Schleiereulen: Evolution und Ökologie 9783662625132, 9783662625149, 366262513X

Die Schleiereulen sind mit ihrem herzförmigen Gesicht, dem gelbbraunen Rücken und Flügeln und der reinweißen Unterseite

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Table of contents :
Geleitwort
Warum dieses Buch?
Danksagung
Anmerkung zu den Illustrationen
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung
1.1 Warum ist die Schleiereule so interessant?
1.1.1 Eine Schnabellänge voraus
1.2 Warum Schleiereulen anstelle von Labormäusen untersuchen?
1.2.1 Ein neuartiges Modellsystem
1.3 Ausgangslage
1.3.1 Viel Interesse an der Schleiereule
1.4 Evolution der Tytonidae
1.4.1 Die Welt steht dir offen
1.4.2 Offene Forschungsfragen
1.5 Warum ist die Schleiereule weltweit verbreitet?
1.5.1 Eine Erfolgsgeschichte
1.6 Warum leben Schleiereulen in der Nähe der Menschen?
1.6.1 Kulturfolger
Weiterführende Literatur
2 Artenschutz
2.1 Warum sollten wir Schleiereulen schützen?
2.1.1 Es ist niemals zu spät, Unwiederbringliches zu retten
2.2 Ethische Gesichtspunkte
2.2.1 Der Zweck heiligt nicht immer die Mittel
2.3 Rückgang der Schleiereulen
2.3.1 Wie viele gibt es noch?
2.4 Umweltverschmutzung
2.4.1 Schädliche Praktiken
2.4.2 Offene Forschungsfragen
2.5 Was können wir tun, um Schleiereulen zu schützen?
2.5.1 Mit vereinten Kräften zum Schutz der Natur
Weiterführende Literatur
3 Parasiten und Prädatoren
3.1 Endoparasiten
3.1.1 Angriff von innen
3.1.2 Offene Forschungsfragen
3.2 Ektoparasiten
3.2.1 Angriff von außen
3.2.2 Offene Forschungsfragen
3.3 Prädatoren und Feindverhalten
3.3.1 Auge um Auge, Zahn um Zahn
3.3.2 Offene Forschungsfragen
Weiterführende Literatur
4 Ökophysiologie
4.1 Hörvermögen
4.1.1 Absolutes Gehör
4.1.2 Offene Forschungsfragen
4.2 Sehvermögen
4.2.1 Unter den Blinden ist die einäugige Eule König
4.2.2 Offene Forschungsfragen
4.3 Täglicher Nahrungsbedarf
4.3.1 Ein unersättlicher Jäger
4.3.2 Offene Forschungsfragen
4.4 Bildung von Gewöllen
4.4.1 Knochen im Keller
4.4.2 Offene Forschungsfragen
4.5 Überleben in der Kälte
4.5.1 Nicht kältetauglich!
4.5.2 Offene Forschungsfragen
Weiterführende Literatur
5 Ökomorphologie
5.1 Körpergröße
5.1.1 Gulliver und die Liliputaner
5.1.2 Offene Forschungsfragen
5.2 Reverser sexueller Größendimorphismus
5.2.1 Große Mama, kleiner Papa
5.2.2 Offene Forschungsfragen
Weiterführende Literatur
6 Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen
6.1 Jäger der Nacht
6.1.1 Nachteule
6.1.2 Offene Forschungsfragen
6.2 Ruhen (roosting)
6.2.1 Ein Nickerchen halten
6.2.2 Offene Forschungsfragen
6.3 Streifgebiet (home range)
6.3.1 Home sweet home
6.3.2 Offene Forschungsfragen
6.4 Flugmechanik
6.4.1 Lautloses Dahingleiten
6.4.2 Offene Forschungsfragen
6.5 Jagdmethoden
6.5.1 Tora! Tora! Tora!
6.5.2 Offene Forschungsfragen
6.6 Beutewahl
6.6.1 Die Jagd ist oft besser als die Beute
6.6.2 Offene Forschungsfragen
6.7 Nahrung
6.7.1 Foodie
6.7.2 Offene Forschungsfragen
Weiterführende Literatur
7 Sexualverhalten
7.1 Balz und Paarung
7.1.1 Flirten
7.1.2 Offene Forschungsfragen
7.2 Paarungssysteme
7.2.1 Frivolitäten
7.2.2 Offene Forschungsfragen
7.3 Treue und Scheidung
7.3.1 Ewige Liebe oder geschiedene Leute
7.3.2 Offene Forschungsfragen
Weiterführende Literatur
8 Fortpflanzung
8.1 Nistplätze
8.1.1 Schlafzimmer
8.1.2 Offene Forschungsfragen
8.2 Interspezifische Nistplatzkonkurrenz
8.2.1 Missbilligung, Toleranz, Indifferenz
8.2.2 Offene Forschungsfragen
8.3 Brutzeit
8.3.1 Wie die Kaninchen …
8.3.2 Offene Forschungsfragen
8.4 Die Eule und ihr Ei
8.4.1 Wie kommt die Eule zum Ei?
8.4.2 Offene Forschungsfragen
8.5 Gelegegröße
8.5.1 Eierschwemme
8.5.2 Offene Forschungsfragen
8.6 Bebrütung
8.6.1 Gluckige Henne
8.6.2 Offene Forschungsfragen
8.7 Schlupf
8.7.1 Hier bin ich!
8.7.2 Offene Forschungsfragen
8.8 Brutgröße
8.8.1 Kinderreiche Familie
8.8.2 Offene Forschungsfragen
8.9 Nestlingswachstum
8.9.1 Vom Küken zum flüggen Jungvogel
8.9.2 Offene Forschungsfragen
8.10 Zweit- und Drittbruten
8.10.1 Doppelt genäht hält besser
8.10.2 Offene Forschungsfragen
8.11 Verlassen des Nachwuchses
8.11.1 Dates mit jüngeren Männern
8.11.2 Offene Forschungsfragen
Weiterführende Literatur
9 Brutpflege
9.1 Eltern auf der Jagd
9.1.1 Die Jagdzeit ist eröffnet
9.1.2 Offene Forschungsfragen
9.2 Verhalten der Eltern am Nest
9.2.1 Der Küchenchef
9.2.2 Offene Forschungsfragen
9.3 Körpergewicht der Altvögel
9.3.1 Bis an die Belastungsgrenze
9.3.2 Offene Forschungsfragen
9.4 Nahrungsdepots
9.4.1 Beutelager
9.4.2 Offene Forschungsfragen
9.5 Adoption
9.5.1 Romulus und Remus
9.5.2 Offene Forschungsfragen
Weiterführende Literatur
10 Geschwisterbeziehungen
10.1 Timing der Nestlingsaktivitäten
10.1.1 Bloß nicht schlafen
10.1.2 Offene Forschungsfragen
10.2 Geschwisterverhandlungen (sibling negotiations)
10.2.1 Diplomatie
10.2.2 Offene Forschungsfragen
10.3 Bettelverhalten
10.3.1 Stand up and shout
10.3.2 Offene Forschungsfragen
10.4 Nahrungsdiebstahl unter Geschwistern
10.4.1 Gauner und Gentleman
10.4.2 Offene Forschungsfragen
10.5 Nahrung mit Geschwistern teilen
10.5.1 Großzügigkeit
10.5.2 Offene Forschungsfragen
10.6 Gegenseitige Gefiederpflege
10.6.1 Kraulst du mich, kraul ich dich
10.6.2 Offene Forschungsfragen
10.7 Soziales Kuscheln
10.7.1 Eiskalt
10.7.2 Offene Forschungsfragen
Weiterführende Literatur
11 Populationsstruktur
11.1 Abwandern vom Geburtsort (natal dispersal)
11.1.1 Das Gras auf der anderen Seite des Hügels ist immer grüner
11.1.2 Offene Forschungsfragen
11.2 Abwandern vom Brutort (breeding dispersal) und Zug (migration)
11.2.1 Wanderlust
11.2.2 Offene Forschungsfragen
11.3 Überlebensaussichten
11.3.1 Scheitern vorprogrammiert
11.3.2 Offene Forschungsfragen
11.4 Populationsdynamik
11.4.1 Personalauffrischung
11.4.2 Offene Forschungsfragen
Weiterführende Literatur
12 Gefiederpolymorphismus
12.1 Farbpolymorphismus
12.1.1 Schwarz und Weiß
12.1.2 Offene Forschungsfragen
12.2 Genetik des Gefiederpolymorphismus
12.2.1 Das Erbe
12.2.2 Offene Forschungsfragen
12.3 Sexualdimorphismus der Gefiedermerkmale
12.3.1 Androgynie
12.3.2 Offene Forschungsfragen
12.4 Altersabhängige Veränderungen der Gefiedermerkmale
12.4.1 Kostümwechsel
12.4.2 Offene Forschungsfragen
12.5 Partnerwahl
12.5.1 Todschick
12.5.2 Offene Forschungsfragen
12.6 Sexuell antagonistische Selektion
12.6.1 Transgender-Schleiereulen?
12.6.2 Offene Forschungsfragen
12.7 Adaptive Funktionen der weißlichen und rostbraunen Färbung
12.7.1 Eine Frage der Farbe
12.7.2 Offene Forschungsfragen
12.8 Adaptive Funktionen kleiner und großer schwarzer Flecke
12.8.1 Je größer, desto besser
12.8.2 Offene Forschungsfragen
12.9 Adaptive Funktionen von wenigen bzw. vielen schwarzen Flecken
12.9.1 Gefleckt oder ungefleckt
12.9.2 Offene Forschungsfragen
12.10 Geografische Variation der Gefiedermerkmale
12.10.1 Unendliche Schönheit
12.10.2 Offene Forschungsfragen
Weiterführende Literatur
13 Ausblick
13.1 Für die Zukunft
Anhang
Artnamen
Trivialnamen der Tytonidae
Stichwortverzeichnis
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Schleiereulen: Evolution und Ökologie
 9783662625132, 9783662625149, 366262513X

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Alexandre Roulin

Schleiereulen Evolution und Ökologie

Schleiereulen

Alexandre Roulin  ist Biologie-Professor an der Universität Lausanne, Schweiz. Seit drei Jahrzehnten untersucht er Schleiereulen, um Antworten auf evolutionäre und ökologische Fragen zu finden. Sein Hauptinteresse gilt dabei der adaptiven Funktion von Melanin in der Gefiederfärbung und den Kommunikationsprozessen in Tiergesellschaften. Seit 2009 ist er aktiv an einem Projekt beteiligt, das mithilfe der Ökologie und Landwirtschaft die Versöhnung zwischen israelischen, palästinensischen und jordanischen Gruppen durch naturnahe Lösungen fördert. Er bemüht sich um den Einklang von Mensch und Natur und unterstützt interdisziplinäre Ansätze, die Frieden und Respekt für die Umwelt fördern.

Alexandre Roulin

Schleiereulen Evolution und Ökologie

Aus dem Englischen übersetzt von Coralie Wink Mit Illustrationen von Laurent Willenegger

Alexandre Roulin University of Lausanne Lausanne, Switzerland

ISBN 978-3-662-62513-2   ISBN 978-3-662-62514-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-62514-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Deutsche Übersetzung des englischen Titels "Barn Owls" © 2020, Cambridge University Press. This translation is published by arrangement with Cambridge University Press. Springer Spektrum © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Redaktion: Michael Wink Illustrationen: Laurent Willenegger Aus dem Englischen übersetzt von Coralie Wink Planung und Lektorat: Stefanie Wolf, Bettina Saglio Einbandabbildung: © Laurent Willenegger Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

In Erinnerung an Martin Epars †

Geleitwort

Die großen Eulen sind Top-Prädatoren und werden oft als imposant, majestätisch und kraftvoll dargestellt, während die kleineren Arten eher als hübsch und niedlich gelten. Daher erregen Eulen nicht nur als Wildtiere, sondern auch als „putzige“ Haustiere das Interesse der Allgemeinheit. Große und kleinere Eulen erbeuten vorwiegend Kleinsäuger, insbesondere Langschwanzmäuse, Ratten und Wühlmäuse. Diese Nager gelten als Schädlinge, da sie Kulturpflanzen in Feld und Garten, aber auch Jungbäume in Schonungen schädigen. Üblicherweise versuchte man, die durch Fraßschäden entstandenen wirtschaftlichen Verluste mithilfe verschiedener Rodentizide zu verhindern oder wenigstens zu minimieren. Oft führt dies aber nicht nur zum Tod der Zielorganismen (nämlich der Kleinnager), sondern auch ihrer Prädatoren, zum Beispiel der Eulen. Seit den 1990er-Jahren konnte man jedoch in etlichen Beobachtungsstudien und experimentellen Untersuchungen zeigen, dass Eulen und andere Prädatoren die Populationsdichte von Kleinnagern begrenzen oder sogar kontrollieren können. Diese Prädatoren können demnach als Mittel zur biologischen Schädlingsbekämpfung eingesetzt werden, um die Fraßschäden von Kleinnagern in Land- und Forstwirtschaft zu reduzieren. Dieses Beispiel demonstriert, wie sehr Eulen dem Menschen nutzen und daher geschützt werden sollten. Dass wir so viel über die „heimlichen“ Eulen wissen, verdanken wir der Arbeit vieler Feldbiologen, Amateure wie auch hauptberuflicher Biologen. Im Zuge von etlichen Langzeitstudien hat man vor allem die Populationsdynamik und Populationsstruktur von Eulen wie auch die Zusammensetzung ihrer Nahrung untersucht, und zwar in gemäßigten, borealen und arktischen Klimaregionen, weniger jedoch in den Tropen. Im Lauf der letzten 50 Jahre sind die Habitate der in Wäldern und im Offenland lebenden Eulen – wie Raufußkauz, Habichtskauz, Sumpfohreule und Schleiereule – durch die Intensivierung von Land- und Forstwirtschaft allerdings stark degradiert worden. Zudem hat der Klimawandel zu Habitatverlusten und damit zur Abnahme vieler Eulenarten in borealen, arktischen und ariden Regionen geführt. Daher sind die Populationen einiger Eulenarten dramatisch zurückgegangen, bis zu dem Punkt, dass einige zurzeit gefährdet oder sogar vom Aussterben bedroht sind. Schleiereulen kommen fast auf der ganzen Welt vor – bis auf mein Heimatland Finnland und andere nordeuropäische Länder. Diese Eulen haben ein hohes Fortpflanzungspotenzial, und ihr Sozialverhalten, die vielfältigen Farbvarianten und die weltweite Verbreitung bieten IX

X

Geleitwort

einzigartige Systeme, um Untersuchungen zu Populationsdynamik und Evolutionsökologie durchzuführen. Mit großem Interesse habe ich im Lauf der letzten 30 Jahre die Langzeitforschung und die zahlreichen Veröffentlichungen von Professor Alexandre Roulin und seinem Team verfolgt. Er und sein Team gehören seit Jahren zu den weltweit führenden Gruppen in der Eulenforschung, mit einem kontinuierlichen Output an hochkarätigen wissenschaftlichen Arbeiten in internationalen Zeitschriften. Wir beide haben einen ähnlichen Hintergrund: Wir fingen in jungen Jahren als Hobby-Ornithologen an, lange bevor wir in die Wissenschaft gingen. Beide verwendeten wir viel Mühe auf das Sammeln von Langzeit-Beobachtungsdaten über Eulenpopulationen in großen Erfassungsgebieten. Ausgehend von diesen Beobachtungen haben wir anschließend Feldversuche geplant und durchgeführt, um die Arbeitshypothesen zu überprüfen. Alexandre Roulin und sein Team haben über 30 Jahre lang alle wichtigen Aspekte von Schleiereulen erforscht: ihre Populationsdynamik, die Populationsstruktur, Kooperation und Konflikte bei Nestgeschwistern und Eltern, ferner die melaninbasierte Gefiederfärbung und ihre Beziehung zum Verhalten einschließlich der Paarungssysteme und der Brutpflege. Aufgrund von Alexandre Roulins Forschungsarbeit gehören Schleiereulen inzwischen zu den wichtigsten Modellorganismen, um die Funktion der natürlichen Selektion in freier Natur zu untersuchen. Diese Selektion zeigt sich durch die Entstehung verschiedener Farbvarianten mit verhaltensbiologischen und physiologischen Unterschieden. Es ist sehr erfreulich, dass Alexandre Roulin seine hervorragenden Untersuchungen an Schleiereulen und ihren Verwandten jetzt in dieser Monografie zusammenfassen konnte, die sich nicht nur an Wissenschaftler, sondern auch an Hobby-Ornithologen, Naturfreunde und Naturschützer wendet. Die Lektüre dieses umfassenden und verständlichen Buchs mit seinen wunderbaren Illustrationen hat mir wirklich große Freude gemacht!

© Yi-Shuo Tseng

Erkki Korpimäki Professor für Tierökologie, Universität Turku, Finnland

Warum dieses Buch?

Die Schleiereule und ihre Verwandten (Graseulen, Rußeulen sowie Neuhollandeulen & Co.) gelten bei Ornithologen und Nichtfachleuten fast schon als Kultvögel. Für die Faszination, die von diesen Vögeln ausgeht, sind viele Aspekte in der Lebensweise und Lebensgeschichte der Schleiereule verantwortlich: ihr hohes Reproduktionspotenzial, ihr komplexes Sozialverhalten, die ausgeprägte Variation in den Gefiederfarben und ihre weltweite Verbreitung, um nur einige zu nennen. So überrascht es nicht, dass die Schleiereule von vielen Wissenschaftlern untersucht wurde: Im Jahr 2018 ergab eine Recherche im Web of Science 1228 Publikationen zur Gattung Tyto, verglichen mit 273 zum Raufußkauz, 701 zum Turmfalken und 3832 zur Kohlmeise – letztere ist eine Art, der sich viele Berufs- und Liebhaberornithologen verschrieben haben. Mehrere Bücher widmen sich ganz der Schleiereule. Da die Literatur über die Schleiereule jedoch sehr viele Themenbereiche beinhaltet, verliert man fast den Überblick, und wir benötigen dringend eine aktualisierte und umfassende Übersicht über ihre Evolutionsökologie. Auch wenn ich die Schleiereule seit 30 Jahren untersuche und dazu etliche Arbeiten publiziert habe, ist dieses Buch nicht nur eine Zusammenfassung meiner eigenen Untersuchungen und Ideen. Ich möchte vielmehr die vorliegenden Informationen auf präzise und objektive Weise zusammenstellen. Dabei habe ich darauf geachtet, nicht nur die wissenschaftliche Literatur über europäische oder nordamerikanische Schleiereulen zu berücksichtigen, denn dieser Ansatz erscheint mit sehr eng. Zum Beispiel zeigt sich die Fokussierung auf Europa bereits im englischen Namen barn owl („Scheuneneule“) oder im französischen effraie des clochers („Eule der Kirchtürme“) – aber auf die in Australasien oder der Karibik heimischen Tytonidae trifft diese Bezeichnung überhaupt nicht zu, denn sie leben häufig in Wäldern! Dies Buch ist für alle Leser gedacht, die sich für Schleiereulen, Graseulen, Rußeulen und Neuhollandeulen & Co. interessieren, ebenso wie für Vögel und Natur insgesamt. Da ich begeisterter Hobby-Ornithologe war, bevor ich Wissenschaftler wurde, habe ich bewusst einen weniger formalen Schreibstil gewählt als in der Wissenschaft normalerweise üblich. Ich habe die wissenschaftlichen und häufig komplexen Konzepte vereinfacht, jedoch (hoffentlich) ohne das Wesentliche zu verwässern. Dies soll es für Naturfreunde möglich machen, Einblicke in das Alltagsleben von Schleiereulen zu gewinnen. Das Buch enthält

XI

XII

Warum dieses Buch?

Fotografien von etlichen Ornithologen sowie Zeichnungen und Aquarelle von Laurent Willenegger, einem versierten Künstler. Sie sind ein bedeutender visueller Zugewinn bei der Lektüre des Buchs.

Alexandre Roulin

Danksagung

Dieses Buch basiert weitgehend auf einer Synthese aus Tausenden von Publikationen über die Schleiereule und ihre Verwandten. Ich bin einerseits der Schweizerischen Vogelwarte Sempach zu großem Dank verpflichtet, denn sie war dabei behilflich, mir den Zugang zu dieser Wissensdatenbank zu verschaffen. Andererseits möchte ich den zahlreichen Kollegen danken, die mir ihre Veröffentlichungen schickten, an die ich auf direktem Weg nicht gelangen konnte. Ferner bin ich folgenden Organisationen für finanzielle Unterstützung überaus dankbar: der Fondation Bataillard (über meinen Freund Professor Daniel Chérix), der Fondation Chuard Schmid der Université de Lausanne, dem Fonds du Dr Rub der Fakultät für Biologie und Medizin der Université de Lausanne, dem Hilfsfonds für die Schweizerische Vogelwarte Sempach sowie dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF) zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung sowie der Université de Lausanne für ihre kontinuierliche Unterstützung meiner Forschung. Folgenden Kollegen gebührt ein herzlicher Dank für ihr interaktives Feedback, während ich an diesem Buch schrieb: Hugh Brazier, Alexandre Chausson, Luis San José Garcia, Andrea Romano, Amélie Dreiss, David Ramsden, Jeff Martin, Rohan Bilney, Pauline Ducouret, Vera Uva, Richard Prum, Martin Paeckert, Yoav Motro, Inês Roque, Rui Lourenço, Hermann Wagner, Michael Wink, Daniel Osorio, Laura Hausmann, Franck Ruffier, David Eilam, Oliver Krüger, Thomas Bachmann, Madeleine Scriba, Peter Sunde und Res Altwegg. Außerdem möchte ich den vielen ungenannten Fotografen danken, deren Bilder ich aus Platzgründen nicht berücksichtigen konnte. Die Karten wurden von Alexandre Hirzel mit der Hilfe von Olivier Brönnimann gezeichnet. Dieses Buch entstand zum Teil während eines Aufenthalts am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Mein größter Dank gilt Laurent Willenegger, mit dem ich über vier Jahre zusammengearbeitet habe, um die ideale Fusion von Text und Illustrationen zu verwirklichen. Ich bin stolz und dankbar, dass dieses Buch von einem so großartigen Künstler illustriert wurde. Besonders möchte ich schließlich der Schleiereule selbst danken – dieser Flaggschiff-Art für Frieden und Biodiversität! Alexandre Roulin

XIII

XIV

Danksagung

Anmerkung zur deutschen Ausgabe Mein herzlicher Dank gilt Michael Wink für das sorgfältige Fachlektorat der deutschen Übersetzung. Alexandre Roulin

Anmerkung zu den Illustrationen

Ich begann bereits als Teenager in den 1990er-Jahren, Schleiereulen zu beobachten. Von Anfang an boten Beringungsaktionen die ideale Gelegenheit, diesen heimlichen Vogel näher kennenzulernen. Und dann begann im Jahr 2014 die Zusammenarbeit mit Alexandre Roulin an diesem Buch. Ich begleitete sein Team im Freiland, um die Schleiereule aufs Neue zu beobachten: Die meisten Zeichnungen und Gemälde entstanden jedoch nicht im Freiland (wo ich normalerweise arbeite), sondern im Studio, denn nur dort war die Erstellung der für den Text benötigten ergänzenden Illustrationen und Abbildungen möglich. Die Illustrationen in diesem Buch basieren auf meinen eigenen Erfahrungen mit der Schleiereule, ergänzt durch Informationen, die ich Büchern oder dem Internet entnommen habe, ferner auf Material, das Alexandre und sein Team mir zur Verfügung gestellt haben. Viele Illustrationen sind als Aquarelle oder als Bleistiftzeichnungen ausgeführt, andere sind digital erstellt worden. Ich hoffe, dass Ihnen die Zeichnungen und Aquarelle gefallen haben. Wenn Sie mehr über meine Arbeit wissen möchten, können Sie über meine Website unter www.wildsideproductions.ch Kontakt mit mir aufnehmen. Laurent Willenegger

XV

XVI

Anmerkung zu den Illustrationen

Inhaltsverzeichnis

1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Warum ist die Schleiereule so interessant? . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1.1 Eine Schnabellänge voraus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Warum Schleiereulen anstelle von Labormäusen untersuchen? . . . . . . 7 1.2.1 Ein neuartiges Modellsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.3 Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.3.1 Viel Interesse an der Schleiereule . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.4 Evolution der Tytonidae. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.4.1 Die Welt steht dir offen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.4.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.5 Warum ist die Schleiereule weltweit verbreitet? . . . . . . . . . . . . . 20 1.5.1 Eine Erfolgsgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.6 Warum leben Schleiereulen in der Nähe der Menschen? . . . . . . . . . 24 1.6.1 Kulturfolger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2 Artenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.1 Warum sollten wir Schleiereulen schützen?. . . . . . . . . . . . . . . 29 2.1.1 Es ist niemals zu spät, Unwiederbringliches zu retten . . . . . . 29 2.2 Ethische Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.2.1 Der Zweck heiligt nicht immer die Mittel . . . . . . . . . . . . . 34 2.3 Rückgang der Schleiereulen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.3.1 Wie viele gibt es noch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.4 Umweltverschmutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.4.1 Schädliche Praktiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.4.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.5 Was können wir tun, um Schleiereulen zu schützen? . . . . . . . . . . . 47 2.5.1 Mit vereinten Kräften zum Schutz der Natur . . . . . . . . . . . 47 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

XVII

XVIII

3

Inhaltsverzeichnis

Parasiten und Prädatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.1 Endoparasiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.1.1 Angriff von innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.1.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.2 Ektoparasiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.2.1 Angriff von außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.2.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.3 Prädatoren und Feindverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.3.1 Auge um Auge, Zahn um Zahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.3.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

4 Ökophysiologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4.1 Hörvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4.1.1 Absolutes Gehör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4.1.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.2 Sehvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.2.1 Unter den Blinden ist die einäugige Eule König . . . . . . . . . 80 4.2.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 4.3 Täglicher Nahrungsbedarf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 4.3.1 Ein unersättlicher Jäger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 4.3.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4.4 Bildung von Gewöllen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4.4.1 Knochen im Keller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4.4.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4.5 Überleben in der Kälte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4.5.1 Nicht kältetauglich! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4.5.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 5 Ökomorphologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 5.1 Körpergröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 5.1.1 Gulliver und die Liliputaner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 5.1.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 5.2 Reverser sexueller Größendimorphismus . . . . . . . . . . . . . . . 106 5.2.1 Große Mama, kleiner Papa. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 5.2.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 6

Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 6.1 Jäger der Nacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 6.1.1 Nachteule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 6.1.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 6.2 Ruhen (roosting) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 6.2.1 Ein Nickerchen halten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 6.2.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Inhaltsverzeichnis

XIX

6.3 Streifgebiet (home range) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 6.3.1 Home sweet home . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 6.3.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 6.4 Flugmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 6.4.1 Lautloses Dahingleiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 6.4.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 6.5 Jagdmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 6.5.1 Tora! Tora! Tora! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 6.5.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 6.6 Beutewahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 6.6.1 Die Jagd ist oft besser als die Beute . . . . . . . . . . . . . . . 138 6.6.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 6.7 Nahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 6.7.1 Foodie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 6.7.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 7 Sexualverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 7.1 Balz und Paarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 7.1.1 Flirten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 7.1.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 7.2 Paarungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 7.2.1 Frivolitäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 7.2.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 7.3 Treue und Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 7.3.1 Ewige Liebe oder geschiedene Leute . . . . . . . . . . . . . . 168 7.3.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 8

Fortpflanzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 8.1 Nistplätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 8.1.1 Schlafzimmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 8.1.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 8.2 Interspezifische Nistplatzkonkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 8.2.1 Missbilligung, Toleranz, Indifferenz . . . . . . . . . . . . . . 185 8.2.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 8.3 Brutzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 8.3.1 Wie die Kaninchen … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 8.3.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 8.4 Die Eule und ihr Ei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 8.4.1 Wie kommt die Eule zum Ei? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 8.4.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 8.5 Gelegegröße. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 8.5.1 Eierschwemme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 8.5.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

XX

Inhaltsverzeichnis

8.6 Bebrütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 8.6.1 Gluckige Henne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 8.6.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 8.7 Schlupf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 8.7.1 Hier bin ich! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 8.7.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 8.8 Brutgröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 8.8.1 Kinderreiche Familie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 8.8.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 8.9 Nestlingswachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 8.9.1 Vom Küken zum flüggen Jungvogel . . . . . . . . . . . . . . . 212 8.9.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 8.10 Zweit- und Drittbruten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 8.10.1 Doppelt genäht hält besser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 8.10.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 8.11 Verlassen des Nachwuchses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 8.11.1 Dates mit jüngeren Männern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 8.11.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 9

Brutpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 9.1 Eltern auf der Jagd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 9.1.1 Die Jagdzeit ist eröffnet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 9.1.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 9.2 Verhalten der Eltern am Nest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 9.2.1 Der Küchenchef . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 9.2.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 9.3 Körpergewicht der Altvögel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 9.3.1 Bis an die Belastungsgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 9.3.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 9.4 Nahrungsdepots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 9.4.1 Beutelager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 9.4.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 9.5 Adoption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 9.5.1 Romulus und Remus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 9.5.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

10 Geschwisterbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 10.1 Timing der Nestlingsaktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 10.1.1 Bloß nicht schlafen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 10.1.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 10.2 Geschwisterverhandlungen (sibling negotiations) . . . . . . . . . . . 249 10.2.1 Diplomatie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 10.2.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

Inhaltsverzeichnis

XXI

10.3 Bettelverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 10.3.1 Stand up and shout . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 10.3.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 10.4 Nahrungsdiebstahl unter Geschwistern . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 10.4.1 Gauner und Gentleman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 10.4.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 10.5 Nahrung mit Geschwistern teilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 10.5.1 Großzügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 10.5.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 10.6 Gegenseitige Gefiederpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 10.6.1 Kraulst du mich, kraul ich dich . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 10.6.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 10.7 Soziales Kuscheln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 10.7.1 Eiskalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 10.7.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 11 Populationsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 11.1 Abwandern vom Geburtsort (natal dispersal). . . . . . . . . . . . . 277 11.1.1 Das Gras auf der anderen Seite des Hügels ist immer grüner . . 277 11.1.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 11.2 Abwandern vom Brutort (breeding dispersal) und Zug (migration) . . 283 11.2.1 Wanderlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 11.2.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 11.3 Überlebensaussichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 11.3.1 Scheitern vorprogrammiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 11.3.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 11.4 Populationsdynamik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 11.4.1 Personalauffrischung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 11.4.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 12

Gefiederpolymorphismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 12.1 Farbpolymorphismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 12.1.1 Schwarz und Weiß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 12.1.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 12.2 Genetik des Gefiederpolymorphismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 12.2.1 Das Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 12.2.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 12.3 Sexualdimorphismus der Gefiedermerkmale . . . . . . . . . . . . . . 312 12.3.1 Androgynie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 12.3.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 12.4 Altersabhängige Veränderungen der Gefiedermerkmale . . . . . . . . 315 12.4.1 Kostümwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 12.4.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

XXII

Inhaltsverzeichnis

12.5 Partnerwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 12.5.1 Todschick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 12.5.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 12.6 Sexuell antagonistische Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 12.6.1 Transgender-Schleiereulen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 12.6.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 12.7 Adaptive Funktionen der weißlichen und rostbraunen Färbung. . . . 325 12.7.1 Eine Frage der Farbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 12.7.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 12.8 Adaptive Funktionen kleiner und großer schwarzer Flecke . . . . . . 329 12.8.1 Je größer, desto besser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 12.8.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 12.9 Adaptive Funktionen von wenigen bzw. vielen schwarzen Flecken . . 336 12.9.1 Gefleckt oder ungefleckt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 12.9.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 12.10 Geografische Variation der Gefiedermerkmale . . . . . . . . . . . . . 339 12.10.1 Unendliche Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 12.10.2 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 13 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 13.1 Für die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Artnamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Trivialnamen der Tytonidae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

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Einführung

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1.1

Warum ist die Schleiereule so interessant?

