchführung‹ die Gefahr in sich, vor der großen ›Vorlage‹ die ›Copie‹ 40 als sinnloses Verdoppelung zu verwerfen: »was sol ichs papeir damit beschmutzen – meine seüfzer fliegen in die lufft – die hörst du alleine, und sonst keine seele. meine verrichtungen sind eynerley, und der gedannken milionen, die weist du alle, ich schreibes oder nicht.«41
Erst ein Rousseau wird in seiner Autobiographie (Les Confessions 1782, 1789) nicht eine Übereinstimmung zwischen seinem und jenem Buche erhoffen, sondern mit der Gewissheit antreten, durch seine Schrift den ›himmlischen‹ Text gültig ersetzt zu haben.42 Das von Bräker anfangs übernommene Genre des Chronikschreibens erfüllt einerseits den vorgeblichen und gesellschaftlich sanktionierten Zweck, aus der Erfahrung anderer klüger zu werden, gemäß dem Topos historia magistra vitae. Der Chronik eignet darüber hinaus eine selten eingestandene emotionale Dynamik, indem ihre Lektüre in drückender Lage dem Lesenden Trost bietet »daß seine Vorfahren auch in Noth gewesen, ihnen aber wieder daraus geholfen worden. [. . .] Wir vergessen [. . .] so leicht wieder, was in den vorigen Zeiten geschehen ist, und glauben immer, wenn wir in Noth sind, dieselbe sey größer als diejenige, die unsere Vorväter erfahren haben.«43 Die vermeintliche Totalität der Gegenwart richtet sich an der Endlichkeit des Vergangenen auf.44 Nicht mehr in der Heilsgewissheit sondern in einer Historisierung der 38 Vgl. ebd., S. 72 f. 39 Erich Kleinschmidt, Die Wirklichkeit der Literatur. Fiktionsbewusstsein und das Problem der ästhetischen Realität von Dichtung in der Frühen Neuzeit, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), S. 174–197, hier S. 189. 40 »keine bleter hab ich noch mit mehr zufriedenheit und ruhe des gemüths geschrieben, als dieses, und in keinen haben ich mich näher getroffen – abers copie ist noch bewitem nicht gantz – villicht mach ich mit der zeit eine beßer – villicht nicht.« (Bräker, Bd. II, S. 125 [25. Juli 1779]) 41 Ebd., S. 40 (16. Februar 1779) – »hüte hab ich an deiner tafel gespiset, o allerliebster heiland; wie es mir gewesen, und wie ich mit dem unglauben kämpfen muste, ist dir mein Jesu vil beser bekant dan ich es schriben kan.« (Bräker, Bd. I, S. 153 [12. April 1770]) 42 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Œuvres complètes. I. Les Confessions; autres textes autobiographiques. Hg. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond, Robert Osmont. Paris: Editions Gallimard (1959) 1981 (Bibliothèque de la Pléiade; 11), S. 5. 43 Jahrgänge, Witterung etc. in: Bauren-Zeitung 1816, Nr. 33, S. [1/2], Nr. 34, S. [1/2], Nr. S. 35, S. [1/2], Nr. 36, S. [1/2], Nr. 37, S. [1/2], Nr. 38, S. [1/2], Nr. 39, S. [1], Nr. 40, S. [1/2]. hier Nr. 33, S. [1].
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Unglückes wird dieses erträglich.45 Selbst so spröde Annotationsformen wie Preislisten, die nach Jack Goody, anders als erzählende, narrative Texte »kein orales Äquivalent«46 aufweisen (»They do not represent speech directly.«)47, besitzen, oder genauer: besaßen für den Lesenden eine hohe emotionale Wertigkeit. Die Tagebücher der ersten Periode von 1768 bis 1778 zeigen zugleich, wie Bräker sich allmählich von den pietistischen Wahrnehmungs- und Darstellungsmustern entfernte. Ein von ihm wiederholt angewandtes, durch pietistische Autoren als »zufällige Andacht« popularisiertes Deutungsmuster verbindet eine alltägliche Beobachtung mit einer geistlichen spirituellen Interpretation. Der weiße und saubere Schnee erinnert ihn daran, wie alles, was vom Himmel kommt, rein ist und unrein wird, sobald es die Erde erreicht; das Eis und der Schnee stehen ein anderes Mal für seelische Käte und fehlende Liebe zu Gott; der Frühling gemahnt ihn an den »ewigen Frühling« und so weiter. Jede Beobachtung wird für ihn zu einem »trefflichen Bild des geistlichen«48 Allmählich lockert sich der funktionale Bezug von Beobachtetem und gleichnishafter, allegorischer Ausdeutung, und jenes gewinnt zunehmend an Selbstständigkeit und Autonomie. Das Dargestellte muss sich endlich nicht mehr religiös rechtfertigen. Neu ist auch, das Bräker sich die therapeutischen Wurzeln seines Schreibens eingestehen kann. Er schreibe, um sich den Unmut zu vertreiben.49 In dem »Gespräch mit seinem Büchelgen« wird ein gleichsam psychoanalytisches Setting skiziert. Das Tagebuch als Herzensfreund sagt von sich: »ich bin verschwiegen, und nehme alles an, ohne dir ein Wort einzureden, und ohne 44 »Wenn man in der Gesellschaft die Menschen von der Witterung und den verschiedenen frucht- und unfruchtbaren Jahrgängen reden hört, so sprechen dieselben beynahe immer: ›Es ist nicht mehr wie es vormals gewesen, die Welt hat sich geändert; vor Altem war es gut hausen.‹ – u.s.w. Lieset man aber mit Aufmerksamkeit und unbefangen die Geschichte der Jahrgänge älterer und neuerer Zeiten, so wird man finden, daß vormals auch frucht- und unfruchtbare Jahre und Zeiten waren, gewinnsame und gewinnlose Zeiten miteinander abwechselten, und sich der Spruch des weisen Königs Salomon noch immer bestätiget; nämlich: ›Es geschieht nichts Neues unter der Sonne [Pred. 1,9].‹« (ebd.) 45 »auf das ich nachwerts, wan ich durch die güte gottes widerum andere u.[nd] besere zeiten erleben sol; jch mich erinere an meinen jetzigen zustand; schreibe ich in disem meinem tag buch, hin und wider etwas davon auf: auf das ich und meine kinder all unser lebtag daran gedenken.« (Bräker, Bd. I, S. 371 [26.–30. November 1771) 46 Jack Goody, The domestication of the savage mind, Cambridge/London/New York/Melbourne 1977, S. 86 f. Zur Bedeutung von Listen (genealogische Daten, Preislisten für Nahrungsmittel, Inhaltsverzeichnisse, Register) im allgemeinen und in katalanischen Familienbüchern im besonderen vgl. Konstanze Jungbluth, Die Tradition der Familienbücher. Das Katalanische während der Decadència, Tübingen 1996 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie; 272), S. 21–25. 47 Goody, The domestication of the savage mind (wie Anm. 46), S. 81. 48 Bräker, Bd. I, S. 615 (1. März 1774). 49 Bräker, Bd. II, S. 3 (1. Januar 1779).
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einem Menschen davon auch nur eine Sylbe zu sagen, wo du mich anders selber vor ihren Augen verhehlen willst.«50 Und am Schluss des Gespräches heißt es: »Nun, hast den Sack bald ausgelärt? So wird’s schon besser werden.« Das Schreiben wird für Bräker zu einem »heilungsmittel«, das ihm so wohl tue als wenn er sein Anliegen einem vertrauten Freund geklagt hätte.51 Wann »eim s blut so in die höhe fahrt – unds mann keiner seeele klagen kann noch will – schaffts eim doch ein bisgen liechterung, wann manns dem papeir anvertrauen kan.«52 Mit der Emanzipation Bräkers von den überkommenen traditionellen Schreibmotiven gerät er als selber ins Zentrum seiner Beobachtung: »einem eigenliebigen erden=sohn ist ieder trit merkwürdig, den er selber thut; – wer mehr von seinen kuteln halt, als die gantze menschengestallt werth, ist, der meint freylig alle seine handlungen seyen würdig einproticolliert zuwerden. – deß könte mir eynest schuld gegeben werden«53
Und stoße jemand ihn beim Schreiben an und spreche, du Narr, was nützt das, dem antworte er »muß denn alles nüzen – freylich – nu, so nüzts mir –«54 In dieser Selbstlegitimierung gewinnt er den Status eines Autors. Ein zweites Element kommt hinzu: Die Einsicht in die Notwendigkeit, sich schriftlich ausdrücken zu müssen. In seinem Wunsch, seine »einfaltige schrifft« werde nach seinem Tode »ein donner schlag« sein in die Herzen seiner Kinder, dass sie »doch möchten abgehalten werden von dem allgemeinen welt lauff«55, hat sich schon früh die Verschiebung vom gesprochenen Wort hin zur Schrift, die nun zum Stellvertreter seines Körpers bzw. seiner Stimme auch über den physischen Tod hinaus wird, angekündigt. Zugleich werden seine Kinder, mitunter auch nur eines seiner Kinder, zum Kernbestand eines gedachten und erhofften Lesepublikums. Die Formulierung, »meinen kinderen zur warnung schreibe ichs«56, findet sich in den Jahren 1768 bis 1778 wiederholt. In diesem »Schreiben statt Reden« geht es nicht so sehr um eine skeptische Haltung der oralen »Sicherungsform der Wiederholung« (Niklas Luhmann) gegenüber, als vielmehr um die existenzielle Erfahrung Bräkers einer sozialen 50 Bräker, Bd. I, S. 735 (18. März 1777). 51 Bräker, Bd. II, S. 125 (25. Juli 1779). 52 Ebd., S. 63 (22. März 1779). 53 Ebd., S. 45 (27., 28. Februar 1779). 54 Ebd., S. 276 (5. Mai 1782). 55 Bräker, Bd. I, S. 115 (»Vermahnung«). 56 Vgl. ebd., S. 414 (24. Mai 1772). Vgl. ebd., S. 5, 12, 19, 28 f., 65, 232 (16. November 1770), 239 (5. Dezember 1770), 369 (11.–16. November 1771), 414 (24. Mai 1772), 470 f. (20. Dezember 1772), 477 (28. Dezember 1772), 478 (31. Dezember 1772), 496 (15./16. Januar 1773), 497 f. (18. Januar 1773), 508 (14. März 1773), 547 (15. September 1773), 593 f. (16. Januar 1774), 611 (22. Februar 1774).
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Entfremdung.57 Während die Angehörigen seiner Klasse ihn für einen »Bücherfresser« und »Herrenschmecker« hielten, gaben ihm die bürgerlichen Menschenfreund, mit denen er zum Teil beruflich verkehrte, von Zeit zu Zeit zu verstehen, dass er nicht zu ihnen gehörte.58 Diese grundlegend Problematik hat Bräker in einer grandiosen Passage zu verarbeiten versucht: »nicht schreiben – jch – nicht schreiben – das ding kan ich nicht verdaun. – nicht schreiben, wann ich voll bin wie der vollmond; nicht reden – lärmmend; kan noch mag. – nicht schreiben – wann ich trunken bin, von strömmen himmlischer wohllust – unds mir ist, ich greife mit händ u.[nd] füssen lauter himmels güter – schwimme, im paradis, in den strömmen Gihon und Pison; wo ich lärmmend jubelieren – laut thönen – doch weiß das ich ärgern würde. und soll dann nicht schreiben; meinen buben – meitlen – nicht sagen, schreiben, wie freündlich der herr sey; der unbekandte gott; das grose all – wie gut, wie nahe der sey. – nicht schreiben, wann ichs verliehre – wanns klimt, enge wird – im busen schwillt – wann ich irrend, in den sandichten wüsten Arabiens, kein wasser, kein brodt kein freünd – lauter ungeheür, um mich, dennkend ächze. wann ich mich so beobachte – nicht schreiben – nicht schreiben, wan ich brüder beobachte – sehe, wie auch sie, von leidenschafften rum gebütelt – rum gewirbelt, mit mir gleiches geschike haben. – wann mich geschäffte von einer thür zur andern ruffen – nicht schreiben – was ich gesehn, gemerkt; wies mir gedünnkt – was, wie ich drüber gedacht; mirs zur lehr – zum nutz gemacht; wo ich geschrekt, erfreüth: wo ich mitleydvoll – oder wo ich böse ward. sagen dörfft ichs nicht, aber schreiben darf ichs.«59
57 »wessen das hertz vol ist, dessen überlaufft der mund: und was mein hertz denkt das schreibt die hand.« (ebd., S. 461 [23. November 1772]) 58 Bräker, Bd. II, S. 364 f. (17. Februar 1783); 519 f. (5. Januar 1787). 59 Ebd., S. 40 f. (17. Februar 1779).
UlrichJoost Tagebücher?
ULRICH JOOST
Tagebücher? Verstreute Beobachtungen zu Textsorte, Technik und Funktion. Ulrich Bräker, Georg Christoph Lichtenberg und einige ihrer Zeitgenossen
I. Ein offenes Geständnis gleich zu Anfang sei, heißt es, vor Gericht allemal ein mildernder Umstand, und so will auch ich, meine Damen und Herren, von diesem Vorrecht des reuigen Sünders Gebrauch machen.1 Als mich durch Alfred Messerli die ehrenvolle Aufforderung erreichte, mich an Ihrem Kolloquium zu beteiligen, da wusste ich noch nicht recht, worauf ich mich einließ. Bräkers »Armen Mann« zwar hatte ich schon als Student im dritten Semester mit einer Spannung gelesen, die nicht bloß von der aufregenden Geschichte unterhalten wurde, sondern seine Faszination aus der Authentizität des sprachlichen Ausdrucks bezog; und es gehört keine Prophetengabe zu der Behauptung, dass diese Schrift zu den unverlierbaren Texten aus der deutschsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts zählt und es noch lange bleiben wird. Aber die Tagebücher, über die zu reden ich vor einem halben Jahr mich bereit erklärte, kannte ich nur aus der schmalen Auswahl, die Samuel Voellmy 1945 in seiner dreibändigen Ausgabe mitgeteilt hat – und diese Auswahl verzerrt doch, wie man jetzt sehen kann, den Blick auf das Ganze allerdings beträchtlich. Als ich nach der Lektüre dieser Tagebücher in der neuen, vollständigen, dreibändigen Ausgabe, die für sich genommen schon eine eindrucksvolle editorische Leistung ist, nun auch in den Einleitungen der Herausgeber las, dazu die treffliche »Chronik Ulrich Bräker« (1985) legte, die zugleich Epitome, Register und Kompass, Entzifferungshilfe dieser Tagebücher ist, da wusste ich zunächst schlechterdings nichts Neues mehr zu sagen. Dazu trat, was Frau Volz-Tobler in ihrer Studie zum »Erinnerer« für mein Thema beizutragen 1 Vortrag auf dem Kolloquium »weil doch die Schreibsucht mich beherrscht« im Collegium Helveticum in Zürich 11./12. Dezember 1998. Der Redeton wurde ausdrücklich gewahrt, ich habe den Text nur unbedeutend ergänzt, ein paar Irrtümer korrigiert und lediglich in den Anmerkungen die Nachweise und ein paar weitere Hinweise, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit gegeben.
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hatte. So will ich vor allem Einzelbeobachtungen beibringen, sie dabei mit mir besser vertrauten Quellen erhärten und mich auf zwei Sachverhalte konzentrieren, die mir als ein Strukturelement wenn nicht der ganzen Textsorte2 so doch zumindest dieses Tagebuchtypus prominent und typologisch bestimmend zu sein scheinen, ich meine erstens den Trieb, ja Zwang zu schreiben; und zweitens die paradoxe Situation, diese intimsten Aufzeichnung auch der Öffentlichkeit präsentabel zu halten, ja sie selber zu präsentieren.3 Dazu sei also gezielt der Blick für Vergleichs- und Kontrastbeispiele gelenkt auf benachbarte und wohl gar verwandte zeitgenössische Tagebücher; hier neben Bräkers, die dadurch neu beleuchtet werden mögen, vor allem auf die von Georg Christoph Lichtenberg, mit denen ich mich seit vielen Jahren intensiv beschäftige,4 dann auch auf die von Johann Caspar Lavater und ein 2 Es wäre bei der literarischen Gebrauchsform Tagebuch wahrlich zu hoch gegriffen, von Gattung zu reden, weswegen ich den Terminus ›Textsorte‹ vorgezogen habe. 3 Ob in der jüngeren Sprachwissenschaft die textlinguistischen und pragmatischen Elemente der Textsorte eingehender behandelt worden sind, überblicke ich nicht. Bemerkenswert ist immerhin der kleine Versuch, der mich zumindest stark angeregt hat, von Wladimir Admoni: Die Tagebücher der Dichter in sprachlicher Sicht, Mannheim 1988; ursprünglich die Dankesrede anlässlich der Verleihung des Konrad-Duden-Preises am 17. März 1988 an den Verfasser. Es lässt sich übrigens mit solchen textlinguistischen Analysen leicht beweisen, dass etwa das immer wieder nachgeplapperte Gerede vom Tagebuchcharakter der Briefe zum Beispiel Caroline Michaelis überhaupt nicht trägt – wie meine Schülerin Tanja Waldmann in ihrer Magister-Examensarbeit gegen Sigrid Damm eingehend nachgewiesen hat (»Göttern und Menschen zum Troz will ich glücklich sein« – Untersuchungen zu Caroline Böhmer-Schlegel-Schellings Briefen, Darmstadt masch. 1999): Der Umstand, dass aktuelle Ereignisse mitgeteilt werden, eignet beiden Textsorten wie selbstverständlich und rechtfertigt derlei gattungskonstituierende Behauptungen nicht. 4 Ihre Edition, von mir gemeinsam mit Christian Wagenknecht geplant, ist seit 20 Jahren in Vorbereitung, der Text längst fertig, der Kommentar intensiv in Arbeit. Erste Ergebnisse meiner Studien, die ich hier möglichst nicht wiederhole, habe ich schon bekannt gemacht als: Lichtenbergs ,geheime’ Tagebücher, in: Edition et Manuscrits – Probleme der Prosa-Edition. Acta des französisch-deutschen Editorenkolloquiums, Paris, Februar 1983. Hg. von Winfried Woesler (= Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A; 19), Bern 1987, S. 219–241. – Neuerdings hat Sibylle Schönborn in ihrer Habil.-Schrift eine zusammenfassende Darstellung zur Geschichte des Tagebuchs im späten 18. Jahrhundert vorgelegt: Das Buch der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode, Tübingen 1999. Aber wie es mit solch umfassenden Darstellungen zu gehen pflegt, so sind die Ergebnisse oft nur wichtig ausgedrückt, nicht auch dieses selber (ebd., S. 277): »Zentrale Themen in Lichtenbergs Tagebüchern sind neben der genauen Beobachtung seines Körpers, die Chronik seines sexuellen Lebens, wie die Entwicklung seiner Familiengeschichte auf dem Hintergrund verstreichender Lebenszeit. Eingebunden wird dieses individuelle Leben als ablaufende Lebenszeit in den individuell erfahrbaren Kontext des Jahresverlaufs im sinnlichen Erleben des Jahreszeitenwechsels und der ihm akzidentiellen gleichwohl bedeutenden Ereignisse der europäischen Geschichte im Revolutionsjahrzehnt.« Dass Tagebücher nun einmal dem Kalender (und damit den Jahreszeiten) folgen, hab ich weiter unten reflektiert; da also der Zeitablauf konstitutiv ist, kann ich den Zeitzwang nicht vergleichbar wichtig nehmen; und mit dem Hinweis auf die nachträglichen Sinngebung, die Lichtenberg betreibt, indem er sich in die Geschichte, seine Krankheit in den Ausbruch der Französischen Revolution selbstironisch (und in einem Brief!) einbettet, ist die Verfasserin selber einer Denkfigur der Aufklärung aufgesessen.
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wenig Goethe5 und anderen Zeitgenossen. Dass ich nebenbei in der Geschichte des Tagebuchs vor und zurückgreife, soll nur meine Behauptung stützen, dass es sich bei meinen Beobachtungen um Struktureigentümlichkeiten der Textsorte schlechthin handeln möchte. Welche Probleme ich vor allem meine, mag ein poetisches und fiktionales Beispiel sinnfällig machen. Sie kennen vermutlich alle jenes großartige Rollengedicht Goethes in strengen Stanzen,6 und hoffentlich kennen Sie es nicht bloß, weil es im Ruch steht, frivol oder gar obszön zu sein und daher in den meisten älteren Gedichtsammlungen und Werkausgaben Goethes fehlt. Es trägt (wie so oft bei ihm) eine Gattungsbezeichnung als Titel, als solle es (wenigstens zugleich auch) ein Musterstück liefern. Und das ist auch in einem höheren Sinn der Fall. Denn nachdem ein unbestimmter Dichter sich in allgemeinen Erwägungen verloren hat – »Wir hören’s oft und glauben’s wohl am Ende« (V. 1)7
– spricht der Tagebuchautor in der ersten Person, und das hält er auch bis zum Schluss durch: »Von meiner Trauten lange Zeit entfernet, Wie’s öfters geht, nach irdischem Gewinne Und was ich auch gewonnen und gelernet, So hatt ich doch nur immer Sie im Sinne, Und wie zu Nacht der Himmel erst sich sternet Erinnerung uns umleuchtet ferner Minne: So ward im Federzug des Tags Ereignis Mit süßen Worten Ihr ein freundlich Gleichnis.« (V. 9–16)
Also der Reisende, offenbar ein Kaufmann, der da seiner »fernen Minne«, der Ehefrau, die Erlebnisse unterwegs aufbewahrt, führt ein ostensibles, ein vor5 Vgl. neuerdings Jochen Goltz, Der Tagebuchautor Goethe, in: Der Deutschunterricht (1999), H. 1, S. 63–74; vgl. auch ders., Einführung in die neue Historisch-kritische Ausgabe der Tagebücher Goethes (geplant in 10 Text- u. 10 Kommentarbänden), Stuttgart 1998 ff., hier Bd. 1. 6 Mittlerweile findet man das einst geächtete Glanzstück Goethescher Poesie in jeder brauchbaren Goethe-Ausgabe, und es ist viel Sinn und Unsinn darüber geschrieben worden, worüber die laufenden Goethe-Bibliographien Auskunft gibt. Ich füge hier nur ein paar randständige Literaturhinweise bei, weil man sie eben in keiner Bibliographie finden kann: Christian Wagenknecht hat nämlich in seinen »Glössen« eine Reihe von Hinweisen zu diesem Gedicht gegeben, die den Goetheforschern ans Herz gelegt seien: Textkritik, Lfg. 1 (1995), S. 4, Ein Briefwechsel [Wolfgang von Goethe mit Salomon Hirzel, 1864], Lfg. 2 (1996), S. 2–5, Die Sklavensprache der Philologie, Lfg. 4 (1996), S. 6 f., Zu Goethes Tagebuch-Gedicht, ebd., S. 7, Kleiner Beitrag zur Goethe-Philologie, Lfg. 5 (1997), S. 11, Minima non curat praetor, Lfg. 6 (1997), S. 10, Konjekturalkritik, Lfg. 9 (1998), S. 11 f., Goethe als Rebell / Eine Richtigstellung, Lfg. 16 (2000), S. 21–23, Meister Iste, Lfg. 17/18 (2001), S. 10 f. (hierzu auch schon ein Wort Lfg. 3 [1996], S. 14). 7 Nach der Sonderausgabe der Frankfurter Ausgabe: Gedichte, hrsg. von Karl Eibl. 2, 1998, 843 ff.
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zeigbares und oft auch vorzuzeigendes Tagebuch: Sicher nicht der einzige, aber ein wichtiger Urgrund des Tagebuchschreibens ist die Pflicht, Zeugnis abzulegen, den Daheimgebliebenen die Möglichkeit zu eröffnen, am Erlebten und Erlernten zu partizipieren (»Und was ich auch gewonnen und gelernet«, schreibt Goethes Kaufmann). Aber wenn jenes lyrische Ich so seine Schreiberpflichten charakterisiert, dann wird schon in dieser zweiten Strophe das Publikum deutlich – mehr noch freilich am Ende des Gedichts, da der Leser bemerken muss, wie die ganze Handlung in diesem fiktionalen Tagebuch vielleicht hätte stehen können, wenn auch unter einem Rätselwort – aber eben doch nicht steht. In der drittletzten Strophe, kurz bevor sich der aus der Einleitung schon bekannte Dichter wieder zurückmeldet, um mit schönster Goethescher Ironie und Urbanität von den »Moralien« zu reden, die bei »jeder Dichtungsweise [. . .] uns ernstlich fördern sollen« (V. 185 f.), da zeichnet der Tagebuchführer, der erst jetzt in der dritten Person erlebende und erlebte Erzähler des Gedichts, jene »geheimen Worte« auf: »Die Krankheit erst bewähret den Gesunden« (V. 174)
Der hat da nämlich soeben erst einer erotischen Versuchung widerstanden: »Er schaudert weg, vorsichtig, leise, leise Entzieht er sich dem holden Zauberkreise, Sitzt, schreibt [. . .]« (V. 167–169)
Und so ist keineswegs alles, was er in den vergangenen Stunden erlebt hat, aufgezeichnet (in dieser Weise ist der Wechsel der grammatischen Person zugleich auch zu verstehen); die Einzelheiten der Nacht erfahren nur die Leser des Gedichts, nicht aber die Rollenempfängerin des Tagebuchs, die »Traute« der »fernen Minne« (V. 14 u. 9): »Dies Büchlein soll dir manches Gute zeigen, Das Beste nur, muss ich zuletzt verschweigen.« (V. 175 f.)
Die ganze Dialektik der Textsorte Tagebuch (nicht nur der modernen, heutigen) als Rechenschaftsbericht und Verheimlichung wird hier offenbar; wie es durch seine schriftliche Gestalt raumzeitliche Übertragbarkeit erhält, aber doch, solange es eine im Gewahrsam des Schreibers bewahrte Aufzeichnung bleibt, die Verfügungsgewalt über sich und damit die Bestimmbarkeit seiner Leser in der Macht des Autors belässt. Und so lässt sich denn auch der erwähnte Wechsel der grammatischen Person in einem weiter reichenden Sinne begreifen: Das Tagebuch schafft in seiner Schriftlichkeit eine Ablösung von der Subjektivität der ersten Person, hin zur (Pseudo-)Objektivität der dritten – der dann noch in der Gestalt des Herausgebers eine weitere Instanz gewissermaßen übergeordnet werden kann.
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Damit ist eine wichtige Möglichkeit (freilich nur eine unter mehreren) und zugleich der Urgrund der diaristischen Tätigkeit bezeichnet.8 Der moderne Leser nimmt es, vielleicht durch eine 200jährige Romantradition eingestimmt, für allzu selbstverständlich, dass ein Tagebuch so beschaffen zu sein habe wie in Jungmädchenzimmern: handlich, dass man es unter dem Kopfkissen verbergen respective im Bett darin schreiben kann – und ein- oder abschließbar, um es vor den Blicken Unbefugter sichern zu können.9 Dass es auch ganz anders gehen kann, beweist das ›öffentliche‹ Wachbuch auf Polizeistationen oder das heute in aller Regel nur mehr im Computer zugängliche Hauptbuch des Kaufmanns. In einem komplizierten Wechselverhältnis von Ursache und Wirkung, äußeren und binnenliterarischen Einflüssen, bewegt sich die allmähliche Herausbildung des modernen Tagebuchs, auf die ich hier mit groben Zügen Ihre Aufmerksamkeit richten möchte: Wie sich nämlich aus der individuellen Beichte ohne Priester und gleichzeitig der Ermahnung an die jüngeren oder gar die Nachgeborenen sich in einem langsamen Ablösungsprozess aus den noch ganz praktischen Zwecken oder aufklärenden Prinzipien verpflichteten alten Diaria oder Adversaria sich das (so genannte) intime Tagebuch herausbildet.
8 Ich übergehe hier die meisten älteren Arbeiten zur Geschichte des Tagebuchs; man vgl. immerhin Peter Boerner, Tagebuch, Stuttgart 1969; Gustav René Hocke, Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten. Motive und Anthologie, Wiesbaden u. a. 1963 u. ö. Richard M. Meyer, Zur Entwicklungsgeschichte des Tagebuchs, in: ders.: Probleme und Gestalten, Berlin 1905, S. 281–298 (zuerst 1898). – Nur um zu ermessen, wie lebendig diese Textsorte ist: 1985 hat Rolf Hochhuth in der Beilage zur Wochenzeitung Die Zeit (Zeitmagazin) Nr. 9 ein paar allgemeine Gedanken dargelegt und dann über mehrere Monate (ab Nr. 10 vom 1.3.1985) eine Folge publiziert: »Wenn ich ein Tagebuch schriebe«, in der Gegenwartsautoren teils aus ihren Tagebüchern, teils fingierte Tagebuchtexte, teils explizite essayistisch Betrachtungen anstellten über Tagebuch und sonstiges Schreiben. Und damit hat es keineswegs sein Bewenden: Im südbadischen Emmendingen eröffnete Frauke von Troschke 1998 ein Tagebuch-Archiv, in dem sie vor allem Alltagstagebücher aller Zeiten sammeln möchte beziehungsweise gesammelt hat. Der größte Teil der Sammlung ist freilich aus der Zeit des 2. Weltkriegs, aber künftigen Strukturanalysten der Textsorte Tagebuch sei dieser Ort jedenfalls ans Herz gelegt. 9 Literaturwissenschaftlern entgeht hier allzu leicht, dass es eine ausgebreitete Literatur zu diesem Thema von pädagogischer Seite gibt. Ich nenne hier (stellvertretend) nur die Aufsätze von Magdalene Heuser, Tagebücher von Jugendlichen, in: Jahrbuch der Deutschdidaktik. Hg. von Harro Müller-Michaels, 1983/84 (1984), S. 126–148; Tagebuchschreiben und Adoleszenz. Zum Beispiel: Einige Tagebücher von Schülerinnen, in: Diskussion Deutsch 68 (1982), S. 537–559; Tagebuchschreiben ist privat, und Aufsätze werden veröffentlicht. Ich schreibe lieber Tagebuch, in: Dietrich Boueke u. Norbert Hopster (Hg.), Schreiben – Schreiben lernen. Rolf Sanner zum 65. Geburtstag, Tübingen 1984; »Dass ich hier täglich meine Rechenschaft ablege, [. . .] und dass mir auch weiterhin das Tagebuch hilft, das Leben zu verarbeiten.« in: Jürgen Hein, Helmut H. Koch, Elke Liebs (Hg.), Das ICH als Schrift. Über privates und öffentliches Schreiben heute. Winfried Pielow zum 60. Geburtstag, Baltmannsweiler 1984, S. 17–31. (Dort weitere Literatur).
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II. Unter den expositorischen Prosaformen ist das Tagebuch keineswegs die jüngste; dennoch verläuft seine frühmoderne Herausbildung viel sprunghafter als der gern mit ihm wegen der vermeintlich ähnlichen Subjektivität und des angeblich authentischen Dokumentationscharakters in einem Atemzug genannte Brief. Anhand einiger auf den ersten Blick kaum zusammengehöriger Beispiele aus dem 18. Jahrhundert will ich versuchen, den Individuationsprozess dieser Textsorte zu umreißen, zugleich zu demonstrieren, wie aus denselben Wurzeln literarischen Gebrauchs (vornehmlich dem säkularisiert-religiösen Bekenntnisbuch) recht unterschiedliche Ausprägungen erwachsen können – wie dann auch beim Übergang zwischen den Publica nicht so sehr Unterschiede der Textsorte sichtbar werden als vielmehr unterschiedliche Ziele ihrer Verfasser. Denn das Merkbuch, dem Bekenntnis abgelegt wurde, dient als öffentliche Selbstentblößung wie im Falle pietistischer Autopsychografien oder auch bei Lavaters zunächst anonym und wohl auch bearbeitet publiziertem »Geheimen Tagebuch eines Beobachters seiner selbst« wiederum ganz überwiegend dem missionarischem Eifer ihrer Verfasser. Tagebüchern, sagte ich, eignet als Strukturprinzip der Rechtfertigungscharakter. Sie werden verfasst, auch wenn sie in Geheimzeichen oder Hüllformeln sich verkleiden, um auch für andere lesbar zu sein; die hohe Aufklärung lässt die Veröffentlichung durch Abschrift oder sogar Druck am Ende zu einer Verpflichtung werden, die sprachbildendes Prinzip bei der Abfassung ist: Der Tagebuchautor steht sozusagen neben sich selbst. Sobald sie zudem Memorabilien- oder gar Konfess-Charakter bekommen, das heißt nicht mehr nur diaristisch darlegen, was an jedem Tag geschehen ist (wie eine Art retrospektiver Terminkalender), können sie darüber hinaus auf das erforderliche Maß an Interesse beim Leser rechnen; übertragbar sind sie durch die Schriftlichkeit ohnedies. Wenn es dem Tagebuchautor aber nur darum ginge, auszusprechen, was man nicht mehr für sich behalten kann, so bliebe ihm das Selbstgespräch (oder dem religiös Beichtenden das Gebet). Er wählt hingegen die raumzeitlich verfügbare Möglichkeit in der Verschriftlichung. Damit geht er sogar noch einen Schritt weiter als im Märchen von der Gänsemagd,10 die durch ihren Eid gebunden bloß dem Eisenofen, in den sie hineinkriecht, die Wahrheit erzählen darf, während der König heimlich am Ofenrohr zuhört. Das Tagebuch – das ist natürlich ganz besonders dem Pietisten, der mit ErwecktenBiographien und Prophetien-Mitschriften wohlvertraut ist, ein nicht wegzudenkendes Faktum – ist verfügbar, verwendbar, ja es muss verwendet werden. Wie es zu dieser Dialektik ›geheimnisvoll‹ vs. ›offenbar‹ in der frühen Moderne kam, geht dem Literaturhistoriker allzu leicht von der Zunge; die For10 Grimms Zählung in der Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen letzter Hand (1857) Nr. 89.
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schungen des letzten Jahrhunderts zum Pietismus haben seinen Anteil am Individuationsprozess von Brief und Tagebuch nicht bloß, aber besonders in der deutschsprachigen Literatur sehr deutlich herausgestellt. Dabei sind die vermutlich viel schwierigeren Fragen nach der Herausbildung der dichterischen Sprache, also dem Anteil des Pietismus vornehmlich an Empfindsamkeit und Geniezeit, schon in Wilhelm Scherers und Erich Schmidts Schule gestellt und immer bejahend beantwortet; aber erst in den letzten 40 Jahren sind die Grundlagen geschaffen worden. So hat August Langen mit seinen sprachgeschichtlichen Untersuchungen das Wortmaterial bereitgelegt, so haben UlfMichael Schneider und vor ihm Hans-Jürgen Schrader mit ihren grundlegenden Arbeiten über die »Historie der Wiedergebornen«11 und die radikalen Propheten12 überhaupt erst klargestellt, wie solche kollektiven Verhaltensweisen praktisch möglich geworden sind. Ob diese Forschungen unwidersprechlich waren und die aus ihnen gefolgerten Überlegungen zutreffen, lasse ich hier dahingestellt; zumal Gerhard Sauders verdienstvolle Bemühungen, die in eine andere Richtung weisen, kann ich in unserm Zusammenhang übergehen. Richtig ist aber für meine Fragen jedenfalls, dass man bei aller offenbaren Wichtigkeit auch für die Entwicklungsgeschichte des Tagebuchs schlechterdings nicht behaupten kann: Alles ist Pietismus. Denn das moderne Tagebuch (inclusive des vorhin als abgesunkenen Idealtypus’ charakterisierten Pubertätstagebuchs aller Altersgruppen) findet sich am Ende auch in anderen westlichen Kulturen, und da können es ganz säkulare, ja areligiöse Ursprünge und Kontexte sein. Zweierlei darf man aber klarstellen. Erstens: Wo durch vergleichbare religiöse Erneuerungsbewegungen so nachhaltig der Boden bereitet wurde, da haben wir auch ähnliche Phänomene; so im angelsächsischen Puritanismus, wo die Tagebücher des Samuel Pepys13 den Weg markierten. Und zweitens scheint sich (nach meiner Einschätzung) in den Kulturen, die davon nicht betroffen wurden – wie in den katholisch geprägten Ländern – der alte, vorhin skizzierte Tagebuch-Typus, der nicht bloß auf die Öffentlichkeit schielt, sondern sie bei äußerster Wahrhaftigkeit nie aus dem Blick verliert und damit den Verfasser zurücktreten lässt, zur Verallgemeinerung zwingt, lebendiger gehalten zu haben. Ich nenne als markante Beispiele für das 19. Jahrhundert: das Doppeltagebuch der Brüder Goncourt in Frankreich; für das 20. Jahrhundert: Cesare Paveses »Lavorare stanca« und »Mestiere di vivere« 11 Hans-Jürgen Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Heinrich Reitz’ »Historie Der Wiedergebohrnen« und ihr geschichtlicher Kontext, Göttingen 1989 (Palaestra; 283). 12 Ulf-Michael Schneider, Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995. 13 The Diary of Samuel Pepys. Ed. by Robert Latham & William Matthews. Bd. 1 ff., London 1970 ff. Die deutschen Auswahlübersetzungen vermitteln nur einen äußerst schwachen Eindruck von der Totalität dieses ›Werks‹; vgl. zuletzt noch die Übersetzung von Helmut Winter bei Reclam Stuttgart 1980: immerhin 440 Seiten und doch nur ein winziger Bruchteil des Ganzen.
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in Italien. Nun ist unsere moderne Welt nicht für nationale Isolationen gemacht, und Entwicklungen der Textsorten vollziehen sich auch nach dem Untergang der lateinisch-humanistischen Respublica litteraria höchstens mit kleinen Verzögerungen und kaum merklichen Schattierungen, aber keineswegs auf wirklichen Sonderwegen.
III. Das Bräkersche Tagebuch trägt die Zeichen seiner pietistischen Herkunft sichtbar, auch wenn ich die größten Zweifel habe, dass man seinen Verfasser überhaupt eindeutig einer von dessen Richtungen zuweisen kann: Man könnte nämlich bei ihm sowohl radikalpietistische Merkmale wie auch (freilich mit größerer Mühe) Elemente einer erzkatholischen Mystik angelus-silesischer Provenienz oder auch einer jakob-böhmescher Theosophie aufweisen. Argumentiert man aber struktural, wird deutlich, dass die Annahme einer religiösen Konzeption für sein Tagebuch nur in einem ganz äußeren Sinn völlig zutrifft. Zwar überlagert nämlich die pietistisch tingierte (wenn Sie so wollen: durchwärmte) Sprache den ganzen Text – mit allerdings im Laufe seines Lebens sichtlich abnehmender Tendenz. Es ließe sich auch gar nicht wegdiskutieren, dass Bräker die Art seines Schreibens aus der religiösen Andachtsübung erlernt hat. Aber mit Blick auf andere Beispiele vor und nach ihm wird deutlich, dass auch sein Tagebuch Strukturprinzipien verkörpert, die jenseits eines solchen Säkularisationsprozesses vielmehr den Bedingungen des Rechtfertigungsberichtes gehorchen – die überhaupt keiner Religiosität notwendig bedürften. Bräkers Tagebuch ist nämlich ganz nach einem »Nulla dies sine linea«-Prinzip verfertigt: 1785 heißt es auf dem Titel: »Diese wenige Bläter habe vor dieses neüangefangene Jahr 1785 Bestimt – vor ieden Monat ein Blat – um dieß oder iennes nein zuschreiben wies kommt«. In anderen Jahren sollte er sehr viel umfangreichere Aufzeichnungen anlegen, nämlich statt der »linea« die »pagina« füllen: Oft hat er täglich eine ganze Seite geschrieben. Man weiß schon lange, dass er dreißig Jahre hindurch in dieser oder ähnlicher Weise Aufzeichnungen betrieben hat. Sie sind zwar keineswegs lückenlos in der Handschrift überliefert, aber insgesamt sehr dicht und selbst in den offenbar bearbeiteten Teilen außerordentlich aufschlussreich. Jetzt, da in der neuen Edition auch die Seitengrenzen der Originalhandschriften mitgeteilt sind, kann man aufs genaueste sehen, wie der Raum die Schrift festlegte und den Textumfang, ja auch seine Qualität bestimmte: Der Tageseintrag wird vom Umfang der Seite beziehungsweise des Blattes definiert, später werden fortlaufende Geschichten in räumlich (und damit vermutlich auch zeitlich) ziemlich genau gleichmäßige Abschnitte zerlegt. Das gilt auch, wenn man an der Vorstellung des Schreibens als Andachtsübung festhalten will, insofern jemand ohne Uhr sich den Umfang seines schriftlichen Gebets vorschreibt – und das
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bedeutet dann allerdings auch, dass Bräkers spätere, immer weniger religiöse Aufzeichnungen und Erzählungen Substitute sind für die vormalige Andacht und Erbauung. Hinzu kommt eine elementare, geradezu kindliche Freude an der Schrift. Von frühester Jugend auf, das zeigen die fein ausgebildeten kalligraphischen Titelblätter der einzelnen Hefte und Jahrgänge, ist sie spürbar.14 Sie ist vergleichsweise typisch, wie die Pädagogen wissen, zugleich charakteristisch für die soziale Lage. Unwillkürlich erinnert er dadurch an Jean Pauls »Schulmeisterlein Wuz«. Aber diese Schriftverehrung ist darüber hinaus ein Phänomen vieler durch irgend geheiligte Bücher geprägte Kulturen, ob Altes oder Neues Testament oder Koran. Die ornamentale Ausgestaltung der arabischen Schriftzeichen ist mir dabei nicht minder ein Beleg meiner Behauptung wie die zahlreichen dichterischen Ausgestaltungen von ersten Lektüreerlebnissen. Einer Reflexion beim Schreiber/Verfasser bedarf es für meine Argumentation gar nicht – wie man das noch bei späteren Schriftstellern beobachten kann (ja noch bei Franz Kafka!). Dahinter steht aber, denke ich, viel weniger der religiöse Trieb, denn den kann man auch im stillen oder lauten, aber jedenfalls mündlichen Gebet artikulieren. Diese selbst auferlegte Schreibpflicht ist ein veritabler Schreibzwang, dessen Produkt sich jetzt nur in das religiöse Gefäß ergießt. Er selber hat diesen Schreibzwang einmal artikuliert: »halbe Nächte durch«, schreibt er, habe er »weiße und schwarze Grillen« gefangen »und fand allemal Erleichterung, wenn ich meine gedrängte Brust aufs Papier ausschütten konnte; klagte da meine Lage schriftlich meinem Vater im Himmel, befahl ihm alle meine Sachen, fest überzeugt, Er meine es doch am beßten mit mir; Er kenne am genauesten meine ganze Lage, und werde noch alles zum Guten lenken.«15 »doch ich habe auch andre labende weilchen, wan ich mit einem Hermes im weinkel, bey einsamer nacht; oder vernügt denn gedannken nachhenge und etwas davon auf dis papeir herkratze, bald mein pfeifgen schmauche; bald den helen himmel – die blinkerten sterne beguke«16
Hier lassen allerdings Thomas von Kempen, dann auch Kant selber grüßen: »nisi in angulo cum libro«, nur in einem Winkel mit einem Buch habe er die 14 Vgl. die Abbildungen in: Christian Holliger, Claudia Holliger-Wiesmann, Heinz Graber, Karl Pestalozzi (Hg.), Chronik Ulrich Bräker. Auf der Grundlage der Tagebücher 1770–1798, Bern/Stuttgart 1985, S. 72, 193, 203, 251, 271, 359, 405, 431, 441, 451. 15 Ulrich Bräker, Sämtliche Schriften, Bd. IV: Lebensgeschichte und vermischte Schriften, bearbeitet von Claudia Holliger-Wiesmann, Andres Bürgi, Alfred Messerli, Heinz Graber zusammen mit Christian Holliger und Alois Stadler, München/Bern 2000, S. 496–497. 16 Ulrich Bräker, Sämtliche Schriften, Bd. II: Tagebücher 1779–1788, bearbeitet von Heinz Graber, Claudia Holliger-Wiesmann zusammen mit Andreas Bürgi, Alfred Messerli, Christian Holliger und Alois Stadler, München/Bern 1998, S. 27 (2. Februar 1779).
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ersehnte Ruhe gefunden, und gleich dabei wirkt auf unseren Tagebuchschreiber die Erhabenheit des gestirnten Himmels.
IV. Ähnlich verhält sich der völlig säkularisierte Naturforscher Lichtenberg. Seine pietistische Wurzeln sind zwar früher erheblich überschätzt worden.17 Aber auch er bringt selber seinen Trieb zu Schreiben immer wieder mit Religiösem in Verbindung. »Der Nacht« habe er, der eins seiner Notizbücher »Noctes« nannte, »gebeichtet«, bekennt er einmal gar, sie habe ihn aber entgegen seiner Hoffnung »nicht absolviert«.18 Es scheint kaum glaubhaft, dass über Monate, ja sogar Jahre hin jeder Tag denselben Minimalumfang an Erlebtem vorzuweisen hat. Aber uhrwerkartig wie der fromme Schweizer schreibt der Diarist Lichtenberg durchschnittlich mindestens drei Handschriftenzeilen (wenn er ausschweifend wird, sind es aber auch nicht mehr als sechs) – und kein Tag wird ausgelassen. Auch in Lichtenbergs Sudelbüchern scheint es feste Schreibzeiten zumindest in regelmäßigen Abständen gegeben zu haben; es gibt gewisse Anzeichen durch Feder- und Tintenwechsel.19 Vermutlich hat Lichtenberg sich zumin17 Paul Requadt, Lichtenberg. Zum Problem der deutschen Aphoristik. Hameln: 1948. – 2. Aufl. Stuttgart 1964. – Peter Pütz, Lichtenberg und der Pietismus, in: Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung 7 (1972), S. 110–121. Ich stelle bei allen Bedenken besonders gegen den letzteren Aufsatz hierzu noch meinen Nachweis aus ikonographischen Indizien, dass Lichtenberg allerdings die »Historie der Wiedergebohrnen« gekannt haben muss, in: Wolfgang Promies, Ulrich Joost (Hg.), Lichtenberg-Jahrbuch 1996 (1997), S. 194–196. 18 Lichtenberg zitiere ich hier nach der z. Zt. umfassendsten Edition: Schriften und Briefe. Hg. von Wolfgang Promies, 6 Bde. 1967–1992 (= SB), mit seiner Zählung. Hier also SB 2, 1971, S. 405: K 51. 19 Zweifelsfrei beweisen lässt sich das nur (ich gebe die Nachweise für die erst weiter unten ausgeführte Argumentation schon hier) für die Zeit von 1776 bis 1778, also dem Ende des Sudelbuchs E und Anfang von F (SB 1, 1968, S. 343–644): Über diese Phase von einem Jahr hat Lichtenberg seine Sudelbucheinträge systematisch datiert, und diese jeweils ungefähr gleich langen Einträge haben nicht diaristischen Charakter, sondern sie bezeichnen mit einiger Sicherheit lediglich den Zeitpunkt der Abfassung. Aber eine künftige Edition insbesondere der Sudelbücher wird auch und gerade in den ungedruckten Stücken notfalls auch mit technischen Mitteln wie Spezialausleuchtung darauf zu achten haben, um die Neuansätze zu finden. Im Sudelbuch F finden sich doch ein paar deutliche Hinweise. – Auch auf ein paar andere Merkwürdigkeiten des Schreibens als Prozess, was gerade die jüngeren Forschungen auch im Bereich des Tagebuchs angezogen hat, sei hier aufmerksam gemacht: In dieser Zeit finde ich ein paar mal (also erratisch, aber doch bezeichnend!) nicht fortlaufende Nummerierungen in kleinen Einheiten, annähernd im Seitenbereich – das korrespondiert auffallend mit Bräkers Einteilungsgepflogenheit. Auf Lichtenbergs Gewohnheit, in Ermangelung des Tintenfasses oder möglicherweise durch Schreiben im Bett Einträge mit Bleistift vorzunehmen, diese dann aber später durch Überschreiben mit Tinte gewissermaßen zu ratifizieren (zunächst jedenfalls zu konservieren!) habe ich schon an anderer Stelle (Nachwort zu »Noctes«, Göttingen, 1992) hingewiesen.
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dest in gewissen Phasen seines Lebens wenn auch nicht an feste Termine gebunden, so doch zu gewissen räumlichen oder wenigstens zeitlichen Schreibquantitäten gezwungen: In den Phasen, in denen er sein Sudelbuch datiert hat, lässt sich nur insofern ein System erkennen, als dass er sich alle paar Tage für ein paar Stunden hergesetzt hat, um aus dem Gedächtnis oder anderen Notizen Gedanken in das »Hauptbuch« seiner geistigen Haushaltsführung zu übertragen. Das erklärt zugleich auch die insgesamt gleichmäßige Verteilung der Textmengen über lange Zeiten, ohne dass man vom Befund einer täglichen Schreibarbeit ausgehen kann. Aber vielleicht hat er, wie Jung-Stilling nachweisbar,20 jeweils am Wochenende seine säkulare Selbsterforschung und Schreibandacht vollzogen. Analoge Beispiele gibt es genug: Goethe hatte feste Stunden des Tages, an denen er sein Tagebuch zu diktieren pflegte;21 die Weimarer Ausgabe oder die jetzt entstehende neue Edition gibt markantes Zeugnis von dieser Regelmäßigkeit. Der große Organisator der Universität Dorpat Karl Morgenstern hinterließ über Jahrzehnte hin geführte ausführliche Memorabilien in starken Quartbänden. Die hatte er größtenteils, wie er dort wiederholt vermerkt, auf der Basis von heute nicht mehr vorhandenen Schreibkalendern ausgearbeitet; oft erst Wochen nach den dargestellten Begebenheiten.22 Oder das qualitativ wie quantitativ monströse Beispiel eines all-täglichen Schreibzwanges: Der halbverrückte Darmstädter Landgraf,23 der in seiner Residenz Pirmasens ein 20 Vgl. Erich Mertens, Ortwin Brückel, Rudolf Heinrich, Goethes Jugendfreund Johann Heinrich Stilling im Siegerland und im Bergischen Land. Ausstellung der Univ.-Bibliothek Siegen, 1999, S. XII. – Dieses Tagebuch ist eine merkwürdige Mischung aus Arbeitsbericht über geleistete geistige (vor allem schriftstellerische) oder kommunikative (Empfang von Besuchern) Tätigkeit und Gewissenserforschung in annähernder Gebetsform; am 9.11.1799 heißt es: »Mein Herr und mein Gott! Noch immer bin ich dir noch nicht nahe genug, Ärgernisse und Übereilungen überraschen mich noch gar zu oft«, ebd. 21 Vgl. die Handschriftenbeschreibungen und editorischen Berichte in der dritten Abteilung der Weimarer Ausgabe sowie die neue Ausgabe seiner Tagebücher, hrsg. von Jochen Goltz (s. oben Anm. 5). 22 Sie befinden sich in seinem Nachlass in der Universitätsbibliothek Tartu; hier z. B. in DXCIII, sowohl in der »Inhaltsübersicht« wie auch an der Spitze der einzelnen Abteilungen. – Ähnlich noch Arthur Schnitzler, der nach eigenem Bekunden zeitweilig sein Tagebuch »aus einem Notizbuch, nach 1–2 Monaten« abfasste: Werner Welzig, Zur Herausgabe von Schnitzlers Tagebuch, Wien 1981, S. 17 (dazu jetzt sehr eingehend und anschaulich das Marbacher Magazin 93 (2001): »Sicherheit ist nirgends«. Das Tagebuch von Arthur Schnitzler. Hg. von Ulrich v. Bülow. 23 Staatsarchiv Darmstadt, Signatur: D 4 Nr. 509–522 (worauf ich schon in der Ausstellung bzw. im Katalog: Wagnis der Aufklärung – Georg Christoph Lichtenberg 1742–1799, München 1992, Nr. 122, wieder hingewiesen habe). – Neuerdings liegt eine sehr informierte und kulturgeschichtlich tief schürfende Studie vor zu der gesamten Sammlung der Darmstädter Landgrafen-Tagebücher von Helga Meise, Das archivierte Ich. Schreibkalender und höfische Repräsentation in Hessen-Darmstadt 1624–1792, Darmstadt 2002. Freilich hebt die Verfasserin an keiner Stelle, wenn ich richtig sehe, hervor, dass sich unter den deutschen Dichtern und Schriftstellern der frühen Neuzeit zeitweilig noch einige bekanntere Verfasser von Tagebuch-Eintragungen in Schreibkalendern befanden als es der Landgraf war; vgl. meine folgenden Andeutungen.
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neues Potsdam errichten, seinem Ideal Friedrich nacheifern wollte. Dieser seltsame Heilige, der nicht nur mehr als zwanzigtausend Militärmärsche komponierte, indem er die ersten Takte am Klavier anspielte und die Fortsetzung den Kapellmeistern überließ, und der an jedem Tag seines Lebens wusste, wie viele Briefe er bis zu diesem Tag an seine Frau geschrieben hatte, ließ sich alljährlich eigens dafür ein Kalendarium in Kanzleiformat, 33×21 cm, drucken, das zusammen mit seinen sämtlichen chronologisch geordneten Aufzeichnungen am Jahresende prachtvoll eingebunden wurde; manchmal fast zehn Zentimeter dicke Folianten, in denen er jede Notiz bewahrte. Das reicht von autobiographischen Aufzeichnungen, Tätigkeitsberichten von Tag zu Tag über diätetische Notizen und hypochondrische Krankheitsbulletins bis hin zu Erinnerungsversuchen (Personen, denen er zehn Jahre vorher begegnet war, Namenlisten von einstmals besichtigten Orten oder von Beamten und Offizieren aus dem Gedächtnis), offenbar bloße Memorierungsübungen im Bewusstsein einer biologisch nur natürlich abnehmenden Merkfähigkeit. Der Wert dieses Dokuments als eines bizarren Denkmals der Schreibgeschichte liegt fast ausschließlich in seiner bloßen Existenz, nicht in den in diesem Tagebuch mitgeteilten Informationen.
V. Wenn heutzutage Lichtenbergs Tagebücher zitiert werden, dann ist zumeist ein Diarium gemeint, das er in den letzten zehn Jahren seines Lebens (und darunter in sechs Jahren wirklich täglich) geführt hat.24 Lichtenberg verzeichnete dabei neben Besuchern, aus- und eingegangenen Briefen (vermutlich sofern sie Geld gekostet hatten), Lektüre, Schreib- und Korrekturarbeiten vor allem meteorologische Besonderheiten, Gesundheits- oder vielmehr Krankheitszustände (vorwiegend die eigenen, manchmal auch die der Hausgenossen, Kinder und Ehefrau), schließlich Diätetisches und vor allem Sexuelles (eingehend werden die Coitus, camoufliert durch das astronomisch-alchimistische Venuszeichen, gezählt und auch qualifiziert, die Grapsch-Annäherungen bei den weiblichen Dienstboten unter nicht schwer zu durchschauenden Umschreibungen verzeichnet). Er bediente sich dabei eines vom Buchbinder mit weißen Papierlagen durchschossenen Exemplars des »Hannöverischen Staatsund AdreßCalenders«, weswegen es auch gern ›Staatskalender-Tagebuch‹ genannt wird. Derlei vorgedruckte, dem modernen Terminkalender vergleichbare Tagebücher sind im 18. und frühen 19. Jahrhundert nichts weniger als 24 Eingehend von mir dargelegt (s. oben Anm. 4). Eine Beschreibung der Handschriften gab ich nochmals im Katalog Wagnis der Aufklärung (wie Anm. 23), S. 384 f., Nr. 830 (mit Faksimiles); vgl. auch ebd. S. 375–383: »Donner«, »Schützenfest« und »Luisgen die Blattern«. Ein fast ganz gewöhnlicher Tag im Leben des Herrn Hofrats Lichtenberg.
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selten; Bauernkalender dieser Art oder »Taschenbücher«, also Kalender mit Ledertascheneinband, kann man gelegentlich noch beim Antiquar oder auf Trödelmärkten ergattern, und aus der deutschen Literatur fällt mir neben Lichtenberg, Ernst Theodor Amadeus Hoffmann und Goethe unmittelbar Moritz August von Thümmel ein, dessen Tagebücher übrigens auch noch der Publikation harren.25 Bei Lichtenberg haben wir es aber nicht bloß mit den Tagebüchern des üblichen Typus zu schaffen, wie sie eben auch heute noch als Tagebücher akzeptiert werden: nämlich entweder (erstens) Memorabilien, wo alles außergewöhnliche Erlebte und Geschaute aufgeschrieben wird, um später davon zu berichten oder sich wenigstens daran erinnern zu können, jedenfalls aber plastisch, über das bloß Stichworthafte hinausreichend. Oder (zweitens) diaristisch von Tag zu Tag geführte Verzeichnisse von Terminen, Geschäften, Verrichtungen – wie man sie sich vorher aufschreibt, um sie nicht zu vergessen, wie man sie hinterher nachträgt beziehungsweise stehen lässt, weil es vielleicht einmal nötig sein könnte, darüber Rechenschaft abzulegen. Die Aufzeichnung in ein Buch ist dabei wohl im Namen, nicht aber in der Sache zwingend notwendig; selbstverständlich kann ein Tagebuch recht wohl auch auf einzelnen losen Blättern oder in dünnen Heften geführt werden. In den letzte Jahrhunderten kristallisiert sich noch ein dritter Typus dazwischen heraus, den man füglich mit Bertolt Brechts Terminus »Arbeitsjournal« nennen darf, der aber seinen Ursprung eigentlich in den Florilegien und ,Ana’ des gelehrten Humanismus hat; so Lessings Collectaneen oder Klopstocks Arbeitstagebuch. Jener beiden erstgenannter Grundtypen des Tagebuchs hat sich etwa Lichtenberg zu unterschiedlichen Zeiten seines Lebens, also komplementär, bedient. Darüber hinaus aber haben wir es bei ihm – bekanntlich – noch mit einem weiteren Typus von Aufzeichnungen zu tun, der dem Arbeitsjournal schon recht nahe kommt: den nicht ganz zu Recht sogenannten »Sudelbüchern« oder »Schmierbüchern«. Mit größter Berechtigung hat man eine Bemerkung Lichtenbergs auf sie bezogen, die gewissermaßen impliziert ist und ihren immanenten stark autobiographischen Charakter vermittelt: »Ich habe schon lange an einer Geschichte meines Geistes so wohl als elenden Körpers geschrieben, und das mit einer Aufrichtigkeit die vielleicht manchem eine Art von Mitscham erwecken [wird], sie soll mit größerer Aufrichtigkeit erzählt [werden] als vielleicht irgend einer meiner Leser glauben wird. Es ist dieses ein noch ziemlich unbetrettner Weg zur Unsterblichkeit (nur von Kardinal de Retz). Nach meinem Tod wird es der bösen Welt wegen erst heraus kommen.«26
25 Vgl. Horst Heldmann, Moritz August von Thümmel. Sein Leben. Sein Werk. Seine Zeit, Neustadt/Aisch 1964, S. IX, dann ders., Moritz August von Thümmels Tagebücher. Ein Überblick, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 33 (1973), S. 39–59. 26 Sudelbuch F 811 (SB 1, 1968, S. 575).
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Diese »Sudelbücher« mit zu den Diarien zu zählen, hätte ein wichtiges Argument für sich: Gerade in demjenigen, das Lichtenberg als einziges so überschrieben hat, dem Buch »F«27, hat er Dateneinzeichnung vorgenommen (freilich begonnen schon in »E« und nicht bis zum Ende fortgesetzt). Es sind nicht, wie in einem Tagebuch, den Eintrag definierende und ihn durch eine Information füllende Bemerkungen. Diese Daten in den Sudelbüchern kennzeichnen lediglich die Intervalle des Schreibens! Man sieht plötzlich, dass der Verfasser ungefähr im Rhythmus von drei Tagen sein Schreibbuch zur Hand nahm und sich Einfälle der letzten Tage eintrug. Das hat er leider nur einmal, dort aber konsequent über zwölf Monate vom März 1776 bis März 1777 durchgehalten. Sonst sind im Sudelbuch Dateneintragungen eher die Ausnahme und haben für die Gesamteinschätzung kein Gewicht. Aber das Sammelsurium von wirklich autobiographischen Mitteilungen, Lesefrüchten, Entwürfen zu Satiren, naturwissenschaftlichen Beobachtungen und Reflexionen, auch wohl nur Ausdrücken und Formulierungen unterscheidet sich darüber hinaus in noch mindestens einem ganz wichtigen Punkt von Tagebüchern zumindest des zweiten Typs, also des intim-diaristischen, wie Lichtenberg ihn offensichtlich verstand. Jenes Tagebuch, das er in seinem letzten Lebensjahrzehnt von Tag zu Tag geführt hat, weist eine Eigentümlichkeit auf, die sich möglicherweise auf das Schreiben anderer Autoren, zumindest des auf diesem Kolloquium zur Rede stehenden, applizieren lässt. Die Metareflexion über das Schreiben. »eben da ich dieses schreibe« ist die charakteristischste Wendung, die die ›Hier-Jetzt-Ich-Origo‹ markiert; etwa am 17. Dezember 1789 (während der großen Krankheit, die vermutlich das Tagebuch begründet hat: »gegen 12 nach einem fein gesponnenen Stuhlgang starke Krämpfe, eben da ich dieses schreibe.«
Oder am 22. Oktober 1791: »Diesen Morgen um 2 Uhr meine l. Frau glücklich von einem jungen Sohn entbunden. Sie ist, da ich dieses schreibe sehr wohl.«
Oder 14. April 1792: »Dieses schreibe ich morgens um 6 Uhr auf dem Garten es schlägt diesen Augenblick.«
Diese vergegenwärtigende Wendung begegnet nicht gleichmäßig über das Tagebuch und seine Chronologie verteilt, sondern in einzelnen Phasen gehäuft, charakterisiert überdies meist Veränderungen des Ortes (will sagen: ungewohnte Schreibplätze). Zahlenmäßig sind ihre 15 Vorkommen in 8 verschiedenen Jahren (aber in einem Monat sogar dreimal) jedoch nur scheinbar 27 Faksimile der Titelseite im Katalog Wagnis der Aufklärung (wie Anm. 23), S. 35. S.o. Anm. 19.
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verschwindend gering. Denn diese Wendung begegnet in 1500 Sudelbuchdruckseiten nur ein einziges Mal, und dort nur zur Begründung einer Eintragung, die eben aus dem Tagebuch ins Sudelbuch überführt worden ist. Man kann die Beobachtung weiterführen: Das Tagebuch bezeichnet nicht nur die Aufzeichnung von Tag zu Tag, sondern verfolgt (wie das Logbuch eines Schiffs) auch den Entwicklungsgang des einzelnen Tages oder markiert doch zumindest bestimmte Ereignisse nach Tageszeiten, notwendig etwa Mahlzeiten oder astronomische Prozesse wie Sonnen- und Mondauf- und -untergänge, fakultativ nach den besonderen Bedingnissen (»nachmittags Herr xxx zu Besuch«) – sonst würde es sich um eine Chronik oder um Annalen handeln. Und auch hier lässt sich in den drei Aufzeichnungstypen bei Lichtenberg auf schönste diese Art der Referenz auf eine Origo demonstrieren; ich habe mir einmal die Mühe der Auszählung gemacht, um auf gesicherte und miteinander vergleichbare Daten zu kommen, nur so haben wir textlinguistische Argumente an der Hand: Auf den 350 Seiten, die sein so genanntes Staatskalender-Tagebuch (also das echte Diarium) haben würde, zähle ich 125mal »heute« (dagegen auf zum Vergleich von mir ausgezählten 1 000 Seiten Sudelbuch, also dem beinahe dreifachen Umfang, nur 40mal, und davon nur 6mal non-fiktional diaristisch: Das heißt, es begegnet dort um Faktor 9 beziehungsweise in Wahrheit Faktor 60 seltener), 90mal »gestern« – im Sudelbuch fünfzehnmal, und davon fünf wirklich diaristisch (also sogar 18 beziehungsweise in Wahrheit 54 mal seltener). Einen noch eklatanteren Befund bieten die Tageszeiten, die im Sudelbuch fast überhaupt nicht vorkommen oder doch nur in fiktionalen Zusammenhängen: – 260mal Morgen im Tagebuch, 51 mal im Sudelbuch, aber davon nur 5mal wirklich diaristisch! (also Faktor 15 beziehungsweise 150) – 35mal Mittag; weitere – 300mal Nachmittag: Im Sudelbuch begegnet Mittag mitsamt Komposita nur 15mal, davon nur zweimal im diaristischen Sinn! Etwas günstiger, nämlich – 280mal Abend, 49mal im Sudelbuch, davon 10mal diaristisch (also Faktor 17 beziehungsweise 85!). Das ist schlagend, zeigt, welchen textlinguistischen Anspruch man unmittelbar an die Definition Tagebuch knüpfen könnte, wollte man nicht in völliger Beliebigkeit verharren. Das zeigt vor allem auch, welche Strenge Lichtenberg sich selbst seinen Tagebüchern gegenüber auferlegt hat. Die Materien, vor allem aber die sprachliche Darstellung, sind aufs feinste voneinander geschieden, und nur wenn das Buch nicht zur Hand ist, darf ausnahmsweise eine Tagebucheintragung ins »Gelehrte Hausbuch« gelangen. Denn auch jene andere strukturtypische Formel des Tagebuchs, wie wir sie von Tagebuchschreibern wie Falk sehr genau kennen (der eröffnet zumeist mit ihr das Tagesdatum):
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›Den [so und sovielten: Datum] das und das getan‹
– auch sie gebraucht Lichtenberg im Sudelbuch nur in begründbaren Ausnahmefällen: Besonders in Zeiten, da er kein echtes Diarium führt, werden bestimmte Grenzfälle halb privater, halb wissenschaftlicher Natur im Sudelbuch zugelassen, wie zum Beispiel im Buch F, datiert und mit Wochentagssymbol: »Samstag 8. [März 1777] HE. Lessing bei mir.«28
Durchlässig sind die Grenzen von Lichtenbergs Aufzeichnungen nur, wenn sich an die alltägliche Notiz eine psychologische oder naturwissenschaftliche Reflexion anknüpft, durch die die individuelle Selbstbeobachtung übertragbar wird, sie ein allgemeines Interesse erhält. Und ein extremes Beispiel solcher Metareflexion (ausdrücklich nicht Ipso-Reflexion) sei hier noch beigezogen, weil es selbst in seiner Einmaligkeit auch in Lichtenbergs Tagebuch geeignet ist, diesen Diaristen zu charakterisieren. Unterm 26. Oktober 1792 heißt es: »[Venuszeichen, bedeutet: Koitus] 51. sehr schön heiter [Wetterangabe]. Immer ernstlicher mit den Franzosen. Des Landgrafen von Kassel Geld passiert durch. Herr Habel bey mir!! v.Westphal. Brief an Gren!!! schnell. Ist das nicht abscheulig!!! So viele Interjektions-Zeichen habe ich lange nicht gemacht. Sancte LEO ora pro nobis. Herr Dammert erzählt, dass nun Herr Westrumb auch dephlog. Luft aus den QuecksilberKalch erhalten habe.«29
VI. Auf den ersten Blick muss einem heutigen Leser (das sei nicht verleugnet) das Bräker-Tagebuch als eine ziemlich freudlose Lektüre erscheinen, und das liegt nicht nur an der Gewohnheit, das Schreibpensum von der Seite abhängig zu machen. Über hunderte von Seiten liest man da nur immer wieder dieselben Litaneien, breitgetretene Diskurse über die religiöse Befindlichkeit eines Mannes, der offenbar in schwersten Seelennöten sich befindet, Variationen von religiösen Liedern und erbaulichen Betrachtungen, zu nennenswerten Teilen gar nicht von ihm selbst ersonnen, sondern nur gewissermaßen reflektiert. Aber bei meinen anderen Autoren verhält es sich gar nicht soviel anders. Durch systematische Zählungen und Überprüfungen der Kontexte gesicherte Vergleiche zu ziehen, muss ich hier der Bräker-Forschung überlassen; 28 Sudelbuch F 406 (SB 1, 1968, S. 516). »Samstag« schreibt Lichtenberg (wie öfter) als Planetenzeichen (Saturn); hier ›übersetzt‹. 29 S. oben Anm. 4. Vorläufig benutzbar ist ein Teil des Tagebuchtextes (ca. 50 Prozent des Gesamtumfangs) in der Auswahlwiedergabe in SB 2, 1971, S. 697–859 und Nachtrag S. 868; die oben zitierte Stelle S. 764 – ›Quecksilber‹ schreibt Lichtenberg (wie öfter) im Original als Planetenzeichen (Merkur); hier ›übersetzt‹.
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jedoch ist es wohl angebracht, ein paar Beobachtungen hier mitzuteilen. Bräker hat (so scheint mir) nur gelegentlich, über kurze Phasen und dann aber gehäuft eine Tendenz, sich zur ›origo‹-Angabe zu zwingen; so beginnt er im April 1770 an mehreren aufeinander folgenden Tagen mit »hüte« (10., 11., 12., 15., 27. April; vgl. UB Tagebücher 1, 152–154, 159), ebenso im Mai (4. Mai; ebd., S. 162), danach nur sporadisch; das wiederholt sich im Januar 1789 (10. u. 27. Januar; vgl. UB Tagebücher 3, S. 10 u. 17), wo am 27. sogar eine Apostrophe an den Montag erscheint (»gestern« ebenso am 4. Dezember 1774; UB Tagebücher 1, S. 698). Insgesamt dürfte aber die Thematisierung des hier und jetzt eher untergeordneten Rang haben. Eine Ausnahme machen nur ungewöhnlich zahlreichen Wetterbeobachtungen. Die fatale Veröffentlichungsbereitschaft des Zeitalters, das hat Frau VolzTobler in ihrer Arbeit30 trefflich herausgearbeitet, wird schon von den britischen Ursprüngen durch die moralischen Wochenschriften des Aufklärungszeitalters empfohlen, ja als Möglichkeit und denkbare Verpflichtung wird sie nachgerade zu einem konstitutiven Bestandteil im gewandelten Verhältnis zu einer Öffentlichkeit, die recht bald auch den privaten Brief konstituieren soll, weil der öffentliche entsteht. Das lenkt unsern Blick darauf, dass es in der Geschichte der Memorabilienliteratur genügend Beispiele solcher Art gegeben hat, die einer nachromantischen (oder meinetwegen juvenilen) Vorstellung vom intimen Tagebuch diametral entgegengesetzt ist. Josef Goebbels beschäftigte bekanntlich zeitweilig ein ganzes Sekretariat mit der Führung seiner Tagebücher.31 Das sind nicht minder grandiose Legendenschmieden der Geschichte gewesen als (wenn Sie den Vergleich gestatten) die einer ganz anderen Textsorte zuzuordnenden Rechtfertigungsschriften Caesars, dem Lateinschüler sattsam bekannt unter den ›De bello . . .‹-Titeln; jene übertreffen aber den antiken Usurpator an Lügenhaftigkeit und Fälschertum um ein Beträchtliches. Der freilich unerlaubte, weil höchst unhistorische Ausgriff legt die mich hier interessierenden Struktureigenschaften offen – die nämlich entsprechen sich zwischen den Gattungen und innerhalb der hier zur Rede stehenden Tagebücher: a) Tagebücher werden immer mit dem Blick auf ein potenzielles Publikum geschrieben, auf das der Verfasser sozusagen innerlich schielt. Dieses erwartete Publikum mag zunächst nur der Schreiber selber in einem späteren 30 Rebellion im Namen der Tugend. »Der Erinnerer« – Eine Moralische Wochenschrift, Zürich 1765–1767. Zürich 1997. Darin zum Tagebuch. 31 Nach Einschätzung der Hg. umfassen diese Tagebücher (einschließlich seiner Tagebuchdiktate) immerhin 15 Bände! 98 Prozent aller von Goebbels verfassten Texte. Wie wichtig ihm diese Tagebücher waren, mag man daraus ermessen, dass er sie unmittelbar vor Kriegsende noch auf Glasplatten sichern ließ, die 1992 im ehemaligen Sonderarchiv in Moskau von Elke Fröhlich entdeckt wurden und die Neuedition im Institut für Zeitgeschichte in München ermöglichten.
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Lebensstadium sein, aber schon dieser Umstand lässt den erfahrenen Tagebuchschreiber erschauern: Wer macht sich schon gern lächerlich, und sei es auch vor einem sehr vertrauten Bekannten. Sein Stil, seine Gedankenwahl, seine Ehrlichkeit ist mithin permanent von der Selbstkontrolle infolge eines imaginierten impliziten Lesers beeinflusst. b) Gerade dieser Umstand wird konterkariert von der Rechtfertigungsmöglichkeit innerhalb der Gattung Tagebuch. Unser Rechtsdenken räumt nun einmal dem schriftlichen Zeugnis eine deutlich höhere Beweismittelkraft ein als dem mündlichen, zumal wenn dies bloße Erinnern so lange zurückliegt. c) Aus letzterem folgt aber auch, dass eine unmittelbare Aufzeichnung wiederum größeren Rang hat vor einer noch so feinen Beschreibung aus dem Gedächtnis, gleichgültig, ob es um affektive Fragen oder um Beweisführungen gehen soll. Zusammenfassend aufgezeichnete Memorabilien, besonders wenn sie nach längerem Zeitraum rückblickend niedergeschrieben sind und sich nicht (wie Klemperers Autobiographie bis 1918, »Curriculum Vitae«) auf echte Tagebücher stützen können, haben allemal viel geringeren Quellenwert und zumal den Ruch, zu verheimlichen. Deswegen bekommt die lästige Notwendigkeit einer unveränderlichen Zeitfolge (also anders als in der systematischen Darstellung oder gar im Roman) einen unmittelbaren Nutzen. Fragt sich natürlich, welchen Grad an Bewusstheit und Zukunftsinteresse unsere Verfasser gehabt haben: Sicher schon aus ihrer historischen Rolle heraus einen verschwindend geringen. Nur Lichtenberg schreibt schon sehr frühzeitig in seinem Sudelbuch: »Es ist sehr gut alles was man denkt, rechnet und dergleichen in besondere Bücher zu schreiben, deren Wachstum anzusehen unterhält den Fleiß, und gibt einen Neben-Bewegungsgrund ab aufmerksam zu sein.«
und: »Schmierbuch-Methode bestens zu empfehlen. Keine Wendung, keinen Ausdruck unaufgeschrieben zu lassen. Reichtum erwirbt man sich auch durch Ersparung der Pfennigs-Wahrheiten.«32
Lichtenbergs frühes Tagebuch ist zwischen 1770 und 1774 entstanden und nur mit großen Lücken geführt, dann zeitweilig als hinterer beziehungsweise vorderer Teil der Sudelbücher D und E (und dadurch) diesem anderen Tagebuch-Genre – ›Sudelbuch‹ – gewissermaßen manifest untergeordnet.33 Ange32 Sudelbuch D 366 und F 1219 (SB 1, 1968, S. 286, 639). 33 Eine genaue Beschreibung der Handschriften habe ich im Katalog Wagnis der Aufklärung (wie Anm. 23), S. 24–48 (Nr. 1–16, mit zahlreichen Faksimiles) gegeben.
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nehm bleiben da noch die Reisebeschreibungen; Sammlungen von Bemerkenswertem, Dingen, die er/man nicht vergessen möchte (die aber auch schon damals in gedruckten Büchern zu finden gewesen wären): Lichtenberg schreibt offenkundig auf, um das Notierte später literarisch nutzen zu können. Das erste praktische Ergebnis solcher Verwendung ist denn auch eine Überführung von Erlebnissen, Beobachtungen und Begegnungen mit Personen ins Medium Brief. Als habe das Tagebuch daneben gelegen, wird die Skizze zum Gemälde ausgebaut, an manchen Stellen ist dabei nahezu wörtlich übernommen, was sich im Tagebuch (freilich annähernd zur selben Zeit, jedenfalls in derselben Woche) aufgezeichnet findet.34 Dann aber kommen die ersten Berichte von Stimmungen und Affekten; Anwandlungen von Verliebtheit.35 An dieser Stelle wird nun auch klar, dass der Tagebuchautor Lichtenberg (genauso wie Lavater)36 mit dem Leser rechnet, der ihm zwar nicht über die Schulter schaut, aber in einem unbeobachteten Augenblick oder nach Ablauf der Verfügungsgewalt, etwa nach dem Tod des Schreibers, ins Buch schaut und ungehindert Intima studieren darf. Das wird verhindert bei diesem durch die Geheimschrift,37 bei jenem (Lichtenberg) durch die englische Sprache, die damals keineswegs eine Lingua franca in Europa, nicht einmal unter den Gebildeten war, sondern eine barbarische Randsprache, die halt im kurhannoverisch-großbritannischen Göttingen unter Gelehrten, nicht aber im übrigen Deutschland beherrscht wurde. Als Lichtenberg dann zwanzig Jahre später sein stichwortartiges, aber von Tag zu Tag, also wirklich diaristisch geführtes Tagebuch stellenweise zu verschlüsseln hat, genügt ihm freilich das Englische nicht mehr allein: Er kombiniert es wenigstens mit griechischen Schriftzeichen.38 Vielleicht ist ihm klar geworden, dass ein Niederdeutscher, ein plattdeutsch Sprechender den Sinn sehr vieler englischer Wörter leicht erraten kann (auch und gerade, wenn er sie gar nicht gesprochen hört, sondern liest). Und das lenkt unweigerlich auf die Gruppe derer, vor denen Lichtenberg sein Buch verschlossen wissen möchte. Denn ihm muss ja klar sein, dass jeder ehemalige Gymnasiast (also auch jeder Student) soviel Griechisch gelernt hat, um seine Hieroglyphen entziffern zu kön34 So zum Beispiel seine Beschreibung von Utrecht im Tagebuch 4. April 1770, p. 6 (SB 2, 1971, S. 600–602) – im Brief an Abraham Gotthelf Kästner vom 17. April 1770. 35 Die Beschreibung der Annäherung und (ungewollten) Entfernung von ›the comet‹ im Juli 1771, Tagebuch p 22 ff. (SB 2, 1971, S. 606–615). 36 Siehe unten bei Anm. 45–50. 37 Siehe unten Anm. 39–41. – Aus der mittlerweile schier unüberschaubaren Literatur zu Geheimschriften und ihrer Entzifferung hebe ich hier nur heraus: Andrea Sgarro, Marcus Würmli, Geheimschriften. Verschlüsseln und Enträtseln von Geheimtexten, Augsburg 1991 (populär); dann vor allem: Friedrich L. Bauer, Entzifferte Geheimnisse. Codes und Chiffren und wie sie gebrochen werden, Heidelberg 1995, besonders auch, weil der Verfasser Mathematiker ist und dem Philologen einmal den Weg weist. 38 Vgl. darüber meinen Artikel (wie Anm. 4).
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nen – höchstens ein moderner Philologe, der sein Griechisch mittlerweile etwa verlernt hätte (wie der erste Herausgeber einer größeren Auswahl aus diesem Tagebuch) wäre zu so empfindlichen Missverständnissen in der Lage, keinesfalls ein zum Beispiel Theologie studierender Zeitgenosse. Nein die auszuschließenden Zielpersonen waren hier nun gerade die Ungebildeten, also Lichtenbergs Ehefrau, der er vielleicht überhaupt erst Lesen und Schreiben beigebracht hat, ferner die Dienstboten und darunter dann wohl besonders jenes mit schöner Regelmäßigkeit unter diesen Verschlüsselungen auftauchende Objekt seiner Begierde, seiner lüsternen Fantasie und Finger: Devil, Düwel, Dübel, Beldü – also das Teufelchen, mit wahrem Namen vermutlich eine Dorothea, Dienstmädchen im Haus. Einschränkend muss ich aber hinzufügen, hat Lichtenberg eine merkwürdige Keuschheit entwickelt, bestimmte Dinge sogar (oder nur) vor sich selbst, die für andere gar nicht hätten verschlüsselt werden müssen, weil sie nicht intim sind, unwörtlich ausgesprochen zu lassen. Er verbirgt zum Beispiel religiöse Übungen, dann aber vor allem eigene Irrtümer, unter denen er leidet, unter im Nachhinein meist durchsichtigen Silbenumstellungen – das muss etwas mit jenem magischen, in vielen Kulturen verbreiteten Element einer Sprachauffassung zu tun haben, die das Böse erst sich werden ließ, wenn es ausgesprochen sei. Diese Art von Geheimzeichen und Hüllformeln, die das Intime dem unbeobachteten Blick ebenso entziehen wie auch Pudenda in der Zone des Unausgesprochenen lassen sollen, findet man in den Tagebüchern zum Beispiel von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann,39 Benjamin Constant;40 als vollchiffriert bei Johann Heinrich Jung,41 Johann Anton Leisewitz42 und drei Generationen früher bei Samuel Pepys.43 In mehrfacher Hinsicht erhellend ist hier das Beispiel von Lavaters Tagebüchern und ihrer Veröffentlichung, über die schon Herder an ihren Verfasser die treffende Charakteristik fand: »Das Tagbuch wird viel Gutes u. Erbauung stiften: ist aber kein Tagbuch mehr, 39 Vgl. E. T. A. Hoffmann, Tagebücher. Hg. v. Hans v. Müller, Bd. 1, Berlin 1915, S. XCII–C; bes. XCVI. – In der Neuausgabe von Friedrich Schnapp, München 1971, teilweise wiederholt, s. vor allem S. 37–44; dann: Wolfgang Kron, Zur Neuausgabe von Hoffmanns Tagebüchern, in: Mitteilungen der Hoffmann-Gesellschaft 18 (1972), S. 41–43. – Hartmut Steinecke, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 90 (1971), S. 601–603. 40 Er bediente sich in den Jahren 1805–1808 eines Zahlencodes jeweils für bestimmte Handlungen oder Empfindungen (z. B. 1: körperliche – sexuelle – Befriedigung; 2: Wunsch, die Kette, die ihn an die de Staël fesselt, zu zerbrechen; 8: Heiratspläne; 12: Liebe zu Madame du Tertre usf.). Vgl. Christopher Herold, Madame de Staël. Herrin eines Jahrhunderts, München 1960, S. 317; Literaturnachweise (unspezifisch) ebd. S. 316 f. 41 Erich Hüttenhain, Zur Geheimschrift Jung-Stillings, in: Siegerland. Zeitschrift des Siegerländer Heimatvereins. 48 (1971), S. 37–42. 42 Johann Anton Leisewitz, Tagebücher. Hg. von Heinrich Mack und Johannes Lochner, 2 Bde., Weimar 1916–1920; bes. Bd. 2, S. 199–208. 43 The Diary of Samuel Pepys (wie Anm. 13), Bd. 1, 1970, bes. S. XLI–LXIV.
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höchstens zeigt sich Lavater im NachtKamisol oben auf dem Balkon, weiß aber wohl, daß er auf dem Balkon stehe«.44 Sie kennen die Druckgeschichte vermutlich, ich rekapituliere nur: Lavater hatte eine Abschrift an Zollikofer weitergegeben, welcher 1771 Stücke daraus anonym unter dem Titel »Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst« herausbrachte.45 Die wahre Identität des Verfassers lag auf der Hand, da er darin eine andere seiner Schriften sich zuschrieb. Blieb die Frage der Kritik im Publikum: Wie authentisch sind die Texte. Dem begegnete Lavater nun mit einem zweiten Band »Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuch [. . .] nebst einem Schreiben an den Herausgeber desselben. [Zwischentitel nachher:] Unausgesuchte Fragmente aus meinem Tagebuche«.46 Die Nachfrage muss enorm gewesen sein, denn schon 1772 war eine 2. (billigere) Ausgabe nötig, in der der Verfasser sich (wenn auch nicht auf dem Titelblatt) doch wenigstens in einer neuen Vorrede nun auch zu erkennen gab, gleichzeitig aber die Beteiligung an der Herausgabe bestritt und eine Reihe von Einzelheiten zur wohl gemeinten Fiktion erklärte, die die Verfasserpersönlichkeit und -identität verschleiern sollte. Im zweiten Bande wird das sogar in einem Briefwechsel zwischen Verfasser und Herausgeber thematisiert und die bisherige Situation der Autornennung auf den Kopf gestellt: Hier wird der Verfasser beim Namen genannt, der Herausgeber bleibt anonym. Nun sind in diesem Tagebuch eine Reihe von Chiffrierungen stehen gelassen worden. Es handelt sich dabei keineswegs nur, nicht einmal überwiegend, um sexuelle Pudenda – aber diese chiffrierten Texte teilte der Herausgeber, und noch viel mehr der Verfasser nachher in seinen »Unveränderten Fragmenten« auch mit. Die damalige Entschlüsselungstechnik war vielleicht noch nicht weit oder die Leser nicht attent genug: Es bedurfte schon der 2. Hälfte unseres Jahrhunderts, um diesen Geheimcode (dann aber gleich zweimal) zu ›knacken‹.47 Aus dem Umstand, dass im Druck des 1. Bandes nur ganz vereinzelte Namenskryptogrammierungen und wenige Verschlüsselungen48 stehen geblieben sind, im zweiten aber umso reichlicher,49 folgere ich, dass Zollikofer doch Bedenken getragen haben dürfte, obgleich er mit Bestimmtheit den Code nicht selber entschlüsselt hat, während Lavater seinen Code für unentzifferbar durch Uneingeweihte hielt – oder wollte er das Prinzip der Wahrhaftigkeit bis zur Selbstentblößung treiben? 44 Herder an Lavater, [etwa 18.12.1773]. Herder, Briefe, Bd. 3, hrsg. von Günter Arnold, Weimar 1978, S. 59. 45 Leipzig bey Weidmanns Erben und Reich. [XII+] 205 S. 46 Motto: »So wir uns selber richteten, wo würden wir nicht gerichtet.« XLII, 307 S. 47 Zuerst Dietrich Gerhard, Lavaters Wahrheit und Dichtung, in: Euphorion 46 (1952), S. 4–30. Dann, ohne Kenntnis des Vorgängers, Claus O. Lappe, Lavaters Geheimschrift entziffert, in: Seminar. Journal of Germanic Studies 13 (1977), S. 76–87. 48 Lavater, Geheimes Tagebuch (wie Anm. 45), S. 136. 49 Lavater, Unveränderte Fragmente (wie Anm. 46), S. 104, 114, 115, 117, 121, 122, 131, 132, 135 (dort sogar ein Gedicht), 135, 136, 138, 142, 151, 207, 220, 295, 305.
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Chiffrierungen und Geheimzeichen sind nun keineswegs textlinguistische Bedingung, sondern lediglich ein weit verbreitetes (aber dekuvrierendes) zusätzliches Merkmal für das intime Tagebuch.50 Lavater spielt damit bei der Grenzüberschreitung zum Publikum, es ist ihm der Beweis einer Authentizität und eigenen Ehrlichkeit. Das hat Bräker freilich nicht nötig; er hat nie erkennbar eine Grenze zur Öffentlichkeit gezogen. Die intimsten Erwägungen werden so berichtet, als könnte sie jeder lesen. Die großen Abrechnungen etwa über seine Frau, die unverhüllten und gänzlich ungeschützten Charakteristiken dritter Personen lassen nirgendwo den Verdacht aufkommen, er hätte jemals eine Grenzlinie zwischen den unterschiedlichen Arten eines Publikums zu ziehen beabsichtigt. Der Plan der Veröffentlichung war offenbar auch frühzeitig da, und selbst der Rückschlag durch die vernichtende Kritik in Nicolais »Allgemeiner Deutschen Bibliothek«51 ist entweder gar nicht zu ihm gedrungen oder ließ ihn offenbar nicht davon abrücken. Im Übrigen finden sich schon ziemlich frühzeitig Apostrophen, nicht bloß an Gott oder den Heiland, sondern eben vor allem an künftige Leser, darunter insbesondere an seine Nachkommen: »Sehet also geliebte Kinder (ich verhoffe euch zum Nutzen zu schreiben; dann ich kann aus der Erfahrung schreiben)« (28. Dezember 1772; UB Tagebücher 1, S. 477). Die »Vermahnungen« von 1768,52 denen der Verfasser sogar ein Register beigegeben hat, lassen sich (unabhängig von der editorischen Entscheidung einer Anordnung in den Tagebuch-Bänden) schlechterdings nicht der Textsorte Tagebuch im strengen literaturwissenschaftlichen Sinne subsumieren. So betrachtet, haben Bräkers Diarien jenseits stilistischer Eigentümlichkeiten allerdings die größte Ähnlichkeit mit denen Lavaters; man sollte sie charakterisieren als rückhaltlose Enthüllungen des inneren Lebens, als ›Tagebücher der Affekte‹. Dass Füßli bei der Publikation von Bräkers Diarien sie einem literarischen Zeitgeschmack entsprechend verballhornte: kürzte und umschrieb, das lag außerhalb des Einflusses, ja der Intention ihres Verfassers (soweit wir die rekonstruieren können) und ist zumal viel weiter entfernt von jener (bewussten oder unbewussten) ›Fälschung‹, die Goethe später an Johann Heinrich Jung und dem ersten Band seiner Memorabilien veranstalten sollte, und dann in ganz anderer (entgegengesetzter) Richtung von diesem selber betrieben wurde, als er seinen Lebensgang sukzessive zunehmend im Lichte göttlicher Fügung schrieb.53 Bräkers Tagebücher sind sogar noch deutlich ehr50 Vgl. (u. a.!) die oben in den Anm. 4, 13, 39–41 (bes. 40) nachgewiesene Literatur. 51 Wohl von einem gewissen Schilling in Verden, vgl. Gustav Parthey, Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai’s Allgemeiner Deutscher Bibliothek nach ihren Namen und Zeichen in zwei Registern geordnet. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte, Berlin 1842, S. 24. 52 Ulrich Bräker, Sämtliche Schriften, Bd. I: Tagebücher 1768–1778, bearbeitet von Alfred Messerli und Andreas Bürgi zusammen mit Claudia Holliger-Wiemann, Christian Holliger, Heinz Graber und Alois Stadler, München/Bern 1998, S. 5–118.
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licher als die lavaterischen, wie er überhaupt, vergleicht man ihn mit denjenigen seiner Zeitgenossen, die die Grenze zur Öffentlichkeit überschritten haben wie zum Beispiel Lavater und Jung, nachgerade rücksichtslos besonders sich selbst gegenüber eine radikale Wahrhaftigkeit beibehalten hat, die für ihn stilbildend wurde. So gesehen sind die Berichte über »Jauß den Liebesritter«, die Voellmy zweifelsfrei (und, wie mich deucht, auch noch die jüngsten Herausgeber vorsichtiger andeutend) für ein Romanfragment, also für freie Erfindung hielten, keineswegs oder doch wenigstens nicht bloß erratische Blöcke von eingeschalteten Fiktionen in den Tagebüchern: ich halte sie für Berichte über wahre Begebenheiten, in konsequenter Weiterbildung jener sezierenden Wahrheitsliebe, die sich zuvor überwiegend auf das eigene Innere konzentriert hatte, und ihrer Wiedergabe – sind mithin Vorformen eines ›naturalistischen‹, vor allem durch keine religiöse Lehrmeinung mehr gelenkten Erzählens, wie es, behindert durch das Konzept einer klassisch-idealistischen Ästhetik, erst ein volles Jahrhundert später im deutschen Sprachraum sich entwickeln konnte.
53 Die Jung-Stilling-Philologie ist sich darüber ziemlich einig, dass der erste Teil verglichen mit den späteren von Goethe so redigiert wurde, dass der Frömmigkeitsanteil auf ein Minimum reduziert erscheint; dafür hat Jung dann nachher zunehmend, im vierten fast schrankenlos, gar nicht mehr sein Leben erzählt, sondern dieses nur in den Einfluss der göttlichen Vorsehung gestellt. Vgl. vor allem Gustav Adolf Benrath (Hg.), Johann Heinrich Jung-Stilling, Lebensgeschichte, Darmstadt 1976; ferner (zuvor schon) Gotthilf Stecher, Jung-Stilling als Schriftsteller, Berlin 1918.
BettinaVolz-Tobler UlrichB räkers»Selbstaufklärung«
BETTINA VOLZ-TOBLER
Ulrich Bräkers »Selbstaufklärung« im Spiegel seiner frühen Tagebücher Im Vorbericht zur 1789 publizierten Lebensgeschichte von Ulrich Bräker schrieb der Herausgeber Johann Heinrich Füßli: »In einem der abgesöndertsten Winkeln des so wenig bekannten und oft verkannten Tockenburgs wohnt ein braver Sohn der Natur, der, wiewohl von allen Mitteln der Aufklärung abgeschnitten, sich einzig durch sich selbst zu einem ziemlichen Grade derselben hinaufgearbeitet hat.«1 Die von Füßli festgestellte autodidaktische »Selbstaufklärung« Bräkers ist in der Tat eine bewundernswerte Leistung, denn von den äußerlichen Gegebenheiten seines Lebens – Bräker wuchs in sehr armen Verhältnissen auf und sollte darin bleiben – sprach zunächst nichts dafür, dass dieser Mensch später einmal Preisschriften für eine Moralische Gesellschaft, ein Theaterstück im Geiste Shakespeares, eine packende Lebensgeschichte und Tagebücher veröffentlichen sollte.2 Ulrich Bräker (1735–1798) wurde in einem von pietistischer Frömmigkeit geprägten Milieu groß. In seiner Lebensgeschichte berichtet er unter anderem, dass er in seiner Jugend als Bußprediger durch die Lande habe ziehen wollen.3 Die so genannte »Vermahnung«, der erste erhalten gebliebene Text Bräkers, hätte als Aufruf zu Buße und Bekehrung unter die Landleute im Toggenburg gebracht werden sollen.4 Dieser Wunsch Bräkers ließ sich aber nicht realisieren 1 Füßli gab 1789 und 1792 zwei Bände der »Schriften des Armen Mannes« heraus. Es waren noch weitere Bände geplant, doch nach dem Misserfolg der Tagebücher wurde die Ausgabe nicht weiter fortgesetzt. Im folgenden zitieren wir (mit Band- und Seitenangaben) nach: Ulrich Bräker, Sämtliche Schriften, hg. Andreas Bürgi u. a. Bd. I–IV, München/Bern 1998–2000. – Bd. I: Tagebücher 1768–1778, bearbeitet von Alfred Messerli und Andreas Bürgi; Bd. II: Tagebücher 1779–1788, bearbeitet von Heinz Graber und Claudia Holliger-Wiesmann; Bd. III: Tagebücher 1789–1798, bearbeitet von Andreas Bürgi und Alfred Messerli; Bd. IV: Lebensgeschichte und vermischte Schriften, bearbeitet von Claudia Holliger-Wiesmann, Andreas Bürgi, Alfred Messerli u. Heinz Graber. Im folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert (Bräker, Bandzahl, Seitenzahl). Vgl. Vorbericht zur Lebensgeschichte in: Bräker, Bd. IV, S. 357. 2 Vgl. Bräker, Bd. IV. 3 Bräker berichtet, dass er in jungen Jahren »gleich den Herrnhutern und Jnspirierten, in der weiten Welt herumziehen, und Buß’ predigen« wollte. Vgl. Kapitel LXVI seiner »Lebensgeschichte«, in: Bräker, Bd. IV, S. 485. 4 »Ein wort der vermahnung, an mich und die meinigen, dass nichts besers sey den gott förchten zuallenzeitten. 1768« In: Bräker Bd. I, S. 5–118. Im folgenden zitiert als »Vermahnung«.
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– offenbar wollte niemand die Druckkosten auf sich nehmen – und so verfasste Bräker das Büchlein nur für seinen engsten Familienkreis.5 Die in der »Vermahnung« von Bräker aufgezählten, damals in seinem Besitz befindlichen Lektüren zeigen seine geistige Prägung durch pietistische Schriften. Neben der Bibel, die an erster Stelle genannt wird, erwähnt er: Johann Arndt,6 Samuel Lutz7 und Carl Heinrich von Bogatzky,8 die er alle mehrmals gelesen hatte. Dass Ulrich Bräker als Angehöriger der untersten Gesellschaftsschicht las und schrieb, hat – abgesehen von seiner individuellen Wachheit und Neugier – mit den Praktiken pietistischer Frömmigkeit zu tun.9 Aus dem Pietismus stammt die Anregung, selber die Bibel und Erbauungsschriften zu lesen, und in den Konventikeln konnten Laien das Wort ergreifen und über das Gelesene reden. Die pietistische Frömmigkeit war aber auch eine Schule der Selbstbeobachtung und der Selbstprüfung sowie ihrer Verschriftlichung in Form von Seelentagebüchern und Selbstbiographien. Die Wahrnehmung seiner selbst als individuelle Person wurde durch diese Praxis gefördert und gilt als Vorstufe der Entdeckung des Subjekts im späten achtzehnten Jahrhundert. Das Tagebuch, das Bräker über dreißig Jahre bis zu seinem Tode regelmäßig geführt hat, erhielt seinen ersten Anstoß aus dieser pietistischen Praxis der Selbstprüfung. In der Forschung herrscht die Ansicht vor, Bräker habe Mitte der siebziger Jahre mehr oder weniger plötzlich zu einem aufgeklärten Weltbild gefunden. Als Erklärung dafür dient die Aufnahme Ulrich Bräkers in die Toggenburger Moralische Gesellschaft im Jahre 1776, die diesem den Zugang zu deren Bibliothek und damit zu vielfältigen Lektüren ermöglicht habe.10 Diese Meinung wird allerdings durch eine Liste der Bücher, die Ulrich Bräker der Gesellschaft im Jahr seines Beitritts (1776) schenkte, relativiert. Diese Büchersammlung fällt durch ihre Schwerpunkte in Theater, Philosophie und Volksaufklärung auf und ist in einem gewissen Sinne sogar »fortschrittlicher« als der Bücherbestand der Toggenburger Gesellschaft, die beispielsweise keine literarischen 5 Vgl. Vermahnung, Vorbericht von 1789, in: ebd., S. 3 f. 6 Johann Arndt, Vier Bücher vom wahren Christentum, Braunschweig 1605–1609 u. ö.; ders., Paradiesgärtlein voller Christlicher Tugenden, Straßburg 1612 u. ö. 7 Samuel Lutz, Jesus der Gecreutzigte [. . .], Bern 1750; ders., Die Neue Welt, Schaffhausen 1734; ders., Die Paradiesische Aloe der jungfräulichen Keuschheit, Herisau 1733. 8 Carl Heinrich von Bogatzky, Güldenes Schatzkästlein der Kinder Gottes, Breslau 1718. 9 Paul Wernle geht so weit zu sagen, dass Bräker »ohne diesen Pietismus vielleicht nie zum Schriftsteller geworden wäre.« Vgl. Paul Wernle, Der schweizerische Protestantismus im achtzehnten Jahrhundert. Bd. 2, Tübingen 1924, S. 284. So auch Karl Pestalozzi, Ulrich Bräkers Lesen und Schreiben, in: Ulrich Bräker und seine Zeit, in: Toggenburgerblätter für Heimatkunde. 36. Heft 1985, S. 89–102. 10 Vgl., ebd., S. 93. Zum Wirken der Moralischen Gesellschaft und deren Bibliothek vgl. Gerhard Sauder, Die Bücher des Armen Mannes und der Moralischen Gesellschaft in Toggenburg, in: Buch und Sammler: private und öffentliche Bibliotheken im achtzehnten Jahrhundert, Heidelberg 1979, S. 167–186.
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Werke besaß.11 Bräker brachte unter anderem das Schauspiel Stella von Goethe (in der Erstausgabe von 1776), Salomon Hirzels Trauerspiel Junius Brutus (Zürich 1761), Moses Mendelssohns Philosophische Schriften (Berlin 1761), Justus Mösers Patriotische Phantasien (Berlin 1775) und Hans Caspar Hirzels Wirthschaft eines philosophischen Bauers in der erweiterten Auflage von 1774 ein. Dass Bräker spätestens seit 1775 intensiv andere als nur erbauliche Literatur rezipierte, geht aus den Tagebuchauszügen der Jahre 1775–1778 hervor, die jedoch verschollen sind und nur noch in der durch Verleger Johann Heinrich Füßli redigierten, stark gekürzten Form vorliegen.12 Gemäß diesen Aufzeichnungen begann Bräker Mitte 1775 alles zu lesen, was ihm unter die Hände kam und diese Lektüren im Tagebuch zusammenzufassen und zu kommentieren.13 Bräker kam im Grunde als bereits »aufgeklärtes« Mitglied in diesen Kreis. Seine Aufklärung, verstanden als »Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit im Denken« und als Hinwendung zu einer weltbejahenden Lebens- und Denkhaltung, muss sich also schon früher vollzogen haben. Paul Wernle, der den »Armen Mann« in seiner Geschichte des Schweizerischen Protestantismus ausführlich behandelt, begründet Bräkers Abkehr vom Pietismus primär psychologisch, auch wenn er den Lektüren ebenfalls einen großen Anteil zubilligt. Er interpretiert sie radikal als »Umschlagen auf die weltliche Seite«.14 Der »gesetzliche, pharisäische Typus« pietistischer Frömmigkeit, der Bräker durch Ehefrau Salome vorgelebt worden sei sowie Bräkers »starke Sinnlichkeit« hätten über die strengen pietistischen Anforderungen obsiegt und diesen »mit Gewalt in das entgegengesetzte Fahrwasser« getrieben.15 Mitte der siebziger Jahre sei Bräker, der bisher »ausschließlich von der Bibel und von mystisch-pietistischer Literatur gelebt hatte« zum »erstenmal auf die Lektüre aller möglichen, ihm gerade in die Hand kommenden geistigen und weltlichen, frommen und unfrommen Schriften [. . .] verfallen«.16 Diese in der älteren Forschung verbreitete dualistische Sicht des Verhältnisses von Aufklärung und Religiosität ist zu schroff und verstellt sich den Blick auf Bräkers effektive Entwicklung. Bräkers Aufklärung stellt in erster Linie eine Emanzipation aus einer ängstlichen und gedrückten Religiosität dar. Sie vollzog sich nicht als Bruch, son11 Bräker brachte diese Bücher 1776 als Einstand mit. Vgl. Alois Stadler, Ein aufschlussreiches Bräker-Dokument. Das Bräkerblatt aus dem Stiftungsbuch der Lesegesellschaft zu Lichtensteig, in: Toggenburger Annalen 15 (1988), S. 42–52, hier S. 44. Vgl. auch Alfred Messerli, Einleitung in: Bräker, Bd. I, S. XXI. 12 Diese Tagebuchauszüge sind ebenfalls in Bräkers Schriften abgedruckt. Vgl. Bräker, Bd. I, S. 718–714. 13 In Füßlis Aufzählung figurieren neben religiösen und erbaulichen auch historische und medizinische Schriften. Vgl. Bräker, Bd. I, S. 719 f. 14 Wernle, Protestantismus (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 284. 15 Ebd., S. 285. 16 Ebd.
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dern in einem längeren Prozess, dessen Spuren in den frühen Tagebüchern festgestellt werden können. Bräkers Gesinnungswandel lässt sich nicht nur psychologisch, auch nicht primär durch den Beitritt zur Moralischen Gesellschaft erklären. Den Ausschlag gab wohl das Zusammenspiel verschiedener, sich ergänzender und durchdringender Faktoren. Ganz wichtig ist die vermutlich 1773 erfolgte Begegnung mit Johann Ludwig Ambühl,17 dem vielseitig interessierten Wattwiler Dichter, Dorfschullehrer und späteren Privatlehrer. Er ist sein eigentlicher Entdecker – durch ihn wurden Bräker vermutlich erste literarische und aufklärerische Lektüren vermittelt.18 Von der Begegnung mit Ambühl dürften also die entscheidenden Impulse zur geistigen Emanzipation des »Armen Mannes« ausgegangen sein. Bräker brach deswegen aber nicht grundsätzlich mit seinen religiösen Werten, dafür war die Prägung zu stark – zutreffender ist es, von einer Modifikation seiner religiösen Vorstellungen durch die Aufnahme aufgeklärter Ideen zu sprechen.19 Die Tagebücher der Jahre 1770 bis 1774 erscheinen nur auf den ersten Blick als ermüdende Wiederholung der immer gleichen Formen pietistischen Schreibens und Welterlebens.20 Auf den zweiten Blick offenbaren sie das Ringen Bräkers um eine Befreiung aus den angelernten Deutungsmustern, seine Zweifel in Glaubensfragen und das Einfließen von Denkweisen und Vorstellungsinhalten, die aus dem aufklärerischen Diskurs stammen. Das Jahr 1773 scheint dabei von besonderer Bedeutung zu sein, denn hier finden sich der erste Dialog und auch die erste Zusammenfassung einer Lektüre. Bräkers Denken und Fühlen schlug nicht unvermittelt in ein, wie immer geartetes, areligiöses oder freidenkerisches Weltbild um,21 auch wenn sich Bräker später deutlich von seiner frühen pietistischen Phase distanziert hat. Vielmehr fand er im Laufe der siebziger Jahre zu einer optimistischen Religiosität, wobei ihm die 17 Diese Vermutung ergibt sich aus dem Vergleich von Tagebuch und Lebensgeschichte. Im Juni 1773 las Bräker die Bekehrungsgeschichte von Struensee und Brandt (Bräker, Bd. I, S. 520 f.). In Kapitel LXXI der Lebensgeschichte mit dem Titel »das saamenkorn meiner autorschafft« (Bräker, Bd. IV, S. 479) erwähnt er den zum Zeitpunkt dieser Lektüre erfolgten Besuch eines Mitglieds der Moralischen Gesellschaft. Gemäß »Chronik« dürfte es sich dabei um Ambühl handeln. Vgl. Christian Holliger, Claudia Holliger-Wiesmann, Heinz Graber u. Karl Pestalozzi, Chronik Ulrich Bräker. Auf der Grundlage der Tagebücher 1770–1798, Bern/Stuttgart 1985, S. 92. Zu Ambühl vgl. Einleitung zu Bräker, Bd. II, S. XIV, sowie Samuel Voellmy, Der Wattwiler Lehrer und Dichter Johann Ludwig Ambühl. 1750–1800. Sonderdruck aus dem »Toggenburger Heimat-Jahrbuch« 10 (1950), S. 5. Sowie Gregor Grob, Johann Ludwig Am Bühls Gedichte, St. Gallen/Leipzig 1803, S. 27 f. 18 Bräker beschreibt diese Szene in Kapitel LXXI der »Lebensgeschichte« ausführlich. Vgl. Bräker, Bd. IV, S. 479. 19 So auch Holger Böning, Ulrich Bräker. Der Arme Mann im Toggenburg – eine Biographie, Zürich 1998, S. 100–109. 20 So die meist abschätzige Beurteilung der frühen Tagbücher. Bräker selbst vertrat diese Ansicht, indem er diese rückblickend als »fruchtloses Gewäsch« disqualifiziert hatte. Vgl. Bräker Bd. II, S. 14. 21 Wernle, Protestantismus (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 284.
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Natur und das Naturgeschehen zu einer Quelle konkreter und vor allem freudvoller Gotteserfahrung wurde. Neben die Religion traten die Dichter Salomon Gessner und Shakespeare, die ihm mit ihren Werken die Möglichkeit boten, aus der Enge seiner Lebensverhältnisse auszubrechen und in »idealischen Welten« zu schwärmen. Den seelischen Rückhalt fand Bräker nach wie vor in der Religion, wenn dies auch in den Tagebüchern der späteren Jahre nicht mehr so stark zum Ausdruck kam.22 Davon zeugt nicht zuletzt das vertrauens- und achtungsvolle Verhältnis zu seinem Seelsorger und literarischen Förderer Martin Imhof23 oder zum jungen Theologen Gregor Grob, den er in der Moralischen Gesellschaft kennen gelernt hatte.24 Dass die religiöse Thematik in den späteren Tagebüchern nicht mehr dominant war, hat in erster Linie mit der neuen Funktion von Bräkers Tagebuch zu tun. Es war zur Werkstatt des »Autors« Bräker geworden und hatte sich von den erbaulichpietistischen Vorbildern gelöst Anhand einiger wiederkehrender Motive und Themen der frühen Tagbücher soll im folgenden versucht werden, den Prozess von Bräkers »Selbstaufklärung« nachzuzeichnen. Die Beispiele zeigen, wie sich Bräker langsam und vorsichtig zu neuen Ideen und Anschauungen vortasten musste und wie er dabei seine neuen Erkenntnisse oft wieder relativierte, weil er sie mit der anerzogenen pietistischen Denkweise und Sozialisation nicht in Einklang bringen konnte.
Leben als Reise: das Tagebuch als Pilgerbericht Das früheste Tagebuch Bräkers stammt aus dem Jahr 1770. Auf die erste Seite, die er mit Blumenranken und Blattmotiven liebevoll bemalt hatte, setzte Bräker ein kleines Gedicht, in welchem er Jesus um Kraft für die vorgenommene Arbeit bittet. Bräker versteht demnach sein Tagebuch als Rechenschaftsbericht 22 Noch 1797 redet Bräker ganz selbstverständlich von den »Seelenhirten«, die sich nach dem Beispiel der Apostel ausschließlich um das Wohl ihrer »Heerde« kümmern sollen. Bräker Bd. III, S. 689. 23 Pfarrer Martin Imhof (1750–1822) war von 1785 bis 1790 Pfarrer der reformierten toggenburgischen Gemeinde Wattwil. Er sorgte dafür, dass die »Lebensgeschichte« bei Orell & Füßli in Zürich gedruckt werden konnte. Zu Wattwil vgl. Samuel Voellmy, Kirchliche Verhältnisse in Wattwil im XVIII. und XIX. Jahrhundert, in: Evangelische Kirchgemeinde Wattwil. Rückblick und Auftrag, Wattwil 1948. Es sind auch einige Briefe Bräkers an Imhof erhalten. Vgl. Bräker, Bd. IV, S. 585–591. 24 Gregor Grob (1754–1824) stammte aus Lichtensteig und war reformierter Theologe. Er war als Hauslehrer tätig und wurde 1806 Präsident des Erziehungsrates im Kanton Sankt Gallen. Bräker und Grob wurden beide 1776 in die Toggenburger Moralische Gesellschaft aufgenommen. Grob war einer der wenigen Freunde, der Bräker bis an sein Lebensende treu blieb. Vgl. Christian und Claudia Holliger, Ulrich Bräker. Beobachter seiner Zeit. Katalog zur Ausstellung, St. Gallen 1985, S. 40.
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für den Tag des Jüngsten Gerichtes.25 In einem zweiten Argumentationsgang rekurriert Bräker auf die literarische Gattung der Reiseberichte, die »von altersher« verfasst, gedruckt »und offt fleisiger gebraucht worden als vil geistliche bücher«.26 Diese weltliche Lektüre wird von Bräker merkwürdigerweise an erster Stelle seines Tagebuchs genannt und verrät Bräkers Interesse an diesen Büchern.27 Doch wird dieses Interesse sogleich wieder relativiert, ja kaschiert, indem Bräker das Reisen nach Hebr. 13,14 im geistlichen Sinne deutet: »nun sind wir in dieser welt ja alle pilger, und reisende nach dem ewigen vatterland. warum solt mir dan nicht auch erlaubt sein eine reiß beschribung zu machen, nach dem ewigen vatterland, für mich und meine kinder.«28
Das literarische Vorbild, das Bräker mit seinem Tagebuch wohl imitieren möchte, ist das weit verbreitete Erbauungsbuch des Puritaners John Bunyan, The pilgrim’s progress. Es war 1678 und 1684 in England erschienen und wurde schon bald im deutschen Sprachraum unter dem Titel Eines Christen Reise nach der Ewigkeit bekannt.29 Die Metaphern der Pilgerschaft, des Lebens als Reise nach Zion und der Denksäulen in Elims Wüste stammen aus Bunyan und BunyanNachahmungen. Sie tauchen in Bräkers frühen Tagebüchern regelmäßig auf.30 Aber auch in den späten siebziger Jahren, also lange nach der erfolgten »Aufklärung« Bräkers, wird das Motiv aus Bunyan wieder aufgenommen. Auf dem Frontblatt für das Tagebuch des Jahres 1779 bezeichnet sich Bräkers zwar als »gern schreibenden erdensohn«, lässt aber an diese Erklärung ein selbstverfasstes Gedicht folgen, das von der »Wanderung durch Elims Wüste« spricht und somit wieder auf Bunyan rekurriert. Im Februar des selben Jahres wird die Pilgermetapher erneut verwendet, allerdings mit einem bezeichnenden Adjektiv: Bräker beschreibt sich jetzt als »denkender Pilger«.31 Der »gern schreibende Erdensohn«, der sich zugleich als »denkender Pilger« versteht, ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich bei Bräker ältere und neue Vorstellungen gewissermaßen ineinander schieben, sich gegenseitig durchdringen und allmählich zu einer neuen Lebenshaltung und Weltsicht führen. Die Reise ist ein Grundmotiv in Bräkers Tagebüchern, sei es als Metapher für einen spirituellen Weg, als imaginäres Reisen durch Lektüren oder als reales Reisen in den neunziger Jahren. Dieses reale Reisen wurde später zum 25 Bräker, Bd. I, S. 121. 26 Ebd. 27 Gemäß Bräkers Wertung von Lektüren in der »Vermahnung« sind Reiseberichte für einen frommen Menschen wenn nicht schädlich, so doch »unnötig«, da sie keine positiven Auswirkungen auf das Seelenheil hätten. Vgl. Bräker, Bd. I, S. 107. 28 Ebd., S. 121. 29 Zur Rezeption von John Bunyan vgl. Auguste Sann, Bunyan in Deutschland. Studien zur literarischen Wechselbeziehung zwischen England und dem deutschen Pietismus, Gießen 1951. 30 Vgl. 21. Oktober 1770; 15. September 1771; 8. März 1772; 7. März 1773. 31 Bräker, Bd. II, S. 44.
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eigentlichen Lebenselixier und zur raison d’être Bräkers.32 Die Reisebeschreibungen waren als literarische Gattung im siebzehnten Jahrhundert aufgekommen und avancierten im achtzehnten Jahrhundert zu einem sehr beliebten und auch von Verlegern sehr geschätzten, weil in der Regel einträglichen Genre.33 Reise- und so genannte Erdbeschreibungen gehören zu den frühesten Lektüren Bräkers und sind, wie zu sehen sein wird, als wichtiges Element im Prozess seiner geistigen Emanzipation zu betrachten. Als literarische Gattung bilden Reisebeschreibungen eine Vorstufe der selbstständigen Ich-Erzählung.34 Bräker selbst illustriert diesen Zusammenhang anschaulich, indem er den Reisebericht, wenn auch in seiner geistlichen Form, explizit als Muster seines autobiographischen Schreibens wählt. Schon den in der »Vermahnung« aufgelisteten nützlichen und unnützen Lesestoffen kann entnommen werden, dass Bräker weltliche Reiseberichte gelesen hat, auch wenn er sie zu diesem Zeitpunkt noch als unnötige »weltliche« Lektüre betrachtet, zumindest für die Adressaten seiner »Vermahnung«, nämlich seine Familienmitglieder.35 Aus einem Eintrag vom Oktober 1772 geht hervor, dass Bräker diese Art von Literatur schon seit längerem besonders geschätzt hat, obwohl dies für ihn als Bauer und als Christ36 im Grunde genommen keine erlaubte Lektüre war. Er notiert unter dem Titel »gedanken über die erdbeschreibungen«: »erdbeschreibungen hab ich immer gern gelesen, insonderheit die welch auch einiger masen di ehre des grosen schöpfers zum zweck hatten.«37
Bräker konstatiert, dass der »ungelehrte Mann« wenig von dem »unbeschreiblich grosen weltgebeü« wisse, denkt dabei aber über die Frage nach, ob es denn für den Landmann überhaupt nötig sei, sich für mehr als die Wunder Gottes in seinem Vaterland, das heißt in seiner engsten Heimat, zu interessieren. Er greift damit Einwände auf, die gegen die Volksaufklärung ins Feld geführt worden waren. Bräker kommt zum Schluss, dass der »fürwitz«, sich für andere Länder und Völker zu interessieren, dem »ungelehrten Mann« nicht schaden könne, wenn er dadurch angeregt werde, die Allmacht, Güte und Weisheit Gottes zu bewundern und ihn dafür »anzubeten, zu lieben, zu ehren und zu fürchten«.38 Bräker bestätigt und illustriert diese positive Wirkung, 32 Vgl. Einleitung zu Bräker, Bd. III, S. XXI–XXV. 33 Vgl. Wolfgang Griep, Reiseliteratur im späten 18. Jahrhundert, in: Rolf Grimminger (Hg.), Sozialgeschichte der deutschen Literatur, München 1984, Bd. 3.2, S. 739–764. 34 Die Reiseberichte sind auch als literarische Vorstufe der selbstständigen Ich-Erzählung bedeutungsvoll. Vgl. dazu William Edward Strabane, Die Reisebeschreibung und ihre Theorie im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Diss., Bonn 1978, besonders S. 114–144. 35 Vermahnung, Bräker, Bd. I, S. 107. 36 Die Reiseliteratur war aus kirchlicher Sicht suspekt, da sie mit der Sünde der Neugier in Zusammenhang gebracht wurde. Vgl. Strabane, Reisebeschreibung (wie Anm. 34), S. 116. 37 Bräker I, 446 (27. Oktober 1772). 38 Ebd. Zur zeitgenössischen Debatte über Sinn und Nutzen der Volksaufklärung vgl. die
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indem er in eine lobende Anrufung Gottes übergeht. Das Gotteslob kulminiert im Lob des Verstandes, der von Gott den Menschen zum Gebrauch und zur Erforschung seiner Werke gegeben worden sei.39 Diese Sichtweise hebt sich von der sonst herrschenden weltflüchtigen Stimmung ab. Der unmittelbar auf diese Betrachtung folgende Eintrag macht aber deutlich, wie schwer es für Bräker gewesen sein muss, die inneren und äußeren Hindernisse seiner Emanzipation zu überwinden. Sich bilden hieß lesen, hieß den Horizont erweitern – das hatten auch die Volksaufklärer erkannt, die vornehmlich durch gute Schriften auf weitere Bevölkerungsschichten einzuwirken versuchten. Aber Lesen bedeutete auch, nicht dauernd und rastlos zu arbeiten – das wurde aber von der bäuerlichen Umgebung als Faulheit und als Müßiggang ausgelegt. Besonders mit seiner Frau Salome stritt Bräker häufig wegen seines Lesens und Schreibens.40 Unter dem Titel »lob der nützlichen arbeit« listet Bräker alle Gründe auf, die »uns treiben sollen gern und willig zu arbeiten«.41 Er versucht hier offenbar, sich selber wieder zur Raison zu bringen, wohl auch, indem er Argumente seiner frommen Ehefrau notiert. Dem vermutlich erfolgten Vorwurf, er sei faul, begegnet er mit dem Argument, dass er von seinem »naturel«, von seiner Konstitution her nicht für schwere Arbeit geschaffen sei und bekennt ohne Umschweife, dass er lieber ein anderes Leben führen würde: »es wäre mir auch ein geringes ohne sonderbare arbeit durch die welt zu kommen. Allein um des villen leiblichen und geistlichen nutzens wegen, thu ich meinem faullen fleisch gewalt an und zwenge es zur arbeit.«42
Bräker muss seine Lese- und Bildungslust nicht nur gegen eigene religiöse Bedenken verteidigen, sondern auch gegen sein soziales Umfeld, das diese Habilitationsschrift von Thomas K. Kuhn, Religion und neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegung (Publikation in Vorbereitung). Es ist denkbar, dass Bräker durch Ambühl mit volksaufklärerischen Ideen und Zielen bekannt gemacht worden war. 39 Dieses Lob tönt geradezu enthusiastisch: »wie groß ist deine gütte gegen die menschen, wie ville millionen ungerathene kinder hast du unter der sonnen, denen du so viel guttes tust, das es nicht zu beschreiben ist. du hast dem menschen verstand gegeben, das dieselbe deine werke erforschen, u[n]d deiner weißheit nachgrüblen, und deine gütte erkenen sollen. aber der kleinste theil wird noch nicht erforschet, das wenigste wird erkandt, es wird wol eine ewigkeit erforderet werden an deinen werken weißheit und gütte zu studieren, um dich ewiglich zu loben.« (Bräker, Bd. I, S. 447). 40 Klagen Bräkers über Zank mit der Ehefrau füllten in den achtziger Jahren regelmäßig das Tagebuch. Vgl. auch den Eintrag vom 5. Januar 1779, mit der Überschrift »was sagt die frau dazu«: »allezeit ist verlohren, sagt meine frau, wo mann nicht arbeitet, bettet; oder laut ein morgenseegen, ein capitel aus der bibel, oder aus Arnds christenthum liset. – fort mit dem allerley lesen, fort mit dem schreiben; fort mit dem besuchen. was braucht ein armer lümel des zügs; welches nur vor vornehme leüte gehört, die gelts genug haben und sonst nichts zuthun wüssen.« (Bräker Bd. II, S. 7). 41 Bräker, Bd. I, S. 447 f. (28. Oktober 1772). 42 Ebd., S. 448.
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Bedenken verinnerlicht hat. Die hier geschilderte Abfolge von Tagebucheinträgen zeigt ein für die frühen Tagebücher typisches Phänomen. Wenn Bräker Gedanken erprobt, die von seinem frommen Weltbild abweichen, nimmt er diese in der Regel unmittelbar darauf wieder zurück oder relativiert sie. Dieses gedankliche Vorpreschen und das unmittelbar darauf folgende Zurückweichen lässt eine Grundspannung erkennen, die im Tagebuch aber noch nicht reflektiert wird. Sie resultiert aus dem Gegensatz von Neugier43 und Frömmigkeit. Bräker darf sich seinen neugierigen, Welt zugewandten Trieb, nicht zuletzt aufgrund seiner Selbststilisierung als Pilger ins himmlische Vaterland, nicht eingestehen. Dennoch zieht es den geistlichen Pilger offenbar immer wieder zur Lektüre von weltlicher Reiseliteratur und diese regt ihn zum Nachdenken, zum »raisonnieren« an: Die Informationen über andere Länder und andere Sitten bedeuten für den Toggenburger Garnhändler auch im übertragenen Sinne eine Horizonterweiterung. Die dadurch ausgelösten Raisonnements blitzen – es scheint manchmal fast gegen den Willen Bräkers zu geschehen – im Tagebuch auf und durchbrechen inhaltlich den Bericht der inneren Kämpfe einer frommen Seele. Am Ursprung von Bräkers Abkehr vom pietistisch geprägten Weltbild steht die intellektuelle Neugier, nicht die Unerfüllbarkeit der sittlichen Gebote, wie dies etwa von Wernle insinuiert wird. Das Interesse am Reisen und an den Reisebeschreibungen ist ein konkreter Ausdruck dieser Neugier. Es bildet auch die geistige Parenthese, innerhalb derer das Tagebuch Bräkers im Laufe von dreißig Jahren evoluiert und diesen in einem gewissermaßen privaten Säkularisationsprozess vom (imaginären) geistlichen Schriftsteller zum reisenden Zeitgenossen und -zeugen werden lässt.
Armut, Seuchen und Tod: Bräkers Zweifel an religiösen Deutungsmustern Als Bräker 1770 sein Tagebuch zu schreiben begann, nahm eine zwei Jahre andauernde Teuerungs- und Hungerkrise ihren Anfang, die als Folge der Missernten der Jahre 1768 und 1769 auftrat. Sie traf insbesondere die Bevölkerungsschichten, die im Textilhandel (Garnverkauf und Weben) ihr Auskommen fanden. Auch Ulrich Bräker war davon betroffen, denn er hatte im März 1759 begonnen, als Garnhändler oder so genannter »Fergger« sein Auskommen zu suchen.44 Das Tagebuch von 1770 ist über weite Strecken von der 43 Zur Bedeutung der Neugierde oder »Curiosität« im Prozess neuzeitlichen Denkens vgl. Gerhard Sauder, Galante Ethica und aufgeklärte Öffentlichkeit in der Gelehrtenrepublik, in: Rolf Grimminger (Hg.), Sozialgeschichte der deutschen Literatur, München 1984, Bd. 3.1, S. 222. 44 Bräker richtete 1762 einen Webkeller ein und lernte weben, daneben betrieb er weiterhin einen kleinen Garnhandel, aber auch etwas Landwirtschaft. 1768 überließ er den Garnhandel seiner Frau und versuchte sich als Webfabrikant, weil er hoffte, von den Webern weniger übers Ohr gehauen zu werden als von den Spinnern. Bräker befand sich aufgrund seiner durch den
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Auseinandersetzung mit der aufkommenden Teuerung geprägt, die von Bräker ganz traditionell als Drohung Gottes für das sündige Treiben der Menschen interpretiert wurde.45 Im Oktober notiert er im Tagebuch verschiedene Erklärungen der Teuerung wie Lebensmittelsperren, schlechtes Geld, Wucher etc. und bemerkt bekümmert: »nur unseren sünden wollen es wennige zuschriben und das es gottes dreüende hand sey. ach gott bringe doch du uns alle zu einer wahren buß.«46 Bräker nimmt die Not zunächst widerspruchslos hin und interpretiert sie als eine Strafe Gottes für die Sünden des Menschen. Innere Spannungen manifestieren sich erst im folgenden Jahr, als Bräker zunehmend in ökonomische Bedrängnis kommt. Selbstermahnungen und Anrufungen des Heilands wechseln sich ab, bis Bräker im Juli unter dem Titel »unwillig arm« zugibt, dass er seine bedrängte Situation nur mit Mühe annehmen kann.47 Der Eintrag endet mit der Erwähnung der Lektüre von Erdbeschreibungen, die Bräkers Ausbruchswünsche nähren und ein Hinweis darauf sind, dass er nicht so schicksalsergeben ist, wie er sich in seinem »Pilgertagebuch« gerne darstellen möchte: »o der vilen eitelkeiten in meinen gedanken; müsen dies gedanken nicht mir meine armuth bitter und schwär machen; da ich doch immer am alten ort bin, wan ich von diesen süsen treümen erwache; die geograhfischen bücher erweken auch noch solche begirden in mir.«48
Bräker hat möglicherweise mit einer Auswanderung geliebäugelt, aber Genaueres ist aus dem Tagebuch nicht zu erfahren. Im folgenden Eintrag ruft sich Bräker wieder zur Ordnung und versucht, unter dem antithetischen Titel »willig arm« die Armut als wahre Christusnachfolge zu rechtfertigen. Doch kann er sich damit nicht wirklich beruhigen, denn der Eintrag endet mit der
Hausbau von 1761 verursachten massiven Verschuldung dauernd in Existenznot. Die Teuerung von 1770/71 traf ihn ohne jeden finanziellen Rückhalt. Die damit einhergehende Hungersnot kostete Tausenden das Leben, auch Bräker verlor 1771 zwei seiner Kinder. 1771 gab er das Weben auf und widmete sich wieder dem Garnhandel und anderen Arbeiten (z. B. Sargherstellung, Salpetersieden). 1779 betätigte er sich wieder als Webfabrikant und erlebte eine kurze Zeit wirtschaftlicher Prosperität. 1785 ereilten ihn jedoch die Folgen des französischen Einfuhrverbots und riefen die alten ökonomischen Sorgen wieder auf den Plan. Das Gewerbe verschlechterte sich kontinuierlich, englisches Maschinengarn begann ab 1795 das handgesponnene Garn zu verdrängen, der Konkurs des Schwiegersohns riss auch Bräker ins Verderben, der 1798, in seinem letzten Lebensjahr, den Bankerott erklären und sein Haus den Gläubigern überlassen musste. Vgl. Albert Tanner, Das ganze Land eine »Baumwollenfabrik« – Ulrich Bräker als Garnhändler, Weber und kleiner Fabrikant, in: Ulrich Bräker und seine Zeit. In: Toggenburger Vereinigung für Heimatkunde, 36. Heft (1985), S. 51–67. 45 Bräker, Bd. I, S. 211 (17. September 1770). 46 Ebd., S. 224 (29. Oktober 1770). 47 Bräker, Bd. I, S. 341 (10.–14. Juli 1771). Bräker bezeichnet sich hier im übrigen erstmals als »armen Mann«. 48 Ebd., 342 (10.–14. Juli 1771).
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Bitte: »mein gott, gib mir doch zu erkennen wie gefährlich der reichtum seie, und hingegen wie heilsam die armuth.«49 Im Juli 1772 haben sich die Preise wieder normalisiert, aber Bräker stellt fest, dass es besonders die armen Leute hart getroffen hat und dass noch viele vom Konkurs bedroht sind.50 Bräker nimmt eine scheinbar über den Dingen stehende Position ein und interpretiert die aufregenden Geschehnisse nach 1. Joh. 2,17 als Wesen dieser Welt, das vergehen werde. Er stellt angesichts der unsicheren Lage sein Leben ganz Gottes Führung anheim.51 Aber so schicksalsergeben und jenseitsbezogen, wie das Tagebuch hier suggerieren möchte, ist Bräker nicht. Im Januar 1772 hat er begonnen, in einem separaten Büchlein52 Lebensmittelpreise, Naturereignisse und Nachrichten von möglichen epidemischen Krankheiten zu notieren. Das heißt, er will nicht nur untätig zusehen und ausschließlich auf die Providenz vertrauen, sondern er versucht, sich in den verwirrenden Zeitläufen durch empirische Beobachtung zu orientieren, um möglicherweise steuernd eingreifen zu können. Diese Beobachtungen werden aber vom Tagebuch separiert, das nach wie vor nach dem intendierten literarischen Muster ausschließlich Ausdruck der geistlichen Reise Bräkers sein soll. Wohl unbewusst nimmt Bräker bereits eine Art Teilung zwischen der Selbststilisierung, die er in seinem Tagebuch betreibt und seinen ihn zunehmend stärker bewegenden weltbezogenen Interessen vor. Die traumatischen Erfahrungen von 1770/71, die finanzielle Not, der Hunger und der plötzliche und frühe Tod vieler Menschen werden erst zwei Jahre später in einer Abfolge von Gesprächen – die ersten Dialoge Bräkers im Tagebuch – thematisiert. Dass die Form des Dialogs gewählt wird, bedeutet einen entscheidenden Schritt auf Bräkers Weg der intellektuellen Emanzipation. Erstmals versucht Bräker, seine Gedanken und Gefühle nicht in Form von Gebeten, Anrufungen oder Andachten zu formulieren, sondern er trennt das eigene Erleben von der religiösen Deutung seiner Situation. Bezeichnenderweise betitelt Bräker seine Überlegungen mit »sprache der unzufriedenheit« respektive »sprache der zufriedenheit« und gibt damit zu erkennen, dass er sich erstmals mittels Rede und Gegenrede, das heißt auf diskursive Weise, mit seiner Lebenssituation auseinander zusetzen versucht. Dies entspricht der »sokratischen Methode«, die bei den Aufklärern als pädagogisches Mittel in hohem Ansehen stand. In der »sprache der unzufriedenheit« kann Bräker unumwunden seine massive Unzufriedenheit ausdrücken: 49 Bräker I, 342 (17.–27. August 1771). 50 24./25. Juli 1772: »jetzunder hoffe und glaube ich, und vast jedermann, wir haben die dißmalige theüre vast überstanden. aber der gemeine mann ist sehr verarmet, also das hin und wider sehr vile valit [sc. Konkurs machen] werden.« (ebd., S. 425). 51 Ebd. 52 Vgl. »cronick auf das Jahr 1772 darin ich durch alle 12 monat auf schreiben kan, was hin u. wider merkwürdiges pasiert. jnsonderheit was den preiß der lebens-mittlen anbetrifft.« Als Anhang in das Tagebuch von 1770 eingebunden. Vgl. Ebd., S. 267–274.
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»was hab ich doch in deiser gegenwertigen welt nichts als angst, kummer, wiederwertigkeit, verdruß und lauter ungemach. jch mag anstellen was ich will, so geht nichts nach meinem willen, alle meine sachen schlagen fähl; und anderen gerathen sey so wohl [. . .] jch aber bin ein armer tropf, hab kaum ein fußbreit eigenes an einem schlechten ort. nie hab ich zu essen noch zu trinken was ich gern möcht: ich hab nirgen kein vernügen, wenig ruh, vilmehr allerhand ungemach, und lautter unbeliebige arbeit. darzu wird ich noch von jederman veracht und außgelacht [. . .]«53
In der »sprache der zufriedenheit« versucht Bräker seine Unzufriedenheit durch Gegenargumente zu entkräften. Anders als bisher wird die Unzufriedenheit nicht als »eitles Wünschen« oder »sündliches Verlangen«54 qualifiziert, sondern als Ausdruck der mangelnden Einsicht in die weisheitsvolle Lenkung der Welt durch Gott. Gott wird nicht als strafender, sondern als »weiser und gütiger Baumeister« geschildert, der den Menschen »mit verstand begaabet das [er] die wege und werke des herrn betrachten kann«55. Das Unglück soll nicht bloß als Strafe verstanden, sondern auf seinen Sinn, der im Sinne der leibnizischen Theodizee als weisheitsvoll supponiert wird, befragt werden. Das anthropologische Konzept, das sich in der solchermaßen abgehandelten Fragestellung abzuzeichnen beginnt, ist nicht dasjenige des Sünders, sondern dasjenige des auf Erkenntnis zielenden Menschen. Das Ansprechen des Verstandes des Menschen und seiner Einsichtsfähigkeit tönt nach einer gemäßigt aufgeklärten Theologie. Auch die Begriffe, die Bräker benutzt, um die Armut zu plausibilisieren, nämlich die Gegensatzpaare Müßiggang – Arbeit, Langeweile – Arbeit, Spiel – »Pflanzwerk« (bäuerliche Arbeit) und »Schleckwerk« (Luxusspeisen) – »Kraut« (Gemüse) erinnern an das sittenkritische Programm der frühaufklärerischen Gedichte des jungen Albrecht von Haller56 und kehren in den Argumenten der Volksaufklärer wieder.57 Bräker scheint mit aufklärerischen Ideen in Kontakt gekommen zu sein, die seine bisherigen Denkformen und Deutungsmuster aufzuweichen beginnen. Zum Kern des Problems kommt Bräker in der »sprache eines mißvergnügten menschen«. Denn das wichtigste Argument, das ihm sein schweres Leben auf Erden erträglich machen soll, nämlich die Aussicht auf ein besseres Leben im Jenseits, hat für ihn keine Überzeugungskraft mehr:
53 Ebd., S. 530 (1. August 1773). 54 Zum Beispiel in einem Gedicht vom 2.4. August 1771, das Bräker unmittelbar auf seine Gedanken über willige und unwillige Armut folgen ließ. Ebd., S. 344. 55 Ebd., S. 531 (8. August 1773). 56 Vgl. z. B. Gedichte des Herrn von Haller, Sechste Auflage. Mit der französischen Übersetzung, und den verschiedenen Lesarten der erstern vermehret, Zürich (Heidegger) 1750. Sowie: Albrecht von Haller, Gedichte. Herausgegeben und eingeleitet von Ludwig Hirzel, Frauenfeld 1882. 57 Vgl. Kuhn, Religion und neuzeitliche Gesellschaft (wie Anm. 38).