1.1.1 Eine Schnabellänge voraus 77 Die Schleiereule ist wegen ihrer weltweiten Verbreitung und ihrer Nähe zum Menschen

bekannt und populär. Eulen haben uns Menschen seit Urzeiten und in vielen Kulturen immer schon fasziniert. Sie werden verehrt oder gelten als schlechtes Omen, und oft spielen sie in Sagen und Märchen eine Rolle. Die Schleiereule ist ein großartiges Untersuchungsobjekt, um Physiologie, Fortpflanzungsbiologie, soziale Interaktionen zwischen Familienmitgliedern und die Ursachen sowie Auswirkungen von Farbvarianten zu untersuchen. Später mehr dazu!

Schleiereulen (Abb. 1.1) ziehen nicht nur die interessierte Öffentlichkeit, sondern auch Wissenschaftler in ihren Bann. Unsere Schleiereule wurde und wird traditionell als Beispielart herangezogen, um die Nahrung von räuberisch lebenden Vogelarten zu untersuchen und ökologische Zusammenhänge zu vermitteln. In Schleiereulengewöllen finden sich besonders gut erhaltene Knochen und Haut-/Fellreste der Beutetiere. So wundert es kaum, dass fast die Hälfte der 3696 für dieses Buch ausgewerteten Originalarbeiten sich mit Nahrungsanalysen befasst (1630 von 3696). Doch das Interesse an der Schleiereule reicht viel weiter. Verglichen mit anderen Vogelarten besitzt die Schleiereule eine bemerkenswerte Variabilität, was Morphologie, Physiologie und Verhalten angeht. Einige ihrer physiologischen Fähigkeiten, wie ihr Hörvermögen, sind äußerst gut ausgebildet, während andere wie Kältetoleranz schlecht entwickelt sind. Man kann die Schleiereule daher als Modellorganismus ansehen, der uns generelle Regeln erkennen lässt, nach denen die Evolution der Biodiversität abläuft. Ich möchte in diesem Buch die besonderen Eigenschaften der Schleiereule herausstellen und auf diese Weise versuchen, generelle biologische Phänomene aufzuzeigen. Zu diesen Eigenschaften zählen die im Folgenden genannten sieben Schlüsselmerkmale.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Roulin, Schleiereulen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62514-9_1

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1.1  Warum ist die Schleiereule so interessant?

3

Abb. 1.1  Eine Schleiereule auf dem Weg zu neuen Ufern

Weltweite Verbreitung Schleiereulen kommen bis auf die kalt-gemäßigten und arktischen Klimaregionen fast überall vor. Nur etwa 20 Wirbeltierarten (darunter der Mensch) sind echte Kosmopoliten. Über Untersuchungen an Schleiereulen können wir daher die Faktoren verstehen, die einigen Tieren einen weltweiten Erfolg ermöglichen. Physiologie Oft setzt man die Schleiereule in Untersuchungen ein, in denen es um das Hörvermögen und die Fähigkeit des lautlosen Flugs geht. Aufgrund ihrer nächtlichen Lebensweise und hohen Fortpflanzungsrate bestand ein hoher Selektionsdruck auf eine sehr effiziente Jagdweise; daraus ergab sich die Notwendigkeit, die Beute mithilfe des Gehörs auf große Distanz aufzuspüren und dabei unentdeckt zu fliegen. Diese Fähigkeiten sind von großem Interesse für Neurologen und die Luftfahrtindustrie. Fortpflanzungspotenzial Verglichen mit anderen räuberisch lebenden Vogelarten haben Schleiereulen einen hohen Fortpflanzungserfolg. Sie können bis zu drei Bruten pro Jahr aufziehen, manche Bruten mit bis zu zwölf Nestlingen. Unter günstigen Umweltbedingungen können sie ganzjährig brüten. Dank dieses Reproduktionspotenzials ist es möglich, die evolutionären Ursachen und Folgen derart hoher Fortpflanzungsraten zu erforschen. Anhand der sehr zahlreichen Nachkommen lässt sich ein umfassendes Datenmaterial zusammentragen – das ist für eine größere Vogelart ungewöhnlich.

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1 Einführung

Abb. 1.2  Vier Schleiereulengeschwister mit besonders stark ausgeprägter Gefiedervariation (© Alexandre Roulin)

1.1  Warum ist die Schleiereule so interessant?

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6

1 Einführung

Asynchrones Schlüpfen Der erste Nestling in einer Brut kann bis zu einem Monat älter sein als sein jüngstes Geschwister. Grund ist, dass die Eltern den Schlupfzeitpunkt gewöhnlich staffeln, was dazu führt, dass unter den Nestgeschwistern weniger Konkurrenz um die elterliche Aufmerksamkeit entsteht. Asynchrones Schlüpfen gilt traditionell als Möglichkeit der Eltern zur Reduktion der Brutgröße, doch es gibt zahlreiche andere Hypothesen, um seine adaptive Funktion zu erklären. Unter den Vögeln ist das asynchrone Schlüpfen bei der Schleiereule fast am stärksten ausgeprägt. Daher ist sie besonders geeignet, um Ursachen und Auswirkungen der Größenunterschiede unter jungen Nestgeschwistern zu untersuchen. Friedliche Geschwisterinteraktionen Junge Nestgeschwister handeln vokal aus, wer zuerst Zugang zur Nahrung hat; außerdem füttern und putzen die Nestlinge ihre Geschwister. Die sozialen Interaktionen in einem Schleiereulennest sind verwickelt. Sie geben uns Einblick in Eltern-Kind-Konflikte sowie Geschwisterrivalität und -kooperation. Geschwister sind zwar bei allen Tierarten genetisch verwandt, doch laut Beobachtungen und Theorie gilt die Vorhersage, dass Familienbeziehungen eher konfliktreich als harmonisch sind. Dass junge Schleiereulen ihre Ressourcen friedlich teilen können, lässt vermuten, dass evolutionär nicht nur auf Wettbewerb, sondern auch auf Kooperation unter Geschwistern selektiert wurde. Gefieder Keine Schleiereule gleicht der anderen (Abb. 1.2). Bei manchen ist das Gefieder dunkelrostbraun, bei manchen weiß, bei anderen ist es gesprenkelt mit zahlreichen großen schwarzen Flecken. Diese Variation wird zwischen und innerhalb von Populationen und sogar zwischen Geschwistern beobachtet. Melanin, das häufigste Pigment im Tierreich, besitzt vielfältige Funktionen. Es vermittelt Tarnung, schützt Haut und Federn vor physikalischer Abnutzung und ultraviolettem Licht, spielt eine Rolle bei der Thermoregulation und kann potenziellen Geschlechtspartnern und Artgenossen bestimmte Fitnessinformationen übermitteln. Untersuchungen zur melaninbasierten Färbung gehören inzwischen zu den Hauptthemen der Evolutionsökologie, und auch hierfür stellt die Schleiereule ein hervorragendes Modellsystem dar. Bei den Schleiereulen können unterschiedlich gefärbte Individuen alternative Reproduktionsstrategien und Fortpflanzungsverhalten aufweisen. Populationsdynamik Bei der Schleiereule sind jährliche Schwankungen der Populationsgröße ausgeprägt. Wenn man die Prozesse untersuchen möchte, die den Populationsschwankungen zugrunde liegen, muss man das bei Arten durchführen, die besonders empfindlich auf Umweltfaktoren reagieren, z. B. auf schlechte Witterung und schwankendes Nahrungsangebot. Verglichen mit anderen Nachtgreifen oder Taggreifen, z. B. dem Turmfalken, der ähnliche Reproduktions- und Jagdhabitate nutzt, schwanken die Populationsgrößen bei der Schleiereule wesentlich stärker. Dieser Unterschied wirft mehrere Fragen auf: Warum zählt die Schleiereule zu den Organismen, die von einer ökologischen Verschlechterung als Erste betroffen sind? Und ferner: Wie kompensieren die Individuen dies – mit einer hohen Fortpflanzungsrate, sobald sich die Bedingungen verbessern? Da die Schleiereule

1.2  Warum Schleiereulen anstelle von Labormäusen untersuchen?

7

weltweit verbreitet ist und oft in Menschennähe lebt, eignet sie sich gut, um zu erfassen, wie sich menschliche Aktivitäten global auf die Tierwelt auswirken und zur Schädigung von Habitaten beitragen.

1.2

Warum Schleiereulen anstelle von Labormäusen untersuchen?

1.2.1 Ein neuartiges Modellsystem 77 Die Schleiereule: ästhetisch ansprechend, von hohem Symbolwert und wissenschaft-

lich hochinteressant. Alle Ornithologen und Vogelliebhaber sind sich einig, dass sie besser erforscht und geschützt werden muss. Aber warum sollten Förderorganisationen Projekte über Schleiereulen finanzieren, anstelle von biomedizinischer oder molekularbiologischer Forschung an Labormäusen?

Wichtige Fortschritte in Genetik, Immunologie und Zellbiologie (um nur einige Gebiete zu nennen) werden in der wissenschaftlichen Forschung anhand von Modellsystemen wie Mäusen (Abb. 1.3), Fliegen, Fadenwürmern und Ackerschmalwand erzielt. Diese Modellorganismen sind so gut untersucht und einfach zu handhaben, dass Spitzenforscher eine Forschung mit anderen Organismen möglicherweise für nicht zweckdienlich halten. In den Biowissenschaften, insbesondere der Biomedizin, investiert man den größten Teil an Humankapital und Finanzmitteln in eine Forschung, die anhand von Modellorganismen erfolgt; folglich muss Forschung an anderen Arten extra begründet werden. Tatsächlich ha-

Abb. 1.3  Die Maus ist ein Modellsystem für medizinische Laboruntersuchungen

8

1 Einführung

ben wir mithilfe von Modellorganismen wissenschaftliche Erkenntnisse von unschätzbarem Wert gewonnen; wenn wir uns aber nur auf Modellorganismen konzentrieren, bleiben viele Phänomene in der Natur außen vor. Die Evolution von Organismen erfolgt durch natürliche Selektion; letztlich wird dadurch die Häufigkeit von Genen verändert, die in den Vorfahrenpopulationen vorhanden waren. Man muss daher die Evolutionsgeschichte jeder einzelnen Art betrachten, um zu verstehen, wozu eine bestimmte Anpassung entstanden ist. Eulen, die auf einer Insel leben, besitzen z. B. ein weißliches Gefieder möglicherweise nicht deshalb, weil es der Tarnung dient, sondern weil die Eulen, die diese Insel ursprünglich besiedelten, zufälligerweise hell und eben nicht dunkel waren. Evolutionsökologen möchten jedoch vor allem herausfinden, ob sich physiologische, morphologische und verhaltensbiologische Anpassungen in Reaktion auf bestimmte ökologische Faktoren entwickelt haben. Daher untersuchen sie ihre Forschungsobjekte lieber in deren natürlicher Umwelt als im Labor. Ich möchte hier keineswegs Laboruntersuchungen mit Tiermodellen schlechtmachen, sondern klarstellen, warum die Erforschung einer weiteren Art (wie der Schleiereule) in ihrem natürlichen Lebensraum sogar komplementär ist. Um dies zu erläutern, werde ich Labor- und Felduntersuchungen unter vier Gesichtspunkten vergleichen.

Artefakte Tiere, die nicht in ihrer natürlichen Umwelt leben, verhalten sich möglicherweise nicht normal. Zudem ist die adaptive Funktion bestimmter Merkmale eventuell nicht offensichtlich, wenn sie unter Laborbedingungen untersucht werden. Letztlich können nur Untersuchungen an Tieren in ihrer natürlichen Umwelt, z. B. Untersuchungen an wilden Schleiereulen, aufzeigen, in welchem Zusammenhang sich Anpassungen herausgebildet haben. Labortiere sind nicht repräsentativ für ihre wilden Artgenossen Labortiere kommen gut mit dem Stress zurecht, der durch die Laborbedingungen ausgelöst wird, sie haben eine kurze Generationszeit und viele Nachkommen. Da alle Labortiere diese Eigenschaften besitzen, sind Forschungsergebnisse, die mit diesen Tieren erzielt wurden, nicht notwendigerweise allgemein anwendbar, sondern gelten vermutlich nur für Tiere, die unter stressigen Laborbedingungen leben. Künstliche Auslese Tiere, die über viele Generationen als Labortiere gezüchtet wurden, entwickeln neue verhaltensbiologische, physiologische und morphologische Merkmale, die eher an Labor- als an natürliche Bedingungen angepasst sind. Dagegen haben sich Schleiereulen in freier Natur in einer Interaktion mit ihrer biotischen und abiotischen Umwelt sowie anderen Wildtieren entwickelt. Untersuchungen an der Schleiereule können daher wichtige ökologische Erkenntnisse mit allgemeiner Anwendbarkeit liefern. Biodiversität Um ein bestimmtes Problem zu lösen, finden sich in der Natur meist viele Wege. Wenn man in der wissenschaftlichen Forschung immer wieder dieselbe Auswahl an Organismen einsetzt, wird man wiederholt zu ähnlichen Lösungen kommen. Die Arbeit mit Organismen, die nicht zu den üblichen Studienobjekten der meisten Wissenschaftler gehören, ist dagegen

1.3 Ausgangslage

9

anregend und bietet neue Erkenntnisse zu alten Problemen. Um die Komplexität von Ökosystemen aufzuschlüsseln und das Leben in seiner gesamten Vielfalt zu verstehen, muss man daher neben den im Labor üblichen Arten etliche weitere Arten untersuchen.

1.3 Ausgangslage 1.3.1 Viel Interesse an der Schleiereule 77 Dieses Buch basiert auf der wissenschaftlichen Literatur, die von 1853 bis 2018 über die

Schleiereule und ihre Verwandten erschienen ist (Abb. 1.4). Ich habe nach sämtlichen Veröffentlichungen in internationalen und lokalen Zeitschriften gesucht und dazu in Bibliotheken und im Internet recherchiert sowie direkten Kontakt mit den Autoren aufgenommen. Dabei habe ich ausdrücklich Arbeiten gesucht, die sich mit Ökologie und Evolution der Schleiereulen befassen – ohne geografische Einschränkungen.

Ich konnte zwar 3696 Arbeiten und Bücher über die Familie Tytonidae auswerten (etliche davon nicht im Web of Science verfügbar), doch mindestens 650 Veröffentlichungen müssen noch verarbeitet werden. In Abb. 1.5 sind die Publikationen über die Tytonidae nach Anzahl

Abb. 1.4  Über die Schleiereule sind zahlreiche Bücher und Tausende von wissenschaftlichen Veröffentlichungen geschrieben worden. Hier ein Blick in die Fachbibliothek der Schweizerischen Vogelwarte in Sempach (© Alexandre Roulin)

1 Einführung

10 Europa Nordamerika Afrika Australien/Ozeanien Südamerika Asien ohne Naher Osten Naher Osten Mittelamerika Pazifische Inseln 0

500

1000

1500

2000

2500

Abb. 1.5 Anzahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu Tytonidae-Arten, nach verschiedenen Teilen der Welt gruppiert

und geografischer Herkunft aufgeschlüsselt. Etwa 61 % der Untersuchungen konzentrierten sich auf die europäische Population der Schleiereule (Western Barn Owl); der größte Teil betrifft Freilanduntersuchungen in Deutschland (564 Arbeiten, 15,3 %). Am zweithäufigsten sind Untersuchungen zur Amerikaschleiereule (492 Arbeiten, 13,3 %). Die größere Verfügbarkeit von Informationen über europäische Schleiereulen und Amerikaschleiereulen ist höchstwahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass es in Europa und den USA mehr entsprechende Forschung gab als in Afrika, im Nahen Osten und restlichen Asien, in Australien/ Ozeanien, auf den pazifischen Inseln sowie in Mittel- und Südamerika. Ich hoffe natürlich, dass dieses Buch zu weiteren Forschungsprojekten auf der ganzen Welt anregen wird. Einige Tyto-Taxa sind besser untersucht als andere, was dazu führt, dass dieses Buch unwillkürlich mehr Informationen über diese Taxa enthält. Das ist auch der Grund, warum sich das Buch hauptsächlich auf Untersuchungen bezieht, die – falls nicht anders vermerkt – an der Schleiereule (Common Barn Owl, traditionell als Tyto alba bezeichnet) durchgeführt wurden. Der Begriff „Tytonidae“ verweist auf sämtliche Arten der Gattungen Tyto und Phodilus.1 1

Anmerkung der Übersetzerin: Über die DNA-Analytik wurde der Schleiereule-Artkomplex in den letzten Jahrzehnten in viele neue Arten aufgesplittet (Abschn. 1.4). Dies erschwert die Interpretation früherer Arbeiten, die nur von einer Art, nämlich Tyto alba, ausgingen. Bei den deutschen Trivialnamen besteht zwischen den englischen Bezeichnungen Common Barn Owl und Western Barn Owl kein Unterschied – beide werden mit „Schleiereule“ übersetzt. Wenn der Autor diese Begriffe verwendet, habe ich daher die englischen Namen in Klammern hinzugefügt, um dem Leser die Einordnung zu erleichtern. Auch die deutsche Übersetzung der englischen Begriffe Masked Owls und Bay Owls bereitet Probleme: Für die Bay Owls (Gattung Phodilus) ist der deutsche Trivialname „Maskeneulen“ etabliert; der Begriff Masked Owls hat hingegen keine Entsprechung. Um Verwechselungen zu vermeiden, habe ich mich zur Bezeichnung „Neuhollandeulen & Co.“ entschlossen (siehe hierzu auch Anhang).

1.4  Evolution der Tytonidae

11

Abb. 1.6  Schleiereule in einem alten indischen Tempel – ein Bild mit Symbolcharakter für die enge Beziehung zwischen Schleiereulen und Menschen

1.4

Evolution der Tytonidae

1.4.1 Die Welt steht dir offen 77 Die Familie Tytonidae trat wahrscheinlich zuerst in Australasien in Erscheinung. Bis auf

die Antarktis hat diese Familie alle Kontinente der Erde erfolgreich besiedelt (Abb. 1.6). Die Tytonidae-Populationen Australasiens besitzen die größte Diversität.

Eulen sind die Schwestergruppe zu einer diversen Klade von Landvögeln, die Mausvögel, Trogone, Kuckucksroller, Rackenvögel und Spechtvögel umfasst. Interessanterweise haben sich all diese Landvögel aus Prädatoren (räuberischen Arten) entwickelt. Die Tytonidae spalteten sich vor etwa 45 Millionen Jahren (mya, million years ago) von den „typischen“ Eulen (Familie Strigidae) ab. Heute sind mindestens 13 Taxa der Tytonidae ausgestorben; einige waren sogar größer als der imposante Uhu. So maß ein in Italien gefundener Ober-

1 Einführung

12

Paläogen Eozän

Neogen Oligozän

Miozän

Quartär

Pliozän

Pleistozän Tyto alba

Tyto thomensis Tyto furcata Tyto glaucops Tyto javanica delicatula Tyto rosenbergii Tyto javanica javanica

Tyto nigrobrunnea Tyto soumagnei

Tyto novaehollandiae

Tyto almae Tyto aurantia Tyto multipunctata Tyto tenebricosa Tyto longimembris Tyto capensis

Tyto inexspectata

Phodilus spp.

Strix aluco

5.0

-50

-40

-30

-20

mya (vor Millionen Jahren)

-10

0

Abb. 1.7  Phylogenetischer Stammbaum der Familie Tytonidae, mit dem Waldkauz (Strix aluco) als Außengruppe (Zeichnungen aus Hoyo, J. del (Hrsg.) 2017. Handbook of the Birds of the World Alive. Lynx Edicions, Barcelona. Abgerufen von www.hbw.com im August 2018)

1.4  Evolution der Tytonidae

13

Tyto alba Tyto javanica

Tyto glaucops

Tyto thomensis

Tyto furcata

Tyto rosenbergii Tyto aurantia

Tyto nigrobrunnea

Tyto almae

Tyto soumagnei

Tyto inexspectata

Tyto novaehollandiae

Tyto multipunctata Tyto tenebricosa

Tyto capensis

Phodilus badius

Tyto longimembris

Phodilus assimils

Phodilus prigoginei

Abb. 1.8  Weltweite Verbreitung der Familie Tytonidae. Hierzu zählen die amerikanischen Schleiereulen (T. furcata und T. glaucops), die Schleiereule (Western Barn Owl: T. alba und T. thomensis), Australschleiereule (T. javanica), Malegasseneule (T. soumagnei), Neuhollandeulen & Co. (T. aurantia, T. almae, T. novaehollandiae, T. inexspectata, T. rosenbergii und T. nigrobrunnea), Rußeulen (T. tenebricosa und T. multipunctata), Graseulen (T. capensis und T. longimembris) sowie die Maskeneulen aus Afrika und Australasien (Phodilus prigoginei, P. assimilis und P. badius)

14

1 Einführung

armknochen der ausgestorbenen Art Tyto gigantea 185 mm, während es bei heute in Italien lebenden Schleiereulen (Tyto alba) nur 73–85 mm sind.

Evolution und weltweite Verbreitung der Tytonidae Die uns zur Verfügung stehenden genetischen Daten (Abb. 1.7 und 1.8) deuten darauf hin, dass die gemeinsamen Vorfahren der Strigidae und Tytonidae etwa im Mittleren Eozän lebten (vor rund 45 mya) und dass der letzte gemeinsame Vorfahr der beiden rezenten Tytonidae-Gattungen – nämlich der Maskeneulen (Phodilus spp.) sowie der Schleiereulen, Graseulen, Rußeulen und Neuhollandeulen & Co. (Tyto) – im Oligozän lebte (rund 28 mya). Der Vorfahr der Kern-Tyto-Gruppe (Neuhollandeulen & Co., Rußeulen, Graseulen) und der Tyto-alba-Gruppe lebte im Mittleren Miozän (rund 12 mya) und trat wahrscheinlich zuerst in Australasien auf. Vor rund 8 Millionen Jahren breitete sich von dort ein heute ausgestorbener Vorfahr aus, der die Tyto-alba-Gruppe (Common Barn Owl group, Schleiereule-Artkomplex) begründete – nach gegenwärtiger Definition umfasst sie die Australschleiereule (T. javanica, Eastern Barn Owl), Schleiereule (T. alba, Western Barn Owl) und Amerikaschleiereule (T. furcata, American Barn Owl); letztere erreichte den amerikanischen Doppelkontinent über die Bering-Landbrücke im Nordpazifik. Jede dieser drei Linien weist Populationen auf, die auf abgelegenen Inseln isoliert sind und wenig Kontakt mit anderen Populationen (z. B. durch Dispersal) besitzen. Dadurch wird eine genetische Differenzierung erleichtert, die zur Evolution neuer Arten führte. Beispielsweise leben die Sulawesieule (T. rosenbergii) und die Taliabueule (T. nigrobrunnea) auf Inseln und werden von einigen Autoren als eigene Arten angesehen, die vom australasischen Tyto-javanica-Komplex abgetrennt werden. Ähnlich verhält es sich mit der Hispaniolaschleiereule (T. glaucops); diese auf Hispaniola heimische Eule gilt heute als eigene Art und nicht, wie früher angenommen, als Unterart der Amerikaschleiereule (T. furcata). Europa Traditionell werden in Europa vier Unterarten der Schleiereule (Western Barn Owl, T. alba ) unterschieden: die „weißbrüstige Schleiereule“ (T. a. alba) in Südeuropa und auf den Britischen Inseln, die „dunkelbrüstige Schleiereule“ (T. a. guttata) in Nordosteuropa, die „sardische Schleiereule“ (T. a. ernesti) auf Sardinien und Korsika sowie die „nahöstliche Schleiereule“ (T. a. erlangeri) auf Kreta und Zypern. In Europa ist die genetische Differenzierung zwischen den einzelnen Ländern eingeschränkt, was auf einen ausgeprägten genetischen Austausch durch Dispersal zwischen den Populationen hinweist. So wie viele andere Tiere und Pflanzen verschwanden auch Schleiereulen während der letzten Eiszeit aus großen Teilen Europas. Nach dem Rückweichen des Eises besiedelten die Schleiereulen Europa wieder neu, und zwar in einer ringförmigen Ausbreitungsbewegung über zwei Routen (Abb. 1.8): Von der Iberischen Halbinsel aus gelangten sie nach Mittel- und Nordosteuropa, und vom Jordantal aus erreichten sie Griechenland und zogen weiter nach Nordosteuropa (Abb. 1.9). Diesem Szenario liegen genetische Daten zugrunde, denen zufolge Schleiereulen aus dem Jordantal den Eulen, die auf den Kanaren und in Spanien vorkommen, genetisch näher stehen als den geografisch näheren Populationen aus Osteuropa und von der Balkanhalbinsel. Zurzeit hybridisieren die Schleiereulen dieser

1.4  Evolution der Tytonidae

15

630 km

Abb. 1.9  Zirkummediterrane, ringförmige Besiedlung Europas durch Schleiereulen. Während der letzten Eiszeit zogen sich die Schleiereulen auf die Iberische Halbinsel, nach Nordafrika und in den Nahen Osten zurück. Nachdem das Eis vor 10 000 Jahren zurückgegangen war, drangen die Schleiereulen aus zwei Richtungen wieder nach West‑, Mittel- und Osteuropa vor: einerseits vom Jordantal, andererseits von der Iberischen Halbinsel aus. Die Nachkommen aus diesen beiden Ausbreitungsbewegungen treffen in einer Kontaktzone auf der Balkanhalbinsel aufeinander. Die Farbabstufung der Karte spiegelt den Grad der rostbraunen Färbung der Unterseite bei den europäischen Schleiereulen wider

beiden Linien auf dem Balkan. Obwohl beide letztendlich von ein und demselben Ort im Jordantal (oder möglicherweise irgendwo in Nordafrika) stammen, können sie eine genetische Unverträglichkeit aufweisen. Mit anderen Worten: Wenn Individuen dieser beiden Linien im Balkangebiet aufeinandertreffen und sich vermischen, können die Nachkommen manchmal aufgrund genetischer Probleme nicht optimal wachsen oder nur kurz überleben. Eine interessante Fragestellung für die Zukunft!

Afrika In Subsahara-Afrika gibt es zwei Tyto-Arten: die Schleiereule (Western Barn Owl, T. alba) und die Kapgraseule (T. capensis); letztere ist größer und hat längere Beine. Die Biologie der Schleiereule ist in Afrika dieselbe wie in anderen Teilen der Welt: Sie brütet in Höhlen, mit ein bis zwei Bruten pro Jahr. Dagegen brütet die Kapgraseule inmitten von hohem Gras auf dem Boden. Die Malegasseneule (T. soumagnei) hat einen gemeinsamen ausgestorbenen Vorfahren mit der Schleiereule, der vermutlich zwischen Afrika und Australasien lebte. Da sich die Schleiereulen der Insel São Tomé (T. thomensis) genetisch ausreichend von ihren Pendants (T. alba) auf dem afrikanischen Festland unterscheiden, gelten sie heute als eigene Art. Dagegen zeigen die Schleiereulen der Kapverdischen (T. alba detorta) und

Abb. 1.10  Brasilien: Schleier­ eule ruht in einem Baum

18

1 Einführung

der Kanarischen Inseln (T. a. gracilirostris) nur geringe genetische Divergenz und gelten immer noch als Unterarten von T. alba.

Asien In Asien unterscheidet man zwei Tyto-Gruppen: die Tyto-javanica-Gruppe (Australschleiereulen, Eastern Barn Owls) sowie die Graseulen und die Neuhollandeulen & Co. Die weiß gefärbte nahöstliche Population der Schleiereule, die auf der Arabischen Halbinsel, im Jordantal, Iran und Irak vorkommt (Abb. 1.11), steht allerdings der Schleiereule (Western Barn Owl) genetisch näher – und wird als Unterart T. alba erlangeri bezeichnet – als der dunkleren und stärker gefleckten indischen Unterart der Australschleiereule (T. javanica stertens), die in Pakistan, Indien und Sri Lanka heimisch ist. In Südostasien (Thailand, Vietnam) kommt die nahe verwandte Australschleiereule vor: Sie ist größer und hat eine sehr variable Gefiederzeichnung. Die Sulawesieule (T. rosenbergii) ist zwar recht groß, aber nahe mit der Australschleiereule verwandt, nicht mit den Neuhollandeulen & Co. (trotz des englischen Namens Sulawesi Masked Owl). Da der Malaiische Archipel (zwischen der Malaiischen Halbinsel und Australien) über 25 000 Inseln umfasst, können sich die dortigen Tiere und Pflanzen auf verschiedenen Inseln – die durch ihre geografische Distanz einen

Abb. 1.11  Eine Schleiereule in einer Palme im Nahen Osten

1.4  Evolution der Tytonidae

19

häufigen Austausch verhindern – rasch zu unterschiedlichen Formen entwickeln. Folglich werden auf abgelegenen Inseln regelmäßig neue Formen oder Arten beschrieben. Dieser hohe Grad an Diversität macht Asien zum besonders interessanten Untersuchungsobjekt für die Evolution der Schleiereulen. Zu einer weiteren Gruppe zählen Graseulen sowie Neuhollandeulen & Co. Die (Östliche) Graseule (Tyto longimembris) ist viel größer und hat längere Beine als die Schleiereulen. Diese Art ist von Indien bis China sowie auf vielen Inseln bis hin nach Australien, Neukaledonien und Fidschi heimisch (dort aber in jüngster Zeit verschwunden). Trotz eines anderen wissenschaftlichen Namens und der geografischen Distanz ähnelt T. longimembris von Genetik und Biologie her auffallend der Kapgraseule (T. capensis). Auf dem Malaiischen Archipel kommen ferner mehrere Arten der Gruppe Neuhollandeulen & Co. (Masked Owls) vor, wie Serameule (T. almae), Goldeule (T. aurantia), Minahassaeule (T. inexspectata), Taliabueule (T. nigrobrunnea) und Molukkeneule (T. sororcula). Die phylogenetischen Beziehungen zwischen diesen Arten müssen noch näher untersucht werden, doch wir wissen bereits, dass die Taliabueule (trotz des englischen Namens Taliabu Masked Owl) der Australschleiereule näher steht als anderen Eulen der Neuholland-Gruppe.