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»man vermahnet mich zwar from zuleben, und tröstet mich mit einem zukünfftigen beseren leben; allein ich wollte lieber, dass deises jetzige leben beser wäre, und lang genug wehren thäte: zum from sein hab ich weder lust noch krafft, und jenes leben kenn ich nicht; habe auch nicht lust zu dem, worein mann sagt das es bestehen werde. man schwätz[t] mir zwar vil vor, aber ich kann es nicht glauben, ich wird nur immer unruhiger und maßleidiger es ist noch keiner zuruk komen und hat gesagt wie es ihm gegangen sey; habe ich hier nichts guts was werde ich dan dort haben, ich weiß nicht einmal ob ich dort auch etwas sein werde, man sagt es mir wohl, aber die es mir sagen wüsen es selbst nicht, dan sey sind noch nie jenseits des grabs gewesen. jch kann es nicht begreiffen, das gott sol allmächtig sein, und es guth mit mir meinen; und mich doch so elend lasen in dieser welt [. . .]«.58
In diesem Eintrag bricht es quasi mit elementarer Gewalt aus dem »armen Mann« heraus: Die traditionellen Deutungsangebote können ihn mit seinem Schicksal nicht versöhnen. Insbesondere die Jenseitsvertröstung kann er nicht hinnehmen, weil diese nicht durch Erfahrung bezeugt werden könne. Auch hier bringt Bräker eine zentrale Kategorie aufgeklärten Denkens ein, nämlich die Empirie. Zweifel an der Auferstehung haben ihn schon früher geplagt,59 dies wird sich bis an sein Lebensende nicht ändern.60 Und Bräker zweifelt in seinem Unmut auch an der Gerechtigkeit und Güte Gottes, weil dieser ihm ein so elendes Leben zumutet. Aber auch dieser Ausbruch wird wieder zurückgenommen. In der »antwort eines vergnügten« wirft sich der Tagebuchschreiber vor, dass er seinen Jammer und sein Elend selbst mache, weil er unzufrieden und ungläubig sei und weil er nicht glauben könne, dass es eine Ewigkeit und einen Gott gebe, der das Gute belohnt und das Böse straft. Diese Argumente sind ein offensichtlicher Zirkelschluss und können das Vorhergehende nicht entkräften. Ob Bräker die »antwort eines vergnügten« akzeptieren kann oder ob er damit vielmehr die Fadenscheinigkeit der Argumentation hervorheben will, kann nicht entschieden werden. Fest steht, dass in einer unmittelbar darauf folgenden »ernd-betrachtung« wieder das Bild der besten aller Welten gezeichnet wird.61 Damit folgt Bräker einmal mehr seinem nun bekannten Muster. Entscheidend ist aber weniger der Schluss dieser Auseinandersetzung, als vielmehr ihre Form: Bräker hat seine Befindlichkeit erstmals diskursiv darzustellen versucht, und dies bedeutet einen entscheidenden neuen Einschlag in seine bisherige Denkweise.
58 Bräker, Bd. I, S. 532 (18. August 1773). 59 Vgl. den 27. Oktober 1771, Bräkers Gedanken zu einer Predigt über Unsterblichkeit und Auferstehung. Ebd., S. 366. 60 Im Februar 1774 macht sich Bräker »gedanken über die vermehrung des menschlichen geschlächts« und über die unvorstellbare Zahl von Auferstandenen am Jüngsten Tag. Ebd., S. 602. Wenige Monate vor seinem Tod kommt Bräker auf dieses Thema zurück und bekennt, dass er die Auferstehung zwar wünschen, aber nicht glauben könne. Vgl. Bräker, Bd. III, S. 767. 61 Vgl. Bräker, Bd. I, S. 533–535 (19. August 1773).
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Erlaubtes und nicht Erlaubtes: Die Sorge für die Gesundheit Am Umgang mit Körper und Gesundheit, etwa mit dem Aderlass, lässt sich exemplarisch nachvollziehen, wie aufklärerische Sichtweisen in Bräkers Denken einfließen und allmählich pietistische Deutungsmuster und -verfahren ablösen. Körper und Gesundheit haben Bräker, wie seine übrigen Zeitgenossen, fasziniert und beschäftigt. Eine der erfolgreichsten Wochenschriften des späten achtzehnten Jahrhunderts war dieser Thematik gewidmet62, und wohl nicht zufällig gehören zu den frühen Lektüren Bräkers die volksmedizinischen Schriften der Ärzte Zimmermann63 und Tissot64, die von den Patrioten und Volksaufklärern eifrig propagiert wurden.65 Am 1. März 1774 macht sich Bräker »aderlässe gedanken«.66 Der Eintrag ist als »zufällige Andacht« konzipiert67 und besteht aus drei Teilen. Er beginnt mit einer Beobachtung aus dem täglichen Leben (Aderlass), der eine geistliche Interpretation dieses Sachverhalts folgt und mündet in eine Anrufung des Heilands. Das Aderlassen wird als »Gewohnheit« und als »dienliche ubung zur gesundheit des menschen« bezeichnet. Er sei ein »Mittel zur Gesundheit«, welches man »gerne thut, will es dem leib am wenigsten schmertzen verursachet«.68 Die geistliche Interpretation, die so genannte Applikation, wird mit der folgenden Überlegung angeknüpft: »mancher meint aber eine krankheit mit einer aderlässe zu vertriben, da doch nur das gutte blut versprützt; wil er sich inwendig angreiffen sollte. mancher ist inwendig vol unreinigkeit, unrath u. schlam; da meint er eine ußwendige aderlässe sol ihm zur gesundheit helffen; da er doch vielmehr zu erst seinen inwendigen schaden angriffen sollte mit scharffen medicinen.«69
Die Applikation wird mit dem Satz eingeleitet »diß ist wol ein treffliches bild des geistlichen«70, woran sich eine Kritik des »äußerlichen Gottesdienstes« 62 Vgl. dazu Mattias Reiber, Anatomie eines Bestsellers. Johann August Unzers Wochenschrift »Der Arzt« (1759–1764), Göttingen 1999. 63 Johann Georg Zimmermann, Von der Erfahrung in der Arzneykunst. 2 Bde., Zürich 1763 und 1764. 64 S.[amuel-]A.[uguste-André-]D.[avid] Tissot, Von der Gesundheit der Gelehrten, Zürich 1770; ders., Von den Krankheiten vornehmer und reicher Personen an Höfen und in großen Städten, Frankfurt/Leipzig 1770. 65 Füßli nennt sie in seinen Auszügen aus Bräkers Tagebuch von 1775. Vgl. Bräker, Bd. I, S. 719. Dazu kommt auch eine ältere Schrift: Cornelius Bontekoe, Kurtze Abhandlung von dem Menschlichen Leben, Gesundheit, Kranckheit und Tod, Budissin 1685. 66 Bräker, Bd. I, S. 614 f. 67 Vgl. dazu Martin Scharfe, Die Religion des Volkes. Kleine Kultur- und Sozialgeschichte des Pietismus, Gütersloh 1980, S. 97–102. 68 Bräker, Bd. I, S. 614. 69 Ebd., 614 f. 70 Ebd., 615.
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schließt, der nicht genüge, um die Gnade zu erlangen, da man damit dem alten Adam nicht ernsthaft weh tue. Vielmehr müsse man wachen und beten, streiten und kämpfen und sich Jesus als dem »geschickten und weisen seelen artzt gantz übergeben«.71 Die Andacht endet mit der Anrufung des Heilands, dem man nicht nur eine, sondern alle Adern geöffnet habe, was zudem nicht zu seinem, sondern zum Heil der anderen geschehen sei.72 Am 30. September 1774 notiert Bräker in einem sehr kurzen Eintrag, dass er laxiert habe. Das pietistische Deutungsmuster klingt an, wenn Bräker konstatiert: »der güttige schöpfer hat allso auch mittel verordnet zur gesundheit des leibs; und man braucht sey viel fleisiger als die artznei der seelen. Ach herr Jesu heile auch meine kranke seele.«73
Der nächste Eintrag datiert vom 2. Oktober 1774. Bräker macht sich hier Gedanken über den kürzlich erfolgten Aderlass. Der Bericht mit dem Titel »sorge der gesundheit« ist wiederum in drei Teile gegliedert, jedoch wird kein geistlicher Bezug mehr hergestellt. Die Argumentation baut auf der Feststellung auf, dass die Gesundheit eine Gabe Gottes sei und dass der Mensch die Pflicht habe, diese zu erhalten. Bräker muss sich allerdings immer noch religiös rechtfertigen, denn er fügt explizit an, dass es eine »erlaubte Sorge« sei, für die Gesundheit des Körpers zu sorgen.74 Der Analogieschluss zur Gesundheit der Seele wird auch wieder hergestellt, aber er ist für die Argumentation nebensächlich und dient mehr als Auftakt zu den Gedanken, die der leiblichen Gesundheit gewidmet sind: »aber gleich wie die gesundheit der seelen am meisten verwahrloset wird, also wird auch die gesundheit des leibs (obschon weniger) verwahrloset. dan man thut sehr vieles das der gesundheit nachtheilig ist in esen und trinken, im schlaffen und wachen; im arbeiten und im müsig gehen; dan alles hat sein zil und maß; und ein vernünfftiger weiß es zu halten, aber ein lüstling thut, was ihn gelüstet, und denkt nicht es möcht im an der gesundheit schaden.«75
Bräker benutzt wieder aufklärerische Kategorien, indem er mit dem Gegensatzpaar Vernünftiger – Lüstling arbeitet und auf den Begriff des Sünders verzichtet. Die Lehre, die Bräker aus seiner Betrachtung des Aderlassens zieht, ist keine geistliche, sondern eine im Sinne der aufgeklärten Tugendlehre moralische, die auf eine vernünftige und maßvolle Lebensführung zielt: 71 Ebd. 72 Ebd. 73 Ebd., S. 685. 74 Ebd. Zu Geboten und Verboten und der Körperfeindlichkeit strenger Pietisten vgl. Scharfe, Religion des Volkes (wie Anm. 67), S. 78–82. 75 Bräker, Bd. I, S. 685.
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»mein liebes kind, sey doch klug auch in deisem stuk; so edel und so lieb dir deine gesundheit ist: prüffe wol waß deinem leib gesund, oder waß im ungesund ist; lebe diät, mäsig und nüchter in allen sachen; bißweillen fasten ist auch ein gesundes mittel der gesundheit; wie auch fleisig und ordentlich arbeiten«76
Während die »aderlässe-gedanken« mit dem direkt an den Heiland gerichteten Satz: »o unbegreiffliche liebe, wer kann dir vergelten«77 enden und damit in einem transzendenten Bezug verharren, bittet Bräker jetzt um Weisheit und Verstand: »der herr schenke uns doch allen weisheit und verstand in allen dingen«. Nicht die Bitte um Gnade und um Erlösung von den Sünden stellt das Fazit dar, sondern die Bitte um Vernunft und Einsicht.
Irdisches Vergnügen in Gott: Bräker als Sonnenverehrer Bräker konnte sich in den frühen siebziger Jahren allmählich von seiner Fixierung auf die eigene Schwachheit und Sündhaftigkeit lösen und eine Religiosität entwickeln, die vor allem in der Herrlichkeit und Schönheit der Natur ihren stärksten Rückhalt fand. Seine frühen Naturgedichte und Naturbetrachtungen sind dabei weniger Ausdruck einer pantheistischen Religiosität, sondern sie erinnern vielmehr an Barthold Heinrich Brockes weit verbreitetes, von der Physikotheologie geprägtes »Irdisches Vergnügen in Gott«78 – wobei es allerdings keinen direkten Hinweis darauf gibt, dass Bräker dieses gelesen hat. Die Hinwendung zu einem physikotheologischen Religionsverständnis zeichnet sich im Umfeld seiner bewussten Auseinandersetzung mit einem zentralen Gebot pietistischer Praxis ab, wonach sich wahre Frömmigkeit am aufrichtigen Tränenvergießen über die eigene Sündhaftigkeit erkennen lasse. Bräker gibt nämlich, kurz vor seinem Bekenntnis, ein »Sonnenverehrer« zu sein, das einzige Mal zu, dass er dieses wichtige Kriterium pietistischer Frömmigkeit niemals habe erfüllen können. Am 6. September 1773 notiert er: »es machte mir offt sehr bange; wan ich von deisen und jenen frommen seelen gelesen, wie sey in ihrer buße heüfige thränen vergosen, wegen ihren sünden, und ich, als der 76 Ebd., S. 685 f. 77 Ebd., S. 615. 78 Vgl. Barthold Heinrich Brockes, Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalischund Moralischen Gedichten, Hamburg 1721. In Zürich wurde eine der vielen und beliebten Vertonungen von Brockes veröffentlicht. Vgl. Barthold Heinrich Brockes und Johann Kaspar Bachofen, Irdisches Vergnügen in Gott. Bestehend in physikalisch-moralischen Gedichten mit musicalischen Compositionen begleitet von Johann Caspar Bachofen, Zürich 1740. Zu Brockes vgl. Leif Ludwig Albertsen, Erstes Gebot Gottes, Genieße die Wirklichkeit. Eine Beschreibung von Brockes, in: Karl Richter (Hg.), Gedichte und Interpretationen. Bd. 2, Stuttgart 1983, S. 57–66.
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groste sünder, habe wegen meinen villen sünden noch niemals weinen können, wan ich schon wegen denselben betrübt gewesen bin; [. . .]«79
Der Wunsch muss so stark gewesen sein, dass Bräker, wie er im gleichen Eintrag berichtet, schließlich im Traum über seine Sünden ausgiebig weinen konnte, wofür er dem Heiland dankt.80 Die fromme Weltverneinung mit ihren konsequenten Verboten irdischer Freude81 muss Bräker zunehmend bedrückt haben und ihn bewogen haben, nach Auswegen zu suchen. Aus dem Tagebuch geht hervor, dass die Hinwendung zur Natur und ihren Schönheiten in engem Zusammenhang mit Bräkers Unfähigkeit zu wahrer Zerknirschung steht und als Absage an die Freudlosigkeit einer strengen frommen Lebensweise zu interpretieren ist. Unter den Naturschönheiten ist es insbesondere der Frühling, der Bräker in eine Hochstimmung versetzt. Diese Jahreszeit wird im Tagebuch regelmäßig thematisiert, auch schon in den frühen Jahren, hier allerdings nie ohne geistliche »Applikation«. In bezug auf das Naturerleben deutet das Jahr 1773 wiederum einen Wandel an, indem hier erstmals Naturschilderungen auftreten, die pures Gotteslob sind und nicht in einer zerknirschten Applikation enden. Der 2. Mai 1773 ist mit »schönheit der natur« betitelt und beschreibt die von Gott geschaffene Schönheit der Welt, die von keinem Künstler übertroffen werden könne.82 Unmittelbar darauf folgt am 16. Mai ein Eintrag mit dem Titel »frühlings gedanken«, in welchem Bräker seine Freude und sein Entzücken am Naturgeschehen nochmals zur Sprache bringt, jedoch wieder auf pietistische Weise appliziert. Allerdings spricht Bräker in auffallend abstrakten Termini von den »oberen krefften«, ohne welche die Erde wüst, öde und tot bleiben müsste, und er ruft am Ende die »himlische sonne« an, wobei es offen bleiben kann, ob damit Jesus gemeint ist oder die Sonne selber. Dass die Sonne nicht nur als Symbol, sondern auch als Stern verehrt werden kann, spricht Bräker im Herbst des gleichen Jahres aus. Bräker sieht in der Sonne eine »edle Gabe des Allerhöchsten«, ein »allerschönstes licht«, ein »unbegreiffliches licht«, von dem schon viele hochgelehrte Männer geschrieben hätten. Er kann gut begreifen, dass es Kulturen gibt, in welchen die Sonne angebetet wird: »jch verwundere mich nicht so sehr, wan schon gewüse nationen in der welt, sey als gottheit verehren«83, und er bekennt: »jch bin auch ein verehrer 79 Bräker, Bd. I, S. 541. 80 Ebd. 81 Die Kategorien des Erlaubten und nicht Erlaubten waren in Bräkers Bewusstsein tief verankert, wie schon aus seinen Gedanken zur Sorge um die körperliche Gesundheit hervorgegangen ist. 82 Ebd., S. 517 f. Der Text ist als Prosatext geschrieben, erweist sich aber als gereimt. Vermutlich hat Bräker unabsichtlich gereimt, denn es gibt viele Einträge, die als Gedichte kenntlich gemacht sind. 83 Ebd., S. 559. Hier wird im übrigen wieder erkennbar, dass die Lektüre von Reise- und Erdbeschreibungen ganz wesentlich zur Horizonterweiterung Bräkers beigetragen hat.
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der sonne; ich verehre sey als eine grose gaabe des herren. als ein unbegreiffliches meisterstuck des allerhöchsten, als ein bild des ewigen liechts u. der ewigen klarheit.«84 Die Sonne wird hier nur in letzter Instanz ein Bild für den transzendenten Gott. Und sie ist nicht nur ein Gegenstand der Verehrung, sondern auch eine Quelle der Freude und Lust: »sey beleüchtet den gantzen weiten umkreiß der erden: sei erwermet alle lender der erden: sey ist eine lust der menschen u. eine freüde alles des was leben u. odem hat.«85 Diese Freude und Lust ist aber für den pietistisch geprägten Bräker nach wie vor ein Problem, denn es handelt sich dabei um eine irdische Lust. Kurz darauf verfasst Bräker ein Gedicht mit der Überschrift »die augen in die höhe«, das nochmals die Freude schildert, die durch den Anblick der Sonne ausgelöst wird. Aber nur die zwei ersten Strophen sind der reinen Naturfreude gewidmet, die übrigen bestehen wieder aus einer geistlichen Applikation.86 Dem Gedicht folgt eine geistliche Betrachtung, die in bekannter Weise zur Hinwendung zu Gott aufruft und auf das wahre »Vaterland« im Himmel verweist. Zwischen Gedicht und geistliche Betrachtung wird aber, ganz unvermittelt, folgender Satz eingeschoben: »der mensch hat den vorzug vor allen anderen creaturen will er eine vernünfftige unsterbliche seele hat.«87 Die vernünftige und unsterbliche Seele ist ein Kernbegriff der Aufklärung, der Satz könnte aus Johann Joachim Spaldings »Bestimmung des Menschen«88 genommen sein. Er passt zur Stimmung des Sonnenlobs im Frühjahr, aber nicht zu der unmittelbar folgenden pietistischen Andacht. Dieser eingesprengte Gedanke deutet an, dass Bräker zwei widersprechende anthropologische Konzepte in sich bewegt: das eudämonistische der Aufklärung und das schuld- und sündenbewusste seiner pietistischen Prägung. Er wagt es noch nicht recht, zu einer freudigeren Welthaltung zu finden, denn Freude und Lust sind im Rahmen seiner religiösen Vorstellungen nicht erlaubt. Bräker nimmt die Problematik bewusst wahr, wie aus einem Gedicht hervorgeht, das er Ende Oktober verfasst und das den Titel trägt: »erlaubte freüd und lust«.89 Hier spricht sich Bräker für eine maßvolle Freude am Dasein aus, denn es könne wohl nicht Gottes Wille sein, dass der Mensch sich an den
84 Ebd. 85 Ebd., S. 560. 86 Ebd., S. 560 f. (26. Oktober 1773). 87 Ebd., S. 561. 88 Die erste Auflage erschien 1748.Vgl. Johann Joachim Spalding, Die Bestimmung des Menschen, Leipzig 1768. Ein Gedanke aus Spaldings Bestimmung ist, dass der Mensch durch die Empfindung von Ordnung und Schönheit der Welt eine wahrhaft glücklich machende Lust empfinde und zugleich einen Begriff von seiner hohen Bestimmung erhalte. Vgl. Spalding, Bestimmung, S. 35. Eine ausführliche Zusammenfassung dieser wichtigen Schrift der Aufklärungstheologie findet sich in: Joseph Schollmeier, Johann Joachim Spalding. Ein Beitrag zur Theologie der Aufklärung, Gütersloh 1967, S. 56–69. 89 Bräker, Bd. I, S. 564 f.
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von Gott gemachten Gaben nicht freuen sollte.90 Wieder dient die Sonne als Beispiel einer erlaubten Lust: »Solt ich am morgen nicht, mich iniglich erfreün, das gottes güte sich, will abermal verneün: und wan die edle sonn, von neüem mir geht auf, und gibt mir soviel lust, in meinem lebenslauf.«91
Sogar die Speisen werden von Bräker als Quelle der Lust gelobt, was mit den Geboten einer streng frommen Lebensführung nicht zu vereinen ist: »und wie vil speisen hat, uns doch der herr bereit: die mann nach lust und freüd, genies mit dankbarkeit. Und nicht nur vor den mund, den augen auch zur lust, bringt die natur hervor, in grosem überfluß; [. . .]«.92
Mit dem hier beginnenden Nachdenken über die Möglichkeit von Freude und Lust im Leben probt Bräker erste Schritte zu einer aufgeklärten Religiosität. Der Hauptimpuls erfolgt aus der Empfänglichkeit Bräkers für die Schönheit der Natur, die mittels einer physikotheologischen Interpretation einen Ausweg aus den beengenden Formen pietistischer Frömmigkeit ermöglicht. Eine neue, gewissermaßen intellektuellere Stufe der Auseinandersetzung mit religiösen Meinungen findet sich ein Jahr später. Hier kommt Bräker, vermutlich nach der Lektüre religiöser Streitschriften, zum Schluss, dass in Glaubenssachen keine Vorschriften gemacht werden können. Unter dem Titel »man kann glauben was man will« schreibt er am 26. Oktober 1774: »ein jeder kann glauben was er will, niemand kann einem anderen glauben machen; was er nicht gerne glaubt. daher komen so vielerley religionen, wiederum in jetweder religion, so vielerley secten, gleüben und meinungen.«93
Im nächsten Eintrag beschäftigt er sich wieder mit diesem Thema und wundert sich, dass »gelehrte Männer« in Glaubensdingen streiten konnten und einander ihre Meinungen aufzudrängen versuchten.94 Alles Streiten, Zanken und Zwingen hätten nichts Positives bewirkt, nur die Liebe könne bessern. Auch Gott und der Heiland hätten niemanden zu bestimmten Ansichten gezwungen. Gott ließ »jederman den freien willen. hat doch unser hochgelobte heiland, in den tagen seines mittler lebens mit niemand gestritten noch gezanket; und seine lehre niemand aufgedrungen; sondern jederman mit liebe begegnet und die wahl gelasen; ihm zufolgen 90 Ebd., S. 564. 91 Ebd. 92 Ebd., S. 564 f. Zur pietistischen Haltung in Fragen der Ernährung vgl. Scharfe, Religion des Volkes (wie Anm. 67), S. 78–82. 93 Bräker, Bd. I, S. 689. 94 Ebd., S. 690.
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oder nicht. darum last uns doch mit niemand streiten; er kann glauben, was er will. last uns jederman mit liebe begegnen.«95
Im folgenden Tagebucheintrag wird das Thema weiter gesponnen. Gemäß Bräker besitzt keine Religion den ausschließlich wahren Glauben, auch die reformierte nicht. Gott sei an keine »üserliche religion oder sect gebunden«.96 Die Rechtgläubigkeit erkenne man allein an den Werken der Liebe: »o meine kinder, es komt nicht auf die üserlichen glaubens bekantnuß an; die werke der liebe sind der prüffstein des glaubens.«97 Bräker spricht hier in auffälliger Freimütigkeit den »Werken der Liebe« – im aufklärerischen Tugenddiskurs wird dies das philanthropische Engagement sein – und der religiösen Toleranz das Wort und zeigt, dass er dabei ist, sich in Fragen der Religion und ihrer praktischen Anwendung aufgeklärten Sichtweisen anzunähern.
Zusammenfassung Die Tagebücher der frühen Jahre sind nicht bloß der uniforme und redundante Ausdruck von Bräkers pietistischer Prägung. Bei genauerer Beobachtung zeigt sich, dass aufklärerische Vorstellungen spätestens ab 1773 von Bräker rezipiert worden sind. Sie bahnen sich nur allmählich und mit vielen Rückschlägen den Weg in das Tagebuch Bräkers. Dass sich der Prozess der autodidaktischen Selbstaufklärung nur bruchstückhaft in den frühen Tagebüchern niederschlägt, hat neben den beschriebenen inneren und äußeren Hemmnissen auch mit den literarischen Vorbildern zu tun, die Bräker nachahmen will. Denn Bräker verstand sein Tagebuch ursprünglich als erbauliche Schrift, die in der Tradition eines John Bunyan den Weg eines Christen ins bessere Leben dokumentieren sollte. Dieses Vorbild diente zweifelsohne auch als Rechtfertigung seines Schreibens und hatte Konsequenzen für den Inhalt. Denn durch die Selbststilisierung als Pilger war eine bestimmte Form der Welterfahrung und -bewältigung vorgegeben, die mit der realen Entwicklung Bräkers vermutlich ab 1773 nicht mehr problemlos in Deckung zu bringen war. Dies wirft die Frage auf, welche Stimme eigentlich in Bräkers frühen Tagebüchern spricht und wie weit der fromme, von Sündenbewusstsein und Himmelssehnsucht geplagte Pilgrim Bräker mit dem real lebenden Garnhändler Bräker identisch ist. In den frühen Tagebüchern dominiert der fromme Diskurs eindeutig, es dringen aber immer wieder Bruchstücke eines anderen Denkens an die Oberfläche. Das Tagebuch erscheint damit als Schauplatz, auf dem sich der »reale« Bräker gegen das bis zu einem gewissen Grade selbst geschaffene Klischee des Pilgers 95 Ebd., S. 690 f. 96 Ebd., S. 691 (6. November 1774). 97 Ebd.
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durchsetzen muss. Das zu beobachtende Auftauchen von Bruchstücken oder Spuren aufklärerischen Denkens, die unmittelbar darauf wieder von frommer Rede übertönt oder zurückgenommen werden, sind Ausdruck dieser Auseinandersetzung. So dürfen die frühen Tagebücher Bräkers vermutlich nur in beschränktem Sinne als Spiegel des armen Mannes interpretiert werden. Sie zeigen einen bestimmten Aspekt seiner Persönlichkeit und sind geprägt von der Rolle, die Ulrich Bräker annimmt, um sein Schreiben vor sich und seiner Umwelt zu legitimieren. Im Schutz dieser Rolle konnte er aber zu seiner eigenen Stimme und zu »einem beachtlichen Grad der Aufklärung« finden.
Hans-JürgenSchrader Sphärensp rüngevomLandlebenzurLiteratur
HANS-JÜRGEN SCHRADER
Sphärensprünge vom Landleben zur Literatur Von Bräker bis Brandstetter Es gibt autobiographisch verbürgte Szenerien von so perfektem Idyllencharakter, dass dem Historiker und Kulturanthropologen alle Alarmglocken schrillen. So ist es Rudolf Schenda ergangen mit einem Bericht des aufklärerischen Schriftstellers, Pädagogen und Politikers Heinrich Zschokke in seiner Selbstschau (1842) über den Bildungsgrad und Lektüreeifer der reformierten Landbevölkerung in der Ostschweiz. Die signifikante Begebenheit war Zschokke nach eigenem Bekunden widerfahren, als er in einem vollkommenen locus amoenus, »im Schatten eines Obstbaums am Ufer des Zürichsees in der Nähe des Dorfes Stäfa« vor sich hinträumte. Da sei ihm ein ganz in diese »Gegenden sanften Idyllenreizes« gehöriger »junger Bauer« als typischer Exponent einer »selbst bei Feldarbeiten reinlich, fast sonntäglich gekleidet, gutherzig und einfach« gesitteten Bevölkerung nach verrichteter Feldarbeit entgegengetreten, habe ihn eingeladen »zu einem Glase Weins, in seinem Hause«, um ihn dann dort vor seinem wohl bestückten Bücherbord, auf dem »neben Bibel und Gesangbuch, Schriften von Iselin, Wieland, Möser u. a. m.« prangten, in lehrreiche Gespräche zu ziehen.1 »Die Idylle von der lesenden Nation« jedoch, die »hübsche Szene« vom lektürebegierig-»gelehrten Bauern« schon gar, hat Schenda in seiner fundamentalen Monographie Volk ohne Buch mit gutem Grund und vielen Belegen als ideologischen Wunschtraum der Volksaufklärung entlarvt, deren Idee eines Bildungszugangs für alle Menschen ohne Hemmnisse durch ihre soziale Herkunft zumindest bis tief ins 19. Jahrhundert ohne reale Basis bleibt: »Denn der Bauer – ganz abgesehen davon, dass er das Lesen nicht erlernt hatte – dachte an alles andere eher als an die Welt der Bücher. [. . .] Das Gedruckte, diese Realität aus zweiter Hand, ist dem Landmann völlig fremd. In seinem Lebenskreis hat er einen Spiegel seiner Welt nicht nötig.«2
1 Johann Heinrich Zschokke, Eine Selbstschau [Reprint der Erstausgabe von 1842]. Bearbeitet von Rémy Charbon, Bern – Stuttgart 1977 (Schweizer Texte; 2), S. 58, 63. 2 Rudolf Schenda, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910, 2. Aufl., München 1977 (dtv WR; 4282), S. 442, vgl. 441.
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Einer skeptischen Prüfung halten die von den Erben der Aufklärung zahllos verbreiteten Berichte über gelehrte Landleute als Träger literarisch-philosophischer Kultur kaum stand: selbst ihr maßgebendstes Modell, der in Hans Caspar Hirzels Die Wirthschaft eines philosophischen Bauers (1761, verm. Aufl. 1774) über den grünen Klee idealisierte »Socrate rustique« vom Wermatswiler Katzenrütihof, Jacob Gujer, gen. Kleinjogg, wurde von Goethe, der seinen Musterhof 1775 – und noch einmal 1779 (gemeinsam mit Herzog Carl August) – als nicht zu versäumende Reiseattraktion aufgesucht hatte, bei aller Faszination für die natürliche Frische und Offenheit seines Charakters keineswegs als ein »aus den Wolcken abgesencktes Ideal angetroffen«.3 Nur eine einzige Ausnahme von seinem Befund der im 18. Jahrhundert doch weithin illiteraten Landbevölkerung lässt Schenda gelten – als ein recht verbreitetes Phänomen sogar –, nämlich »pietistisch erweckte Kreise im Handwerker- und Bauernstand«, die eine ängstliche Sorge um ihr Seelenheil hinlänglich motivieren konnte, sich intensiv und extensiv um Zugang zu erbaulichen und spekulativen Lektüren zu bemühen.4 Tatsächlich belegt eine ganze Serie meist jüngerer sozialgeschichtlicher Erhebungen, Aufschlüsselungen von Nachlassinventaren, Zensorenprotokolle etwa der Kantone Bern und Zürich, Nachrichten über Bücherkolportage oder durch inspirierte Wandermissionare eine beträchtliche Nachfrage nach Lehr-, Andachts- und Erbauungsliteratur unter diesen Frommen in ansonsten noch lektüreungewohnten Schichten, namentlich auch in den weithin vom Pietismus erfassten Landgebieten der Schweiz. Wo nach asketischen, paränetischen oder mystisch-spekulativen Büchern wahrhaft ein Wunsch bestand, gab es auch Wege zu deren Erwerb. Selbst mehrbändige Werke waren (entgegen der traditionellen Auffassung von noch exklusiv-exorbitanten Buchpreisen) durch missionarische Legate erstaunlich billig verfügbar und selbst finanziell Unbemittelten erschwinglich, wenn nicht überhaupt durch Schenkungen kostenlos zu haben.5 3 An Sophie von la Roche, die für dieses aufklärerische Ideal eines Bauern größtes Interesse gezeigt hatte, am 12. Juni 1775. Belege bei Robert Steiger, Goethes Leben von Tag zu Tag. Eine dokumentarische Chronik, Bd. 1 (1749–1775), Zürich/München 1982, S. 728, vgl. 712; detaillierter: Barbara Schnyder-Seidel, Goethes letzte Schweizer Reise, Frankfurt 1980 (insel-tb; 375), S. 65 f., 410 und 424 (Lit.). Vgl. detaillierter auch: Goethe und Lavater. Briefe und Tagebücher, hg. V. Heinrich Funck, Weimar 1901 (Schriften der Goethe-Gesellschaft; 16), S. 391, ferner Walter Guyer, Kleinjogg, der Zürcher Bauer [1716–1785], Erlenbach 1972. 4 Schenda, Volk ohne Buch (wie Anm. 2), S. 50; vgl. auch die Charakterisierung der Lektürevorräte des »erschreckend lesegebildeten« Webermeisters und Gutzkow-Vetters Wilhelm, »der Pascal und Bossuet, Spener, Arndt und Andreä ebenso kannte wie Böhme und Tauler«, S. 442 f. 5 Dieses Grundfaktum einer durch religiös motivierte Subventionen, Minimalkalkulationen und Schenkungen bewirkten besonderen Erschwinglichkeit und auch tatsächlichen Verbreitung der pietistischen Lehr- und Erbauungsliteratur in bisher noch lektüreungewohnten und kaum zum Buchkauf motivierten Schichten habe ich mit einer Fülle exemplarischer Belege herausgestellt. Hans-Jürgen Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ »Historie Der Wiedergebohrnen« und ihr geschichtlicher Kontext, Göt-
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Ulrich Bräker gehörte, wie die erstmals vollständige Edition seiner Tagebücher in der neuen kritischen Werkausgabe jetzt deutlicher denn je zuvor erkennen lässt, von Haus und Herkommen her und jedenfalls bis tief in sein fünftes Lebensjahrzehnt hinein jenem Ostschweizer »Bauernpietismus«6 an. Sein Bücherschatz, der in seinem Kleinbauern-, Salpetersieder- und schließlich Textilverlegerhaus schon vor seinem Zutritt zur Lichtensteiger Moralischen Gesellschaft gesammelte Reichtum an zumeist pietistischen Druckerzeugnissen – oft aus den zensorisch beargwöhnten radikalsten Richtungen – ist infolgedessen zwar bemerkenswert wohl bestückt, aber nichts ganz Ungewöhnliches. Wie auch sein späteres in der Nachbarschaft angesiedeltes »Jauß«-Romanfragment aus dem April 1789, »ein büchel [. . .] nach Don Quixotes model [. . .] – der libens ritter« im 16. Kapitel ausführt,7 waren ähnlich fundamentatingen 1989 (Palaestra; 283), S. 243–267, 484–491 (betr. den pietistischen Kolportagebuchhandel in der Schweiz S. 250 f., die Buchpreise in Kostenrelation zu Sachwerten des täglichen Bedarfs insbes. S. 259–267). Eine Erschließung kleiner ländlicher Nachlässe im Zürcher Oberland seit etwa 1750 zeigt auch dort eine Dominanz aus dem Einflussbereich des Pietismus stammender »Alten Tröster«: Balz Spörri, Studien zur Sozialgeschichte von Literatur und Leser im Zürcher Oberland des 19. Jahrhunderts, Bern/Frankfurt am Main [u. a.] 1987 (Zürcher Germanistische Studien; 10), v. a. S. 43–48. Ein interessantes Analogon zu Bräkers Lektüre der immerhin acht voluminöse Foliobände umfassenden »Berleburger Bibel« ist dort der Fall des Schärers Hans Rudolf Bosshardt, der 1795 über dieses umfängliche heterodoxieverdächtige Bibelwerk »als Gemeinbesitz mit sieben anderen Teilhabern« verfügte, ebd., S. 44. 6 Begriff bei W.[ilhelm] Hadorn, Geschichte des Pietismus in den schweizerischen reformierten Kirchen, Konstanz/Emmishofen [1901], S. 466. – Die gründlichste Untersuchung über den für Bräkers Kindheit und Jugend bestimmenden ländlichen Pietismus im Toggenburg, der eine spezifische ekstatische Erregtheit durch die wiederholten (auch für die Bücherverbreitung bedeutsamen) Besuche inspirierter Wandermissionare erfahren hatte, sowie über die Bezeugungen dortiger bäuerlicher Konventikel gibt Ulf-Michael Schneider, Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995 (Palaestra; 297), S. 131–137. 7 In der neuen Werkausgabe als überschriftloser integraler Bestandteil des Tagebuch-Manuskripts (1. bis 30. April, Fortsetzung 2. und 3. Juni 1789, intendierter Abschluss im September 1789, fragmentarischer Nachtrag von 1793) auch im Inhaltsverzeichnis in keiner Weise hervorgehoben und daher bis zum Vorliegen des die Edition vollendenden Kommentarbands recht mühsam aufzusuchen: Ulrich Bräker, Sämtliche Schriften, Bd. 3 (Tagebücher 1789–1798). Bearb. v. Andreas Bürgi, Alfred Messerli zusammen mit Heinz Graber, Christian Holliger, Claudia Holliger-Wiesmann, Alois Stadler, München/Bern 1998, S. 86–151, 165–193, 220–240 und 354–357. Vgl. auch Andreas Bürgis Band-»Einleitung« ebd., S. XXV f. Zitat des Titels in Bräkers »vorrede« vom »1. aprilis« ebd., S. 86; Bekundung der Lektüre in der Spinnstube und Titelliste S. 120 f. Vgl. meine Relationierung mit den gesicherten eigenen Lektüren und Teilexzerpten des Autors im Bräker-Kapitel meiner Pietismus-Monographie, Schrader, Literaturproduktion (wie Anm. 5), S. 307–313. Offenbar hatte Bräker schon Jahre zuvor einen Aufzeichnungsansatz zu seiner »Jauß«-Geschichte unternommen und unter Bekannten herumgezeigt (deren dadurch angestoßene Eigenerzählungen scheinen die spätere Ausführung genährt zu haben), ihn dann aber zunächst doch verworfen. So notiert er bereits im Tagebuch des Jahrs 1788 unter »sontag den 24. februar könte einen roman schreiben«: »vor etwas zeit hate ich ein satirchen auf einen hiesigen liebensritter gemacht – und ein paar freünde dasselbe lesen lassen – das veranlasste – das mir
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listische und sogar verbotene Bücher, wie er sie selbst gesammelt, studiert und zum Muster genommen hat, etwa von Jacob Böhme, Jacob Brill, Antoinette Bourignon, Johann Heinrich Reitz, David Hollaz, aber etwa auch Nicolaus Ludwig von Zinzendorf und Samuel Lutz, auch auf den umliegenden Toggenburger Bauernhöfen und in den Häusler-Hütten vorhanden oder durch Herumleihen bei den Konventikel-Brüdern verfügbar, außer beim Vorbild des geistlich wie auch v. a. erotisch angefochtenen Jauß (wohl Heinrich Bösch aus dem Steinenbach)8 etwa beim Nachbarn Jöre. Und aus ihnen wurde wie aus der Bibel und den allgegenwärtigen Alten Tröstern auch bei der Textilarbeit vorgelesen. Sogar der Schritt über die fromme Apperzeption und lebenspraktische Imitation des wahllos Angelesenen hinaus zu einer eigenen literarischen Produktivität, zum Publikmachen der Selbstprüfungen und schriftlichen Rechenschaft, ist (wie gleich an ein paar Beispielen erhellt werden soll) bei pietistischen Bauern – wenngleich deutlich seltener als im diesbezüglich schon ziemlich regen kleinbürgerlichen Handwerksmilieu – keineswegs ein so ganz beispielloser Unterschicht-»Sonderfall«, wie das noch Christoph Siegrists Artikel im neuen Literaturlexikon Walther Killys oder auch der Prospekt zur neuen Bräker-Ausgabe suggeriert.9 Die Wirkung seiner Lebensgeschichte und der mir gester einer davon einen hauffen dergleichen liebeshistörchen erzehlte – ich wuste, das er selbst würklich so ein stükgen, im geheim spielte – sich aber gerne davon looswikelte«. Bräker, Sämtliche Schriften, Bd. 2 (Tagebücher 1779–1788). Bearb. v. Heinz Graber, Claudia HolligerWiesmann zusammen mit Andreas Bürgi, Christian Holliger, Alfred Messerli, Alois Stadler, München/Bern 1998, S. 662. Über die Zensurierung (Reduktion auf wenige Proben) der schon bei ihrer ersten öffentlichen Erwähnung durch Jacob Baechtold 1882 »unerhörter viehischer Obscönität und haarsträubenden Schmutzes« geziehenen, aber gerade in ihrem Umschlagen pietistischer Seelenanalyse in die Beobachtung psychosomatischer und sexueller Impulse hoch signifikante »Jauß«-Erzählung bei ihrer einzigen früheren Veröffentlichung, in der Ausgabe von Samuel Voellmy (1945), informiert in seinem Gesamtüberblick über die Editions- und Rezeptionsgeschichte Bräkers Alfred Messerli, Vermittler, Herausgeber, Kritiker und Leser von Ulrich Bräkers Schriften. Zum 200. Todestag des armen Mannes aus dem Tockenburg, in: Das achtzehnte Jahrhundert, Jg. 2 (1998), S. 184–193, hier S. 192 f.; in leicht vermehrter Überarbeitung und mit fünf Abbildungen wieder abgedruckt in: Geehrter Herr – lieber Freund. Schweizer Autoren und ihre deutschen Verleger. Hg. v. Rätus Luck [u. a.], Basel/Frankfurt am Main 1998, S. 83–97, S. 96 f. 8 Chronik Ulrich Bräker. Auf der Grundlage der Tagebücher 1770–1798 zusammengestellt und hg. v. Christian Holliger, Claudia Holliger-Wiesmann, Heinz Graber, Karl Pestalozzi, Bern/ Stuttgart 1985, S. 346, vgl. zu »Don Quixotes verzauberungen« schon S. 261. 9 Christoph Siegrist, Bräker, in: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, hg. von Walther Killy, Bd. 2, Gütersloh 1989, S. 136–138 (S. 136: »B. gilt insofern als Sonderfall in der Literatur des 18. Jh., als er zu den ganz seltenen Autoren zählt, die aus der Unterschicht stammen«); Prospekt der Verlage C.H. Beck und Haupt »Zum 200. Todestag am 11. September 1998: Ulrich Bräker, Sämtliche Schriften, Band 1–3. Tagebücher 1768–1798«, S. 2: »Das Einzigartige an Ulrich Bräker liegt darin, dass er als Angehöriger der sozialen Unterschicht zur Literatur kam und selber eine Lebensgeschichte, Tagebücher, Gedichte, Schauspiele und andere Schriften verfasste.« – Die Formel »ein Sonderfall in der Literatur des 18. Jahrhunderts« wird
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Tagebuch-Teilausgabe, deren Verlegervorrede diesen nach eigener Bekundung »ungepflantzten, wildgewachsenen dichter«10 als »Sohn der Natur« vorstellt,11 ist zweifellos durch Hirzels Kleinjogg-Buch befördert worden, von dem wir jetzt wissen, dass auch Bräker selbst es besessen und zusammen mit anderen Druckschriften 1776 (im Jahr seiner Aufnahme gleichsam als Morgengabe) der Lichtensteiger Moralischen Gesellschaft geschenkt hatte.12 Offenbar erfüllte aber der Arme Mann im Toggenburg ebenso – und mit seinem Mutterwitz und der mündlichkeitsnahen Frische seines Schreibens wohl gar noch eindrücklicher – die Sehnsucht der Zeit nach außerbürgerlichunverbildeten Originalbegabungen. Und einen epochalen Sprung markiert sein Schreiben auch insofern, als ihm wohl erstmals ansatzweise ohne eine soziale Konversion in den Bürgerstand die »epochenspezifische Verschiebung
unbelegt auch aufgegriffen von Michael Wirth, Ulrich Bräker – authentische Lektüre in virtueller Welt, in: Schweizer Monatshefte, 78. Jahr (1998), H. 9, S. 1 (Einführung zum Jubiläums-»Dossier Ulrich Bräker«). Dort wird er flugs »der erste proletarische Schriftsteller deutscher Sprache« (vgl. auch den Bericht über das Presseecho zum 200. Todestag Bräkers in: Fachdienst Germanistik 10/1998, »Gedenktage«). 10 Selbstcharakterisierung im Titel von Bräkers Lyrikheft: »vermischte lieder vor den land= mann. oder poetische phantaseyen eines ungepflantzten, wildgewachsenen dichters. gesrieben in toggenburgschen gebirgen: 1779«. Ediert in: Ulrich Bräker, Sämtliche Schriften, Bd. 4: Lebensgeschichte und vermischte Schriften. Bearb. v. Claudia Holliger-Wiesmann, Andreas Bürgi, Alfred Messerli, Heinz Graber zusammen mit Christian Holliger und Alois Stadler, München/Bern 2000, S. 79, vgl. 658. 11 So unter Bezug auf den Wattwiler Pfarrer Martin Imhof als Entdecker von Bräkers Naturingenium der Verleger Johann Heinrich Füßli: Vorwort, in: Sämtliche Schriften des Armen Mannes im Tockenburg, gesammelt und herausgegeben von H.[ans] H.[einrich] Füßli, 1. Tl., Zürich 1789, S. III [Nieders. LB Hannover: an Lh 478]. Den damit einsetzenden Prozess der Ideologisierung Bräkers zur gleichsam voraussetzungsfrei-unverfälschten Stimme der Natur als Verkörperung rousseauistischer Ideale und des Wunschbilds der Sturm-und-Drang-Poetologie umreißt neuerdings auch Werner Hofer, Ueli Bräker. Der Arme Mann im Tockenburg. Mensch, Leben, Werk und Umwelt, Ebnat-Kappel 1998, S. 40 (»Füsslis Korrekturen«), 50 (»Bräkers Freundeskreis«) und 57 (»Bräker in der Literaturgeschichte. Urteile – Fehlurteile«). Zu den Tendenzen von Füßlis sprachlich-stilistischen Überarbeitungen vgl. Alfred Messerli, Einleitung, in: Bräker, Sämtliche Schriften, Bd. 1 (Tagebücher 1768–1778). Bearb. v. Alfred Messerli, Andreas Bürgi zusammen mit Heinz Graber, Christian Holliger, Claudia Holliger-Wiesmann, Alois Stadler, München/Bern 1998, S. XXII f.; vgl. (mit Lit.) ders., Vermittler, Herausgeber (wie Anm. 7), Erstdr., S. 190 f.; Nachdr. S. 92–94. 12 Aufgrund des Fundes der entsprechenden Blätter des Stiftungsbuchs mitgeteilt von Alois Stadler, Ein aufschlussreiches Bräker-Dokument. Das Bräker-Blatt aus dem Stiftungsbuch der Lesegesellschaft zu Lichtensteig, in: Toggenburger Annalen 15 (1988), S. 42–52 (hier S 44) und referiert bei Alfred Messerli, Einleitung, in: Bräker, Schriften, Bd. 1 (wie Anm. 11), S. XXI. Damit ist die aufgrund des Hirzel-Exemplars in der Bibliothek der Moralischen Gesellschaft (Buch-Nr. 120) bisher anzunehmende Kausalität umzukehren. Nicht durch sie ist Bräker zur Kenntnis des Buches gelangt, vielmehr ihm verdankt sich das Buch im Bestand der Gesellschaft. Vgl. Chronik Ulrich Bräker (wie Anm. 8), S. 123; zu Bräkers Aufnahme in die Gesellschaft am 22. Juli 1766 ebd., S. 132, zu seinem Besuch bei Hirzel am 31. Oktober 1782 ebd., S. 216 f., ferner Heinz Graber, Einleitung, in: Bräker, Sämtliche Schriften, Bd. 2 (wie Anm. 7), S. XVII.
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von geistl. Erbauungsliteratur auf die sog. ›schöne‹ Literatur« gelang.13 Als vorbildlich für seine frühe Vermahnungs-, Erbauungs- und SelbstprüfungsSchriftstellerei, die in ihren Argumenten und in ihrer Kanaanssprache noch vollkommen vom Geist pietistischer Andachts- und Bekenntnisbücher geprägt ist, muss aber eine nicht unbeträchtliche »Wolke der Zeugen«14 seit wenigstens zwei Generationen auch aus dem Bauernstande bzw. aus ländlichen Dienstberufen in Betracht gezogen werden, die meines Wissens nie im Zusammenhang untersucht worden ist. Unter den exemplarisch ungelehrten, doch mit einem Überfluss an göttlicher Erkenntnis begabten Mustern eines standhaften Glaubens waren einige Bauern und ländliche Bedienstete etwa in der weit verbreiteten Historie Der Wiedergebohrnen des Johann Henrich Reitz vertreten, jener (nach Johann Heinrich Füßlis abschätzigem Urteil) »Skartecke«, von der Bräker zumindest den erstmals 1716 publizierten IV. Teil besaß und noch im 40. Lebensjahr, im August 1775 (zu einem Zeitpunkt also noch, als Goethe bereits erstmals die Schweiz durchreist und den philosophischen Bauer im nahen Wermatswil besucht hatte) identifikatorisch exzerpiert hat.15
13 Siegrist, Bräker (wie Anm. 9), S. 136. 14 Diesen charakteristischen Begriff (nach Heb 12,1) der pietistischen Sondersprache, die in Bräkers Diktion auf Schritt und Tritt nachweisbar ist (ein noch vollkommen der Untersuchung harrender Aspekt seines Werkes), für die beispielgebenden Muster eines frommen Lebens und Strebens verwendet Bräker selbst häufiger, etwa schon im »wort der vermahnung an mich und die meinigen« von 1768 im Abschnitt »über die bücher«: »o was vor eine wolcken von zeügen haben wir doch, die um die ehre gottes und seines worts geeiferet haben. die ihre schrifften der nachwelt hinterlasen haben, als ein schönes erb, welches unß antriben sol ihrem exempel zufolgen, [. . .] das wir sollen nachvolgen seinen fußstapfen, es zeiget uns eine gantze wolken von zeügen, welche alle disen weg gegangen sind [. . .]. gott sey dank, das wir in unseren tagen auch noch zeügen gottes haben, auch noch zügen der warheit [. . .] deren schrifften wir lesen konen [. . .]. jch wil nur kurtz, in der einfalt einige zeügen der warheit anführen, deren bücher ich in henden habe«. Bräker, Schriften, Bd. 1 (wie Anm. 11), S. 109–111. 15 Vgl. die Mitteilungen darüber und wenigen Zitate aus Bräkers seither verlorenen Aufzeichnungen und Auszügen bei Füßli, Vorbericht des Herausgebers (Zürich, 10. Mai 1792), in: [Ulrich Bräker,] Tagebuch des Armen Mannes im Tockenburg, 1. Teil, Zürich 1792 (Sämtliche Schriften, 2. Teil), S. XXXVII f. Nur teilweise wieder abgedruckt in der »Chronik Ulrich Bräker« (wie Anm. 8), S. 123. Detailliertere Nachweise, Interpretation und Lit. dazu im Bräker-Abschnitt in Schrader, Literaturproduktion (wie Anm. 5), S. 307–313 und 511–513, vgl. das Forschungsreferat (mit Erwägung von Bräkers Lektüre der »Historie Der Wiedergebohrnen«) von Alfred Messerli, Literatur und Frömmigkeit in Pietismus und Aufklärung, in: Theologische Rundschau, Jg. 60 (1995), S. 398–403, hier 399 f.: »Die Sammelbiographie ist in pietistischen Kreisen Hilfsmittel zur privaten Erbauung und Maßstab für die Beurteilung des eigenen Seelenzustandes.« Die grundlegende Ermittlung von Bräkers pietistischen Lektüren verdanken wir Samuel Voellmy, Daniel Girtanner von St. Gallen, Ulrich Bräker aus dem Toggenburg und ihr Freundeskreis. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung in der Schweiz in der 2. Hälfte des XVIII. Jahrhunderts, Diss. phil. Basel 1928, St. Gallen 1928, insbes. S. 76, 98–110, einen Überblick gibt auch der hoch informative Zeitungsartikel von Hans-Jürgen Schings, Frieselfieber und sündige Seele. Die Tagebücher Ulrich Bräkers, des armen Mannes im Toggenburg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 70/1989 (24. März 89), S. L[iteratur] 10.
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Meist waren diese Musterviten aus ländlicher Unterschicht Übersetzungen oder Adaptionen bereits interkonfessionell verbreiteter Vorbild-Bücher wie »Der erleuchtete Hirt/ le Berger illuminé« (IV,6), »Joost van Oudenrief, ein Gärtner in Seeland« (V,9), »Hemme Hayen, ein gemeiner Mann in Frießland« (V,10) oder, aus dem europaweit verbreitetsten Exempeltraktat, »Armelle Nicolas, eine Dienst=Magd in Franckreich« (VI, 7, die »als ein Bauren=Kind ohne Lesen/Schreiben und dergleichen Unterweisung, auffgezogen« worden war).16 An Biographien bäuerlicher Glaubensvorbilder finde ich in der Basler Annoni-Bibliothek außer einer Sedez-Neuausgabe dieses »Armellenlebens« von 1743 im gleichen Miniaturformat eine Merckwürdige Erzehlung von der Bekehrung, Eines einfältigen Bauers, der weder lesen noch schreiben können, Nahmens Jacob Schneider, den man nur Bet=Kobs geheissen, 1738, oder, ebenfalls »von armen Bauers=Leuten geboren«, Der kleine Görgel in Lebens=Grösse, 1743.17 Doch auch zur eigenen Schriftlichkeit in Prosa und Versen und mit ihr an die Öffentlichkeit haben ähnlich kümmerlich praktizierende Haupt- oder Zuerwerbslandwirte wie Bräker aus pietistischem Selbstprüfungs- und Bekenntnisdrang bereits vor ihm gefunden. Als einen besonders aufschlussreichen Vor16 Johann Heinrich Reitz, Historie Der Wiedergebohrnen. Vollständige Ausgabe der Erstdrucke aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698–1745) mit einem werkgeschichtlichen Anhang der Varianten und Ergänzungen aus den späteren Auflagen. Hg. v. Hans-Jürgen Schrader, 4 Bde., Tübingen 1982 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock, Bd. 29/1–4). In Bd. 2: IV. Teil, Idstein 1716 »Sechste Historie/ Von dem erleuchteten Hirten/ le Berger illuminé genannt«, S. 78–90 (ins Deutsche übersetzter Auszug aus Pierre Poirets »La Théologie du Cœur«, Cologne [recte: Amsterdam] 1690); ebd., V. Teil, Idstein 1717 »Neunte Historie/ Von Joost von Oudenrief, Gärtner in Seeland«, S. 147–169 (Übersetzung aus J. v. O.: De Sterre Jacobs, of een Ligt der ziende, Vlissingen 1688); ebd. [anschließend] »Zehende Historie Von Hemme Hayen Lebens=Lauff«, S. 169–199 (Übersetzung des niederländischen Exempelbüchleins »Levens-Loop van Hemme Hayen«, Haarlem 1714); Bd. 3: VI. Teil, Berleburg 1730 »Siebende Historie von Armelle Nicolas/einer frommen Dienst=Magd in Franckreich«. Zitat ebd., S. (78). Dieses »Armellen-Leben«, wie die anderen Musterbiographien durchsetzt mit einer Fülle von Selbstaussagen, geht ebenfalls zurück auf eine Poiret-Ausgabe, »L’école du pur Amour de Dieu aux savants et aux ignorants d’une pauvre fille idiote Armelle Nicolas«, »Cologne« [recte: Amsterdam] 1704, gehörte in unzähligen abgeleiteten Ausgaben zu den konfessionsübergreifend verbreitetsten Erbauungstraktaten. Vgl. als (trotz der zahlreichen Nachweise noch nicht einmal vollständigen) Überblick Adolf Spamer, Der Bilderbogen von der ›Geistlichen Hausmagd‹. [. . .] Bearb. v. Mathilde Hain, Göttingen 1970 (Veröffentlichungen des Instituts für mitteleuropäische Volksforschung an der Philipps-Universität Marburg-Lahn, Reihe A; 6), S. 141–157 und 167 f. 17 UB Basel: d’Ann J.6., ein Sammelband aus dem Bibliotheksnachlass des Pietisten Hieronymus Annoni (d’Annone), enthält: [angeb.: N° 3] Der frommen Dienst=Magd Armelle Nicolas, insgemein genannt Die Gute Armelle, Leipzig 1743; [angeb.: N° 2] Merckwürdige Erzehlung von der Bekehrung eines einfältigen Bauers [. . .] Jacob Schneider, den man den Bet=Kobs geheissen, Wie man solche aus seinem Munde aufgezeichnet, Leipzig 1738; [angeb.: N° 4] Der Kleine Görgel in Lebens=Grösse, Leipzig 1743 (Zitat: S. A 2r). Alle diese Bändchen entstammten dem im pietistischen Buchmarkt dieser Zeit führenden Verlagshaus Samuel Benjamin Walther/ Caspar Heinrich Fuchs, in dem auch die verbreitetste erbauliche Zeitschrift mit zahllosen entsprechenden Selbstzeugnissen erschien: Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs GOttes (seit 1731, in mehreren Fortsetzungsserien weitergeführt bis 1761).
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läufer der frühen Bräkerschen Tagebücher kann man das 1717 in Berleburg auf Kosten des Verfassers gedruckte Büchlein des Magerland-Bauern Johann Jobst Hahn (»Wohnhafft im Wittgensteiner Land/ auff den Schlechtenboden«) ansprechen, das gleichermaßen »ordnungslos Lieder und Meditationen, Gebete, katechetische Erörterungen und autopsychographische Bekenntnisse darbietet, die der Autor offenbar als ihm besonders erbaulich auch andern mitteilen wollte«: Dieses mein Büchlein/ Mit meinen Littern/ Nennt sich ein Glaubens=Zeugnis von JEsu Christo/ Durch Lernung der Erfahrung Freywillig aufgesetzt.18 Es handelt ebenso wie Bräkers Vermahnung (die er übrigens seinen Kindern zum »beschluß« mit derselben Formel »diß mein beüchlein« zueignet)19 »vom Licht/ Glauben/ Furcht Gottes/ Liebe/ Sanfftmuht/ Demuht/ Gedult [. . .] und wie die Sünde ein so böses Ding ist/ und die Schlang mit ihrer List den Menschen immer sucht von Gott abzureissen [. . .]: dan ich habe mein von GOTT verliehenes Pfund nicht im Schweißtuch wollen behalten.«20
Und in seinem Schreib- und Publizitätsdrang wirkungsreicher war ihm als Kleinbauer und -handwerker schon der den Inspirierten nahe stehende spekulative Radikalpietist Christoph Schütz21 vorangeschritten, der »niemalen die unterste vielweniger eine hohe Stuffen oder Classe in den Schulen der Gelährten gesehen und beschritten«. Sein dreiteiliges Hauptwerk von 1727 (21731), Güldene Rose/ Oder ein Zeugnüs der Warheit von der uns nahe bevorstehenden Zeit des tausendjährigen und ewigen Reichs JESU CHRISTI22 war von der Berner Zensur explizit wegen Heterodoxie verboten, offenbar also in interessierten Kreisen der Schweiz verbreitet.23 In seinem ebenfalls dreiteiligen kryp18 Johann Jobst Hahn, Dieses mein Büchlein, o. O. 1717 [UB Marburg: Religionskundliche Sammlung: III Cε 833], 168 Oktav-Seiten; Nachweise und charakterisierendes Zitat: Schrader, Literaturproduktion (wie Anm. 5), S. 185 und 202, Berleburger Drucke, Nr. 8. 19 Bräker, Sämtl. Schriften, Bd. 1 (wie Anm. 11), S. 115: »lust und lieb [. . .] hab ich auch erfahren indem ich diß mein beüchlein an eüch meine liebwerte kinder geschriben«. 20 Hahn, Dieses mein Büchlein (wie Anm. 18), S. 3 f. Vgl. ausführlicheres Zitat und Zusammenhang: Hans-Jürgen Schrader, Probleme der bibliographischen Erschließung pietistischer Literatur, in: Bibliographische Probleme im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs, Weinheim 1988 (Deutsche Forschungsgemeinschaft, Mitteilung IV der Kommission für Germanistische Forschung), S. 87. 21 Über Christoph Schütz vgl. grundlegend Albrecht Ritschl, Geschichte des Pietismus, Bd. 2: in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts. Erste Abt., Bonn 1884 (Reprint: Berlin 1966), S. 351, Näheres bei Schrader, Literaturproduktion (wie Anm. 5) S. 255, 266 und 476; Ulf-Michael Schneider, Propheten der Goethezeit (wie Anm. 6), S. 80, 113, 162 f. sowie Konstanze-Mirjam Grutschnig-Kieser, »Auf auf mein Herz und sing«. Zwei Homburger Gesangbücher des 18. Jahrhunderts, in: Alt Homburg 44/6 (2001), S. 3–8 (ebd., S. 8 f. Biographie des Christoph Schütz als Herausgeber des fünfbändig erschienenen, doch noch weit ehrgeiziger geplanten Hombuger Universal=Gesangbuchs und Bibliographie). 22 Schütz, Güldene Rose, o. O. 1727 [UB Münster: 1 E 3406: 1–3], Zitat: Bd. 3, S. 61. 23 Nachweis: Kurt Guggisberg, Bernische Kirchengeschichte, Bern 1958, S. 394 und 396; zu den Zürcher und Berner Verbotslisten auch Schrader, Literaturproduktion (wie Anm. 5), S. 430.
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tonymen Traktat Das kündliche grosse Geheimniß der Gottseeligkeit [. . .] von einem Christlichen Schüler, o. O. 1728, beschreibt er, inspirative Postulate der Stürmer und Dränger an das poetische Produzieren bereits zwei Generationen früher vorwegnehmend, wie er oft mitten in der Feldarbeit »Gnade von GOtt zum Schreiben bekam«: »Zu dieser Zeit geschahe es nun auch/ daß/ wann ich draussen im Feld hinter dem Pflug hergieng und ackerte/ oder was ich auch sonst vor eine Arbeit that/ [. . .] mir alsdann solche meinr Gedancken [. . .] wie auch mein Dancken und Loben GOttes [. . .] reimweiß= oder in Form eines Lieds/ in Sinn kam und solches thönete mir dann einen gantzen= oder halben Tag/ bey meiner Arbeit/ in meinem Sinn/ bis ich etwa nach Hause kam/ und wann ich nach Haus kam/ so satzte ich mich dann geschwind nieder/ und schrieb solches Lied oder Reimen/ daß mir den Tag über im Sinn geklungen hatte/ geschwind auf. [. . .] wann ich aus solcher Ursachen auch bisweilen keine Zeit und Gelegenheit haben konte zu schreiben/ so kamen mir wohl 2. oder 3. Lieder auf einmal in meinen Sinn/ zusammen/ welche durch einander so lange thöneten/ immer eins ums ander/ bis ich Zeit bekam/ solches zu schreiben/ und auf solche Art und Weise sind meine Lieder und Reimen/ die jetzo zum Theil gedruckt seyn/ entsprungen und geschrieben worden.«24
Anders als bei Bräker bleibt das Schreiben dieser heute weithin vergessenen Vorläufer aber noch gänzlich auf die Funktion eines religiösen Zeugnisgebens und Appells an die Seelen zur Zurüstung für das Gottesreich beschänkt – und das bleibt auch noch der Fall bei Bräkers verfehltem Vorbild zur Einrichtung seiner Lebensgeschichte, dem aus einem ganz ähnlichen ländlich-handwerklichem Milieu stammenden Jung-Stilling, dessen sehr viel umfänglichere Schriftstellerei auch noch nach seiner Etablierung in Bürgerstand und wissenschaftlichem Amte durchgängig erbaulich gebunden bleibt – auch in den Oberflächenfiktionalisierungen seiner Romane. Bräker hat recht deutlich erkannt, dass seine eigene Erfahrung sich den einlinigen Deutungsmustern dieses von Goethe geförderten Großen25 ebenso widersetzte wie andererseits auch 24 [Christoph Schütz,] Das kündliche grosse Geheimniß, o. O. 1728 [UB Münster: an 1 E 3406: 1–3 (angebunden an »Güldene Rose«)], S. 81–83. Erörterung dieser Passage und des in dieser Epoche gerade bei radikalen Pietisten aus dem Handwerkerstand verbreiteten inspirativen »Reimenredens« (dessen bekannteste Exponenten sicher aus vermeintlich göttlicher Vollmacht redende Propheten wie der Sattler Johann Friedrich Rock und der Perückenmacher Johann Tennhardt waren) im Vorfeld der poetologischen Inspirationstheorien des Sturm und Drang bei Hans-Jürgen Schrader, Inspirierte Schweizerreisen, in: Lesen und Schreiben in Europa 1500– 1900. Vergleichende Perspektiven. Hg. v. Alfred Messerli und Roger Chartier, Basel 2000, S. 351–382, v. a. 380 f. 25 Über das Verhältnis Goethes zu dem aus einem vergleichbaren ländlich-handwerklichen Milieu wie Bräker stammenden, allerdings früh in bürgerliche Lebensbahn wechselnden Johann Henrich Jung, gen. Stilling vgl. jetzt (mit Lit.-Ang.) Paul Raabe, Separatisten, Pietisten, Herrnhuter. Goethe und die Stillen im Lande, Halle (Saale) 1999, S. 167–196, 218–220; Gustav Adolf Benrath, Die Freundschaft zwischen Goethe und Jung-Stilling, in: Goethe und der Pietismus. Hg. v. Hans-Georg Kemper und Hans Schneider, Halle/Tübingen 2001, S. 157–170. Hinweise
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den hochintellektuellen psychologischen Tiefenanalysen Rousseaus als der (übrigens durch seine vermittelte Beziehung zum Cercle de Vevey selbst noch pietistisch beeinflussten)26 größten Appellinstanz moderner Selbstbekenntnisse: »Freylich hätt’ ich [. . .] mein Geschreibe ganz anders gewünscht [. . .] ohne daß ich mir denn doch getraut hätte, zu bestimmen, wie es eigentlich seyn sollte; sonst hätt’ ich’s [. . .] nach dem Modell eines Heinrich Stillings umgegossen. ›Aber, Himmel! welch ein Contrast! Stilling und: ich!‹ dacht’ ich. [. . .] Freylich hätt’ ich mich oft gerne so gut und fromm schildern mögen, wie dieser edle Mann es war. Aber konnt’ ich es, ohne zu lügen? Und das wollt’ ich nicht, und hätte mir auch wenig geholfen. Nein! das kann ich vor Gott bezeugen, daß ich die pur lautere Wahrheit schrieb; entweder Sachen die ich selbst gesehen und erfahren, oder von andern glaubwürdigen Menschen als Wahrheit erzählen gehört. Freylich Geständnisse, wie Roußeau’s seine, enthält meine Geschichte auch nicht, und sollte auch keine solchen enthalten.«27
Die bei Bräker unter verstärkt aufklärerischen Einflüssen und v. a. angesichts der von ihm stolz bedienten Erwartungen eines bereits weithin säkularisierten Bürgerpublikums erst zögerlich vollzogene (aber in jeder Phase wirtschaftlicher oder psychischer Not auch wieder wankende) Abwendung aus einer noch religiösen Bekenntnis- und auch Zweckbindung des Schreibens wird bei den späteren Autoren, die wie er durch einen Sphärensprung aus ländlich illiteraler Herkunft in literarische Tätigkeit und Breitenwirkung geprägt sind, erst in der Epoche des Realismus vollends erreicht. Jeremias Gotthelfs vertrauter Freund Joseph Burkhalter, der »Fluhacher-Sepp«, der vom mystisch erweckten und gelehrten Bernbietler Bergbauern bis in die höchsten politischen Ämter des Landes aufsteigt, bleibt in seiner aufklärerischen Autokritik an den frommen Fixierungen, die ihn in der Jugend ans Lesen und Schreiben gebracht hatten, doch noch dem Modell eines Zeugnisgebens für die Familie und den Freundeskreis verpflichtet; er geht nicht den Schritt zur Volksschriftstellerei und Dichtung weiter.28
zu seinem mit Bräker teilweise analogen Lektürehintergrund bei Schrader, Literaturproduktion (wie Anm. 5), S. 299–305, 313, 507–510, zu den gleichermaßen radikalpietistischen und auch inspirierten Einflüssen seiner religiösen Sozialisation neuerdings (mit reichen Forschungshinweisen) Hans Schneider, Jung-Stillings ›Niclas‹, in: Frömmigkeit unter den Bedingungen der Neuzeit. Festschrift für Gustav Adolf Benrath. Hg. v. Reiner Braun und Wolf-Friedrich Schäufele, Darmstadt/Kassel 2001 (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte; 6), S. 155–168. 26 Grundlegend dazu Eugène Ritter, Les idées religieuses de Madame de Warens, in: Révue Internationale, 6. Jg., Bd. 22 (1889), S. 273–291 und 439–457 sowie ders., Magny et le piétisme romand, in: Mémoires et Documents publiés par la Société d’histoire de la Suisse romande II,3 (1891), S. 255–324. Für die Verbindung dieses Kreises auch zu den Inspirierten vgl. Schrader, Inspirierte Schweizerreisen (wie Anm. 24), S. 369. 27 Bräker, Lebensgeschichte, herausgegeben von Johann Heinrich Füßli 1789, in: Bräker, Sämtliche Schriften, Bd. 4 (wie Anm. 10), S. 355–557, hier 514. 28 Vgl. den Burkhalter gewidmeten Abschnitt in Schrader, Literaturproduktion (wie Anm. 5),
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Der lebenslang seinen beengtesten kleinbäuerlichen Verhältnissen im Bregenzerwald in Vorarlberg verhaftet bleibende Franz Michael Felder, dessen Autobiographie 1869 am Ende seines katastrophenreichen, nur 30-jährigen Lebens ein breiteres schriftstellerisches Werk beschließt, ebenso wie sein als Autor und bürgerlicher Reformer weit berühmter gewordener steirischer Landsmann Peter Rosegger, dessen verklärungsreichere »Waldheimat«-Erzählungen seit 1877 Furore machen, werden schon nicht mehr durch ihre religiöse Sozialisation zur Literatur gebracht. Ohnehin war ihr jugendlicher Zugang zum Lesen und Schreiben in ganz anderer konfessioneller Tradition und veränderter Geschichtssituation nie in vergleichbarem Maße auf schriftforschende Selbsterkundung gerichtet gewesen. Beide haben bereits ein vorrangig fiktionales Werk hinterlassen, in dessen Mittelpunkt aber gleichwohl autobiographisch Erfahrenes, ein vorrangig weltliches Zeugnisgeben steht. Einem weiterhin mehrheitlich bürgerlichen Lesepublikum erschließen und deuten sie in erster Dimension ihre diesen Lesern fremdverlockend-exotische Herkunftswelt. Auch wenn man die Serie der literarischen Akkulturationen und Produktionen der aus ländlich-illiteralen Verhältnissen stammenden Autoren, die bis heute im Literaturbetrieb mit einer gewissen Neugier des Ausnahmsweisen beachtet werden, von den frommen Selbstbekundungen des frühen 18. Jahrhunderts bis zu den höchst artifiziellen Brechungsstrukturen der Wortkunstwerke unserer Gegenwart weiterverfolgt, scheinen mir jedoch eine Reihe von durchgängigen Gemeinsamkeiten wahrnehmbar und bemerkenswert. Über alle Unterschiede des literarischen Vermögens und der artifiziellen Techniken, auch des Gelingens oder Misslingens eines gesellschaftlichen Aufstiegs, der Standpunkte, auch Einstellungen zum eigenen Herkommen, hinweg sehe ich Gemeinsamkeiten nicht nur in den Kennzeichnungen ihrer Kindheitswelten: dürftige Verhältnisse, eine oft unzulängliche, die musischen Bedürfnisse ignorierende Erziehung, die schwer zu durchbrechende Prägekraft von Religion und Brauch, eine Flucht in die Ersatzwelt des Gedruckten und den Eigensinn eines abstandgewährenden manischen Lesens und Schreibens, die zentrale Bedeutung schließlich jener lebensverändernden Anregung, die intellektuell oder auch sozial aus den Bindungen der Kindheitssphäre herausführt, auch hin zur literarischen Selbstkundgabe. Über die Gemeinsamkeiten im Inhaltlichen, etwa die trotz ihrer Härte idyllisierten Erfahrungen der Kindheitswelt, hinaus erscheint vielmehr als ein maßgebliches Kriterium, das auch strukturelle Analogien stiftet, die durchgängige Tendenz zur Fixierung auf Selbstbezeugungen der Autoren, auf autobiographisch-autopsychographische Elemente selbst in ihren fiktionalen Handlungen und Personenentwürfen. S. 321–324, 517 f., v. a. seine Selbstbiographie, Joseph Burkhalter, Erinnerungen aus meinem früheren Leben. Ein Vermächtnis für meine Enkel (1850), in: Amtsrichter Burkhalter und seine Briefe an Jeremias Gotthelf, hg. v. G.[ottlieb] Joß, Bern 1899.