Australien und Ozeanien Wie der Malaiische Archipel sind Australien und Ozeanien ein Diversitäts-Hotspot. In Australien gibt es wie in Asien zwei unterschiedliche Tyto-Gruppen: Die australische Unterart der Australschleiereule (Tyto javanica delicatula) hat sich von Australien aus auf zahlreiche pazifische Inseln bis hin nach Amerikanisch-Samoa und Niue ausgebreitet und ist zurzeit dabei, Neuseeland zu besiedeln. Die asiatische Population der Australschleiereule (T. j. javanica) zählt zur selben Art wie die Australschleiereulen aus Australien/Ozeanien; die beiden Linien weisen nur eine geringe genetische Divergenz auf. Die (Östliche) Graseule (Tyto longimembris) kommt in Australien und Neuguinea vor, während die Neuhollandeule (T. novaehollandiae) auch in Tasmanien verbreitet ist (Unterart T. n. castanops). Die Rußeulen (T. tenebricosa) weisen als einzige Art weitgehend schwarzes Gefieder auf; sie leben in den Wäldern Ostaustraliens (T. t. tenebricosa und T. t. multipunctata) und Neuguineas (T. t. arfaki). Manche Autoren behandeln die Rußeule als zwei Arten (T. tenebricosa und T. multipunctata: Fleckenrußeule), doch werden weitere Untersuchungen benötigt, um die genauen phylogenetischen Beziehungen innerhalb der Rußeulen aufzuklären. Insgesamt verdienen Australien und Ozeanien größere Aufmerksamkeit, um die erstaunlich hohe Diversität in der ansonsten recht homogenen Familie zu erklären. Amerikanischer Doppelkontinent Die einzigen anerkannten Tyto-Arten in Nord-, Mittel- und Südamerika sind die Amerikaschleiereule (T. furcata) (Abb. 1.10) und die Hispaniolaschleiereule (T. glaucops) von der gleichnamigen Insel Hispaniola. Die genauen phylogenetischen Beziehungen zwischen verschiedenen Populationen und das Ausmaß ihrer genetischen Divergenz sind bisher noch nicht bekannt. Die Karibikregion ist besonders interessant, da sich die Morphologie der Schleiereulen zwischen nahegelegenen Inseln deutlich unterscheidet. In Nordamerika sind die verschiedenen Populationen genetisch recht homogen, viel stärker als in Europa. Dies zeigt, dass der Austausch von Individuen zwischen Populationen innerhalb Nordamerikas

1 Einführung

20

wesentlich größer ist als in Europa. Es steht außerdem in Einklang mit der Tatsache, dass Amerikaschleiereulen stärker dispergieren als ihr europäisches Gegenstück und sogar eine echte Migration unternehmen, was in Europa anscheinend nicht der Fall ist. Allerdings stellen die Rocky Mountains eine Migrationsbarriere zwischen den Eulen der Westküste und jenen aus dem Mittleren Westen und von der Ostküste dar.

1.4.2 Offene Forschungsfragen • Dank der neuen Entwicklungen in der Genomanalyse ist heute die Sequenzierung Tausender Gene möglich. Dies wird neue Erkenntnisse zu den phylogenetischen Beziehungen innerhalb der Tytonidae erlauben und ferner dazu beitragen, die weltweiten Verbreitungsrouten der Schleiereulen zu identifizieren. • Nach der letzten Eiszeit erfolgte die Wiederbesiedlung Europas durch die Schleiereule über zwei Routen: Eine verlief vom Nahen Osten in Richtung Griechenland, die anderen von der Iberischen Halbinsel in Richtung Deutschland. Diese beiden Schleiereulenlinien standen ursprünglich, nämlich vor der letzten Eiszeit, in Kontakt. Im Verlauf der Wiederbesiedlung wurden sie getrennt und kommen jetzt wieder auf der Balkanhalbinsel in Kontakt, und zwar in einen so genannten Sekundärkontakt. Die Trennung dauerte möglicherweise ausreichend lange, damit sich die beiden Linien genetisch trennen konnten. Man sollte Genanalysen durchführen, um zu klären, ob es in der Hybridisierungszone Unverträglichkeiten zwischen den Eulen gibt, die aus der iberischen Linie stammen, und denjenigen aus der nahöstlichen Linie.

1.5

Warum ist die Schleiereule weltweit verbreitet?

1.5.1 Eine Erfolgsgeschichte 77 Die Schleiereule (Common Barn Owl: Tyto alba, T. furcata und T. javanica) zählt zu den

wenigen rezenten Tieren, die Kosmopoliten, also weltweit verbreitet, sind. Um sich erfolgreich über die ganze Welt auszubreiten (Abb. 1.12 und 1.13), sind einige Eigenschaften wesentlich: das Zurechtkommen mit einem großen Spektrum von Umweltbedingungen, Wettbewerbsfähigkeit beim Besetzen ökologischer Nischen sowie die Fähigkeit, an verschiedensten Örtlichkeiten zu brüten und sich effektiv zu auszubreiten.

Nur wenige Landwirbeltiere sind Kosmopoliten, darunter Wanderfalke, Fischadler, Kuhreiher, Schleiereule und der Mensch. Dank seiner außergewöhnlichen kognitiven Fähigkeiten konnte Homo sapiens fast sämtliche Lebensräume erobern und unter vielfältigen Bedingungen überleben. Da uns entsprechende Daten fehlen, müssen wir bei der Schleiereule leider spekulieren, warum sie so erfolgreich war und ist. Ich möchte daher potenzielle Forschungsrichtungen diskutieren, um die weltweite Verbreitung dieses Vogels zu erklären. Abb. 1.12  Über diese Routen hat die Schleiereule die Welt besiedelt (Hintergrund: Natural Earth). Die Schleiereule und ihre Verwandten stammen vermutlich aus Australasien

Etliche Anpassungen sind nötig, damit ein nachtaktiver Beutegreifer sich auf der ganzen Welt verbreiten kann. Was ist so einzigartig an der Schleiereule, wenn wir sie mit anderen Vögeln – und insbesondere mit anderen nachtaktiven Tieren – vergleichen?

Weißes Gefieder Anders als bei der Schneeeule, die optisch tatsächlich mit ihrem weiß-verschneiten Hintergrund verschmilzt, hat sich das weiße Gefieder bei der Schleiereule nicht zur Tarnung entwickelt. Stattdessen hat sich die weiße Färbung möglicherweise herausgebildet, um Beutetiere aufzuschrecken, die durch das plötzliche Erscheinen dieses unübersehbaren Räubers so irritiert sind, dass sie nicht rasch genug fliehen können. Weiße Federn blitzen jäh im Gesichtsfeld eines Kleinsäugers auf, worauf dieser lange genug erstarrt, um ergriffen zu werden, bevor sein Fluchtreflex einsetzt – bei Vollmond wird diese Wirkung noch verstärkt. Da Kleinsäuger nur selten auf weiße Beutegreifer treffen, haben sie keine Gelegenheit zu lernen, wie sie reagieren müssen. Die meisten nachtaktiven Prädatoren verlassen sich bei der Jagd auf Tarnung, deshalb ist bei Kleinsäugern der Selektionsdruck nicht stark genug, um die Evolution einer angemessenen Reaktion auf weiße Prädatoren wie die Schleiereule zu begünstigen. Ich stelle daher die Hypothese auf, dass weißes Gefieder der Schleiereule ermöglicht hat, auf der ganzen Welt effizient zu jagen. Wenn die durch weißes Gefieder vermittelten Vorteile in bestimmten Situationen nicht mehr gegeben waren, haben Vertreter der Tytonidae andere Gefiederzeichnungen und -färbungen entwickelt, nämlich rostbraune oder sogar schwarze, wie bei den Rußeulen. Hören, aber nicht gehört werden Die Schleiereule fliegt so leise, dass Mäuse ihre Gegenwart kaum bemerken; zudem kann die Eule dank ihres ausgezeichneten Gehörs und des Gesichtsschleiers ihre Beute punktgenau orten. Die Fähigkeit lautlos zu fliegen ist wahrscheinlich die Voraussetzung zur Jagd im Gleitflug, einer Eigenschaft, die nur wenige andere Vögel, beispielsweise die Weihen, besitzen. Daher kann die Schleiereule überall, wo sie hinkommt, Beute finden, meistens Kleinsäuger, die fast überall vorkommen. Opportunistische Ernährung Da sich die Schleiereule nicht auf einen einzigen Beutetyp spezialisiert hat, ist sie in ihrer Ernährung sehr flexibel und reagiert also wenig empfindlich auf wechselnde Beuteverfügbarkeit. Daher war es für Schleiereulen, die in neue Gebiete vordrangen, vermutlich kein Problem, sich auf neue Beutetypen einzustellen. Eine mittlere Körpergröße trug ebenfalls dazu bei, diese breite ökologische Nische zu besetzen. Blitzschnelle Evolution Nur wenige Schleiereulenindividuen verbreiten sich über große Distanzen; über die Zeit gesehen, besiedeln jedoch genügend Individuen neue Gebiete. Wenn die Schleiereulen bei dieser Ausbreitung ein großes Gewässer überquert und „neue Ufer“ erreicht hatten, bildeten sie rasch neue morphologische, physiologische und verhaltensbiologische Anpassungen aus, die ein Überleben im Neuland ermöglichten. Begünstigt wird dieser Vorgang durch die Tendenz der Schleiereulen, im Geburtsgebiet zu bleiben. Neu etablierte Populationen konnten

1.5  Warum ist die Schleiereule weltweit verbreitet?

23

somit schnell neue Anpassungen entwickeln, da nur ein sehr geringer Influx von weiteren Einwanderern erfolgte, die in Verhalten und Morphologie noch nicht angepasst waren.

Rasche Differenzierung, aber begrenzte Speziation Obwohl Schleiereulen in der Lage sind, sich rasch an eine neue Umwelt anzupassen, weisen die amerikanischen, eurasischen, afrikanischen und australischen Schleiereulen, die Neuhollandeulen & Co. wie auch die Graseulen große Ähnlichkeiten in Morphologie und Gefieder auf. Daher hat sich die Familie Tytonidae nicht in allzu viele unterschiedliche Arten entwickelt – was darauf schließen lässt, dass sie einen nahezu perfekten Bauplan besitzt, der nicht oder zumindest nicht in hohem Maße modifiziert werden musste. Dass die Schleiereule und ihre Verwandten also in der Lage waren und sind, neue Lebensräume zu besiedeln, basierte demnach nicht auf der Evolution grundlegend neuer Anpassungen, sobald die Eulen neue Gebiete erreichten. Vielmehr verfügten die Schleiereulen von vornherein über die nötigen adaptiven Voraussetzungen, um die ganze Welt zu besiedeln. Babyboom Für einen Vogel dieser Größe ist die Schleiereule außergewöhnlich fruchtbar: Sie brütet bereits im ersten Lebensjahr zum ersten Mal und kann bis zu drei Jahresbruten aufziehen, jede davon mit bis zu zehn flüggen Nachkommen (Flügglingen). Das macht die Schleiereule zu einem r-Strategen mit einer Reproduktionsrate, die mit jener der viel kleineren Singvögel vergleichbar ist. Diese außerordentliche Fruchtbarkeit hat der Schleiereule mit Sicherheit geholfen, unbesetzte ökologische Nischen in neu besiedelten Gebieten rasch zu besetzen. Sicherlich kann die Fähigkeit der Schleiereule, anthropogene Lebensräume zu nutzen, die Expansion ihres Verbreitungsgebiets innerhalb der Kontinente erklären, nicht jedoch ihre weltweite Ausbreitung. Denn lange bevor die Landwirtschaft vor 10 000 Jahren entstand, war es schon zur Expansion der Schleiereule gekommen. Seit dieser Zeit haben die Menschen Wälder gerodet und damit neue offene Lebensräume geschaffen, in denen die Schleiereule sich besonders gut fortpflanzen und Nahrung suchen konnte. Diese menschlichen Aktivitäten eröffneten der Schleiereule daher neue Möglichkeiten, in Gebiete vorzudringen, die bis dahin unwirtlich waren (wie in Ohio in den USA, wo früher nicht genügend offene Habitate zur Verfügung standen). Die Landwirtschaft hat auch für mehr Futter für Nagetiere gesorgt und damit wiederum für deren Prädatoren, wie die Schleiereule. Alles hat jedoch Grenzen, und Merkmale, die die eine „Währung“ fördern, gehen häufig auf Kosten einer anderen Währung. Die Schleiereule ist zwar tatsächlich ein erfolgreicher Kolonisator, doch ihre Verbreitung erstreckt sich nicht bis in die nördlichsten Regionen von Nordamerika und Eurasien oder in die Antarktis. Außerdem wandert sie im Winter selten in mildere Regionen ab, obwohl sie äußerst kälteempfindlich ist. Rein spekulativ möchte ich behaupten, dass diese beiden Merkmale (Kälteempfindlichkeit und fehlender Zug/Migration) eine wesentliche Rolle für die Schleiereulenverbreitung gespielt haben. Die andere Seite der Medaille sind alle anderen Merkmale, die ihr eine weltweite Besiedlung

Abb. 1.13  Eine Schleiereule fliegt durch einen Wald auf Madagaskar

1 Einführung

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Abb. 1.14  Im alten Ägypten war die Schleiereule ein mythisches Tier

ermöglicht haben. Möglicherweise würde eine Widerstandsfähigkeit gegen Kälte morphologische, physiologische und verhaltensbiologische Anpassungen erfordern, die mit der Fähigkeit, sich über die ganze Welt auszubreiten, nicht kompatibel sind.

1.6

Warum leben Schleiereulen in der Nähe der Menschen?

1.6.1 Kulturfolger 77 Die Herrschaft des Menschen hat der Natur nicht gutgetan. Über Jahrtausende wurden

viele Wildtiere bejagt oder in entlegene Gegenden zurückgedrängt. In manchen Fällen sind durch menschliche Aktivitäten jedoch gute Nahrungsquellen für bestimmte Arten entstanden, oder es wurden die Prädatoren einiger nichtdomestizierter Tierarten beseitigt, z. B. für Krähenvögel, Möwen und Ratten. Während manche Schleiereulenpo-

1.6  Warum leben Schleiereulen in der Nähe der Menschen?

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Abb. 1.15  Eine Schleiereule mit Beute im Schnabel kehrt in eine Scheune zurück

pulationen von menschlichen Aktivitäten profitiert haben, werden Störungen durch Menschen für die meisten Tytonidae zu einem ernsthaften Problem, das im Lauf der Zeit immer mehr zunimmt.

Die Beziehung zwischen Mensch und Tier ist sehr alt und lässt sich mindestens bis in die Zeit der Pharaonen (Abb. 1.14), der alten Griechen und der chinesischen Kaiserdynastien zurückverfolgen. Von Menschen errichtete Bauwerke boten für etliche Vogelarten neue, vorher nichtexistente Brutplätze, z. B. für Haussperling, Mehlschwalbe und Schleiereule. Zur Schleiereule hat der Mensch eine besondere Hassliebe entwickelt (Abb. 2.13). Aus verschiedensten Gründen faszinieren Schleiereulen uns seit eh und je – denken wir nur an ihre Vorliebe für Brutplätze in Gebäuden (Abb. 1.15), ihre nächtliche Lebensweise, ihre grusligen Rufe, ihr engelhaft/geisterhaft weißes Gefieder und ihr flaches Gesicht. Ursprünglich brütete die Schleiereule vor allem in Fels- und Baumhöhlen. Doch vieles, was Menschen gebaut hatten, erwies sich als geeignete Alternative, sodass die Eule ihr Verbreitungsgebiet Seite an Seite mit dem Menschen vergrößern konnte. Schleiereulen zählen also zu den wenigen Tierarten, die von menschlichen Aktivitäten profitiert haben – ganz im Gegensatz zu anderen Tytonidae, die auf dem Boden (Graseulen) in Wäldern (Rußeulen und

Abb. 1.16  Sogar in der Großstadt leben Schleiereulen

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1 Einführung

ein paar weitere) oder in großen Baumhöhlen brüten (Neuhollandeulen & Co.). Das Leben in unmittelbarer Nähe des Menschen machte es ferner nötig, dass Schleiereulen mit dem Stress umgehen konnten, der sich durch den Menschen und seine Alltagsroutine ergibt (Abb. 1.16). Als die Frühmenschen aus der Jäger-und-Sammler-Phase zur Landwirtschaft wechselten, schuf der Anbau von Weizen und anderen Körnerfrüchten bessere Lebensbedingungen für Kleinsäuger, die die Hauptnahrungsquelle der Schleiereule darstellen. Wälder wurden gerodet – günstig für die Schleiereule, da sie in offenem Gelände auf Nahrungssuche geht. Die Gebäude boten neue Brut- und Ruheplätze. Doch inzwischen hat sich die Situation dramatisch geändert: Nach der Renovierung oder dem Abriss alter Gebäude verbleiben meist weniger Brutmöglichkeiten für die Schleiereule. Die Intensivierung der Landwirtschaft führt dazu, dass die Vielfalt der möglichen Nahrungsquellen für Kleinsäuger abnimmt. Außerdem setzt man große Mengen an giftigen Rodentiziden (Giften für Nagetiere) ein, was die Beutetiere der Schleiereule noch mehr beeinträchtigt und die Eulen selbst vergiftet. Auch der intensive Straßenverkehr erhöht das Kollisionsrisiko für Schleiereulen; sie sind besonders gefährdet, da sie oft niedrig über dem Boden dahingleiten.

Weiterführende Literatur Abschnitt 1.4 Antoniazza S, Ricardo K, Neuenschwander S, Burri R, Gaigher A, Roulin A, Goudet J (2014) Natural selection in a post-glacial range expansion: the case of the colour cline in the European barn owl. Mol Ecol 23:5508–5523 Burri R, Antoniazza S, Gaigher A, Ducrest A-L, Simon C, Fumagalli L, Goudet J, Roulin A, The European Barn Owl Network (2016) The genetic basis of color-related local adaptation in a ring-like colonization around the Mediterranean. Evolution 70:140–153 Machado AP, Clément L, Uva V, Goudet J, Roulin A (2018) The Rocky Mountains as a dispersal barrier between barn owl (Tyto alba) populations in North America. J Biogeogr 45:1288–1300 Prum R, Berv JS, Dornburg A, Field DJ, Townsend JP, Lemmon EM, Lemmon AR (2015) A comprehensive phylogeny of birds (Aves) using targeted next-generation DNA sequencing. Nature 526:569–573 Taberlet P, Fumagalli L, Wust-Saucy A-G, Cosson J-F (1998) Comparative phylogeography and postglacial colonization routes in Europe. Mol Ecol 74:453–464 Uva V, Päckert M, Cibois A, Fumagalli L, Roulin A (2018) Comprehensive molecular phylogeny of barn owls and relatives (Family: Tytonidae), and their six major Pleistocene radiations. mol Phylogenet Evol 125:127–137 Wink M, Heidrich P, Sauer-Gürth H, Elsayed AA, Gonzalez J (2008) Molecular phylogeny and systematics of owls (Strigiformes). In: König C, Weick F (Hrsg) Owls of the World, 2. Aufl. Christopher Helm, London, S 42–63 Abschnitt 1.5 San-Jose LM, Séchaud R, Schalcher K, Judes C, Questiaux A, Oliveira-Xavier A, Gémard C, Almasi B, Béziers P, Kelber A, Amar A, Roulin A (2019) Differential fitness effects of moonlight on plumage colour morphs in barn owls. Nat Ecol Evol 3:1331–1340

2

Artenschutz

2

2.1

Warum sollten wir Schleiereulen schützen?

2.1.1 Es ist niemals zu spät, Unwiederbringliches zu retten 77 Für Ornithologen ist Naturschutz eine Selbstverständlichkeit und drängende Moti-

vation; wir müssen aber auch die Gesellschaft als Ganzes davon überzeugen. Warum müssen wir Geld und menschliche Ressourcen in den Naturschutz investieren? Warum sollten wir Schleiereulen schützen?

Der Aufstieg von Homo sapiens als dominante, die Erde beherrschende Art gilt in der anthropozentrischen Betrachtungsweise als vertretbar. Drei Argumente werden vorgebracht: 1. Die Überlegenheit des Menschen über alle anderen Organismen ist der Wunsch einer höheren Macht (Gott), und wir sind das Werkzeug dieser göttlichen Einflussnahme. 2. Unsere intellektuelle Überlegenheit gibt uns das Recht, alle anderen „niedrigeren“ Organismen zu beherrschen. 3. Über Jahrtausende unterliegt der Mensch, wie die anderen Organismen auch, der natürlichen Selektion; heute regiert demnach der Mensch über die Welt, so wie vor Jahrmillionen Jahren die Dinosaurier – was ist daran auszusetzen? Folglich könnte man die negativen Einflüsse des Menschen als „natürlich“ oder legitim ansehen, solange sie für die Menschheit von Nutzen sind. Das Paradox hierbei ist allerdings, dass das, was heute nützlich erscheint, morgen zur Katastrophe werden kann.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Roulin, Schleiereulen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62514-9_2

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2.1  Warum sollten wir Schleiereulen schützen?

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Abb. 2.1  Weltweit werden Wälder abgeholzt, wie hier in Tasmanien (© Michael Todd)

Großflächige Rodungen (Abb. 2.1) liefern zwar Holz und mehr Raum für die Landwirtschaft, doch ein übermäßiger Waldverlust hat große Auswirkungen auf die Ökosystemdienste, zum Beispiel den Schwund von Wasserressourcen, verminderte CO2-Resorption, Bodendegradation, ganz zu schweigen vom Verlust an Biodiversität. Der Einsatz von DDT ist ein weiteres Beispiel: Dieses Insektizid tötet Insekten ab, damit die Pflanzenproduktion gesteigert wird, rottet aber gleichzeitig die Nutzinsekten aus, die diese Pflanzen bestäuben. Mithilfe der Gentechnik könnte man genetisch modifizierte Bestäuberinsekten schaffen, die gegen Insektizide resistent sind, doch dieser Ansatz könnte ungewollte negative Auswirkungen haben. Die Wissenschaft kann kurzfristige, häufig komplexe und clevere Lösungen entwickeln, doch oft machen sich Wissenschaftler die gesellschaftlichen und ökologischen Konsequenzen nicht in vollem Umfang bewusst oder untersuchen sie nicht; langfristige Folgen lassen sich möglicherweise auch nicht vorhersagen. Eine Wirtschaftsordnung, die Gier erzeugt, zur Übernutzung der natürlichen Ressourcen führt und dadurch das Wirtschaftswachstum fördert, kann tatsächlich kurzfristige Gewinne generieren. Inzwischen ist aber abzusehen, dass sich die natürlichen Ressourcen erschöpfen und die Biodiversität untergeht. Und das geht auf unsere aktuelle Wirtschaftshörigkeit zurück. Schon bevor der Artenreichtum in freier Natur verschwunden ist und nur mehr wenige Individuen in besonderen Schutzgebieten und Zoos übrig sind, werden wir den Punkt erreicht haben, an dem es kein Zurück mehr gibt. Die Biodiversität liefert den Menschen hochwertige Ressourcen und die gesunde Umwelt, auf die wir angewiesen sind. Eine erfolgreiche Koexistenz mit anderen Arten wird ein Zeugnis für unsere Fähigkeit sein, nachhaltig und innerhalb ökologischer Grenzen zu leben. Daher sind wir zum Schutz der Natur verpflichtet.

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2 Artenschutz

Abb. 2.2 Nahrungskette: Eine Schleiereule mit Waldmaus im Schnabel; die Maus hält ihrerseits noch eine Kornähre im Mund. Das Foto wurde mit einer Wildkamera in der Schweiz aufgenommen (© Robin Séchaud & Kim Schalcher)

Ökologische Folgen der urbanen Sichtweise Die meisten Menschen leben in Städten, abgeschnitten von den natürlichen Lebensräumen, in denen sich Homo sapiens ursprünglich entwickelt hat, und auch von den Lebensräumen, ohne die unsere Gesellschaft nicht existieren kann. Viele Menschen machen sich z. B. nicht einmal darüber Gedanken, wie Trinkwasser in den Wasserhahn gelangt – als ob der leichte Zugang zu Trinkwasser etwas völlig Normales wäre. Die meisten fragen sich: „Warum sollten wir die Natur schützen?“ Bei etwas intensiverem Nachdenken könnte die Frage auch lauten: „… und warum ausgerechnet die Schleiereule?“ Hier ist die Antwort: Top-Prädatoren wie die Schleiereule stabilisieren Ökosysteme, indem sie die niedrigeren trophischen Stufen (Stufen der Nahrungskette, Abb. 2.2) strukturieren. So hat die Wiedereinführung der Wölfe in Nordamerika zu einem Gleichgewicht in den Hirschpopulationen geführt und damit wiederum zu harmonischem Wachstum und ausgewogener Zusammensetzung der Wälder. In Europa nehmen dagegen die Wildschweine überhand und führen zu Problemen in der Landwirtschaft, weil natürliche Prädatoren wie der Wolf getötet wurden. Schließlich ist die Biodiversität auch einfach erhaltenswert, um unsere natürliche Neugier zu befriedigen. Letztlich ist Naturschutz synonym mit unserer Fähigkeit innerhalb von Grenzen zu leben – und in letzter Konsequenz mit unserem Überleben. Biologen, die wirkungsvolle Naturschutzmaßnahmen implementieren möchten, müssen sich zuallererst ein detailliertes Wissen aneignen. Sobald es um Anträge auf öffentliche Finanzierung von Naturschutzforschung geht, sind Stadtmenschen jedoch oft unkoope-

2.1  Warum sollten wir Schleiereulen schützen?

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rativ und verlangen weitere Begründungen. Ein guter Fernsehfilm über Tiere reicht vielleicht aus, um das Gefühl „Wir lieben die Natur“ zu vermitteln, doch direkt oder indirekt beim Naturschutz mitmachen möchten wir nicht. Für manche Menschen hat die Natur möglicherweise einen ästhetischen oder Freizeitwert: Wälder dienen der Entspannung, und eine senkrechte Felswand wird nur als Ort für Extremsport, wie Klettern oder BaseJumping, wahrgenommen. Selbstverständlich ist die Natur viel mehr als das und gehört den Menschen nicht einfach zur Freizeitgestaltung oder zu irgendwelchen anderen Zwecken.

Eulen für den Frieden Auf der Welt leben vermutlich mindestens 10 Millionen Arten. Warum sollte uns besonders die Schleiereule am Herzen liegen? Dieser Vogel fasziniert uns, er regt unsere Fantasie an, macht uns aber gleichzeitig Angst und ist mit alten Mythen und Aberglauben verbunden. Wenn wir Berichte über das Leben der Schleiereule lesen, so können wir die katastrophalen Auswirkungen der globalen anthropogenen Veränderungen besser nachempfinden, von denen auch die Schleiereule betroffen ist. Seit unzähligen Jahren dient uns die Natur als Inspiration für den Fortschritt in Wissenschaft, Mode, Kunst und vielen anderen Bereichen. Die Schleiereule bildet keine Ausnahme und hat zu Fortschritten im Gebiet von Luftfahrt, Neurowissenschaften und Biomedizin beigetragen. Sie ist auch ein ideales Lernobjekt, vor allem, wenn das Bewusstsein für den ökologischen Stellenwert von Naturschutz gefördert werden soll. In den Speiballen (Gewöllen) der Schleiereule sind die Knochen ihrer Beutetiere besonders gut erhalten – eine einzigartige Gelegenheit, um die Räuber-Beute-Beziehungen anhand einer spannenden Gewölleanalyse zu untersuchen! Die Schleiereule kann sogar einen Weg zum Frieden weisen: Schleiereulen haben Bürger aus Israel, den Palästinensischen Autonomiegebieten und Jordanien an einen Tisch gebracht. In dieser von langjährigen Auseinandersetzungen geprägten Region sind direkte Interaktionen von Mensch zu Mensch nötig, um den Dialog zwischen den von Konflikten gezeichneten Bevölkerungsgruppen in Gang zu halten. So wie in vielen anderen Regionen setzen auch die Landwirte im Nahen Osten beträchtliche Mengen an Rodentiziden ein, um Langschwanzmäuse und Wühlmäuse umzubringen, die ihre Ernte gefährden. Nach vielen Diskussionen, Treffen und Beratungen hat man sich zur biologischen Schädlingskontrolle entschlossen und setzt jetzt bevorzugt Schleiereulen anstelle großer Rodentizidmengen ein. Dies bedeutet einen deutlichen Kulturwandel und einen großen Erfolg, wenn man bedenkt, dass Schleiereulen für viele Bauern früher als schlechtes Omen galten. Es ist das gemeinsame Problem der Schädlinge in der Landwirtschaft, das israelische, palästinensische und jordanische Bauern an einen Tisch bringt. Und man hat die Notwendigkeit für eine Lösung erkannt, die sowohl wirtschaftlich als auch ökologisch vertretbar ist. Dieses Problem „kennt keine Grenzen“, denn Mäuse und Eulen kümmern sich ganz sicher nicht um künstliche, menschengemachte Grenzen. Durch diesen Ansatz werden die dortigen Bewohner erfolgreich zusammengebracht, denn man vermeidet heikle Themen wie Kultur, Traditionen und Religion, die dem Konflikt zugrunde liegen, und bietet stattdessen eine gemeinsame Basis zum Dialog an. Summa summarum hat die Schleiereule alle nötigen Eigenschaften, um als Flaggschiffart für den Naturschutz generell zu gelten, und sie könnte sogar zum Friedenssymbol werden (Abb. 2.3). So gesehen verkörpert die Mensch-Schleiereule-Beziehung genau das,

2 Artenschutz

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Abb. 2.3  Die Schleiereule ist eine Flaggschiffart für den Naturschutz. Im Rahmen der Genfer Friedenswoche wurde am 18. November 2015 im Maison de la Paix („Haus des Friedens“) beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik ein Projekt mit Schleiereulen als Mittel zur biologischen Schädlingskontrolle im Nahen Osten vorgestellt. Bei dieser Veranstaltung wurde betont, welche wichtige Rolle der Naturschutz bei der Versöhnung zwischen Israelis, Palästinensern und Jordaniern spielt

was der Aktivist der Aborigines und Dichter Bobby McLeod sagte: „Um uns selbst zu heilen, müssen wir unseren Planeten heilen, und um unseren Planeten zu heilen, müssen wir uns selbst heilen.“

2.2

Ethische Gesichtspunkte

2.2.1 Der Zweck heiligt nicht immer die Mittel 77 Um effektive Naturschutzmaßnahmen umzusetzen, müssen wir die Tiere in ihrem na-

türlichen Habitat beobachten. Unter Umständen kann aber schon die schlichte Gegenwart von Ornithologen vor Ort zu Störungen im täglichen Leben der Vögel führen. Oft sind wir in der paradoxen Situation, dass wir möglicherweise ein Tier stören müssen, wenn wir es schützen wollen (Abb. 2.4 und 2.5). Wie können wir dieses Dilemma lösen?

Wenn wir mit Tieren arbeiten, dürfen wir gleichzeitig ethische Gesichtspunkte nicht vernachlässigen. Ein komplexes Problem, denn wir müssen die Notwendigkeit, wissenschaftliche Daten für Naturschutzprojekte zu erheben, mit der Notwendigkeit, die Tiere nicht zu stören, in Einklang bringen. Manche Wissenschaftler sind der Ansicht, menschliches Eingreifen könne toleriert werden, sogar bei negativen Auswirkungen auf einige Individuen, solange keine Populationen der Art gefährdet würden. Andere stehen auf dem Standpunkt, bereits der Vorgang, ein Individuum zu wissenschaftlichen Zwecken einzufangen, sei ein nicht tolerierbarer Eingriff.

2.2  Ethische Gesichtspunkte

35

Abb. 2.4  Zu Forschungszwecken muss man häufig wilde Schleiereulen fangen und untersuchen

Nehmen wir an, dass die Tiere aufgrund der Forschungsarbeit nicht (jedenfalls nicht messbar) beeinträchtigt werden und ihr Fortpflanzungserfolg durch diese Arbeit nicht gefährdet wird, so kann es schwierig sein, den Begriff „Störung“ zu definieren, ohne psychologische Termini zu verwenden. Meistens achten Wissenschaftler strikt darauf, etwaige negative Auswirkungen eines Eingriffs zu minimieren, um sicherzustellen, dass die Tiere nicht unter Langzeitfolgen leiden und ihr Bruterfolg nicht aufs Spiel gesetzt wird. Da es jedoch so schwierig ist, Störungen zu messen bzw. zu definieren, was wir eigentlich unter Störung verstehen, lässt sich ein potenziell negativer Einfluss auf Einzelindividuen kaum quantifizieren.

Experimentelles Vorgehen In der Verhaltensforschung und Ökologie sind verschiedene Ansätze üblich, um Fragen aufzuklären. Die experimentelle Methode, bei der die Tiere manipuliert (in die Hand genommen) werden, ist oft umstritten. Auch wenn Experimente für Biologen nicht die einzige Möglichkeit darstellen, um die natürliche Welt zu erforschen, sind sie für viele Ökologen die Methode der Wahl. Die Logik eines Versuchsaufbaus besteht darin, einen singulären Faktor so zu verändern, dass seine Wirkung unabhängig von allen anderen Variablen gemessen werden kann. Wenn alle anderen Bedingungen gleich bleiben, ist das Einzige, was die Individuen einer Versuchsreihe unterscheidet, der jeweilige experimentelle Ansatz.

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2 Artenschutz

Abb. 2.5  In einem sogenannten Playback-Experiment spielt man zwei jungen Schleiereulengeschwistern die typischen „Verhandlungsrufe“ vor (Abschn. 10.2)

Will man z. B. ermitteln, ob Schleiereuleneltern die Anzahl der Beutestücke, die sie jede Nacht pro Nestling heranschaffen, relativ zur Brutgröße anpassen, so kann man die Brutgröße experimentell manipulieren. Um dabei die Qualität des Habitats von der Fähigkeit der Eltern abzukoppeln, die Fütterungshäufigkeit in Relation zur Familiengröße zu modifizieren, kann man eine unterschiedliche Anzahl der frischgeschlüpften Jungvögel zwischen zufällig ausgewählten Nestern austauschen. Man könnte zum Beispiel zwei Jungvögel aus Nest A in Nest B setzen und einen Jungvogel aus Nest B in Nest A. Wenn wir diesen Austausch von zwei Nestlingen gegen einen Nestling bei vielen Brutpaaren durchführen, werden wir eine repräsentative Stichprobe von Nestern haben, bei denen die Brutgröße experimentell um einen Nestling vergrößert oder verkleinert wurde. Selbst wenn die Eltern ursprünglich eine bestimmte Anzahl an Nestlingen aufziehen wollten, zwingen wir sie jetzt dazu, ein Küken mehr oder weniger zu versorgen. Dieser Versuchsaufbau ist bei Vögeln unproblematisch, da die Eltern ihren Nachwuchs normalerweise nicht persönlich identifizieren können. Nach ein paar Wochen können wir die elterliche Fütterungsrate messen und die Hypothese prüfen, ob Eltern, die eine experimentell verkleinerte Brut versorgen, pro Nacht pro Nestling mehr Beutestücke bringen als Eltern, die eine experimentell vergrößerte Brut versorgen. Warum reicht es nicht aus, die elterliche Fütterungsrate in Relation zum Bruterfolg in nichtmanipulierten Nestern zu messen? Ganz einfach deshalb, weil es schwierig ist, unter nichtexperimentellen Bedingungen A-priori-Vorhersagen zu machen. Möglicherweise wird z. B. in größeren Bruten jeder einzelne Nestling deshalb weniger häufig gefüttert, weil die Nahrungsressourcen begrenzt sind und auf mehr Nestlinge verteilt werden müssen. Wenn besonders „fitte“ Eltern oder Eltern, die in einem besseren Habitat leben, in der Lage sind, größere Bruten zu produzieren, wäre es aber auch möglich, dass jeder Nestling in größeren Bruten mehr Beutestücke erhält. Diese „fitten“ Eltern könnten mehr Nachkommen auf-

2.2  Ethische Gesichtspunkte

37

ziehen und diese gleichzeitig intensiver füttern, als es schwächeren Eltern in einem ungünstigeren Lebensraum möglich wäre. Für Laien ist das Wort „Versuch“ oder „Experiment“ oft mit der Vorstellung von einer grausamen Behandlung der Tiere assoziiert. Ein Evolutionsökologe, der verstehen will, warum sich bestimmte physiologische, morphologische oder verhaltensbiologische Merkmale in einer bestimmten Umwelt entwickelt haben, muss jedoch zwangsläufig einen Versuchsaufbau wählen, bei dem die interessierende Variable innerhalb der natürlichen Variationsbreite bleibt. Daher macht es keinen Sinn, experimentell Bruten mit 16 Nestlingen zu schaffen, wenn die maximale Brutgröße in freier Natur bei 12 liegt. Wenn wir beobachten, dass Eltern, die 16 Nestlinge versorgen, jedes Einzelküken seltener füttern als Eltern, die Bruten mit nur 5 Nestlingen versorgen, sagt uns das nichts darüber, ob Eltern ihre Jagdaktivität zugunsten ihrer Nachkommen auf Kosten der eigenen Ernährung steigern. In Versuchen sollte eine Tierart immer realistischen Bedingungen ausgesetzt werden, die nicht „grausamer“ sind als die Lebensbedingungen, denen sie Tag für Tag begegnet. Es ist nicht trivial, einen angemessenen Versuchsaufbau umzusetzen. Im oben geschilderten „Umsetzungsexperiment“ müssen wir verschiedene Brutgrößen den Eltern und Habitaten zufällig zuteilen, denn wahrscheinlich produzieren kräftigere Eltern mehr Nachkommen. Wenn wir also den Effekt der Brutgröße unabhängig von anderen Variablen messen möchten, sollten kräftige und schwache Eltern in verschiedensten Habitaten wechselnder Qualität die Gelegenheit haben, eine vergleichbare Anzahl an Jungen aufzuziehen. Mit sorgfältig konzipierten Versuchen lässt sich eine fast unendliche Vielfalt an Fragen beantworten, die wir vor allem aus Wissensdurst stellen. Berücksichtigen wir allerdings, dass zurzeit das „sechste Massenaussterben“ stattfindet, und beherzigen wir dabei die zweite „Warnung der Wissenschaftler der Welt an die Menschheit“, so wird klar, dass wir uns jetzt eher darauf konzentrieren sollten, nach Antworten zu suchen, die den größten Nutzen für Naturschutz und Umwelterziehung bringen.

Bringen wissenschaftliche Untersuchungen der Natur oder den Wissenschaftlern mehr? Evolutionsökologen arbeiten oft mit wildlebenden Organismen im Freiland. Dabei kommen sie mit den verschiedensten Interessensgruppen zusammen, wie Landwirten, Jägern und Naturliebhabern, die das Freiland ebenfalls auf die eine oder andere Weise nutzen. Manchmal ist der tatsächliche Nutzen von Beobachtungen fragwürdig, und gelegentlich wirkt es, als ob Wissenschaftler die natürliche Umwelt nur für ihre eigenen Karriereinteressen benutzen, statt letztlich dem Naturschutz zu dienen. Daher ist es extrem wichtig, dass wir unsere Arbeit als Wissenschaftler gut kommunizieren und für interessierte Laien begründen. Die Biodiversität steht unter immensem Druck, und die Bestände vieler Arten stehen kurz vor einem Kollaps. Dies motiviert manche Forscher und Praktiker, Arbeit und Geld über komplementäre Ansätze in den Natur- und Artenschutz fließen zu lassen. Erstens kann man angewandte Forschung fördern, die auf die Entwicklung effektiver Maßnahmen zum Erhalt von Habitaten abzielt. Zweitens kann man versuchen, die Faktoren zu ermitteln, die Überleben, Produktivität und Ausbreitung limitieren. Auch Grundlagenforschung, die a priori nichts mit Naturschutz zu tun hat, kann wichtig sein, da sie früher oder später möglicherweise ein fehlendes Puzzlestück liefert, das sich in einer Schutzmaßnahme umsetzen lässt – vorausgesetzt, die Forscher arbeiten mit den Praktikern zusammen.

38

2 Artenschutz

Abb. 2.6  Zwei palästinensische Bauern mit einer Schleiereule (© Hagai Aharon)

Im vorliegenden Buch soll das gegenwärtige Wissen über die Schleiereule zusammengefasst werden, um über diese Flaggschiffart das wichtige Anliegen des Naturschutzes zu verbreiten. Detaillierte Kenntnisse über Tiere können helfen, die Gesellschaft zu aktiven Maßnahmen zum Schutz von Tieren zu motivieren. „Letztendlich werden wir nur schützen, was wir lieben; wir werden nur lieben, was wir verstehen, und wir werden nur verstehen, was uns beigebracht wird“ (Baba Dioum, 1968).

Schonende Methoden Wenn wir die Öffentlichkeit mit Erfolg von der Notwendigkeit des Naturschutzes überzeugen wollen, sind wissenschaftliche Glaubwürdigkeit und der Einsatz schonender Methoden zur Untersuchung der Schleiereule essenziell. Erfahrene Feldbiologen wissen meistens, was man bzw. was man nicht mit freilebenden Schleiereulen machen kann und wie man Störungen minimiert. Einige wesentliche Arbeitsmethoden müssen besonders betont werden: • Schleiereulen reagieren vor allem vor der Eiablage und in der Legeperiode besonders empfindlich auf Störung. Wenn man einen Brutplatz kontrolliert, bevor die Eier gelegt sind, so kann dies die Eulen zur Aufgabe des Brutplatzes bringen, vor allem bei neu zugewanderten oder untergewichtigen Vögeln. Um dies zu vermeiden, sollte man prospektive Brutplätze nur nachts kontrollieren und die Tiere nicht fangen. • Während der Bebrütungsphase können die Eulen empfindlich auf Störung reagieren und das Gelege aufgeben, wenn sie gefangen werden. Dieser Effekt kann je nach Individuum und Population unterschiedlich ausfallen.

2.3  Rückgang der Schleiereulen

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• Die Bindung zwischen Eltern und Nachkommen ist in der Nestlingsphase stärker als in der Bebrütungsphase und selbst bei Störung verlassen die Eltern ihre Jungen nur selten. Trotzdem muss die Störung auf ein Minimum beschränkt werden, denn es sind Fälle bekannt, bei denen menschliche Störung zur Aufgabe der Brut geführt hat – allerdings vor allem, wenn die Nestlinge noch sehr jung waren. • Wenn die Eltern am Nest gefangen werden, muss man dafür sorgen, dass sie beim Zurücksetzen nicht wieder wegfliegen. Eine Eule, die tagsüber umherfliegt, kann von Krähen angegriffen werden; wenn Eier und Nestlinge längere Zeit verlassen sind, kann die Brut letztendlich fehlschlagen. • Letztlich ist die Störung von Eulen zum Zweck des Monitorings mit den damit verbundenen potenziellen negativen Auswirkungen nur dann zu rechtfertigen, wenn die Forschung zur Umsetzung effektiver Schutzmaßnahmen führt und die Ornithologen ihre Arbeit öffentlichkeitswirksam kommunizieren (Abb. 2.6).

2.3

Rückgang der Schleiereulen

2.3.1 Wie viele gibt es noch? 77 Das Monitoring von Vogelpopulationen gehört zu den wichtigsten Aufgaben von Or-

nithologen, insbesondere bei Arten, deren Bestände abnehmen (Abb. 2.7). In Europa (in geringerem Maße auch in Nordamerika und Australasien) sind einige historische

Abb. 2.7  Im 19. Jahrhundert lebten auf Bauernhöfen im Vereinigten Königreich manchmal Dutzende von Schleiereulen. Das ist heute leider nicht mehr der Fall

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2 Artenschutz

Abb. 2.8  Zwei Fotos, im Abstand von fast 100 Jahren an genau derselben Stelle bei Basel (Schweiz) aufgenommen: 1904 (© K. Lüdin) und 1999 (© Karl Martin Tanner) (Aus Tanner, K. M. 1999. Augen-Blicke. Bilder zum Landschaftswandel im Baselbiet. Quellen und Forschungen zur Geschichte und Landeskunde des Kantons Basel-Landschaft, Band 68. Verlag des Kantons Basel-Landschaft, Liestal)

Trends von Schleiereulenpopulationen bekannt: Diese Zahlen deuten leider auf starke Rückgänge hin. Dank lokaler Schutzmaßnahmen gibt es einige Gebiete, in denen ein positiver Populationstrend zu beobachten ist.

Mit der Ankunft der europäischen Siedler in Amerika (ab 1492) und Australien (ab 1788) kam es dort zu umfassenden Veränderungen der Ökosysteme. De facto war und ist die Natur in allen Industrieländern von einem tiefgreifenden Habitatwandel und zunehmend von durch Menschen verursachten Störungen betroffen (Abb. 2.8). Diese wirken sich vielfältig aus: Zunehmende Umweltverschmutzung, Verkehr und direkte Verfolgung, Habitatdegradation und Intensivierung der Landwirtschaft sind nur einige Beispiele. In vielen Kulturkreisen sind Schleiereulen mit Aberglauben assoziiert (Abb. 2.13): In manchen gelten sie als Vorbote von Unglück oder Mittel der schwarzen Magie, in anderen werden sie in der traditionellen Medizin genutzt, in manchen werden sie sogar verzehrt! In Malaysia nahm man im Jahr 2008 einen Mann fest, bei dem sich 917 tote Eulen fanden, davon alleine 796 Schleiereulen; sie alle sollten nach China transportiert und dort verzehrt werden. Natürlich hoffen wir, dass solche Fälle eine Ausnahme und kein Anzeichen für

2.3  Rückgang der Schleiereulen

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einen florierenden internationalen Handel sind. Es hat viel Arbeit gekostet, bis Ornithologen den gesetzlichen Schutz von Eulen durchsetzen konnten; global betrachtet, gelang es erst vor relativ kurzer Zeit (1954 im Vereinigten Königreich, 1967 in Italien, 1971 in Australien, 1972 in den USA und in Malaysia, 1973 in Frankreich). Es gibt keine Zweifel mehr, dass der Habitatverlust inzwischen als Gefährdungsursache viel wichtiger geworden ist als die direkte Verfolgung. Besonders für Habitatspezialisten wie die Ruß- und Graseulen ist die Situation problematisch: Sie leiden unter der Rodung von Wäldern beziehungsweise der intensiven landwirtschaftlichen Nutzung von Grasland. Da diese Arten nur sehr selten oder niemals künstliche Nisthilfen annehmen, hilft es diesen Populationen nicht, Nistkästen anzubieten. Derartige Maßnahmen sind für Tytonidae-Arten oder viele andere Vogelarten sowieso keine langfristige Lösung. Für Europa hat man den Schleiereulenbestand auf 100 000 bis 250 000 Paare geschätzt, von denen die meisten auf der Iberischen Halbinsel leben. In vielen Ländern lässt sich die kritische Situation dieser Art anhand von historischen Vergleichen der Schleiereulenbestände ablesen: So brüteten in den Niederlanden vor 1963 zwischen 1800 und 3500 Paare, von 1969 bis 1974 zwischen 230 und 490 Paare und von 1982 bis 1984 zwischen 300 und 500 Paare. Landschaftsveränderungen in England und Wales waren für einen ungeheuren Rückgang der Schleiereulenpopulation verantwortlich: Im gesamten Vereinigten Königreich brüteten im Jahr 1932 etwa 12 000 Paare, zwischen 1968 und 1972 zwischen 4500 und 9000 Paare und von 1995 bis 1997 nur 4000 Paare. In Nordamerika sind Daten über Schleiereulenbestände auf das nördliche Verbreitungsgebiet der Art beschränkt. So wurde die erste Schleiereule in Ohio um 1860 nachgewiesen, als man mit der Rodung der Wälder begann und der Art neue Nahrungshabitate erschloss. Die Bestandszahlen erreichten von 1931 bis 1935 ein Maximum; als extensive Landnutzungsformen nach und nach durch Ackerbau ersetzt wurden, ging der Schleiereulenbestand zurück. Ähnlich war es in British Columbia (Kanada), wo die erste Schleiereule 1909 gesehen wurde; im Jahr 1983 hatte die Population auf 1000 Paare zu- und 2008 auf 250 bis 500 Paare abgenommen. Eulenpopulationen können durch den Menschen also sowohl positiv als auch negativ beeinflusst werden. Für andere Kontinente ist die Datenlage bisher unzureichend. In Tasmanien nahm die Population der Neuhollandeule nach der menschlichen Besiedlung um einen Faktor Zwei ab. Da diese Eule ähnlich wie die Graseulen nur selten in Nistkästen brütet, ist der Erhalt der natürlichen Nistplätze umso wichtiger – wenn diese verloren gehen, bleibt den Eulen kein Ort, wo sie brüten können. Die Situation in Malaysia ist besonders interessant, denn sie illustriert den zweischneidigen Effekt menschlicher Aktivitäten: Schleiereulen brüteten dort seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, nachdem sie aus Java oder Sumatra eingewandert waren. Bis 1968 gab es nur wenige Meldungen von Schleiereulenbruten. Seit die Rattenpopulationen in den neu angelegten Palmölplantagen jedoch zunahmen, hat man die Eulen durch Aufhängen von Nistkästen gezielt gefördert, um so die Rattenbestände in Schach zu halten. Allerdings sind immense soziale und ökologische Schäden die Folge, wenn der Regenwald zugunsten von Palmölplantagen gerodet wird, und die plötzliche Zunahme der Schleiereulenpopulation kompensiert die systematische Zerstörung der Biodiversität in keiner Weise.

2 Artenschutz

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2.4 Umweltverschmutzung 2.4.1 Schädliche Praktiken 77 Eulen leiden genauso wie viele andere Organismen unter Giften und anderen Schad-

stoffen, für deren Einsatz der Mensch verantwortlich ist (Abb. 2.9). Die Situation ist zwar besorgniserregend, doch bei der Schleiereule ist vorsichtiger Optimismus erlaubt. In vielen Teilen der Welt werden Schleiereulen nicht mehr mit Absicht vergiftet – die Vorliebe der Eulen für Kleinsäuger führt sogar dazu, dass man sie zur wirksamen biologischen Schädlingskontrolle einsetzt.

Industrielle Abfall- und Nebenprodukte finden sich inzwischen in Boden, Wasser und Luft und kontaminieren die Natur. Davon sind auch Schleiereulen betroffen. In niederländischen Schleiereulen hat man große Mengen an bromierten Flammschutzmitteln gefunden, die in Plastikprodukten, Textilien, Dämmstoffen sowie elektrischen und elektronischen Geräten eingesetzt werden. Die Luftverschmutzung macht nicht nur Stadtbewohnern zu schaffen, sondern auch Schleiereulen. Als flüchtige Verbindungen besitzen polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe – kaum überraschend – eine starke Wirkung auf die Lunge von Eulen, wie in Spanien gezeigt wurde. Eulen kontaminieren sich vor allem durch ihre Nahrung. Dabei ist ihre Stellung an der Spitze der Nahrungspyramide aufgrund der Bioakkumulation besonders problematisch, denn etwaige Gifte reichern sich nach wiederholtem Verzehr von kontaminierter Beute im Körper von Prädatoren an. Schadstoffe wie Aluminium, Arsen und Blei können in Eulenfedern und -gewöllen nachgewiesen werden; allerdings reichen Federn und Gewölle von der Menge her nicht aus, um den Eulenkörper vollständig zu entgiften. Wir benötigen zusätzliche ökotoxikologische Untersuchungen, um das Bewusstsein für das Ausmaß der Kontamination und die negativen Folgen toxischer Industrieprodukte und Pflanzenschutzmittel zu schärfen. In den USA hat die Menge einiger Schadstoffe, wie chlororganischer Pestizide (z. B. DDT) und polychlorierter Biphenyle (PCBs), von 1975 bis 1994 im Körper von Schleiereulen abgenommen, doch zahlreiche weitere Schadstoffe, z. B. gerinnungshemmende Rodentizide, haben mengenmäßig zugenommen.

Gerinnungshemmende Rodentizide Eine ganze Palette menschlicher Aktivitäten, von denen nur wenige Organismen profitieren, ist für massive Umweltschäden verantwortlich. Die Landwirtschaft liefert zwar neue Nahrungsquellen für manche Wirbellosen, Vögel und Kleinsäuger, letztlich sind aber viele von ihnen für Ertragseinbußen verantwortlich und gelten daher als Schädlinge. „Chemische Kriegsführung“ ist hier das Mittel der Wahl, und die Landwirte vergelten Böses mit Bösem. Die erste Generation gerinnungshemmender Rodentizide wurde in den 1940er-Jahren eingeführt, doch viele Kleinsäuger entwickelten rasch Resistenzen dagegen. Mitte der 1970er-Jahre kam eine zweite Generation von Rodentiziden auf den Markt, die 100- bis 1000-mal toxischer waren; sie reichern sich normalerweise in der Leber von Ratten und Mäusen an und führen zu Blutungen. Da die vergifteten Nager vor dem Tod noch bis zu

2.4 Umweltverschmutzung

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Abb. 2.9  Blaue Köderpellets mit einem akut wirkenden Rodentizid (Natriumfluoracetat/Compound 1080) am Eingang eines Wühlmausbaus in Israel (© Motti Charter)

14 Tage mobil sind, können die Substanzen, mit denen man Ratten und Mäuse in und rund um Gebäude bekämpft, indirekt Prädatoren vergiften, die dort ihre Beute suchen. Nach mehrmaligem Fressen von vergifteten Kleinsäugern reichern sich die Rodentizide im Körper der Beutegreifer schließlich so stark an, dass manche sterben. Letztlich ist eine Schädlingsbekämpfung, welche auch die Prädatoren dieser Schädlinge umbringt, aber kontraproduktiv: So beißt sich die Schlange nämlich in den eigenen Schwanz! In vielen Ländern, z. B. in Dänemark, Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Kanada, Spanien (auch auf den Kanaren) und Ungarn, hat man im Körper von verendeten Tag- und Nachtgreifen Rückstände von Rodentiziden nachweisen können. In manchen Untersuchungen erwiesen sich Schleiereulen als weniger belastet als andere Vogelarten. In Schottland fand man zum Beispiel bei 35 % der toten Schleiereulen Rückstände von Gerinnungshemmern, verglichen mit 66 % bei toten Rotmilanen und 54 % bei toten Sperbern. In Kanada fand man solche Rückstände bei 62 % der toten Schleiereulen, verglichen mit 92 % der toten Streifenkäuze. In den Ergebnissen des United Kingdom’s Predatory Bird Monitoring Scheme zeigte sich allerdings, dass sich im Körper der allermeisten Schleiereulen ein oder mehrere Rodentizide befinden. So entdeckte man 2015 bei 94 % der Schleiereulen Rattengift, und im Jahr 2011 waren 100 % der Turmfalken und 94 % der Rotmilane ähnlich belastet. In den weitaus meisten Fällen war die Konzentration der Rückstände subletal. Laut einer britischen Untersuchung waren nur 12 von 1009 toten Schleiereulen, die in freier Natur gefunden wurden, an Rodentizid-Vergiftung verendet. Leider sind die Effekte von subletalen Dosen unbekannt.

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2 Artenschutz

Abb. 2.10  Nistkastenkontrolle in Israel (© Laurent Willenegger)

In experimentellen Untersuchungen in Indien, England und den USA zeigte sich eindeutig, dass Schleiereulen sterben, wenn sie regelmäßig Mäuse fressen, die mit gerinnungshemmenden Rodentiziden vergiftet wurden. Falls subletale Vergiftungen Verhalten, Überleben oder Fortpflanzungserfolg von Schleiereulen beeinflussen sollten, wäre die Gesamtwirkung von solchen Giften auf ihre Populationen weitaus größer als bisher angenommen.

Schleiereulen als Mittel der biologischen Schädlingskontrolle Der Einsatz gerinnungshemmender Rodentizide ist ein massives Umweltproblem. Wir müssen daher eine umweltschonendere Lösung finden, die Landwirte und Verbraucher zufriedenstellt – übrigens steigt die Nachfrage nach Lebensmitteln aus biologischem Anbau immer weiter an. Die Schleiereule ernährt sich fast ausschließlich von Kleinsäugern, die auf landwirtschaftlichen Flächen leben. Sie kann lokal häufig sein, und an Orten mit gutem Beuteangebot kann jedes Paar viele Nachkommen pro Jahr aufziehen: Tatsächlich kann eine einzige Schleiereulenfamilie in nur einem Jahr über 6000 Wühlmäuse vertilgen! Landwirte und Ornithologen haben inzwischen in mehreren Ländern erkannt, wie wichtig die Rolle der Schleiereule in der Landwirtschaft ist. In Israel (Abb. 2.10), Malaysia, den USA und Venezuela hat man viele Nistkästen aufgehängt, um anstelle von chemischen

2.4 Umweltverschmutzung

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Abb. 2.11  Die Schleiereule ist als Jäger von Wühlmäusen und anderen Kleinnagern sehr effizient und daher ideal für die Schädlingsbekämpfung

Mitteln dieses „biologische Schädlingsbekämpfungsmittel“ bei der Bekämpfung von Kleinsäugern zu fördern. In malaysischen Reisfeldern richten Ratten deutlich geringeren Schaden an, wenn die Dichte der Eulennistkästen höher ist, was den positiven Effekt von Schleiereulen auf die Landwirtschaft belegt. Wirtschaftlichkeitsstudien in Israel deuten darauf hin, dass Landwirte einen wirtschaftlichen Nettonutzen haben (235 US-Dollar pro Hektar pro Jahr), wenn Schleiereulennistkästen installiert wurden. Die Landwirte benötigen dann weniger Rodentizide und können gleichzeitig den Ertrag um 9,4 % steigern. Der Nutzen ist sogar noch höher, wenn man berücksichtigt, dass der verminderte Rodentizideinsatz zum Bodenschutz beiträgt und Vorteile für die Gesundheit der Bevölkerung bringen kann. Eine echte Win-win-Situation! Wir brauchen zusätzliche Daten aus anderen Ländern, um den positiven Effekt von Schleiereulen bei der Bekämpfung von Kleinsäugern zu beurteilen (Abb. 2.11).

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2 Artenschutz

Abb. 2.12  Schleiereulen, die auf Inseln leben, spezialisieren sich möglicherweise auf die Jagd seltener Vögel. Dieses Nest auf der Insel Alegranza (nördlichste Insel der Kanaren) befindet sich in einer Bodenhöhle; der Nestling ist umgeben von Federn des seltenen Bulwersturmvogels (© Laura Gangoso)

Siedeln Sie keine Eulen auf Inseln an Die Erfolgsgeschichte der Schleiereule in der biologischen Schädlingsbekämpfung war inspirierend für Ökologen. So kam man auf die Idee, Schleiereulen auf mehreren Inseln einzuführen, um dort Ratten und Mäuse zu bekämpfen, die ihrerseits früher vom Menschen eingeführt worden waren. Südafrikanische Schleiereulen wurden 1937 mit Erfolg auf St. Helena und 1951 auf den Seychellen eingeführt, ebenso kalifornische Schleiereulen von 1958 bis 1963 auf Hawaii und schließlich Neuhollandeulen auf der Lord-HoweInsel (1922–1930). Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass Schleiereulen ausgesprochen erfolgreich im Kolonisieren neuer Gebiete und gleichzeitig als Jäger sehr effizient sind. Allgemein gilt, dass die Biodiversität auf Inseln im Vergleich zum Festland artenärmer ist. Falls dann nur wenige Kleinsäuger als Beute zur Verfügung stehen, kann es passieren, dass die Schleiereulen stattdessen endemische oder seltene Vögel fressen (Abb. 2.12), vor allem dort, wo sich diese leicht erbeuten lassen. Wenn eine (Wieder‑)Einführung von Tieren nötig ist, sollte man lokale Individuen einsetzen, die möglichst in Nachzuchtanlagen aufgezogen wurden. Außerdem verwendet man zur biologischen Schädlingsbekämpfung am besten einen Prädatoren, der auf der jeweiligen Insel bereits vorhanden ist, anstelle einer neuen Art, deren Ansiedlung katastrophale Folgen haben könnte.

2.5  Was können wir tun, um Schleiereulen zu schützen?

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2.4.2 Offene Forschungsfragen • Man sollte die Abundanz von Nagern, die von ihnen verursachten Schäden sowie den Ernteertrag in kontrollierten experimentellen Feldstudien untersuchen, in denen Schleiereulen (1) in Nistkästen brüten können und (2) keine Nistkästen zur Verfügung haben. • Ökotoxikologische Untersuchungen sollten nicht nur an toten, sondern auch an lebenden Eulen durchgeführt werden. • Die Wirkung von schwacher Schadstoffbelastung sollte untersucht werden.