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In seinem Feuilleton »Zum sechzigsten Geburtstag des Schriftstellers Alois Brandstetter«, des oberösterreichischen Kleinbauern- und Müllersohns, Klagenfurter Literaturprofessors und viel gelesenen Erzählers, Romanciers und Essayisten, schreibt am 5. Dezember 1998 Paul Ingendaay in der Frankfurter Allgemeinen: »Doch da gibt es so etwas wie einen Pakt zwischen dem Autor und seinem Publikum, der besagt, dass man von Brandstetter immer das Ganze bekommt, einen Kopf ohne Maske, ohne die Unsicherheiten und Relativierungen der modernen Kunst. Anders, als es die neuere Literaturwissenschaft gern hätte, spricht aus seinen Hauptfiguren unverhüllt der Autor, und weil das so offensichtlich ist, braucht Brandstetter gar nicht mehr viel zu erfinden, um seine Stellvertreter zum Reden zu bringen. Diese Stellvertreter, allgemein gesprochen, führen Beschwerde [. . .], die sie [. . .] in komischer Unverdrossenheit zur Weltanalyse aufblasen.«29
Wenngleich ich hier Brandstetters – nach seiner eigenen Lesart – »Spiel mit Positionen«, die gerade in beständig changierenden Maskierungen und Versuchsanordnungen »zur Diskussion« gestellt werden,30 simplifiziert sowie deren zutiefst verunsichernde Relativierungen verkannt sehe: zweifellos richtig bestimmt wird in diesem Spiel jene durch alle Werke hindurch ungewöhnliche Transparenz auf den Autor selbst (bzw. seine Facetten und Erfahrungen), die mir bei allen Autoren auffällt, die denselben präzipitalen Überschwung aus der ländlich-illiteraten Sphäre ihrer Herkunft in jene ihnen nicht an der Wiege gesungene der Dichtung, der Kunst und der Wissenschaften bestanden haben. Und ebenso wie bei ihnen die Grunderfahrung dieses Sphärenübersprungs (auch in der Rollenfiktion) allgegenwärtig ist, sehe ich den Wechsel zwischen beiden in unausgleichbarer Spannung zueinander erfahrenen Lebenswelten durch die gesamte Tradition hindurch traumatisch besetzt, selbst in jenen Fällen, in denen – anders als bei Bräker oder auch Felder – ein »Aufstieg« im soziologischen Sinn gelingt.31 Gegenüber beiden Sphären entsteht das Gefühl 29 Paul Ingendaay, Kopf ohne Maske. Zum sechzigsten Geburtstag des Schriftstellers Alois Brandstetter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 283, 5.12.1998, S. 37. 30 Die Angst hat mich nie ganz verlassen. Ein Gespräch zwischen Alois Brandstetter und Angelika Klammer, in: Vom Manne aus Pichl. Über Alois Brandstetter, hg. v. Egyd Gstättner, Salzburg/Wien 1998, S. 146. Vgl. entsprechende Aussagen über das (auch im autobiographischen Gewand) »Schreiben als Probehandeln« und »Spiel mit der Wahrheit«, »ein Spiel, um aufzureizen oder sich selbst anzustacheln«: Alfred Pittertschachter, Fortschritt, Rückschritt, Wechselschritt, oder Das Alte ausspielen gegen das Neue . . . Aus einem Zwiegespräch (Tonbandmitschnitt) mit Alois Brandstetter, in: Die Rampe. Sonderheft: Porträt Alois Brandstetter, Linz 1998, S. 20–92, hier S. 54; Evelyn S. und Peter E. Firchow, Interview mit Alois Brandstetter, in: Modern Austrian Literature, Bd. 29 (1996), S. 23–38, hier S. 25. 31 Auch dafür einige Belege aus diesen Brandstetter-Interviews (wie Anm. 30): Äußerungen gegenüber Firchow, S. 29, Klammer, S. 136 f., 143, Pittertschachter, S. 74 f. Vgl. insbes. auch Brandstetter, Doktor Bekanntlich, in: Gstättner, Vom Manne aus Pichl (wie Anm. 30), S. 111 f. und ders., Im Hause Dein. Ein Erlebnisaufsatz zur Kirchweihe der St. Florianer Stiftskirche, in:
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einer Unzugehörigkeit: in der des Ursprungs fühlt man sich ausgegrenzt und empfindet Gewissensbisse, ihren festhaltenden Ansprüchen nicht mehr zu genügen; in der dagegen selbst als exotisch und axiomatisch fremd erlebten kulturverwaltenden Sphäre der bürgerlichen Zivilisation, der man Selbsterfahrenes als Denk- und Lebensalternative im Guten wie im Bösen anbietet, sieht man sich auch im Falle des äußeren Arrivierens als randständiger Konvertit. Exemplarisch nur skizzieren kann ich das (wie mir scheint) über alle Modernisierungsschübe hin Gleichbleibende dieser Traditionslinie, in der Bräker eine aufschlussreiche Schwellenposition insofern einnimmt, als seine religiöse Alternativenbezeugung mit der gleichsam ethnologischen des Einblickgewährens in eine für die Adressaten naturnähere fremde Welt durchgängig verquickt ist, beide Leseweisen beständig herausfordernd. Bräker wird zum Autobiographen und auch zum Stücke- und Romantorsoschreiber noch nicht dadurch, dass er Zeugnis zu geben hat von einer weithin unbekannten, nach abweichenden Regeln funktionierenden Welt oder gar von einer in ihrer Natürlichkeit bedrohten und untergehenden, von der es gesicherte Kunde aufzubewahren gilt.32 Vielmehr ist sein initialer Impetus noch der seiner religiösen Rechenschaft, die ihr Interesse gewinnt – auch ohne »daß mein Schicksal für andre etwas seltenes und wunderbares enthalte oder ich gar ein besondrer Liebling des Himmels sey« – aus dem Selbstgefühl seiner mit »Salomon und Alexander« gleich würdigen Erschaffung als ein unverwechselbares Individuum,33 weil Gott an jeder Seele ein wunderbares Heilswerk vollführt, in dem sich zugleich die Gesamtheit seines heilsgeschichtlichen Handelns spiegelt. Aber freilich nimmt Bräker schon wahr, dass das Interesse seines zeitgenössischen Lesepublikums bereits weniger auf diese Zeugenschaft der Heilsökonomie als auf sein Zeugnisgeben über die Lebensumstände seines Herkommens und seines Wegs zur Autorschaft gerichtet ist: Auf diese eher ethno-psycholoStiftskirche St. Florian. Raum und Klang zum Lob Gottes und zur Freude der Menschen, hg. vom Augustiner Chorherrenstift, St. Florian/Linz 1996, S. 90–92, hier 91. 32 Derartige Bekundungen einer Zeugenschaft aus einer bereits untergegangenen, zur Vorund Urgeschichte gesunkenen Sphäre und Zeit begegnen auch bei Peter Rosegger. Vgl. Wolfgang Schober, Nachwort, in: Peter Rosegger, Als ich noch der Waldbauernbub war, Stuttgart 1994 (Universal-Bibliothek; 8563, zuerst 1989), S. 305–314, hier S. 313. Sie sind häufig in Selbstaussagen Alois Brandstetters, der sich als »Erinnerungsmensch« selbstironisch ausweist als ein »Zeitzeuge des Mittelalters« und »eine Art Archäologe«: »ich könnte mich auch als Zeitzeuge der Bronzezeit anbieten.« Vgl. Alfred Pittertschachter: Ich bin ein Zeitzeuge des Mittelalters. Interview mit Alois Brandstetter, anläßlich des Erscheinens von »Schönschreiben« [ORF, Radio Oberösterreich, 25.2.1997], in: Die Rampe. Porträt (wie Anm. 30), S. 39–44, hier 39 und Pittertschachter, Fortschritt, Rückschritt (ebd.), S. 62. Vgl. Hans-Jürgen Schrader, »Im Kreise der Greise«. Zu Alois Brandstetters 60. Geburtstag, in: Gstättner, Vom Manne aus Pichl (wie Anm. 30), S. 121–134, hier 131 f. 33 Bräker, Lebensgeschichte, Vorrede des Verfassers, in: Sämtl. Schriften, Bd. 4 (wie Anm. 10), S. 363.
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gische Neugier richtet er sich erfolgreich ein, sichtbar wie in der Lebensgeschichte auch in den bereits auf Öffentlichkeit spekulierenden späteren Tagebüchern (seit etwa 1779) – ohne dass er bei aller Ironie gegenüber dem ideologischen Fundament seines Jugenddenkens doch je die frommen Rückversicherungen bei der fernerhin persönlich zuständig und schicksalbestimmend empfundenen Himmelsmacht aufgäbe.34 Zu den für stadtbürgerliche Leser rührendsten, weil von ihrer überregulierten und komplizierten Lebenswelt am deutlichsten abstechenden Wunschphantasien gehört offensichtlich das Hüteidyll eines Hirtenknaben. Die keiner illustrierten Bräker-Ausgabe fehlenden anheimelnden Ausmalungen dieser Szenerie entsprechen deutlich den Stichen zu Gessners bukolischen Idyllen (die ja durchaus auch von kleinen, glücklich überwindbaren Störungen der Harmonie, Sorgen und Anfechtungen zu berichten haben). Diese Bräker-Illustrationen wären ganz unverändert auch noch für Roseggers Als ich noch der Waldbauernbub war verwendbar. Die aufschlussreichen Abwandlungen nur dieses einen Motivs möchte ich deshalb im folgenden für die Beispiele Bräker, Rosegger, Felder und Brandstetter zur Exemplifikation einer gleichbleibenden Tendenz zur Zeugenschaft aus einer fremden oder fremdgewordenen, urtümlich fern erscheinenden Welt in ihren durch drei Jahrhunderte freilich vielfältig veränderten poetischen Bezeugungen vorstellen. Ulrich Bräker hat seinem kindlichen Zuerwerb-Erleben als Ziegenhirt in seiner frühen, noch durchgängig in pietistischen Formeln gestalteten kleinen Lebensbeschreibung von 1768, beschribung. meiner leiblichen reiß und pilgerschafft eine nur kurze Notiz gewidmet, ausschließlich im Blick auf die dabei – durch die Gemeinschaft mit anderen bereits pubertierenden Hüteknaben – durchlittene erste Anfechtung von »Sünden der Jugend«: »gott hate mir schon einen trib zum guten und einen haß gegen das böse eingepflanzet. da ich aber beim geisen hüten zu gottlosen mitgesellen kam [. . .], wurde jch in meiner schwachen jugent jahren mit hingerisen und habe bey ihnen nichts gelehrnet. dan biswillen wan ich von böser gesellschafft, eine zeitlang abgesonderet war, und ich mich im guten übte, waren mir meine sünden wider leid [. . .]. offt hat mir in der einsamkeit ein gutes büchlein, welches ich beim geisen hüteten nachgetragen tränen ausgeprest.«35
34 Dieser Aspekt ist auch angedeutet bei Messerli, Vermittler, Herausgeber (wie Anm. 7), Erstdr., S. 187, Nachdr., S. 87 f., auf das (entgegen dem geläufigen Bräker-Bild) nie vollkommene Überwinden des Pietismus bei ihm verweist überdies Schneider, Propheten (wie Anm. 21), S. 133 und Schings, Frieselfieber (wie Anm. 15), S. L 10: »Nicht, dass das geistliche Gerüst je zusammenbräche. [. . .] Bräker bleibt fromm. [. . .] Er öffnet sich der Welt.« 35 Bräker, beschribung. meiner leiblichen reiß und pilgerschafft [. . .] bis in das 33geste jahr meines alters, in: ein wort der vermahnung, an mich und die meinigen), in: Sämtl. Schriften, Bd. 1 (wie Anm. 11), S. 19.
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Die Geschichte dieser »Kameradschafft«, die ihn verführt zu schamlosem Reden und Agieren, fehlt freilich auch nicht in Bräkers weit ausführlicherer Lebensgeschichte der Achtziger Jahre (Kap. XIX). Im Zentrum der Hirtenidylle aber steht dort (Kap. XVIII) die auch in Johann Rudolf Schellenbergs wohl bekanntester Illustration zur Erstausgabe festgehaltene36 Episode der wunderbaren Lebensbewahrung beim Versuch, ein verstiegenes Zicklein zu retten. Die bettet sich ein in eine Serie anderer Wunder-Errettungen Bräkers durch den göttlichen Gnadenführer: »Ein andermal befand ich mich mit meinen Geissen jenseits der Aueralp, auf der Dürrwälder=Seite gegen dem Rotenstein. Ein Junges hatte sich zwischen zween Felsen verstiegen, und ließ eine jämmerliche Melodie von sich hören. Jch kletterte nach, um ihm zu helfen. Es gieng so eng und gäh, und zick zack zwischen Klippen durch, daß ich weder obsich noch niedsich sehen konnte, und oft auf allen Vieren kriechen mußte. Endlich verstieg ich mich gänzlich. Ueber mir stuhnd ein unerklimmbarer Fels; unter mir schien’s fast senkrecht – ich weiß selbst nicht, wie weit hinab. Jch fieng an zu rufen und beten, so laut ich konnte. Jn einer kleinen Entfernung sah ich zwei Menschen durch eine Wiese marschiren [. . .], sie hörten mich; aber sie spotteten meiner, und giengen ihre Strasse. Endlich entschloß ich mich, das Aeusserste zu wagen, und lieber mit Eins des Todes zu seyn als noch weiter in dieser peinlichen Lage zu verharren, und doch nicht lange mehr ausharren zu können. Jch schrie zu Gott in Angst und Noth, ließ mich auf den Bauch nieder [. . .] daß ich mich an den kahlen Fels so gut als möglich anklammern könne. Aber ich war todmüd, fuhr wie ein Pfeil hinunter – zum Glück war’s nicht so hoch als ich im Schrecken glaubte – und blieb wunderbar ebenrecht in einem Schlund stecken, wo ich mich wieder halten konnte. Freylich hat ich Haut und Kleider zerrissen, und blutete an Händen und Füssen. Aber wie glücklich schätzt’ ich mich nicht, daß ich nur mit dem Leben und unzerbrochnen Gliedern davonkam! Mein Geißchen mag sich auch durch einen Sprung gerettet haben; einmal ich fand’s schon wieder bey den übrigen. – [. . .] So viele Gefahren drohten mir während meinem Hirtenstand mehrmal, Leibs und Lebens verlurstig zu werden, ohne daß ich’s viel achtete [. . .], und leyder damals nie daran dachte, daß du allein es warst, mein unendlich guter himmlischer Vater und Erhalter! der in den Winkeln einöder Wüste die Raben nährt, und auch Sorge für mein iunges Leben trug.«37
Nun findet man freilich am Bachtobel zwischen dem Dreischlatt oberhalb Krinaus zum Rotenstein hin weder ein solches Wüstenwadi wie jenes bei Jericho, wo der Herr Elias durch seinen Raben nährte (1. Kön 17, vgl. auch Hi 38,41 und Ps 147,9), noch die Schwindel erregenden Felsen, von denen ein Sprung in Gefahr brächte, »Leibs und Lebens verlurstig [verlustig] zu wer36 »Der Geissbub in Todesängsten«, wieder abgedruckt auch in Hofer, Ueli Bräker (wie Anm. 11), S. 9 und Messerli, Vermittler, Herausgeber (wie Anm. 7), Nachdr., S. 89. Vgl. Chronik Ulrich Bräker (wie Anm. 8), S. 347–351: Mai und Juli 1789 (Erscheinen der Erstausgabe und Besuch Bräkers bei Schellenberg in Winterthur und Füßli in Zürich). 37 Bräker, Lebensgeschichte, in: Sämtl. Schriften, Bd. 4 (wie Anm. 10), S. 383–385.
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den«. Nach meinem eigenen Augenschein unter ortskundiger Führung38 müsste man an der nur wenige Meter tief eingefurchten Tobelrinne schon extrem unglücklich fallen, um sich den Hals brechen zu können. Vielmehr findet man über die Allusionen auf die Gleichnisse vom verlorenen Schaf (Lk 15) bzw. vom guten Hirten (Joh 10) hinaus ein unzweifelbar konkretes Modell dieser von Bräker mit allen Spannungsmitteln weltlicher Erzählkunst ausgemalten Gnaden-Bewahrungsgeschichte in seinem eigenen Hausschatz an pietistischer Lektüre. Das hier zur Literarisierung des eigenen Kindheitserschreckens herangezogene Muster findet sich just in jenem 4. Teil der Historie Der Wiedergebohrnen, aus dem sich Bräker seine identifikatorischen Exzerpte gezogen hatte. Auch dort handelt es sich, in der Geschichte des wirkungsmächtigsten reformierten Liederdichters Joachim Neander, wie die da ebenso erwähnten Klippen und gar die blutgierigen Bestien im sanften norddeutschen Mittelgebirgsland ahnen lassen, um ein bereits abgeleitetes Wandermotiv, exemplarisch verkörpert in der vom Neander-Biographen Reitz dort selbst in Erinnerung gebrachten frommen Sage von der Rettung des Kaiser Max aus der Martinswand über dem Tiroler Inntal: »Nicht weniger wird von ihm [Neander] erzehlt/ daß/ da er in seinen Studenten=Jahren dem Jagen sehr ergeben gewesen/ und zu dem Ende (im Braunschweigischen oder Hessen=Lande) auff einen hohen und steilen Berg einsmals gestiegen/ er den Weg herab nicht wieder finden können; also daß/ als es gegen Abend gegangen/ er/ auß Furcht in der Nacht von den wilden Thieren zerrissen zu werden/ sich wolte von einem Felsen herab lassen/ und/ weil solches ohne augenscheinliche Lebens=Gefahr nicht geschehen konte/ sich mit vielen theuren Gelübden zu GOtt gewandt habe: worauff es ihme vorgekommen/ als ergrieffe ihn jemand bey der Hand/ und brächte ihn wieder auff den Weg/ den er gekommen. Bey welcher Erzehlung man sich erinnern mag/ was dem Kayser Maximiliano widerfahren. Dann/ da dieser als ein junger Printz auff dem Tyrolischen Gebürg den Gemsen nachgieng/ und auff einen schröcklichen Felsen stieg/ konte keine menschliche Hand noch Rath ihm wieder herab helffen: darum auch ein Römischer Priester ihm an statt des Communicirens die Hostie von fern zeigete. Allein/ als er sich in dieser Noth zu GOtt kehrete/ wurde er durch einen Engel in Gestalt eines Manns herab geführet. Zu welcher Geschicht ewigem Gedächtnuß der Kayser hernach auff solchen Felsen ein Creutz 40. Fuß lang setzen lassen; welches aber von unten auff wegen der Höhe so klein scheinet/ als wäre es nur anderthalb Ellen groß.«39 38 Herzlich danke ich dem ebenso souverän landes- wie autorkundigen pensionierten Pädagogen Werner Faust in Krinau für seine engagierte Führung und Erschließung der Bräker-Landschaft. 39 Johann Henrich Reitz, Historie Der Wiedergebohrnen, IV. Teil, 1716 (wie Anm. 16), S. 43 f. (»Dritte Historie/ Von Joachim Neander/ erst Rector der Schulen zu Düsseldorff/ nachgehends Prediger zu Bremen«). Zu der Vorbild gebenden, auf ein Ereignis des Jahrs 1493 bezogenen Maximilian-Legende vgl. Karl Haiding, Österreichs Sagenschatz, 3. Aufl., Wien 1965, S. 45 f. (»Kaiser Max auf der Martinswand«) bzw. Heinz Rölleke, Das große deutsche Sagenbuch, Düsseldorf/Zürich 1996, S. 937 f. (»Kaiser Maximilian in der Martinswand«).
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Abgesehen von der wundersteigernden perspektivischen Höhenvermehrung fand Bräker hier in der Episode vom hostienzeigend zum Tode bereitenden Priester auch den Kern seiner eigenwillig umdeutenden eigenen von den Vorüberziehenden, die ihn in seiner hilflosen Lage verspotten. Bekanntlich verweisen religiöse Modelle (hier gleich in dreifacher Referenz auf die alttestamentliche Prophetenerzählung, das Evangeliengleichnis und die MaximilianLegende) nicht auf banale Alltagsrealität, sondern typologisch auf umfassendere Wahrheiten von höherer Dignität, hier die für Bräker bewusstseinsbestimmende göttliche Leitung und Bewahrung. Peter Roseggers Erzählen – wie bei Bräker dadurch in die Öffentlichkeit gefördert, dass seine schreibseligen frühen Kalligraphien Aufmerksamkeit erregt hatten – richtet sich hundert Jahre später nicht mehr auf religiöses Bezeugen, sondern auf das Zeugnisgeben von einer den Lesern (wie aber auch ihm selbst, der sich daraus »Fremd gemacht«, als »Schwächling« ausgestoßen bzw. davongelaufen sieht)40 unerreichbaren Gegenwelt, aus einer zugleich auch untergegangenen Zeit, in der man Feuer noch aus Steinen schlug oder als Glut von Nachbarn erborgen musste. Dadurch gewinnt das Erzählte bei aller Benennung der bitteren Härte der Lebensführung auf dem bergbäuerlichen Familienhof Alpl, wo die Kinder im Heu der Fressraufen ihrer Geißen schliefen, den Anstrich eines verlorenen Paradieses. Wie sehr freilich das »Waldheimat«Idyll ein sentimentalisch beschworenes war, lässt deutlich die am ehesten zu Bräkers Aufzeichnungen kompatible, orthographisch noch ähnlich verwilderte erste Lebns=Beschreibung des Sechzehnjährigen bereits vor seiner Aussendung in die misslingende Schneiderlehre erkennen. Denn, »wall ich aber von Natur aus Kränklich war«, so dass »das Schullgehen oft auf einige Zeit unterbrochen« werden musste, sieht er sich aus seiner Herkunftssphäre – und selbst vom den empfindlicheren Bauernkindern gemeinhin zugedachten Priesterstudium – ausgeschlossen. Auch sein kompensatorischer Lese- und Schreibdrang trägt entscheidend dazu bei, eine unübersteigliche Barriere aufzurichten gegenüber der Welt seines Herkommens, die seine Seele später schreibend wieder als eine vermeintlich heilere suchen soll:
40 Vgl. die eindringliche Analyse dieses Komplexes in der Untersuchung der (auch schon von Sigmund Freud aufgegriffenen) Erzählung, in der Rosegger die obsessive Wiederkehr des Traums vom »Fremd gemacht«-Werden (d. h. der Entlassung des für untüchtig Befundenen aus dem Schneiderberuf) schildert: Karlheinz Rossbacher, »Ich erzähle Träume und sage die Wahrheit.« Peter Roseggers ›Waldheimat‹-Geschichte ›Fremd gemacht!‹. in: Peter Rosegger im Kontext. Hg. v. Wendelin Schmidt-Dengler und Karl Wagner, Wien/Köln/Weimar 1999, S. 119–134, vgl. dort insbes. S. 124 zur »Angst des Aufsteigers vor dem Rückfall« und S. 126 zur Stilisierung der eigenen Kindheit im halbfiktionalen Erzählen. Thematisiert auch schon bei Hellmuth Himmel, Rosegger – ein »Naturdichter«? in: »Fremd gemacht«? Der Volksschriftsteller Peter Rosegger. Hg. v. Uwe Baur und Gerhard Pail, Wien/Köln/Graz 1988, S. 207–215.
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»Ein Haubtstuck in meiner Jugend war auch dieses, das ich sehr ville Feinde hatte, den in der Nachbarschaft, waren mir die Leide nicht hollt, obzwar ich auch wie ander Arbeitten mußte, so sagten sie doch: ›Er der Lenzn Peterl sitzt den ganzen Dag in der Stuben, und Kratzelt‹ indem mir Fremde Leide Holt und Gutt waren, und so kam es das ich mich manchmal hinaussähnde in die Weide Weld, um dord bei den Fremten mein Glück zu suchen; Allein, manchmahl dachte ich wieder: Nein ich wiell nicht ford von meinen Lieben Gutten Ältern, will mich nicht Trennen von meinen Lieben, Geschwistertt, sondern will bei ihnen Bleiben, an ihrer Seide durchbringen die Tage meines Lebens. [. . .] Ja in meinen Sechzenten Jahr mußte ich noch sagen: Noch weis ich nicht zu was mich Gott erschafen had; [. . .].«41
Die Geschichte vom verlaufenen Geißlein in der idyllisierenden Rekonstruktion dieser Welt durch den späteren »Volksschriftsteller«, Als ich noch der Waldbauernbub war, dient auf einer rein innerweltlich-moralischen Ebene zur Versinnlichung des Erstheitserlebnisses von Schuldigwerden, Vergebung und gleichwohl verbleibenden Schuldgefühlen. Das Peterle hat (in der Geschichte Wie das Zicklein starb) sein Lieblingsziegenlämmchen dem geliebten alten »Vetter« (Onkel) Jok schenken wollen, es ist ihm aber entwischt. Als er auf dem Weg zur Nachbarin Knierutscherin um Ofenglut aus »Vorwitz« Ball spielt mit dem Brotlaib, den ihm die Mutter zum Entgelt für die Glutgabe mitgegeben hat, entgleitet ihm dies unrechte Spielzeug und stürzt unerreichbar einen Abhang herab. Die kleine Schuld des Vertuschens seines Brotverlusts ist aber ungewichtig gegenüber jener unbewussten, die ihm der »Vetter« offenbart, der ihn jedoch zugleich mit einer kleinen Notlüge vor der Familie exkulpiert: »›Ich hab zu der Mutter gesagt, ein Stein oder so was wär’ herabgefahren und hätt’ das Zicklein erschlagen. Hab mir’s im Geheim gleich gedacht, das Peterle steckt dahinter. Dein Brotlaib ist schier in den Lüften dahergekommen nieder über den hohen Rain, an mir vorbei, dem Zicklein zu, hat es just am Kopf getroffen – ist das Dingelchen hingetorkelt und gleich maustot gewesen. – Aber – fürcht dich nicht, es bleibt beim Stein [. . .] und jetzt sei still, Bübel, und zerr mir das Gesicht nicht so garstig auseinander. Auf die Nacht essen wir das Tierlein, und die Mutter kocht uns eine Krensuppe dazu.‹ [. . .] Dem Vetter Jok war es vermeint gewesen; nun sollte er davon den Braten 41 Lebns=Beschreibung des Peter K. Rosseggers eines Baern Sohnes auf der Alben Kriglach. In Steiermark [1858], in: Peter Rosegger: Lebens-Beschreibung und Die Schriften des Waldschulmeisters. Hg. und mit einem Nachwort von Karl Wagner, Salzburg/Wien 1993 (Eine österreichische Bibliothek), S. 9–16, Teilfaksimile mit dem kalligraphierten Titelblatt (mit Roseggers Zeichnung des Alpl in der Funktion des Buch-Signets) ebd., S. 337–339. Vgl. ebd. das Nachwort, Karl Wagner, Roseggers Robinsonade ›Die Schriften des Waldschulmeisters‹ S. 341–380 mit der Untersuchung der (für den Rosegger-Mythos hochwirksamen) Fiktionalisierung eigener Lebensgeschichten in selbstzeugnisnahen Darstellungsformen auch im gesamten Erzählwerk dieses »im regionalen und kulturellen Abseits Geborenen« (S. 344, vgl. 341, 345 f., 352, 360, 365). Zu Roseggers Lese- und Schrift-Sozialisation und seiner »Stigmatisierung als Kopfarbeiter« im bäuerlichen Heimatkontext vgl. insbes. Karl Wagner, Die literarische Öffentlichkeit der Provinzliteratur. Der Volksschriftsteller Peter Rosegger, Tübingen 1991, S. 7–14.
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haben. [. . .] Mir hat der meine nicht gemundet. [. . .] Mir auf dem Herzen lag der Stein, ›der das Zicklein erschlagen‹.«42
Ohne alle idyllisierend süß-rührenden Effekte ist das erzählerisch nicht minder kunstvolle Zeugnisgeben in der 1868/69 geschriebenen und selbstbewusst unter die traditionsmächtige Goethe-Überschrift Aus meinem Leben gestellten Lebensgeschichte (und wiederum ähnlich auch in den früheren Romanen) des Vorarlberger Bauernkinds (als Knabe auch Zuerwerbsbandwebers und dann Kleinlandwirts) Franz Michael Felder. Für ihn ist die bäuerliche Herkunft fern aller Zivilisation, aus »dem hintersten Dorfe des innersten Bregenzerwaldes«,43 der Besuch nur einer einklassigen Dorf-Volksschule, in erster Linie unüberwindliche Determination. Jeder emotionale, geistige oder auch physische Ausbruchsversuch des seit seiner Kindheit stark Sehbehinderten (ein unfähiger Dorfarzt hatte ihm in Volltrunkenheit fast das Augenlicht zerstört) durch eine kompensatorische Klassiker-Lektüre und durch Förderer aus der Fremde aber führt den unter dieser Enge Leidenden (ebenso wie Bräker und auch Rosegger ihr Rückzug ins Schreiben) zu Ausgrenzungen44 innerhalb der eigenen Umwelt und in Gewissensbisse, er verweigere ihr auf seinen Sonderlingswegen die erwartbare Solidarität: 42 Rosegger, Waldbauernbub (wie Anm. 32), S. 44–51 (Zitat: S. 50 f.); vgl. Stufen einer ferneren Sentimentalisierung des Motivs vom verlorenen Zicklein bzw. Lämmlein in der dort anschließenden Geschichte »Dreihundertvierundsechzig und eine Nacht«, in der »Bruder Jakoberle [. . .] sein Zeitzerl« verlor (und der Erzähler selbst sich »wie ein verlorenes Schaf« fühlt, S. 54), in der »Waldschulmeister«-Episode »Bei den Hirten«, Rosegger, Lebens-Beschreibung und Die Schriften des Waldschulmeisters (wie Anm. 41), S. 79–82 und – jenseits der Verkitschungsgrenze – im »Märchen« »Das Lamm«, in: Das große Rosegger Hausbuch. Hg. v. Hubert Lendl, München/Wien o. J., S. 170–173. 43 Franz Michael Felder, Aus meinem Leben [Erstausg.: Wien 1904]. Bearb. v. Walter Strolz, Bregenz 1974 (Sämtl. Werke, hg. v. Franz-Michael-Felder-Verein; Bd. 4), Reprint: Bregenz 1995, S. 19. Ediert ist die Autobiographie hier erstmals ungekürzt auf der Grundlage des Manuskripts (vgl. auch zu den Kürzungen und oft sinnentstellenden Textkonstrukten der früheren sechs Ausgaben – S. 6–8, 295). 44 Vgl. dazu Ulrike Längles Nachwort in ihrer vorzüglich kommentierten Ausgabe: Franz Michael Felder, »Ich will der Wahrheitsgeiger sein«. Ein Leben in Briefen, hg. v. Ulrike Längle, Salzburg/Wien 1994 (Eine österreichische Bibliothek), S. 372–384, zur Bevorzugung und geradezu süchtigen Beschaffung der Klassiker, besonders Schillers und Goethes (die die Titelwahl der Autobiographie als intentionalen Akt erweist) schon durch den Vierzehnjährigen ebd. S. 374, zum Werk, z. B. dem das eigene Lebensgefühl spiegelnden Sozialroman »Sonderlinge« ebd. S. 376. Vgl. schon zehn Jahre vor der Autobiographie im Brief des Neunzehnjährigen an den Vetter Johann Josef Felder (»Seppel«) vom 9. Sept. 1858: »Wie traurig lebt sichs doch, auf der Welt ohne ein Wesen, das Leid und Freud mit uns theilt [. . .]. – Doch ja – jetzt habe ich mich wieder, verzeihe es meinem – Dichterkopfe, wenn er zuweilen ins Romantische geräth. Wie ich lebe, fragst Du mich – Göthe sagt in seinen Aphorismen: ›unser Schiksal bestimmt unsere Denkungsart‹, nun suche mein Schiksal in den Tönen, die Dir dieser Brief vororgelt, [. . .] vor mir in der Komode stehen die Werke von Schiller, Göthe, Wieland, Lessing, Spindler, Lavater Fichte Herder Zimmermann u. a. u du wolltest mich Filosofie u Moral lehren, du traust Dir also fast mehr zu als unser Pfarrer«. Ebd., S. 16–18.
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»Wie anders denn als Bauer sollte hier zwischen diesen Bergen ein wenig bemittelter Mensch sein Leben in Ehren durchbringen können? Und den, welcher draußen in der Welt sein Brot oder einen weiteren Wirkungskreis finden wollte, den hielten damals gewöhnlich seine treuen Verwandten und die ganze Gemeinde an Leib und Seele für verloren. Bestand doch [. . .] in unserer freien Landesgesetzgebung [. . .] die Bestimmung, daß niemand sich außer Landes, besonders an unkatholische Orte, begebe [. . .]. Über die Berge hinaus durfte also ein so genannter unruhiger Kopf kaum denken, wie viel zu eng es ihm auch im Tale der Bregenzerach werden mochte.«45
Für den hypersensiblen und phantasiereichen Knaben ist die Tatsache des Todes in der Welt, das Schlachten schon des von den Bauern wie ein Nutzwerkzeug behandelten Viehs (S. 31–35), und mehr noch der Tod des familienernährenden Vaters (S. 77 f.) Anlass zu bohrenden Theodizeezweifeln. Mancherlei verjährtes Unrecht sieht er durch den mächtigen Klerus und die politischen Interessen der Kirche gedeckt. Wenn auch er auf die Naturfreuden, doch zugleich auch auf den geisttötenden Stumpfsinn seines Lebens als Hüterknabe zurückblickt, geht sein oft geradezu statistisch präzises Zeugnisgeben eher auf ethnographische Information denn auf Verklärung, in der vermeintlichen Idylle zeigt dieser »Wahrheitsgeiger« auch alle Errata. So läuft sein entschieden knapperer Bericht vom Entlaufen der Zicklein und der Not ihrer Heimholung hinaus auf einen Aufklärungsappell gegen die Verdummungskraft des Aberglaubens sowie abergläubischer Trübungen der Frömmigkeit: »Den Tag über hätte ich mich nun nicht mehr um meine Ziegen sorgen müssen, wenn mir nicht das Heimholen derselben schon Sorge gemacht hätte, sobald ich sie am Morgen aus dem Auge verlor. Man erzählte mir früher: auf der Alm spuke der Geist eines verstorbenen, pflichtvergessenen Kühers. Dieser treibe abends dem Suchenden die Tiere entgegen, wenn man für ihn bete. In früheren Jahren [. . .] hatte ich das immer redlich getan. Jetzt aber glaubte ich an so etwas nicht mehr, begann aber dafür die Tiere so gut und schonend als möglich zu behandeln. Das hatte denn auch besseren Erfolg als früher mein Beten.«46
Bei solcher Disposition wundert es übrigens nicht, dass Felder explizit an einem anderen Bereich populärer, abergläubisch grundierter Inhumanität Anstoß nimmt, für den Bräker (und selbst noch der Philanthrop Rosegger)47 blind bleibt, den im Volk unreflektiert verbreiteten Abscheu gegen Juden. Insofern in der düsteren Geschichte des Antisemitismus die konträren Positionen des Pietismus (insbesondere seiner radikaleren Strömungen) einige der raren rela45 Felder, Aus meinem Leben (wie Anm. 43), S. 20. Seitenbelege der folgenden Kurzzitate im Text. 46 Ebd., S. 116. 47 Zu diesem Komplex bei Rosegger vgl. etwa das Nachwort von Karl Wagner, in: Peter Rosegger, Lebens-Beschreibung und Die Schriften des Waldschulmeisters (wie Anm. 41), S. 365 f.
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tiv lichteren Punkte darstellten,48 betrübt es, dass Bräker an diesem Lichtblick kaum teilhat, wenn er etwa (in der Lebensgeschichte) für das Hungerjahr von 1770 »politische Kornjuden« mitverantwortlich macht, die der »Teurung vollends den Schwung gegeben« hätten49 oder (in Tagebuchversen vom 30. Juni desselben Jahrs 70) die boshafte Welt beschimpft als ein »verstocktes Gomora, wie dJuden so blind«.50 Umgekehrt kann Felder in seinem Kreis und in seiner Zeit als eher rühmliche Ausnahme gelten, wenn er aufbegehrt gegen die gedankenlos-allgemeine Lust und Schadenfreude am Prellen jüdischer Wanderhändler: »Zum Schaden unterdrückter, ›abgeputzter‹ Juden konnte ich nicht mit [. . .] lachen, sondern mußte sie heimlich bemitleiden. Offen hab ich das nur einmal gewagt und mich dadurch einer gewaltiglichen Strafpredigt teilhaftig gemacht.«51
Alois Brandstetter, der übrigens im intertextuellen Spiel seines viertletzten Romans, der vollkommen handlungslosen »Erzählung« Almträume (1993) das Zurücksinnen seines Icherzählers, der (wie der Autor selbst) ein Museum ausrangierter ländlicher Gebrauchsgegenstände zusammenträgt,52 mit Verweisun48 Jüngere Untersuchungen dazu insbes. Martin Schmidt, Judentum und Christentum im Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden, hg. v. Karl-Heinrich Rengstorf und Siegfried von Kortzfleisch, Bd. 2, 2. Aufl., München 1988, S. 27–188; Hans-Jürgen Schrader, Sulamiths verheißene Wiederkehr. Hinweise zu Programm und Praxis der pietistischen Begegnung mit dem Judentum, in: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, hg. v. Hans Otto Horch und Horst Denkler, Bd. 1, Tübingen 1988, S. 71–107; ders., Lesarten der Schrift. Die »Biblia Pentapla« und ihr Programm einer »Herrlichen Harmonie göttlichen Wortes«, in: Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens, hg. v. Ulrich Stadler, Stuttgart/Weimar 1996, S. 199–218 sowie ders., Philadelphian Hope. The Attitudes of Pietist Immigrants in Pennsylvania towards Jews. In: Pietismus und Neuzeit, Bd. 28/2002, S. 185–212; ferner: Martin Jung, Die württembergische Kirche und die Juden in der Zeit des Pietismus (1675–1780), Berlin 1992 (Studien zu Kirche und Israel; 13), Hans-Martin Kirn, Deutsche Spätaufklärung und Pietismus. Ihr Verhältnis im Rahmen kirchlich-bürgerlicher Reform bei Johann Ludwig Ewald (1748–1822), Göttingen 1998 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus; 34), S. 377–420 sowie Peter Vogt, The Attitude of Eighteenth Century German Pietism towards Jews and Judaism: A Case of Philosemitism? in: The Covenant Quarterly 56/4 (Nov. 1998), S. 18–32. 49 Bräker, Lebensgeschichte, Kap. LXVIII. »Mein erstes Hungerjahr. (1770.)«, in: Sämtl. Schriften, Bd. 4 (wie Anm. 10), S. 487. 50 Bräker, Sämtl. Schriften, Bd. 1 (wie Anm. 11), S. 183. Nur ehrwürdiges Gedenken der alttestamentlichen Israeliten vermerkt dagegen das Sachregister-Stichwort »Juden« in der Chronik Ulrich Bräker (wie Anm. 8), S. 469. 51 Felder, Aus meinem Leben (wie Anm. 43), S. 44. 52 Alois Brandstetter, Almträume. Eine Erzählung, Salzburg/Wien 1993 (und seitenidentisch als dtv-Bd. 12026, München 1995). Eine um Abbildungen aus dem Privatmuseum bereicherte Textcollage aus dieser stark autobiographisch-essayistisch getönten »Erzählung« eröffnet das »Porträt«-Heft zum 60. Geburtstag: Vera Felbermair (Textauswahl) und Josef Neumayr (Fotos), Eine Spurensuche. Alois Brandstetters Erzählung »Almträume« in ausgesuchten Zitaten, in: Die Rampe. Porträt (wie Anm. 30), S. 8–19.
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gen nicht nur auf Hallers Versgedicht Die Alpen, sondern auch auf Bräkers Lebensgeschichte und Adolf Muschgs Erzählung Der Zusenn oder das Heimat verwebt, soll mit zwei Viehtrieb-Episoden aus dem früheren autobiographischen Erzählband Über den grünen Klee der Kindheit (1982) zum Schluss dieser kurzen, an einem einzigen Motivstrang exemplifizierten Übersicht über den Wandel ländlicher Zeugenschaften zur Sprache kommen. Aus der Zwiegespaltenheit zwischen den Sphären heraus evozieren die Rückblicke in die nur noch im musealen Erinnern erreichbare Welt der eigenen Kindheit – die zeitlich wie sogar auch räumlich (paradoxerweise gerade durch den Bau einer Verbindungsautobahn) ferngerückt ist angesichts der aufgehobenen Abgeschiedenheit des Orts – Alternativangebote zu der gleichschaltenden, im technischökonomischen Fortschritt nicht unbedingt humaneren Welt, in der wir alle leben. Beide Sphären sind so auf ihr Plus und Minus zu bedenken, mit der Scham des Erzählenden, dass er sich als Kind vor den Provinzstädtlern seiner dörflichen Abkunft geschämt hatte – so wie der Erwachsene bis heute umgekehrt auf dem Land die angenommene stadtbürgerliche Syntax kaschieren muss. Was aber Brandstetters Hüteepisoden, ausgehend von der Not mit entlaufenen Tieren, für das 20. Jahrhundert zu Tage bringen, erinnert weniger an Bräkers Zeugenschaften vom vorindustriell-ländlichen Leben im Toggenburg als an die Bezeugung seines Grauens beim Aufmarsch und in der technikgestützten Metzelei der Schlacht bei Lobositz: »Mir als Kind reichten drei Kühe im Verband. [. . .] Immer wieder [. . .] entkamen Tiere und streunten durch die Gegend, es war ein dauerndes Besitzer-Verständigen, Nachlaufen und Einfangen. Eine lose Kuh konnte eine ganze Schar friedlich grasender Kühe durcheinanderbringen [. . .]. Heute sehe ich, wie etliche Bauern das lästige Viehtreiben dadurch umgehen, daß sie die Kühe einfach an den Traktor anhängen und ihnen so das Tempo vorgeben, eine einfache und wirksame Methode, die sinnfällig [. . .] die Vorherrschaft der Technik und der Maschine vor dem Lebendigen zeigt. Die vielen Regungen des Kreatürlichen und Animalischen werden durch diesen Schrittmacher systematisch planiert, der Blechtrottel gibt den Ton und die Gangart an, so ist das.«53 »Im letzten Sommer wurde ich bei einem Bauern Zeuge der folgenden Szene: Ein antibiotisch behandeltes und nach den heutigen Regeln der Viehhaltung in Dunkelheit und Bewegungslosigkeit gehaltenes [. . .] Schwein hatte sich selbständig gemacht und lief plötzlich zum Erschrecken des Besitzers vor dem Stall herum. Es kam aber nicht weit, vielleicht 50 Meter, bis es erschöpft zusammenbrach und an Herzversagen starb. Obwohl der Bauer sofort ins Haus gelaufen war, um ein Messer zu holen und das Tier notzuschlachten, kam er nicht mehr zurecht. Später erzählte er mir, das sei leider nichts Ungewöhnliches. Es komme bei diesen Schweinen auch sehr darauf an, sie lebend auf das Lastauto des Händlers und zum Schlachthof zu bringen. Würden sie nur wenige 53 Alois Brandstetter, Über den grünen Klee der Kindheit. Erzählungen, Salzburg/Wien 1982 (Erzählung: Viehtreiben), S. 79 f., München 1985 (dtv-Bd.; 10450), S. 81 f.
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Schritte getrieben, so stürben diese Schweine wie die Fliegen. [. . .] Anfällig und hinfällig sind diese armen Kreaturen heute geworden. Sie haben heute eine fatale Neigung zum ›natürlichen‹ Tod! Dies ist also das Ende.«54
54 Ebd. (Erzählung »In Stadt und Land«, S. 146, Taschenbuchausg. S. 148, Schluss-Satz der Dichtung.
AndreasBürgi DasReisen,dieSchlacht
ANDREAS BÜRGI
Das Reisen, die Schlacht Zu einer Voraussetzung von Ulrich Bräkers Tagebuch Nicht weniger als von der Schreibsucht war Bräker von der Reisesucht beherrscht. Anders als seine Leidenschaft fürs Lesen und Schreiben jedoch fand jene fürs Reisen bis jetzt wenig Beachtung, denn erst seit der Publikation der Tagebücher sind Bräkers Reiseberichte in ihrer originalen Gestalt zugänglich, und es wird deutlich, mit wie viel Sorgfalt er sie ausgearbeitet hat.1 Wie Bräker selber bekennt, war er vielen Leidenschaften unterworfen, doch neben dem Lesen waren das Schreiben und das Reisen die größten, und vor allem waren es diejenigen, die ihn sein ganzes Leben lang beherrschten, das Reisen noch früher als das Schreiben, erlag er doch schon als Zwanzigjähriger den Verlockungen der Ferne, während er erst im Alter von über dreißig Jahren sich ernsthaft mit dem Schreiben zu beschäftigen begann, jedenfalls wenn man seinen eigenen Bekundungen glauben darf.2 Von beidem, vom Schreiben wie vom Reisen, fühlte er sich magisch angezogen, dachte viel über diese Faszination nach und vermochte sich doch nie recht zu erklären, warum für ihn ein Leben ohne Schreiben, aber auch ohne Reisen nicht vorstellbar war. Versucht man, sozusagen an seiner Stelle, dafür eine Erklärung zu finden, fällt als erstes auf, dass Schreiben und Reisen ähnlich strukturiert sind. Könnte das damit zusammenhängen, dass das Schreiben durch das Reisen präformiert ist, und wäre es dann nicht denkbar, dass jenes durch dieses sich erhellen ließe, dass man also Bräkers Schreiben, und das heißt vor
1 Nur Samuel Voellmy erkannte die Bedeutung des Reisens für Bräker und schenkte den Berichten die gebührende Aufmerksamkeit. In seiner dreibändigen Ausgabe druckte er unter dem Titel »Wanderberichte« zahlreiche, von ihm allerdings stark bearbeitete Reiseberichte ab; vgl. Leben und Schriften Ulrich Bräkers, des Armen Mannes im Tockenburg, dargestellt und herausgegeben von Samuel Voellmy, 3 Bde., Basel 1945, Bd. 3, S. 83–222. 2 In der Lebensgeschichte schreibt Bräker im 66. und 67. Kapitel, er habe 1767 die Vermahnung und 1768 das erste Tagebuch angefangen; vgl. Ulrich Bräker, Sämtliche Schriften, 5 Bde. [bisher 1–4], München/Bern 1998–2000. – Bd. IV: Lebensgeschichte und vermischte Schriften, bearbeitet von Claudia Holliger-Wiesmann, Andreas Bürgi, Alfred Messerli und Heinz Graber, München/Bern 2000, S. 484–487. Diese Aussage stimmt mit dem »vorbericht« zur Vermahnung überein; vgl. ebd., Bd. I: Tagebücher 1768–1778, bearbeitet von Alfred Messerli und Andreas Bürgi, München/Bern 1998, S. 3 f.
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allem seine legendäre Schreibsucht, besser verstehen würde, wenn man sich genauer mit seinen Reisen befasste?
I. Beim Reisen wie beim Schreiben geht es Bräker – das ist ein erstes gemeinsames Merkmal der beiden Leidenschaften – nicht um das Ergebnis, sondern um die Tätigkeit. Das Reisen verhält sich zur Reise wie das Schreiben zum Text. »jch dachte ich würde mein schreiben aufgeben, oder wenigstens abkürtzen; wann ich die vielen lappereyen, schmeyrereien, schwärmereyen ansehe, die ich zwar alle aus hang geschreiben, wo mir jez selbst vielles ekelhafft ist, und kaum lesen mag; so dennk ich wozu sol doch all das geschrieb – magst es ia selber nicht mehr lesen – wer wird es den lesen«,
so fragt er sich zu Beginn des Jahres 1779, aber nur, um sogleich ein strenges Regime über sich zu verhängen und sich vorzunehmen, jeden Tag etwas ins Tagebuch einzutragen: »das habe ich mir vorgesezt alle tag etwas, und solt nur eine zielen sein«, denn »mein schreiben lass ich noch nicht, und solte das geschrieb gleich nach dem schreiben verlochet werden; es befriedigt etwas in mir allzusehr«3.
Das Schreiben also steht für ihn im Vordergrund, nicht der Text. Vergleichbare Stellen lassen sich auch über das Reisen finden: »Einsidler, was tragst du heim – lääre säk und müde bein«4, schreibt er im November 1782 nach der ersten Reise, die er nicht aus geschäftlichen Gründen, sondern aus purer Neugier zusammen mit seinem Sohn Jakob nach Zürich unternommen hat, und unter dem Titel »ey, was nutzt das reißen« schließt er an seinen Bericht eine längere 3 Bräker (wie Anm. 2), Bd. II: Tagebücher 1779–1788, bearbeitet von Heinz Graber und Claudia Holliger-Wiesmann, München/Bern 1998, S. 3 f. Im Zusammenhang mit seiner Autobiographie findet sich im Tagebuch eine vergleichbare Stelle, in der er seiner Dankbarkeit gegenüber seinem Verleger Johann Heinrich Füßli für dessen Bearbeitung der Lebensgeschichte Ausdruck gibt. Am 22. Mai 1789, nachdem er die ersten gedruckten Exemplare aus Zürich erhalten hat, notiert er: »nicht mein geschmier wars, das mir so freüde machte – das kandt ich schon lange – freilich, als mein keind – das ich besser wünschte – nein die schönen verbesserungen u. anmerkungen meines guten verlegers – der sich meines geschmiers – so herablassent und gütig annahm – durch eine schmeichelhaffte zierliche vorrede – demselben den weg bante – das wars – das mir so innig wohlthat – solch eine meisterhand brauchte mein geschmiere – dachte ich«; Bräker (wie Anm. 2), Bd. III, Tagebücher 1789–1798, bearbeitet von Andreas Bürgi und Alfred Messerli, München/Bern 1998, S. 158. Bräkers Überzeugung nach ist aus dem Manuskript der Lebensgeschichte erst dank Füßlis Bearbeitung ein Text geworden, und diesen liest er nun ein wenig wie ein fremdes Buch. 4 Bräker, Bd. II, S. 330 f.
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Abhandlung an, in der er das Für und Wider erwägen möchte, ohne dass ihm dies gelingen will. Stattdessen behilft er sich mit einer Geschichte, in der ein Glarner Kaufmannssohn auf den Reisen, die er im Auftrag seines Vaters unternimmt, auf Abwege gerät und schließlich, nachdem er das ganze ihm anvertraute Kapital durchgebracht hat, preußische Dienste annimmt. Man komme auf Reisen schnell aus dem Gleis, bemerkt Bräker dazu. Bei ihm genügten bereits ein paar Tage, und es halte dann sehr hart, sich wieder in die gewohnten Bahnen einzufügen.5 Natürlich sind es gerade die Abwege, die für ihn das Reisen so anziehend machen, und nicht die Ziele. Diese sind das Ergebnis äußerer Notwendigkeiten, insbesondere seines Geldmangels, der ihn zwingt, dort vorzusprechen, wo er mit einer Mahlzeit und einer Übernachtungsmöglichkeit rechnen kann. Man brauche Geld zum Reisen, weiß er, sonst sei es ein »mißrabels reißen«6. Selber muss er möglichst »auf lateinische zehrung reißen«7, und entsprechend richtet er seine Routen auf die Bekannten und Pfarrer aus, die ehemals in Lichtensteig, Wattwil oder Krinau wirkten und nun wieder nach Zürich und ins Bernbiet zurückgekehrt sind und ihm ihre Gastfreundschaft anbieten. Dass Bräker in den Neunzigerjahren mehrmals durch den Kanton Bern und ins Zürcher Unterland wandert, hat wesentlich damit zu tun. Hätte es in seinem Vermögen gestanden, wäre er um die Welt gereist. Reisen und Schreiben sind noch in anderer Hinsicht verwandt. Beide Tätigkeiten erlauben es ihm, sich dem geradezu körperlich schmerzenden Lärm zuhause auf eine Weile zu entziehen: »hie her, alter Adam, heist es dann, wann ich von einem kleinen reißgen zurük komme: da da setze dich u. schweitze die tropfen die dir vorgezählet sind. gewöhne dich an dein haußgelärm, und schwitze denn lärmenden geschöpfen ums brodt, dennen du eine ursach ihres dasein bist. – aber ach, so vielle geschäffte, und das ewig gelärm macht einen ia so verdrießlich und masläidig das mann aus der haut fahren möcht.«8
Dies notiert Bräker im Januar 1779, nachdem er von einer Reise nach Herisau zurückgekommen ist und macht damit deutlich, dass die Freiheiten des Reisens auch auf einer gewöhnlichen Geschäftsreise zu erleben sind, also auch auf seinen monatlichen Wanderungen nach St. Gallen und Herisau. So gesehen hat Bräker mit dem Ferggen die ideale Tätigkeit gefunden, erlaubt sie ihm doch immer wieder, von zuhause wegzukommen. Damit ist ein weiteres Merkmal von Reisen und Schreiben benannt: der Fluchtcharakter. Er lässt sich im 18. Jahrhundert an vielen Reisen beobachten, und bei Bräkers Reisen zeigt er sich besonders ausgeprägt: 5 6 7 8
Vgl. ebd., S. 331 f. Ebd., S. 331. Bräker, Bd. III, S. 454. Bräker, Bd. II, S. 16.
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»ach es ist mir so schweindlicht – habe gestern ein schöpgen zuviel genohmen: ist erst morgens 3. uhr – ach, und so stokfeinster draussen – der himel strömt wasser die menge herab – 2 stunde hör ich schon das plätschern der tropfen auf meinem köhl vor den fenstern – und ich solte eine reiße antretten – und sehe drussen keine hand vor mir – bin ieden augenblik reißefertig – doch ich wil den tag abwarten – die nacht ist niemandse freünd als etwa schelmen und nachtbuben – nein ich will und muß fort – komt der tag – steht mein weib auf – und macht eine hämische wetterpredig – fort, fort, du bist deß wegs kundig – und der regen wird dich nicht ersäüffen – um 9. uhr muß ich in Herisau sein – gott weiß – wie viel mich der hang zum reißen schon gekost – wie viel betrug und ränke – zwar bis St. Galen bin ich beruffswegen genöthiget – aber weiter – ists neügier – und doch – unwiederstehlicher hang«9
Diese Notiz vom September 1790 mag für viele ähnliche Bemerkungen stehen, in denen Bräker über seine kleinen Fluchten nachdenkt, und sie verdeutlicht, mit welch schlechtem Gewissen Bräker unterwegs ist. Stets reist er voller Unruhe und manchmal geradezu gehetzt. Kaum aufgebrochen, sucht er so schnell wie möglich vorwärts zu kommen, um bald wieder zuhause zu sein. So vergällt er sich den lang ersehnten Genuss, ohne bei seinen Angehörigen mit dieser an Selbstbestrafung erinnernden Haltung etwas zu gewinnen. Dasselbe schlechte Gewissen begleitet sein Schreiben. Er ist sich sicher, dass weder seine Umgebung noch seine Familie dafür Verständnis haben und es gescheiter fänden, wenn er sich mehr um Arbeit und Verdienst kümmern würde. Außerdem ist man im Toggenburg der Auffassung, Schreiben schicke sich nicht für einen armen Schlucker, und dass er dazu »seine bokssprünge in druk gibt – als ein kärl von bedütung, in der welt wil figur machen – macht einem s bauchweh«10, wie es im Gespräch »Baltz u. Andreß« heißt, in dem Bräker die Einwände der Umgebung gegen sein Schreiben auflistet. Will man die Gemeinsamkeiten von Reisen und Schreiben auf einen Nenner bringen, so könnte man sagen, es sei immer wieder ein Stück selbst bestimmte Zeit, das Bräker sich und seiner Umgebung abringe, und dies ist die Voraussetzung dafür, den Zumutungen einer festgefügten und von der Umwelt stets aufs neue bestätigten Identität wenigstens zeitweise zu entkommen, mehr noch: Es lässt sich die eigene Existenz neu träumen, neu denken und, vor allem auf der Reise, neu ausprobieren.
II. Exemplarisch dafür stehen zwei Reisen, die in Bräkers Leben einen eben so großen Einschnitt bedeuten wie etwa der Bau des eigenen Hauses, die Hochzeit oder die Geburt der Kinder. Es waren dies die Reise des Zwanzigjährigen 9 Bräker, Bd. III, S. 336. 10 Bräker, Bd. II, S. 696.
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nach Schaffhausen und Berlin und die Reise des schon gebrechlichen Mannes, der ein halbes Jahr vor seinem Tod beschließt, mit seinem Leben nochmals neu anzufangen und zu diesem Zweck Haus und Familie verlässt. Ist seine letzte große Reise so etwas wie ein Abschied vom Leben, so bedeutet die erste die entscheidende Weichenstellung für die Zukunft des jungen Mannes. In jenen fast 13 Monaten zwischen Ende September 1755 und Ende Oktober 1756 macht Bräker Erfahrungen, die die meisten seiner Landsleute ihr ganzes Leben nicht machen, und er erlebt Extreme, die gegensätzlicher nicht sein könnten. In Schaffhausen merkt Bräker nicht, dass er einem preußischen Werber in die Finger geraten ist. Er ist der festen Überzeugung, ein Herrendiener zu sein, und fürs erste lässt sich das neue Leben vielversprechend an. Es ist allem entgegengesetzt, was bislang seinen Alltag prägte: Er wird neu ausstaffiert, erhält feines Essen, dazu Champagner und Burgunder, es wird musiziert, getanzt, mit der Kutsche spazieren gefahren, auf die Jagd gegangen; zu arbeiten gibt’s wenig, viel Zeit bleibt, um in der neuen Livree die Schaffhauserinnen zu beeindrucken. »Glückliche Tage«11 seien es gewesen, schreibt Bräker, der mit blinder Bewunderung an seinem Herrn hängt. Was für ein windiger Kerl dieser Johann Markoni – oder Marck, wie er eigentlich hieß12 – auch sein mag, er zeigt Bräker, dass noch ein anderes Leben vorstellbar ist als das bisher geführte, ein Leben mit einer Zukunft, in der einer sein Glück machen kann und nicht in den Fußstapfen des Vaters die gleichen kargen Jahre durchleben muss. An dieser Erfahrung wird Bräker stets festhalten, und bei allen Rückschlägen gibt er den Anspruch nie auf, wenigstens sich vorzustellen, dass alles auch ganz anders verlaufen könnte. Nicht zuletzt sind es seine Reisen, mit denen er diesen Anspruch bekräftigt. Auf dieser Reise allerdings muss er erfahren, dass die Zukunft in jeder Hinsicht offen ist, zum Guten sowohl wie zum Bösen. Schlimm ist das Erwachen in Berlin. Wieder wird er neu ausstaffiert, mit einer Uniform diesmal, die bis auf den Rock völlig weiß ist. Für jeden Flecken gibt’s Prügel, dazu, Tag für Tag, preußischen Drill und wenig zu essen. Abgründe tun sich auf angesichts von Spießrutenlaufen und der Bekanntschaft mit einem verrückt gewordenen Soldaten im Lazarett. Doch es sind andere, die abstürzen, Kameradschaft und diverse Kniffe helfen, die Knute des Feldwebels und die notorische Armut eines gemeinen Soldaten auszuhalten. Und dann die Schlacht. Bräkers Reise aus dem Toggenburg in die Welt endet im totalen Zusammenbruch: »Aber wer wird das beschreiben wollen, wo jetzt Rauch und Dampf von Lowositz ausgieng; wo es krachte und donnerte, als ob Himmel und Erde hätten zergehen
11 Bräker, Bd. IV, S. 431. 12 Vgl. dazu Helmut Eckert, Ulrich Bräkers Soldatenzeit und die preußische Werbung in Schaffhausen, in: Schaffhauser Beiträge zur Geschichte 53 (1976), S. 122–190.
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wollen; wo das unaufhörliche Rumpeln vieler hundert Trommeln, das herzzerschneidende und herzerhebende Ertönen aller Art Feldmusick, das Rufen so vieler Commandeurs und das Brüllen ihrer Adjutanten, das Zetter=und Mordiogeheul so vieler tausend elenden, zerquetschten, halbtodten Opfer dieses Tages alle Sinnen betäubte!«13
In diesem Moment desertiert Bräker, drei Wochen später ist er wieder daheim. So wie früher wird es nie mehr sein. Aus der Schlacht hat er seine körperliche Unversehrtheit gerettet, nicht aber seine seelische und mentale. Nach diesem 1. Oktober 1756 gibt es den Geißhirten nicht mehr und nicht den Salpetersieder, der seinem Vater zur Hand geht, nicht mehr den unbeschwerten Liebhaber und auch nicht mehr den Luftikus, der sich in den buntesten Farben ausmalt, wie er dereinst sein Glück machen werde, und schon gar nicht mehr gibt es den Soldaten. Die Schlacht hat Bräkers Existenz in ihren Grundfesten erschüttert. Es wurde ein Erlebnis in dieses Leben hineinkatapultiert, das inkommensurabel ist, das nie zur Erfahrung werden kann, weil es mit nichts vergleichbar ist, was diese Biographie bisher geprägt hat und noch prägen wird. Bräker wird dieses Erlebnis nie aneignen können, nie wird er dafür eigene Worte finden. Wenn er von der Schlacht schreibt, behilft er sich mit der Sprache der Apokalypse, und zwar bis tief in die Achtzigerjahre hinein, später begnügt er sich mit Andeutungen. Man soll nur nicht glauben, es sei bildhaft gemeint, wenn er schreibt, Himmel und Erde hätten zergehen wollen. In seinem mittelalterlich geprägten Weltbild, das er erst in den Neunzigerjahren überwindet14, brechen die Sphären wirklich ein, und die Erde spaltet sich. Diese apokalyptische Perspektive spitzt das Inkommensurable dieses Erlebnisses auf ein zeitliches Moment zu, auf das des Unterbruchs respektive des Abbruchs. Plötzlich, unerwartet, zerstörerisch bricht die Schlacht in den Ablauf dieses Lebens ein. Und sie bricht ein in den Lauf der Reise, die so vielversprechend begonnen hat. Fortan sind für Bräker Aufbruch und Katastrophe auf alle Zeiten miteinander verknüpft. Für den Rest seines Lebens wird Bräker damit beschäftigt sein, die Risse zu flicken, und zwar Tag für Tag, in einem Reflexionsprozess, der erst mit seinem Tod zu Ende geht.