2.5

Was können wir tun, um Schleiereulen zu schützen?

2.5.1 Mit vereinten Kräften zum Schutz der Natur 77 Wir müssen alle Initiativen für den Umweltschutz und zur Förderung der Nachhaltig-

keit begrüßen. Beim Schutz von Schleiereulen sind großräumige Maßnahmen wie Wiederherstellung von Lebensräumen und zusätzliche künstliche Nisthilfen besonders wirksam. Wir sollten präventive Aktionen und Aufklärungskampagnen lancieren, um die Mortalität der Schleiereulen zu reduzieren.

Eulen sind in ihren Beständen gefährdet (Abb. 2.13). Zu den Hauptgründen für den Bestandsrückgang gehören der Verlust der Jagdhabitate und der Brutstandorte, ferner anthropogene Gefahren wie Verkehr, toxische Chemikalien und zunehmende Störungen durch Menschen, dazu Fressfeinde, strenge Winter und andere extreme Wetterereignisse. Diese

Abb. 2.13  Hoffentlich Vergangenheit! Im christlichen Europa glaubte man mancherorts, böse Geister würden von einer „gekreuzigten“ Schleiereule vertrieben, die an einer Tür festgenagelt war. Leider gelten Schleiereulen in vielen Teilen der Welt immer noch als schlechtes Omen

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2 Artenschutz

Gefahrenliste ist sehr lang; wir können aber zahlreiche Schutzmaßnahmen in die Wege leiten, um den Eulen zu helfen. Vier Ansätze lassen sich realisieren: 1. Schutzmaßnahmen, von denen Bestände profitieren 2. Verletzte oder hungernde Individuen retten 3. Gefahrenquellen erkennen und beseitigen 4. Aufklärung der Bevölkerung Das Konzept des Naturschutzes ist umfassend und schließt alle Maßnahmen ein, die unserer Umwelt helfen, die Biodiversität wiederherstellen oder schützen, Populationen erhalten und das Wohlergehen jedes Individuums sicherstellen. Solche Bemühungen sind häufig nur Mosaiksteinchen, die sich aber zum großen Ganzen fügen.

Bestände im Fokus In vielen Gegenden haben die Schleiereulenbestände dramatisch abgenommen. In dieser Situation können wir entweder die Ursachen oder die Symptome solcher Rückgänge bekämpfen. Solche Maßnahmen sind zwar manchmal komplementär, aber nicht unbedingt gleichwertig. Ein Brut- und Auswilderungsprogramm hat z. B. wenig Wirkung, wenn nicht sichergestellt ist, dass die ausgewilderten Vögel erfolgreich brüten und überleben können. In den 1980er-Jahren wilderten Eulenliebhaber im Vereinigten Königreich pro Jahr mindestens 3000 in menschlicher Obhut erbrütete Schleiereulen aus. In Iowa, Missouri und Nebraska (USA) wurden über einen Zeitraum von sechs Jahren 1000 Vögel pro Jahr freigesetzt. Leider hatten diese Programme keinen messbaren Langzeiteffekt auf die Höhe der Brutbestände. Will man den Rückgang von Schleiereulenpopulationen verhindern und rückgängig machen, so ist die beste Maßnahme die Wiederherstellung ihres Jagdhabitats. Oft wird eine Rückkehr zu traditionelleren Formen der Landwirtschaft vorgeschlagen, da diese Bewirtschaftungsweise nicht nur Eulen, sondern auch anderen Lebewesen nützt. Dies erscheint jedoch eher utopisch, wenn man bedenkt, dass einige Wirtschaftsmodelle genau das Gegenteil propagieren: beispielsweise die Rodung von Regenwäldern zugunsten von Soja- oder Palmölplantagen. Man muss als Ornithologe und Naturschützer auf allen Ebenen aktiv sein, um Umweltresilienz und -nachhaltigkeit zu stärken oder zu regenerieren, also auch auf der politischen Ebene, um Staaten von einer Landwirtschaftspraxis zu überzeugen, die umweltverträglicher ist. Man kann auch direkt mit den Landwirten zusammenarbeiten, um Maßnahmen zur Förderung von Flora und Fauna umzusetzen, beispielsweise wieder Lebensräume mit hoher Beutedichte schaffen oder Hecken nachpflanzen, die im Zuge der landwirtschaftlichen Intensivierung zerstört wurden. So etwas hilft nicht nur der Schleiereule, sondern einer Vielzahl von Pflanzen und Tieren, darunter auch den Beutetieren der Eulen. Eine zweite und bei Weitem die beliebteste Maßnahme ist das Installieren künstlicher Nisthilfen (Abb. 2.14). Schleiereulen haben sich über Jahrtausende daran angepasst, in Scheunen und anderen von Menschen errichteten Bauwerken zu brüten. Inzwischen sind aus der Kulturlandschaft allerdings viele der alten Wirtschaftsgebäude oder hohlen Bäume verschwunden, in denen Schleiereulen früher lebten. Auch die Umwandlung alter Scheunen in Wohngebäude, manchmal auch die fehlende Bereitschaft, mit Schleiereulen in einem

2.5  Was können wir tun, um Schleiereulen zu schützen?

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Flugloch 10x15 cm

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Abb. 2.14  Schematische Darstellung eines Schleiereulennistkastens. Das Flugloch befindet sich im oberen Bereich des Kastens, damit die Nestlinge nicht herausfallen können. Die Trennwand garantiert, dass kein Licht in den Bereich des Kastens gelangt, in dem die Eule ihre Eier legt

Gebäude zusammenzuleben, hat den Mangel an verfügbaren Nistplätzen weiter verstärkt. Dieses Problem lässt sich relativ einfach lösen, wenn man Nistkästen in Scheunen, Schuppen, auf Bäumen oder auf Masten anbringt (Abb. 2.15). In Gegenden, in denen die Nistplatzverfügbarkeit ein limitierender Faktor ist, kann das großflächige Installieren von Nistkästen dazu beitragen, dass sich die Bestände durch Einwanderung aus benachbarten source-Populationen vergrößern. In sehr heißen Gebieten sollte man die Kästen im Schatten installieren, damit Eier und Nestlinge nicht überhitzen. Im Vereinigten Königreich hatte man bis 1997 bereits schätzungsweise 25  000 Schleiereulennistkästen installiert, seither sind Tausende dazugekommen – allerdings haben sie im größten Teil des Landes wenig genützt, da dort das Nahrungsangebot der limitierende Faktor ist. In Dänemark führte das Aufhängen von Nistkästen jedoch zu einem 20-fachen Ansteigen der Bestände von 1998 (25 Brutpaare) bis 2009 (500 Brutpaare). Ähnlich verhielt es sich in Deutschland und Tschechien, wo es über 20 000 bzw. 4000 Nistkästen gibt.

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2 Artenschutz

Abb. 2.15  Im Nahen Osten sind die Nistkästen oft auf Masten mitten in der Feldflur angebracht (oben). Man kann Nistkästen an der Wand einer Scheune aufhängen, und zwar innen wie außen (Mitte). Falls der Kasten innen hängt, sägt man ein Loch in die Scheunenwand, damit die Eule von außen in den Nistkasten gelangen kann. Auch im Inneren der Scheune kann man einen Nistkasten aufhängen (unten); doch dann ist das Risiko größer, dass Marder in den Nistkasten eindringen können

2.5  Was können wir tun, um Schleiereulen zu schützen?

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Verletzte oder hungernde Individuen retten Eine weitere Möglichkeit ist es, nicht Populationen, sondern Individuen als Zieleinheit der Schutzmaßname in den Blick zu nehmen. Derartige Aktionen wirken sich auf die Schleiereulenpopulation als Ganzes vermutlich kaum aus, doch sie demonstrieren, dass unsere Gesellschaft „ein Herz für Tiere“ hat. Ökologen denken meistens in den Dimensionen von Populationen oder der Art insgesamt, aber die Öffentlichkeit reagiert auf Leid und Tod von individuellen Tieren besonders mitfühlend. Schleiereulen-Nistkästen: Einige Fakten

• Nistkästen sollten als Ersatz für zerstörte traditionelle Ruhe- und Brutplätze angebracht werden. Da Schleiereulen für die zweite Jahresbrut oft den Platz wechseln, werden Nistkästen häufig paarweise installiert. • Die Kästen sollten so groß (z. B. 60 × 60 × 45 cm) sein, dass eine große Familie ausreichend Platz hat, und so tief, dass die Nestlinge nicht herausfallen können (mindestens 45 cm von der Unterkante des Fluglochs bis zum Boden des Nistkastens). • Normalerweise bestehen die Nistkästen aus Holz, doch auch anderes Material ist möglich (in Ländern, in denen es wenig Holz gibt). Ebenso kann man bereits vorhandene Kisten einer neuen Nutzung zuführen – in Jordanien setzt man alte Wahlurnen als Schleiereulennistkästen ein! • Da Eulen kein Nistmaterial eintragen, sollte man etwas trockenes organisches Material wie Holzspäne in den Kasten legen. • Paarweise installierte Nistkästen sollten normalerweise in mindestens 300 Meter Abstand stehen. Schleiereulen sind jedoch nicht immer territorial; die Kästen können daher an Orten, wo es reichlich Nahrung gibt, auch näher beieinander sein. • Die Nistkästen können in einzeln stehenden Scheunen installiert werden. In manchen Ländern (z. B. Deutschland) werden Schleiereulenkästen meistens in Kirchtürmen angebracht, damit die Eulenbrut nicht durch Marder getötet wird. Auch belebte oder laute Plätze sind für Nistkästen geeignet – wenn die Schleiereulen Versteckmöglichkeiten haben, können sie nämlich lernen, sich an laute Geräusche zu gewöhnen. Bei der Umwandlung alter Scheunen in Wohngebäude sollte man auch an Brutmöglichkeiten für die Schleiereulen denken. Sofern der Umbau fachmännisch erfolgt, sollte es nicht zu irgendwelchen Hygieneproblemen oder Lärmbelästigungen kommen. • Nistkästen werden normalerweise mindestens 3 m über dem Boden angebracht. Falls es Probleme mit Mardern gibt, sollten sie aber mindestens 5 m über dem Boden installiert werden. Möglicherweise sind auch weitere Maßnahmen nötig, damit Nesträuber keinen Zugang haben. • In sehr heißen Gegenden kann man durch doppelte Wände, Dächer sowie zusätzliche Belüftung verhindern, dass sich das Nistkasteninnere zu stark aufheizt. Außerdem sollte man den Kasten nicht am höchsten Punkt der Scheune anbringen, da dort die Lufttemperatur meist am höchsten ist.

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• Eulen halten sich tagsüber am liebsten an einem dunklen Platz auf. Daher empfiehlt sich eine Trennwand zwischen Flugloch und Eiablageplatz, damit ein großer Teil des Nistkastens dunkel bleibt (Abb. 2.14). Weitere Informationen finden sich in Barn Owl Conservation Handbook oder auf www.barnowltrust.org.uk. In vielen Ländern wurden von Naturschutz- oder sogar Regierungsseite Pflegestationen eingerichtet, um verletzte und ausgehungerte Eulen zu behandeln. So können zahlreiche Individuen gerettet werden. Ein Beispiel ist Deutschland; die dort „aufgepäppelten“ Schleiereulen haben eine hohe Überlebensrate, wenn sie erst wieder ausgewildert sind. Da Verhungern eine der Haupttodesursachen bei Schleiereulen ist, versucht man in Spanien, wieder ausgewilderte Vögel in der näheren Umgebung zu halten, indem man ihnen Schlafplätze und Futter anbietet. Diese „unterstützenden“ Maßnahmen erhöhen die Überlebensrate signifikant. Bei Individuen, die schwere Traumen wie Knochenbrüche erlitten haben, ist die Überlebensrate nach der Wiederauswilderung dagegen geringer – auch für sie ist eine „unterstützende“ Maßnahme hilfreich. Individuen, die niemals mehr völlig gesund werden können, sind in menschlicher Obhut besser aufgehoben als in der Natur ausgewildert und ihrem Schicksal überlassen. Solche Gefangenschaftsvögel, die permanent behindert sind, werden manchmal in der Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt. Sie werden aber niemals zahm und leiden oft unter Stress. In der Öffentlichkeitsarbeit verwendet man meisten Eulen, die in Gefangenschaft erbrütet und von Hand aufgezogen wurden. Bereits gezielte einfache Aktionen können Einzelindividuen retten. Manchmal haben Ornithologen auch die Möglichkeit, Familien wieder zusammenzuführen oder neue Familien zu schaffen: Wenn die Elternvögel zeitweilig nur wenig Futter heranschaffen können (weil die Nahrungssuche z. B. durch schlechtes Wetter eingeschränkt ist), versuchen die hungrigen Nestlinge die Aufmerksamkeit der Eltern zu erregen, indem sie sich direkt am Nesteingang aufhalten und rufen. Sobald ein Elternvogel mit Futter ankommt (Abb. 2.17), schubsen sich die Nestlinge gegenseitig, um möglichst schnell an Nahrung zu kommen, und manchmal fällt ein Nestling heraus. Da die Eltern ihren Nachwuchs außerhalb des Nests nicht füttern, verhungern herausgefallene Nestlinge, falls sie nicht zu den Geschwistern zurückgesetzt werden. Wenn ein Nest zerstört wurde oder ein Nestling verwaist ist, kann man die Jungvögel auf andere Nester verteilen; dort werden sie von den Elternvögeln angenommen, da diese ihre eigenen Nachkommen anscheinend nicht von fremden unterscheiden können.

Gefahrenquellen erkennen und beseitigen Die meisten Todesursachen bei der Schleiereule sind bekannt, und oft reichen einfache Maßnahmen, um tödliche Unfälle zu verhindern. Die Nestlinge können z. B. nicht herausfallen, wenn die Nistkästen genügend Tiefe haben. Oft ertrinken Eulen in großen Viehtränken auf der Weide, wenn sie versuchen, aus diesen Trögen zu trinken oder in ihnen zu baden – die Lösung ist einfach: Ein großes Holzbrett, das auf der Wasserfläche schwimmt, hilft den Eulen aus dem Wasser zu klettern, aber das Vieh kann nach wie vor ungehindert trinken.

2.5  Was können wir tun, um Schleiereulen zu schützen?

Abb. 2.16  Schleiereulen faszinieren und bieten sich als Flaggschiffart für den Naturschutz an

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Abb. 2.17 Eine Schleiereule bringt eine Waldmaus in ihr Nest (Frankreich) (© Alex Labhardt)

2.5  Was können wir tun, um Schleiereulen zu schützen?

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Nicht selten sind Eulen auch in leer stehenden Gebäuden eingeschlossen: Sie gelangen

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2 Artenschutz

zwar leicht hinein, doch der Ausgang ist oft viel schwerer zu finden! Ein weit geöffnetes Fenster könnte verhindern, dass eine Eule verhungert. Da Eulen bei der Jagd in Bodennähe fliegen, kommen sie oft beim Zusammenstoß mit Autos um (Abb. 2.18). Unsere Landstraßen wären für Eulen sicherer, wenn sie unter dem Niveau der umgebenden Felder lägen oder mit Bäumen und Hecken gesäumt wären: Dann würden die Eulen die Straße eher hoch über den meisten Autos überfliegen. Ferner sollten Elektrizitätskabel oder Starkstrommasten isoliert werden, um Stromschlag von Eulen und anderen Vögeln zu verhindern. Unerwünschte Nagerpopulationen sollten durch umweltfreundliche Maßnahmen, durch Förderung der natürlichen Feinde, aber nicht mit hochgiftigen Rodentiziden bekämpft werden. Das Verhungern von Eulen kann durch beutereiche Habitate reduziert werden; die Nestlingssterblichkeit lässt sich durch ein Angebot an sicheren Brutplätzen im Inneren von Wirtschaftsgebäuden verringern.

Faszination Seit jeher sind Menschen von Eulen fasziniert – sei es im positiven oder negativen Sinn (Abb. 2.16). Es gibt immer noch Länder, in denen Eulennestlinge gefangen und auf Märkten als Heimtier verkauft werden (Abb. 11.8). Eulen sind sagenumwoben und regen unsere Fantasie an; zu den bekanntesten neueren Beispielen gehören die Eulen der Harry-PotterBücher und -Filme, insbesondere die Schneeeule. Dies hat aber dazu geführt, dass noch mehr Eulen für den Heimtierhandel gefangen wurden. Man sollte sich diese Eulenmanie für Naturschutzzwecke zunutze machen und die Öffentlichkeit für den Erhalt der Eulen mobilisieren. Aufklärung Zweifellos bewirken Aufklärung und Erziehung viel, um die Wahrnehmung zu verändern. Auf dem Land war es in Europa früher durchaus üblich, an einer Scheunenwand oder am Tor eine Schleiereule festzunageln (de facto zu kreuzigen!), um die bösen Geister zu vertreiben (Abb. 2.13). Im Vereinigten Königreich war dieses Kreuzigen derart verbreitet, dass man die Art dort als „Scheunentoreule“ bezeichnete. Seit neuerem setzt sich in den Kreisen der Landwirte allerdings ein Naturbewusstsein durch, und manche Bauern laden sogar stolz ihre Freunde ein, um die ulkigen Schleiereulenküken „vorzuführen“. Trotzdem gelten Schleiereulen in manchen Ländern immer noch als schlechtes Omen. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die Allgemeinheit versteht, dass diese Vögel den Landwirten nützen, indem sie Mäuse und Ratten fressen. Ganz wesentlich ist es, die Rolle der Eulen für den Schutz ausgeglichener Ökosysteme möglichst gut zu vermitteln. Leider sind weitere mächtige Interessengruppen im Spiel – die Unternehmen der Agrarchemie ermuntern die Bauern zum Einsatz ihrer Produkte und sehen naturverträglichere Methoden möglicherweise als Gefahr für ihre Gewinne an.

Weiterführende Literatur

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Abb. 2.18  Wenn Schleiereulen jagen, fliegen sie oft knapp über dem Boden dahin, daher haben sie ein besonders hohes Risiko, mit Autos zu kollidieren

Weiterführende Literatur Abschnitt 2.1 Roulin A, Mansour AR, Spiegel B, Dreiss AN, Leshem Y (2017) ‘Nature knows no boundaries’: the role of nature conservation in peacebuilding. Trends Ecol Evol 32:305–310 Sergio F, Schmitz OJ, Krebs CJ, Holt RD, Heithaus MR, Wirsing AJ, Ripple AJ, Ritchie E, Ainley D, Oro D, Jhala Y, Hiraldo F, Korpimäki E (2014) Towards a cohesive, holistic view of top predation: a definition, synthesis and perspective. Oikos 123:1234–1243 Smith DW, Peterson RO, Houston DB (2003) Yellowstone after wolves. BioScience 53:330–340 Abschnitt 2.3 Altwegg R, Roulin A, Kestenholz M, Jenni L (2006) Demographic effects of extreme winter weather in the barn owl. Oecologia 149:44–51 Bell PJ, Mooney N (2002) Distribution, habitat and abundance of masked owls (Tyto novaehollandiae) in Tasmania. In: Newton I, Kavanagh R, Olsen J, Taylor I (Hrsg) Ecology and conservation of owls. CSIRO, Melbourne, S 125–136 Blaker GB (1933) The barn owl in England. Bird Notes News 15:207–211 de Bruijn O (1994) Population ecology and conservation of the barn owl Tyto alba in farmland habitats in Liemers and Achterhoek (the Netherlands). Ardea 82:1–109 Colvin BA (1985) Common barn-owl population decline in Ohio and the relationship to agricultural trends. J Field Ornithol 56:224–235

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2 Artenschutz

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3

Parasiten und Prädatoren

3

3.1 Endoparasiten 3.1.1 Angriff von innen 77 Endoparasiten greifen ihre Wirtsorganismen von innen an. Sie haben immense Aus-

wirkungen auf ihre Wirte und damit auch auf Ökosysteme; allerdings ist über Endoparasiten bei Schleiereulen nur wenig bekannt. Berücksichtigen wir aber mögliche Übertragungswege der Parasiten, dann können wir das Erkrankungsrisiko von Schleiereulen besser abschätzen.

Schleiereulen haben eine Vielzahl von Anpassungen in Verhalten, Morphologie und Physiologie entwickelt, um sich gegen Parasiten (Abb. 3.1) zu wehren. Die Parasiten entziehen ihrem Wirt zwar Ressourcen und sind für viele Krankheiten verantwortlich, doch Parasiten sollten a priori nicht für den Rückgang von Schleiereulenpopulationen verantwortlich sein. Parasiten und ihre Wirte haben sich über Jahrtausende hinweg gemeinsam in Koevolution entwickelt und sollten aneinander angepasst sein. Aus diesem Grund sind viele Parasiten nicht so virulent, dass sie ihren Wirt umbringen, und die Wirte kommen mit den Parasiten zurecht, ohne wesentliche Probleme in Fruchtbarkeit und Überlebensfähigkeit zu haben. Eine Infektion kann aber plötzlich eine reale Bedrohung darstellen, wenn menschliche Aktivitäten die Verbreitung neuer „exotischer“ Parasiten fördern, gegen welche die „neuen“ Wirtsorganismen noch keine Resistenz entwickelt haben. Derartiges ereignete sich bei vielen Tierarten in abgelegenen Teilen der Welt, wie auf den Galapagosinseln.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Roulin, Schleiereulen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62514-9_3

61

3.1 Endoparasiten

63

Abb. 3.1  Starker Befall mit Plasmodium relictum beim Erlenzeisig (© Gediminas Valkiunas)

Wir kennen die genauen Auswirkungen von Endoparasiten, die Schleiereulen befallen, zwar nicht wirklich, doch durch Untersuchungen an Schweizer Schleiereulen wissen wir, dass intensive Landwirtschaft und menschliche Störungen den physiologischen Stress erhöhen. Infektionen und Stress können das Immunsystem des Wirts schwächen und folglich seine Fähigkeit, mit den Parasiten fertig zu werden. Deshalb ist das Monitoring von Endoparasiten sehr wichtig, damit wir ihre potenziellen Einflüsse auf Eulenpopulationen einschätzen können. Doch dieses Ziel wurde bisher nicht erreicht, denn nur in einer Handvoll von Untersuchungen wurde bislang die Prävalenz von Endoparasiten bei Tytoniden ermittelt. In Südafrika infizieren sich 31 % der Schleiereulen und 7 % der Graseulen mit parasitischen Würmern; in Tschechien sind 13 % der Schleiereulen mit dem Protozoon Isospora buteonis infiziert, in Frankreich 11 % mit Toxoplasma gondii und in Ontario (Kanada) haben 80 % der Schleiereulen Antikörper gegen das West-Nil-Virus.

Infektionswege Wenn wir den Übertragungsweg von Endoparasiten kennen, liefert uns dies Informationen über das Ansteckungsrisiko von Schleiereulen für intrazelluläre Parasiten – die in Zellen im Vogelkörper leben, z. B. Viren, Bakterien, Protozoen – sowie extrazelluläre Parasiten – die in Leibeshöhlen leben, z. B. Fadenwürmer, Plattwürmer (Abb. 3.2) und Kratzwürmer. Sämtliche in Tab. 3.1 aufgeführten Endoparasiten wurden in der Schleiereule nachgewiesen.

64

3  Parasiten und Prädatoren

Abb. 3.2  Der Plattwurm Strigea sp.

Infizierte Evertebraten, wie Stechmücken, Käfer oder Zecken, übertragen beim Biss oder Stich folgende Parasiten auf Eulen: die St.-Louis-Enzephalitis und das West-Nil-Virus sowie die Protozoen Leucocytozoon ziemanni, L. danilewskyi, L. californicus, Haemoproteus, Plasmodium und Trypanosoma. Eulen sind zwar fast am ganzen Körper von Federn bedeckt, doch sie können in rund um den Schnabel und an den unbefiederten Füßen gestochen oder gebissen werden. In Feuchtgebieten lebende Eulen – dort kommen diese Krankheitsüberträger (Vektoren) sehr häufig vor – können daher ein größeres Risiko für derartige Infektionen haben. Schleiereulen können sich mit aerogenen bakteriellen Krankheiten infizieren, indem sie verseuchte Umgebungsluft einatmen. Hierzu zählen Infektionen mit Salmonella typhimurium, S. thompson, S. tuindorp, S. choleraesuis und Chlamydia psittaci, die auch von Vögeln wiederum auf Menschen übertragen werden können. Bei vielen Krankheiten erfolgt die Ansteckung über die Aufnahme von Kot und anderen tierischen Ausscheidungen, die in der Nahrung, im Wasser und im Boden enthalten sind. Solche Infektionen lassen sich am besten durch strikte Hygiene vermeiden. Im beengten Schleiereulennest mit Nestlingen und Eltern, die in der Nisthöhle koten und Gewölle auswürgen, ist dies natürlich unmöglich. Mütter und Nestlinge von Schleiereulen und Gras­ eulen säubern vermutlich aus diesem Grund ihr Nest, indem sie Gewölle und anderen Schmutz aus dem Nest entfernen. Besser wäre es natürlich, wenn die jungen Schleiereulen außerhalb des Nests koten würden. Bei der höhlenbrütenden Schleiereule würden die Jungvögel jedoch leicht aus dem Nest fallen, wenn sie zu nahe ans Einflugloch geraten (tatsächlich passiert dies regelmäßig), denn der Gleichgewichtssinn ist bei ihnen anfangs noch wenig entwickelt. Die mangelnde Hygiene fördert die Ausbreitung der Protozoen Toxoplasma gondii, Cryptosporidium, Isospora buteonis und Giardia wie auch von Poxviren und Avulaviren. Ein Avulavirus ist Auslöser der Newcastle-Krankheit, die zu Atem-

3.1 Endoparasiten

65

Tab. 3.1  Länder/Erdteile, in denen extrazelluläre Endoparasiten bei Schleiereulen und ihren Verwandten gefunden wurden Endoparasitengruppe

Wissenschaftlicher Name

Land/Erdteil

Fadenwürmer (Nematoda)

Baylisascaris procyonis

Nordamerika

Capillaria tenuissima

Niederlande, Spanien, UK

Cyathostoma americana

Niederlande, Spanien

Dispharynx affinis

USA

Dispharynx nasuta

Italien

Gongylonema neoplasticum

UK

Habronema murrayi

Afrika

Porrocaecum angusticollae

Niederlande, Spanien

Porrocaecum depressum

Tschechien, UK, USA

Porrocaecum spiralis

Tschechien, UK

Procyrnea leptoptera

Spanien

Syngamus trachea

Nigeria

Synhimantus affinis

Italien, UK

Synhimantus laticeps

Argentinien, Italien, Niederlande, Spanien, UK

Trichinella pseudospiralis

Tasmanien

Brachylaima fuscatum

Italien

Brachylaima spp.

Spanien

Brachylecithum lobatum

Tschechien

Choanotaenia strigium

Tschechien

Cladotaenia globifera

Tschechien

Neodiplostomum americanum

USA

Neodiplostomum attenuatum

Spanien

Neodiplostomum japonicum

Italien

Paruternia candelabraria

Spanien, UK

Stomylotrema chabaudi

Afrika

Strigea falconis

Tschechien

Strigea strigis

Tschechien, Niederlande, UK

Centrorhynchus aluconis

Italien, Slowakei, UK

Centrorhynchus conspectus

Tschechien, UK

Centrorhynchus globocaudatus

Tschechien, Spanien, UK

Centrorhynchus tumidulus

UK

Porrorchis tyto

Vietnam

Plattwürmer(Plathelminthes)

Kratzwürmer(Acanthocephala)

66

3  Parasiten und Prädatoren

beschwerden und Verdauungsstörungen führt, gefolgt von neurologischen Symptomen. Diese Krankheit befällt insbesondere Geflügel, und da Schleiereulen auf Bauernhöfen brüten, können sie leicht mit Geflügel und folglich mit der Newcastle-Krankheit in Kontakt kommen. Auch Tuberkulose ist ein Problem; sie wird durch Mycobacterium-Arten verursacht, vor allem M. avium. Ratten können Pathogene wie Pasteurella (ein Bakterium) durch ihren Biss auf andere Tiere übertragen. Doch sind Kleinsäuger überhaupt schnell genug, um eine Schleiereule zu beißen, bevor diese sie tötet? Dazu gibt es zwar keine Informationen, aber wir haben an Schleiereulen niemals Verletzungen festgestellt, die von Kleinsäugern herrühren könnten. Problematischer ist der Verzehr von Beute, die mit Protozoen wie Trichomonas gallinae und Sarcocystis dispersa oder dem Fadenwurm Baylisascaris infiziert ist.

Extrazelluläre Parasiten Zu den extrazellulären Parasiten, die in der Leibeshöhle von Schleiereulen leben, zählen 13 Arten an Fadenwürmern (Nematoden), 12 Arten an Plattwürmern (Plathelminthen) sowie 5 Arten an Kratzwürmern (Acanthocephala).

3.1.2 Offene Forschungsfragen • Viele Bakterien und Viren werden durch Luft und Kotbestandteile übertragen. Infizieren sich Schleiereulen, wenn sie in einem verdreckten Nest leben, in dem die Nestlinge Kot und Gewölle absetzen? Man sollte eigentlich erwarten, dass Schleiereulen eine hohe Resistenz gegenüber Pathogenen zeigen. Wir sollten also untersuchen, ob die Eulen ein besonders effizientes Immunsystem entwickelt haben, um Endoparasiten und Mikroorganismen zu bekämpfen. • Im Nest abgesetzter Kot kann die Verbreitung von Krankheiten fördern. Daher sollten wir den potenziellen Effekt von elterlichem Nestreinigungsverhalten auf die Häufigkeit von Pathogenen systematisch untersuchen. In manchen Nestern könnte der aus dem Kot freigesetzte Ammoniak jedoch eher Pathogene abtöten (statt ihre Verbreitung zu erleichtern) und somit eine prophylaktische Rolle spielen. Diese Möglichkeit ließe sich experimentell untersuchen, indem die Nester zufällig in zwei Gruppen aufgeteilt würden, in denen entweder zusätzlicher Ammoniak oder Wasser (als Kontrolle) ausgebracht würde – die Arbeitshypothese würde lauten, dass es in den mit Ammoniak behandelten Nestern weniger Parasiten gibt als in den Kontrollnestern. Außerdem sollte man untersuchen, ob die in Schleiereulennestern gemessene Ammoniakkonzentration für die Nestlinge bereits giftig ist. • Die Beute wird im Nest in der Nähe der Nestlinge deponiert, auch dadurch kann sich das Krankheitsrisiko erhöhen. In heißen Sommern verwest die Beute schnell, dies kann die Verbreitung von Krankheiten ebenso fördern, und dieser Effekt wird vermutlich vervielfacht, wenn die Nestlinge die halbverdorbene Nahrung fressen. • Wir benötigen Daten zur Häufigkeit und Virulenz von Endoparasiten wie auch deren Einfluss auf die Populationsdynamik von Schleiereulen. Diese Fragen sollten an Schleiereulen in verschiedenen Regionen untersucht werden, z. B. in den Tropen verglichen mit gemäßigten Klimaregionen oder auf Inseln verglichen mit dem Festland.