III. Als Bräker am 1. Januar 1770 damit beginnt, ein Tagebuch zu führen, mutet der erste Eintrag an wie ein Programm: »es sind ville grose mäner von alters=her gewesen, und sind noch jetz; die grose reisen gemacht haben, in frömde länder, und in andere theille der welt, die vil ungemach leib und lebensgefahr außgestanden haben. dise haben alles genau aufgeschriben, was ihnen 13 Bräker, Bd. IV, S. 462 f. 14 Vgl. Bräker, Bd. III, S. 633–645.
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begegnet, was sey merkwürdiges gesehen und gehört haben. vile von disen, haben ihre reiß beschribung im druck auß gehen lasen, und offt grosen ruhm erlangt; dan ihre bücher sind offt fleisiger gebraucht worden als vil geistliche bücher. nun sind wir in diser welt ja alle pilger, und reisende nach dem ewigen vatterland. warum solt mir dan nicht auch erlaubt sein eine reiß beschribung zumachen, nach dem ewigen vatterland, für mich und meine kinder. was hab ich aber zuschriben auf diser reiß, gibts nicht auch vil ungemach auf disem weg nach Zion. o ja vil ungemach vil leibs und sellen gefahr, vil kumer angst und plagen; aber auch vil früde in gott und seiner liebe. ja es gibt auf diser reise auch vil merckwürdiges zu sehen und zuhören, für leibliche und geistliche augen und ohren. es ist ja hier ein kampfplatz es gleichet ja in diser welt einem schlachtfeld, das voller todter vol plesierter menschen ligt, es ist ja ein lärmendes geschrey von tromen und pfeifen, mordio schreien der sigenden finden. der fürst der finsternus ligt mit einer mächtigen armee wider mich und alle abtrünige im felde, und wo nicht Jesus der mächtige sigesheld, uns unter seinen fahnen nähme, so wurd er uns in einem augenblick jämmerlich umbringen, und in eine ewige gefangenschafft versetzen, in einen marterort der verdamten. wil nun die menschen vil zusagen und zuschriben wüsen, wan sey an einer liblichen schlacht gewesen sind. warum solten wir nicht mehr zu sagen und zu schriben wüsen, von dem vil=wichtigeren geistlichen krieg, und genau achtung geben, ja alle tag auf aufschriben wie vil wir dem find abgewonen, oder aber verlohren haben, damit wir jelanger je klüger werden, und unserem getreüen feldherren immer getreüer werden ach das ich doch vil schriben könte von sigen und überwinden, ach das ich doch unter deinem fahnen o liebricher feldherr dir möchte getreü sein bis in den tod. nun wil ich jm nammen des herren, den anfang machen mit disem 1770.sten jahr. auf zu schriben was mir auf der reiß nach Zion, nach dem ewigen vatterland begegnet, und wie mich mein gott führt, durch saur und süß nach seinem wolgefahlen.«15
Dieser Eintrag ist nur auf den ersten Blick die Fingerübung des Anfängers, der aus den Erbauungsbüchern, die er zu dieser Zeit besonders intensiv liest16, zusammenklaubt, was ihm in die Augen sticht. Sicher, die Metaphorik von Reise und Schlacht ist in der pietistischen Literatur sehr beliebt, doch wenn Bräker sie als Bilder für sein Leben verwendet, dann kann man gar nicht anders, als sie auf sein Jahr in Deutschland beziehen. Man muss dies umso eher, als er sie ganz und gar nicht konform verwendet. Das Bild der Lebensreise 15 Bräker, Bd. I, S. 121 f. 16 Zu seinen bevorzugten Büchern gehören in dieser Phase nach eigenen Angaben zuerst Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum und dessen Paradiesgärtlein, dann die Liederbücher von Schmolck und des St. Galler Pfarrers Zollikofer, die Werke des Zürcher Pfarrers Füßli, Die Wege und Werke Gottes in der Seele und Der Evangelische Weg, Carl Heinrich von Bogatzkys Güldenes Schatz=Kästlein sowie Werke von David Hollaz, Samuel Lutz und Johann Heinrich Reitz’ Historie der Wiedergebohrnen. Auch behauptet er, die ganze Berleburger Bibel gelesen zu haben; vgl. dazu Bräker, Bd. I, S. 106–112, Bd. IV, S. 485 und Samuel Voellmy, Daniel Girtanner von St. Gallen, Ulrich Bräker aus dem Toggenburg und ihr Freundeskreis. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung in der Schweiz in der 2. Hälfte des XVIII. Jahrhunderts, St. Gallen 1928, S. 102–107.
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unterbricht er mit demjenigen der Schlacht und verletzt damit die Konventionen des Genres17, denn das Bild der Lebensreise müsste eigentlich bis zur Ankunft im ewigen Vaterland, in Zion, im himmlischen Jerusalem erzählt werden, und die entsprechenden Lehren müssten erläutert sein, erst dann könnte als neues Bild jenes der Schlacht eingeführt werden. Dies tut Bräker aber nicht. Offensichtlich will er nicht einfach Vorbilder kopieren, sondern verfolgt hier bereits eigene schriftstellerische Absichten. Spielt dabei dieses Muster, diese Struktur von Kontinuität und Unterbruch, von Reisen und Schlacht, mit der Bräker sein Leben charakterisiert, eine Rolle? Eine neue Untersuchung über die Gattung Tagebuch kann hier Aufschluss geben.18 Die Analyse einer Reihe von Tagebüchern des 18. Jahrhunderts – es sind diejenigen von Haller, Gellert, Lavater, Pfranger, La Roche, von der Recke, Goethe, Leisewitz und Lichtenberg – ergibt, dass »der ursprüngliche Schreibanlass für das Tagebuch bei den oben genannten Autoren nicht die Erfüllung eines pietistischen Biographiemodells« ist, »sondern die Erfahrung des Todes und damit diejenige Endlichkeit und Einmaligkeit der eigenen Existenz, die zur Selbsterschreibung zwingt. Gegen die Pietismus-These bisheriger Untersuchungen setzt die vorliegende Arbeit die These von der zentralen Erfahrung des Todes als Auslöser und Motiv von Selbstkonstitutionen im Tagebuchtext.«19 Demnach ist nicht die pietistische Selbstzerknirschung, in der der Einzelne sich beständig auf sich selber verwiesen sieht, Individualisierung also aus dem Geist des radikalen Protestantismus erlebt wird, der zentrale Anstoß für den im 18. Jahrhundert mächtig einsetzenden Individualisierungsprozess. Gemäß Schönborn stellt der Pietismus zwar »Modelle der Selbstbeschreibung« bereit, die aber nicht das »Motiv des diarischen Schreibflusses«20 sind. Außerdem hat das Tagebuch als Medium der Individualisierung wesentlich Anteil am anderen bedeutenden Wandlungsprozess im 18. Jahrhundert, an der Verschriftlichung der Kultur. Individualität, so die Autorin, sei daher »ein Produkt von Schriftlichkeit«21. Betrachtet man Bräkers schriftstellerische Existenz im Lichte dieser gattungstheoretischen Überlegungen zum Tagebuch, zeigen sich daran neue Aspekte. In dieser Sicht ist Bräker nicht in erster Linie der Autodidakt, der sich aus einem diffusen Bedürfnis heraus, aus der viel zitierten »schreibsucht« eben, imitierend an die Literatur seiner Zeit – und sei’s zunächst auch nur an die Erbauungsliteratur – herantastet, um darin doch nie, auch nicht nach der Überwindung seiner pietistischen Anfänge, einen festen Platz einzunehmen – 17 Einschränkend muss ich sagen, dass er diese Verwendung mit Sicherheit nicht in den von ihm erwähnten Büchern gefunden hat. 18 Sibylle Schönborn, Das Buch der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode, Tübingen 1999. 19 Ebd., S. 285 f. 20 Ebd., S. 285. 21 Ebd., S. 284.
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ein Muster, das von Bräker selber forciert wird –, sondern sein Schreiben setzt von Beginn weg mit einem Anliegen von fundamentaler Bedeutung ein, das ihn für den Rest seines Lebens nicht mehr loslässt: die Selbstkonstitution im Medium des Tagebuchs, die entscheidend nur 1786 durch die retrospektive Unternehmung der Autobiographie unterbrochen wird. Wie bei den von Schönborn untersuchten Autoren und Autorinnen entspringt auch Bräkers Tagebuch dem Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit, wie bei jenen ist auch bei ihm der Tod das zentrale Motiv, ein Tagebuch anzufangen. Den oben zitierten Eintrag von 1770 eröffnet er mit einem Gedicht, das mit den Zeilen beginnt: »für meine tage muß ich wol, gott rechenschafft ablegen.« Er bittet Jesus, ihn zu lehren, seine Tage »wol erwegen« und Gott lieben, »bis du mir mein tag ab[b]richst«22. Die Verse sind gewissermaßen aus der Perspektive des Jüngsten Gerichts geschrieben, und dieser Blick des künftig Toten wird, mindestens in den Siebzigerjahren, an fast jedem Jahresbeginn bestätigt. Dieses Bewusstsein muss Bräker seit jenem 1. Oktober 1756 begleitet haben, doch erst in den Sechzigerjahren beginnt er, sich die Grundlagen zu erarbeiten, die ihm die literarische Auseinandersetzung damit erlaubt.23 Und erst nachdem andere Versuche, die eigene Existenz in den Griff zu bekommen, gescheitert sind – das gilt insbesondere für die Ehe, die er schon bald nach der Heirat als missglückt erlebt24, aber auch für seine beruflichen Unternehmungen –, wendet er sich ernsthaft dem Schreiben zu. Ob zudem zwei Todesfälle in der Familie die Entwicklung verstärken und beschleunigen, bleibe dahingestellt. Sicher hat ihn der Tod des Vaters im Jahr 1762 zutiefst erschüttert25, weniger dagegen scheint ihn der tödliche Unfall seines erst 17jährigen Bruders Samson im August 1767 getroffen zu haben26.
IV. Die lebensgeschichtliche Katastrophe der Schlacht ist nicht nur die Ursache für das von Bräker dreißig Jahre lang geführte Tagebuch, sie prägt auch dessen Gestalt. Die rund 3000 Manuskriptseiten wollen in keine der Definitionen, die zur Einteilung der Tagebücher erarbeitet worden sind27, so richtig passen; sie sind kein Künstlertagebuch, kein Journal – schon gar kein intimes –, keine 22 Bräker, Bd. I, S. 121. 23 Vgl. dazu das 67. Kapitel der Lebensgeschichte über die Jahre 1768 und 1769, wo es heißt: »Bist ja immer der alte Mensch, und kein Haar besser als vor 10. Jahren, da du kaum lesen und schreiben konntest.« Bräker, Bd. IV, S. 487. 24 Vgl. Bräker, Bd. I, S. 3 f. und Bd. IV, S. 480 f. 25 Vgl. Bräker, Bd. I, S. 23 f. und Bd. IV, S. 481 f. 26 Vgl. Bräker, Bd. I, S. 24 und Bd. IV, S. 486. 27 Vgl. dazu insbesondere Ralph-Rainer Wuthenow, Europäische Tagebücher. Eigenart – Formen – Entwicklung, Darmstadt 1990.
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chronikalische Aufzeichnung, und sie dürfen nicht auf eine Materialsammlung für die Autobiographie reduziert werden. Bräkers Tagebücher erscheinen als Konglomerat, in dem das kontinuierliche Notieren und Bewerten alltäglicher Begebenheiten, das Rechenschaft ablegen auch, das Bräker zunächst mit Blick auf seine Kinder beginnt und als Zweck lange aufrechterhält, immer wieder durchkreuzt wird von anderen Texten, von Gedichten und Liedern, von Gesprächen, Theaterszenen, Buchkritiken, Briefen, Reiseberichten und 1789 gar vom kleinen Roman über den Liebesritter Jauß. All diese Texte lassen sich nur notdürftig mit einer Datumszeile in die Tagebuchstruktur quetschen. Eigentlich bricht alles auseinander, doch es wäre falsch, die Tagebücher deshalb als eine Art Notizhefte anzusehen, in die Bräker einträgt, was ihn gerade beschäftigt. Vielmehr veranschaulicht diese Disparatheit die Vielfalt, die mannigfachen Wege, auf denen Bräker sein Anliegen der Selbstkonstitution verfolgt und ausprobiert; sie zeugt zudem von der ungeheuren Anspannung, in der Bräker an seinen Tagebüchern schreibt, und sie macht die zentrifugalen Kräfte spürbar, denen er ausgesetzt ist: »hüte verlang ich – und sehn mich nach dem morndrigen tag – und morgen nach dem übermorgenden – im jenner nach dem hornung – im hornung nach dem mertz u. so fort bis in october – dan nimt meine sehnsucht einen sprung, auf künftigen lentzen hinüber – – jmmer bild ich mir künfftige begegnuße, und verlange darnach – u. wenn sie würklich komen – so geh ichs unachtsam vorbey – und so ist mir alleweil im voraus wohl – nicht im genuß des gegenwertigen.«28
Das Tagebuch soll helfen, die Kette der Tage und Wochen mit dem Erleben dieses aus der Bahn geworfenen Ich zu synchronisieren. Das setzt Disziplin in der Beschäftigung mit sich selber und damit im Schreiben voraus. Tatsächlich sind die Tagebücher, meist zum Jahresanfang, voller Pläne, wie das Schreiben einzurichten sei, ein Beispiel ist oben zitiert worden. Es gelingt ihm selten und meist nur mit Anstrengung, seine Vorsätze einzuhalten und sich regelmäßig mit seinem Tun und Lassen auseinanderzusetzen. Plötzlich ist es damit wieder vorbei. Manchmal verstummt er dann für Wochen und Monate, und manchmal brechen in die gleichförmigen Notate über den Alltag Geschichten ein, dass man sich nur die Augen reibt. Was da nur schon aus seiner Nachbarschaft alles zusammenkommt: etwa die Geschichte jenes Bauern, der eines Sonntags aus der Kirche kommt, in den Stall geht, absitzt und sich mit dem Rasiermesser die Kehle durchschneidet. Er wird verarztet, gegen seinen Willen, essen kann er nicht mehr, und das Wasser, das man ihm einflößt, läuft ihm zur Kehle heraus. Nach drei Tagen, kurz bevor er stirbt, sagt er, er würde es nicht mehr tun.29 Oder die Geschichte vom Müller Bösch, der aus heiterem Himmel verrückt wird, rast 28 Bräker, Bd. II, S. 573. 29 Vgl. Bräker, Bd. III, S. 561–563.
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und tobt, bis man ihn in Ketten schließt, auspeitscht und an beiden Armen und Beinen so lange zur Ader lässt, bis er vor Erschöpfung nicht mehr kriechen kann.30 Oder die Geschichte vom Kleinkrieg, den Bräker mit seinem Nachbarn Lieberherr während 36 Jahren geführt hat – welch eine nachbarschaftliche Hölle muss das gewesen sein! Dem Verstorbenen schickt er die böse Bemerkung hinterher, dieser habe sein Leben lang ein bleiches Gesicht gehabt und sich im Tod gar nicht verfärbt, so dass er tot eigentlich die bessere Gesichtsfarbe gehabt habe als lebend.31 Schließlich die Geschichte von jenem anderen Nachbarn, dem Diebe nachts eine Ziege stehlen, sie gleich vor dem Hause schlachten, und, bevor sie sich aus dem Staube machen, den Bestohlenen noch verhöhnen, indem sie ihm Fell und Gedärme an die Brunnenröhre hängen.32 Die Gewalt der Menschen sich selber und anderen gegenüber, ihre Boshaftigkeit, die Erbitterung, mit der sie sich bekämpfen, sind schier grenzenlos, und nimmt man alle entsprechenden Episoden aus den Tagebüchern zusammen, so muss dieses Toggenburg eine Welt voller Grausamkeit und Verrücktheiten gewesen sein, eine Ansammlung von Selbstmördern, Schwermütigen, Säufern, von allen Arten von Verbrechern, Tierquäler, Falschmünzer, Brandstifter, Betrüger – darunter der Schwiegersohn33 –, Einbrecher, Diebe, ja sogar Mörder. Zudem war es, je nach Stand der Konjunktur, geradezu besetzt von Heerscharen von Bettlern, die auf der Suche nach einem Stück Brot, einem Almosen oder auch nur nach Schnaps wie eine Plage beständig talauf und -ab zogen.34 Es erscheint das Bild einer aus allen Fugen geratenen Gesellschaft, dabei ging’s im Toggenburg nicht schlimmer zu und her als in irgendeiner Gegend der Schweiz, wo die Leute von der beginnenden Industrialisierung durchgeschüttelt wurden. Es geht Bräker eben nicht nur ums Toggenburg. Vielmehr zeigt er sein »vatterland«, wie er es mit Vorliebe nennt, als ein Abbild der Welt, und da ihm die Fragilität der Existenz jederzeit gegenwärtig ist, bildet er ein feines Sensorium aus für die Schicksale in seiner Umgebung, denn er weiß, dass genau so gut er in der Haut dieser Menschen stecken könnte. Daher verurteilt er nie, nicht die Alkoholiker, nicht die Bettler, nicht die Selbstmörder und auch nicht die Verrückten, nur zu gut erinnert er sich an jenen schwermütig gewordenen Soldaten im Berliner Lazarett. Damals hat er erfahren, wie unscharf die Grenze zwischen normal und verrückt ist.35 30 Vgl. Bräker, Bd. II, S. 609 f. u. 613 f. 31 Vgl. Bräker, Bd. III, S. 569 f. u. 675. 32 Vgl. ebd., S. 47. 33 Vgl. ebd., S. 557–559. 34 Vgl. etwa die eindrückliche Schilderung aus St. Gallen; ebd., S. 273 f. Mit dem Thema beschäftigt er sich auch im ersten Teil seiner Rede über den Gassenbettel; vgl. Bräker, Bd. IV, S. 562–568. 35 Vgl. dazu die Stelle, in der Bräker die Empfindungen des Halbwüchsigen angesichts der
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In diesen Schicksalen, die die mit großer Anstrengung durchgehaltenen Schilderungen seines Alltags immer wieder schlagartig aufbrechen, spiegeln sich Bräkers Ängste vor dem Absturz. Es sind mögliche Varianten des eigenen Lebens, bedrohlich in höchstem Grad. Wie sehr Bräker in seinen Texten um die eigene Existenz ringt, davon hat die Umwelt mit ihren Ressentiments seinen literarischen Interessen gegenüber keine Ahnung. Sie interessiert sich nicht dafür, für sie ist die Welt klar, und diese selbstgerechte Normalität ist ihm zuwider, die gesellschaftliche wie die familiäre, wo ein widerwärtiges Gewerbe kaum das tägliche Brot bringt, die Frau ihn schurigelt und die Kinder ihm langsam über den Kopf wachsen. Und vor allem erträgt er den Lärm nicht mehr, jenen daheim nicht und immer weniger das Gebrüll an den Stammtischen, es scheint, als dröhne ihm das Getöse der Schlacht umso stärker in den Ohren, je älter er wird. Mehr und mehr sucht er die Stille, zuhause beim Schreiben, soweit dies möglich ist, oder dann auf Wanderungen, die immer länger dauern. Alles spitzt sich zu, und Ende März 1798 ist es genug: Er erklärt seinen Bankrott, verlässt Haus und Familie und nimmt sich vor, noch einmal neu anzufangen.36 Ob er wirklich glaubt, er sei noch derselbe wie vor über vierzig Jahren in Schaffhausen? Schon auf dem Weg nach St. Gallen spürt er, dass er ein alter Mann geworden ist. Für die Strecke braucht er nun anderthalbmal so lang wie früher, ganz zerschlagen langt er bei seinem Freund Girtanner an. Eine Wanderung von St. Gallen nach Zürich vermag er nur mit größter Mühe zu bewältigen. So lässt sich kein neues Leben beginnen, das muss er einsehen, und gibt den Gedanken auf, irgendwo Arbeit als Tagelöhner zu suchen. Nach fünf Wochen kehrt er wieder nach Hause zurück, und jetzt beginnt sich alles zu fügen. Der unruhige Fluss seines Lebens versöhnt sich mit dem Rhythmus der Tage und Wochen, regelmäßig und einfach ist nun die Schrift, sind die Zeilen, die die letzten Tagebuchblätter füllen. In Sätzen von großer Gelassenheit schließt er mit dem Leben ab. Im Mai unternimmt er mit allergrößter Anstrengung seine letzte Reise, die ihn noch einmal nach St. Gallen führt37, dann bleibt nur noch das Schreiben, und auch das fällt immer schwerer: »den 6. [August] vertriebe mir die zeit mit schreiben, an meinen geliebten – aber ach die hand ist schwach und langsam und kan den gedanken nicht nachschreiben – und – auch die stumpfen sich nach und nach ab: so wie sich die lebensgeister nach und nach in allen gliedern in allen nerven abstumpfen abschwachen bis sie sich auf den haubtgeist verlieren – und dieser sich zulezt auch in dem unendlichen revieren verliehrt ach es muß so sein«38. verrückten Mitbewohnerin im Wattwiler Haus schildert; hier wird der Bruch besonders deutlich, der den Jugendlichen vom Erwachsenen trennt; ebd., S. 398 f. 36 Vgl. Bräker, Bd. III, S. 728–730. 37 Vgl. ebd., S. 758–760. 38 Ebd., S. 794 f.
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Am 14. August schreibt er den letzten Eintrag, einen Monat später stirbt er.
V. Das Reisen, die Schlacht – dieser Konflikt kam über Ulrich Bräker wie ein Verhängnis. Lösen ließ er sich nicht, wegschieben auch nicht. Bräker lebte damit wie mit einem Gebrechen. Er gewöhnte sich nie daran, denn er wusste stets, dass nicht hätte geschehen müssen, was ihm zugefügt worden war. Doch er haderte auch nicht. Es ist Bräkers Leistung, dass er diesen Konflikt immer von neuem ausfocht, hoffnungslos und voller Leidenschaft. Das Bewusstsein der Katastrophe – der von Menschen gemachten –, die jederzeit hereinbrechen kann, bewahrte ihn vor der naiven und abgehobenen Seite der Aufklärung. Seiner Begeisterung für die Aufklärung tat dies keinen Abbruch. Aber es ermöglichte ihm, seinen Blick für die alltäglichen Schrecken zu schärfen und ließ ihn jene geistige Freiheit gewinnen, die seine Texte auszeichnet.
JürgenKloosterhuis Donner,B litzundB räker
JÜRGEN KLOOSTERHUIS
Donner, Blitz und Bräker Der Soldatendienst des »armen Mannes im Tockenburg« aus der Sicht des preußischen Militärsystems1 I. Geheimer Rat Goethe dokumentierte im März 1779 mit einer getuschten Bleistiftzeichnung eine Alltagsszene des ancien régime2 Sein Bild schildert eine Rekruten-Anwerbung, wie sie damals im Herzogtum Sachsen-Weimar mit Erlaubnis des Großherzogs von der preußischen Armee durchgeführt werden durfte. Dafür war ein aus vier Soldaten (wohl drei Unteroffizieren und einem Offizier) bestehendes Kommando in einem Hausflur am Werke. Dort hatten sie nicht nur das für ihr Vorhaben sprichwörtliche Musikinstrument, die Trommel, abgestellt, sondern auch ein unverzichtbares Utensil aufgebaut: eine Messlatte, an der gerade ein Soldat die Körpergröße eines Anwerbewilligen nach (scil. Rheinischen) Fuß, Zoll und Strich abliest. Ein anderer Uniformierter notiert die ermittelten Werte. Gemessen wird natürlich barfuß, und so zieht ein weiterer Aspirant auf den bunten Rock im Vordergrund links gerade die Schuhe aus, um sich gleich der Musterung zu stellen. Niemand zwingt den jungen Burschen dazu – während auf der rechten Bildseite eine verzweifelt gestikulierende Frau, vielleicht seine Mutter, ihn davon abhalten will, was ihr wiederum von einem Preußen verwehrt wird. So wird wohl auch das Schicksal des Jungen seinen militärischen Lauf nehmen – wie bei einem drit1 Nb. Ulrich Bräkers Schriften werden mit folgenden Siglen zitiert: UB, Tagebücher = Ulrich Bräker. Sämtliche Schriften, herausgegeben von Andreas Bürgi u. a. Bd. 1–4, München/Bern 1998–2000. – Bd. 1: Tagebücher 1768–1778, bearbeitet von Alfred Messerli und Andreas Bürgi; Bd. 2: Tagebücher 1779–1788, bearbeitet von Heinz Graber und Claudia Holliger-Wiesmann; Bd. 3: Tagebücher 1789–1798, bearbeitet von Andreas Bürgi und Alfred Messerli; UB, Lebensgeschichte = Bd. 4: Lebensgeschichte und vermischte Schriften, bearbeitet von Claudia Holliger-Wiesmann, Andreas Bürgi, Alfred Messerli und Heinz Graber; UB, Chronik = Chronik Ulrich Bräker. Auf der Grundlage der Tagebücher 1770–1798 zusammengestellt und herausgegeben von Christian Holliger, Claudia Holliger-Wiesmann, Heinz Graber, Karl Pestalozzi, Bern/Stuttgart 1985. Im Unterschied zu diesen textkritischen Vorlagen sind die ihnen entnommenen Zitate im Folgenden wie historische Quellen der frühen Neuzeit in der Groß- und Kleinschreibung bzw. in der Interpunktion nach heutigem Gebrauch normalisiert. 2 Rekrutenanwerbung (s. Abb. 1).
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Abb. 1: »Lange Kerls« für Preußens Regimenter: Rekrutenanwerbung in Sachsen-Weimar Getuschte Bleistiftzeichnung von Johanm Wolfgang von Goethe, März 1779. Vorlage: Christoph Michel (Hg.): Goethe. Sein Leben in Bildern und Texten, Berlin/Weimar (2. Aufl.) 1988, S. 155.
ten, bereits gemessenen und für tauglich befundenen Mann, den der Offizier im Hintergrund mit schönen Worten wohl zur Enrollierung geleitet, in eine andere Stube durch eine Tür, die verheißungsvoll mit »Tor des Ruhms« überschrieben, doch darüber hinaus von Goethe sarkastisch mit einem Galgen geziert wurde. Kein Zweifel: der Dichter wusste detailgenau, was er da zeichnete – und umso größerer Augenmerk muss daher auf einen anscheinend älteren Mann in der rechten unteren Bildecke gerichtet werden, der von der Szene völlig ungerührt erscheint und doch an ihr beteiligt sein dürfte. Dem heutigen Betrachter mag die Rolle des recht zufrieden wirkenden Alten unbestimmt bleiben, doch Goethe war sich wohl darüber klar, auf welche Weise so einer die Finger im Werbegeschäft hatte und daher mit in seine Zeichnung musste. Goethes Zeichnung schilderte Alltag des 18. Jahrhunderts, zu dem natürlich das Soldatendasein gehörte. Überall in Europa standen mittlerweile ständig mehr oder weniger große Truppenkörper unter Waffen, die als Folge der »militärischen Revolution« und im charakteristischen Unterschied zu den eher konturenlosen, kriegskonjunkturbedingten Söldnerhaufen des 16./17. Jahrhunderts in feste Verbände gegliedert waren, die auch in Friedenszeiten nicht
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von der Bildfläche verschwanden3. Diese Regimenter – bei der Infanterie4 etwa 1.400 Soldaten, ca. 1.800 mehr oder weniger zum Militär gehörende Personen – garnisonierten meist innerhalb von Stadtmauern, durchdrangen das zivile Leben, und standen doch neben der ackerbürgerlichen Lebensgemeinschaft. Sie blieben Fremdkörper mit eigendisziplinierter Lebensweise, typischer Militärmentalität und besonderen Kriegerwertvorstellungen, kurz, mit eigener »Regimentskultur«. Ihr konstitutives Element bildete das Abgesondertsein ihrer männlichen wie weiblichen Teilhaber, sei es im zwangsweise belegten Bürgerquartier, sei es in der wohnräumlichen Verhaftung an eine eigene Kaserne5. An der Spitze des militärischen Mikrokosmos stand der Regimentschef (im Obersten- oder Generalsrang), der seinem soldzahlenden Dienstherrn vertraglich verpflichtet war, für den ordnungsgemäßen Zustand der Truppe zu sorgen. Sein Hauptproblem bildete dabei die Komplettierung des Regiments durch »Werbung«, denn bei einer Stellenvakanz war möglichst schnell Ersatz zu beschaffen. So hatte ein preußischer Oberst laut Dienstvertrag 1726 dafür »Sorge zu tragen, daß dieses Regiment jedesmahl in gutem und completen Stande erhalten und kein Platz von einem Gemeinen zum längsten in Friedenszeiten über acht Tage vacant bleibe, sondern noch eher, wan es möglich, besetzt.«6
Diese ständig drückende Sorge teilte der Chef mit allen seinen Offizierskollegen – egal, ob sie unter den Fahnen Habsburgs, der Bourbonen, der Zaren oder auch nur eines reichsdeutschen »Fürsten von Zipfel-Zerbst« dienten. Den Preußen standen aber zur Lösung des Problems Truppenkomplettierung, das innerhalb des Regiments auf die zwölf Kompaniechefs (in der Regel im Majors- oder Kapitänsrang) verteilt war, besondere Mittel zu Gebote7. Im Mili3 Vgl. Geoffrey Parker, Die militärische Revolution. Die Kriegskunst und der Aufstieg des Westens 1500–1800, Frankfurt am Main u. a. 1990; sowie John Keegan, Die Kultur des Krieges, Berlin 1995, bes. S. 39–41. 4 Im Folgenden wird die Schilderung und Analyse militärischer Aspekte vor allem der brandenburg-preußischen Armee immer auf die Infanterie eingeengt. Für die Kavallerie und die technischen Truppen galten zum Teil besondere Bedingungen, die eigens untersucht werden müssten. 5 Vgl. Henning Eichberg, Alterität? Die war studies group und die Geometrie der Macht, in: Zschr. für Historische Forschung 21 (1994), S. 375–379. 6 Vertrag zwischen König Friedrich Wilhelm I. in Preußen und dem Oberst v. Schliewitz über die Übertragung eines Regiments zu Fuß [Nr. 9], vom 6. August 1726; gedruckt bei René de l’Homme de Courbière, Geschichte der brandenburgisch-preußischen Heeresverfassung, Berlin 1852, S. 107. 7 Vgl. dazu unverändert grundlegend Curt Jany, Geschichte der Preußischen Armee vom 15. Jahrhundert bis 1914, 4 Bde, Berlin 1928 (repr. Osnabrück 1967); bes. Bd. 1, S. 624–626; Bd. 2, S. 179–181; die neuere Literatur nachgewiesen bei Manfred Messerschmidt, Das preußische Militärwesen, in: Handbuch der preußischen Geschicht, hg. von Wolfgang Neugebauer, Bd. 3, Berlin u.a. 2001, S. 319–329.
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tärwesen ihres »Soldatenkönigs« Friedrich Wilhelms I. hatte sich nämlich seit 1713 im Zusammenwirken von starker Heeresvermehrung, waffentaktischen Erkenntnissen und sozio-ökonomischen Zwängen eine duale Mannschaftsersatz-Methode herausgebildet. Sie wurde zwar unisono als »Werbung« bezeichnet, doch wurzelte sie zu einem Teil im allmählich etablierten, seit 1733 sogenannten »Kantonsystem«: einer von der bäuerlichen Dienstpflicht abgeleiteten (zunächst) lebenslangen Militärdienstpflicht bestimmter männlicher Personenkreise, die sich in ihren Anforderungen raffiniert den ökonomischen Erfordernissen v. a. des ländlichen Arbeitsjahres anpasste und von vorneherein zahlreiche Ausnahmen zuließ8. Das System wies jedem Regiment einen fest umrissenen Bereich von Feuerstellen in der Stadt oder auf dem platten Land zu, von denen es seine »Einländer-«Rekruten beziehen durfte. Zum andern Teil wurzelte die preußische Mannschaftsersatz-Methode in der allgemein üblichen, aus Landsknechtszeiten überkommenen Anwerbung von Söldnern, die aus den verschiedensten Gründen mehr oder weniger freiwillig Handgeld nahmen und für eine bestimmte, vertraglich fixierte Dienstzeit zur Fahne schworen. Sie bildeten den »Ausländer-«Teil eines preußischen Regiments, das freilich alles für Ausland hielt, was nicht zu seinem Kanton gehörte9. Beispielsweise betrachtete eine Truppe, die ihren Kanton in der Altmark hatte, die Neumark als »Ausland«; ein aus diesem Landesteil stammender nicht kantonpflichtiger und dennoch zur Anwerbung bereit gewesener preußischer Untertan war demnach »skisierter Ausländer«. Zu solchen zählten ferner die Söhne der angeworbenen Soldaten, für die »ihr« Regiment meist von Geburt an eine feste Bezugsgröße und eine selbstverständliche Berufsperspektive im ständisch gegliederten Gesellschaftssystem bildete. Und Ausländer waren schließlich die in tatsächlich nichtpreußischen Territorien angeworbenen Männer, die aus welchen Gründen auch immer durch Solddienst ihren Lebensunterhalt erwarben. Doch einerlei, ob die Mannschaft eines preußischen Regiments aus pflichtleistenden Einländern, oder angeworbenen »skisierten« bzw. tatsächlichen Ausländern bestand – speziell bei der Infanterie entschied über deren Diensttauglichkeit bei den Preußen vor allem ein Kriterium: die Körpergröße. An diesem Punkt kam die von Goethe gezeichnete Messlatte ins Spiel, denn die Regiments- bzw. Kompaniechefs wollten nicht umsonst nur »lange Kerle« in 8 Vgl. hier und im Folgenden Jürgen Kloosterhuis, Zwischen Aufruhr und Akzeptanz. Zur Ausformung und Einbettung des Kantonsystems in die Wirtschafts- und Sozialstrukturen des preußischen Westfalen, in: Bernhard R. Kroener, Ralf Pröve (Hg.), Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Paderborn u. a. 1996, S. 168–190; desgl. Hartmut Harnisch, Preußisches Kantonsystem und ländliche Gesellschaft. Das Beispiel der mittleren Kammerdepartements, ebd., S. 137–165; dazu Peter H. Wilson, Social Militarization in EigtheenCentury Germany, in: German History 18 (2000), S. 1–39. 9 Vgl. Wolfgang Hanne, Die Ausländer in der altpreußischen Armee, in: Zschr. für Heereskunde LV (1991), S. 43–47.
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Reih und Glied stehen haben. Vielmehr beruhte nach Erkenntnissen, die besonders Markgraf Philipp Wilhelm von Brandenburg-Schwedt und Fürst Leopold I. von Anhalt-Dessau im Verlauf des Spanischen Erbfolgekriegs erarbeitet hatten10, die taktische Überlegenheit der preußischen Infanterie auf den Schlachtfeldern des 18. Jahrhunderts zu einem guten Teil auf einer physikalisch genau berechneten Handhabung der zeitgenössisch üblichen Feuerwaffe. Dieses Vorderladergewehr war bei den Musketierregimentern um der Tragweite willen so lang wie möglich konstruiert (seit 1740: ca. 1,45 m Gesamtlänge, ca. 1,04 m Lauflänge11), so dass man große Männer mit langen Armspannweiten brauchte, wenn die Muskete mit blitzschnellen Handgriffen in rasche Funktionsfolge (mit scharfer Munition: womöglich drei Schuss pro Minute) gesetzt werden sollte. Die Körpergröße des preußischen Infanteristen musste daher mindestens 5 Fuß 6 Zoll (ca. 1,72 m) betragen, der Durchschnitt kam auf 5 Fuß 7 bis 9 Zoll (ca. 1,80 m), und wer 6 Fuß (ca. 1,88 m) und darüber maß, war zur Garde auserlesen – ab nach Potsdam12! So gesellte sich beim preußischen Regiments- oder Kompaniechef zur ständigen Sorge um die Komplettierung der Truppe der zusätzliche Zwang, dabei nur auf lang gewachsene Männer zurückgreifen zu dürfen, denn die durchschnittlichen Größenwerte der Soldaten bezeichneten auch die militärische Tüchtigkeit ihres Kommandeurs in den Augen des Königs, der »die Maaße« turnusmäßig kontrollierte. Beim Einländer-Ersatz resultierten aus den beiden Faktoren Konflikte, die das Regiment bei der Aushebung seiner Kantonisten mit den interessierten Verwaltungsinstanzen auszutragen hatte. Das Zivil wollte dem Militär nur wirtschaftlich möglichst »entbehrliche« Leute zubilligen, während jenes sein Augenmerk vor allem auf Körpergröße richtete. Beim Ausländer-Ersatz führten die Faktoren zur rastlosen Anwerbung »langer Kerle« in und vor allem außerhalb Preußens, die man nach kräftigem Rühren der Werbetrommel mit Handgeldlockung, List oder gar Gewalt in die Regimentsreihen zu bekommen suchte. Im Normalfall bildete dabei die Auszahlung eines Handgelds und der Abschluss eines (meist sechsjährigen) Dienstvertrags, einer »Kapitulation«, den Abschluss des Überredungsaktes. Natürlich wussten auf der anderen Seite die Dienstwilligen, dass die Preußen bei passenden Körpergrößen die saftigsten Handgelder zahlten: zwischen 50 und 100 bis zu 300 Tlr, und ab 6 Fuß für jeden Zoll 100 Tlr mehr. Hier ließ sich für Angehörige sozialer Unterschichten einmalig viel Geld verdienen. Dies galt nicht nur für den tatsächlich An10 Vgl. Jürgen Kloosterhuis (Bearb.), Legendäre »lange Kerls«. Quellen zur Geschichte Friedrich Wilhelms I. und des Königsregiments 1713–1740, Berlin 2003, S. 8–16. 11 Vgl. Heinrich Müller, Das Heerwesen in Brandenburg-Preußen von 1640 bis 1806. Bd. 1: Die Bewaffnung, Berlin 1991, S. 78–80. 12 Vgl. Wolfgang Hanne, Anmerkungen zur Körpergröße des altpreußischen Soldaten. Taktischer Hintergrund, Anforderungen und Praxis, in: Zschr. für Heereskunde LIX (1995), S. 41–47.
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geworbenen und seine Familie, sondern auch für jene Mittelsleute, die den Werbekommandos Informationen über potenzielle Rekruten zuspielten, die Burschen gleich von zu Hause weg an die Werbeplätze schafften oder dort an der Stange hielten: meist Landfahrer, Gastwirte und lockere Frauenzimmer. Den am Werbegeschäft professionell oder gelegentlich beteiligten »Anbringern« winkten für ihre Maklerdienste je nach Körpergröße des von ihnen vermittelten Mannes hübsche Prämien, sofern durch ihre Mithilfe eine Kapitulation mit dem Werbeoffizier zu Stande kam. Darüber hinaus war dem »Anbringer« – und augenscheinlich hat Goethe einen solchen mit in seine Zeichnung gebracht – das Schicksal seines Opfers egal, das sich in der Regel am Ende der vertraglich fixierten Dienstzeit in der Frage zuspitzte, ob der ausgebildete Mann dann tatsächlich vom harten Soldatendienst in der Fremde freikam oder beim Regiment nolens volens festgehalten wurde. So wichtig für den Erfolg der preußischen Werbekommandos die Mithilfe der örtlichen »Anbringer« war, so notwendig war die diplomatische Absicherung ihrer Arbeit im nichtpreußischen Ausland durch bilaterale Abkommen, die Preußen mit den verschiedenen Landesherrschaften im Reich oder Europa unterhielt (wobei dem Kurfürst von Brandenburg die Werbung in den Reichsstädten Köln, Nürnberg und Frankfurt am Main ohnehin erlaubt war). Auch die Kantone der Schweizer Eidgenossenschaft boten den preußischen Regimentern lukrative Werbeplätze, wo man einerseits manches Landeskind, aber auch viele Berufssöldner anwerben konnte, die den österreichischen, französischen oder piemontesischen Dienst (wie auch immer) verlassen hatten13. Mit flexibel gehandhabten Werbebewilligungen konnten die Kantone eigene Sozialprobleme im Zusammenhang von Überbevölkerung, Arbeitslosigkeit oder Kriminalität entschärften, die Tätigkeit der fremden Werbekommandos im eigenen Herrschaftsbereich kontrollieren, obendrein im Erfolgsfall »Recognitionsgelder« einstreichen und am Ende nötigenfalls auf die Einhaltung der Kapitulation bzw. die Verabschiedung eines angeworbenen Schweizers dringen. Unter diesen Vorzeichen wurde in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts besonders erfolgreich im – seit 1707 preußischen – Fürstentum Neuenburg, aber auch in Graubünden oder Schaffhausen geworben, obwohl Preußen aus Schweizer Sicht nicht-avouiert war, also mit der Eidgenossenschaft (im Unterschied etwa zu Frankreich, Sardinien oder den Generalstaaten) keine »Destination« zum Unterhalt von Fremdenregimentern im eigenen Armeeverband unterhielt. So lieferte der Werbeplatz Schaffhausen zwischen 1739 und 1756 an verschiedene Armeen 5.351 Rekruten, von denen zwar nur 359 (ca. 6 Prozent) nach Preußen gingen, wofür der Kanton insgesamt 9.344 Fl bezog, von denen wiederum Preußen beträchtliche 1.108 Fl (ca. 12
13 Vgl. hier und im Folgenden Rudolf Gugger, Preußische Werbungen in der Eidgenossenschaft im 18. Jahrhundert, Berlin 1997.
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Prozent) berappte14. Für »lange Kerle« zahlte man eben stolze Preise; zumal wenn wie im Fall Schaffhausen dort nur die preußischen Eliteregimenter werben durften, die in Potsdam und Berlin garnisonierten. Zu diesen bevorzugten Einheiten zählte auch jenes Regiment zu Fuß, das in der späteren Stammlistenzählung die Nr. 13 führte bzw. seit 1751 nach seinem Regimentschef August Friedrich v. Itzenplitz hieß. Diese Truppe stand nicht im Garderang und genoss dennoch eine bevorzugte Stellung in der Armeehierarchie. Sie verdankte ihre Entstehung dem Potsdamer Edikt von 1685, mit dem der Große Kurfürst den französischen Hugenotten Zuzug nach Brandenburg-Preußen gewährt hatte. Wer von den Glaubensflüchtlingen seine Militärdienste nehmen wollte, wurde nach Soest in der Grafschaft Mark dirigiert, wo der Marquis de Varenne aus ihnen eine Einheit formierte15. Das Réfugié-Regiment bildete seitdem ein wichtiges Element der militärischen »Veredelung« im Entwicklungsprozess der brandenburg-preußischen Armee, das auf der Basis des reformierten Glaubensbekenntnis und gestützt auf moderne französische Militärwissenschaft dazu beitrug, dass sich die ungezügelten Söldnerhaufen des 17. Jahrhunderts zu den straff gedrillten und streng disziplinierten Soldatenkader des 18. Jahrhunderts wandelten. Typisch preußisch wirkte auf diesen Prozess seit den 1730er Jahren auch das Kantonsystem ein, das die Armee und ihre Regimentskultur zunehmend in die Gesellschaft sozialisierte. Langfristig und vor dem Hintergrund von militärischer Bewährung in den Schlesischen Kriegen konnten es dabei in der zweiten Jahrhunderthälfte sogar zu Ansätzen militärischer Traditionspflege samt identitätsstiftenden Effekten kommen16. In diesem Bezugsrahmen bildete das Regiment v. Itzenplitz eine aus besonderer Wurzel entstandene und durch exclusive Prägung ausgezeichnete Truppe mit »Garde-Pli«17 – eine Elite, von der ihr König besondere militärische Leistungen erwartete, und die an sich selbst hohe Standards stellte, sei es in Sachen des perfekten Drills oder einer vorbildlichen Disziplin, und vor allem mit Blick auf die Körpergröße der bei ihr einrangierten Soldaten. Den entsprechenden Einländer-Er14 Nach einer auf 1739–1767 berechneten Tabelle bei Gugger, Preußische Werbungen (wie Anm. 13), S. 140. 15 Vgl. Jürgen Kloosterhuis, Officiers, Cadets et Mousquetaires: Réfugiés in kurbrandenburgischen Diensten. Ein Beitrag zur Geschichte des Regiments de Varenne; zugleich zu den westfälischen Wurzeln des späteren Ersten Garderegiments zu Fuß, in: Zschr. für Heereskunde LIX (1995), S. 128–136. Für weitere Literatur zur Regimentsgeschichte vgl. Gerhard Krohn, Bibliographie der altpreußischen Truppen- und Garnisongeschichten, Osnabrück 1974, S. 121 f. 16 Vgl. Jürgen Kloosterhuis, Der Husar aus dem Buch. Die Zietenbiographie der Frau von Blumenthal im Kontext der Pflege brandenburg-preußischer Militärtradition um 1800, in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte 52 (2001), S. 139–168. 17 Dem entsprach, dass das Regiment 1762 Zar Peter III. von Russland als Chef erhielt und seine Offiziere seitdem ein silbernes Achselband am Uniformrock tragen durften. 1768 wurde Nr. 13 die Ehre zuteil, unabhängig vom Dienstalter des jeweiligen Chefs stets hinter der Garde und dem Regiment Nr. 1 an der Spitze der Armeestammliste zu rangieren.
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satz bezog der Regimentschef von Nr. 13 aus einem Kanton, zu dem die Städte Friesack, Rhinow und Plaue sowie ganz die Kreise Havelland, Glin, Löwenberg bzw. zum Teil Priegnitz, Ober- und Niederbarnim gehörten; der Ausländer-Ersatz wurde an den besten Werbeplätzen beschafft, zu denen eben Schaffhausen zählte. So funktionierte die preußische Militärersatz-Methode; derart beschaffen war das stolze Regiment, in dessen Bann der »arme Mann aus dem Tockenburg« 1755/56 geriet.
II. Ulrich Bräker stand vom 29. September 1755 bis zum 1. Oktober 1756, vom Zeitpunkt seiner Anwerbung an bis zu dem der Desertion in der Schlacht bei Lobositz, in verschiedenen Dienstverhältnissen unter dem Kommando des Regiments v. Itzenplitz: erst sechs Monate als Offizierdiener, dann vier Monate als Rekrut und schließlich zwei Monate als einrangierter Musketier. Auf die 63 Jahre lange Lebenszeit des am 22. Dezember 1735 geborenen Schweizers entfielen also insgesamt nur zwölf Monate und fünf Tage, in denen er zu »den Preußen« zählte. Dennoch hat die ja vergleichsweise kurze Spanne dieser aufregend-gefahrvollen Reise ins Abenteuer, die in einem ungeheuren Schlachterlebnis gipfelte, seine Persönlichkeit geprägt und so seinen weiteren Lebensweg beeinflusst – auf dem die Erinnerung an jene Zeit im bunten Rock jederzeit abrufbar war. Sicher wurde Bräkers Neigung, sich seitdem und jedenfalls in seinen 1768 einsetzenden Tagebüchern im Soldatenjargon auszudrücken, zeitweise durch das kriegerische Vokabular des Pietismus verstärkt, der ihn bis 1778 so stark beeindruckte18. Aber auch danach pflegte der Toggenburger im Veteranenton beispielsweise Streitereien mit der Ehefrau Salome seufzend als ewige »Hauß-Batalie« zu bezeichnen19; wie von selbst verdichtete sich ihm auf einer Heimreise von Glarus 1790 sogar ein alpines Naturschauspiel zum Bild der Schlacht20. Der heimische Herd war sein »alter Posten«, auf 18 In diesen Zusammenhang gehören die zahlreichen religiösen Militärmetaphern, die sich im Tagebuch bis 1778 finden, wie z. B.: Christus als rechtschaffener General, der für seine Soldaten sorgt; der Heiland als Feldherr, auf dessen Fahnen der Gläubige schwört; die Welt als Schlachtfeld für die Armee des Satans; der Christ als zaghafter Soldat, der auf der Wacht einschläft und dafür Spießruten laufen muss; usw.; vgl. UB, Tagebücher Bd. 1, S. 16 f. (1769), 122, 165 (1770), 289, 314 f., 317 f. (1771), 576 f. (1773), 650 f. (1774), usw.; dazu die Einleitung von Alfred Messerli, S. XX; UB, Chronik, S. 26; sowie August Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen (2. Aufl.) 1968. 19 Ebenso kannte Bräker »Zungen-« oder »Familien-Bataillen« oder fürchtete, mit Dieben »batalisiern« zu müssen; vgl. UB, Tagebücher, Bd. 1, S. 194 (4./9. Februar 1771); Bd. 2, S. 101 (11./12. Juni 1779), 109 (25. Juni 1779), 251 (1. Januar 1782), 257 (23. Januar 1782), 398 (14. Mai 1783); Bd. 3, S. 444 (2. Juli 1793). 20 Tagebucheintragung am 8. Januar 1790; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 276 f.
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den sich der Garnhändler aufatmend zurückzog, wenn er durch die Reihen zänkischer Spinnerinnen hatte »vast Spißruthen lauffen« oder die Weber beim Wirpfenmachen hatte antreiben müssen, die sich dabei so schwerfällig »wie die Kürassier« anstellten21. Dagegen figurirte für ihn die Mutter einer Jugendliebe als »alte Feste«, die man am Besten »mit hundert Schwarzen [scil. preußischen] Husarn überrumpelt« hätte22, doch hielt man sich besser von Frauen fern nach dem Motto: »weit vom Gschütz gibt alt Soldaten«23. Bräker fluchte im Kommisston – »Creutzbatalion«24 –, träumte von Heldentaten »bey einer preusischen Armee«25, zählte friderizianische Anekdoten und Kriegsgeschichten zu seiner »liebste[n] Lectüre«26 – und zu guter Letzt fiel dem »Selbstscriebler« nichts Besseres denn eine typisch preußische Militärweisheit ein, um beim Lesepublikum einen bescheidenen Platz unter den zeitgenössischen Literaturgrößen zu reklamieren: »Eine Armee hat nicht lauter sechs Schuh lange Männer«27. Kurz und konträr: So knapp die Dienstzeit des Deserteurs von Lobositz tatsächlich gewesen war, so tief hat sie dennoch Bräkers Mentalität zumindest auf ihrer sprachlichen Oberfläche militärisch geprägt. Der im jetzt komplett edierten Œuvre neu nachzulesenden Wichtigkeit der preußischen Soldatenphase für die Bräkerbiographie entspricht die Bedeutung, die dem »armen Mann im Tockenburg« schon immer für eine Beschreibung der friderizianischen Armee beigemessen wurde. Sein Schicksal schien stellvertretend für das von abertausenden »Ausländern« zu stehen, die – wie 21 Alter Posten: Tagebucheintragungen am 26. Juli 1789 oder 15. Februar 1798; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 220, 719; Spießruten: Tagebucheintragung am 12. Januar 1782; Kürassiere: Tagebucheintragung am 12. Dezember 1782; UB, Tagebücher, Bd. 2, S. 225 bzw. 335. Das Wirpfenmachen war eine besonders beschwerliche Arbeit, die volle Konzentration erforderte, weil das Webmuster berücksichtigt werden musste; vgl. UB, Chronik, S. 218. 22 Tagebucheintragung am 19. Mai 1779; UB, Tagebücher, Bd. 2, S. 87. Von den preußischen Husarenregimentern war Nr. 5 eigentümlich schwarz uniformiert und mit einem Totenkopf an der Filzmütze ausgestattet. »Prüssens Todtenköpfe« (Tagebucheintragung am 7. Februar 1790; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 296) waren für ihren wilden Kampfgeist besonders berühmt; vgl. August von Mackensen, Schwarze Husaren. Geschichte des 1. Leib-Husarenregiments Nr. 1 [. . .], Bd. 1, Berlin 1892. 23 Tagebucheintrag am 21./22. Juli 1789; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 203. 24 Tagebucheintragung am 7. Juli 1782; UB, Tagebücher, Bd. 2, S. 294. 25 »Belgrad erobert – ein Traum«; Tagebucheintrag im November 1789; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 258 f.; vgl. UB, Chronik, S. 356 f. 26 Tagebucheintrag am 6. Januar 1788 (mit Bezug auf Christian Daniel Schubart, Franz von der Trenck, Pandurenoberst. Dargestellt von einem Unpartheiischen, 3 Bde, Stuttgart 1788– 1790); desgl. Tagebucheintrag am 23. November 1788 (mit Bezug auf Johann Wilhelm von Archenholtz und Friedrich-Anekdoten; vgl. Anm. 42); UB, Tagebücher, Bd. 2, S. 632 bzw. (zit.) 762; desgl. Tagebucheintrag im August 1790 (mit Bezug auf August Christian Borhek, Friedrichs II. des Großen und Einzigen Feier im Elisium, Münster und Hamm 1786, und Honoré Gabriel Mirabeau, Geheime Geschichte des Berliner Hofes, aus dem Französischen, O. O. 1789); UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 331 f.; vgl. UB, Chronik, S. 366. 27 Tagebucheintragung am 1. Januar 1790; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 272.
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nach allgemeiner Meinung er – mit List oder Gewalt zum Militärdienst in Preußen gepresst, mit dem Prügel perfekt gedrillt und durch grausame Strafandrohungen (sozial-) diszipliniert worden waren. Bräker fungierte seit dem Bekanntwerden seiner »natürlichen Ebentheuer« immer wieder und erst recht im »anno jubileo borussico« 2001 als Zeugen der Anklage, »wie das ›wahre Preußen‹ wirklich aussah«28 – und stand zugleich an der Spitze all derer, die es verstanden hatten, sich von den Zwängen des barbarischen Militärsystems durch eine riskante Flucht zu befreien. Der Toggenburger avancierte zum »Musterdeserteur« in der preußischen Militärgeschichte nach seinem aere perennius formulierten Motto: »was gehen mich eure Kriege an«29. Bräker brach mit diesem oft zitierten Satz aus seiner »Lebensgeschichte« das Tabu, das im 19. Jahrhundert im Zusammenhang der revolutionär-bürgerlichen Allgemeinen Wehrpflicht zunächst über die Dienstverweigerung gelegt worden war. Dies bot Bezugspunkte sowohl für die bürgerliche Militärkritik, die etwa der nationalliberale Gustav Freytag um 1850 an den düster empfundenen Seiten des Absolutismus übte30, als auch für ihre marxistische antibürgerliche Variante, wie sie etwa 100 Jahre später Peter Hacks aus pazifistischer Überzeugung gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik Deutschland dramatisierte31. Doch wie auch immer sich Bräkers Biographie instrumentalisieren ließ32, belegte sie stets, wie aufschlussreich gerade das Desertionsphäno28 Artikel »Die verdammten Barbaren! Preußen von unten: Ein Schweizer als Soldat Friedrichs des Großen, von Ulrich Bräker«, in: Die Zeit, Nr. 3 vom 11. Januar 2001, S. 74. Der Artikel bot einen ganzseitigen Auszug aus der »Lebensgeschichte«, war u. a. mit der oben Anm. 2 ausgewiesenen Goethezeichnung illustriert, und sollte insgesamt etwa »ganz aus dem Häuschen geratenen Preußen-Fans« zu Denken geben – denn »wie das ›wahre Preußen‹ wirklich aussah, hat niemand besser beschrieben als der Schweizer Selbstdenker Ulrich Bräker, der 1756 mit List zum preußischen Rekruten gepresst wurde.« Doch der Toggenburger bietet wahrlich mehr, als die Bedienung von Zeitungs-Klischees. 29 UB, Lebensgeschichte, Kap. LII, S. 456. 30 Vgl. Gustav Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit, hrsg. von Kurt Schmidt, Königstein/Ts. und Leipzig 1934 (gekürzte Ausgabe der 1. Aufl. 1859/1867), S. 305–312, der Bräker ausführlich »von den Leiden des alten Heerwesens« berichten lässt. Freytag stand damit in der Tradition jener Absolutismuskritik, wie sie z. B. Hofprediger Eylert am preußischen Militärwesen des Ancien Régime geübt hatte, um die Verhältnisse nach der Heeresreform zu Beginn des 19. Jahrhunderts preisen zu können; vgl. Rulemann Friedrich Eylert, Zwischen Hamm und Potsdam. Ausgewählter Nachdruck der »Charakterzüge und historische Fragmente aus dem Leben des Königs von Preußen Friedrich Wilhelm III.«, bearb. von Jürgen Kloosterhuis, Paderborn 1988, bes. S. IX–XI. 31 Vgl. Peter Hacks, Fünf Stücke. [Dabei] Die Schlacht bei Lobositz. Eine Komödie in drei Akten, Frankfurt am Main 1965 (Erstdruck Berlin, Aufbauverlag 1957); dazu Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart, Bd. 4, Frankfurt/M. 1980, S. 258–260. 32 Kurzerhand wird Bräker für 15 Jahre nach Potsdam in das Gardegrenadierbataillon des Soldatenkönigs versetzt bei Friedrich R. Paulig, Friedrich Wilhelm I., König von Preußen (1688–1740). Geschichte seines Lebens, seines Hofes und seiner Zeit, Frankfurt an der Oder 1909, S. 321–330; dagegen für die Zustände in der preußischen Armee am Vorabend ihrer Niederlage bei Jena und Auerstedt 1806 bemüht bei Alessandro Barbero, Das schöne Leben des
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men für jede sozialhistorisch orientierte Militärgeschichte ist. Einerseits die Formen der Indienstnahme, der Dienstleistung und der Dienstverweigerung, andererseits die Praktiken, jene zu fördern und diese zu hindern, bilden ein untrennbares Ganzes. Sie sind bezeichnet vom jeweiligen Militärsystem und zugleich für dieses bezeichnend – wobei das Militärsystem seinerseits nur ein Teil des politischen Systems ist, das sich des Militärs für seine innen- oder außenpolitischen Zwecke bedient33. Mit Bräker zeichnete ein geworbener »Ausländer« aus der doppelten Perspektive des Weglaufens und des einfachen Mannes ein Bild vom preußischen Militärsystem zur Zeit Friedrichs des Großen, das von der Rezeption in der Regel als abstoßend interpretiert wurde34. Das Gewicht seiner Aussagen über List und Gewalt bei der Werbung, über Prügel und Not im Regiment überwog andere Ansichten, die gleich ihm aus den preußischen Mannschaftsrängen vernehmbar wurden, doch von Pflichterfüllung und Corpsgeist geprägt und daher mit ungleich positiverer Färbung versehen waren. Dies gilt zum Beispiel für das Tagebuch des Musketiers Johann Jakob Dominicus, der als dienstpflichtiger Kantonist im Regiment zu Fuß Nr. 9 stand und mit diesem nicht nur an der Schlacht bei Lobositz selbst, sondern auch in der Nacht zuvor an einem Gefecht teilgenommen hatte, in dem sich die preußische Infanterie-Einheit in notgedrungen zwangloser Kampfformation ebenso untypisch wie hervorragend schlug35. Wie Bräker selbst und nahezu zeitgleich diente Johann Christian Schimmel in Reih und Glied des Regiments v. Itzenplitz. Der Soldatensohn hatte sich nach seinen Memoiren als »skisierter Ausländer« im Herbst Edelmannes Robert Pyle und die Kriege der anderen, Frankfurt am Main 1999. Dort werden z. B. die Dinge aufgezählt, die sich ein Soldat von der Löhnung kaufen musste. Heißt es bei Bräker: »Kreide, Puder, Schuhwax, Oehl, Schmiergel, Seife und was der hundert Siebensachen mehr sind« (UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVI, S. 442), so bei Pyle: »Gips, Pulver [!], Fett für die Schuhe, Öl, Schmirgel, Seife und hundert weitere Dinge« (ebd., S. 609 f.). Für weitere Bräker-Adaptionen in der regimentsgeschichtlichen Literatur vgl. Krohn, Bibliographie (wie Anm. 15), S. 122. Für Bräkers neuesten Auftritt im wiederbelebten Genre »Preußenroman« vgl. Horst Bosetzky, Hoch zu Ross. Der Aufstieg derer von Bosetzki unter Friedrich II. Berlin 2001 (zuerst unter dem Titel »Tamsel«, Berlin 1999), S. 143–145, 149 f. (Romanheld Johann Bosetzki wird von Bräker beinahe zum Desertieren gebracht). 33 Vgl. dazu jetzt grundlegend Michael Sikora, Disziplin und Desertion. Strukturprobleme militärischer Organisation im 18. Jahrhundert, Berlin 1996; sowie in diachroner Ausweitung ders. und Ulrich Bröckling (Hg.), Armeen und ihre Deserteure. Vernachlässigte Kapitel einer Militärgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1998; dazu die Sammelrezension von Henning Eichberg, in: Zeitschr. für hist. Forsch. 27 (2000), S. 229–247; sowie Jörg Muth, Flucht aus dem militärischen Alltag, Freiburg/Brsg. 2003. 34 Besonders ausgeprägt bei Dieter und Renate Sinn, Der Alltag in Preußen, Frankfurt/M. 1991, S. 381–383, bes. S. 420–422. 35 Vgl. Dietrich Kerler (Hg.), Tagebuch des Musketiers Dominicus, München 1891 (repr. Osnabrück 1972); dazu Jürgen Kloosterhuis (Bearb.), Bauern, Bürger und Soldaten. Quellen zur Sozialisation des Militärsystems im preußischen Westfalen 1713–1803, Bd. 1, Münster 1992, Q 224; dazu unten Anm. 174.
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1755 gern anwerben lassen, zog ein Jahr später mit ins Feld und kämpfte bei Lobositz, Prag, Rossbach, Leuthen, Hochkirch, Maxen, Liegnitz und Torgau stets hoch motiviert mit36. Dominicus’ wie Schimmels publizierte Aufzeichnungen sind freilich an Facettenreichtum des gebotenen Stoffs, Intensität der Darstellung und literarischem Stil nicht mit Bräkers »Lebensgeschichte« zu vergleichen. Der Schweizer schrieb Weltliteratur37. Dieser Rang wurde von der bekannten redaktionellen Überarbeitung seines Manuskripts durch den Verleger Füßli nicht gekränkt38; vielmehr verstärkte der Schriftstellerruhm nicht nur die Resonanz auf das Werk, sondern erhöhte auch dessen Glaubwürdigkeit. Der desertierte »Ausländer«, nicht der sichere Kantonist und schon gar nicht der standesbewusste Berufssoldat bestimmte daher das Urteil über die Innenansicht der preußischen Armee unter Friedrich dem Großen. Dennoch wurde am militärischen Wahrheitsgehalt der »natürlichen Ebentheuer« gezweifelt. Auch bei Bräkers Autobiographie stellte sich die Frage, ob er für 1755/1756 alle Fakten aus eigenem Kommisserleben oder doch nur vom Hörensagen schilderte. Die Kritik rieb sich besonders daran, dass bei ihm die Kapitulation der sächsischen Armee bei Pirna (am 16./19. Oktober 1756; Kap. LIV) vor der Schlacht bei Lobositz (am 1. Oktober 1756; Kapitel LV) erfolgte. Ein Offizier der Kriegsgeschichtlichen Abteilung des Großen Generalstabs, der die Lobositzer Quellen zu analysieren hatte, sprach Bräker deshalb mit Blick auf diese und andere Ungereimtheiten jede Glaubwürdigkeit ab und bewertete seine »Lebensgeschichte« als »militärisch [. . .] ziemlich wertlos, besonders da Phantasie und später Gelesenes sich offenbar mit eignen Erinnerungen vermischen«39. Im Unterschied zu diesem Militärhistoriker nahm Generalmajor Curt Jany in seinem Standardwerk über die Geschichte der 36 Vgl. Ein alter Veteran. Seinen eigenen Worten nacherzählt von Bruno Garlepp, in: Der Soldatenfreund 53 (1885/86), S. 301–310. Schimmel wurde 1729 als Sohn eines Garde-Hoboisten geboren, arbeitete zunächst als Stadtmusiker und diente dann von 1755 bis 1765 als Trompeter im Regiment zu Fuß Nr. 13. Nachdem er wieder Stadtmusikerstellen zu Herzberg und Stolpe bekleidet hatte, ließ sich Schimmel erneut als Trompeter beim Husarenregiment Nr. 8 anwerben, in dessen Reihen er die Feldzüge 1778/89, 1791 und 1792/93 mitmachte. Er wurde schließlich zunächst als Schullehrer zu Buchholz in Westpreußen, dann als Akziseinspektor zu Tempelburg zivilversorgt, ging 1809 in Pension und starb nach 1826. Der militärmotivierten Darstellung des Veteranen entsprachen die späteren Berichte der »skisierten Ausländer« Beeger (der im selben Regiment wie Bräker oder Schimmel diente) und Laukhard; vgl. unten Anm. 156 und 160. 37 Vgl. Alfred Messerli, Vermittler, Herausgeber, Kritiker und Leser von Ulrich Bräkers Schriften. Zum 200. Geburtstag des Armen Mannes im Tockenburg, in: das 18. Jahrhundert 22 (1998), S. 184–193. 38 Vgl. Claudia Wiesmann, Autor und Verleger, in: Ulrich Bräker. Die Tagebücher des Armen Mannes im Toggenburg als Geschichtsquelle, Flawil 1978, S. 17–25. 39 Aufzeichnung des Hauptmanns v. Spitz, o. D.; GStA PK, IV. HA Preußische Armee, Rep. 15 A Großer Generalstab/Kriegsarchiv der Kriegsgesch. Abt., Nr. 609 (Ausarbeitung über die Kritik der Quellen). Entsprechend urteilte Hermann Granier, Die Schlacht bei Lobositz am 1. Oktober 1756, Breslau 1890, S. 16 f.
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preußischen Armee Bräkers Erzählung immerhin zum Beleg, dass bei der »Ausländer«-Werbung »trotz aller Verbote keineswegs immer ›mit guter Manier‹ verfahren« wurde – doch fügte er an, dass die Identifizierung des von Bräker benannten Werbeoffiziers unmöglich sei: »Einen ›Lieutenant Marconi‹ (Marconnaye?) hat es übrigens beim Regiment Itzenplitz nicht gegeben.«40 Indessen ließ sich dieser Leutnant – Arnold Friedrich v. Marck – aus Schaffhauser Magistratsakten zweifelsfrei ermitteln und anhand der Ranglisten des Regiments Nr. 13 verifizieren, ebenso wie die Personaldaten aller anderen von Bräker genannten Itzenplitz’schen Offiziere41. Auch der Irrtum über die Abfolge der Kriegsereignisse von Lobositz und Pirna im Oktober 1756 ist einzugrenzen. Bräker war lange von der Richtigkeit seiner Darstellung fest überzeugt, die unter dem 22. September 1756 eine Marschbewegung seines Regiments mit der Kapitulation der sächsischen Armee verband, wie ein aufschlussreicher Tagebucheintrag 1788 erhellte: »Diese Tage über habe meine entübrigten, meist nächtlichen Stunden mit Lesen vertrieben. Archenholz, Geschichte des Siebenjährigen Kriegs in Deutschland, wie auch Anekdoten und Karakterzüge des leztverstorbnen Königs in Preußen, dis war meine liebste Lectüre. Allein bey Archenholzen Erzehlungen vom 7jährigen Krieg, wo er zwar auch als junger Haubtmann diente, zweifelte ich an gäntzlicher Richtigkeit, anderst ich müste mich irren oder dazumal geirrt haben, denn ich habe mein Schreibtäfelchen noch iez, wo ich dazumal alle Tage, sowohl auf Werbungen, auf der Trasport nach Berlin, hernach im Feld alles anmerkte, neinschrieb, wo wir waren, was wir machten. Nun sagt Archenholz in seinen Erzehlungen, die preussische Armee seye 1756 im Herbstmonat schon in Böhmen eingerükt, habe die Batalie bey Lowoschitz geliefert, ehe die Saxen beym Lilienstein zur Übergabe gezwungen worden, welches erst nachher geschehen sey – und ich weiß doch gewüß das Gegentheil*; weiß, das die gantze sächsische Armee bey Pirna entwafnet, vor unserer Fronte vorbey marschierte, und wir erst hernach in Böhmen einrükten, und den 1. Weinmonat die Batalie bey Lowoschitz geliefert wurde, da ich selbst von Morgen 6 Uhr bis Nachmittag 3 Uhr dabey war. Das weiß ich gewüß, und werde diesen Tag all mein Lebtag nicht vergessen.«42
40 Jany, Geschichte der preußischen Armee (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 246 und Anm. 101; dazu auch S. 368 f. Glaubwürdigkeit genoss Bräker bereits bei Alfons Dopsch, Das Treffen bei Lobositz (1. October 1756), sein Ausgang und seine Folgen. Quellenkritische Untersuchungen zur Geschichte des Kriegsjahres 1756, Graz 1892, S. 54; desgl. bei Franz Quandt, Die Schlacht bei Lobositz (1. Oktober 1756), Charlottenburg 1909, S. 30. 41 Vgl. Helmut Eckert, Ulrich Bräkers Soldatenzeit und die preußische Werbung in Schaffhausen, in: Schaffhausener Beiträge zur Geschichte 53 (1976), S. 122–190, bes. S. 136–138. 42 Tagebucheintragung am 23. November 1788; UB, Tagebücher, Bd. 2, S. 762 f. Vgl. zum Nachweis der genannten Schriften die Bibliographie Friedrich der Große 1786–1986, bearb. von Herzeleide und Eckart Henning, Berlin/New York 1788, S. 253, 377: Johann Wilhelm von Archenholtz: Geschichte des siebenjährigen Krieges in Deutschland, Berlin 1788 (Historisches Taschenbuch für 1789), desgl. Frankfurt/Leipzig 1788, desgl. wohlf. Ausgabe Mannheim 1788; Anekdoten und Charakterzüge aus dem Leben Friedrichs des Zweiten, Berlin 1786.