3.2 Ektoparasiten

67

Abb. 3.3  Eine Schleiereulenfeder, die von „Federlingen“ angefressen wurde

3.2 Ektoparasiten 3.2.1 Angriff von außen 77 Ektoparasiten übertragen Krankheiten und Endoparasiten auf die Wirtsvögel, während

sie Blut, Fleisch oder Federn des Wirts fressen. Schleiereulen werden von vielen verschiedenen Organismen befallen, wie Milben, Zecken, Wanzen, Fliegen und diversen Läusen. Wir kennen zwar mehrere Faktoren, die erklären können, warum nicht alle Individuen gleichmäßig betroffen sind, doch wir benötigen viel mehr Untersuchungen, um den Einfluss von Ektoparasiten auf die Brutbiologie und Populationen von Schleiereulen zu verstehen.

Ektoparasiten leben auf der Körperoberfläche des Wirts. Es ist zwar fast nichts über ihren Einfluss auf die Fortpflanzung und Überlebensrate von Schleiereulen bekannt, doch wir haben einige Informationen über die wirksamen Strategien, welche die Schleiereule zur Kontrolle der Parasiten entwickelt hat.

Federlinge und Zecken Federfressende Läuse („Federlinge“) können das Gefieder des Wirts zerfressen und es damit stark beschädigen (Abb. 3.3). Eulen haben jedoch keine Finger und können diese Parasiten nur entfernen, wenn sie mithilfe von Schnabel und Krallen Jagd auf sie machen.

68

3  Parasiten und Prädatoren

Abb. 3.4 Schnabelhaken und Mittelzehe, deren Kralle am Rand auffällig kammartig gezähnt ist

Ein kleiner Haken am Schnabel und der kammartig gezähnte Rand der Mittelzehenkralle, („Putzkralle“, eine seltene Anpassung bei Vögeln), sind bei der Gefiederpflege besonders effektiv (Abb. 3.4). Die Nestlinge putzen sich oft auch gegenseitig das Gefieder (sogenanntes Fremdputzen oder Allopreening), möglicherweise, um die Parasiten ihres Geschwisters zu entfernen. Dementsprechend handelt es sich bei 78 % der „fremd“geputzten Körperteile genau um diejenigen, die der Nestling selbst nicht erreichen kann, wie Kopf, Rücken und Hals. Schwieriger, wenn nicht unmöglich, ist es, Zecken zu entfernen, die auf unbefiederten (nackten) Körperbereichen sitzen. Möglicherweise ist daher ein leistungsfähiges Immunsystem das beste Mittel gegen Zecken – eine Frage, die näher untersucht werden sollte. Da Zecken nicht springen oder fliegen können, lassen sie sich von einem Zweig auf ihren Wirt fallen, oder sie sitzen auf einem Grashalm, Blatt oder Ästchen und warten, bis ein potenzieller Wirt nahe vorbeikommt. In der Schweiz fand man bei 19 % der Schleiereulennestlinge aus 330 Nestern Zecken. In Nestern, die mit Zecken (Ixodes ricinus) befallen waren, wurden durchschnittlich 1,7 Zecken pro Nest gefunden. Bei erwachsenen Schleiereulen sitzen die Zecken am Kopf; sie lösen sich und kriechen zum ersten erreichbaren Nestling. Da das Ganze per Zufall abläuft, erklärt das vermutlich, warum Zecken gleich häufig auf männlichen oder weiblichen bzw. auf jungen oder älteren Nestlingen vorkommen.

Eine blutsaugende Fliege Die Gefiederfliege Carnus hemapterus (Abb. 3.5) ist ein generalistischer Ektoparasit, der die Nestlinge vieler Vogelarten befällt. Die Art ist weit verbreitet, wurde aber nur in den USA und der Schweiz genauer untersucht. In der Schweiz hatten 90–97 % der Schleiereulennestlinge einen Befall von durchschnittlich 39 Fliegen, mit einem Maximum von 383 Fliegen bei einem einzigen Nestling. Gefiederfliegen legen ihre Eier in Vogelnester, und da Höhlenbrüter wie die Schleiereule oft Jahr für Jahr denselben Brutplatz wählen, ist es für die schlüpfenden Fliegen einfach, ihren Wirt zu finden. Wenn eine Nisthöhle in

3.2 Ektoparasiten

69

Abb. 3.5  Die parasitisch lebende Carnus hemapterus, eine Gefiederfliege

der neuen Brutsaison nicht wiederbenutzt wird, fliegen die frisch geschlüpften Fliegen zu neuen Vogelnestern und werfen ihre Flügel ab, sobald sie ein Nest gefunden haben. Also werden Schleiereulennestlinge viel stärker von Gefiederfliegen parasitiert, wenn ihr Nest schon im vergangenen Jahr von einer Vogelfamilie bewohnt wurde, als wenn die Bruthöhle zum ersten Mal benutzt wird oder der Nistkasten vor Beginn der Brutzeit intensiv gereinigt wurde. Einige Gefiederfliegen erscheinen bereits unmittelbar vor dem Schlupf der Nestlinge, aber sie vermeiden unbefiederte Nestlinge. Deshalb werden in der Zeit, in der die Fliegen noch relativ selten sind, die erstgeborenen Eulennestlinge, die schon einige Dunen gebildet haben, stärker befallen als ihre letztgeborenen nackten Geschwister. Während immer mehr Fliegen schlüpfen, wird die Fliegenpopulation immer größer, bis die erstgeborenen Nestlinge für die Fliegen zu stark befiedert sind. Zu diesem Zeitpunkt ändern die Gefiederfliegen ihre Strategie und konzentrieren sich auf die letztgeborenen Nestlinge, die noch relativ wenige Federn besitzen. Das führt dazu, dass auf den jüngsten Nestlingen die meisten Fliegen im Nest sitzen – nicht unbedingt, weil sie schwächer und weniger immunkompetent als ihre älteren Geschwister sind, sondern weil sie zum Zeitpunkt der größten Fliegendichte das optimale Federkleid besitzen, um den Fliegen als Wirt zu dienen. Anscheinend enthalten die später gelegten Euleneier bisher nichtidentifizierte Substanzen, um die Parasitenresistenz zu erhöhen; dies würde für die jüngsten Nestlinge eine Hilfe in der Abwehr von Gefiederfliegen darstellen. Doch die antiparasitäre Wirkung dieser Substanzen ist nur eine Seite der Medaille, denn sie beeinträchtigen anscheinend auch die Wachstumsrate der Nestlinge. Dies würde erklären, warum diese Verbindungen bei den zuerst gelegten Eiern entweder gar nicht oder nur in geringerer Konzentration vorkommen. Wir konnten dies aus einem Experiment schlussfolgern, bei dem wir die Eier zwischen den Nestern austauschten, sodass wir später die jeweilige Zahl der C. hemapterus-Individuen

3  Parasiten und Prädatoren

70 Tab. 3.2 Ektoparasiten, die bei Schleiereulen nachgewiesen wurden Milben

Aureliania aureliani Bubophilus ascalaphus Bubophilus tytonus Dermonoton parallelus Dermonoton sclerourus Glaucalges attenuatus Glaucalges tytonis Harpyrhynchus tyto Kramerella lunulata Kramerella lyra Kramerella quadrata Leptotrombidium nissani Neoboydaia aureliani Neottialges evansi Ornithonyssus bursa Ornithonyssus sylviarum Pandalura strigisoti Protalges attenuatus Rhinoecius tytonis Suidasia spp. Sarcoptiformes Tytodectes striges Tytodectes tyto

Wanzen

Haematosiphon inodorus

Flöhe

Ceratophyllus gallinae Ceratophyllus rossitensis Malaraeus telchinus Thrassis spp.

Zecken

Argas reflexus Ixodes arboricola Ixodes ricinus

Fliegen (Dipteren)

Carnus hemapterus

Echte Tierläuse

Hoplopleura acanthopus

„Federlinge“

Colpocephalum subpachygaster Colpocephalum turbinatum Kurodaia subpachygaster Philopterus rostratus Strigiphilus aitkeni Strigiphilus cursitans Strigiphilus rostratus Tytoniella rostrata

auf den Nestlingen vergleichen konnten, und zwar in Relation zur Reihenfolge, in der das Ei im Ursprungsnest gelegt worden war, und in Relation zur Reihenfolge, in der die Nestlinge in den jeweiligen Adoptivnestern aufgezogen worden waren. Auch zwischen Männchen und Weibchen werden Unterschiede in der Reaktion auf Parasitenbefall beobachtet. Aus bisher unbekannten Gründen finden sich in der Schweiz auf dem Körper weiblicher Schleiereulennestlinge etwas mehr Gefiederfliegen als bei männ-

3.3  Prädatoren und Feindverhalten

71

Abb. 3.6  Eine Zecke der Gattung Ixodes

lichen Nestlingen (im Durchschnitt 44 gegenüber 38 Fliegen). Viel erstaunlicher ist der Befund, dass die Nestlinge besser gegen Befall mit C. hemapterus gewappnet sind, wenn das Bauchgefieder ihrer biologischen Mutter an den Federspitzen größere schwarze Flecken aufweist. Wir vermuten, dass die Gene, die von „groß gefleckten“ Müttern vererbt werden, die Parasitenresistenz fördern.

Bei Schleiereulen nachgewiesene Ektoparasiten Einige der zahlreichen Ektoparasiten, die man auf Schleiereulen gefunden hat, sind in Tab. 3.2 aufgelistet. Milben können sich von Blut, Fleisch oder Detritus ernähren. Viele andere Ektoparasiten sind Blutsauger, wie Wanzen, Flöhe, die Echten Tierläuse, Zecken (Abb. 3.6) und die Gefiederfliege Carnus hemapterus. „Federlinge“ (auch als Mallophagen bezeichnet, gehören zur Ordnung der Tierläuse, gelten heute aber nicht mehr als taxonomische Einheit) ernähren sich je nach Art von Haut- und Federschuppen oder ausschließlich von Federn.

3.2.2 Offene Forschungsfragen • Häufigkeit (Prävalenz) und Befallsintensität von Ektoparasiten müssen auf globaler Ebene untersucht werden. • Der Einfluss von Ektoparasiten auf Fortpflanzungserfolg und Überlebensrate bei Schleiereulen muss untersucht werden.

3.3

Prädatoren und Feindverhalten

3.3.1 Auge um Auge, Zahn um Zahn 77 Durch eine auffällige sehr helle Färbung und laute Bettelrufe erhöht sich das Risiko,

selbst zur Beute zu werden. Schleiereulen werden häufig von zu den Säugern zählenden Beutegreifern, größeren Eulenarten und sogar von tagaktiven Greifen gefressen.

72

3  Parasiten und Prädatoren

Abb. 3.7  Der mächtige Uhu zählt zu den Hauptfressfeinden der Schleiereule

Um das Prädationsrisiko zu verringern, zischen („fauchen“) Schleiereulennestlinge wie Schlangen, damit der potenzielle Räuber abgeschreckt wird.

„Es gibt immer einen, der größer und stärker ist und dich von deinem Ast stoßen kann“ – dieses Zitat der US-Fantasy-Autorin C. J. Ellisson hätte für die Schleiereule geschrieben sein können. Sie ist selbst zwar besonders geschickt beim Erbeuten von Kleinsäugern, doch ihre relativ geringe Körpergröße, das auffällig helle Gefieder und die lauten Bettelrufe der Nestlinge führen dazu, dass sie gegenüber größeren Fressfeinden (Abb. 3.7) recht schutzlos ist. Vor allem Nestlinge sind sehr gefährdet, doch dies gilt auch für Altvögel, wenn sie über offenes Gelände fliegen. In Bulgarien fraß ein einziges Uhupaar im Lauf von zwölf Jahren mindestens 20  Schleiereulen. Schleiereulenreste sind häufig in Gewöllen enthalten (Abb. 3.8). In den Aufzeichnungen von Ornithologen finden sich Berichte über Kapgraseulen, die von Kampfadler und Froschweihe geschlagen wurden, sowie zahlreiche Angaben zur Prädation der Schleiereule durch Uhu (64 Fälle), Virginiauhu (13), Blassuhu (1), Waldkauz (2), Wanderfalke (8), Präriefalke (1), Lannerfalke (1), Mäusebussard (9), Königsbussard (2), Steinadler (2), Habicht (14), Rotmilan (1) und Kornweihe (1). In Europa besiedelt der Steinmarder ähnliche menschengemachte Unterstände wie die Schleiereule. Zwar kann er leicht zu den Schleiereulennestern gelangen, doch die Prädation

3.3  Prädatoren und Feindverhalten

73

Abb. 3.8  Uhugewölle mit Resten eines Schleiereulenfußes

durch Marder hat offenbar keinen starken Einfluss auf Schleiereulenpopulationen. In Frankreich suchten Steinmarder nur 61 von 951 Kirchtürmen auf, die von Schleiereulen bewohnt waren (6,4 %), und von 1031 Bruten wurden nur 7 (0,7 %) zerstört. Während Prädation auf der Nordhalbkugel nicht die Hauptursache für die Schleiereulenmortalität ist, sieht die Situation auf der Südhalbkugel anders aus: So ist die Kapgraseule als Bodenbrüter durch räuberische Säuger wie den Schabrackenschakal gefährdet, die ein Bodennest sehr leicht erreichen können. Abgesehen von Räuber-Beute-Interaktionen werden interspezifische Interaktionen selten beobachtet. Auf den Britischen Inseln sieht man jedoch häufig am helllichten Tag Schleiereulen, die Beute in ihren Fängen tragen (Abb. 4.5). Dort kann man Turmfalken oder sogar Baumfalken beobachten, die ihnen hinterherjagen und versuchen, die Beute zu stehlen. In anderen Ländern (Indien bzw. Ägypten) können Schleiereulen nachts von Indischen Riesenflughunden oder Nacktbäuchigen Grabfledermäusen gemobbt werden. Wir wissen nicht, ob dieses Verhalten sehr selten ist oder einfach nur selten davon berichtet wird, da es schwer zu beobachten ist.

Beziehungen zwischen adulten Schleiereulen und Menschen Vögel können sich dem Menschen gegenüber äußerst aggressiv verhalten, wenn sie diesen als potenziellen Feind ansehen. So verlor der berühmte Naturfotograf Eric Hosking ein Auge durch ein Waldkauzweibchen, als er Bilder von ihrem Nest aufnahm. Allerdings sind nur zwei Fälle von Angriffen durch Schleiereulen bekannt, nämlich in Australien und Deutschland. Tatsächlich kann man den Nestinhalt oft inspizieren, indem man das brütende Weibchen vorsichtig hochhebt – ohne dass eine Reaktion erfolgt. Möglicherweise sind Neuhollandeulen Menschen gegenüber aggressiver, wie man bei Gefangenschaftsvögeln sieht. Warum gehen unsere Schleiereulen kein größeres Risiko ein, um ihre Jungen zu schützen? Vielleicht liegt es daran, dass sie viel kleiner und leichter sind als die kräftigere Neuhollandeule, was den Angriff auf einen Beutegreifer viel gefährlicher macht.

74

3  Parasiten und Prädatoren

Nestlinge erschrecken oder attackieren ihre Prädatoren Die Nestlinge von Schleiereulen, Neuhollandeulen & Co. und Graseulen sind zwar relativ harmlos, können aber ihre Krallen gegen Angreifer einsetzen. Sie geben häufig furchterregende Abwehrlaute (schlangenähnliches Zischen und Fauchen) von sich, wodurch sie recht einschüchternd wirken. In Gegenwart von Menschen beginnen die Nestlinge laut zu atmen, und wenn die Gefahr durch den Räuber zunimmt, klicken sie mit der Zunge, schlagen die Schnabelhälften aufeinander („Schnabelknappen“) und zischen. Dieses eindrucksvolle Zischen („Drohrauschen“) kann 1,8–10 s anhalten; ältere Nestlinge sind nicht nur deshalb angsteinflößender, weil sie größer sind, sondern auch, weil ihre Zischlaute länger als bei jüngeren Nestlingen andauern. Interessanterweise sind innerhalb einer Brut die Jungvögel, die am meisten zischen, eher diejenigen, die beim Hantieren am friedfertigsten sind. Das bedeutet, dass die Nestlinge entweder durch laute schlangenähnliche Rufe so tun, als ob sie gefährlich sind, oder Fressfeinde ohne Vorwarnung angreifen! Die Nestlinge müssen dauernd auf der Hut sein, um Feinde zu entdecken – dies erfordert eine ständige selektive Aufmerksamkeit, um zwischen den Geräuschen eines Fressfeindes und irrelevanten Reizen, wie den Geräuschen eines ankommenden Elternvogels oder dem Wind, zu unterscheiden. Das falsche Zuordnen solcher Geräusche tritt zuerst im Alter von zwei Wochen auf und ist mit drei Wochen am stärksten ausgeprägt; dann geben die Nestlinge bei bis zu 40 % der elterlichen Ankünfte am Nest Abwehrlaute von sich. Ältere Nestlinge machen seltener einen derartigen Irrtum, wahrscheinlich, weil sie inzwischen geübter im Identifizieren von Geräuschquellen sind. Unabhängig vom Alter reagieren die Geschwister, was das Zischen angeht, oft unterschiedlich, wenn sie ein Geräusch hören. Mit Sicherheit sinkt das Prädationsrisiko, wenn man das Nest mit Geschwistern teilt, die sofort zischen, wenn sie ein Geräusch hören. Ist die Gefahr aber vorbei, so haben diese leicht erregbaren Individuen oft Schwierigkeiten, sich zu beruhigen, sie atmen immer noch sehr laut, klicken mit der Zunge oder zischen. Dieses geräuschvolle Verhalten erschreckt die Geschwister, die ihrerseits wieder anfangen zu zischen. Manchmal dauert es ziemlich lange, bis die ganze Familie sich schließlich beruhigt hat – auch das trägt zum Stress bei, der durch Prädatoren ausgelöst wird. Das Zischen (Drohrauschen) ist zwar zum Vertreiben von Fressfeinden wichtig, doch es bringt auch erhebliche physiologische Kosten mit sich.

3.3.2 Offene Forschungsfragen • Das Feindverhalten von Schleiereulenpopulationen, die einem unterschiedlichen Prädationsrisiko ausgesetzt sind, sollte untersucht werden. Besonders interessant sind Eulenpopulationen in Tropenregionen, wo die Fressfeinde verbreiteter und verschiedenartiger sind als in gemäßigten Klimaregionen. • Es sollte untersucht werden, welche Rolle Prädatoren für die Populationsdynamik von Schleiereulen spielen.

3.3  Weiterführende Literatur

75

Weiterführende Literatur Abschnitt 3.1 Daszk P, Cunnigham AA, Hyatt AD (2000) Emerging infectious diseases of wildlife: threats to biodiversity and human health. Science 287:443–449 Abschnitt 3.2 Bush SE, Villa SM, Boves TJ, Brewer D, Belthoff JR (2012) Influence of bill and foot morphology on the ectoparasites of barn owls. J Parasitol 98:256–261 Christe P, Møller AP, de Lope F (1998) Immunocompetence and nestling survival in the house martin: the tasty chick hypothesis. Oikos 83:175–179 Clayton DH, Koop JAH, Harbison CW, Moyer BR, Bush SE (2010) How birds combat ectoparasites. Open Ornithol J 2010:41–71 Roulin A (1998) Cycle de reproduction et abondance du diptère parasite Carnus hemapterus dans les nichées de chouettes effraies Tyto alba. Alauda 66:1–8 Roulin A (1999) Fécondité de la mouche Carnus hemapterus, parasite des jeunes chouettes effraies (Tyto alba). Alauda 67:205–212 Roulin A, Brinkhof MWG, Bize P, Richner H, Jungi TW, Bavoux C, Boileau N, Burneleau G (2003) Which chick is tasty to parasites? The importance of host immunology versus parasite life history. J Anim Ecol 72:75–81 Roulin A, Christe P, Dijkstra C, Ducrest A-L, Jungi TW (2007) Origin-related, environmental, sex and age determinants of immunocompetence, susceptibility to ectoparasites and disease symptoms in the barn owl. Biol J Linn Soc 90:703–718 Roulin A, Gasparini J, Froissart L (2008) Pre-hatching maternal effects and the tasty chick hypothesis. Evol Ecol Res 10:463–473 Roulin A, des Monstiers B, Ifrid E, Da Silva A, Genzoni E, Dreiss AN (2016) Reciprocal preening and food sharing in colour polymorphic nestling barn owls. J Evol Biol 29:380–394 Abschnitt 3.3 Van den Brink V, Dolivo V, Falourd X, Dreiss AN, Roulin A (2012) Melanic color-dependent antipredator behavior strategies in barn owl nestlings. Behav Ecol 23:473–480

4

Ökophysiologie

4

4.1 Hörvermögen 4.1.1 Absolutes Gehör 77 Schlechte Lichtverhältnisse haben bei nachtaktiven Beutegreifern die Evolution eines

hervorragenden Gehörs gefördert, so dass sie auch bei Dunkelheit jagen können. Schleiereulen können Geräusche wahrnehmen, die zehnmal schwächer sind als die leisesten Töne, die der Menschen noch hören kann.

Die Schleiereule und ihre Verwandten eignen sich bestens, um die Neurophysiologie des Hörens zu untersuchen. Dank ihres scharfen Gehörs können sie eine Geräuschquelle mit 1,6–3° Genauigkeit orten – sogar bei völliger Dunkelheit. Die Neuhollandeulen & Co. sind in dieser Hinsicht noch leistungsfähiger als Taggreife wie Sumpfweihe und Habichtfalke. Zudem wird die Information, sobald sie das Ohr erreicht hat, sehr rasch verarbeitet, denn die Pupillen weiten sich in nur 25 ms. Zwar können Eulen auch bei völliger Dunkelheit jagen, doch selbst bei den normalerweise sehr schlechten Lichtverhältnissen erhöht ihr Sehsinn den Jagderfolg. Verglichen mit anderen nachtaktiven Vögeln ist die Schleiereule besonders leistungsfähig, was das Wahrnehmen des gesamten Schallspektrums angeht. Dies liegt an einer Reihe anatomischer und physiologischer Anpassungen. Von allen bisher untersuchten Vögeln besitzt die Schleiereule die höchste Anzahl an Haarzellen zur Schallwahrnehmung und die längste Cochlea (Hörschnecke) im Innenohr. Eine besonders wichtige morphologische Anpassung ist ein auffälliger Gesichtsschleier, der de facto den Kopf größer macht (Abb. 4.1 und 4.2). Auch Vogelarten wie die Weihen verfügen möglicherweise über diese Anpassung: Sie jagen Beute, die im Gras verborgen ist, und gleiten dabei mit geringer Geschwindigkeit nur wenige Meter über dem Boden dahin. Der durch den Gesichtsschleier gebildete Resonanzkörper der Schleiereule misst etwa 35 cm2 und funktioniert wie eine Satellitenschüssel, die so den Schall, der sich hin zu den asymmetrisch positionierten Ohren der Eule ausbreitet, um bis zu 20 dB (Dezibel) verstärken kann. Das eine Ohr sitzt etwas höher am Schädel als das andere (Abb. 4.2), und diese Asymmetrie erzeugt eine zusätzliche Differenz in Lautstärke und Laufzeit, wenn ein Schallereignis das linke bzw. rechte Ohr erreicht. Dadurch wird die Ortung des Geräuschs – besonders bei niedrigen Frequenzen – sehr erleichtert. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Roulin, Schleiereulen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62514-9_4

77

4.1 Hörvermögen

79

Abb. 4.1 Das asymmetrische „Gesicht“ der Schleiereule: Schädel und äußeres Gesicht mit Gesichtsschleier sind hier übereinander projiziert

Abb. 4.2  Der asymmetrische Gesichtsschädel (links) und Gesichtsschleier (rechts) der Schleiereule

Symmetrisch am Schädel angeordnete Ohren erzeugen eine interaurale Laufzeitdifferenz (ITD), die den Vögeln ermöglicht, den Azimut einer Schallquelle zu bestimmen – anders ausgedrückt, den Ursprung des Schalls in der Horizontalebene. Die meisten Tiere hören auf diese Weise; dabei schwächt der Körper den Schall auf der Seite ab, die von der Schallquelle abgewandt ist, sodass eine Differenz zwischen rechtem und linkem Ohr entsteht. Da die Schleiereulenohren asymmetrisch hoch am Schädel sitzen, führt dies zu einer weiteren Laufzeitdifferenz und – was noch wichtiger ist – einer Lautstärkedifferenz

4 Ökophysiologie

80

(interaurale Pegeldifferenz, ILD), die eine genaue Lokalisation der emittierten Schallwellen in der vertikalen Ebene erlaubt. Sogar die Größe der Ohröffnungen ist unterschiedlich. Asymmetrische Ohren kommen typischerweise bei den nachtaktiven Eulen vor, die auf diese Weise Schallwellen sowohl in der Horizontal- wie auch in der Vertikalebene genau lokalisieren können.

4.1.2 Offene Forschungsfragen • Drei sich nicht gegenseitig ausschließende Hypothesen könnten erklären, warum im Zuge der natürlichen Selektion ein sehr leistungsfähiges Hörvermögen gefördert wurde. Diese Hypothesen basieren auf dem Gedanken, dass Schleiereulen besonders gute Jäger sein müssen, um überleben zu können: (1) Die Eltern müssen den Nahrungsbedarf ihrer großen Brut befriedigen. (2) Gemessen an ihrer Größe jagen Schleiereulen kleine Beutetiere, was bedeutet, dass sie viele kleine Beutetiere fangen müssen, statt wie größere Prädatoren einige wenige große. (3) Schleiereulen nutzen Lebensräume, die ein außergewöhnlich gutes Hörvermögen erfordern, um dort jagen zu können. • Ein außergewöhnlich gutes Hörvermögen kann zum Problem werden, wenn die Beute in einer lauten Umgebung geortet werden muss, z. B. in Regen- oder Sturmnächten. Dies erklärt möglicherweise, warum Schleiereulen es vermeiden, bei Regen zu jagen.

4.2 Sehvermögen 4.2.1 Unter den Blinden ist die einäugige Eule König 77 Zwar haben die meisten nachtaktiven Organismen im Normalfall ein visuelles System

von hoher Qualität entwickelt, um die Sehschärfe bei geringer Lichtausbeute zu ver‑ bessern, doch bei der Schleiereule reicht möglicherweise das außerordentlich scharfe Gehör für den Jagderfolg aus. Tatsächlich sind bei ihr Sehschärfe und Kontrastemp‑ findlichkeit – vor allem bei Tageslicht – im Vergleich zu anderen Tieren nicht besonders stark entwickelt.

Bei guten Lichtverhältnissen ist die Sehschärfe von Mensch, Falke, Taube, Waldkauz und Virginiauhu besser als diejenige der Schleiereule. Allerdings kann eine Schleiereule (deren Sehschärfe bei Tag und Nacht gleich gut ist) nachts besser als eine Katze sehen (Abb. 4.3). Große Objekte können daher sowohl tagsüber als auch nachts deutlich wahrgenommen werden.

Physiologische Anpassungen an das Nachtleben Das Leben bei Nacht förderte die Ausbildung visueller Anpassungen bei Eulen, doch alles hat Grenzen: • Große, lange röhrenförmige Augen mit langer Brennweite und großer Linse. Die Augen sind in starre Knochen eingeschlossen, damit sie geschützt sind und nicht aus dem

4.2 Sehvermögen

81

gut

Falke

Taube

Sehschärfe

Mensch

Waldkauz

Schleiereule Katze

Nachtsehen

Tagsehen

gering gering

Helligkeit (Luminosität)

hoch

Abb. 4.3  Schleiereulen sehen nachts schärfer als Menschen und Katzen; tagsüber sind ihnen dagegen Menschen, Falken, Tauben und Waldkäuze überlegen. Bei Schleiereulen ist die Sehschärfe bei geringer Lichtstärke (Nachtsehen) und hoher Lichtstärke (Tagsehen) in etwa gleich (Aus Orlowski et al. 2012)

Eulenschädel herausgedrückt werden können. Während ein kugelförmiger Augapfel viele Freiheitsgrade besitzt, ist ein röhrenförmiges Auge eingeschränkt und kann sich kaum bewegen. Dies erklärt auch, warum Schleiereulenaugen fast völlig unbeweglich in ihrer Augenhöhle sitzen (Abb. 4.4). • Da der Platz auf der Retina (Netzhaut) begrenzt ist, erfolgt die Anpassung an geringe Lichtintensitäten, bei denen die lichtempfindlichen Stäbchen benötigt werden, auf Kosten der für das Farbsehen verantwortlichen Zapfen. Das Verhältnis in der Anzahl von Stäbchen (den Sinneszellen, die auf die Wahrnehmung von Objekten bei geringer Lichtintensität spezialisiert sind) zu Zapfen (den Sinneszellen, die Farben wahrnehmen) ist bei Schleiereulen doppelt so groß (20:1) wie bei Menschen (10:1). • Die Entfernung einer sich bewegenden Beute lässt sich leichter mithilfe von räumlichem (dreidimensionalem) Sehen abschätzen; letzteres ist gegeben, wenn die Gesichtsfelder der beiden Augen sich überschneiden. Die Überschneidung beträgt bei der Schleiereule 42°, verglichen zu 20° bei der Taube. Dies ist möglich, weil die Augen der Eule nach vorn gerichtet sind und relativ nahe beieinanderstehen; die Augen der Taube sitzen dagegen seitlich. Unglücklicherweise schränkt diese Anpassung das Gesichtsfeld insgesamt ein (200° bei der Schleiereule, verglichen mit 340° bei der Taube); dies wird

82

4 Ökophysiologie

Abb. 4.4  Die großen Augen einer Maskeneule in Jianfengling (Hainan, China) (© Robert Hutchinson)

durch die Fähigkeit kompensiert, den Kopf in der Horizontalebene mindestens um 270° zu drehen. • Wenn Eulen sich im Sturzflug auf die Beute befinden, passen sie die Form von Linse und Hornhaut an, um fokussiert zu bleiben – allerdings gelingt ihnen dies weniger gut als dem Menschen. Aus unbekannten Gründen sind die australischen Tytonidae möglicherweise nicht so gut in der Lage, eine genaue Fokussierung beizubehalten, wie die Amerikaschleiereule. Diese kurze Beschreibung des Sehvermögens weist darauf hin, dass die Selektion auf Sehschärfe in Zusammenhang mit der Jagd wahrscheinlich weniger intensiv war als die Selektion auf Hörvermögen – denn sogar eine blinde Schleiereule kann in einem Lebensraum auf Nahrungssuche gehen, mit dem sie vertraut ist. Das visuelle System ist in der Tat nicht sehr komplex, wahrscheinlich, weil die Nachaktivität keine besonders genaue Repräsentation der Umgebung erfordert. Die retinalen Ganglienzellen sind spezialisierte Neurone, die das Bild von der Retina (Netzhaut) für die visuelle Verarbeitung zum Tectum opticum übertragen. Schleiereulen besitzen pro Quadratmillimeter 4000 dieser Zellen, verglichen mit 10 000 beim tagaktiven Kaninchenkauz. Das auditorische und das visuelle System haben sich anscheinend in Koevolution entwickelt. Eulen bewegen ihre Augen nicht, wodurch es für sie einfacher wird, das auditorische und das visuelle System zu koordinieren, um den Standort der Beute zu bestimmen. Indem Augen und Ohren zusammenarbeiten, ist der räumliche Referenzrahmen stabiler, was die Lokalisierung der Beute erleichtert (Abb. 4.5).

4.2 Sehvermögen

83

Abb. 4.5  Auf den Britischen Inseln kann man Schleiereulen oft bei Tag fliegen sehen (© Steve Nesbitt)

Verhaltensanpassungen an nachtaktive Lebensweise Es sieht zwar lustig aus, wenn Eulen ihren Kopf auf und ab sowie hin und her bewegen, doch sie tun das nicht, um uns zum Lachen zu bringen. Dieses Verhalten gleicht ihre morphologischen und physiologischen Einschränkungen aus, wenn sie Beute oder Fressfeinde visuell lokalisieren sowie die Entfernung und Richtung bestimmen, aus der ein Schallreiz kommt. Wenn sich weder Beute noch Eule bewegen, verblasst die Erinnerung an die Position der Beute, da diese keine auditorische oder visuelle Information zu ihrer Position mehr liefert. Um aktiv eine Bewegung relativ zur Retina zu erzeugen und die Lokalisierung der Beute zu erleichtern, bewegen Eulen ihren Kopf in großen horizontalen und vertikalen Schwüngen, um so von einem Phänomen namens Bewegungsparallaxe zu profitieren. Wenn sich die Beute plötzlich bewegt, erlauben diese weiträumigen horizontalen und vertikalen Kopfbewegungen dem Vogel, einen größeren Bereich abzusuchen – so verringert sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Beute aus dem Gesichtsfeld der Eule verschwindet. Wenn sich die Beute in irgendeine Richtung bewegt, bewegt die Eule ihren Kopf horizontal, oft in Sakkaden (ruckartigen Bewegungen), um der Bewegung der Beute zu folgen und deren Bild auf der Retina zu fixieren. Vertikale Kopfbewegungen stehen in Relation zur Richtung der Beutebewegung: eine minimale Bewegung, wenn die Beute sich seitwärts bewegt, und eine deutliche vertikale Bewegung, wenn die Beute sich zur Eule hin oder von dieser weg bewegt.

4.2.2 Offene Forschungsfragen • Das Sehvermögen der Schleiereule wurde ausgiebig untersucht, doch über die Unterschiede zwischen Individuen oder Populationen in Bezug auf akustische und optische Beuteortung ist nur wenig bekannt. Möglicherweise gibt es Unterschiede zwischen Individuen, die unterschiedliche Jagdmethoden einsetzen – so könnten manche Indivi-

4 Ökophysiologie

84

duen z. B. häufiger im Flug jagen und andere mehr über Ansitzjagd. Schleiereulen aus verschiedenen Populationen könnten sich in ihrem Sehvermögen (und Hörvermögen) unterscheiden, da sie auf verschiedene Beutespezies spezialisiert sind, die jeweils andere Jagdtechniken erfordern. • Können Schleiereulen die Beute riechen, wenn sie langsam direkt über dem Boden dahingleiten?

4.3

Täglicher Nahrungsbedarf

4.3.1 Ein unersättlicher Jäger 77 Wie viele Mäuse frisst eine Schleiereule pro Jahr? Diese Frage ist nicht nur für Öko‑

logen interessant, sondern auch für Landwirte. Schleiereulen verzehren drei bis vier Kleinnager pro Tag; eine einzige Schleiereulenfamilie kann im Lauf eines Jahres also 5000 bis 7000 Kleinsäuger vertilgen. Daher leistet die Schleiereule bei der Schädlings‑ bekämpfung wertvolle Dienste.

Wenn man die ökologische Bedeutung der Schleiereule beurteilen möchte, ist es wichtig, die jährlich gefressene Menge an Ratten, Langschwanzmäusen und Wühlmäusen zu berechnen. Dies ist nicht einfach, denn die tägliche Nahrungsaufnahme variiert in Abhängigkeit von ökologischen Faktoren wie Niederschlägen und Außentemperatur – nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass Eulen Energie und Wasser aus ihrer Nahrung beziehen. Die Nahrungsaufnahme steigt bei kalten Umgebungstemperaturen, um den Wärmeverlust auszugleichen: Schleiereulen können bei 25 °C ca. 80 g Frischfleisch pro Tag verzehren, bei 5 °C erhöht sich die Menge um 50 % (Tagesmenge 120 g). Auch die Nahrungsqualität beeinflusst die tägliche Nahrungsaufnahme stark: In menschlicher Obhut vertilgt eine Eule, die ausschließlich mit Mäusen ernährt wird, zweimal so viel wie eine Eule, die mit dem energiereicheren Geflügelfleisch gefüttert wird. Um die Anzahl der pro Jahr gefressenen Nager einzuschätzen, wollen wir den Tagesverzehr bei französischen Schleiereulen betrachten. Bei 20 °C frisst eine adulte Eule 75 g frisch erbeuteter Kleinsäuger pro Tag, während ein 20 Tage alter Nestling 64 g pro Tag verzehrt und bis zu 80 g, wenn er 60 Tage alt ist. Eine Wühlmaus wiegt 20–25 g, also frisst eine Schleiereule täglich drei bis vier Wühlmäuse. Eine Familie mit zwei bis acht Nachkommen verzehrt daher während der Brutzeit 1200 bis 3500 Kleinsäuger. Wenn man annimmt, dass zwei dieser Nachkommen bis ins nächste Jahr überleben, könnte die Familie weitere 3000 bis 5000 Kleinsäuger fressen. Jedes Schleiereulenpaar eliminiert also etwa 5000 bis 7000 Kleinsäuger in einem einzigen Jahr. Die Schleiereule ist wirklich der beste Freund des Landwirts (Abb. 4.6 und 4.7)!

Geringe Verdauungseffizienz Verglichen mit anderen Eulen und den Taggreifen erscheint die Schleiereule verfressen und unersättlich. Wie viele Eulen verschlingt sie ihre Beute normalerweise im Ganzen, also einschließlich Fell und Knochen, aus denen aber keine Energie gewonnen werden kann.

4.3  Täglicher Nahrungsbedarf

85

Abb. 4.6  Eine junge Schleiereule beim Verschlingen einer Waldmaus

Die Tytonidae verdauen ihre Nahrung zudem nicht besonders effizient (geringe Verdauungseffizienz), was möglicherweise den beträchtlichen Verzehr an Kleinsäugern verursacht. Bei einem Experiment, in dem Eulen und Taggreife mit derselben Menge an Mäusen gefüttert wurden, zeigte sich, dass der Anteil der vollständig verdauten Knochen bei der Schleiereule geringer war als bei den anderen Vögeln: Aus den Gewöllen der Schleiereule ließen sich 825 Knochen isolieren, 786 aus Gewöllen des Virginiauhus, 748 bei der Ostkreischeule, 176 beim Rotschwanzbussard, 36 beim Sperber und 18 beim Raufußbussard. Die hohe Rate von Knochen in den Gewöllen weist darauf hin, dass die Verdauungssäfte im Magen der Schleiereule nur schwach sauer sind. Daher sind Schleiereulengewölle ein praktisches Hilfsmittel, um ihre Ernährung zu untersuchen, denn man kann die Beutetiere anhand der aus den Gewöllen gewonnenen Knochen (insbesondere Kieferknochen) genau identifizieren. Die schlechte Verdauungsleistung erklärt sich vor allem durch den kurzen Dünndarm der Schleiereule im Vergleich zu anderen Eulen und Taggreifen. Dies impliziert, dass die Zeit, die zur Aufnahme der Nährstoffe zur Verfügung steht, bei der Schleiereule kürzer ist

4 Ökophysiologie

86

6000 Beutestücke – so viel wird für die Aufzucht von 4 Nestlingen benögt

= 1 Beutestück

Abb. 4.7  Eine Schleiereulenfamilie mit vier Nestlingen kann im Lauf eines Jahres 6000 Beutestücke verzehren, hier dargestellt durch die Pyramide aus 6000 Punkten

als bei anderen Vögeln. Entsprechend enthalten die Gewölle der nahe verwandten Neuhollandeule 46 % der gesamten über die Nahrung aufgenommenen Natriummenge, während es bei Habicht, Sumpfweihe und Habichtsfalke nur 14 % sind (Daten aus Australien). Das Skelett der Nestlinge erreicht schon kurz vor dem Ausfliegen seine endgültige Größe. Damit heranwachsende Schleiereulen genügend Calcium für die Knochen anreichern können, besitzen sie im Gegensatz zu Altvögeln offenbar eine besonders effiziente Verdauung. Wahrscheinlich können Nestlinge die Knochen besser als Altvögel verdauen, weil ihr Magensaft mehr Säure enthält. Interessanterweise ist die Verdauungsleistung der Nestlinge im Alter von vier bis fünf Wochen höher als bei älteren Nestlingen – dies korrespondiert mit einer Verlangsamung des Knochenwachstums. Letzteres konnte anhand der Gewölle gezeigt werden, die bei jungen Nestlingen weniger Knochenreste enthalten als bei alten.

4.4  Bildung von Gewöllen

87

Kurzer Darm Der Dünndarm ist für die Resorption der Nährstoffe verantwortlich, und je länger der Darm, desto besser die Verdauungsleistung, die bei Tag- und Nachtgreifen zwischen 75 % und 82 % schwankt. Der Mäusebussard, ein Generalist, sucht seine Beute im Segelflug, eine Jagdmethode, die nicht auf Geschwindigkeit ausgelegt ist. Sein Körper muss daher nicht besonders leicht sein, und sein langer Darm behindert die Nahrungssuche nicht. Auch der Waldkauz hat einen relativ langen Darm, er erbeutet die Nahrung vor allem als Ansitzjäger. Auch diese Jagdmethode ist energetisch nicht sonderlich fordernd und setzt daher kein niedriges Körpergewicht voraus, um effizient zu sein. Ein kurzer Darm hat sich bei zwei Gruppen der Tag- und Nachtgreife entwickelt. Die Jagd auf Vögel und andere wendige Beute erfordert eine sehr schnelle Aufwärtsbewegung der Flügel, was mit einem langen Darm, der mit Nahrung gefüllt ist, nicht möglich ist. Sperber und Wanderfalke gehören in diese Gruppe, sie machen mit hoher Geschwindigkeit Jagd auf Vögel. Die geringe Verdauungsleistung dieser Vogeljäger wird durch den hohen Nährwert ihrer Vogelbeute kompensiert. Zur zweiten Gruppe zählen Arten wie Weihen und Schleiereulen, die jagen, indem sie im niedrigen Gleitflug langsam das Gelände absuchen. Ein sehr kurzer Darm trägt also dazu bei, das Körpergewicht gering zu halten, reduziert aber auch die Verdauungsleistung. Das ist einer der Gründe, warum Schleiereulen Gewölle bilden, die die unverdauten Knochen der Beute enthalten.

4.3.2 Offene Forschungsfragen • Die tägliche Nahrungsaufnahme freilebender Schleiereulen sollte bei Altvögeln und Nestlingen gemessen werden. Bisher stammen alle Schätzwerte von Gefangenschaftsvögeln, was bedeutet, dass die tatsächlichen Daten zur täglichen Nahrungsaufnahme möglicherweise verzerrt sind: durch Stress, der durch die Käfighaltung verursacht wird, durch die Nahrungsqualität und durch verminderte körperliche Aktivität. • Um die ökologische Besonderheit der Schleiereule im Vergleich zu anderen Vögeln genauer aufzuklären, sollten die Nahrungsaufnahme, Dauer der Verdauung und der pHWert des Magensafts bei verschiedenen Eulenarten und Taggreifen unter standardisierten Bedingungen gemessen werden. • Die Verdauungsleistung sollte in Beziehung zu anderen Parametern wie Nahrungstyp und der Uhrzeit, zu der die Nahrung konsumiert wird, gemessen werden.

4.4

Bildung von Gewöllen

4.4.1 Knochen im Keller 77 Gewölle bestehen aus den unverdauten Körperteilen der Beute, überwiegend Knochen,

die von Fell umgeben sind (Abb. 4.8). Die Bildung von Gewöllen könnte sich entwickelt haben, um die „Kosten“ der Verdauung zu reduzieren, die Resorption bestimmter Nähr‑ stoffe zu verhindern oder Schwankungen im Körpergewicht flexibel zu kontrollieren.

88

4 Ökophysiologie

Abb. 4.8  Die Gewölle werden über die Mundöffnung ausgewürgt; sie enthalten Knochen- und Fellreste der Beutetiere

Eulen können tatsächlich den zeitlichen Abstand zwischen zwei Mahlzeiten präzise regulieren, indem sie das Auswerfen von Gewöllen beschleunigen oder verzögern.

Warum produzieren Eulen, Taggreife, Reiher und Möwen Speiballen, die Überreste der vorherigen Mahlzeiten enthalten? Ist die Gewöllbildung ein Nebenprodukt der reduzierten Länge des Verdauungstrakts und hat sich entwickelt, um beim Fliegen ein geringeres Körpergewicht zu haben? Oder liegt es daran, dass die Kloake der gemeinsame Körperausgang für Harn‑, Exkretions‑, Geschlechts- und Verdauungstrakt ist? Bislang fehlen Antworten auf diese Fragen, doch die vier folgenden Hypothesen, die auf einer adaptiven Betrachtungsweise beruhen, könnten relevant sein: 1. Elimination überflüssiger Nährstoffe: Einige in der Beute enthaltene Stoffe wie das Calcium der Knochen und das Keratin des Fells würden toxisch wirken, wenn sie in großen Mengen aufgenommen würden. Eine orale Elimination dieser Körperteile und Reststoffe wäre effizienter als die Verdauung und anschließende Ausscheidung über den Kot. Für diese Hypothese spricht, dass Eulen häufig das Fleisch von Knochen und Fell abreißen, um letztere gar nicht erst aufnehmen zu müssen – dieser Sachverhalt ist noch nicht genauer untersucht worden. 2. Reinigung des Verdauungstrakts: Der Transport der Gewölle durch den Verdauungstrakt während der Regurgitation trägt dazu bei, Parasiten und andere Pathogene sowie versehentlich aufgenommene störende Objekte zu entfernen. 3. Steigerung der Verdauungseffizienz: Sobald die meisten wichtigen Nährstoffe aus einer Mahlzeit aufgenommen sind, zöge eine weitere „Investition“ in die Verdauung

4.4  Bildung von Gewöllen

89

energetische Kosten nach sich, die durch die Resorption einiger weniger Extranährstoffe nicht ausgeglichen würden. Werden die nichtverdauten Anteile einer Mahlzeit jedoch schnell eliminiert, so wird die weitere Verdauung de facto beendet. 4. Kontrolle von Schwankungen im Körpergewicht: Ein niedriges Eigengewicht ist natürlich hilfreich, wenn eine schwere Beute über gewisse Entfernung zum Nest getragen werden muss. Es ist zudem vorteilhaft, das Körpergewicht aktiv zu reduzieren, bevor die Jagd wiederaufgenommen wird, da jedes Zusatzgewicht den Energieverbrauch beim Fliegen erhöht und die Manövrierfähigkeit vermindert. In dieser Situation ist es schneller und effektiver, die unerwünschten Bestandteile vorheriger Mahlzeiten in Form eines Gewölles auszuwürgen, als sie nach vollständiger Verdauung über den Kot zu entsorgen. Möglicherweise hat die Notwendigkeit, das Körpergewicht rasch zu verringern, die Fähigkeit gefördert, das Timing zwischen Nahrungsaufnahme und Gewöllauswurf zu kontrollieren. Während die Bildung von Gewöllen einige Vorteile bietet, bringt sie aber mindestens drei Probleme mit sich: 1. Erstickungsgefahr; allerdings wurde eine tote Eule mit einem im Schlund festsitzenden Gewölle bisher nur zweimal gefunden, in Frankreich und in der Schweiz. 2. Beim Transport der Knochen durch den Verdauungstrakt können dessen empfindliche Gewebe verletzt werden. 3. Es ist schwierig, die nächste Mahlzeit zu verzehren, solange noch kein Gewölle ausgeworfen wurde. Dieses Problem lösen Schleiereulen, indem sie ein Gewölle schneller auswürgen (in 6,5 h anstelle von 7,5–14 h), wenn sie unmittelbar mit der nächsten Mahlzeit rechnen. Bereits die Sichtung einer Wühlmaus kann zum Auswürgen eines Gewölles führen, da die Eule neues Futter erwartet. Auch Eulen in menschlicher Obhut können die Gegenwart von Menschen mit einer Fütterung assoziieren und als Reaktion ein Gewölle auswerfen. Schleiereulen können außerdem die Gewöllbildung aufschieben, damit sie mehrere Beutetiere nacheinander fressen können. Das erklärt vielleicht, warum bei der Amerikaschleiereule nur eine relativ kurze Zeitspanne zwischen Aufnahme des Futters und Auswerfen des Gewölles liegt (7,5–14 h), wenn die Nahrung morgens oder am frühen Nachmittag verzehrt wird – vermutlich in Erwartung einer Abendmahlzeit. Wenn das Futter dagegen am Spätnachmittag oder nachts gefressen wird, ist die Gewöllbildung verzögert (11,5–16 h) – wahrscheinlich, weil es besser sein könnte, nachts mehrere Beutetiere nacheinander zu fressen und erst danach ein Gewölle zu produzieren. Die Anzahl der binnen 24 Stunden gebildeten Gewölle kann daher stark schwanken. Manche Autoren berichten von nur einem Gewölle pro Nacht und einem pro Tag, doch die Situation könnte komplizierter sein, wenn man bedenkt, dass die durchschnittliche Anzahl der Gewölle pro 24 Stunden zwischen 1,2 und 2,7 schwankt.

4 Ökophysiologie

90

4.4.2 Offene Forschungsfragen • Die Anzahl der von den Nestlingen innerhalb von 24 Stunden gebildeten Gewölle sollte in Beziehung zur variablen elterlichen Fütterungsrate analysiert werden. • Steht die Verdauungsleistung mit Nährstoffbedarf und körperlicher Kondition in Beziehung? Benötigen beispielsweise Nestlinge, die wenig kompetitiv sind (wie die letztgeborenen Geschwister einer Brut) oder unter schlechter Nahrungsversorgung leiden, mehr Zeit zur Gewöllbildung, damit sie auf diese Weise mehr Nährstoffe resorbieren können?

4.5

Überleben in der Kälte

4.5.1 Nicht kältetauglich! 77 Verglichen mit anderen Beutegreifern ist die Schleiereule besonders kälteempfindlich.

Ihre tropische Herkunft legt nahe, dass sie schon zur Zeit ihrer Ausbreitung über die gemäßigten Klimaregionen nicht mit kaltem Wetter zurechtkam – doch warum hat die Schleiereule keine Widerstandsfähigkeit gegen Kälte entwickelt? Es könnte sein, dass die Selektion auf ein hohes Fortpflanzungspotenzial die Fortdauer von Morphologie‑, Physiologie- und Verhaltensmerkmalen fördert, die nicht mit einer Widerstandsfähig‑ keit gegen Kälte vereinbar sind. Daran ändert sich möglicherweise deshalb nichts, weil das hohe Reproduktionspotenzial die Mortalität durch kaltes Winterwetter kom‑ pensieren kann.

Sehr typisch für die Schleiereule sind die dramatischen Zusammenbrüche der Bestände im Lauf von strengen Wintern. Einige Populationen können völlig ausgelöscht werden. Wenn der Schnee über längere Zeit mehr als 5 cm hoch ist, bleiben die Kleinsäuger unter der Schneedecke (Abb. 4.9). Für Schleiereulen ist die Jagd auf Kleinsäuger und auch alternative Beute, wie kleine Singvögel, unter solchen Bedingungen sehr schwierig; dies führt zum Verhungern der Eulen – und folglich zu einer reduzierten Überlebensrate und Populationsgröße (Abb. 4.10). So erklärt sich, warum Schleiereulen in niedrigen Höhenlagen und geografischen Breiten brüten, auch wenn es Ausnahmen gibt: In Frankreich brütete z. B. ein Paar in den Vorbergen der Alpen in 1500 m Höhe. In niedrigeren Breitengraden, z. B. in Südamerika, kann man die Schleiereule auch in größeren Höhenlagen finden, wo die Witterung relativ mild ist. Bei französischen Schleiereulen werden im Frühwinter genauso viele Fettreserven (4–66 g) gemessen wie bei Waldohreule und Waldkauz; trotzdem sind ihre Überlebenschancen geringer. Falls nicht ein Mangel an Fettreserven für die schlechte Überlebensrate im Winter verantwortlich ist, warum leiden Schleiereulen dann so sehr unter strengen Wintern? Schlechte Isolierung wegen eines dünnen „Mantels“ und fehlender Hose! Schleiereulen besitzen weniger Körperfedern („Mantel“) als andere Vogelarten, die an kalte Klimaregionen angepasst sind, wie der Waldkauz. Sie zählen ferner zu den wenigen Eulenarten der gemäßigten Regionen, deren Beine weitgehend unbefiedert sind, sodass sie über diese

4.5  Überleben in der Kälte

91

Abb. 4.9  Wenn der Boden längere Zeit mit einer dicken Schneeschicht bedeckt ist, kommt es zu katastrophalen Zusammenbrüchen der Schleiereulenpopulationen

Körperteile eine beträchtliche Menge an Wärme verlieren. Die Außentemperatur, bei der Schleiereulen keine zusätzliche Energie investieren müssen, um eine konstante Körpertemperatur aufrechtzuerhalten, ist hoch und liegt zwischen 23 und 32 °C. Bei der Waldohreule liegt die untere Grenze dieser „thermoneutralen Zone“ hingegen bei 17 °C, was die hohe Kälteempfindlichkeit der Schleiereule noch mehr unterstreicht. Für die Schleiereule ist es energetisch recht „teuer“, warm zu bleiben. Verglichen mit Waldohreulen weisen Schleiereulen einen höheren Tagesenergieverbrauch auf. In Zeiten von Nahrungsmangel und niedrigen Außentemperaturen kann es besonders teuer werden, den Grundumsatz aufrechtzuerhalten. Eine dicke Fettschicht isoliert den Körper gegen Kälte, und das Verbrennen dieses Fetts ist zwar eine effektive Maßnahme zum Aufwärmen, doch es ist nur eine Übergangslösung, um der strengen Winterkälte zu widerstehen. Warum im Winter nicht in wärmere Regionen ziehen? In manchen Bereichen von Nordamerika können Schleiereulen in mildere Winterquartiere ziehen, doch in Europa ist dies erstaunlicherweise nicht der Fall (Abb. 4.11).

Verhungern Die zwischen Schleiereulen und anderen Tag- und Nachtgreifen festgestellten Unterschiede brachten französische Wissenschaftler auf die Idee zu untersuchen, wie Schleiereulen physiologisch mit Fasten zurechtkommen können. Als man die Schleiereulen experimentell hungern ließ, konnten sie bei einer Temperatur von 5 °C 3–15 Tage (Durchschnitt: 9 Tage) durchhalten. Am Ende der Fastenperiode waren sie noch in der Lage zu

4 Ökophysiologie

92

Jährliche Überlebensrate

1,00

0,75

Adulte Schleiereulen 0,50

Juvenile Schleiereulen

0,25

0,00 0

10

20

30

40

50

60

Anzahl der Tage mit Schneedecke höher als 5 cm

Abb. 4.10 Überlebensrate adulter und juveniler Schleiereulen in der Schweiz in Relation zur Anzahl der Tage mit mehr als 5 cm Schneedecke (Aus Altwegg et al. 2006)

fliegen, doch ihre Verdauungs- und lokomotorischen Fähigkeiten waren reduziert. Sobald sie wieder gefüttert wurden, erreichten sie erstaunlicherweise innerhalb von acht Tagen wieder ihr ursprüngliches Körpergewicht. Nur fünf Wochen später legten die Weibchen so viele Eier wie im Jahr davor. Es wird vermutet, dass Schleiereulen in Jahren mit Nahrungsmangel oder nach einem strengen Winter nicht deshalb wenige Eier und diese relativ spät in der Brutsaison legen, weil die brütenden Weibchen in schlechter Kondition wären, sondern um die Gelegegröße strategisch an die aktuellen Umweltbedingungen anzupassen. Das Fasten kann in drei Phasen unterteilt werden: • Phase I dauert weniger als einen Tag und ist durch einen hohen Gewichtsverlust (20,5 g pro Tag) gekennzeichnet. • Während der anschließenden, sieben Tage dauernden Phase II ist der Gewichtsverlust nicht so ausgeprägt (8,6 g pro Tag), da die Fette verbraucht sind und die Muskelproteine geschont werden, um die Jagdfähigkeit zu erhalten. • Kurz vorm Sterben (Phase III) kommt es zu einem abrupten Gewichtsverlust (13,1 g pro Tag); in dieser Phase werden die letzten Proteinreserven verbrannt und Fette aus dem Knochenmark mobilisiert. Wenn Schleiereulen in der Kälte hungern, reduzieren sie ihre Stoffwechselrate am ersten Tag um 16 %, halten aber ihre Körpertemperatur von etwa 41 °C aufrecht. Die Körpertemperatur nimmt erst kurz vor dem Sterben etwas ab (milde Hypothermie mit einem Minimum von etwa 36 °C). Schleiereulen können also nicht ihren Grundumsatz reduzieren, um der Kälte zu widerstehen, sondern sind auf eine energetisch teure Wärmebildung angewiesen, die überdies nicht lange anhält.

4.5  Überleben in der Kälte

93

Weibliche Schleiereulen sind zwar im Durchschnitt schwerer als die Männchen, doch die oben beschriebenen Hungerphasen ähneln sich bei beiden Geschlechtern und führen zu einem Gewichtsverlust von 30 %, was bei einem Vogel, der ursprünglich 300–340 g wiegt, etwa 100 g entspricht. Die beiden Geschlechter sind daher vermutlich gegen Hunger gleich widerstandsfähig; dies könnte erklären, warum man in strengen Wintern in Frankreich, Dänemark und im Vereinigten Königreich etwa gleich viele tote Weibchen wie Männchen gefunden hat.

Warum ist die Schleiereule nicht gut an Kälte angepasst? Die Tytonidae stammen aus den Tropen und haben sich von dort in kältere Regionen ausgebreitet. Sind Schleiereulen in gemäßigten Klimaregionen deshalb so kälteempfindlich, weil sie nicht genügend Zeit hatten, um spezifische Anpassungen auszubilden? Wird die Entwicklung von Kälteresistenz durch Einwanderer aus wärmeren Regionen verlangsamt (die Individuen aus den warmen Regionen sind nicht an kalte Witterung angepasst)? Individuen, die aus dem Süden Europas oder Nordamerikas in die nördlichen Regionen des jeweiligen Kontinents wandern, steuern Gene bei, die an südliche Klimaregionen angepasst sind, und verhindern damit de facto, dass die nördlichen Populationen bessere Fähigkeiten entwickeln, um harte Winter zu überleben. Dies ist deshalb plausibel, weil auf beiden Kontinenten ein beträchtlicher Austausch zwischen Nord und Süd existiert. Es reicht möglicherweise jedoch nicht, um die derart empfindliche Reaktion der Schleiereulen auf kalte Winter zu erklären. Mit mehr als einer Brut pro Jahr haben die Tytonidae ein hohes Fortpflanzungspotenzial, dabei besteht jede Brut aus neun bis elf Nachkommen. So selektiert die Notwendigkeit, Futter für eine große Familie zu erbeuten, möglicherweise für eine geringe Fähigkeit zur Fettspeicherung, da ein geringeres Körpergewicht die Nahrungssuche erleichtert. Möglicherweise besitzen Individuen, die auf Kosten der Kälteresistenz eine hohe Fortpflanzungskapazität entwickelt haben, einen selektiven Vorteil gegenüber Tieren mit geringerer Nachkommenzahl, da die Produktion zahlreicher Nachkommen die schlechtere Überlebensrate in strengen Wintern kompensieren sollte.

4.5.2 Offene Forschungsfragen • Man sollte die isolierenden Eigenschaften der Federn von Schleiereulen aus warmen und kalten Klimaregionen untersuchen. Möglicherweise liefert dies Informationen zur Frage, ob eine spezifische Anpassung der Schleiereulenfedern in warmen und kalten Klimaregionen erfolgte, damit die Eulen bei kaltem Wetter in gemäßigten Klimaregionen überleben können.