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Tatsächlich hat Bräker jene Marschbewegung seines Regiments im Verband des vom Herzog von Bevern geführten Truppencorps am 22. September 1756 richtig beschrieben, die vom nördlichen Elbufer bei Pirna über den Fluss auf der Praschwitzer Schiffsbrücke ins Lager bei Zehista ging43. Vielleicht wurden an diesem Tag tatsächlich einige waffenlose Sachsen an ihnen vorbeigeführt – doch keinesfalls die ganze sächsische Armee, wie Bräker nach wiederholter Archenholz-Lektüre einräumen musste und selbstkritisch (im obigen Zitat an der Sternchen-Stelle) zum Tagebuch anmerkte: »Ich habe mich geirrt, doch hab ich gefangne Saxen vorbeymarchieren gesehen.«44 Damit dürfte der Irrtum weniger die Unglaubwürdigkeit des Autobiographen, als vielmehr seine intellektuelle Redlichkeit erhärten. Er hat nicht phantasiert, sondern in der Begrenzung der eigenen Wahrnehmungsmöglichkeit recht genau geschildert, wobei ihm selbstverfasste Aufzeichnungen in einem »Schreibtäfelchen« zur Verfügung standen, in das er seit seiner Anwerbung alles hineingeschrieben hatte, »wo wir waren, was wir machten«45. Der schreibkundige Schweizer hat also nach militärischer Art zumindest ein sogenanntes »Marschjournal« geführt, wie es in der preußischen Armee nicht nur von jüngeren Offizieren verlangt wurde, sondern auch bei Unteroffizieren und Gemeinen üblich war46. Einmal abgesehen davon, dass die Anfänge von Bräkers Schreiben also im Soldatenbrauch beruhten47: auf dieser zuverlässigen Grundlage, die im Einzelfall durch anderweitige Nachrichten von den Kriegsereignissen vielleicht noch anzureichern war, und einem hervorragenden Erinnerungs43 Vgl. entsprechende Angaben im Tagebuch der Einschließung des Sächsischen Lagers bey Pirna, in: Sammlung ungedruckter Nachrichten, so die Geschichte der Feldzüge der Preußen von 1740 bis 1779 erläutern, 2. Teil, Dresden 1782, S. 529–555, bes. S. 539. 44 Tagebucheintragung am 23. November 1788; UB, Tagebücher, Bd. 2, S. 762, SternchenAnmerkung. Bei den Vorbeimarschierenden wird es sich meist um Deserteure gehandelt haben, denn bis zum 22. September war nur etwa ein Dutzend sächsischer Soldaten gefangengenommen worden; vgl. Heinrich Aster, Beleuchtung der Kriegswirren zwischen Preußen und Sachsen vom Ende August bis Ende Oktober 1756, Dresden 1848, S. 272, 276, 298. 45 Das (oder die) »Schreibtäfelchen« ist (oder sind) nicht mehr erhalten; vgl. UB, Chronik, S. 330. 46 Ein solches »Journal« hielt zunächst die täglichen Marschleistungen fest, angereichert z. B. durch die Tagesparolen oder andere dienstliche Produkte. Es konnte im Notieren eigener Erlebnisse zum Tagebuch (wie z. B. dem des Musketiers Domicius; vgl. Anm. 35) gesteigert und in Ruhezeiten zur geschlossenen Darstellung literarisch ausgearbeitet werden; vgl. Otto Hermann, Über die Quellen der Geschichte des Siebenjährigen Krieges von Tempelhoff, Berlin (Phil. Diss.) 1885, S. 44–46. Für ein prominentes Beispiel einer »Schreibtafel« vgl. Reinhold Koser, Tagebuch des Kronprinzen Friedrich aus dem Rheinfeldzuge von 1734, in: Forschungen zur Brandenburg-Preußischen Geschichte 4 (1891), S. 217–226; für Beispiele aus dem Mannschaftsstand vgl. Kloosterhuis, Garbeck und Lobositz (wie Anm. 174), S. 90 und 94 (Marschjournale zweier Musketiere des Regiments zu Fuß Nr. 9, 1756–1763). Vergleichbare Aufzeichnungen pflegten Handwerksgesellen auf ihren Arbeitswanderungen zu machen. 47 In bescheidener Ergänzung zu Karl Pestalozzi u. a.: Schreibmotivationen, in: Ulrich Bräker (wie Anm. 38), S. 9–16.
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vermögen basierten seine Angaben über die Militärdienstzeit. Bräker kann in diesen Dingen direkt beim Wort genommen werden. Allerdings soll dabei der Blickwinkel nicht wie üblich vom Individuum auf die Armee, sondern einmal aus der Regimentsperspektive auf den »Ausländer« aus dem Toggenburg gerichtet werden, um den militärischen Informationsgehalt des Bräker-Œuvres jenseits der überkommenen Negativklischees »mit List geworben, mit Gewalt gedrillt, mit barbarischen Methoden diszipliniert« neu auszuschöpfen48. So wird hier gleichsam – angelehnt an eine doppeldeutige Erinnerung, die der »Musterdeserteur« seinem stolzen Regiment bewahrte: »Jsenblitz, ein herrlicher Name! Sonst nannten’s die Soldaten im Scherz auch Donner und Blitz, wegen unsers Obristen gewaltiger Schärfe«49 – von Donner, Blitz und Bräker die Rede sein. Dabei stehen drei Themenkreise zur Debatte: Anwerbung im »Anbringersystem«; Eingliederung in das Regiment; Exerzieren – Desertieren.
III. 1. Anwerbung im »Anbringersystem« Sekondleutnant Arnold Friedrich v. Marck vom Regiment zu Fuß Nr. 13, der mit einigen Unteroffizieren auf Werbung in Schaffhausen lag, nahm Ulrich Bräker am 29. September 1755 in den preußischen Dienst. Welche Motive lagen der Entscheidung des Offiziers zugrunde; was bewog den Toggenburger Bauernsohn zu diesem Schritt? In welchen Grenzen blieb der unerfahrene, noch nicht zwanzigjährige Bursche dabei handlungsaktiv; inwieweit wurde er das Opfer von »Anbringer-«Listen oder gar gewaltsamer preußischer Werbemethoden? Der »arme Mann« selbst hat darüber auf zweierlei Weise berichtet – wobei seine erste Version um 1770 unter religiösen Vorzeichen eher vordergründig auf eine verhängnisvolle Wechselwirkung von eigener Sündhaftigkeit und fremden Betrug abhob, während die spätere Darstellung der »Lebensgeschichte« um 1790 differenzierter die Spielräume zwischen Zwangsläufigkeit und Selbstbestimmung in der Interaktion der am alltäglichen Vorgang beteiligten Personen zu erkennen gab. Die religiösen Vorzeichen formulierte Bräker im Tagebuch 1768 mit Bezug auf das Fünfte Gebot so: 48 Vgl. für das Klischee z. B. die Einleitungen zu den (gegebenenfalls nur Teil-)Ausgaben der »Lebensgeschichte« von Wolfgang Pfeiffer-Belli (München, Winkler 1965), Helmut Klippel (Hürtgenwald, Pressler 1985) oder Hans Mayer (Zürich, Diogenes 1993). Dagegen hielt nur eine von Helmut Eckert besorgte und eingeleitete Teilausgabe (Osnabrück, Biblio 1980; dazu oben Anm. 41). 49 UB, Lebensgeschichte, Kap. L, S. 453. Vgl. entspr. zur Biographie Itzenplitz den Artikel bei Kurt von Priesdorff (Hg.), Soldatisches Führertum, Hamburg o. J., Bd. 1, Nr. 384; dazu unten Anm. 135.
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»Jch aber bin meinem liebrichen Gott und Vater widerum untreu worden und habe mich zu böser Geselschaft geselet; bin in Thumheit auf eine unverständige Weiß und aus Fürwitz gar von Vater und Muter hinweggegangen in die Frömde in dem 19. Jahr meines Alters, bis ich verfüret war und ins Elend und Leibeigenschafft kam; da ich erst erkante, das ich hete sollen in meinem Vatterland bleiben und mich ehrlich nehren«50. Vor diesem Hintergrund sah Bräker zunächst seine Dienstnahme, nachdem ihn zwei Landsmänner nach Schaffhausen gebracht hatten: dort war »ein Herr, der wolte mich dingen, wolte ihnen aber nicht gnug Drinckgelt geben: da wolten sie mich weiters führen. Ich aber merkte ihr Betrug und dingte mich selber für alle Tag, 8 Batzen Lohn und Kleider, wuste aber nicht, das es ein preusischer Ofecier war«51.
Auch ohne den religiösen Überbau hat Bräker später an dem Grundmuster der Betrugsversion »bald ein Herrendiener, bald ein Soldat« festgehalten52. Entsprechend wurde die Geschichte seiner Anwerbung seit Gustav Freytag gerne rezipiert. Aber der »arme Mann« gab dazu in der Autobiographie weitere Informationen, die seine Anwerbung in ganz anderem Licht erscheinen lassen. Denn es war ja weniger seine »sündhafte Neugier auf die Welt«, als vielmehr die soziale Not im Elternhaus gewesen, die den Burschen im Herbst 1755 nach Schaffhausen trieb. Schmalhans hieß der Küchenmeister bei den Bräkers, nachdem der Vater bei der Bewirtschaftung des Dreischlatt-Hofes Bankerott gemacht und mit Frau und zehn Kindern das Armenhaus auf der Steig zu Wattwil bezogen hatte. Ueli musste zum Lebensunterhalt der Familie erst als ungelernter Tagelöhner, dann durch das ebenso schmutzige wie unlukrative Salpetersieden beitragen, wobei er mit einem »groben, aber geraden ehrlichen Menschen« zusammenarbeitete, »der ehemals Soldat gewesen« war53. Der lebenskluge Veteran wies ihm, dem ältesten Bräker-Sohn ohne große Erbaussichten, den besten Weg zur sozialen Absicherung: auf einem anderen Hof, durch die Ehe mit einer sitzengebliebenen ältlichen Bauerntochter54. Doch der unbedarfte Salpetersieder verspielte diese Chance, da er sich sehr zum Ärger seines Vaters in ein junges hübsches Mädchen verliebte, die Stieftochter eines Schnapsbrenners, die eigentlich ihrerseits auf gute Versorgung hätte bedacht sein sollen55. So gaben die 50 Tagebucheintragung »Ein Wort der Vermahnung an mich und die meinigen, daß nichts besers sey, den Gott fürchten zu allen Zeiten«, 1768; UB, Tagebücher, Bd. 1, S. 8. Vgl. ähnlich das »Gebätt«; ebd., S. 87; dazu 2. Moses, 20, 12: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass Du lange lebest im Lande, das Dir der Herr, dein Gott, gibt«. 51 Tagebucheintragung »Beschribung meiner leiblichen Reiß und Pilgerschafft in diser armen Welt bis in das 33geste Jahr meines Alters«, 1768; UB, Tagebücher, Bd. 1, S. 20 f. 52 Tagebucheintragung »Bald diß, bald jenes«, am 26. September 1772; UB, Tagebücher, Bd. 1, S. 440. 53 UB, Lebensgeschichte, Kap. XXV ff, S. 396–398., zit. S. 410. 54 Die »graue« Ursel, die »uebrigens [. . .] eine ordentliche Bauerntracht« trug; UB, Lebensgeschichte, Kap. XXXII, S. 411. 55 Anna Lüthold von Horgen (1732–1794), die sich sofort nach Bräkers Anwerbung anderweitig verheiratete; vgl. Samuel Voellmy (Hg.), Leben und Schriften Ulrich Bräkers, des Armen Mannes im Tockenburg. Bd. 1, Basel 1945, S. 42.
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Eltern Bräker ihren Ueli aus dem Sozialverband der Familie frei, als bei ihnen zu Beginn der Winterarbeitspause 1755/56 der Gabelmacher Laurenz Aller (eigentlich: Alder) aus Schwellbrunn erschien, der den Werbekommandos in Schaffhausen wohl als »gelegentlicher Anbringer« zuarbeitete. In der Rheinstadt hatten damals fünf verschiedene preußische Regimenter offiziell genehmigte Werbequartiere aufgeschlagen; darunter seit dem 25. Juni 1755 der Sekondleutnant v. Marck, der an der Spitze einiger zuverlässiger Unteroffiziere für Itzenplitz Nr. 13 »Ausländer-«Ersatz beschaffen sollte56. In Offiziermontur, doch unter dem Decknamen »Johann Markoni«, unterhielt er zusammen mit zwei ebenso uniformierten Unteroffizieren im Gasthaus »Zum Schiff« die Werbestation57, während andere Sergeanten möglichst unauffällig in Zivil und mit abrasiertem Soldatenschnurrbart den Stadtstaat nach Informationen über geeignete großgewachsene Personen abstreiften58. Sie waren dabei auch auf die Mithilfe von Einheimischen angewiesen, die nach »eigentlichen« und »gelegentlichen Anbringern« unterschieden wurden. Während man den ersteren meist misstraute, galten die »gelegentlichen« aus Werberperspektive für »größtentheils gute ehrliche Leute aus verschiedenen Ständen, welche die Gelegenheit benutzen, sich entweder durch das Zuführen oder Anbringen eines Menschen, dessen Umstände ihn zum Soldatenstande nöthigen, der sich freiwillig dazu entschließt, oder durch das Nachrichtgeben von einem dieser Art Menschen, sich von dem Werber, dem sie dazu verhelfen und nützlich sind, eine billige Vergeltung zu erwerben.«59
Vater Bräker und »Anbringer« Alder konnten also systemgerecht auf eine Provision hoffen, wenn es zu Uelis Anwerbung etwa bei einem preußischen Regiment kam. Denn direkt auf den Soldatendienst lief es ja hinaus, wenn der »Anbringer« seinem gutmütigen Opfer vorschwärmte: »Potz Hagel! wenn ich noch so jung wär’, und’s Maul voll hübsche Zähn hätte, wie du, das ganze Tockenburg mit allen seinen Stricken und Seilern sollten mich nicht im Land behalten.«60 Sapienti sat: intakte Schneidezähne waren die Voraussetzung für den Dienst bei der Infanterie, weil davon das Patronenab56 Vgl. hier und im Folgenden Eckert, Bräkers Soldatenzeit (wie Anm. 41), S. 136–138. 57 Das Tragen der Uniform auf der Werbestation war in den Werbereglements vorgeschrieben, doch die Annahme eines »Nom de Guerre« im Kontakt mit Anzuwerbenden nicht verboten, so dass es m. E. nicht nötig ist, wie Eckert (ebd., S. 179 ff.) eine rücksichtsvolle Namensmanipulation durch Bräker anzunehmen. Der Autobiograph berichtet präzise; wenn er schrieb, dass sich v. Marck ihm gegenüber »Markoni« (»Markony«) nannte, dann wird es so gewesen sein. 58 Entsprechend mussten die Unteroffiziere wieder ihren Bart wachsen lassen, wenn es zurück zum Regiment ging; vgl. UB, Lebensgeschichte, Kap. XLIII, S. 435. 59 Unterricht für die Königlich Preußische Infanterie im Dienste der Garnison, auf Werbungen und im Felde, Berlin 1805 (repr. Osnabrück 1982), S. 115. Zur Ergänzung dieses für Unteroffiziere konzipierten Manuals, das z. B. über das preußische »Werbe-Know How« genaue Auskunft gibt, vgl. Johann Heilmann, Die Kriegskunst der Preußen unter König Friedrich dem Großen, Teil 1, Leipzig und Meißen 1852 (repr. Krefeld 1972), S. 1–17. 60 UB, Lebensgeschichte, Kap. XXXIII, S. 414 f.
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beißen beim Vorderladergewehr-Exerzieren abhing61. Das wusste jedermann in der Schweiz, dem europäischen Rekrutenreservoir62, und so auch »Rasch« und »Hohlenstein«, zwei alte Soldaten, die – so ließ sie Bräker 1780 in seiner »Gerichtsnacht« auftreten – einst im österreichischen Solddienst in Brabant gestanden hatten und in der Schlacht bei Rossbach 1757 desertiert waren. Da die ergrauten Pantoffelhelden mittlerweile unterm Ehejoch seufzen, trumpft Rasch auf: »Het ich nur meine Zähn noch, wolte den alten Brumcäter wieder forn Altar stellen, wo ich ihn genohmen; und Allons Marsch, das Thal hinunter, wos beßere Geschöpfe hat« – doch Hohlenstein holt ihn in die Realität zurück: »Die alten Cameraden wären fort oder auch verdießliche Murrer wie wir, und die jungen würden dein Patronnen abbeißen und deine zugeschrumpten Waaden belachen.«63 Kein Zweifel: Uelis Weg zu den Soldaten war zu diesem Zeitpunkt im Herbst 1755 schon vorprogrammiert; so sicher, wie ihn zum Beispiel sein Bruder Jakob 1771 auf zwölf Jahre in piemontesische Dienste, der Nachbar Hans Jakob Bösch 1787 auf drei Jahre nach Frankreich, oder 1794 zwei Söhne seines Bruders Hans Melchior Bräker wiederum unter die Fahnen Piemonts beschritten (wobei sie übrigens Onkel Ulrich als Gläubiger ihres Vaters in einen mühsamen Prozess um die »Anbringer-«Provision in Höhe von 20 Gulden und 1 Tlr verwickelten)64. So transportierten der »Anbringer« Alder und ein weiterer Kumpan den wohl noch ahnungslosen Bräker schnurstracks in zwei ermüdenden Nachtmärschen zwischen Samstag, 27. September, und Montag, 29. September 1755, von Wattwil über Herisau nach Schaffhausen, in das Gasthaus »Zum Schiff«, zur Werbestation des Sekondleutnants v. Marck vom Regiment v. Itzenplitz65. 61 Andererseits gehörte mutwilliges Zähneausbrechen zu den Selbstverstümmelungsmethoden, die bei preußischen Kantonisten als Militärdienstverweigerung bestraft wurden; vgl. Friedrich Wilhelm Christian Ribbentrop, Verfassung des preußischen Cantonswesens, Minden 1798, S. 117 f. 62 Vgl. M.[arkus] Feldmann, H.[ans] G.[eorg] Wirz (Bearb.), Schweizer Kriegsgeschichte, 2. Teil, Bern 1916, S. 32–34. 63 »Die Gerichtsnacht, oder Was ihr wollt«, 1780; UB, Sämtliche Schriften Bd. 4, S. 165, 167. Mit dem »Veteran Hohlenstein« könnte Bräker sich selbst porträtiert haben; vgl. Voellmy, Leben und Schriften Ulrich Bräkers (wie Anm. 54), Bd. 2, S. 21. 64 Solddienst Jakob Bräker, Tagebucheintragung am 25. März 1771; UB, Tagebücher, Bd. 1, S. 309 f.; dazu Schreiben Ulrichs, an Jakob Bräker in Tortona, vom 27. April 1783; UB, Tagebücher, Bd. 2, S. 388–391; Nachbar Bösch: Tagebucheintrag am 18. November 1787; UB, Tagebücher, Bd. 2, S. 613 f.; Hans Melchior Bräkers Söhne und Ulrich Bräkers Bemühungen um die »Anbringer-«Provision: Tagebucheintragungen im November 1794, Januar und August 1795; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 532–534, 543–547, 573–574. Vgl. dazu UB, Chronik, S. 59, 311, 408 f., 415; Voellmy, Leben und Schriften (wie Anm. 54), Bd. 1, S. 45 (weitere Soldaten in Bräkers Familie: Johannes Kappler in holländischen, Johannes Ulrich Zwicky in französischen Diensten); sowie Sabrina Loriga, Un Laboratoire disciplinaire: l’Armée Piémontaise au XVIII. Siècle, Paris 1991. 65 Herisau wäre für das Toggenburg der nächstgelegene Werbeplatz gewesen, wo etwa Frank-
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Dem Offizier und seinen Leuten war seit Juni weder in Schaffhausen noch im schwäbischen Rottweil, wo sie sich am 23. September 1755 eine zusätzliche Werbeerlaubnis verschafften, die Indienstnahme eines geeigneten Rekruten für ihre Truppe gelungen. Im Gegenteil hatte sie Anfang September der Weber Hans Huser aus Trasadingen recht an der Nase herumgeführt, dem Marck erst 150, dann 300 Tlr Handgeld bot, während Huser 500 Tlr verlangte, und sich bei den langwierigen Verhandlungen fleißig auf Regimentskosten bewirten ließ. Dies galt auch für zwei wesentlich kleinere Genossen, die der lange Weber mit ins Werbespiel brachte, doch vom Leutnant als unbrauchbar abgewiesen wurden – denn in einer solchen Situation sollte der Werber »alle Sparsamkeit [. . .] bei Seite« setzen und »des Recruten halben und um ihn habhaft zu werden, ehr hoch als karg« Spesen machen66. So rackerte sich Marck bei der »Ausländer-« Werbung in Schaffhausen nicht anders ab als sein Regimentskamerad von Bardeleben, der im Dezember 1754 in Marienburg dem 19jährigen Gottfried Bursche für 10 ½ Zoll Körpergröße 100 RTl Handgeld zahlte, um dann entsetzt festzustellen, dass sich der Mann in vier Jahren von 19 verschiedenen Regimentern ebenso hatte anwerben lassen67. Schlitzohren wie Huser oder Bursche wussten eben auszunutzen, dass die preußischen Offiziere fast alles gaben, um »lange Kerls« in ihre Truppen zu bekommen, »die den Namen Recruten im genauesten Wortverstand verdienen: das heißt, sie müssen vollkommen gesunde, gerade, ansehnliche junge Leute und so groß seyn, daß, wenn sie in den Regimentern an die Stelle eines alten abgelebten und ungesunden Invaliden eingestellt werden, sie dessen Platz nicht bloß ersetzen, sondern auch durch vollkommene Brauchbarkeit verbessern, wo nicht verschönern können. [Der Rekrut darf nicht über 35 Jahre alt sein und muss] durchaus das volle Maaß haben, welches das Regiment oder Bataillon [. . .] vorschreibt und gebrauchen kann.«68
Mochte nun Ueli Bräker die Anforderungen an Lebensalter, Gesundheit und gutes Aussehen durchaus erfüllen – an der bei den Preußen alles entscheidenden Anforderung an die Körpergröße – die beim Elite-Regiment v. Itzenplitz mindestens 5 Fuß und 7 bis 9 Zoll (ca. 1,80 m) betragen haben dürfte – scheiterte der Versuch seiner »Anbringer«, ihn gewinnbringend an den Werbeoffizier v. reich oder Piemont rekrutierten; vgl. UB, Chronik, S. 59. Doch in Schaffhausen stationierten die Preußen, bei denen die besten Werbegeschäfte winkten. 66 Vgl. entsprechend nach Schaffhausener Magistratsakten Eckert, Bräkers Soldatenzeit (wie Anm. 41), S. 139 ff.; für das Zitat den Unterricht für die Infanterie (wie Anm. 59), S. 109. Nach den im Werbereglement von 1744 festgesetzten Taxen (vgl. Heilmann, Kriegskunst, wie Anm. 59, S. 7) sollten gezahlt werden: 100 Tl für eine Größe von 5 Fuß 9 Zoll und mehr, 150 Tlr für 5 Fuß 10 Zoll und mehr, 200 Tlr für 5 Fuß 11 Zoll und mehr, sowie als Höchsttaxe 300 Tlr für 6 Fuß. Dies waren die Spitzentarife; die normalen Größen zwischen 5 Fuß 6 bis 8 Zoll wurden zwischen 16 und 40 Tlr honoriert. 67 Vgl. E.[rich] H.[ans] Utke, Capitain von Bardeleben berichtet . . ., in: Zschr. für Heereskunde 3 (1931), S. 318 f. 68 Unterricht für die Infanterie (wie Anm. 59), S. 115.
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Marck zu vermitteln. Denn so geschah es im »Schiff«: »Sofort hieß man mich die Schuh’ ausziehn, stellte mich an eine Saul unter ein Maaß, und betrachtete mich von Kopf bis zun Füssen.«69 Dabei erwies sich Bräker als zu klein, um für das Regiment v. Itzenplitz tauglich zu sein, wie ihm der Leutnant später erklärte: »um ein paar schlichtige Louisd’or wollten deine beyden saubern Landsleuth’ dich verkaufen. Aber du warst mir dazu etwas zu kurz, von deiner Länge nimmt man noch keinen an«70. Spätestens zum Zeitpunkt, da er unter der Messlatte stand, muss dem Toggenburger klar geworden sein, dass ihn seine »Anbringer« nicht wie erwünscht an einen zivilen Brotwerb vermitteln, sondern in die verschrieenen Militärdienste verschachern wollten. Weil dies bei v. Marck nicht gelang, ließ Alder seinen Mann im »Schiff« kurze Zeit unbewacht zurück, um sich in Schaffhausen nach anderen Werbekommandos umzusehen. Diesen Moment nutzte Bräker, bot dem Offizier selbst seine Dienste an, jener fand Gefallen an ihm, und beide wurden schnell handelseinig; übrigens zum Nachteil eines anderen Kerls, den Marck kurz zuvor als Bedienten eingestellt und der sich aus Freude darüber betrunken hatte. So verlor der Bezechte seinen Posten, während die »Anbringer« um ihre Zeche geprellt wurden, denn als sie Bräker zu einer jener anderen Werbestationen am Ort schaffen wollten, stand dieser nicht mehr zu ihrer Disposition, sondern bereits im Dienst des Sekondleutnants, der sie mit einem Bruchteil der erhofften 20 Louisd’or Provision abspeiste: mit drei Dukaten, von denen einer an Vater Bräker gehen sollte71. Kurz, Ulrich Bräker wurde in Schaffhausen weder mit List noch Gewalt in die preußische Armee gezwungen – da er für einen Musketier des stolzen Regiments zu Fuß Nr. 13 einfach zu kurz geraten war. Er hat sich vielmehr aus freien Stücken als Offizierdiener anwerben lassen – also am kritischen Punkt die Initiative ergriffen und mit atemberaubender Logik gehandelt: Vor der Anwerbung beim Militär schützte sich der »kleine Mann« durch die Dienstnahme beim Offizier. Betrogen wurde Bräker bis zu diesem Zeitpunkt sicher nur von den »Anbringern« und vielleicht auch nach dem Muster des »Hänsel und Gretel-«Märchens vom eigenen Vater, was der pietätvoll-pietistische Sohn zunächst durch seine religiöse Betrugversion verdeckte72. Doch 69 UB, Lebensgeschichte, Kap. XXXVII, S. 422. 70 UB, Lebensgeschichte, Kap. XXXIX, S. 427. Bräkers konkrete Körpergröße ist m. E. nicht überliefert. Den besten Eindruck, der vielleicht auf etwa 1,60/1,70 m zu taxieren ist, vermittelt das Ölbild »Bräker und seine Frau Salome« von Joseph Reinhard, 1793 (Historisches Museum Bern). 71 UB, Lebensgeschichte, Kap. XXXVII, S. 423. Der Dukaten gelangte natürlich nicht in Vater Bräkers Hände, so dass er wenig später selbst in Schaffhausen erschien, um sich nach seinem Sohn zu erkundigen – und seinen Provisions-Anteil einzufordern; vgl. UB, Lebensgeschichte, Kap. XXXVII, S. 425. 72 Etwa so, unter deutlicher Beschuldigung seines »Anbringers« und vielleicht auch das Vaters, doch bei gleichzeitiger Ausblendung seines Eigenanteils an der Handlung hat Bräker die Geschichte seiner »Anwerbung« in einem Schreiben an Pfarrer Johann Caspar Lavater vom 12. September 1777 geschildert; UB, Lebensgeschichte, Kap. LXXIV, S. 505.
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wichtiger schien, dass der junge Bräker im Moment der Ent-Täuschung handlungsaktiv blieb, sein Schicksal in die eigenen Hände nahm und eine Weiche für sein weiteres Leben stellte. Solcher Wille zur Selbstbestimmung konnte zur Basis der weiteren Selbstfindung des künftigen »Selbstscrieblers« werden. Bei alledem war es auf v. Marcks Seite selbstverständlich gewesen, dass der kleine Toggenburger nicht als Rekrut für ein Regiment v. Itzenplitz zu gebrauchen war. Als der Offizier Bräker in seinen Dienst stellte und anderntags als »Jäger« in Grün und Weiß ausstaffieren ließ, mochte er glauben, dem armen Ueli damit etwas Gutes zu tun – ohne zu besorgen, dass ihrer beider Herrlichkeit einmal so sicher ein Ende haben musste, wie einem preußischen Sekondleutnant allenfalls auf Werbung um des pompösen Eindrucks willen, aber nicht beim Regiment in der Garnison ein eigener Offizierdiener zustand. Denn genau genommen, befand sich Arnold Friedrich v. Marck-Modrezejewski in einer ähnlichen Situation wie sein neuer Diener73. Als Angehöriger des kassubischen sogenannten Panadels aus dem 1657 von Polen an Brandenburg abgetretenen Lande Bütow in Hinterpommern ca. 1719 geboren, stand er auf der untersten Stufe der adeligen Sozialskala, dessen Mitglieder oft arm wie Kirchenmäuse und »als Ritter nur an ihrem Säbel« auszumachen waren74. Wenn solche Panen nicht über Gutseinkünfte verfügen konnten, lebten sie entweder vom Verkauf von Fischen, verdingten sich als Bediente an große Adelshäuser oder gingen zum Militär. So besaß Arnold Friedrichs älterer Bruder Ludwig v. Marck-Modrezejewski ein Anteilrecht am Gut Reckow; ein anderer Bruder Johann firmierte als Ökonom in Polen; er selbst war wie so viele seiner Standesgenossen weit weg von der Heimat ohne jedes Vermögen ganz auf den kargbesoldeten Dienst als Subalternoffizier angewiesen. Seine Berliner Karriere entsprach dem Durchschnitt: ca. 1741 Gefreiterkorporal, 6. September 1745 Fähnrich, 30. November 1749 Sekondleutnant im Regiment zu Fuß Nr. 1375. Mit dieser niedrigen Char73 Vgl. für die Angaben zu Marcks Biographie: [1] Offiziernomenclatur der Geheimen Kriegskanzlei zu Berlin; GStA PK, IV. HA Preußische Armee, Rep. 1 Geh. Kriegskanzlei, Nr. 81, fol. 61 Rs; (2.) Jürgen Kloosterhuis, Datenbank preußische Armeelisten; nach Msc. Boruss. Fol. Nr. 311–316 in der Staatsbibl. zu Berlin PK usw. (hier: Msc. Boruss. Fol. Nr. 311, fol. 30); (3.) Robert Klempin, Gustav Kratz (Hg.), Matrikeln und Verzeichnisse der pommerschen Ritterschaft vom XIV. bis in das XIX. Jahrhundert, Berlin 1873, S. 389 f. 74 »Critische Betrachtung der polnisch-pommerschen Pahneken in den Herrschaften Lauenburg und Bütow«, 1755; zit. nach Reinhold Cramer, Geschichte der Lande Lauenburg und Bütow, Teil 1, Königsberg 1858, S. 310 ff., zit. S. 312; vgl. Paul Panske, Zur Geschichte des eingeborenen Adels im Lande Bütow, in: Baltische Studien NF XXXVII (1935), S. 71–123. 75 Weiter avancierte v. Marck bis zu seinem Tod am 16. Mai 1758 nicht. Der Subalternoffizierdienst im Regiment zu Fuß Nr. 13 war wohl ebenso anspruchs- wie entsagungsvoll, wie entsprechende Informationen bes. aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhellen; vgl. Karl August Varnhagen van Ense, Leben des Generals Grafen Bülow von Dennewitz, Berlin 1853, bes. S. 12 f. (Karl Ulrich von Bülow, Leutnant ca. 1770), S. 18 f. (Friedrich Wilhelm von Bülow, 1768 Gefreiterkorporal, 1772 Fähnrich, 1778 Sekondleutnant, 1786 Premierleutnant); sowie Mathilde Quednow (Hg.), Denkwürdigkeiten aus dem Lebens des Generals der Infanterie von
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ge kam Marck nach vierzehn harten Dienstjahren im Juni 1755 auf Werbung »ins Reich«, wohl zum ersten Mal in die »große« Welt und jedenfalls mit reichlichen Werbegeldern in der Tasche – so dass er für kurze Zeit einmal im Kreis der anderen preußischen Werbeoffiziere in Schaffhausen sorglos über seine Verhältnisse leben konnte (wenn ihn nicht die Mühen der Rekrutenwerbung plagten). An solcher Wonne bei Wein, Weibern und Gesang ließ der Sekondleutnant seinen »Jäger Ollrich« nun gutmütig Teil haben, und umso zufriedener konnte dieser mit dem Ergebnis seiner selbstverantworteten Anwerbung sein, nachdem er »als ein unwüssenter, mit der großen Welt gantz unbekanter schudloser Junge einem einsamen verborgenen Erdeweinkel enrükt« worden war und sich nun »schon vielmehr als vorher, ia ein halber Herrr dünkte«76. Bräker stand umso dankbarer im Dienst des preußischen Offiziers, als beide ihm garantierten, zum Rekruten zu klein gewachsen zu sein. Dies schien hinreichend vor dem düsteren Orakel zu schützen, das da lautete: »Wart’ nur, bis d’enmal in Preussen bist; da mußt Soldat seyn, und dir den Buckel braun und blau gerben lassen.«77 2. Eingliederung in das Regiment Bekanntlich behielt das Orakel Recht. Bräkers Garant versagte ebenso wie die Garantie, und aus dem »Jäger« des Sekondleutnants v. Marck wurde im April 1756 in Berlin gezwungenermaßen ein Rekrut des Regiments zu Fuß Nr. 13. So folgte aus der Sicht des »armen Mannes« dem Werbebetrug der Militärdienstzwang, wie er in der frühen religiös apostrophierten Form seiner Autobiographie beklagte: »[In Berlin] wurde ich in Quatier verlegt. Man brachte mir Gwer und Mondur, und muste Soldat sein, und bekam in 5 Tagen 6 Groschen und 4 Pfund Brot. Mein Herr hab ich wenig mehr gesehen, auch halfe kein Beklagen, ich muste mich schiken und in die Leibeigenschafft ergeben und der vorige Wolstand büsen«78.
Doch so, wie der an Ueli verübte Betrug aus der Regimentsperspektive zu relativieren war, kann auch der Zwang anhand von Bräkers »Lebensgeschichte« differenzierter dargestellt werden. Im keineswegs monolithischen preußischen »Militare« öffneten sich damit erneut Spielräume, in denen erst der selbstbestimmte Offizierdiener, dann der unfreiwillige Rekrut bestimmte Positionen einnahm, und die er gegebenenfalls zu seinem Vorteil nutzen konnte. Auch im Hüser, Berlin 1877, S. 26 ff. (Heinrich v. Hüser, 1796 Fähnrich, 1802 Sekondleutnant); dazu für die durchschnittlichen Karrieredaten Georg Hebbelmann, Das preußische »Offizierkorps« im 18. Jahrhundert. Analyse der Sozialstruktur einer Funktionselite, Münster 1999, S. 268. 76 Tagebucheintragung am 12. Oktober 1795; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 588 f.; vgl. entsprechend schon Tagebucheintrag am 4. Oktober 1784; UB, Tagebücher, Bd. 2, S. 484. 77 UB, Lebensgeschichte, Kap. XXXIX, S. 426. 78 Tagebucheintragung »Beschribung meiner leiblichen Reiß«, 1768; UB, Tagebücher, Bd. 1, S. 21. Tatsächlich betrug die tägliche Brotration 2 Pfund; vgl. unten Anm. 99.
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façettenreichen Sozialverband eines preußischen Regiments gab es Chancen, in denen Bräker handlungsaktiv bleiben konnte, um die »Leibeigenschaft« abzustreifen – wenn anders er nicht für eine bestimmte Zeit oder gar lebenslang als zufriedenes Rädchen in der Militärmaschine schnurren wollte. Zunächst konnte Bräkers brüchige Betrugsversion »bald Herrendiener, bald Soldat« nicht – was er und seine Leser leicht übersahen – darüber hinweghelfen, dass sein selbstgewähltes Dienstverhältnis bereits auf den Werbestationen in Schaffhausen und Rottweil in militärrechtlicher Sicht das eines Soldaten war, der vom Etat einer Kompanie des Regiments zu Fuß Nr. 13 bezahlt wurde. Der Offizierdiener war allerdings kein »wirklicher Soldat«, sondern zählte zum Personenkreis derer, die sich nach Dienstverhältnis, in rechtlicher und geistlicher Unterstellung, »sonst bei denen Regimentern« aufhielten79. Entsprechend brachte ihm sein Sekondleutnant schnell das ABC der preußischen Soldatenmanier bei – Gang aufrecht, Kopf hoch, Zopf geflochten und Dreispitz vorschriftsmäßig keck nach links verdreht aufgesetzt – und hängte ihm vor allem eine Blankwaffe um: »Mit eigner Hand gürtete er mir einen Ballast an die Seite.«80 Mit der Wehr war Bräker auch äußerlich als Soldat ausgewiesen. Er zählte nach preußischem Militärrecht zwar noch nicht zu jenen, welche »die Waffen gebrauchen«, aber doch zu denen, die »durch Wissenschaft, Kunst oder Handarbeit zum Gebrauch der Waffen in mittelbarer Weise wirken«81. Mochte er so durch Schaffhausen, Straßburg oder Rottweil als »Jäger« des Herrn Sekondleutnant v. Marck stolzieren, im unausweichlich nahenden Berliner Regimentsalltag konnte er nach der Dienstvorschrift allenfalls Diener eines Kapitäns oder Stabsoffiziers, im drohenden Kriegsfall aber Packknecht beim Kompanietross werden82.
79 Georg Friedrich Müller, Königlich Preußisches Kriegesrecht, Berlin 1760 (repr. Bad Honnef 1982), S. 65 f. 80 UB, Lebensgeschichte, Kap. XXXVII, S. 423. Der Infanteriesäbel (eigentlich kein Pallasch) galt als Privatbesitz eines Soldaten, so dass Bräker ihn später in Berlin mit anderen Zivilsachen verkaufen konnte; vgl. UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVII, S. 445; dazu Kloosterhuis, Bauern, Bürger und Soldaten (wie Anm. 34), Q 168. 81 Georg Wilhelm Cavan, Das Krieges- oder Militärrecht, wie solches jetzt bei der Königlich Preußischen Armee besteht, Bd. 1, Berlin 1801 (repr. Bad Honnef 1982), S. 5, 26, 35. 82 Vgl. Reglement für die Königlich Preußische Infanterie, Berlin 1743, ohne Änderung nachgedruckt Berlin 1750 (repr. Osnabrück 1976), VIII. Teil: Felddienst, XXVIII. Titel: Einstellung von Packknechten und Offizierdienern (ebd., S. 375 f.) Demnach durften in Friedenszeiten Subalternoffiziere keine Diener halten, sondern zur Aufwartung nur einen im 2. Glied einrangierten Musketier nehmen, während Kapitäne und Stabsoffiziere eigene Diener auf ihre Kosten einstellen mussten. In Kriegszeiten wurden auf Königliche Kosten neun Packknechte pro Kompanie eingestellt, die Dienst beim Kapitän, bei den Packpferden, bei der Krankenversorgung, und bei den übrigen Offizieren taten. Für Bräker scheint eine solche Stelle nicht frei gewesen zu sein, zumal die Packknechte im Mobilmachungsfall aus dem Regimentskanton eingezogen wurden; vgl. unten Anm. 164.
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Doch Bräker endete nicht bei der Bagage, sondern in Reih und Glied des Regiments v. Itzenplitz. Sein Schicksalsblatt muss sich etwa im März 1756 gewendet haben, als v. Marck und sein Kommando von Rottweil zum Abmarsch nach Berlin aufbrachen (denn die alljährlich im April einsetzende Exerzierzeit nahte). Da nun feststand, dass der Werbe-»Erfolg« des Sekondleutnants nach acht Monaten auf drei flüchtige Straftäter und einem polnischen Deserteur aus piemontesischen Diensten hinauslief 83, hatte eben sein »Jäger« herzuhalten, um die magere Bilanz aufzubessern. Erst an diesem Punkt wurde der »kleine Mann« auch vom preußischen Militär betrogen, da er im guten Glauben nach Berlin marschierte, auch dort vor dem direkten Soldatendienst sicher zu sein. Während der Offizier per Post reiste, ritt der Rest seines Kommandos auf Schusters Rappen. Dabei konnten sich die Unteroffiziere beim treuherzigen, »mit Unter- und Uebergewehr«84 bewaffneten Toggenburger alle jene bis ans tödlich Groteske reichenden Sicherheitsvorkehrungen ersparen, die sie sonst auf einem Rekrutentransport zu beachten hatten: »Ueberhaupt muß sich der Unterofficier zu jeder Stunde und jedem Augenblick, so lange er mit einem Recruten auf Transport ist, allemahl in solchem Stande befinden, daß er den Recruten, sobald er ihm, es sei wo es immer wolle, in einer Stadt, einem Dorf, oder im freien Felde entspringt, wenn er ihn nicht greifen kann, sogleich niederschießen können: denn der angeworbene Rekrut muß entweder abgeliefert oder todtgeschossen werden, weglaufen muß man ihn durchaus nicht lassen.«85
Nach 25tägigem Fußmarsch – für Bräker tatsächlich eine Reise ins Ungewisse, auf dem er die Orientierung verlor86 – passierte das Marcksche Kommando in Berlin durch das Charlottenburger Tor ein und begab sich ins Quartier des Regiments v. Itzenplitz in der Friedrichstadt87. Dort verfügte die bevorzugte Truppe bereits seit 1753 über eine Kaserne zur Unterbringung von verheirateten Soldaten88, in der Neuen Kommandantenstraße gegenüber einem Fran83 UB, Lebensgeschichte, Kap. XLI, S. 429. Jener Deserteur, Kaminski aus Polen, war im Gegensatz zu Bräker, »ein Mann wie ein Baum, ein paar Beine wie zwo Säulen«; UB, Lebensgeschichte Kap. XLIV, S. 437. 84 Ebd., S. 436. Mit dem Übergewehr war Bräkers Jagdflinte, mit den Untergewehr sein Soldatensäbel gemeint. 85 Unterricht für die Infanterie (wie Anm. 59), S. 166 f., der Höhepunkt der insgesamt 26 Seiten umfassenden Transport-Tips. 86 Tagebucheintrag am 21./26. September 1790; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 349. 87 Der Marsch, den Bräker sicher in seinem Journal dokumentierte, führte vom 15. März bis zum 8. April (mit vier Rasttagen) von Rottweil über Nürnberg, Halle a. S., Dessau, Zerbst, Görzke, Wustermark, Spandau und Charlottenburg nach Berlin – also in einem wohl verkehrstechnisch bedingten Bogen westlich um die Stadt herum, so dass man sie vom Norden her betrat; vgl. UB, Lebensgeschichte, Kap. XLIV, S. 436–439. 88 Vgl. Friedrich Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, aller darselbst befindlicher Merkwürdigkeiten und der umliegenden Gegend, Berlin (3. Aufl.) 1786, S. 139, 146 f., 184 f., 188, 246–251, 376 f.; dazu Franz Jahn, Alte Berliner Kasernen 1735– 1835, in: Zentralblatt der Bauverwaltung 59 (1939), S. 383–397.
Abb. 2: Zwischen Dönhoffplatz und Krausenstraße: Bräker in Berlin Karte (»Plan von einem Theil der Stadt Berlin und zwar von der Situation des alten Stadtgrabens und des darin angelegten neuen Canals mit denen daherum liegenden Straßen und Plätzen, verfertigt von C.F. Feldmann. [. . .] Berlin, 20. November 1763«). Kolorierte Reinzeichnung. Papier auf Leinwand, 82, 5 ×50 cm. Maßstab 1:1.700. Vorlage: GStA PK, XI. HA Karten, Nr. E 50051
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zösisch-Reformierten Friedhof mit Kirchenbau, der vielleicht mit den Réfugié-Wurzeln von Nr. 13 in Verbindung zu bringen war89. Das Zentrum des Regimentsalltags bildete der Dönhoffplatz, auf dem Wachtparade gehalten und vor allem exerziert wurde90. Dort stand auch ein kleineres Wachhaus, während sich die Hauptwache mit den Arrestlokalen auf dem Spittelmarkt befand. Ansonsten waren die zu Itzenplitz zählenden Soldaten auf die den Dönhoffplatz umrahmenden Straßenzüge in Bürgerquartiere gelegt, wie denn auch Bräker eines in der Krausenstraße erhielt91. Noch am Tage seiner Ankunft in Berlin gesellte sich zum Betrug der Zwang, denn ein Feldwebel machte dem Neuankömmling kurz und bündig klar, dass sein bisheriges Dienerdasein beendet und er hier Rekrut des Königs war. Dahinter stand wie in unzähligen vergleichbaren Fällen die unerbittliche Forderung eines Militärsystems, das beim Personalersatz eben auch auf »Ausländer-«Werbung angewiesen war – doch wirkte durch den Toggenburger Unglückswurm der Zwang nach dem Gesetz der Körpergröße auch in umgekehrter Richtung auf ein Systemsegment ein: auf die beklagenswerte Vierte Kompanie des stolzen Itzenplitzschen Regiments, die den kleinen Schweizer nun unter ihren »langen Kerls« dulden musste. Sie standen alle unter einem, zwischen Bräkers Zeilen durchaus spürbaren, Druck: der rauh zum Rekruten gepresste »arme Mann«; der leichtsinnige Sekondleutnant, der für das Missverhältnis zwischen der Höhe seiner Werbe-Spesen und der Zahl der von ihm Angeworbenen im Arrest büßte; und der Kompaniechef, der seine Truppe unter den ersten Vorzeichen drohender Kriegsgefahr im Frühjahr 1756 nolens volens mit Kreti und Pleti statt mit schönen, großgewachsenen Enakssöhnen komplettieren musste92. So wurde Ueli zum »wirklichen Soldaten« in Uniform und Waffen93, zum eigenen Entsetzen ebenso wie zum Verdruss seiner Vorgesetzten, die an ihm nur viel Werbegeld verplempert sahen, weil er mit seiner geringen Körpergröße den Maß-Durchschnitt ihrer Männer drückte, das An89 Vgl. Wilhelm Petsch, Berlins Straßennamen, in: Der Bär IV (1878), S. 61 ff., hier S. 63 und 65; dazu oben Anm. 15. 90 Auf dem Platz, der ab 1734 umbaut wurde, stand bereits seit 1730 ein steinerner Obelisk als Meilenzeiger nach Potsdam und Magdeburg. Nach der weitgehenden Zerstörung des Terrains im Zweiten Weltkrieg wurde 1979 eine Nachbildung des Obelisken annähernd an den alten Standort gesetzt – so dass dieses Monument eigentlich auch zur Erinnerung an Bräkers Tage in Berlin dienen kann; vgl. Hans-Jürgen Mende (Hg.), Lexikon Alte Berliner Straßen und Plätze. Von der Gründung bis zur Gegenwart, Bd. 1, Berlin 1998, S. 425; dazu Abb. 2. 91 Vgl. UB, Lebensgeschichte, Kap. XLV, S. 439. Im Rahmen der Einquartierung blieben die zivilen und militärischen Lebenswelten doch strikt getrennt, so dass sich keine Erinnerung an den Berliner Hauswirt in Bräkers Œuvre findet. 92 Zur 1756 langsam heraufziehenden Kriegskrise, die sich möglicherweise schon im März/April zuspitzte, vgl. unten Anm. 99. 93 »So bin ich denn wirklich Soldat?« lautete Bräkers Überschrift zum XLVI. Kapitel der Lebensgeschichte (UB, Lebensgeschichte, S. 441); korrekter hätte sie heißen können »So bin ich denn wirklicher Soldat?«.
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sehen der Kompanie wortwörtlich verdarb und damit auch eigene Karrierechancen im Regiment eines August Friedrich v. Itzenplitz gefährdete, den einst sein Monarch nach einer Musterung mit den Worten beehrt hatte »Wie viele Compagnien er nun bereits schön gemacht hätte?«94 Erst in diesem Kontext gewinnt der in der »Lebensgeschichte« so lebendig wiedergegebene Dialog zwischen dem Rekruten wider Willen und dem grimmigen Kompaniechef Major von Lüderitz seine volle Farbe95. Ihr Wortwechsel entzündete sich an der Frage, die Ueli nach dem Verbleib des Leutnants »Markoni« als dem Garanten seines Offizierdienertums stellte: »So! unterbrach er mich: So ist Er das saubre Bürschgen! Sein feiner Herr, der hat uns gewirthschaftet, daß es eine Lust ist; und Er wird wohl auch Seinen Theil gezogen haben. Und kurz, itzt soll Er dem König dienen; da ist’s aus und vorbey. Jch: Aber, Herr Major! Er: Kein Wort, Kerl! oder die Schwernoth! Jch: Aber ich hab ja weder Kapitulation noch Handgeld! Au! Könnt’ ich doch mit meinem Herrn reden! – Er: Den wird Er so bald nicht zu sehen kriegen; und Handgeld hat Er mehr gekost’t als zehn andre. Sein Lieutenant hat eine saubere Rechnung und Er steht darin oben an. Eine Kapitulation hingegen, die soll Er haben. Jch: Aber – Er: Fort, Er ist ja ein Zwerg«96!
Damit nahm Bräkers Berliner Rekrutenzeit im April 1756 einen denkbar schlechten Start. Er war beim Kompaniechef »aufgefallen«, der ihm seitdem mit Misstrauen begegnete97. Schlimmer hielt, dass er um sein Handgeld geprellt worden war, was wohl »Markoni« anzulasten war, doch Bräker im Kameradenkreis sicher leicht lächerlich machte. Am Fatalsten aber erschien für den Augenblick, dass er sich auch keine Hoffnung auf die monatlichen Soldzulagen machen konnte, die bei »den Preußen« gewöhnlich für gute Führung, hübsche Körpergrößen oder gar weiteren »Zuwachs« zwischen vier, sechs oder acht und mehr GGr gezahlt wurden98. Abgesehen davon, dass der »arme Mann« durch den Verkauf von Zivilsachen seine Finanzen für kurze Zeit noch etwas aufzubessern vermochte, musste er ansonsten mit dem Minimaltraktament von sechs GGr auf fünf Tage und einem Kommissbrot täglich auszu94 Carl Friedrich Pauli, Leben großer Helden des gegenwärtigen Krieges, 5. Teil, Berlin 1760, VII. Stück (S. 217–264): Leben Seiner Excellenz des Herrn August Friedrichs von Itzenplitz, zit. S. 226. 95 Ernst Karl von Lüderitz, ca. 1712 geboren, aus Königsberg i. Pr., ca. 1728 Gefreiterkorporal, 1730 Fähnrich, 1735 Sekondleutnant, 1739 Premierleutnant, 1742 Stabskapitän, 1743 Kompaniechef, 1749 Major, 1757 Oberstleutnant, 1756 bei Lobositz und 1757 bei Prag verwundet, 3. Februar 1758 gestorben; GStA PK, IV. HA Preußische Armee, Rep. 1 Geh. Kriegskanzlei, Nr. 81, fol. 194 Rs; Kloosterhuis, Datenbank (wie Anm. 73). 96 UB, Lebensgeschichte, Kap. XLV, S. 440 f. 97 Vgl. unten Anm. 157. 98 Das Handgeld hätte bei Bräkers »Größe« nicht über 16 RTl betragen. Zur Berechnung von normalen Handgeld- und Zulagezahlungen vgl. Kloosterhuis, Bauern, Bürger und Soldaten (wie Anm. 35), Q 113, 134 und 246; für Bräkers Aussichtslosigkeit auf Zulagen UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVI, S. 442 bzw. XLVII, S. 445.
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kommen versuchen99 – was ihn von vorneherein auf die schlechten Plätze in den »Menage-Kameradschaften« der militärischen Lebensgemeinschaft verwies. Dies waren trübe Aussichten für die üblichen sechs Dienstjahre, auf die der Major v. Lüderitz dem »Ausländer« tatsächlich und ordnungsgemäß eine »Kapitulation« ausgestellt hatte100. Der Vertrag knüpfte vor dem Gerichtsstand des Regiments zwischen Bräker und seinem Chef ein privatrechtliches Band, das für den gepressten Rekruten besonders mit Blick auf die Festsetzung des Dienstendes wichtig war. Zusätzlich und weitreichender, weil religiös verankert, versicherte sich andererseits das Militär öffentlichrechtlich seiner Person, indem man ihn nach Verlesung der Kriegsartikel101 den Fahneneid auf den König mit der Sanktionierungsformel »So wahr mir Gott helfe und sein heiliges Wort durch Jesum Christum, Amen« ableisten ließ102 – wobei die Eid99 Vgl. UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVI, S. 441 f. Die Zuteilung des von Bräker berichteten Groschenbetrags samt Brotportion entsprach dem Traktament, das ausgegeben wurde, »wenn die Regimenter in Campagne marchiren«, während in Friedenszeiten normalerweise (wenn es keine Kornpreisteuerung gab) 8 GGr auf 5 Tage ohne Brotportion fällig waren; vgl. Infanteriereglement 1743/1750 (wie Anm. 82), S. 617 f.; dazu Jany, Armeegeschichte (wie Anm. 7), S. 250 (mit Bräkerzitat). Auch die brandenburgischen Regimenter, die Ende Mai bei Potsdam zu Manövern konzentriert wurden, erhielten auf Kriegsfuß pro Mann sechs GGr und ein Kommissbrot; vgl. Urkundliche Beiträge und Forschungen zur Geschichte des Preußischen Heeres, 10. Heft: Potsdamer Tagebücher, II. Aus Scheelens Tagebüchern, S. 84. Wenn Bräker das Kriegstraktament also tatsächlich bereits Anfang April 1756 bezog, könnte er damit – salvo meliore – unversehens ein Indiz für die preußische Lagebewertung im Frühjahr 1756 liefern. Bekanntlich spitzte sich damals die diplomatische Krise, die schließlich den Ausbruch des Siebenjährigen Krieges herbeiführte, nach dem Abschluss der Konvention von Westminster (16. Januar 1756) im März/April durch verschiedene russische Mobilmachungsmaßnahmen bedrohlich zu, wobei die Wahrnehmung dieser Gefahr durch die Mächte von der Forschung im Zusammenhang der »Kriegsschuldfrage 1756« verschieden gewichtet wird. Vgl. für die Fakten D.[imitrij] F. Maslovskij, Der Siebenjährige Krieg nach russische Darstellung, Teil 1, Berlin 1888, S. 99 ff.; mit Betonung der russischen Verantwortung Winfried Baumgart, Der Ausbruch des Siebenjährigen Krieges. Zum gegenwärtigen Forschungsstand, in: Militärgesch. Mitteilungen 11 (1972), S. 157–165; dagegen Christopher Duffy, Friedrich der Große. Ein Soldatenleben, Köln 1986, S. 127; sowie zusammenfassend Johannes Kunisch, Die große Allianz der Gegner Preußens im Siebenjährigen Krieg, in Bernhard R. Kroener (Hg.), Europa im Zeitalter Friedrichs des Großen, München 1989, S. 79–97. 100 Vgl. UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVIII, S. 450; dazu das Formular einer Kapitulation bei Heilmann, Kriegskunst (wie Anm. 59), S. 6 f. 101 Vgl. die Neuapprobierten Preußischen Kriegsartikel für die Unteroffiziere und gemeinen Soldaten, in der Fassung vom 16. Juni 1749 (Mylius, Corpus Constitutionum, Continuatio IV, Sp. 155–162); von den insgesamt 49 Artikeln insbesondere Nr. 18: »Welcher Soldat auch in Schlachten, Scharmützeln, Stürmen, oder bey was Gelegenheit es seyn mag, vor dem Feind die Flucht zuerst nimmt, oder seinen Posten, Schildwache oder andere Herrendienste verlässet, ehe und bevor er seine Schuldigkeit rechtschaffen erwiesen, soll arquebusiret werden.« 102 Im Fahneneid (Wortlaut bei Müller, Kriegesrecht, wie Anm. 79, S. 142–143) hieß es u. a.: »Ich will auch meinen Befehlshabern in dem, was zu Seiner Königlichen Majestät und Dero Armée Nutzen und Besten in Wachten, Arbeiten und andern fürfallenden Nothwendigkeiten
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abnehmer vom Obersten bis zum Auditeur »so gütig [scil. realistisch gewesen waren], gar nicht auf mein Nachsprechen zu achten, sondern ließen sich mit dem bloßen Ceremoniel begnügen, und mir kam kein Sin drann einen Eyd zu schwören, ehender hät ich geschworen, bey der ersten besten Gelegenheit davonzulauffen«103. Dennoch beschäftigte – im Unterschied zur Kapitulationsverletzung – die Frage nach der irdischen wie himmlischen Strafbarkeit des Bruchs der unfreiwilligen Eidesbindung den Deserteur ein Leben lang. Der dem Großen Friedrich gegebene Schwur klebte an Bräker wie Pech, denn er blieb in den Augen seiner Schweizer Mitbürger zeitlebens ein – wenn auch »ausgerißner Soldat«, den zum Beispiel einige Honoratioren der exklusiven Lichtensteiger »Moralischen Gesellschaft« beim Aufnahmeantrag 1778 misstrauisch beäugten104, oder dessen Eidfähigkeit Geschäftskonkurrenten noch 1794 mit einem tiefen Griff in die Vergangenheit bezweifelten: »dann er ist ein Desertör«105. Nur mit sich selbst konnte der »arme Mann« über die Brücke seiner, auch in dieser Hinsicht so funktionswichtigen, Werbe-Betrugversion und in Anbetracht des Zwangscharakters der Eidabnahme ins Reine kommen: »Gezwunger Eyd, ist Gott leid! dacht ich«, und »Vielmehr hielt ich mein glükliches Davonkommen als Gunst meines guten Genius, weil ich so blindlings und unschuldig wie ein Keind im Mutterleibe unters Gewehr gezwungen wurde; genug, das mich mein eigen Hertz frey spricht«106. Doch fürs Erste war Bräker in Berlin mit Kapitulation und Eidesleistung im April 1756 »wirklicher Soldat« geworden, wenn auch nur ein Rekrut und noch lange nicht ein in Reih und Glied einrangierter vollwertiger Musketier der Vierten Kompanie v. Lüderitz des Regiments Nr. 13 v. Itzenplitz. Zur genaueren Erhellung der Sozialstruktur dieses militärischen Organismus kann leider nicht auf seine Mannschaftsstammrollen zurückgegriffen werden107,
mir anbefohlen und verordnet wird, schuldigen Respect und Gehorsam leisten, von der Compagnien und Fahne, worunter ich gehöre, es sey im Felde, Besatzungen, Schlachten, Scharmützeln zu Wasser oder Lande und bey anderer Gelegenheit, nicht weichen oder mich heimlich verbergen, sondern denselben, so oft es mir angesagt wird, auch so lange es mein Leben und Gesundheit zulässet, willig und gerne folgen«. Vgl. dazu Sven Lange, Der Fahneneid. Die Geschichte der Schwurverpflichtung im deutschen Militär, Bremen 2002, bes. S. 39–46. 103 Tagebucheintrag im Februar 1794; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 501; vgl. UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVI, S. 443. Der Ort der Vereidigung wird die Kirche gewesen sein, die gegenüber der Regimentskaserne in der Neuen Kommandantenstraße stand; vgl. oben Anm. 89. 104 UB, Lebensgeschichte, Kap. LXXI, S. 498; die Qualifizierung der Gesellschaft nach Messerli, UB, Tagebücher, Bd. 1, S. XX. 105 Tagebucheintrag im Februar 1794; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 501; vgl. dazu (mit Bezug auf »rechtmäßig« angeworbene und doch desertierte Söldner) Gugger, Preußische Werbungen (wie Anm. 13), S. 80. 106 UB, Lebensgeschichte, Kap. LXXIX, S. 519; Tagebucheintrag im Februar 1794; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 501. 107 Vgl. schon entsprechende Fehlanzeige im Bestandsnachweis für das Preußische Heeresarchiv, IV. HA Rep. 11 Truppenteile der alten Armee bis 1806/07, bei Heinrich Otto Meisner,
Abb. 3: Regimentssozialisation durch Soldatenhochzeit: das Beispiel des Musketier Amesecker aus dem Toggenburg Regimentskirchenbuch des Regiments zu Fuß Nr. 13, Trauungen 1743–1801, Eintragung am 15. Oktober 1752. Vorlage: GStA PK, VIII. HA Siegel, Wappen, Genealogie, MKB Nr. 427, pag. 40 und 41
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doch steht dafür das Regimentskirchenbuch zur Verfügung108. Mit dem methodischen Vorbehalt, dass diese Quelle die Truppenrealität zu Bräkers Zeit nicht hundertprozentig, sondern eben nur in den Bruchzahlen geistlicher Sakramentsausteilung spiegelt, ist sie zur Mitgliederanalyse der Einheit aufschlussreich, in der sich Bräker nun zurecht finden musste. Für das Jahrzehnt zwischen 1746 bis 1756 verzeichnete das Buch 457 Trauungen, im Durchschnitt also etwa 40 Soldatenehen pro Jahr. Es heirateten die »wirklichen Soldaten«, und zwar ausnahmslos Unteroffiziere oder Gemeine109: Musketiere und Grenadiere, Spielleute, Sergeanten und Korporale; ebenso die Mitglieder des weiteren Regimentsverbands: Feldscher und Feldküster, Büchsenmacher und Profos, Bäcker und Köche, Reitknechte und Offizierdiener (wobei die beiden zuletzt genannten Gruppen bei Chargen vom Kapitänsrang aufwärts dienten). Davon entfielen 51 Prozent auf brandenburgische Kantonisten (36 Prozent) und »skisierte Ausländer« (15 Prozent; Soldatensöhne so wie Männer aus Berlin, Potsdam und v. a. Schlesien) und 49 Prozent auf angeworbene tatsächliche Ausländer, von denen 37,5 Prozent aus Reichsterritorien und 11,5 Prozent aus dem europäischen Ausland kamen. Unter den Ausländern aus dem Reich führten die Sachsen, unter denen aus Europa natürlich die Schweizer, die vor allem aus den Kantonen Zürich und St. Gallen stammten. Alle diese heiratswilligen Soldaten waren im Durchschnitt 32 Jahre alt, ihre Bräute etwa 26 Jahre. Da sich die Hochzeiter am Trautermin meist seit zehn Jahren beim Regiment befanden, waren sie, soweit Ausländer, mit durchschnittlich 22 Jahren angeworben worden. Ihre Schwiegerväter stammten meist aus dem Bauern- oder Handwerkerstand (waren Bäcker, Müller, Tischler, Zeugmacher, Schneider), wenn anders sie nicht ihrerseits als Soldaten dienten (als Unteroffizier, Korporal, Musketier, Grenadier oder Artillerist). So führte beispielsweise am 15. Oktober 1752 der Toggenburger Musketier Jakob Amesecker die Sophie Charlotte Bader vor den Altar, was der Feldprediger folgendermaßen im Regimentskirchenbuch vermerkte: »Sponsus: Jakob Amesecker, von des Herrn Capitain v. Zitzwitz Compagnie, aus Hemberg im Toggenburgischen, Jakob Ameseckers, Bürgers und Schlächters ehelicher Sohn, alt 28 Jahre, steht beym Regiment 6 Jahr, reformierter Religion; und Sponsa: Georg Winter, Übersicht über die Bestände des Geheimen Staatsarchivs zu Berlin-Dahlem, 2. Teil, Leipzig 1935, S. 119. 108 GStA PK, VIII. HA Siegel, Wappen, Genealogie, MKB Nr. 427, Regimentskirchenbuch des Regiments Nr. 13 (Trauungen 1743–1801). Zur Regimentskirchenbuchführung vgl. Wolfgang Eger, Verzeichnis der Militärkirchenbücher in der Bundesrepublik Deutschland, Neustadt/Aisch 1993, S. VIII f.; zu damit verbundenen Problemkreis »Militärfamilie« Wolfgang Hanne, Fürsorgemaßnahmen für Soldatenfrauen und -kinder in der altpreußischen Armee, in: Zschr. für Heereskunde L (1986), S. 139–144. 109 Die Fehlanzeige für das Verzeichnen von Offiziersehen könnte darauf hinweisen, dass im genannten Zeitraum im Berliner Regiment keine Anträge auf Ehekonsense gestellt oder bewilligt wurden.
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Sophie Charlotte Badern, Meister Johann Baders gewesenen Bürgers und Tischlers in Spandau nachgelassene Tochter, alt 26 Jahr, reformierter Religion.«110
Mit anderen Worten: Amesecker war mit 22 Jahren angeworben worden, hatte auf die normalen sechs Jahre kapituliert, danach aber seine Soldatenzeit nicht beendet, sondern aufs Neue ein nun unbefristetes Dienstverhältnis begonnen und dafür die Zustimmung seiner Vorgesetzten erhalten, zur gleichen Zeit die (halb- ?) verwaiste Tochter eines Spandauer Tischlermeisters zu heiraten. Für den »Ausländer« war das Regiment v. Itzenplitz in Berlin zur Heimat, das Soldatendasein zum Lebensberuf geworden. Er fand dabei wohl sein Auskommen, vor allem, wenn er nach der Exerzierzeit (Mitte April bis Ende Juni) als »Freiwächter« vom Dienst beurlaubt war und sich z. B. als Handwerksgeselle Verdienst schaffen konnte111. Über das »Freiwächter-«Wesen war der »Ausländer-«Teil der preußischen Militärmaschine für die längste Zeit des Jahres als disziplingewohntes Kräftepotential in das zivile städtische Wirtschaftsleben ebenso nutzbringend eingefügt, wie dies ja auch für die Kantonisten und die ökonomischen Erfordernissen des ländlichen Arbeitsjahres galt. Kein Wunder, dass Bräker solche »Freiwächter« in Berlin zu Hunderten bei der Arbeit beobachten und so die Zuversicht gewinnen konnte, in ähnlicher Weise sein Soldatendasein zu meistern: »Giebt’s doch hier (damit schläferte ich mich immer ein) selbst unter den gemeinen Soldaten ganze Leuthe, die ihre hübschen Kapitalien haben, Wirthschaft, Kaufmannschaft treiben und so fort. Aber dann erwog ich nicht, daß man vor Zeiten ganz andere Handgelder gekriegt als heut zu Tag; daß dergleichen Bursche bisweilen ein Namhaftes mochten erheurathet haben, und dergleichen. Besonders aber, daß sie ganz gewiß mit dem Schilling gut hausgehalten, und nur darum den Gulden gewinnen konnten.«112
Natürlich barg auch eine Soldatenehe keine unbedingte Garantie auf ein Lebensglück in Uniform, so dass manche Männer gelegentlich erst im Regimentskirchenbuch und später in den Lobositzer Desertionslisten zu verzeichnen waren113. Dennoch spiegeln die Heiratszahlen des Regiments v. Itzenplitz ebenso grundsätzlich (doch nicht anteilsgenau114) seine Zusammen110 Wie Anm. 108, pag. 40. Vgl. Abb. 3. 111 Vgl. Wolfgang Hanne, Die Freiwächter in der altpreußischen Armee, in: Zschr. für Heereskunde LVI (1992), S. 32–35. 112 UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVI, S. 443 f. 113 Vgl. z. B. die Eheschließung am 10. August 1752 von Johann Nabratil, Kompanie Oberst v. Lattorf, aus Kremsier in Österreich, 35 Jahre alt, 4 Jahre gedient, römisch-katholischer Konfession, und der Jungfer Anna Rosina Hollmann, Tochter des Hufschmieds Hollmann aus Okkerwitz in Sachsen, 22 Jahre alt, evangelisch-lutherischer Konfession; GStA PK, VIII. HA Siegel, Wappen, Genealogie, MKB Nr. 427, Regimentskirchenbuch des Regiments Nr. 13, pag. 39; dazu unten Anm. 184. 114 Nach den von Hanne, Ausländer (wie Anm. 9), S. 46 ermittelten Zahlen zählte ein preußisches Infanterieregiment um 1755/56 ca. 60 Prozent Kantonisten und 40 Prozent »Ausländer«. Der Militärdienst der Kantonisten stand unter eigenen Gesetzen, die hier, in einer Bräker-Un-
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setzung aus brandenburgischen Kantonisten, »skisierten« und tatsächlichen »Ausländern«, wie sie erhellen, dass unter den beiden letzteren Gruppen wohl die meisten »Preußen« anzutreffen waren: Unteroffiziere und Gemeine, die wie jener Soldatensohn Johann Christian Schimmel motiviert dienten, oder sich zumindest wie vielleicht der Toggenburger Angeworbene Jakob Amesecker schicksalsergeben in das preußische Militärsystem fügten. Am gegensätzlichen Pol der Verhaltensmuster bot der Regimentsverband gerade »Ausländern« Raum genug für menschliche Verzweiflung und kriminelles Verkommen in der Ausweglosigkeit einer durch Härte und Schärfe bestimmten Situation. Die Berliner Chronik der 1730/50er Jahre schrieb auch von Militärpersonen115, die etwa in Frauenkleidern zu desertieren versuchten, was die Soldaten mindestens mit Spießrutenlaufen und ihre Fluchthelferinnen meist am Galgen büßten116. Sublimere Fluchtwege führten zur Kleinkriminalität oder in die Bordelle, zu Syphilis, Alkoholismus, Wahnsinn oder Selbstmord, gegebenenfalls mit der Variante »Freitod durch Henkershand« (bei der man erst einen anderen Menschen umbrachte, um dafür seinerseits hingerichtet und so des Soldatendaseins quitt zu werden)117. Die Regimentskultur setzte dem zum eigenen wie dem Schutz der zivilen Lebenswelt eine konsequente äußere und innere Disziplinierung mit Hilfe zeitgenössisch üblicher, barbarisch harter Strafmaßnahmen entgegen118, die freilich auch an die Grenze der menschlichen Leidensfähigkeit stoßen und dort sogar auf militärrechtliche Milde treffen konnte, wenn zum Beispiel am 2. Februar 1752 tersuchung, nicht zur Debatte stehen; vgl. dafür Kloosterhuis, Zwischen Aufruhr und Akzeptanz (wie Anm. 8), S. 181–183. 115 Vgl. Friedrich Holtze (Hg.), Chronistische Aufzeichnungen eines Berliners von 1704 bis 1758, in: Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins 36 (1899), S. 55–114; dazu schon Ernst Friedlaender, Berliner Garnison-Chronik, zugleich Berlin’sche Chronik für die Jahre 1727–1739, in: Schriften des Vereins für die Geschichte der Stadt Berlin IX (1873), S. 3–62; sowie Gebauer, Zur Disziplin im Heere Friedrich Wilhelms I. insonderheit bei der Berliner Garnison, in: Der Bär 22 (1896), S. 520–523, 531–535. 116 Vgl. entspr. UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVIII, S. 446–448. 117 Vgl. (auch mit zivilen Beispielen) Jürgen Martschukat, Ein Freitod durch die Hand des Henkers. Erörterungen zur Komplementarität von Diskursen und Praktiken am Beispiel von »Mord aus Lebens-Überdruß« und Todesstrafe im 18. Jahrhundert, in: Zschr. für Historische Forschung 27 (2000), S. 53–74. 118 Vgl. entsprechend auch Bräkers Aufzeichnung über die Auspeitschung einer fünfköpfigen Landstreicherfamilie in Wattwil, die er ebenso als »wohlverdiente Züchtigungen« empfand, wie ihn das in der Schadenfreude des Publikums aufbrechende »menschliche Elend« erbarmte; Tagebucheintrag am 18. März 1788; UB, Tagebücher, Bd. 2, S. 676 f. Seine Aufzeichnung über »Urian«, den missratenen Sohn des Handelsmannes Promti aus Glarus, der sich erst bei einem preußischen Regiment ebenso willig wie leichtsinnig anwerben ließ, dann vergeblich zu desertieren versuchte und dafür Spießruten laufen musste, schloss er lakonisch mit der Erkenntnis: »Preussen ist das rechte Zuchthauß für solche Pürschgen«; Tagebucheintrag am 13. November 1782; UB, Tagebücher, Bd. 2, S. 331–334; dazu UB, Chronik, S. 218 (Fehlanzeige für die Namenidentifizierung).
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»ein Soldate von den Itzenblitzischen Regiment [in Arrest] eingesetzet worden [ist]. Er hat den General wolt mit das Gewehr todtschlagen und hat einen Unterofficier mit den Säbel durch den Arm gestochen. Er ist nach dem Dohlhauße gebracht worden«119.
Von diesem »Irrenhaus« (in der Krausenstraße, zwischen Charlotten- und Friedrichstraße120) wusste auch Bräker zu berichten, der dort die Bekanntschaft mit einem verrückt gewordenen Soldaten suchte, von dem er sich in abergläubischer Ehrfurcht vor dessen Zustand eine Weissagung seiner Zukunft erhoffte121. Tatsächlich musste der Rekrut sich ja darüber klar werden, ob mit Blick auf die Bandbreite möglicher Verhaltensmuster sein Weg in den Umkreis des Musketiers Amesecker oder auf die verschiedenen Fluchtspuren führen sollte, wenn anders er nicht wie wohl die meisten der angeworbenen »Ausländer« des Regiments völlig unspektakulär seine sechs Dienstjahre einfach abdienen wollte122. Im Quartett von drei weiteren Schweizer Rekruten, die Bräker unter den Itzenplitz’schen Fahnen bzw. in der Kompanie v. Lüderitz traf, wurden jedenfalls verschiedene Varianten realisiert. Am wenigsten ließ sich dabei Heinrich Bachmann, ein ehemaliger Jagdbedienter und »filziger Kerl«, in die Karten schauen, der in der Heimat einiges auf dem Kerbholz hatte, bei den Preußen wohl ohne viel Federlesen (zwei Zoll größer als Bräker) seinen Solddienst tat und professionell desertierte, als dieser lebensgefährlich wurde, nämlich in der Nacht vor der Lobositzer Schlacht123. Rekrut Gästli flüchtete dagegen schon in Berlin in die Bordelle, wo er sexuelle Ablenkung suchte und prompt im Lazarett landete124. Dagegen genoss Bräkers guter Ka119 Holtze, Chronistische Aufzeichnungen (wie Anm. 115), S. 84. Nach Nr. 6 der Kriegsartikel (wie Anm. 101) sollte der Soldat, der sich einem Vorgesetzten mit entblößter Blankwaffe oder anderem Gewehr widersetzte, »ohne Gnade und sonder einige Ausnahme arquebusiret werden«, so dass die Einweisung ins Irrenhaus auf die Anerkennung mildernder Umstände hinauslief; vgl. für einen entsprechenden Vorfall in Magdeburg Jürgen Kloosterhuis, Genie und Pension, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz XXXVI (1999), S. 183–191, bes. S. 189. 120 Das Haus, »woselbst melancholische und rasende Leute verpflegt« wurden, bestand seit 1728; vgl. Nicolai, Beschreibung (wie Anm. 88), S. 188. Bräkers Besuch belegt auch seine Aufgeschlossenheit zur Beobachtung menschlicher Schicksale, seine Reiselust, »oder mit einen gescheiden Arzt ins Lazaret gehn, ins Tollhauß, wo ich will«; Tagebucheintrag am 11. März 1787; UB, Tagebücher, Bd. 1, S. 546. 121 UB, Lebensgeschichte, Kap. XLIX, S. 451 f. Bräker warf damit ein Schlaglicht auf den Aberglauben im Militärmilieu, von dem man gerne womöglich mehr von ihm wüsste. 122 Bräkers Chancen, vom Militärdienst im Regiment zu Fuß Nr. 13 nach sechs Jahren verabschiedet zu werden, standen unter normalen Friedensbedingungen und mit Blick auf seine Körpergröße sicher gut. Bei großgewachsenen und gutgeführten Soldaten, die ein Regiment gerne behalten hätte, konnte es dagegen zu weitläufigen Verwicklungen kommen; so z. B. 1755/56 im Fall des Johann Conrad Müller aus Schaffhausen; vgl. Eckert, Bräkers Soldatenzeit (wie Anm. 41), S. 142 ff.; dazu unten Anm. 155. 123 UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVIII, S. 446 (zit.); Kap. LIV, S. 460; Kap. LVIII, S. 469; Kap. LVII, S. 468 (dazu unten Anm. 184); dazu Tagebucheintrag am 19. Februar 1784; UB, Tagebücher, Bd. 2, S. 457. 124 Vgl. UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVII, S. 446; XLVIII, S. 447.
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merad Schärer aus Wil ebenso eine Zulage wie das Wohlwollen seiner Offiziere, und zeigte in den Rekrutennöten daher »mehr Standhaftigkeit«125. So ließ die »Lebensgeschichte« mit großer Redlichkeit alles Revue passieren, was ihr Autor an »Ausländern« im Regiment v. Itzenplitz kennenlernte: den abgebrühten Soldprofi mit krimineller Vergangenheit, den haltlosen Bordellabsteiger oder den standhaften Kameraden, und zu diesen Rekruten jene vielen systemkonformen Freiwächter, die sich zu berufsausübenden Soldaten wandelten, je länger sie dem Regiment verhaftet blieben. Und Bräker selbst, den die schiere Not aus dem Elternhaus zu »den Preußen« getrieben hatte? Seine Lage wurde in Berlin nicht nur durch den subjektiv empfundenen Zwang, sondern auch durch seine objektiv schlechten Startbedingungen verschärft. Es war daher ein bedenkliches Zeichen, dass der »arme Mann« in den vier Monaten seines Berliner Aufenthalts die Menagegemeinschaft mit den Musketieren Mewis und Zimmermann (zwei Soldaten, die im Nebenerwerb als Schuster und Zimmermann arbeiteten) aufgeben musste, da er zum gemeinsamen Bauerntisch nicht genügend Geld zuschießen konnte126. Nach unten zog ihn auch der Griff zur Geneverflasche, die ihm in seiner Rekrutenmisere (wie wohl gelegentlich der »Brantz« auch in späteren zivilen Krisenzeiten) Trost zu spenden schien127. Beim Trunk trillerte er dann mit Kamerad Schärer ein Schweizerlied oder den »Kühreigen«, was ein Seelenkenner wie Lavater als deutliches Indiz für eine gefährliche Gemütslage gewertet hätte, denn »In Holland soll es den schweizerischen Soldaten bei Strafe der Spißruthe verboten seyn, den auf den Alpen gewöhnlichen Kuhreigen zu singen, weil die Eingebornen derselben dadurch zu einem tödtlichen Heimweh entflammt werden sollen.«128
Ob also »zu Straßburg auf der Schanz« oder in der Krausenstraße an der Spree: wenn einen Schweizer im Solddienst die Melancholie packte, waren Deser125 UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVII, S. 445; Kap. XLIX, S. 450 (zit.); dazu unten Anm. 157. Über das Schicksal von Gästli und Schärer teilt Bräker nichts weiter mit. Vielleicht sind es diese beiden gewesen, mit denen er im März 1779 eine vergnügte Veteranenrunde feierte, wie er seinem Freund »Bertold« (scil. Johann Ludwig Ambühl) mitteilte: »Gester genoß ich mit den ein rechts Vergnügen: unser drey alte Soldaten, alle im letsten Krieg, im Feld, in Batalie, dennken Sie, Bertold, wan mann das Ding wieder so vorstellt, was mann sagt, wie mann Freud miteinandern hat.«; Tagebucheintrag am 23. März 1779; UB, Tagebücher, Bd. 2, S. 64. 126 UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVIII, S. 449. Einen nicht geringen Teil seines Solds musste der Rekrut in Drogerieartikel investieren, um sich selbst, die Montur und das Gewehr sauber zu halten; vgl. oben Anm. 32 und unten Anm. 149. 127 Vgl. UB, Lebensgeschichte, Kap. XLIX, S. 450; dazu z. B. Tagebucheintrag (»Selbstgespräch«) am 6. März. 1787; UB, Tagebücher, Bd. 2, S. 545; desgl. Tagebucheintrag im November 1795; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 592 f.; sowie Andreas Bürgis Einleitung, ebd., S. XVIII. 128 Tagebucheintrag Lavaters am 17. Januar 1764; zit. nach Ursula Caflisch-Schnetzler: »Fortgerissen durch sich . . .« Johann Caspar Lavater und Johann Heinrich Füßli im Exil, in: Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts, hrsg. von Martin Fontius und Helmut Holzhey, Berlin 1996, S. 69–96, zit. S. 77.
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tion und oft genug deren Misserfolg so sicher vorprogrammiert, dass diese Konstellation nachgerade archetypisch wurde129. Auch Ueli Bräker geriet, wenn er nachts im Fenster seines Berliner Quartiers lag und weinend dem Mond sein Leid klagte, in diese fatale Stimmung, wie ein Selbstgespräch in einer der anrührendsten Passagen seiner »Lebensgeschichte« reflektierte und noch nach 26 Jahren im Tagebuch Ausdruck fand: »So schien mir der Mond in Berlin, da ich rastloß unterm Fenster lag, und ›Vaterland‹, ›Schweitzerland‹ ‹Toggenburg‹, ›Ach, ach, liebes, liebes Toggenburg‹, ›Wattweil‹, mir lauter heilige Wörter seufzte. Ebenso gukte ich in dies holde Nachtliecht hinauf, dachte mir, wie er übers l[iebe] Toggenburg hinwalze, hät ihm hertzlich gern mögen einen Grus, einen klaffterlangen Brief mitgeben, oder vielmehr mit ihm durch die Lüffte fort walzen, dachte mir tausent schwäre, lichte, allerhand Gedannken. So schien mir der Mond bey Pirna im Laager, wo ich zwüschen Tod und Leben rang; Forcht und Hoffnung meine Seele durchwühlten, und so schien er mir wieder, als ich wieder meine Vatterlandserde küsste.«130
Freilich funktionierte nach Bräkers Bericht auch bei ihm das Element der Abschreckung im preußischen Militärsystem: »Doch nein! Desertiren will ich nicht. Lieber sterben, als Spießruthe laufen«131. Dennoch wurde dem Toggenburger ausgerechnet von seinem Schaffhausener Werbeoffizier v. Marck dieser Ausweg aus seiner Situation empfohlen, allerdings erst dann, wenn sich beim voraussichtlichen Feldzug eine realistische Desertionschance ergab: »›Halt‹ dich nur brav! Wenn einmal die Exercizien vorbey sind, kannst du wohl was verdienen. Und wer weiß – vielleicht gehts bald ins Feld, und dann’ –«132 Bräker verstand und blieb erneut in einer Situation der Ent-Täuschung, in der er sich selbst vom »Jäger« zum Rekruten und »Markoni« vom großgnädigen Herrn zum kleinen Sekondleutnant wandelte, handlungsaktiv. Wieder lag seiner Selbstbestimmung am kritischen Punkt eine scharf durchdachte Logik zugrunde. Der Rekrut fügte sich nicht nur ins vorerst Unvermeidliche, sondern fasste darüber hinaus den Entschluss, auch unter seinen erschwerten Bedingungen, die von der geringen Körpergröße bis zum schmalen Traktament reichten, so schnell und gut er konnte das preußische Exerzieren zu lernen, um als vollgültiger Soldat unter die »langen Kerls« von Nr. 13 und mit ihnen 129 Vgl. für ein entsprechendes Beispiel (Ulrich Hatzinger, Deserteur des Regiments zu Fuß Nr. 9) Eylert, Zwischen Hamm und Potsdam (wie Anm. 30), S. 49 ff.; dazu Sikora, Disziplin und Desertion (wie Anm. 33), S. 67 ff.; desgl. Eichberg, (wie Anm. 33), S. 241. 130 Tagebucheintrag am 22. August 1782; UB, Tagebücher, Bd. 2, S. 298; dazu UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVIII, S. 449 f. 131 UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVIII, S. 450. Die Furcht vor den Spießruten hielt Bräker aber nicht davon ab, zunächst mit Schärer und später auch mit Bachmann »Kriegsrat« über Desertionsmöglichkeiten zu halten, was sie in gefährliche Nähe des Straftatbestands »Desertionsverabredung« brachte; vgl. Nr. 20 der Kriegsartikel (wie Anm. 101): »Alle Desertionscomplotte, sie bestehen von 2, 3 oder mehreren Personen, sollen mit dem Leben gestrafet werden.« 132 UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVII, S. 445.
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ins Feld zu kommen. Wie auf der Werbestation in Schaffhausen, stellte Bräker auf dem Berliner Dönhoffplatz im Moment der größtmöglichen Fremdbestimmung zum zweiten Mal eine Weiche: Es galt, sich möglichst perfekt in das Regiment zu Fuß Nr. 13 einzugliedern, um Itzenplitzen möglichst bald den Rücken kehren zu können. 3. Exerzieren – Desertieren Rekrutendrill auf dem Berliner Dönhoffplatz in der Krisenstimmung des Frühsommers 1756: kerzengerade stehen – schnurstracks vorwärts, seitwärts, rückwärts gehen, 75 Schritte (55 m) in der Minute, mit steifen Knien und heruntergedrückten Fußspitzen – Griffe klopfen am Gewehr, Bajonett aufgepflanzt – Feuerfolge nach blindem Laden mit Platzpatronen, fünf Salven in zwei Minuten, ziellos einigermaßen geradeaus geballert133! So lauteten die Lektionen der Lineartaktik, die dem preußischen Gefechtsexerzieren zu Grunde lagen. Sie mussten dem einzelnen Soldaten in Fleisch und Blut übergehen, damit er als disziplinierter Teil seines Pelotons und dieses wiederum im Bataillonsverband auch unter extremen physischen oder psychischen Belastungen zuverlässig funktionierte. Die Kampfeinheit wurde zum explosiven Vektor einer militärischen Geometrie, deren Koordinaten Geschwindigkeit und Präzision lauteten. Dies verlangte vom einzelnen Mann Willigkeit, Konzentration, Ausdauer – und möglichst lange Arme, um am Vorderlader geschwind hantieren zu können. Die Körpergröße war Sache der Werbung, die Ausdauer ließ sich trainieren, und für ausreichende Willigkeit und Konzentration sorgten nötigenfalls zwei kommisserprobte Hausmittel, die Bräker so auf den Punkt brachte: »Was hiernächst auch auf dem Exerzierplatz vorgieng, gab uns zu ähnlichen Betrachtungen Anlaß. Auch da war des Fluchens und Karbatschens von prügelsüchtigen Jünkerlins, und hinwieder des Lamentierens der Geprügelten kein Ende. Wir selber waren zwar immer von den ersten auf der Stelle, und tummelten uns wacker. Aber es that uns nicht minder in der Seele weh, andre um jeder Kleinigkeit willen so unbarmherzig behandelt, und uns selber so, Jahr ein Jahr aus, coujoniert zu sehen; oft ganzer fünf Stunden lang in unsrer Montur eingeschnürt wie geschraubt zu stehen, in die Kreutz und Quere pfahlgerad marschieren, und ununterbrochen blitzschnelle Handgriffe machen zu müssen.«134
Mit solchen Erinnerungen an den Dönhoffplatz wurde Bräker zum vielzitierten Zeugen fürs Fluchen und Fuchteln, wenn das preußische Exerzitium als Garant der Schlachtensiege Friedrichs des Großen zur Debatte stand. Freilich war der Toggenburger im Regiment zu Fuß Nr. 13 dafür auch an den rechten 133 Vgl. Jany, Preußische Armee (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 305 f. Beim Feuern mit scharfer Munition waren zwei bis drei Schuss pro Minute die Norm. 134 UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVIII, S. 448.
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Ort gekommen, trug doch dessen Chef nicht umsonst den Spitznamen »General Donnerblitz«, eben weil ihm unter Kennern im Umgang mit seiner Truppe »eine ausserordentliche Genauigkeit und Schärfe« und »heftige Ausdrücke und Flüche« zu Gebote standen135. Wer wie Bräker sensibel unter dem groben Kommandoton litt, musste sich von Kameraden trösten lassen: »›Potz Velten!‹ antwortete Cran: ›Du mußt ’mal des Donnerns gewohnt werden, sey’s itzt ein wenig früher oder späther‹.«136 Doch der »arme Mann« reagierte zeitlebens auf eine »rauschente durchdringente Officierstimme« empfindlich, zumal wenn die eigene Ehefrau im Hause herumkeifte: »Unmöglich kan ich des Dings gewonnt werden: der thyranische Donnerthon. [. . .] Wanns noch mit einer Weiberstim geschähe! Nein, kein preusischer Comendant spricht in einem gröbern, rauhern Ton, bey iedem Bagatel, ieder Kleinigkeit, die nicht Redens werth ist.«137
So wenig wie über Frau Salomes Phonpotential, so sicher brauchen keine Zweifel am Barrasgebrüll auf dem Dönhoffplatz erhoben zu werden. Ist hinter das »Karbatschen ohne Ende« ein Fragezeichen zu setzen? Fürs Erste: Ja, denn abgesehen davon, dass der beim Drill sich so wacker tummelnde Bräker selbst offenbar keine Prügel- oder andere Militärstrafe erleiden musste138, kontrastierten seine Erinnerungen an die preußischen Exerziermethoden zu auffällig mit einem Aufsatz »Ueber die einem Officier nöthige Geduld beym Exerciren der Recruten«, der 1794 im Berliner Officier-Lesebuch erschien139 – und als Paradebeispiel für einen geduldigen, verständigen, prügelabstinenten Rekruten-Ausbilder ausgerechnet Friedrich Wilhelm Ernst Graf von Schlieben an135 Franz Ludwig Haller, Militärischer Charakter und merkwürdige Kriegsthaten Friedrich des Einzigen, Königs von Preußen, nebst einem Anhang über einige seiner berühmtesten Feldherren und verschiedene preußische Regimenter, Berlin 1796, S. 318; vgl. oben Anm. 49. 136 UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVI, S. 442. – Christian Heinrich von Krahn, ca. 1732 geboren, aus Hinterpommern, 1750 Gefreiterkorporal im Regiment zu Fuß Nr. 13; 28. Mai 1756 Fähnrich, 1757 bei Rossbach verwundet, 10. Februar 1758 als invalide vom Regiment abgegangen, 17. Januar 1759 Premierleutnant im Garnisonregiment Nr. 7, 6. Februar 1760 gestorben; vgl. GStA PK, IV. HA Preußische Armee, Rep. 1 Geh. Kriegskanzlei, Nr. 78, fol. 28 Rs; Kloosterhuis, Datenbank (wie Anm. 73). Bräker empfing den guten Rat also von einem etwa gleichaltrigen Kameraden im Unteroffiziersrang (Fahnenträger), der kurz danach zum Offizier avancierte. 137 »Nur Thon«, Tagebucheintrag am 31. Juli 1780; UB, Tagebücher, Bd. 2, S. 198; desgl. Tagebucheintrag am 5. Oktober 1793; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 486. 138 Die »Lebensgeschichte« beim Wort genommen, schwebte nur zweimal »Markonis« Fuchtel in Schaffhausen über ihm, ohne dass es tatsächlich zum Prügeln kam; vgl. UB, Lebensgeschichte Kap. XLI, S. 431. 139 Zur Einordnung der Arbeit in die zeitgenössische Diskussion (die allerdings als folgenlose »Garnisondebatte« abgetan wird) vgl. Michael Sikora, »Ueber die Veredlung des Soldaten«. Positionsbestimmungen zwischen Militär und Aufklärung, in: Daniel Hohrath, Klaus Gerteis (Hg.), Die Kriegskunst im Lichte der Vernunft. Militär und Aufklärung im 18. Jahrhundert. Teil 1, Hamburg (Themenheft der Zschr. Aufklärung 11) 1999, S. 25–50.
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Abb. 4: Kein »prügelsüchtiges Jünkerlin«: Friedrich Wilhelm Ernst Graf von Schlieben Offizierporträtminiatur nach s/w Foto eines Ölgemäldes in Privatbesitz, ca. 1765. Vorlage: Hans Bleckwenn, Altpreußische Offizierporträts. Studien aus dem Nachlass, mit Miniaturen von Bodo Koch. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Bernhard R. Kroener und Joachim Niemeyer, Osnabrück 2000, S. 113.
führte, der zu Bräkers Zeiten als Sekondleutnant im Regiment v. Itzenplitz diente: »Dadurch erwarb er sich die Liebe des gemeinen Mannes, und jeden freuete es, zu sehen, wenn beym Unterricht im Exercieren Ernst und Menschlichkeit so genau vereint waren.«140 Ein solcher Offizier gehörte nicht zum Typ des »prügelsüchtigen Jünkerlins«; er »hatte studiert und war ein überaus großer Liebhaber und Freund der Gelehrten und der Wissenschaften«141 – was 140 Officierlesebuch historisch-militärischen Inhalts, von einer Gesellschaft militairischer Freunde, 2. Teil, Berlin 1794, S. 150–155, zit. S. 153; dazu Friedrich-Karl Tharau, Die geistige Kultur des preußischen Offiziers von 1640–1806, Mainz 1968, S. 131–133. 141 Friedrich Wilhelm Ernst Graf von Schlieben jr., 1730 geboren, aus Birkenfeld in Ostpreußen, 1750 Gefreiterkorporal im Regiment zu Fuß Nr. 13, 1753 Fähnrich, 1756 Sekondleutnant, 1756 bei Lobositz verwundet, 1759 Premierleutnant, 1764 Stabskapitän, 1768 Kapitän, 1777 Major und Chef eines Grenadierbataillons (Nr. 1/13), 1783 gestorben; vgl. Anton Balthasar König (Bearb.), Biographisches Lexikon aller Helden und Militairpersonen, welche sich in preußischen Diensten berühmt gemacht haben, 3. Teil, Berlin 1788–1791 (repr. Starnberg 1989), S. 381 f. (zit. S. 381); dazu sein Porträt s. Abb. 4.
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aber in der Regel »bei einer Militairperson etwas seltenes« war142. Doch wie ließen sich auf einunddemselben Dönhoffplatz in Berlin Fluchen und Fuchteln, Ernst und Menschlichkeit miteinander vereinen? Vielleicht derart, dass die Erinnerung an den Leutnant Schlieben und der Lebensrückblick des Rekruten Bräker nicht Dichtung und Wahrheit, sondern zwei Seiten derselben preußischen Exerzierpraxis spiegelten. Dafür spricht, dass schon Bräker selbst nicht nur vom »Fluchen und Karbatschen« berichtete, sondern mit Blick auf seine persönliche Ausbildung die Belege für ein geduldiges und verständnisvolles Vorgehen von Vorgesetzten mitteilte143. Generell waren die Grundsätze der friderizianischen Rekrutenschulung, wie sie Bräker erlebte, im Reglement für die Infanterie von 1743/1750 festgelegt, dessen 5. Teil im 4. Titel davon handelte, »Wie den Leuten das Exerzieren am leichtesten zu lernen«144. Im Einzelnen schrieb dazu der 9. Artikel vor, dass die Kompaniechefs die Rekruten zwar durch die Offiziere exerzieren lassen sollten, dazu aber auch geeignete Unteroffiziere oder Soldaten heranziehen konnten, »und absonderlich muß ein Kerl bey einen guten Cameraden ins Quartier gelegt werden, welcher ihn bisweilen exerciren und so zu sagen mit erziehen helfen muß.«145 Genau diese Funktion übernahm – eben nicht zufällig, sondern reglementsgemäß – Bräkers erster »Stubenältester«, Musketier Christian Zittemann, der ihm nicht nur half, in die Rekrutenrolle hineinzufinden, sondern ihn auch an das Exerzieren heranführte: »Jch bat daher Zittemann, mir bey Haus die Handgriffe zu zeigen. ›Die wirst Du wohl lernen‹! sagte er: ›Aber auf die Geschwindigkeit kömmt’s an. Da geht’s Dir wie e’n Blitz‹! Jndessen war er so gut, mir wirklich alles zu weisen; wie ich das Gewehr rein halten, die Montur anpressen, mich auf Soldatenmanier frisieren sollte, und so fort.«146
Zunächst sah das »Rekruten-Curriculum« im 11. Artikel – »damit ein neuer Kerl gleichsam in Spielen dass Exerciren lerne und wenigstens bald aus den Gröbsten gebracht werde«147 – allerdings nur vor, eine aufrechte Körperhal142 So mit Bezug auf die Lateinkenntnisse von Friedrich Karl Graf von Schlieben sen., 1716 geboren in Ostpreußen, 1731 stud. phil. Universität Königsberg, 1734 Gefreitenkorporal im Regiment zu Fuß Nr. 4, 1735 Fähnrich, 1739 Sekondleutnant, 1743 Premierleutnant, 1745 Stabskapitän im Regiment zu Fuß Nr. 13, 1759 Kapitän, 1758 Major, 1765 Oberstleutnant, 1766 Regimentskommandeur, 1770 Oberst, 1777 Generalmajor und Chef des Regiments zu Fuß Nr. 22, 1785 Generalleutnant, 1791 gestorben; König, Biographisches Lexikon (wie Anm. 141), 3. Teil, S. 374–378, zit. S. 378. 143 Vgl. für ein anderes solches Beispiel auf hoher Kommandoebene Kurt von Priesdorff, Saldern. Der Exerziermeister des Großen Königs, Hamburg 1943, S. 93 ff.; dazu mit zahlreichen zusätzlichen Belegen Siegfried Fiedler, Die Menschenführung in der Armee Friedrichs des Großen, in: Zschr. für Heereskunde XLVI (1982), S. 61–64, 100–104, 141–145. 144 Infanteriereglement 1743/1750 (wie Anm. 82), S. 181–183. 145 Ebd., S. 186 f. 146 UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVI, S. 443. 147 Infanteriereglement 1743/1750 (wie Anm. 82), S. 187.
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tung, das trittfeste Marschieren und die exakten Wendungen zunächst ohne Gewehrbelastung einzuüben. Es galt, nach dem zeitlosen Dreisatz »Bauch rein, Brust raus, Kinn an die Binde« dem Mann den »Bauern« auszutreiben und Soldaten-Haltung einzuschleifen: »Das Erste im Exerciren muß seyn, einen Kerl zu dressiren und ihm das Air von einem Soldaten beyzubringen, daß der Bauer heraus kommt«148. Zu solchem »Bon Air« gehörten auch körperliche Reinlichkeit von der Haartracht bis zu sauberen Fingernägeln149, ebenso ein selbstbewusst-diszipliniertes Benehmen150. In dieser Hinsicht hatte Bräkers typisch preußische Schulung ja schon in Schaffhausen begonnen, doch führte die Fortsetzung in Berlin zunächst zu Schwierigkeiten: »Da sollt’ ich vor allen Dingen unter einem mürrischen Korporal mit einer schiefen Nase (Mengke mit Namen) marschieren lernen. Den Kerl nun mocht’ ich vor den Tod nicht vertragen; wenn er mich gar auf die Füsse klopfte, schoß mir das Blut in den Gipfel.«151
Doch zu Bräkers Glück passten die Ausbilder auf dem Dönhoffplatz nicht nur auf ihre Rekruten, sondern auch aufeinander auf. Unteroffizier Hövel, der ihn bereits seit den schönen Werbetagen kannte, beobachtete das menschliche Dissonieren, nahm den Toggenburger in sein Peloton, und dort begriff dieser rasch und schnell das von ihm Verlangte: »Jtz capiert’ ich in einer Stund’ mehr als sonst in zehn Tagen.«152 Zweifellos gehörte Hövel, »ein feiner sittlicher Mann, der uns immer Geduld und Mut einsprach«153, zu den Ausbildern nach Schliebens Methode, die ihre Rekruten geduldig mit »Ernst und Menschlichkeit« exerzierten, wie es gegebenenfalls auch einem entschiedenen Pietismus entsprach154. Freilich hatten die Unteroffiziere beim Exerzieren vor allem Obacht zu geben, »daß der Gemeine keinen Fehler begehet, und wo der einte oder andere sich in Gedancken vertiefft, so wecken sie selbigen mit den bey 148 Ebd., S. 42. 149 Im Umkehrschluss von Bräkers Klage über sein Rekrutendasein in Berlin: »dort war ich Sclav in Volio, nicht einmahl über meine Haare, über die Nägel an meinen Feingern war ich Herr«; Tagebucheintrag im Juli 1793; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 448. 150 So beschloss Bräker im September 1790, seine Visite bei Oberamtmann Anton Sulzer zu Konstanz zu schicklicher Besuchszeit anzusetzen, »denn Jtzenblitz, Lüderitz und Markoni haben mich Respect gelehrt«; Tagebucheintrag am 21./26. September 1790; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 343; vgl. dazu Nr. 5 der Kriegsartikel (wie Anm. 101). »So sollen auch alle Unterofficiers und Soldaten denen Oberofficiers vom ersten bis zum letzten, sie seyn von demselben oder einem anderen Regiment, mit gebührendem Respect und Gehorsam begegnen«. 151 UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVII, S. 444. 152 Ebd., S. 444. 153 Ebd., Kap. XLIV, S. 438. 154 Vgl. entsprechende Belege bei Hans Bleckwenn (Hg.), Preußische Soldatenbriefe, Osnabrück 1982; besonders aus dem Bereich des Regiments zu Fuß Nr. 3, das in Halle garnisonierte. In Seeben bei Halle amtierte ein Bruder von Bräkers Unteroffizier, Pfarrer Friedrich Christoph Hövel, den sie auf dem Marsch nach Berlin besuchten. Zu Bräkers pietistischer Prägung vgl. oben Anm. 18.
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sich habenden Weckern wieder auf.«155 Mit Blick auf »gedankenvertiefte«, sprich schwerfällige, begriffstutzige, widerspenstige oder heimtückische »Bursche« hieß das auch im Infanterieregiment Nr. 13 noch um 1800 im Klartext: »Die Unteroffiziere durften den Soldaten nach ihrem eigenen Ermessen jederzeit drei Stockschläge geben, Fußtritte und Stöße vor die Brust und unter das Kinn wurden gar nicht gerechnet.«156 Dagegen fehlte es bei (zumindest äußerlichem) Wohlverhalten nicht an schulterklopfender Anerkennung der Offiziere für »einen braven Bursch«157; etwa dann, wenn die langen Itzenplitz’schen Musketiere und in ihren Reihen der kleine Toggenburger ihre Sache beim blitzschnellen Chargieren gut gemacht hatten – zumal unter den Augen des »Roi connetable«158, wie er dem »armen Mann« zeitlebens vor Augen stand: »Mir wars, ich sahe Friedrich den II. bey dem Dänhoffschen Platz in Berlin einem Blontong sein Bravo zuruffen.«159 So wurde bei den Preußen in den Grenzen des zeitgenössisch Vorstell- wie im Kommisskontext Machbaren und langfristig wirksam bei den mehr oder weniger dienstwilligen »Ausländern« wie Kantonisten auch die emotionale Seite der Regimentskultur gepflegt, die vom äußeren »Soldatenair« über religiös verinnerlichter Pflichtauffassung bis zur ureigensten Überzeugung reichen konnte, bei allen üblichen Härten des Soldatendienstes unter Friedrichs Fahnen zur militärischen Elite ihrer Zeit zu gehören.
155 Johann Conrad Müller, Der wohlexerzierte preußische Soldat, Schaffhausen 1759 (repr. Osnabrück 1978), S. 13; entsprechend S. 36 im Zusammenhang der Schnellchargierung ohne Einzelkommandos: »Wer bei den Preussen der letste ist, hat allemal seine richtigen Schläg.« Zu Müllers Kompetenz vgl. oben Anm. 122. Daran anknüpfend (und natürlich auch mit zahlreichen Bräker-Zitaten) Oliver H. Schmidt, Zur Sozialgeschichte des Unteroffiziers der altpreußischen Armee 1726–1806, in: Herold-Jahrbuch NF 3 (1998), S. 109–158, bes. S. 135–137. 156 Friedrich Wilhelm Beeger, Seltsame Schicksale eine altes preußischen Soldaten, Uekkermünde 1850 (repr. Krefeld 1969), S. 25. Der Autobiograph, ca. 1782 oder 1786 als Soldatensohn geboren, verdingte sich zunächst als Offizierdiener, trat mit sechzehn Jahren um 1800 als »skisierter Ausländer« für 20 Tlr Handgeld in das Infanterieregiment Nr. 13 ein, diente zunächst als Tambour, dann als Musketier, machte im Gefreitenrang 1806 die Schlacht bei Auerstedt mit und fiel bei Lübeck in französische Kriegsgefangenschaft. Beeger durchlebte und beschrieb wie Bräker alle Härten des einfachen Soldatenlebens, die er aber als dem von ihm selbstgewählten Beruf eigentümlich akzeptieren und überstehen konnte. 157 So der Major v. Lüderitz zu Musketier Schärer, während er Bräker mit dem Finger drohte: »Nimm dich in Acht, Kerl!«; UB, Lebensgeschichte Kap. LII, S. 456. 158 Die Teilnahme des König am Exerzieralltag z. B. des Berliner Regiments zu Fuß Nr. 23 v. Forcade, die in Lob und Tadel deutlich wurde, belegen dessen Parolebücher; vgl. August von Witzleben, Aus alten Parolebüchern der Berliner Garnison zur Zeit Friedrichs des Großen, Berlin 1851 (repr. Osnabrück 1971), S. 68–70, 75–77; dazu entspr. Georg Heinrich von Berenhorst, Betrachtungen über die Kriegskunst, Leipzig 1827 (repr. Osnabrück 1978), S. 222. 159 Tagebucheintrag am 19./20. Mai 1793; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 430. Bräker beobachtete damals in Lichtensteig das Exerzieren der Toggenburger Milizen, denen der Landvogt seinen Beifall zollte. Er selbst, »der ich vor Vatterland und Freyheit gantz militärisch gestimt bin, war bis zu Thränen gerührt« (ebd., dazu UB, Chronik, S. 394).
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Ein »Bravo« konnte sich Bräker im Sommer 1756 auch selber klatschen, denn er erreichte das selbstgesteckte Ziel. Der Rekrut überstand seine erste (einzige) Exerzierzeit, obwohl sie ihm, »wie jedem Soldaten«160, bis zum Überdruss schwer fiel, zumal in der hektischen Atmosphäre, die auf den preußischen Exerzierplätzen im Mai und Juni und dann zum Stutzigwerden alter Kommissköpfe auch nach dem Ende der regulären Exerzierzeit im Juli und August herrschte, denn »unsre Offiziere erhielten gerade damals die gemessenste Ordre, uns über Kopf und Hals zu mustern, aber wir Rekrutten wußten den Henker davon und dachten halt, das sey sonst so Kriegsmanier.«161 Nach der Spezialrevue seines Regiments (20. April 1756) und der Generalrevue der Berliner Garnison (27. Mai) lautete nämlich der Befehl des Königs, alle Rekruten täglich weiter zu exerzieren (27. Juni), bald kamen wöchentlich zwei Feldmanöver dazu (7. August162), und endlich ordnete Friedrich II. an (ca. 12. August), »man solle die neuen Leute nicht zuviel exerzieren lassen, wenn sie auch nicht so hurtig laden könnten, nur müßte man darauf halten, daß sie gut marschieren.«163 Die Regimenter stellten Packknechte an164 und zogen die beurlaubten Kantonisten oder Freiwächter ein, um komplett zu werden. Für den Toggenburger und seine Kameraden nahte die Stunde der Wahrheit, ob sie als unzureichend geübt in einer Garnisoneinheit hinter Festungsmauern verschwanden, oder als vollgültige Musketiere einer Feldtruppe in Reih und Glied einrangiert wurden. Durch Berlin schwirrten alle möglichen Latrinenparolen. Bräker, der darauf »wie ein Schwein am Gatter« horchte, bot in diesen kritischen Wochen »allen meinen Leibs- und Seelenkräften auf, mich bey allen Manövers als einen fertigen dapfern Soldaten zu zeigen (denn einige bey der Compagnie, die älter waren als ich, mußten wirklich zurückbleiben).«165 Die
160 Magister Friedrich Christian Laukhards Leben und Schicksale, von ihm selbst beschrieben, bearb. von Viktor Petersen [Pseudonym für: Hugo Storm], Bd. 1, Stuttgart 1908, S. 255. Der verkrachte Hallenser Akademiker ließ sich 1783 als »skisierter Ausländer« für 8 Louisd’or vom Regiment zu Fuß Nr. 3 anwerben, mit dem er in die Revolutionskriege marschierte. Auch Laukhards Memoiren können als authentische Quelle für die Härten des preußischen Soldatenleben gelten, das der Autor gleichwohl als selbstgewählt akzeptierte. 161 UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVIII, S. 448. 162 Bräker erwähnte die Feldmanöver vom August 1756 vor der Generalrevue vom Ende Mai; umso eindrucksvoller wird diese (sei es aus der Erinnerung, sei es mit Hilfe einer anderen Vorlage) geschildert; vgl. UB, Lebensgeschichte, Kap. XLIX, S. 452 f. Zum allgemeinen Verlauf solcher Übungen vgl. Großer Generalstab, Kriegsgeschichtliche Abteilung II (Hg.), Die taktische Schulung der preußischen Armee durch König Friedrich den Großen während der Friedenszeit 1745 bis 1756, Berlin 1900. 163 Zitat und Kalendarium nach dem Tagebuch v. Scheelen für 1756 (wie Anm. 99), S. 81 ff., zit. S. 104. 164 Nach Scheelens Tagebuch (wie Anm. 99), S. 105, wurden am 20. August 71 Packknechte vom Regiment v. Itzenplitz an das Grenadiergardebatallion Nr. 6 v. Retzow abgegeben, die sämtlich aus dem Kanton des Regiments eingezogen worden waren; vgl. oben Anm. 82. 165 UB, Lebensgeschichte, Kap. L, S. 453.
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Rechnung des Rekruten wider Willen ging auf; sein Blatt wendete sich etwa im August 1756 weiter; er wurde wie erwünscht als Musketier einrangiert, und als das Regiment v. Itzenplitz am 21. August den Marschbefehl für den folgenden Tag erhielt, bekam auch »der arme Mann« seine Chance, »in das Feld, in die Freiheit« zu ziehen166. Von seiner persönlichen Motivation einmal abgesehen, bewies Bräkers Rekrutenzeit, wie schnell ein junger Mann bei einigem guten Willen auch unter schlechten Voraussetzungen bei »den Preußen« zum brauchbaren Soldaten werden konnte. Dies war zu einem Teil zweifelsohne den oft apostrophierten Zwangsmitteln »Fluchen und Karbatschen« bei der Ausbildung geschuldet, doch zum andern Teil tatsächlich geduldiger Anleitung, verständnisvoller Menschenführung und der von den Offizieren wie vom allgegenwärtigen König sachkundig gezollten Anerkennung zuzuschreiben. So, wie der Toggenburger eben kein besonders gutes Beispiel für eine betrügerische Soldatenanwerbung gab, lieferte er auch keine eindeutige Exempelprobe für die ausschlaggebende Funktion, die der »Prügelpädagogik« beim preußischen Exerzieren zukam. Sie spielte sicher besonders bei der Dressur von Obstination und Obstruktion eine Rolle, doch nach Bräkers wieder redlichem Bericht wirkten auch ganz andere, absichtsvoll eingesetzte humanere Führungsmethoden bei der militärischen Ausbildung in Preußen mit. Entscheidend für die Wahl der Mittel war aus der Regimentsperspektive die Bereitschaft des Rekruten, sich einzufügen, die bei Bräker weitgehend gegeben war, jedoch der Logik folgte: »exerzieren lernen, um desertieren zu können«. So wurde der angeworbene Schweizer mit dem beeindruckenden Willen zur Selbstbestimmung nicht wie andere zum motivierten friderizianischen Berufssoldaten, doch blieb er gleichwohl unter dem Eindruck der Regimentskultur zeitlebens auf jenes Waffenhandwerk stolz, das ihm auf dem Dönhoffplatz in den Reihen einer Elitetruppe beigebracht worden war. Im Unterschied dazu vermochte der »Bücherfresser« seine später angelesenen literarischen Wissenschaften nicht in gleicher Weise zu verinnerlichen, denn diese fielen ihn »in angesehnen Gesellschafften niemals ein. Ich werde verwirt, confus und Blödigkeit hängt mir immer noch an. Sobald ich aber ein bisgen begeistert bin, ha, dann bin ich gantz militärisch, kan in einen Euthusiasmuß gerathen, das ich lang und breit von Strapatzen, Exerzieren, Scharmützieren, Batailieren und dergleichen schwatze. Weiß mich noch zu erineren, das, als ich einst bim Trunk im Euthusiasmus einer Gesellschafft das preussische Exerzizie, die ersten Handgriffe zeigen wolte, hastig ein grosses Tischmesser, das eben auf dem Tisch lag, ergriff, dasselbe tractierte, als wan ich ein 166 Vgl. ebd., S. 454; vgl. dazu Tagebucheintrag am 21. Juli 1789 (UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 199), in dem Bräker die Erinnerung an »ienne beschwärlichen Märsche in Brandenburg und Sachsen« mit einer Reflektion der wiedergewonnenen Unabhängigkeit verband: »o Freiheit, du bist das köstliche, ussert der Gesundheit, das köstlichste Gut auf Erden«; entsprechend »trotz der drükenten Schuldenlast« auch Tagebucheintrag im Juli 1793; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 448.
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Gewehr in den Händen häte. Husch, mit der rechten Hand ans Gwehr, traff auf die Schneide, und hieb mir zwüschen dem Dumen und Zeigefeinger eine tüchtige Wunden, und wards nicht eher gewahr, biß das Blut auf den Tisch floß, und mein Gewehr gantz von Blut klebicht war. [. . . ] Sither hab ichs wohl bleiben lassen, mit einem scharffen Metzgermesser zu exerzieren.«167
Bräker beherrschte seine Gewehrgriffe aber nicht nur in lustiger Schweizer Tafelrunde. Schon zuvor hatte er seine Funktionstüchtigkeit auch in der Extremsituation unter Beweis gestellt, für die er so intensiv ausgebildet worden war: am 1. Oktober 1756, in der Schlacht bei Lobositz. Grundsätzlich nahm diese erste große Aktion am Beginn von »sieben bösen Jahren« im Ergebnis das Kriegsende 1763 vorweg: Keine Partei konnte ihren Gegner mit militärischen Mitteln eindeutig schlagen; die Preußen wussten sich gegen die feindliche Übermacht auf der Walstatt zu behaupten; die Österreicher kamen zu keinen strategischen Erfolgen – und vor allem die Sachsen hatten die Zeche des Krieges zu bezahlen. Im einzelnen nahm die Bataille einen recht verworrenen Verlauf, in dem nach dem Aufmarsch der Preußen zwischen Homolkaund Lobosch-Berg ihre zu ungestüm attackierende Kavallerie scheiterte, die modernisierte österreichische Artillerie ein hohes Vernichtungspotential unter Beweis stellte, und am Ende die preußische Infanterie in einem ebenso unorthodox wie furios durchgefochtenen Nahkampf den Lobosch hinunter und nach Lobositz hinein das Schlachtfeld für ihren König eroberte, während sich der gegnerische Feldmarschall Browne halbwegs geordnet zurückziehen konnte168. Das männermordende Pêle-Mêle währte von sechs Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags. Die zwei Bataillone des Regiments v. Itzenplitz standen zunächst in Reserve und waren dann auf verschiedene Weise in jenen Nahkampf in den Lobosch-Weinbergen verwickelt; Musketier Bräker nahm daran in einem Peloton des I. Bataillons bis zu seiner Desertion gegen 15 Uhr teil. Das Er- und Überleben dieses Chaos hat er im Œuvre nach Maßgabe seiner Wahrnehmungsmöglichkeiten wiederholt festgehalten. Sie waren auf
167 Tagebucheintrag am 21./26. September 1790; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 338; dazu UB, Chronik, S. 394. Bräker führte bereits kurz nach der Rückkehr ins Toggenburg im Oktober 1756 in voller Montur und gezwirbeltem Schnurrbart den staunenden Landsleuten »das preusische Exerzizie« vor; vgl. den daran erinnernden Tagebucheintrag am 18. März 1790; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 315; seine stete Neigung zu Gesprächen über militärische Gegenstände, »wo er auch ein Wörtchen mitschwatzen kan«, belegt Tagebucheintrag am 5. März 1789; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 53; desgl. schon Tagebucheintrag am 20./21. Januar 1779; UB, Tagebücher, Bd. 2, S. 15. 168 Zur ausführlichen Information über den Schlachtverlauf vgl. Großer Generalstab, Kriegsgeschichtliche Abtheilung II (Hg.), Der Siebenjährige Krieg 1756–1763, Bd. 1: Pirna und Lobositz, Berlin 1901, S. 251 ff.; für die Gegenseite Christopher Duffy, Feldmarschall Browne. Irischer Emigrant, kaiserlicher Heerführer, Gegenspieler Friedrichs II. von Preußen, Wien 1966, S. 269–271; für eine Schlachtfeldbesichtigung heute Arndt Preil, Österreichs Schlachtfelder, Bd. 2: [u. a.] Lobositz 1756, Graz 1991, S. 23–25.
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den Gesichtskreis eines Gemeinen in Reih und Glied begrenzt, und doch von besonderer Art, wie vielleicht ein Vergleich mit der Schilderung eines anderen preußischen Musketiers vom Regiment v. Hülsen erhellt, dem sich die Realität der Schlacht so ins Gedächtnis gebrannt hatte: »Da nun der Tag grauete, mußten wir wieder aufbrechen; als wir nun eine Viertelstunde marschiret hatten, so mußten wir in eine Linie rücken. Kaum als ich davon sprechen kann, schossen die Oesterreicher mit Kanonen auf uns. Also hebet sich nun die Bataille Morgens um 6 Uhr an und währet in einem Donnern und Feuern weg bis Nachmittags um 4 Uhr, da ich in solcher Gefahr gestanden, daß ich Gott nicht gnugsam für meine Gesundheit danken kann. Mit den ersten Kanonenschüssen wurde unser Krumpholz mit der Kanonenkugel durch den Kopf und den halben Kopf hinweg geschossen, welcher dichte neben mir stand, und Boden, das Gehirn und Hirnschale von Krumpholtzen in das Gesicht und das Gewehr von der Schulter in tausend Stücke entzwei, aber doch Gottlob unbeschädigt geblieben. Nun liebe Frau, wie es zugegangen, kann ich unmöglich beschreiben, denn das Schießen von beiden Seiten war so stark, daß kein Mensch von dem andern verstehen konnte, und wir nicht eintausend Kugeln gesehen und gehört, sondern viele Tausend. Da es nun gegen den Nachmittag ging, so nahm der Feind die Flucht, und uns hat Gott den Sieg verliehen.«169
Die Wahrnehmung der Lobositzer Schlacht lief auch in der eindrucksvollen Bilanz eines Offiziers vom selben Hülsenschen Regiment vor allem auf Tod und Verwundung hinaus. Sie zeigte zunächst, dass die »Jünkerlins« im Feuer neben den »langen Kerls« durchaus ihren Mann standen; darüber hinaus, dass sie gerade im Kampfgetümmel eher mit Beispiel und Zuspruch denn mit Fuchteln führten; und schließlich, dass ihre Leute über einen hohen Gefechtswert verfügten: »Vom Regiment ist der Lieutenant von Knigge der 1te tod, und durch eine Canonenkugel so glücklich getroffen, daß er keine Klaue gerühret hat (wenn es seyn soll, gebe mir Gott auch dergleichen Kugel); der Obrist von Münchow in die rechte Hand leicht; der Major von Bonin auf den rechten Knöchel; der Capitän Frankenberg das lahme Bein mit der Canonen[kugel] mehrenteils ab; der Lieutenant Tettenborn die Knochen im Arm entzwey; der Lieutenant von Bandemer den Ellenbogen mit der Canonenkugel weg; der Lieutenant Fircks am Fuß sehr leicht (wenn es nicht anders seyn soll, wünsche ich mir diese); der Lieutenant von Winning mit einer matten Kugel ins Gesicht leicht; der Lieutenant von Paxleben in die Hand und mit einer matten Kugel auf den H[intern]; der Lieutenant von Rochow an der Sohle vom Fuß; der Lieutenant von Zenge leger am Hals und an der Hand; der Fähnrich von Schmiedeberg gerade ins Maul, daß ihm die Kugel im Maul liegen blieben. Zusammen 1 tod und 11 blessirte 169 Schreiben des Musketiers Franz Reiß vom Regiment zu Fuß Nr. 21 v. Hülsen, an seine Frau; Lobositz, 6. Oktober 1756; Bleckwenn, Soldatenbriefe (wie Anm. 154), S. 30. Das Regiment garnisonierte in Halberstadt und Quedlinburg. Es stand in der Schlacht zwischen der Straße nach Lobositz rechter- und dem Lobosch linkerhand, hielt also zunächst das stundenlange Feuer aus und nahm dann wie Nr. 13 sowohl an den Kämpfen auf dem Lobosch, als auch am Sturmlauf auf die Stadt und dem dortigen Häuserkampf teil.
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Officiers, mit welchen es aber außer dem Capitän von Franckenberg nichts zu sagen hat. Die übrigen Todten und Blessirten vom Regiment belauffen sich an 250 Mann. Aus meinem Peloton allein, welches das 3te im Bataillon, und lauter Leuthe von des Capitän Lichnowsky Compagnie waren, habe ich 3 Tode und 24 Blessirte. Ich habe wahrhafftig die Continence der Leute bewundert; sie haben die Rotten auf Zureden gleich vollgemacht und die Lücks geschlossen, bis sie bei dem kleinen Feuer gewahr wurden, daß der Feind retirirte, da fingen sie an, mit dem größten Geschrey auf Bandurenarth zu attaquiren.«170
Auch Bräker war Zeuge gewesen, wie seine Kameraden im Nahkampf am Lobosch die österreichischen, in aufgelösten Gefechtsformen geübten, Panduren und Kroaten sowie reguläre ungarische und deutsche Truppen »auf Bandurenarth« aus dem Feld schlugen: »Alsdann giengs Hudri, Hudri mit den Panduren die Weinberge hinunter, sprungweise über eine Mauer nach der andern herab, in die Ebene. Unsre geborne Preussen und Brandenburger packten die Panduren wie Furien. Jch selber war in Jast und Hitze wie vertaumelt, und, mir weder Furcht noch Schreckens bewußt, schoß ich eines Schiessens fast alle meine 60 Patronen los, bis meine Flinte halb glühend war, und ich sie am Riemen nachschleppen mußte«171.
Gleichsam, als ob er diese Passage der »Lebensgeschichte« zitieren wollte, hat Adolph Menzel in seiner »Heerschau der Soldaten Friedrichs des Großen«172 die Itzenplitzischen Musketiere im aufgelösten Feuergefecht und damit in einer Lage dargestellt, die für die starre Linearkampftaktik des 18. Jahrhunderts gerade nicht typisch war173. Gleichwohl erwies sich die insgesamt wohlexer170 Kriegsjournal eines Offiziers vom Regiment zu Fuß Nr. 21 v. Hülsen; Abschrift nach dem Fürstlich Stolbergschen Archiv in Wernigerode; GStA PK, IV. HA Preußische Armee, Rep. 15 A Großer Generalstab/Kriegsarchiv der Kriegsgesch. Abt., Nr. 630 (Chronologische Quellensammlung). Zur weiteren Interpretation solcher Soldatenberichte über das (Lobositzer) Schlachterlebnis vgl. in Überwindung der älteren »reinen Fatalismus«-Interpretation (und daher auch für Bräker zutreffend) Sascha Möbius, »Von Jast und Hitze wie vertaumelt«. Überlegungen zur Wahrnehmung von Gewalt durch preußische Soldaten im Siebenjährigen Krieg, in: Forschungen zur Brandenburgischen und preußischen Geschichte, NF 12 (2002), S. 1–34. 171 UB, Lebensgeschichte, Kap. LV, S. 462. Bräker meinte mit den »geborenen Brandenburgern« sicher die Kantonisten seines Regiments. »Geborene Preußen« konnten entweder Männer aus Ostpreußen – oder »skisierte Ausländer« gewesen sein. Die »Ostpreußen«-Interpretation legt eine entsprechende, zeitgenössisch übliche Wortverwendung in UB, Lebensgeschichte Kap. L, S. 453, nahe (in Berlin kamen Regimenter »aus Preussen und Pommern an«); dagegen spricht, dass bei Lobositz keine ostpreußischen Infanterieeinheiten fochten. 172 Eduard Lange, Die Soldaten Friedrichs des Großen (mit 32 Holzstichen [. . .] nach Originalzeichnungen Adolph Menzels), Leipzig 1850/1852; 2. Aufl. unter dem Titel »Heerschau der Soldaten Friedrichs des Großen«, Leipzig 1856. 173 Für eine Abbildung vgl. z. B. UB, Chronik, S. 22; desgl. Klaus-Ulrich Keubke, Helmut Schnitter, Adolph Menzel und das Heer Friedrichs II. von Preußen, Berlin 1991, S. 54; dazu Schnitters Einleitung mit zahlreichen Bräker-Zitaten nach dem Motto »Gepresst und geprügelt«, entsprechend auch ders., Rupert Scipio Freiherr von Lentulus – General in Friedrichs Diensten, in: Fontius/Holzhey, Schweizer in Berlin (wie Anm. 128), S. 151–158.
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zierte und eben auch teilweise hochmotivierte preußische Infanterie solchen unvorhergesehenen Kampfsituationen gewachsen, wie etwa ihr Verhalten in der Nacht vor der Schlacht oder am 1. Oktober selbst ihr mehrstündiges Schützengefecht in den Weinberghängen des Lobosch bewies174. Das I. Bataillon des Regiments zu Fuß Nr. 13 samt »Donnerblitz« und Bräker griffen in diese Kämpfe zwischen 13 und 14 Uhr ein. Der General geriet dabei irgendwie in die Bredouille175, während sein kleiner Musketier »das Sausen in den Knochen« vergaß und in unkommandierter »Bataillenfeuer-«Folge den Patronenvorrat etwa eine halbe Stunde lang durch den Lauf ins Blaue jagte176. Im unmittelbaren Anschluss an diese beeindruckende Probe, die der Toggenburger vom preußischen Exerzierhandwerk gab, war für ihn der persönliche Kulminationspunkt der Schlacht gekommen: der Moment der Desertionsentscheidung. Die Geräuschkulisse dieser Situation, die gleichsam das Gebrüll auf dem Dönhoffplatz und den »entsetzlichen Lerm der knallenden Büchsen, der Trommeln und Feldmusick, des Rufens der Commandeurs« bei der Berliner Generalrevue auf die Spitze trieb177, dröhnte ihm ein Leben lang im Ohr – und fand ein erstes Mal im frommen Traktat der »Geistlichen Ermahnung« von 1768 in einer lautmalenden Bataillenskizze schriftlichen Niederschlag: »Da, da war mir angst und bang, das ich mich möcht unter die Erden verkriechen, wil ich ein böses Gewüsen hatte und alle Augenblick in Gefahr stunde, mein Leben zu verlieren. O welche Angst hab ich dazumahl ausgestanden, ich möchte mich wenden, auf welche Seite ich wolte, stund ich in Gefahr, weil vor mir, hinter mir, und zu beiden Seiten ville tod bliben. Das Getös des Volcks, das Geschrey der Blesierten, das Rauschen der Tromlen, das Donnern des Geschützes hate mich vast unsinig gemacht – doch der gütige und gnädige Gott, der sich über alle seine Geschöpfe erbarmet, hat sich auch über mich erbarmet, und mich bewahret, das ich unverletzt gebliben, und hat mir außgeholfen miten aus der Angst, das – das ich noch selben Tag frey wurde«178.
174 Vgl. Jürgen Kloosterhuis, Zwischen Garbeck und Lobositz. Ein westfälisch-märkischer Beitrag zur militärischen Sozial- und Ereignisgeschichte in der Zeit Friedrichs des Großen, in: Der Märker 45 (1996), S. 84–97, bes. S. 90; dazu oben Anm. 35. 175 Allerdings bleibt unklar, wie es dem Regimentschef v. Itzenplitz im Nahkampf erging: »Da dieser Angrif auf einem sehr beschwerlichen Boden geschahe, welcher durch Graben und Mauren, die die Weingärten und Gärten unterschieden, beständig durchschnitten wurde, so muste sowol unser Herr General als die meisten übrigen zu Pferde befehlende Officiers vor diesesmal ihre Schuldigkeit zu Fusse thun. Wie sorgfältig ist nicht die Verleumdung, auch aus Lorbern Gift zu saugen? Aber was schadet die Verleumdung demjenigen, der vor den Augen Friedrichs 2. seine Pflicht beobachtet«; Pauli, Leben großer Helden (wie Anm. 94), S. 228. 176 Sofern unterstellt werden darf, dass Bräker durchschnittlich zwei Patronen pro Minute verfeuerte; vgl. oben Anm. 133; dazu Tagebucheintrag am 14. Juni 1778; UB, Tagebücher, Bd. 1, S. 741 (zit.). 177 UB, Lebensgeschichte, Kap. XLIX, S. 452. 178 Tagebucheintragung »Ein Wort der Vermahnung«, 1768; UB, Tagebücher, Bd. 1, S. 9; entsprechend Tagebucheintrag »Beschribung meiner leiblichen Reiß«, 1768; ebd., S. 22.
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Zur Akustik trat die Optik der Bataille, die für Bräker jederzeit abrufbar vor Augen stand und immer wieder auf seine Impressionen vom 1. Oktober 1756 hinauslief: auf den preußischen Aufmarsch zwischen Homolka- und LoboschBerg, die große Kavallerieattacke, das stundenlang auszuhaltende Artilleriefeuer und schließlich den Sturm auf das brennende Lobositz: »Wer ie eine Armee gesehen hete, oder auch nur etlich Regimenter und Schwaderon in jhrer propern Montur, prächtige Männer egal und heldenmäsig dastehn, dann das Gemetzel einer Schlacht sehen könte, wie die rassenten Rütter sich freuhen, einander die Schädel zu spalten, wie sie wüthent aufeinander losstürmen, sich von den Pferdten heruntersäbeln, das Geblinker und Geklirre der Mordtschwerdter, dort stolze Regimenter von hundert Feurschlünden und feurspeienten Drachen niederdonnern sähe, Kartetschen und Feldschlangen gantze Reihen wegschmättern sähe, dort wilde Husaren gantze Horden fleihender Helden niedermetzeln sehn, Städte und Dörffer in vollen Flamen, fliehente Baurn, Bürger, Weiber und Keinder, Jüngling und Greiße um Gnade flehn, überall Zetter und Mordio schreyen hören – welch empfeindsames Hertze müste nicht bluttent ausruffen: ewiger Gott, ist das das Loß der Sterblichen, das Schiksal der Menschen, si wollens so«179.
Bräkers »empfindsames Herz« ließ ihn von der Schlacht mehr sehen und hören, als just das Geschehen in seiner unmittelbaren Umgebung. Er nahm nicht nur – wie jener Musketier vom Regiment v. Hülsen – den Tod des Nebenmanns im Glied wahr, sondern speicherte auch, wie ein Soldat »einen schwärverwundeten Mitbruder auf dem Rüken aus dem Getümel« trug180; er ließ es nicht bei einer Aufzählung von Toten und Blessierten bewenden, sondern bezeugte auch, dass sich Soldaten nicht scheuten, einem schwerverwundeten Kameraden »den lezten Liebesdienst zu erweißen, jhne aufs geschweindeste von seinen qualvollen Martern zu erlösen und zur Ruhe zu beförderen«181 Kurz, Bräker war einfühlsam beredt, wo andere erschüttert oder abgestumpft verstummten. Am Scheitelpunkt seiner riskanten Desertionsentscheidung verschmolzen Akustik und Optik gleichsam zu höchster Sinnenschärfung, der es in der Tat auch bedurfte, als der Toggenburger ein letztes Mal in seiner militärischen Laufbahn sein Schicksal selbst bestimmte und die Weiche weg vom Regiment v. Itzenplitz stellte: »Aber wer wird das beschreiben wollen, wo jetzt Rauch und Dampf von Lowositz ausgieng; wo es krachte und donnerte, als ob Himmel und Erden hätten zergehen wollen; wo das unaufhörliche Rumpeln vieler hundert Trommeln, das herzzerschnei179 Tagebucheintrag am 17./19. März 1789; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 70. 180 »Menschliche Schwachheiten allerorten«, Tagebucheintrag Ende März 1797; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 668; dazu Eckert, Bräkers Soldatenzeit (wie Anm. 41), S. 185 (mit Zitat aus den Tagebüchern v. Lehndorff, März 1758: Tod des Leutnants v. Brand vom Regiment v. Itzenplitz, der beim Sturm auf Lobositz verwundet, von einem Soldaten »auf dem Rücken genommen« und »aus dem Kampfgewühl« gerettet wurde). 181 Ebd., mit Zusatz »Beide Arten von Liebesdiensten habe einst mit eigenen Augen gesehen«.
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Abb. 5: »Was gehen mich eure Kriege an«: Bräkers Fluchtweg bei Lobositz Plan der Schlacht bei Lobositz am 1. Oktober 1756; Weiterer Verlauf der Schlacht bis etwa 3 Uhr nachmittags. Kolorierter Steindruck des Lithographischen Instituts Wilhelm Greve, Berlin. Papier, 50 × 39 cm. Maßstab 1:25.000. Blau eingezeichnet: die Preußen, rot: die Österreicher, grün: Bräker. Vorlage: Großer Generalstab, Kriegsgeschichtliche Abtheilung 11 (Hg.): Der Siebenjährige Krieg 1756–1763, Kartenband zu Bd. 1: Pirna und Lobositz, Berlin 1901, Plan 2 B.
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dende und herzerhebende Ertönen aller Art Feldmusick, das Rufen so vieler Commandeurs und das Brüllen ihrer Adjutanten, das Zetter- und Mordiogeheul so vieler tausend elenden, zerquetschten, halbtodten Opfer dieses Tages alle Sinnen betäubte! Um diese Zeit – es mochte etwa 3 Uhr seyn –, da Lowositz schon im Feuer stand, viele hundert Panduren, auf welche unsre Vordertruppen wieder wie wilde Löwen einbrachen, ins Wasser sprangen, wo es dann auf das Städtgen selber losgieng – um diese Zeit war ich freylich nicht der Vorderste, sondern unter dem Nachtrapp noch etwas im Weinberg droben, von denen indessen mancher, wie gesagt, weit behender als ich von einer Mauer über die andere hinuntersprang, um seinen Brüdern zur Hülf zu eilen. Da ich also noch ein wenig erhöht stand, und auf die Ebene wie in ein finsteres Donnerund Hagelwetter hineinsah – in diesem Augenblick deucht’ es mich Zeit, oder vielmehr mahnte mich mein Schutzengel, mich mit der Flucht zu retten.«182
Vor diesem hypersensibilisierten Hintergrund nahm es nicht Wunder, dass Bräker aus dem Gedächtnis heraus in der »Lebensgeschichte« seinen Fluchtweg so präzise beschrieb, dass er in die Geländelinien der preußischen Generalstabskarte für die Lobositzer Schlacht haargenau eingetragen werden kann. Von einer Pandurenwache ins sichere Gewahrsam gebracht, traf er anderntags im österreichischen Lager viele andere davongelaufene oder gefangene Preußen und unter ihnen seinen Landsmann Bachmann183. Entsprechend erschienen »Ulrich Precker« und »Heinrich Pachmann« in der Auflistung der preußischen Deserteure, die im österreichischen Hauptquartier zu Budin zwischen dem 17. September und dem 26. Oktober 1756 vorgenommen wurde184. In diesen 40 Tagen füllten die Namen von 394 Infanteristen die Listenspalten, und zwar vor dem 1. Oktober 83, am 2. Oktober 138 und danach 173 Mann. Davon entfielen auf Bräkers Truppe am Tag nach Lobositz etwa 30 Deserteure, wozu das Regiment selbst noch etwa 34 tote und 255 verwundete Musketiere addieren mußte, weiterhin einen toten Unteroffizier, je 12 verwundete Ober- und Unteroffiziere und zwei Spielleute185. Zwischen 30 und 182 UB, Lebensgeschichte Kap. LV, S. 462 f.; vgl. Abb. 5. 183 Ebd., Kap. LVI, S. 465. 184 Auflistung der im K. K. Hauptquartier zu Budin zwischen dem 17. September und 26. Oktober 1756 angekommenen preußischen Deserteurs, vom 5. November 1756; Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv Wien, Feldakten 1756, Hauptarmee Hofkriegsrätliche Akten, 11, 5 f. Unter den Itzenplitzischen Deserteuren befanden sich auch Johann Nabratilek, und vielleicht noch vier weitere, laut Regimentskirchenbuch zwischen 1746 und 1756 verheiratete Soldaten; vgl. oben Anm. 113. 185 »Liste von der sämtlichen im Laager bei Lowositz stehenden Infanterie, wieviel dabey in der Bataille blessirt, todtgeschossen, ingleichen wie viele manquiren«, 2. Oktober 1756; Großer Generalstab, Lobositz (wie Anm. 168), S. 98*; zur Listenauszählung ebd., S. 368 f.; kritisch dazu Quandt, Lobositz (wie Anm. 40), S. 114 f. Mit Blick auf diese preußische Verlustliste und jene österreichische Deserteursaufschreibung wird man wohl daran festhalten können, dass die preußische Benennung von 64 »Manquirenden« auf eine Addition von tatsächlich totgeschossenen und desertierten Soldaten hinauslief (die als solche für das Regiment auch als »gestorben« galten). Entsprechend wurden wieder eingefangene Deserteure meist gnadenlos exekutiert; vgl. Bleckwenn, Soldatenbriefe (wie Anm. 154), S. 19.
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40 Mann waren auch den anderen preußischen Bataillonen in der Schlacht entlaufen, deren Soldaten wie der Toggenburger ihre Chance im Durcheinander an den Loboschhängen zu nutzen verstanden hatten, während von der Infanterie mit Gefechtsfeld in der Ebene nur wenige Mann durchbrennen konnten, beispielsweise vom westfälischen Regiment zu Fuß Nr. 9 v. Quadt etwa 4 Mann. Wiederum auf das Itzenplitzische Regiment bezogen, liefen Berechnungen seiner effektiven Soll- und Ist-Mannschaftsstärken zwischen dem 28. August und dem 22. Oktober 1756 darauf hinaus, dass es in diesen zwei Monaten ca. 9 bis 10 Prozent seines Bestands aus der Stammrolle streichen musste186 – und diese Desertionsquote entsprach ungefähr dem Anteil von etwa 10 bis 15 Prozent an Soldaten, die wie Bräker, warum auch immer, in den preußischen Regimentern un(frei)willig dienten, oder wie vielleicht Bachmann einem kriminellen Milieu entstammten187. Gerade mit Blick auf diese Elemente, die in den Garnisonen mit barbarisch anmutender Härte in Zucht gehalten und nötigenfalls mit dem Prügel exerziert wurden, erwies sich die Schlacht nicht nur als Bewährungsprobe, sondern auch als wunder Punkt der Regimentskultur. In der Extremsituation reichte von der Contenance zur Confusion, von der Disziplin zur Desertion ja ein winziger Schritt, womit sich beide als kohärente Seiten desselben Militärsystems im 18. Jahrhundert erwiesen. Umso emotionsloser wurde die Fahnenflucht von »Gemeinen« in dieser Zeit vor der Allgemeinen Wehrpflicht aus der Regimentsperspektive betrachtet188. Sie galt als ein Strukturelement des heterogen zusammengesetzten militärischen Sozialkörpers, das vor allem der tatsächlichen »Ausländer-«Werbung geschuldet und möglichst auf ein Minimum zu reduzieren war. Sonst kam es im Desertionsfall nicht nur mit Blick auf den König zum Bruch des auf Gottes Wort gegebenen Fahneneids, sondern auch aus der Sicht des Kompaniechefs zur widerrechtlich einseitigen bzw. vorzeitigen Kündigung des Kapitulationsvertrags durch den Mann, mit dem nicht nur die Geldausgaben für seine Anwerbung und die auf ihn angewandten Ausbildungsmühen stiften gingen, sondern auch eine Lücke in der Truppenrolle entstand, die es wieder einmal schnell zu komplettieren galt. Als Desertionsdämpfer kamen zunächst die Kriegsartikel zum Einsatz; darüber hinaus wirkte gegen die Fahnenflucht aber auch die emotionale Seite der Regiments186 Berechnung der Gefechtsstärke des preußischen Heeres am 28. August 1756; GStA PK, IV. HA Preußische Armee, Rep. 15 A Großer Generalstab/Kriegsarchiv der Kriegsgeschichtl. Abteilung, Nr. 623 (Stärkeberechnungen für Truppenteile); dazu Bericht des preußischen Observationskorps über die Gefechtsstärken seiner Truppenteile, vom 22. Oktober 1756; Großer Generalstab, Lobositz (wie Anm. 168), S. 368. 187 Vgl. Hans Bleckwenn, Bauernfreiheit durch Wehrpflicht – ein neues Bild der altpreußischen Armee, in Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Friedrich der Große und das Militärwesen seiner Zeit, Herford 1987, S. 55–92, bes. S. 65 f. 188 Ehrlosigkeits- und Feigheits-Vorwurf spielten dagegen bei der Offizierdesertion eine Rolle; vgl. Sikora, Disziplin und Desertion (wie Anm. 33), S. 174.
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kultur, die (gegebenenfalls gestützt von militärischen Erfolgen) in Korpsgeist und Elitebewusstsein ihren Ausdruck finden, ja bezeichnender Weise sogar – beim Deserteur zum Vorschein kommen konnte. Kein anderer als der ehemalige Musketier Bräker gab dafür ein Beispiel, als am 2. Oktober 1756 im österreichischen Lager die Kombattanten ihre Erlebnisse austauschten: »Da gab’s denn auch unter den Kaiserlichen manchen Erzprahler; und der kleinste Zwerge rühmte sich, wer weiß wie manchen langbeinigten Brandenburger – auf seiner eignen Flucht in die Flucht geschlagen zu haben.« – »Ihr H***, dacht ich, hättet ihr euer Courage bei Lowositz gezeigt!«189
Mit anderen Worten: Der Toggenburger, einst vom Major v. Lüderitz selbst als »Zwerg« abqualifiziert, hatte beim Exerzieren nicht nur das Gesetz der Körpergröße bei »den Preußen« begriffen, sondern begann auch – am Tag nach der Desertion! –, sich mit Friedrich dem Großen und den preußischen »langbeinigten Storchen«190 solidarisch zu fühlen. So entwickelte seine selbstbestimmte Logik »Exerzieren – Desertieren« Eigendynamik und führte ihn in überraschender Konsequenz zum »Identifizieren«. Auf dieser Basis, die laut Ausweis der Bräkerschen Tagebücher in der Folge breiter und breiter wurde, stand etwa 30 Jahre nach der Schlacht das Preußenbekenntnis des »armen Mannes«, »der einst auch ein paar Monate unter deß Grossen Friedrichs Fahne diente, und einst den Sieg bey Lowositz half erfechten, wo er sich dan freilich davonschlich, will er nicht freywillig Soldat ward, sondern weggekapert worden. Gleichwohl sind jhme sither alle Nachrichten von Preussen her wichtig und vor allenauß interssant«191.
IV. Doch fürs Erste hieß »Heim! Heim! Nichts als Heim!« Bräkers selbstgegebene Parole, und »O des geliebten süssen Vaterlands!« lautete seine Losung, die ihn vom österreichischen Hauptquartier zu Budin über Prag, Regensburg, Bregenz/Rheineck zurück ins Toggenburg führten192. Am 26. Oktober 1756 stand er wieder vor dem Wattwiler Elternhaus: 189 UB, Lebensgeschichte, Kap. LVI, S. 465 (erstes Zitat), desgl. S. 464 (zweites Zitat). Für weitere Beispiele (nach Seumes Erinnerungen) vgl. Sikora, Disziplin und Desertion (wie Anm. 33), S. 273; dazu Erwin Naimer, Ulrich Bräker und Johann Gottfried Seume, in: Arte & Marte (FS Hans Schmidt), Bd. 2, Herzberg 2000, S. 167–230. 190 »Schreiben an den König in Preussen«; Tagebucheintrag am 6./7. März 1789; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 56. 191 Ebd., S. 55. Vgl. auch Bräkers wenig später datierte Notiz zu einem Zürich-Besuch: »Hier traff er auch junge Edle auß Preussen, die Schweitzerreisen machten, an. Hertzinniges Vergnügen wars jhme, wiedern’mahl Preussen zu sehen und zu sprechen, und das von der edelsten menschenfreundlichsten Claße«; Tagebucheintrag am 21./22. Juli 1789; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 203. 192 »Parole« und »Losung« nach den Kapitelüberschriften LVII und LVIII; UB, Lebensgeschich-
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Abb. 6: »Musterdeserteur« und »Alter Preuße«: Näppis-Ueli bei seiner Heimkehr ins Wattwiler Elternhaus Kupferstich von Johann Rudolf Schellenberg für Hans Heinrich Füßlis Erstausgabe der Bräker-Schriften, Zürich 1789. Vorlage: Ulrich Bräker, Das Leben und die Abenteuer des Armen Mannes im Tockenburg, Neudruck der Ausgabe Zürich 1789, mit Beitrag von Helmut Eckert, Osnabrück 1980, vor S. 165.
»Als ich in die Stube trat, (Vater und Mutter waren nicht zu Hause) merkt’ ich bald, daß auch nicht eines von meinen Geschwisterten mich erkannte, und sie über dem ungewohnten Specktakel eines preußischen Soldaten nicht wenig erschracken, der so in seiner vollen Montirung, den Dornister auf dem Rücken, mit ’runter gelaßnem Zottenhut und einem tüchtigen Schnurrbart sie anredte.«193 te, S. 466 und 468; im Kap. LVII auch das kurz vor Rheineck aufbrechende Zerwürfnis mit dem jähzornigen Bachmann, der sich »seiner vorigen Frevel wegen« nicht nach Haus getraute. 193 Ebd., S. 469. Vgl. Abb. 6.
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Johann Rudolf Schellenberg, der zur ersten von Füßli besorgten Buchausgabe der »Lebensgeschichte« acht Kupfer beisteuerte, hat diese Szene anschaulich illustriert. Auf seinem Bild stimmte Bräkers Uniform zwar nicht in allen Details194, und ob ein preußischer Musketier sich den Filzhut à la Schellenberg zurechtbiegen konnte, mag mit Blick darauf offen bleiben, wie ein kleiner Junge die legere Tragweise des Dreispitzes bei einem anderen alten Soldaten beobachtete: »Ich war nun höchstens eine Elle weit vom König entfernt, und es war mir, als ob ich den lieben Gott ansähe. Er sah ganz gerade vor sich hin durch das Vorderfenster. Er hatte einen ganz alten dreieckigen Montierungshut auf, dessen hintere gerade Krempe hatte er nach vorn gesetzt und die Schnüre los gemacht, sodaß diese Krempe vorn herunterhing und ihn vor der Sonne schützte.«195
Doch so oder so trugen König Friedrich und Heimkehrer Bräker ihren Dreimaster unvorschriftsmäßig, nach alter Soldatenmanier. Beide fühlten sich als Veteranen, wobei der eine nach misslungenem Fluchtversuch 1730 in der Folge an die Spitze der preußischen Armeerangliste gerückt, der andere aber vom unteren Ende 1756 erfolgreich weggelaufen war. Dennoch blieb der Toggenburger diesem König durch Eid und Gefühl zeitlebens verbunden, weil er »einst auch ein Weilchen unter seinen grossen Männern diente und ihme ein paar 100 Patronen verschossen« hatte196. Besonders seine Tagebucheintragungen, die ab etwa 1789/90 zunehmend politische Probleme diskutierten, nahmen für Friedrich Partei197. So hielt der Lobositzer Deserteur dem Preußenkönig gern zugute, im Siebenjährigen Krieg einen »bellum iustum« zu seiner Verteidigung geführt zu haben – was bei ihm wohl mehr für die Langzeitwirkung des friderizanischen Charisma seit den Dönhoffplatz-Tagen sprach und weniger den Kenntnisstand der späteren historischen Forschung
194 Schellenberg folgte sicher Bräkers Hinweis, das bei Itzenplitz »bis auf den blauen Rock [. . .] unsre ganze Uniform weiß« gewesen war (UB, Lebensgeschichte, Kap. XLVIII, S. 448). Hose, Weste und Rockabzeichen spielten bei Nr. 13 wohl vom vorschriftsmäßigen Blasspaille ins Weiß; statt der weißleinenen Gamaschen wurde im Feldzug 1756 aber solche aus schwarzem Zwillich getragen; vgl. entspr. die Radierung nach Schellenberg in der von Peter Scheitlin 1848 betreuten Ausgabe der »Lebensgeschichte«. 195 Aus den Denkwürdigkeiten des Generals Friedrich August Ludwig von der Marwitz, Friedrich der Große auf der Durchreise durch Dolgelin, 1782 oder 1783; zit nach Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, hrsg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau, Teil 2: Das Oderland, Berlin/Weimar 1976, S. 248. 196 Tagebucheintrag am 28. Januar 1789; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 19. 197 Vgl. Andreas Bürgis Einleitung zu UB, Tagebücher, Bd. 3, S. XXV–XXVII; zur Popularität Friedrichs des Großen in der Schweiz, in die sich Bräkers Parteinahme bruchlos fügte, vgl. Ulrich im Hof, Friedrich II. und die Schweiz, in Fontius/Holzhey, Schweizer in Berlin (wie Anm. 128), S. 15–32; dazu Olivier Eisenmann, Friedrich der Große im Urteil seiner schweizerischen Mitwelt, Zürich (phil. Diss.) 1971.
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antizipierte198. Natürlich nahm Bräker erschüttert zur Kenntnis, dass Friedrichs Kampf um »sein altes Schlesien« hundertausenden Menschen das Leben gekostet hatte, doch waren diese nach seiner Meinung »meistens als Sclaven zweier ehrgeitziger und rachgieriger Weiber Schlachtopfer ihrer Leidenschafft geworden; niedergedonnert und gesäbelt, zerschmättert und hingemezelt Legionen wakerer Männer, um einen gerechten Fürsten zu unterdrücken«199.
Umso schärfer verurteilte der »arme Mann« den ungerechten Angriffskrieg der Fürsten und ihr verwerfliches Mordinstrument, eine aus »Lohnsoldaten«, »meistens unwüssenter Pöbel«, bestehende Armee200. So legte Bräker in einem »Totengespräch« über den Ersten Koalitionskrieg gegen Frankreich seine kenntnisreiche Militärkritik einem Sachsen in den Mund, der 20 Jahre in Preußen gedient hatte, erst verführt vom »blendenten Glanz« und »durch falsche Schmeicheleien [. . .] dazu verleitet«, dann kujoniert »von den Oficiers, von jedem unbärtigen Lotterbube«, und endlich dazu verdammt »ein armsäliges Sclavenleben zu führen und am Ende sich um einige Kreutzer todschiessen, verstümeln oder in Stüke hauen zu lassen«201. Auch im Für und Wider der Diskussion über die französische Revolution und ihre Angriffskriege konnte der mitleidige Schweizer am Ende nur »all den tausent unschuldigen Schlachtopfern [. . .] wehmütige Thränen vergießen; der Glaube, daß diese gräuliche Revolution in gantz Europa von guten Folgen sein werde, ist noch mein eintziger Trost.«202 Doch der trostreiche Glaube schwand, als Frankreichs »wilde Kriegshorden« im Mai 1798 begannen, »Deine Fluren [zu] verhuntzen, liebes Helvetien«, und Bräker bei der Truppeneinquartierung in Wattwil mit Expertenblick konsta198 Zum Friedrich-Charisma bei Bräker vgl. auch das »Gespräch im Reich der Todten«, Tagebucheintrag am 5. Oktober 1786; UB, Tagebücher, Bd. 2, S. 731–742, bes. S. 739–741; desgl. »An dem Schatten Friedrichs II.«, Tagebucheintrag am 7. Februar 1790; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 293–297; zur Kriegsursachenforschung oben Anm. 99. 199 Tagebucheintrag am 6./7. März 1789; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 54 (erstes Zitat); desgl. Tagebucheintrag am 17./19. März 1789 (im Zusammenhang der Lektüre von Friedrichs II. in Deutsch erschienenen »Hinterlassenen Werken«, 6 Bde., Augsburg 1789); UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 69 (zweites Zitat); dazu UB, Chronik, S. 344. Die zwei »Weiber« spielten auf Kaiserin Maria Theresia und Zarin Elisabeth an. Bräker verglich immer wieder Soldaten mit »Schlachtopfern« oder »Schlachtschafen« und zitierte damit u. a. den Brief an die Römer, VIII Kap. 36 und 37; eine Bibelstelle im Rückgriff auf Psalm 44, 23, die übrigens auch der Feldprediger des Regiments v. Hülsen seinem Gottesdienst am Sonntag nach der Schlacht bei Lobositz zugrunde legte (vgl. Bleckwenn, Soldatenbriefe [wie Anm. 154], S. 32): »Um deinetwillen werden wir getödtet den ganzen Tag, wir sind geachtet für Schlachtschafe. Aber in dem allen überwinden wir weit um deß willen, der uns geliebet hat.« 200 Für Bräker waren »alle Kriege ungerecht, ausgenohmen zu seiner eigenen Verthädigung«; Tagebucheintrag am 5. März 1790; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 301. Zur Qualifizierung des »Mordinstruments« vgl. Tagebucheintrag im Februar 1797; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 661 (zit.). 201 »Gespräch im Reich der Todten zwüschen 2 Soldaten, einem Schweitzer und einem Teutschen«, Tagebucheintrag am 24. Februar 1793; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 415–421, hier S. 420. 202 »Etwas vom Krieg«, Tagebucheintrag im Mai 1794; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 512.
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tierte: »die Infanteri war ein entzezlich pundtschäckichtes Corps, die mit den Preussen, die ich ehmals gesehn, gar in keine Vergleichung kamen«203. Bei aller theoretisch fundierten und aus eigenem Erleben gespeisten Militärkritik hat sich Bräker also bis in seine letzten Lebensjahre als Verehrer Friedrichs des Großen und gerade in Auseinandersetzung mit den Freiheitsverheißungen der französischen Revolution als konservativer »neutraller Schweitzer« und zugleich »alter Preusse« aus dem Toggenburg verstanden204. So war er zwar dem Regiment v. Itzenplitz bei der erstbesten Gelegenheit desertiert, und dennoch zeitlebens stolz darauf, sich unter der zeitgenössischen Militärauslese der preußischen »langen Kerls« behauptet zu haben. Der freie Schweizer hasste die oktroyierte »Leibeigenschaft« in Uniform, und ließ doch beim Anblick eines großgewachsenen Landsmanns seine »Gedanken auf Berlin wandlen, dan so oft er einen solch grossen wolgebildeten Mann sieht, komen ihme seine alten Preussen zu Sinne. Er stelte sich seinen Lattorf, seinen Lüderitz, Nierot, Graf Poß und Schliim vor, dachte, welch ein werther Mann wäre er [scil. der Landsmann] dort gewesen. Doch all die wakren Männer sind lengsten in die Pfane gehauen, o schade drum. Seine Hochachtung solcher großer wohlgewachsner Männer mag sich noch von dorther schreiben, und er mag wohl ie gewünscht haben, ein Regiment solcher wohl exerzierter großer Männer unter seinen Befehlen zu stehen, und dieselben in seinem Vatterlande zeigen und manövrieren zu lassen.«205
Der Toggenburger hatte eben – nur ein knappes Jahr lang! – teilgenommen an jener oftbezeugten, dem vielgeschmähten preußischen Militärsystem des 18. Jahrhunderts immanenten und vom Charisma Friedrichs des Großen gewaltig verstärkten Prägekraft, die sich aus dessen charakteristischer Heeresergänzung durch Kantonisten und »Ausländer«, und aus er Art und Weise speiste, wie die »langen Kerls« in Preußen nicht nur ausgehoben und einexerziert, sondern auch sozialisiert wurden. So entstand mit Bräker nicht nur ein Zeuge fragwürdiger »Anbringer«-Methoden speziell bei der »Ausländer«-Werbung, von Härte und Zwang bei Disziplinierung und Dressur, sondern auch ein Beispiel dafür, 203 Tagebucheintrag am 7./17. Mai 1798; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 752–755, zit. S. 752 und 754; dazu UB, Chronik, S. 459. 204 »Vermischte Gespräche«; Tagebucheintrag im März 1796; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 606–609; zu Bräkers Identifizierung mit dem »neutralen Schweizer« und »alten Preußen« vgl. UB, Chronik, S. 433. 205 »Wädenschweil«, Tagebucheintrag am 24. Juli 1789; UB, Tagebücher, Bd. 3, S. 211; übrigens mit Lesart »Schleim«, die nach Eckert, Bräkers Soldatenzeit (wie Anm. 40), S. 177 wohl in »Schliem« für Schlieben zu verbessern ist. Im Unterschied zu Eckert dürfte mit diesem Grafen Schlieben aber nicht der jüngere Friedrich Wilhelm Ernst, sondern der ältere Friedrich Karl angesprochen sein, denn dann hätte sich Bräker sämtlich an Kompaniechefs erinnert. Im übrigen hielt nicht nur Bräker die preußische Armee für ein gutes Vorbild für das Militär seines Vaterlandes; vgl. Rudolf Jaun, Preußen vor Augen. Das schweizerische Offiziersorps im militärischen und gesellschaftlichen Wandel des Fin de Siècle, Zürich 1999.
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wie das preußische Militärsystem »Mann für Mann« Mentalitätsveränderungen im ständisch fixierten Sozialgefüge die Bahn brach. Diese emotionale Einwirkung der Regimentskultur auf das ihm eingegliederte oder sich einfügende Individuum machte sich im späteren Œuvre des »Selbstscrieblers« schon an der sprachlichen Oberfläche bemerkbar. Tiefer reichten die Folgen, die vom äußeren »Air« über notgedrungene oder religiös motivierte Pflichterfüllung zu Korpsgeist und Elitebewußtsein führen konnten. Dies verhalf zur Identifikation und vermochte ein soldatisches Selbstbewußtsein zu generieren, das gegebenenfalls bis ins Zivilleben reichte – und sich bei Ueli obendrein mit seinem zähen Willen zur Selbstbestimmung ergänzte, der den knappzwnzigjährigen jungen Mann an den Krisenpunkten seiner »Militärkarriere« soweit wie möglich und im Interesse seiner persönlichen Freiheit handlungsaktiv bleiben ließ. Wenn der Toggenburger am Ende eines bewegten Lebens angesichts des Auseinanderbrechens seiner familiären, ökonomischen und politischen Wertvorstellungen also seine persönlichen Seelenkräfte aus der Liebe zur Natur und einem toleranten Christentum schöpfte, sollte man sein »Preußentum« als ebenso hilfreiches Kraftreservoir seit der Dienstzeit beim Regiment v. Itzenplitz einbeziehen. Auf dieser Basis verband Bräker preußische Militärmentalität und Schweizer Freiheitsliebe zu einer selbstbestimmten Lebenseinstellung, die durch Höhen und Tiefen in Berlin, bei Lobositz und im Toggenburg stets auf die Kunst hinauslief, mit heiler Haut davonzukommen. Es galt für den »armen Mann« »in diesem meinem Geheuß, in diesen engen Schranken unerschrocken vor die Fronte zu stehen, dapfer kämpfen, alle unzufriedne Gedanken, wiedrige Fähle, scharfe Pfeile, gifftiger Worte, alles betäubende Gelärm anprellen lassen, abweisen, auf die Seite schlendern, fort eylen fornen zur Laufbaan hinaus, hinaus sehn, auf die aufgestekte Crone bliken, und doch keinen Schritt versäumen.«206
So steht der »Musterdeserteur« am Ende keineswegs im Widerspruch zum »Alter Preuße-Prototyp«. Vielmehr ist festzuhalten, dass Bräker vom friderizianischen Militärsystem nicht nur die Zwangskomponente kannte, sondern auch die emanzipatorischen Aspekte eines Soldatendaseins um 1750 zu vermitteln vermochte. An diesem Punkt verliert die Frage an Bedeutung, ob Bräker alle die von ihm geschilderten Details auch wirklich selbst erlebt hat. Weiter erscheint es völlig irrelevant, ob er noch immer als Zeuge der Anklage gegen »die Preußen«, oder ebenso gut zu deren Verteidigung reklamiert werden kann. Allein wichtig ist, dass er dank einfühlsamer Beobachtungsgabe, vortrefflichen Gedächtnisses und hoher intellektueller Redlichkeit ein insgesamt stimmiges Bild von der preußischen Armee zur Zeit Friedrichs des Großen, ihren abschreckenden und ihren faszinierenden Seiten zugleich entwor206 Tagebucheintrag am 27. Januar 1779; entspr. auch am 10. März 1779; UB, Tagebücher, Bd. 2, S. 20 und 55; dazu (mit Verweis auf Paulus 1. Kor. 9, 24–27) UB, Chronik, S. 156; sowie Andreas Bürgi, Einleitung zu UB, Tagebücher, Bd. 3, S. XXXII.
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fen hat. Bräker begriff in seiner »Lebensgeschichte« das notwendig Heterogene dieses Militärsystems und vermochte deshalb die ganze Bandbreite der mit ihm verknüpften Regimentskultur zwischen Pflichterfüllung, Desertion und Identifikation literarisch präzise festzuhalten. Man ist dem »armen Mann« daher lediglich die genaue Lektüre seiner Texte und dann schlicht und einfach schuldig, ihn nicht nur auf die selbstbestimmte Bilderbuchdesertion zu reduzieren, sondern auch seine selbstbewusste Militärmentalität zu respektieren: Donner, Blitz und Bräker!
Jean-LucPiveteau Bräkeretlescerclesdel’espace
JEAN-LUC PIVETEAU
Bräker et les cercles de l’espace Introduction La commémoration d’Uli Bräker, c’est à certains égards l’opposé de la célébration de 1848. Il y a un humour conjoncturel. Le roman de Bräker, c’est l’histoire vue par l’autre bout: l’individuelle, la discrète, la micro-histoire, celle de l’un de ces »gens de peu«, de quelqu’un malmené par le destin et modeste comme le Candide de Voltaire, mais self-made-man et non pas fils de Voltaire. Qu’attend le géographe de sa lecture du »Pauvre homme du Toggenbourg«? Quelle exploitation scientifique peut-il en faire? Les limites d’un tel témoignage sont évidentes. Les informations qu’il livre sur sa petite région sont indirectes et décousues. En revanche il parle beaucoup de lui, de son rapport avec les lieux qu’il a habités, de ses relations avec la société dans laquelle il a cherché à vivre, et souvent simplement à survivre; bref, du territoire personnel compliqué, changeant, fragile, qu’il s’est construit cahin-caha, au cœur de cet autre territoire que la naissance lui a imposé. Pour nous géographes, Uli Bräker a la valeur d’un révélateur et d’un marqueur. D’un révélateur, comme grossi par un effet de loupe, de certains mécanismes de la relation d’un homme à l’espace. De mécanismes de tous les temps – y compris donc le nôtre – car liés à la condition humaine. Avec cette particularité précieuse, la »naïveté«. Son discours échappe aux formes plus apprêtées des récits de voyageurs, et surtout aux contraintes du discours savant. Il n’en a ni les catégories d’analyse habituelles, ni ces pudeurs scientifiques qui, par souci de rigueur, excluent les dérives émotionnelles et glissent sur les intermittences ou les contradictions des sentiments, si importantes pourtant dans la constitution de notre société. Par ailleurs, le texte de Bräker est un »marqueur« du temps long. La géographie étudie, vous le savez aussi bien que moi, le monde d’aujourd’hui. Mais elle le fait en étant très attentive à la multirythmie du présent. A l’école des historiens contemporains, elle considère qu’on ne peut comprendre en profondeur l’organisation de l’espace dans lequel nous vivons qu’en tenant compte de l’entrecroisement des temps courts, des temps moyens et des temps longs qui la commandent. Il nous est donc nécessaire, pour mener une analyse correcte, d’identifier ce qui, dans notre relation à l’espace d’aujourd’hui, relève du temps long. La fin du XVIIe siècle éclaire la fin du XXe siècle.
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Que pouvait attendre un géographe, vous demandez-vous peut-être, de sa participation à un colloque tel que celui-ci? Il en attendait – et il n’a pas été déçu – un détour. Un »détour« au sens où les guides touristiques recommandent d’en faire un quand il y a un point de vue intéressant à découvrir. Mais surtout un »détour« au sens des anthropologues: la recherche du regard critique de l’autre, la médiation de l’autre pour enrichir ou rectifier la problématique que l’on a choisie. Et, plus indiscrètement, le géographe attendait de savoir ce que les spécialistes de la littérature, eux, attendaient de lui.
A. L’anatomie de la relation au territoire chez Uli Bräker: elle relève d’une double grammaire I. Recours au modèle de Moles et Rohmer Dans leur Psychologie de l’espace (1972), les deux psycho-sociologues de Strasbourg Abraham A. Moles et Elisabeth Rohmer proposent une clé de lecture de la relation que nous avons avec notre environnement. Ils l’appellent notre »double grammaire«. Elle consiste, d’une part, en une vision en gradient, c’est à dire en cercles concentriques à partir du »moi-ici-maintenant«: nous l’appliquons à tous les instants dès que nous regardons autour de nous; et d’autre part, une approche zénithale (»cartésienne«) – que nous pratiquons, elle, dès lors que nous considérons l’espace à la verticale de chacun de ses points. C’est la vision égalitaire que nous avons quand nous lisons une carte. L’application de ce modèle au »Pauvre homme du Toggenbourg« est performante. Elle montre d’emblée qu’Uli Bräker fait effectivement une double, mais inégale, lecture de sa vie sur terre: son ego, à la fois humble et volumineux, donne la prééminence à la première grille, celle que Moles et Rohmer appellent »centrée«. Chez Bräker les auréoles territoriales s’installent progressivement et leurs inégalités de prégnance font l’objet, avec le temps, de déconstruction et de recomposition. II. Une grille »cartésienne« ténue Lorsque pour la première fois, dans sa vingtième année, il part pour l’inconnu, loin de sa région, son père lui rappelle: »N’oublie jamais que ton Père céleste voit et entend tes pensées et tes actions les plus secrètes où que tu sois.« – C’est exactement ce qu’en termes sécularisés, Moles et Rohmer écriront deux siècles plus tard, pour définir la grille »cartésienne«: »Equivalence de principe de tout objet ou de tout être [. . .] aux yeux d’un observateur hors jeu, hors du monde [. . .]. Il n’y a pas de centre du monde, chaque être y existe indépendant«. Les épreuves de l’existence démontreront à Uli tout au long de sa vie, que les quatre fléaux d’Ezéchiel, la »bête immonde« (intérieur), la »famine«, la maladie
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(»la peste«) et les tensions conflictuelles (»la guerre«), se retrouvent partout. Tous les points du globe sont logés à la même enseigne. Sur le tard de sa vie, il se dira d’ailleurs »citoyen du monde« (dans son opuscule sur Shakespeare) et il enseignera à ses descendants l’égalité de tous face aux biens terrestres: »Mais, me diras-tu peut-être, ces prés et ces vaches ne sont pas à nous? Bien sûr qu’ils sont à nous, petit nigaud, le monde entier est à nous«. III. Les sept »coquilles« Concernant la »grammaire contrée«, Moles et Rohmer proposent sept coquilles spatio-temporelles – couplant des distances (et donc des surfaces) à des rythmes de fréquentation. – Fugace, la »coquille du geste«; indirectement évoqué, le métier à tisser par exemple; intimement vécu, le dialogue avec les chèvres et surtout les premières relations sentimentales, chargées de pudeur, avec Annette. – Chaude, la »coquille du regard«: la chambre, domaine privé, lieu de refuge et de rêverie. – Complexe, la »coquille de la dominance légale«, la maison, seule ou avec le jardin. Cadre de la vie familiale, de la convivialité des soirées où l’on carde, l’on file, l’on tisse ensemble, tandis que le père lit des textes édifiants; et simultanément, promiscuité pesante – nous le devinons à travers tout un non-dit éloquent. – »Coquille du voisinage« (Wattwyl et les localités proches). »De ma fenêtre j’entends sonner et carillonner les cloches de trois ou quatre villages«. »Devant toi tout ce que peut offrir la ville et la campagne« – donc, si l’on se réfère à la grande dichotomie du XVIIIe siècle, un spectacle complet. Spectacle en »3 D«, aussi, puisqu’il frappe par son étagement, depuis les toiles étalées sur les prairies, en bas, jusqu’aux »gras pâturages et chalets innombrables« au sommet des versants. Périmètre à dimension humaine, accessible à pied et embrassé d’un seul regard. – »Coquille de la région«, celle qu’il a découverte quand, pour des raisons professionnelles, il a dû se déplacer »aux quatre coins du pays«, rencontrant »toutes sortes de gens« et découvrant »des endroits jusqu’alors inconnus«. – Coquilles – au pluriel – d’au-delà de la région, jusqu’aux limites de la terre. Nous y reviendrons. Une lecture critique de cet inventaire s’impose évidemment. Il s’agit, dans ce que je viens de présenter, d’une reconstruction faite à partir des souvenirs d’Uli Bräker, d’une part, c’est-à-dire à partir de ce parcours de vie qu’il nous retrace tout au long de son livre. Mais il s’agit, en même temps, du bilan qu’il fait, au seuil de la vieillesse, aux environs de 1780. Les territoires forts et faibles qui apparaissent au fil de la rétrospective ne sont pas, dès lors, nécessairement repris
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avec la même prégnance au moment où il décide de faire le point avec luimême. De toute manière les différents niveaux territoriaux lui ont tenu ou lui tiennent – au moment où il écrit – inégalement à coeur. La coquille helvétique est faible; la coquille du vaste monde, complexe; la coquille régionale, molle au cours de sa phase de mise en place, dans la première moitié de la vie de Bräker, musclée et dominante lors du bilan de l’âge mûr.
B. Physiologie de la relation au territoire chez Uli Bräker: une interaction circulaire entre mémoire et espace Une relation circulaire associe mémoire et espace: la mémoire sémiotise l’espace et l’espace stabilise la mémoire. C’est là une image opératoire. Elle permet d’approcher la physiologie complexe des deux grammaires précitées. La relation qu’entretient Uli Bräker avec ses territoires y trouve sa place. Nous prenons tous plus ou moins conscience que nos représentations, nos valeurs . . . – notre mémoire – donnent du sens aux espace qui nous sont imposés par les circonstances ou que nous choisissons. Et nous prenons également conscience que l’environnement, les distances . . . – l’espace – constituent un élément de référence objectif, mesurable, porteur, stable, de nos représentations. Entre mémoire et espace il s’établit comme une interaction circulaire permanente, dans laquelle c’est – au moins apparemment – tour à tour l’un ou l’autre des deux pôles qui détient l’initiative de la boucle; et entraîne de ce fait un mouvement en spirale – soit d’accroissement, soit de repli du couple –, noyau de toute territorialité. I. Il est des cas où l’initiative motrice dominante – c’est-à-dire en tout cas plus clairement consciente dans l’esprit d’UIli Bräker, mais du coup alors, plus performante – revient à la mémoire: »Ce qu’il voit, c’est ce qu’il regarde et ce qu’il regarde, c’est ce qu’il a dans la tête« (Georges Reverdy). Deux exemples parmi d’autres. En Prusse, le »heimweh« ronge les soldats Bachmann, Schärer et Bräker (issus tous les trois du petit triangle Wil, Herisau, Lichtensteig). Ils font alors ensemble l’expérience d’un attachement, jusqu’alors latent, à la communauté helvétique. Ils s’y réfèrent et projettent ce sentiment de patrie (Vaterland) sur un espace qu’ils éprouvent en commun et qui déborde sûrement de leurs trois chefs-lieux. Dans le prolongement de ce mouvement, Uli Bräker s’agenouillera à son retour d’Allemagne, une fois franchi le Rhin, et embrassera le sol suisse. La sémiotisation de l’espace peut rester au niveau virtuel. Ce fut le cas du »joli pays de Vaud«, de »l’Arabie heureuse«, mais avant tout de l’Amérique du Nord. Uli Bräker était une âme profondément religieuse. Tout au long de sa
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vie, il a trouvé dans les espaces qu’il fréquentait, l’écho de sa foi pénétrée d’enseignement biblique. Comme le Peuple hébreu piétinant aux frontières de Canaan, Uli a attendu souvent que »Dieu le fasse monter dans un bon pays de cours d’eau, de sources, de lacs . . . pays où l’on mangera du pain en abondance et où l’on ne manquera de rien« (Dt. 8,7–9). Il l’a localisé en différents lieux successivement. Mais jamais aussi fortement qu’à propos de cette côte outre-atlantique qu’il a identifiée – ainsi que des centaines de milliers d’hommes, d’ailleurs – comme une authentique »Terre promise«. II. Il est de nombreux cas où l’initiative motrice dominante revient, au niveau du discours – et donc de la perception – à l’espace. Uli Bräker ne se déplace évidemment jamais sans l’idée de trouver mieux ailleurs. Des représentations positives sont toujours sous-jacentes. Pourtant, c’est primordialement un homme de »défection«, et non de »protestation«. Le besoin d’espace, la nécessité de changement de lieu, sont chez lui, très souvent, premiers. L’espace est d’abord évasion, émancipation, source de survenances, lien avec la nature. Il se remémore avec délice chacun de ces départs (fuir la tutelle de son père, le huis clos de la famille, les petitesses de la vie locale, la brutalité de la guerre . . .). C’est le départ qui engendre le mémoire, si ce sont les souvenirs qui, après, poussent au retour. III. Dans un cas, celui du Toggenbourg, on perçoit plusieurs temps de la spirale. On devine la force des traditions orales d’une mémoire (ethnoconfessionelle) collective vive. Uli a bien connu ses grands-parents, qui eux ont vécu les années dramatiques des deux premières décennies du siècle. Souvenirs sémiotisants. Uli Bräker nous parle de la lisibilité topographique, quasi-didactique de la vallée de la Thur: son orientation presque rectiligne, ses deux lignes de crêtes encadrantes. Un paysage qui s’imprime dans la mémoire. Il a enfin, de toute évidence, au moment où il rédige son livre, une prise de conscience personnelle complexe, d’où le Toggenbourg sort gagnant. Uli Bräker constate que ce périmètre micro-régional est à mi-niveau des échelles d’attachement/rejet: chaleur contre pesanteurs locales d’un côté, attirance encore éblouie et à la fois souvenirs cuisants, dans le cas des plus grands espaces, de l’autre côté. Il vit ces expériences d’attraction/répulsion insolubles en se situant à mi-chemin et en élisant donc l’échelon situé entre les deux extrêmes. C’est habile. En plus de ce demi-choix, il est probable que Bräker se reconnait une dette et perçoit une opportunité. D’une part il est redevable au Toggenbourg de ce qu’il est devenu: d’autre part c’est cette échelle micro-régionale qui lui permettra d’épanouir au mieux son niveau territorial zéro (pour lui, comme pour chacun de nous), celui du corps, celui de la personne, celui de l’ego (»intimior intimo meo«): coquille territoriale première qui va s’exprimer à travers un
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récit: son livre. Démarche d’écriture qui a pour finalité d’abord de se trouver soi-même, mais aussi d’être lu. Or un groupe familial de descendants est petit. Et un périmètre suisse est, à l’opposé, présomptueux. Le Toggenbourg, pour quelqu’un de modeste – un pauvre homme – est le cercle optimal.
Conclusion En guise de conclusion, trois remarques. D’abord, trois aspects importants de la relation au territoire – si l’on tient le témoignage de Bräker pour représentatif – se sont modifiés depuis deux siècles. Notre regard d’homme d’aujourd’hui est toujours »centré«, c’est-à-dire fait de représentations concentriques, mais il est devenu, en même temps, beaucoup plus zénithal (que l’on pense à l’usage quotidien et multiforme que l’on fait de la cartographie). Le »Sixième cercle«, celui de la Suisse, ainsi qu’un périmètre qui se trouve en réalité entre le sixième et le septième cercle: l’Europe, ont pris au XIXe siècle et davantage encore au XXe siècle un poids considérable. La vision du monde, enfin, s’est sécularisée. En revanche – et c’est mon deuxième point –, il est une longue durée essentielle qui nous est toujours commune à Bräker et à nous. C’est cette dialectique de la mémoire et de l’espace, qui reprend, mais en les élargissant, les deux concepts de »sang« et de »sol«. Elle a été au cœur de mon exposé. Enfin, le plus intéressant peut-être – mais c’est déjà là un autre sujet dont la présente intervention ne pouvait que poser un élément – touche au concept d’attachement territorial intime (Heimat?). Il semblerait que celui-ci de nos jours reprenne mais en même temps ajoute un nouvel élément à celui que l’on vivait – Uli Bräker nous le montre avec beaucoup d’autres – à la fin de ces »temps immobiles« qui s’achèvent au XVIIIe siècle. Ce qui nous est commun, à deux cents ans de distance – et qui apparaît fortement chez le »Pauvre homme du Toggenbourg« – c’est la tension, le paradoxe – ou mieux l’oxymore – que constitue le double besoin de »se circonscrire« (pour parler comme Jean-Jacques Rousseau) d’une part, et de s’évader, d’autre part. Mais à cette donnée fondamentale, nous combinons aujourd’hui, dans une sorte de superposition, une autre tension, un autre paradoxe, un autre oxymore, qu’on ne pouvait guère percevoir à l’époque et dans le monde encore rural du »Pauvre homme du Toggenbourg«: celui d’un côté d’identité territoriale au sens de continuité de, de fidélité à, ce que l’on est – et qui représente un élément fort de mémoire collective –, et, d’autre part, la nécessité d’évoluer – et cela au nom même de cette identité si on la veut pleinement vivante. Double exigence parfois – mais non pas toujours – tragique.
Personenregister Personenregister
Personenregister Admoni, Wladimir 50 Ännchen s. Lüthold, Anna Albertsen, Leif Ludwig 87 Alder, Laurenz 145 f., 148 Alexander der Große 105 Ambühl, Johann Ludwig 18, 31, 75, 79, 163 Ambühl-Abderhalden, Susanna Barbara 144 f. Amesecker, Jakob 158–162 Andreä, Johann Valentin 94 Annoni, Hieronymus 99 Archenholtz, Johann Wilhelm von 137, 141 Arndt, Johann 39, 73, 94, 122 Arnold, Günter 69 Aster, Heinrich 142 Bachmann, Heinrich 162, 164, 179, 180, 182, 190 Bachofen, Johann Kaspar 87 Bader, Johann 160 Bader, Sophie Charlotte 159 f. Baechtold, Jacob 96 Bandemer, Christoph Ewald von, Leutnant 174 Barbero, Alessandro 138 Bardeleben, Heinrich Wilhelm von, Kapitän 147 Bauer, Friedrich L. 67 Baumgart, Winfried 156 Baur, Uwe 109 Beeger, Friedrich Wilhelm 140, 170 Benrath, Gustav Adolf 71, 101 f. Berenhorst, Georg Heinrich von 170 Bergner, Ralf 24 Bernet, Johann Jakob 15 Bevern, Herzog August Wilhelm von, Generalleutnant 141 Bleckwenn, Hans 167, 169, 174, 179 f., 184 Bodmer, Johann Jakob 12, 14, 21 Böhme, Jacob 56, 94, 96
Böning, Holger 75 Boerner, Peter 53 Bösch, Hans Jakob 125, 146 Bösch, Heinrich 96 Bogatzky, Carl Heinrich von 73, 122 Bonin, Heinrich von, Major 174 Bontekoe, Cornelius 85 Borhek, August Christian 137 Bosetzki, Johann 139 Bosetzky, Horst 139 Bosse (»Graf Poss«), Heinrich Wilhelm von, Generalleutnant 185 Bosshardt, Hans Rudolf 95 Bossuet, Jacques Bénigne 94 Boueke, Dietrich 53 Bourignon, Antoinette 96 Bouvier, Nicolas 38 Bräker, Hans Melchior 146 Bräker, Jakob [Sohn UBs] 117 Bräker, Jakob [Bruder UBs] 146 Bräker, Johann Ulrich 81 Bräker, Johannes 9, 11, 120 f., 124, 144 f., 148, 182 Bräker, Salome 41, 70, 74, 79 f., 127, 136, 147 f., 166, 182 Bräker, Samson 124 Bräker, Susanna Barbara 81 Brand, Friedrich Wilhelm von, Leutnant 177 Brandstetter, Alois 93, 104–106, 113–115 Brandt, Graf Enevold von 75 Braun, Reiner 102 Brecht, Bertolt 61 Brill, Jacob 96 Brockes, Barthold Heinrich 87 Bröckling, Ulrich 139 Browne, Maximilian Ulysses von, Feldmarschall 173 Brückel, Ortwin 59 Bülow, Eduard von 15–17, 19, 21 f., 24 Bülow, Friedrich Wilhelm von 149 Bülow, Hans von 15 Bülow, Karl Ulrich von 149
Personenregister Bülow, Ulrich von 59 Bürgi, Andreas 22, 25, 28, 36, 38, 57, 70, 72, 95, 97, 116 f., 129, 163, 183, 186 Bunyan, John 77, 91 Burkhalter, Joseph 102 f. Bursche, Gottfried 147 Buschan, Georg 9 Butler, Samuel 31 Caesar, Julius 65 Caflisch-Schnetzler, Ursula 163 Cavan, Georg Wilhelm 151 Cervantes, Miguel de 16 Charbon, Rémy 93 Chartier, Roger 101 Christensen, Synnöve 9 Constant, Benjamin 68 Cramer, Reinhold 149 Damm, Sigrid 50 Dammert, Richard Adolph 64 Denkler, Horst 113 Dietz, Johann 26 Dominicus, Johann Jakob 139 f., 142 Dopsch, Alfons 141 Dorothea 68 Duffy, Christopher 156, 173 Eckenstein, Samuel 31 Eckert, Helmut 120, 141, 143, 145, 147, 162, 177, 182, 185 Eger, Wolfgang 159 Eibl, Karl 51 Eichberg, Henning 131, 139, 164 Eisenmann, Olivier 183 Elias [Prophet] 107 Elisabeth, Zarin 184 Emmerich, Wolfgang 26 Erler, Gotthard 183 Eylert, Rulemann Friedrich 138, 164 Falk, Daniel 63 Faust, Werner 108 Felbermair, Vera 114 Felder, Franz Michael 103 f., 106, 111– 113 Felder, Johann Josef 111 Feldmann, C. F. 153 Feldmann, Markus 146 Fichte, Johann Gottlieb 111
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Fiedler, Siegfried 168 Firchow, Evelyn S. 104 f. Firchow, Peter E. 104 f. Fircks, Johann Ulrich von, Leutnant 174 Fontane, Theodor 183 Fontius, Martin 163, 175, 183 Foucault, Michel 23 Fran(c)kenberg, Kapitän (von) 174 f. Freud, Sigmund 109 Freytag, Gustav 138, 144 Friedlaender, Ernst 161 Friedrich II. (= Friedrich der Große) 60, 139 f., 141, 157, 165, 170 f., 173, 175 f., 180 f., 183 f., 185 f. Friedrich Wilhelm I, König von Preußen 131 f., 138 Fröhlich, Elke 65 Fuchs, Caspar Heinrich 99 Füßli, Johann Caspar 122 Füßli, Johann Heinrich [Maler] 12 Füßli, Johann (= Hans) Heinrich 12–14, 16, 18–23, 33, 36, 70, 72, 74, 85, 97 f., 102, 107, 117, 140, 182 Funck, Heinrich 94 Gästli 162 f. Gagnebin, Bernard 45 Gardt, Andreas 40 Garlepp, Bruno 140 Gebauer 161 Gellert, Christian Fürchtegott 123 Gerhard, Dietrich 69 Gerteis, Klaus 166 Gessner, Salomon 76, 106 Girtanner, Daniel 127 Goebbels, Josef 65 Görgel 99 Goethe, Johann Wolfgang von 27, 31–33, 51 f., 59, 61, 70 f., 74, 94, 98, 101, 111, 123, 129 f., 132, 138 Götzinger, Ernst 18, 22, 24 Goldsmith, Oliver 31 Goltz, Jochen 51, 59 Goncourt, Edmond-Louis-Antoine de und Jules-Alfred Huot de 55 Goody, Jack 46 Gotthelf, Jeremias (d. i. Albert Bitzius) 102 f. Graber, Heinz 22, 24 f., 32, 36, 38, 57, 70, 72, 75, 95–97, 116 f., 129
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Personenregister
Granier, Hermann 140 Gren, Friedrich Albrecht Karl 64 Griep, Wolfgang 78 Grimm, Dieter 29 Grimm, Jacob und Wilhelm 54 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 15 Grimminger, Rolf 78, 80 Grob, Gregor 75 f. Grutschnig-Kieser, Konstanze-Mirjam 100 Gstättner, Egyd 104 f. Günther, Werner 24 Gugger, Rudolf 134, 157 Guggisberg, Karl 100 Gujer, Jacob 14, 94, 97 f. Gundolf, Friedrich 18 Gutzkow, Karl 94 Gutzkow, Wilhelm 94 Guyer, Walter 94 Habel, Jakob Christian Friedlieb 64 Hacks, Peter 138 Hadorn, Wilhelm 95 Hahn, Johann Jobst 100 Haiding, Karl 108 Hain, Mathilde 99 Haller, Albrecht von 83, 114, 123 Haller, Franz Ludwig 166 Hanne, Wolfgang 132 f., 159 f. Harnisch, Hartmut 132 Hatzinger, Ulrich 164 Hayen, Hemme 99 Hebbelmann, Georg 150 Heilmann, Johann 145, 147, 156 Hein, Jürgen 53 Heinrich, Rudolf 59 Heldmann, Horst 61 Henning, Eckart 141 Henning, Herzeleide 141 Herder, Johann Gottfried 68 f., 111 Hermann, Otto 142 Hermes, Johann August 57 Hermes, Johann Thimotheus 57 Herold, Christopher 68 Hess, Felix 13 Hess, Heinrich 13 Hessen-Darmstadt, Ludwig IX., Landgraf von 59 f. Hessen-Kassel, Wilhelm IX., Landgraf von 64
Heuser, Magdalene 53 Hilty, Carl 9 Himmel, Helmuth 109 Hinderer, Walter 27 Hirzel, Johann (= Hans) Caspar 14, 74, 94, 97 Hirzel, Salomon 74 Hochhuth, Rolf 53 Hocke, Gustav René 53 Hövel 169 Hövel, Friedrich Christoph 169 Hofer, Werner 97, 107 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 61, 68 Hohrath, Daniel 166 Hollaz, David 96, 122 Holliger, Christian 22, 24 f., 36, 38, 57, 70, 75 f., 95–97, 129 Holliger-Wiesmann, Claudia 13, 22, 24 f., 32, 36, 38, 57, 70, 72, 75 f., 95– 97, 116 f., 129, 140 Hollmann, Anna Rosina 160 Holtze, Friedrich 161 f. Holzhey, Helmut 163, 175, 183 Hopster, Norbert 53 Horaz 14 Horch, Hans Otto 113 Hüser, Heinrich von 150 Hüttenhain, Erich 68 Huser, Hans 147 Imhof, Martin 12, 30, 35, 36, 39, 43, 76, 97 im Hof, Ulrich 183 Ingendaay, Paul 104 Iselin, Johann Jacob 93 Itzenplitz, August Friedrich von, Generalmajor 135, 143, 155, 169, 176 Jahn, Franz 152 Jany, Curt 131, 140 f., 156, 165 Jaun, Rudolf 185 Jesus Christus 44, 76, 86–88, 122, 124, 136 Jöre [Nachbar Bräkers] 96 Joost, Ulrich 58, 60 Joß, Gottlieb 103 Jung[-Stilling], Johann Heinrich 26, 31, 34, 59, 68, 70 f., 101 f. Jung, Martin 113
Personenregister Jungbluth, Konstanze 46 Kästner, Abraham Gotthelf 67 Kafka, Franz 57 Kaminski 152 Kant, Immanuel 57 Kappler, Johannes 146 Keegan, John 131 Kempen, Thomas von 57 Kemper, Hans-Georg 101 Kerler, Dietrich 139 Keubke, Klaus-Ulrich 175 Killy, Walther 96 Kirn, Hans-Martin 113 Klammer, Angelika 104 Kleinjogg s. Gujer, Jacob Kleinschmidt, Erich 45 Kleist, Heinrich von 15 Klemperer, Victor 66 Klempin, Robert 149 Klippel, Helmut 143 Kloosterhuis, Jürgen 132 f., 135, 138 f., 142, 149, 155, 161 f., 166, 176 Klopstock, Friedrich Gottlieb 61 Knigge, Christian von, Leutnant 174 Koch, Bodo 167 Koch, Helmut H. 53 König, Anton Balthasar 167 f. König, Fritz 9 Kortzfleisch, Siegfried von 113 Koselleck, Reinhart 23 Koser, Reinhold 142 Krahn, Christian Heinrich von 166 Kratz, Gustav 149 Kroener, Bernhard R. 132, 156, 167 Krohn, Gerhard 135, 139 Kron, Wolfgang 68 Krumpholz 174 Kuhn, Thomas K. 79, 83 Kunisch, Johannes 156 Kurfürst von Brandenburg 134 f. La Roche, Sophie von 94, 123 Längle, Ulrike 111 Lange, Eduard 175 Lange, Sven 157 Langen, August 55, 136 Lappe, Claus O. 69 Latham, Robert 55 Lattorf, Johann Sigismund von 185
197
Laukhard, Friedrich Christian 140, 171 Lavater, Johann Caspar 12, 45, 50, 54, 67–71, 94, 111, 123, 148, 163 Lehndorff 177 Leisewitz, Johann Anton 68, 123 Lendl, Hubert 111 Leopold I. von Anhalt-Dessau, Fürst 132 f. Lesage, Alain René 27 Lessing, Gotthold Ephraim 61, 64, 111 l’Homme de Courbière, René de 131 Lichnowsky, Wilhelm Ferdinand von, Kapitän 174 Lichtenberg, Georg Christoph 50, 58, 60–64, 66–68, 123 Lichtenberg, Margarete Elisabeth 68 Lieberherr, Friedrich 126 Liebs, Elke 53 Lochner, Johannes 68 Loriga, Sabrina 146 Luck, Rätus 96 Ludwig IX., Landgraf von HessenDarmstadt 59 Lüderitz, Ernst Karl von, Major 155 f., 169 f., 181, 185 Lüthold, Anna 9 f., 17, 144 Luhmann, Niklas 47 Lutz, Samuel 73, 96, 122 Maas, Utz 40 Mack, Heinrich 68 Mackensen, August von 137 Magny, François 102 Marck-Modrezejewski, Arnold Friedrich von 120, 141, 143–152, 155, 164, 166, 169 Marck-Modrezejewski, Johann 149 Marck-Modrezejewski, Ludwig 149 Maria Theresia, Kaiser 184 Markoni, Johann s. Marck-Modrezejewski, Arnold Friedrich von Martschukat, Jürgen 161 Marwitz, Friedrich August Ludwig von der 183 Maslovskij, Dimitrij F. 156 Mattheier, Klaus J. 40 Matthews, William 55 Maximilian I., röm.-deutscher Kaiser 108 f. Mayer, Hans 24, 27, 143 Meise, Helga 59
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Personenregister
Meisner, Heinrich Otto 157 Mende, Hans-Jürgen 152 Mendelssohn, Moses 74 Mengke 169 Menzel, Adolph 175 Mertens, Erich 59 Messerli, Alfred 12, 17–19, 22, 25, 28, 36, 38, 49, 57, 70, 72, 74, 95–98, 101, 106 f., 116 f., 129, 136, 140, 157 Messerschmidt, Manfred 131 Mewis 163 Meyer, Johann Jakob 40 Meyer, Richard M. 53 Michaelis, Caroline 50 Michel, Christoph 130 Mingau, Rudolf 183 Mirabeau, Honoré Gabriel 137 Möbius, Sascha 175 Möser, Justus 74, 93 Moles, Abraham A. 188 f. Morgenstern, Karl 59 Moritz, Karl Philipp 26, 29, 31 Moser, Heinrich 18, 24 Müller, Georg Friedrich 151, 156 Müller, Hans von 68 Müller-Michaels, Harro 53 Müller, Heinrich 133 Müller, Johann Conrad 162, 170 Müller, Klaus-Detlef 26 f. Münchow, Richard von, Oberst 174 Munthe, Axel 9 Muschg, Adolf 7, 114 Muschg, Walter 18, 21, 24 Muth, Jörg 139 Mylius, Christian Otto 156 Nabratil(ek), Johann 160, 179 Nadler, Josef 23 Naimer, Erwin 181 Neander, Joachim 108 Neugebauer, Wolfgang 131 Neumayr, Josef 114 Nicolai, (Christoph) Friedrich 31, 70, 152, 162 Nicolas, Armelle 99 Niedermeier, Michael 24 Niemeyer, Joachim 167 Nierot (Nieroth), Johann Gustav von, Major 185 Niggl, Günter 7, 26, 29, 34
Novalis (d. i. Friedrich Leopold von Hardenberg) 15 Novotny, Joachim 24 Osmont, Robert 45 Oudenrief, Joost van 99 Pail, Gerhard 109 Panske, Paul 149 Parker, Geoffrey 131 Parthey, Gustav 70 Pascal, Blaise 94 Paul, Jean (eigentlich: Jean Paul Friedrich Richter) 57 Pauli, Carl Friedrich 155, 176 Paulig, Friedrich R. 138 Pavese, Cesare 55 Paxleben, Friedrich Wilhelm von, Leutant 174 Pepys, Samuel 55, 68 Pestalozzi, Johann Heinrich 12, 21 Pestalozzi, Karl 24, 36, 57, 73, 75, 96, 129, 142 Peter III, Zar 135 Petersen, Viktor (d. i. Hugo Storm) 171 Petsch, Wilhelm 154 Pfeiffer-Belli, Wolfgang 24, 142 Pfotenhauer, Helmut 7, 31 Pfranger, Albertine 123 Philipp Wilhelm von BrandenburgSchwendt, Markgraf 132 Pielow, Winfried 53 Pittertschachter, Alfred 104 f. Poiret, Pierre 99 Poss, Graf s. Bosse, Heinrich Wilhelm von Preil, Arndt 173 Priesdorff, Kurt von 143, 168 Pröve, Ralf 132 Promies, Wolfgang 58 Promti, Sohn (»Urian«) und Vater 118, 161 Prosch, Peter 26 Pütz, Peter 58 Quandt, Franz 141, 179 Quednow, Mathilde 150 Raabe, Paul 101 Raymond, Marcel 45 Recke, Elisa von der 123
Personenregister Reiber, Mattias 85 Reichmann, Oskar 40 Reinhard, Joseph 148 Reiß, Franz 174 Reitz, Johann Heinrich 94, 96, 98 f., 108, 122 Rengstorf, Karl-Heinrich 113 Requadt, Paul 58 Retz, Jean-François-Paul de Gondi, Kardinal de 61 Reverdy, Georges 190 Ribbentrop, Friedrich Wilhelm Christian 146 Richter, Karl 87 Rietmann, Johann Jakob 16 Ritschl, Albrecht 100 Ritter, Eugène 102 Rochow, Ehrenreich von, Leutnant 174 Rock, Johann Friedrich 101 Rölleke, Heinz 108 Rohmer, Elisabeth 188 f. Rosegger, Peter 103, 105 f., 109–112 Rossbacher, Karlheinz 109 Rousseau, Jean-Jacques 31, 34, 45, 102, 192 Sachs, Hans 16, 22 Sachse, Johann Christoph 27 Sachsen-Weimar-Eisenach, Carl August, Herzog von 94, 129 Salomon 46, 105 Sann, Auguste 77 Sanner, Rolf 53 Sauder, Gerhard 39, 55, 73, 80, 90 Schärer 163, 170, 190 Schäufele, Wolf-Friedrich 102 Scharfe, Martin 85 f., 90 Scheelen, Ernst Gottlob von, Leutnant 156, 171 Scheitlin, Peter 14 f., 21 f., 24, 183 Schellenberg, Johann Rudolf 13, 107, 182 f. Schenda, Rudolf 93 f. Scherer, Wilhelm 55 Schiller, Friedrich von 111 Schilling 70 Schimmel, Johann Christian 139 f., 161 Schings, Hans-Jürgen 98, 106 Schlieben, Friedrich Karl, Graf von 168, 185
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Schlieben, Friedrich Wilhelm Ernst, Graf von 166–168, 185 Schliewitz, Rudolf Christoph von, Oberst 131 Schmidt, Erich 55 Schmidt, Kurt 137 Schmidt, Martin 113 Schmidt, Olivier H. 170 Schmidt-Dengler, Wendelin 109 Schmiedeberg, Ludwig von, Fähnrich 174 Schmolck s. Schmolke, Benjamin Schmolke, Benjamin 122 Schnapp, Friedrich 68 Schneider, Hans 101 f. Schneider, Jacob 99 Schneider, Ulf-Michael 55, 95, 100, 106 Schnitter, Helmut 175 Schnitzler, Arthur 59 Schnorf, Hans 18 Schnyder-Seidel, Barbara 94 Schober, Wolfgang 105 Schönborn, Sibylle 50, 123 f. Schollmeier, Joseph 89 Schrader, Hans-Jürgen 55, 94 f., 98–103, 105, 113 Schubart, Christian Daniel Friedrich 26, 31, 137 Schütz, Christoph 100 f. Scriver, Christian 43 Segebrecht, Wulf 27 Seume, Johann Gottfried 26, 181 Sgarro, Andrea 67 Shakespeare, William 11, 17 f., 31, 72, 76, 189 Siegrist, Christoph 27, 96, 98 Sikora, Michael 139, 164, 166, 180 f. Sinn, Dieter 139 Sinn, Reante 139 Smollett, Tobias George 31 Spalding, Johann Joachim 89 Spamer, Adolf 99 Spener, Philipp Jacob 94 Spindler, Karl 111 Spitz, Hauptmann von 140 Spörri, Balz 95 Stadler, Alois 20, 22, 24 f., 38, 57, 70, 74, 95, 97 Stadler, Ulrich 113 Staël(–Holstein), Anne-Louise-Germaine Necker de 68
200
Personenregister
Stecher, Gotthilf 71 Steiger, Karl 14, 24 Steiger, Robert 94 Steinecke, Hartmut 68 Steiner, Heini 40 Strabane, William Edward 78 Strolz, Walter 111 Struensee, Graf Johann Friedrich von 75 Sulzer, Johann Anton 169 Tanner, Albert 81 Tauler, Johannes 94 Tennhardt, Johann 101 Tertre, Charlotte du 68 Tettenborn, Friedrich von, Leutnant 174 Thalheim, Hans-Günter 22, 24, 27 Tharau, Friedrich-Karl 167 Thümmel, Moritz August von 61 Tieck, Ludwig 15 Tissot, Samuel-Auguste-André-David 85 Todsen, Hermann 18, 24 Troschke, Frauke von 53 Ursel 144 Utke, Erich Hans 147 Varenne, Jacques L’Aumonier Marquis de, Oberst 135 Varnhagen van Ense, Karl August 149 Voellmy, Samuel 19–22, 24, 31, 36, 39, 49, 71, 75 f., 96, 98, 116, 122, 144, 146 Vogt, Peter 113 Voltaire (d. i. François-Marie Arouet) 187 Volz-Tobler, Bettina 49, 65 Wälli, Mathias 126 Wagenknecht, Christian 50 f. Wagner, Karl 109 f., 112 Waldmann, Tanja 50 Walser, Robert 19
Walther, Samuel Benjamin 99 Warens, Françoise Louise de 102 Wegelin, Peter 20, 22, 24 f. Wegelin, Karl 16 Welzig, Werner 59 Wernle, Paul 73–75 Wessels, Hans-Friedrich 26 Westphal(en), Ludewig von 64 Westrumb, Johann Friedrich 64 Wieland, Christoph Martin 93, 111 Wiese, Benno von 27 Wiesmann, Claudia s. HolligerWiesmann, Claudia Wilbrandt, Adolf 24 Wilson, Peter H. 132 Winning, Melchior Sigismund von, Leutnant 174 Winter, Georg 157–159 Winter, Helmut 55 Wirth, Michael 97 Wirz, Hans Georg 146 Witzleben, August von 170 Woesler, Winfried 50 Würmli, Marcus 67 Wuertenberger, Ernst 19, 24 Wuthenow, Ralph-Rainer 26, 124 Zenge, Karl Ludwig von, Leutnant 174 Zimmermann 163 Zimmermann, Johann Georg 85, 111 Zinzendorf, Nicolaus Ludwig Graf von 96 Zittemann, Christian 168 Zitzwitz (Zitzewitz), Joachim Rüdiger von, Kapitän 159 Zollikofer, Georg Joachim 69 Zollikofer, Kaspar 122 Zschokke, (Johann) Heinrich 93 Zürn, Ludwig 17, 19, 21, 24 Zwicky, Johannes Ulrich 146