Abb. 4.11  Schleiereule im Schneetreiben auf den Britischen Inseln (© David Tipling)

96

4 Ökophysiologie

Weiterführende Literatur Abschnitt 4.1 Bala ADS, Takahashi TT (2000) Pupillary dilation response as an indicator of auditory discrimination in the barn owl. J Comp Physiol A 186:425–434 Dyson ML, Klump GM, Gauger B (1998) Absolute hearing thresholds and critical masking ratios in the European barn owl: a comparison with other owls. J Comp Physiol A 182:695–702 Hausmann L, Platchta DTT, Singheiser M, Brill S, Wagner H (2008) In-flight corrections in free-flying barn owls (Tyto alba) during sound localization tasks. J Exp Biol 211:2976–2988 Hausmann L, von Campenhausen M, Endler F, Singheiser M, Wagner H (2009) Improvements of sound localization abilities by the facial ruff of the barn owl (Tyto alba) as demonstrated by virtual ruff. Plos One 4:e7721 Knudsen EI, Blasdel GG, Konishi M (1979) Sound localization by the barn owl (Tyto alba) measured with the search coil technique. J Comp Physiol A 133:1–11 Konishi M (1973) Locatable and nonlocatable acoustic signals for barn owls. Am Nat 107:775–785 Payne RS (1971) Acoustic location of prey by barn owls (Tyto alba). J Exp Biol 54:535–573 Peciscs T, Laczi M, Nagy G, Kondor T, Csörgö T (2018) Analysis of morphometric characters in owls (Strigiformes). Ornis Hung 26:41–53 Von Campenhausen M, Wagner H (2006) Influence of the facial ruff on the sound-receiving characteristics of the barn owl’s ears. J Comp Physiol A 192:1073–1082 Abschnitt 4.2 Fux M, Eilam D (2009) How barn owls (Tyto alba) visually follow moving voles (Microtus socialis) before attacking them. Physiol Behav 98:359–366 Gutierrez-Ibanez C, Iwaniuk AN, Lisney TJ, Wylie DR (2013) Comparative study of visual pathways in owls (Aves: Strigiformes). Brain Behav Evol 81:27–39 Harmening WM, Wagner H (2011) From optic to attention: visual perception in barn owls. J Comp Physiol A 197:1031–1042 Harmening WM, Orlowski J, Ben-Shahar O, Wagner H (2011) Overt attention towards oriented objects in free-viewing barn owls. Proc Natl Acad Sci USA 108:8461–8466 Hausmann L, Platchta DTT, Singheiser M, Brill S, Wagner H (2008) In-flight corrections in free-flying barn owls (Tyto alba) during sound localization tasks. Jexp Biol 211:2976–2988 Knudsen EI (1982) Auditory and visual maps of space in the optic tectum of the owl. J Neurosci 2:1177– 1194 Land MF, Nilsson D-E (2012) Animal eyes. Oxford University Press, Oxford Orlowski J, Harmening W, Wagner H (2012) Night vision in barn owls: visual acuity and contrast sensitivity under dark adaptation. J Vis 12:1–8 Abschnitt 4.3 Barton NWH, Houston DC (1993) A comparison of digestive efficiency in birds of prey. Ibis 135:363–371 Barton NWH, Houston DC (1994) Morphological adaptation of the digestive tract in relation to feeding ecology of raptors. J Zool 232:133–150 Durant JM, Handrich Y (1998) Growth and food requirement flexibility in captive chicks of the European barn owl (Tyto alba). J Zool 245:137–145 Hamilton KL (1985) Food and energy requirements of captive barn owls Tyto alba. Comp Biochem Physiol A 80:355–358 Hoffman R (1988) The contribution of raptorial birds to patterning in small mammal assemblages. Paleobiology 14:81–90 Abschnitt 4.4 Barton NWH, Houston DC (1994) Morphological adaptation of the digestive tract in relation to feeding ecology of raptors. J Zool 232:133–150

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5

Ökomorphologie

5

5.1 Körpergröße 5.1.1 Gulliver und die Liliputaner 77 Eine Variation der Körpergröße ist streng genetisch kontrolliert; daher kann sich eine

größere oder geringere Körpergröße sehr rasch entwickeln, wenn sie Vorteile im Rahmen der natürlichen oder sexuellen Selektion bringt. Wenn man die geografische Variation der Körpergröße vergleichend untersucht, kann man wichtige Informationen zu den ökologischen Faktoren erhalten, die für die Evolution einer großen oder geringen Körpergröße verantwortlich sind.

Das Spektrum der Körpergröße reicht bei Schleiereulen von klein auf den Galapagosinseln bis zu sehr groß in Tasmanien (Abb. 5.1). Die kleinste Tyto-Art der Welt ist im Durchschnitt halb so groß wie die größte Tyto-Art. Warum ist der Größenunterschied zwischen den verschiedenen Tyto-Spezies so ausgeprägt? Um die potenzielle Rolle von ökologischen und klimatischen Variablen zu bewerten, wurde die geografische Verbreitung verschieden großer Arten verglichen. Eine Analyse von 11 000 Individuen aus insgesamt 141 Naturkundemuseen weltweit zeigte, dass Schleiereulenarten im Durchschnitt unter folgenden Bedingungen größer sind: in Regionen mit humidem Klima verglichen mit aridem Klima, auf der Nordhalbkugel verglichen mit der Südhalbkugel, ferner zum Äquator hin verglichen mit gemäßigten Klimaregionen, und dies unabhängig von Nord- oder Südhalbkugel (Abb. 5.2, 5.3 und 5.4). Zusätzlich zu diesen komplexen Trends ist die Kapgraseule (T. capensis) im südlichen Afrika überdies größer als weiter nördlich, während es bei der Schleiereule (T. alba) in Afrika genau umgekehrt ist. In Südamerika ist die geografische Variation der Körpergröße sehr stark ausgeprägt; hier sind die Schleiereulen im Süden des Kontinents viel kleiner als näher am Äquator. Bisher ist unbekannt, wie diese Trends in der geografischen Variation der Körpergröße durch natürliche Selektion entstanden sein können. Eines ist sicher: Es gibt noch viel Raum für Forschung! © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Roulin, Schleiereulen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62514-9_5

99

5.1 Körpergröße

101

Abb. 5.1 Die große tasmanische Form der Neuhollandeule und eine kleine Amerikaschleiereule aus Galapagos

Inselbesonderheiten Vor etwa fünf Millionen Jahren (5 mya) lebten viele Tytonidae auf Inseln und waren sehr groß: bis zu 2,65-mal größer als die heutige europäische Schleiereule und sogar größer als die rezenten Uhus. Auf Inseln gibt es meistens weniger Nahrung, weniger Fressfeinde, eine geringere Artendiversität, und Beutetiere sind nicht so zahlreich wie auf dem Festland. Die ökologischen Bedingungen fördern bei vielen Organismen eine Selektion auf eine andere Körpergröße als auf dem Festland, und die Schleiereule ist da keine Ausnahme. Eulen auf abgelegenen Inseln besitzen ein größeres Skelett als Eulen auf Inseln in Kontinentalnähe, doch Flügel und Schwanz sind nicht zwangsläufig länger. War eine stattliche Körpergröße eine Voraussetzung, um zu abgelegenen Inseln zu fliegen? Sobald die Schleiereule eine Insel erreicht hatte, förderte die Selektion eine Entwicklung von kürzerem Schwanz und Flügeln, gleichgültig, wie weit es bis zum nächsten Festland war. Die Gelegenheit zum Erkunden neuer Gebiete ist auf Inseln stärker eingeschränkt als auf dem Festland, daher sind längere Flügel und Schwanz auf Inseln möglicherweise nicht nötig. Diese Hypothese wird durch die Tatsache untermauert, dass bei Eulen auf größeren Inseln Schnabel, Flügel und Schwanz größer sind als bei den Eulen auf kleineren Inseln, wo es weniger Raum zum Herumfliegen und Erkunden gibt.

5 Ökomorphologie

102

Schleiereule-Artkomplex Schnabellänge

28,3 mm 21,1 mm 16,9 mm

Graseulen

Schnabellänge 26,0 mm 22,0 mm 18,0 mm

Neuhollandeulen & Co. Schnabellänge

26,0 mm 24,0 mm 22,0 mm

Abb. 5.2  Variation der Schnabellänge bei Schleiereulen, Graseulen und Neuhollandeulen & Co.

5.1 Körpergröße

Schleiereule-Artkomplex Flügellänge 358 mm 291 mm 224 mm

Graseulen Flügellänge 357 mm 312 mm 267 mm

Neuhollandeulen & Co. Flügellänge 344 mm 288 mm 232 mm

Abb. 5.3  Variation der Flügellänge bei Schleiereulen, Graseulen und Neuhollandeulen & Co.

103

5 Ökomorphologie

104 Mittlere Schnabellänge (mm) 26

Rußeulen Neuhollandeulen & Co.

25 24 23

SchleiereuleArtkomplex

Graseulen

22 21 Maskeneulen

20

n ie As

N o M rda it t m el er am ik e a Sü K r ik da ar i a m bik er A f ik a ri A s ka i E A u ur e n s o O t ra pa ze l i an en ie / n Af r Au A ik a s t sie O ra n ze l i an en Au ien / s O t ra ze l i an en / Au ien s O t ra ze l i an en ie / n

19

Mittlere Flügellänge (mm) 350 330

SchleiereuleArtkomplex

Graseulen Neuhollandeulen & Co.

310 290 270

Rußeulen

250 230 210

ie As

Af ri ka Au s t A si O ra e ze l i n an en ie / n Au st O ra ze l i an en ie / n Au st O ra ze l i an en ie / n

N or M da it t m el er am ika e Sü K a rika da r i m bik er i Af ka ri k As a ie E A u ur n s o O t ra p a ze l i an en ie / n

n

Maskeneulen

190

Abb. 5.4 Neuhollandeulen & Co. und Rußeulen haben viel längere Schnäbel (stellvertretend für die Gesamtgröße des Knochenskeletts) als der Schleiereule-Artkomplex und Graseulen, doch sie haben nicht zwangsläufig längere Flügel. Die Schleiereulen in Afrika und Europa sind im Vergleich zu ihren Pendants auf anderen Kontinenten besonders klein. Derselbe Trend gilt für die Graseulen in Afrika und Asien. Diese beiden Balkendiagramme zeigen, dass die – was den Schnabel angeht – größten Tytonidae kurze Flügel aufweisen können (z. B. Rußeulen) und die kleinsten Schleiereulen lange Flügel (z. B. Schleiereulen in Afrika und Europa). Die Daten beruhen auf den Maßen von Balgexemplaren aus Naturkundemuseen

5.1 Körpergröße

105

Einfluss von Umwelt und Vererbung auf die Körpergröße Bei uns Menschen haben große Eltern oft große Kinder – gilt dieser Trend auch für Schleiereulen? Eine starke genetische Basis der Körpergröße impliziert, dass sich Schleiereulen rasch zu einer größeren (oder geringeren) Körpergröße hin entwickeln könnten, wenn eine große (oder geringe) Größe plötzlich Vorteile in Fortpflanzung oder Überleben brächte. Ein klassischer Versuchsansatz, um zu herauszufinden, ob die Ähnlichkeit in der Körpergröße bei Eltern und Nachkommen genetisch oder umweltdeterminiert ist, besteht darin, die Eier oder frischgeschlüpften Jungen zwischen zufällig ausgewählten Nestern experimentell auszutauschen (sogenannte Fremdpflege, cross-fostering). Wenn die fremdgepflegten Jungen eine ähnliche Größe wie ihre biologischen Eltern erreichen, können wir schließen, dass sie Gene geerbt haben, die die Körpergröße regulieren. Wenn die fremdgepflegten Jungen eine ähnliche Größe wie ihrer Pflegeeltern erreichen, können wir annehmen, dass das Wachstum von der Aufzuchtumgebung abhängt und dass die Aufzuchtbedingungen, unter denen der fremdgepflegte Nestling aufwächst, denjenigen gleichen, denen seine Pflegeeltern während des Heranwachsens ausgesetzt waren. Sogar wenn die Nachkommen keine ähnliche Größe wie ihre Pflegeeltern erreichen, kann die Körpergröße immer noch von den Aufzuchtbedingungen beeinflusst sein. Dies lässt sich herausfinden, wenn nichtverwandte Nachkommen, die aber dieselbe Aufzuchtumgebung teilen, eine ähnliche Größe erreichen, weil sie eine ähnliche Futtermenge oder Futter von ähnlicher Qualität erhalten. Fremdpflegeexperimente sind wiederholt in der Schweiz durchgeführt worden. Diese Untersuchungen zeigten, dass die Schnabellänge bei Nachkommen und biologischen Eltern ähnlich ist (Heritabilitätsschätzwert der Schnabellänge: h2 = 0,62 ± 0,19), eine Schlussfolgerung, die auch auf die Krallenlänge (h2 = 0,62 ± 0,18), Flügellänge (h2 = 0,48 ± 0,17) und Schwanzlänge (h2 = 0,42 ± 0,19), aber in geringerem Ausmaß auf die Tarsuslänge (h2 = 0,25 ± 0,24) zutrifft. Die Genetik hat also einen großen Einfluss auf die Körpergröße, doch was ist mit der Aufzuchtumgebung? Zwei Hinweise bestätigen, dass die Aufzuchtumgebung und die Jagdfähigkeit der Altvögel, die einen Nestling aufziehen, einen ausgeprägten Einfluss auf die Körpergröße haben. Erstens entwickeln sich nichtverwandte Nestlinge, die im selben Nest aufgezogen werden, zu einer ähnlichen Körpergröße. Zweitens sind die erstgeborenen Nestgeschwister besser in der Lage, Futter zu monopolisieren als ihre später geborenen Geschwister und erreichen daher eine stattlichere Körpergröße. Es gibt jedoch keine Hinweise, dass Pflegekinder ihren Pflegeeltern hinsichtlich der Körpergröße ähneln. Dies deutet darauf hin, dass größere Eltern nicht besser für ihren Nachwuchs sorgen als kleinere Eltern. Wenn größere Eltern mehr Futter oder qualitativ besseres heranschaffen würden, hätten die Pflegekinder zu einer ähnlichen Körpergröße heranwachsen müssen wie ihre Pflegeeltern; dies war in der Schweiz jedoch nicht der Fall. Anomale Morphologie In der Literatur wird selten von morphologischen Aberrationen berichtet, da anomale Individuen meistens sterben, bevor sie das Brutalter erreichen. Seltene Phänotypen können aufgrund von Stress während des Wachstums oder aufgrund von Mutationen entstehen. Die genetische Variation zugunsten seltener Phänotypen kann erhalten bleiben, wenn diese Phänotypen nicht zu nachteilig sind (ein Beispiel sind verkümmerte Strukturen beim Men-

5 Ökomorphologie

106

schen, die im Lauf der Evolution ihre Funktion verloren haben, wie das Steißbein oder der Blinddarm). In der Literatur wurde nur von sehr wenigen Fällen einer anomalen Morphologie bei der Schleiereule berichtet. Zu diesen Fällen zählen ein Individuum mit fünf anstelle von vier Zehen an jedem Bein, eines, das nur mit einem Flügel geboren wurde, sowie ein blinder Nestling. Und obwohl in der Schweiz 97 % der Schleiereulen zwölf Schwanzfedern besitzen, können es manchmal auch 10, 11, 13 oder 14 Schwanzfedern sein. Die zugrunde liegende genetische Variation, die aberrante Individuen hervorbringt, kann das „Rohmaterial“ liefern, aus dem sich neue Phänotypen entwickeln. Möglicherweise hat der Besitz von mehr oder weniger als zwölf Schwanzfedern zu irgendeinem Zeitpunkt der Evolution selektive Vorteile gebracht, wodurch sich das Fortbestehen dieses Genotyps in der Population erklären würde.

5.1.2 Offene Forschungsfragen • Ist die natürliche Selektion in Bezug auf die Körpergröße direktional (d. h., besitzen größere Individuen eine größere Fitness als kleinere Artgenossen) oder stabilisierend (d. h., sind Individuen mittlerer Größe fitter als kleinere oder größere Individuen)? Oder fluktuiert die natürliche Selektion im Lauf der Zeit, abhängig von den jeweiligen ökologischen oder klimatischen Bedingungen? Eine stattlichere Körpergröße könnte beispielsweise in kalten Jahren günstig sein und eine geringe Körpergröße in warmen Jahren. • Warum sind Rußeulen sowie die Neuhollandeulen & Co. so groß? Es sollten mehr Untersuchungen durchgeführt werden, um die ökologischen und klimatischen Faktoren zu bestimmen, die für die geografische Variation der Körpergröße verantwortlich sind.

5.2

Reverser sexueller Größendimorphismus

5.2.1 Große Mama, kleiner Papa 77 Ein reverser sexueller Größendimorphismus (reverser Sexualdimorphismus, RSD) liegt

bei Tierarten vor, bei denen das Weibchen im Durchschnitt größer als das Männchen ist. Dies ist bei Vögeln ungewöhnlich – mit Ausnahme einiger Gruppen wie Eulen, Habichten und Sperbern, Falken, Raubmöwen, Tölpeln, Fregattvögeln sowie den polyandrischen Blatthühnchen und Wassertretern. Eulenweibchen sind groß und fangen daher oft größere Beute als die kleineren Männchen. Dank des RSD hat ein Eulenpaar also ein breiteres Beutespektrum.

Bei einigen Accipitridae (Habichtartigen), Falconidae (Falken) und Jacanidae (Blatthühnchen) können die Weibchen doppelt so schwer wie die Männchen sein. Beim ausgestorbenen Moa aus Neuseeland waren die Weibchen sogar bis zu 280 % größer als die Männchen. Wir können anhand von drei sich nicht gegenseitig ausschließenden selektiven Hypothesen

5.2  Reverser sexueller Größendimorphismus

107

Abb. 5.5  Unter den Eulen ist der reverse Sexualdimorphismus bei der Rußeule am stärksten ausgeprägt: Weibchen wiegen 1000–1200 g und Männchen 500–700 g

erklären, warum die Weibchen der Eulen, Greifvögel und Falken größer als die Männchen sind (Abb. 5.5). 1. Sexualdimorphismushypothese: Die Männchen werden auf Kleinheit selektiert und die Weibchen auf eine stattliche Körpergröße. Die Männchen spezialisieren sich auf kleine und die Weibchen auf große Beutetiere, sodass es bei der Nahrungssuche zu einem geringeren Wettbewerb zwischen den beiden Geschlechtern kommt. Ein Elternpaar mit RSD kann daher eine größere ökologische Nische als ein gleich großes Elternpaar nutzen, indem es unterschiedliche Beute jagt. Dank RSD könnten die Eltern ihre Nachkommen daher effizienter mit Futter versorgen. 2. Kleines-Männchen-Hypothese: Die Selektion auf Kleinheit bei Männchen ist stärker als die Selektion auf Größe bei Weibchen. Die Nachkommen benötigen innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne sehr viel Futter; daher ist es möglicherweise nicht optimal, auf große Beute zu setzen, da große Beutetiere nicht häufig und nur schwer zum Nest zu transportieren sind. Es könnte für die Männchen effizienter sein, kleine Tiere zu jagen, die meist viel häufiger sind und sich leicht zum Nest zurückbringen lassen. In diesem Zusammenhang könnte eine geringe Körpergröße des Männchens den Vorteil haben, dass sich wendige Beute besser fangen lässt und sich die energetischen Kosten des Fliegens reduzieren. Da das Männchen das meiste Futter für die Nachkommen

5 Ökomorphologie

108

Sexueller Größendimorphismus (bei der Schnabellänge) 1,14 Rußeulen Neuhollandeulen & Co.

1,12

1,10

1,08

1,06

SchleiereuleArtkomplex

Maskeneulen

Graseulen

1,04

1,02

n ie As

Au s O t ra ze l i an en ie / n

Af

ri ka Au A s s ie O t ra n ze l i an en ie / n Au s O t ra ze l i an en ie / n

el

or N

M

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da

m

er i am ka er ik a Sü K ar da ibi m k er ik Af a ri k As a ie Eu n A u ro p s O t ra a ze l i an en ie / n

1,00

Abb. 5.6  Reverser sexueller Größendimorphismus (RSD) bei der Schnabellänge der Familie Tytonidae (mittlere Schnabellänge des Weibchens dividiert durch mittlere Schnabellänge des Männchens). Bei Rußeulen und Neuhollandeulen & Co. ist der Sexualdimorphismus stärker ausgeprägt als bei anderen Gruppen. Die Daten basieren auf Messungen an Museumsbälgen

beisteuert, würde ein kleiner Körper ihm intensivere Jagdaktivitäten erlauben. Diese Hypothese wird durch Beobachtungen beim Raufußkauz unterstützt. 3. Großes-Weibchen-Hypothese: Die Selektion auf Größe bei Weibchen ist stärker als die Selektion auf Kleinheit bei Männchen. Ein großes Weibchen hat wahrscheinlich Vorteile bei der Fortpflanzung: Es kann größere Eier legen, länger am Stück bebrüten und Feinde besser abwehren, wenn das Männchen auf Jagd ist. Bisher reicht die Datenlage nicht aus, um zu entscheiden, welche der drei Hypothesen zutrifft – nicht nur bei der Schleiereule, sondern bei den meisten Vogelarten. Tatsche ist, dass sich bei Eulenarten (Strigidae und Tytonidae), die wendige wie auch große Beute fangen, ein ausgeprägter RSD entwickelt hat (Abb. 5.6). Wir vermuten, dass sich dieser Trend des Sexualdimorphismus im Lauf der Evolution nicht herausgebildet hat, um die Fortpflanzungsaktivitäten des Weibchens zu optimieren, sondern eher, um die Nahrungskonkurrenz innerhalb der Familie zu reduzieren: Die Männchen fangen kleine wendige Beute und die

Weiterführende Literatur

109

Weibchen erjagen größere Beutetiere. Diese Interpretation ist konsistent mit der Sexualdimorphismus-Hypothese und beruht auf Ergebnissen aus einem Vergleich zwischen dem Grad des sexuellen Größendimorphismus und der Ernährung innerhalb der Eulen. Was können wir im spezifischen Fall der Tytonidae sagen? Warum sind die Weibchen der Rußeule und der tasmanischen Form der Neuhollandeule so viel größer als die Männchen (Gewicht 1000–1200 g gegenüber 500–700 g bzw. 880 g gegenüber 580 g), während die Weibchen unserer Schleiereule und der Kapgraseule nur unwesentlich größer sind als die Männchen (etwa 5 %)? Der Trend hängt wahrscheinlich mit dem Jagdverhalten zusammen, denn bei der Rußeule ist die Ernährung von Männchen und Weibchen sehr unterschiedlich und überschneidet sich nur zu 62 %. Die von den Rußeulenweibchen geschlagene Beute ist drei- bis fünfmal schwerer als die Beute ihrer männlichen Partner. Der Größenunterschied bei Männchen und Weibchen ist beim Schlupf noch nicht vorhanden. In der Schweiz wurde bei zehn Tage alten Schleiereulennestlingen ein Gewichtsunterschied von weniger als 1 % gemessen; dieser erhöhte sich bis zum Erreichen des Altvogelgewichts (mit 50 Tagen) auf 5 %.

5.2.2 Offene Forschungsfragen • Die ökologischen und biologischen Faktoren, die das Ausmaß von RSD bei den Tytonidae bestimmen, sollten identifiziert werden. • Es sollte bestimmt werden, ob die Größenunterschiede zwischen männlichen und weiblichen Partnern mit Reproduktionsparametern korreliert sind. • Es sollte untersucht werden, ob die Selektion auf Körpergröße positiv, negativ oder stabilisierend ist.

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5 Ökomorphologie

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6

Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

6

6.1

Jäger der Nacht

6.1.1 Nachteule 77 Eulen sind zwar sprichwörtliche Nachteulen, d. h. nachtaktiv, doch im wirklichen Leben

ist die Situation etwas komplizierter (Abb. 6.1). Fast alle Schleiereulen auf der ganzen Welt jagen nur nachts, es gibt aber Ausnahmen auf Tonga, Samoa und im Vereinigten Königreich. Die Aufzeichnung von Schlafmustern mittels nichtinvasiver Methoden hat gezeigt, dass die Schleiereule ganz klar, aber nicht ausschließlich nachtaktiv ist, denn Altvögel sind tagsüber häufig wach.

Für Tiere ist der Überlebenskampf hart. Prädatoren sind zahlreich und bedrohlich, da sie etliche Anpassungen ausgebildet haben, um als Jäger erfolgreich zu sein. Vor Jahrmillionen entwickelten tagaktive Säugetiere eine nachtaktive Lebensweise – zum einen als Reaktion auf starke Prädation am Tage, zum anderen, um mit den ektothermen (zum Aufwärmen auf Sonnenlicht angewiesenen) Dinosauriern konkurrieren zu können. Auch einige Dinosaurier wurden im Verlauf der Evolution endotherm und entwickelten sich zu der Gruppe, die wir heute Vögel nennen. Im Zuge der natürlichen Selektion kam es dann zu einer zeitlichen Aktivitätsverschiebung zwischen Eulen und Greifvögeln, um so die Konkurrenz beim Nahrungserwerb zu verringern. Die Ernährung der Schleiereule ähnelt beispielsweise stärker derjenigen der Ohreulen (Asio spp.) – Nahrungsüberlappung gleich 0,60; ein Wert von 1 würde bedeuten, dass sie dieselben Beutearten mit derselben Häufigkeit fangen – als jener der tagaktiven Falken (0,48) und Steinkäuze (Athene spp.) (0,36). Diese nutzen zwar ähnliche Habitate, erbeuten aber häufiger Eidechsen und Evertebraten.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Roulin, Schleiereulen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62514-9_6

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6.1  Jäger der Nacht

113

Abb. 6.1  Schleiereulen sind vorwiegend nachtaktiv

Nachtaktiv versus tagaktiv Schleiereulen und ihre Verwandten sind vor allem nachtaktiv. In Südafrika, Argentinien, Surinam und den USA hat man sie gelegentlich tagsüber bei der Jagd beobachtet, doch die einzigen Orte, an denen man sie zu allen Tages- und Nachtzeiten beobachten kann, sind Samoa und Tonga (nicht aber Fidschi) und Teile des Vereinigten Königreichs (nicht jedoch Irland). Falls das diurnale Verhalten auf diesen Pazifikinseln darauf beruhen sollte, dass konkurrierende Beutegreifer fehlen, stellt sich die Frage, warum man Schleiereulen im Vereinigten Königreich häufig vor Sonnenuntergang und nach Sonnenaufgang beim Jagen beobachten kann (Abb. 4.5), nicht jedoch andernorts in Europa. Liegt es daran, dass sie im Vereinigten Königreich Jagd auf Erdmäuse (Microtus agrestis) machen, auf dem Festland aber auf Feldmäuse (M. arvalis)? Vielleicht sind Erdmäuse bei Tageslicht aktiver als Feldmäuse. Oder liegt es möglicherweise daran, dass in den nördlichen Landesteilen des Vereinigten Königreichs im Hochsommer keine vollständige Dunkelheit herrscht? Mehr Fragen als Antworten! Schleiereulen jagen häufiger bei Tageslicht, wenn die Nahrung knapp ist (insbesondere bei ungünstigem Winterwetter (Abb. 4.11)), wenn die Jagd in den Nachtstunden nicht aus-

114

6  Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

reicht, um den Nahrungsbedarf der Brut zu decken, oder wenn die Nächte nicht lang genug sind. Leider gibt es keine quantitativen Daten, um diese Hypothesen zu beurteilen. Bisher wissen wir nur, dass manche Individuen tagsüber häufiger aktiv sind als andere und dass ein bestimmtes Individuum an einem Tag tagsüber unterwegs sein kann, am nächsten jedoch nicht. Im Winter jagten acht von neun englischen Schleiereulen regelmäßig bei Tag, sie erschienen im Mittel 79 min vor Sonnenuntergang und flogen bis zu 139 min nach Sonnenaufgang umher. Ein brütendes Männchen jagte an 24 von 60 Tagen (40 %), seine Partnerin an 37 von 69 Tagen (54 %). Dieses interessante Verhalten sollte näher untersucht werden.

Leerer Magen Ein voller Magen ist vermutlich nicht optimal, wenn man langsam und unerkannt fliegen möchte. Um dieses Problem zu umgehen, bringen männliche Schleiereulen alle Beutetiere, die benötigt werden, um den täglichen Nahrungsbedarf der gesamten Familie zu decken, zu Beginn der Nacht zum Nest und fressen selbst erst am Ende der Nacht. Selbst erst zu fressen, nachdem die anderen versorgt sind, erscheint auf den ersten Blick wie ein Akt der reinen Familienliebe, doch dieses Verhalten kommt auch dem Jäger zugute: Es vermindert seine (energetischen) Flugkosten und steigert so seinen Jagderfolg. Beutetiere, die schneller geliefert werden, als die Nestlinge sie verzehren können, werden im Nest gestapelt („Beutelager“), sodass die Jungeulen ihre Nahrungsaufnahme über 24 Stunden verteilen und sowohl tagsüber als auch nachts fressen können. Auf diese Weise können die Nestlinge den Zeitpunkt ihrer Mahlzeiten selbst bestimmen. Das Anlegen eines Beutedepots oder Beutelagers konnte außerhalb der Brutzeit niemals beobachtet werden – wahrscheinlich wäre das Risiko, dass Artgenossen oder andere Tiere die gehortete Nahrung stehlen, recht hoch. Falls es nicht möglich ist, ein Beutelager anzulegen, können Schleiereulen den Zeitpunkt des nächsten Jagdfluges sehr genau auf die Verdauung ihrer letzten Mahlzeit abstimmen. Von den toten Schleiereulen, die an französischen Straßen aufgesammelt wurden, hatten die größeren Vögel mehr Nahrung im Magen als die kleineren; dies lässt darauf schließen, dass nur die größten Individuen es sich leisten können, mit dem zusätzlichen Gewicht zu fliegen. Der Magen dieser Vögel enthielt bis zu 50 g Nahrung, was 16 % ihres Körpergewichts entspricht. Schlafenszeit In der Voliere gehaltene Amerikaschleiereulen sind vor allem aktiv, wenn die Lichtstärke 0,2–0,4 Lux beträgt, was Vollmondnächten entspricht. Dies steht im Gegensatz zum tagund nachtaktiven Steinkauz, der im Bereich von 4,6–155 Lux aktiv ist. Wahrscheinlich ist das Fasten während des Tages der Grund dafür, dass Eulen zu Beginn der Nacht ihren Aktivitätspeak zeigen, nämlich dann, wenn sie sich zur Nahrungssuche aufmachen. Nicht geklärt ist, warum unmittelbar vor Sonnenaufgang eine zweite Aktivitätsspitze beobachtet wird oder warum adulte Gefangenschaftsvögel auch um die Mittagszeit relativ aktiv sind. Zusammen mit der Beobachtung, dass 15 % der Flugaktivität bei Tageslicht stattfinden, weisen diese Ergebnisse darauf hin, dass Schleiereulen tagsüber oft wach sind. Der Wachzustand während der Tagesstunden konnte bei einer anderen Gruppe adulter Eulen in Laborversuchen belegt werden, indem man die Hirnaktivität mittels Elektroenzephalografie aufzeichnete; dabei kam eine minimal-invasive Methode zum Einsatz, durch

6.2  Ruhen (roosting)

115

die die Vögel nicht beeinträchtigt wurden. Diese Untersuchungen belegten, dass adulte Schleiereulen zwar nachtaktiv sind, aber tagsüber dennoch zu 29,5 % der Zeit zerebral wach sind und nachts zu 13,6 % der Zeit schlafen. Die Hauptschlafenszeit liegt anscheinend jedoch in den Tagesstunden, da die Schlafzyklen tagsüber länger waren als nachts, während die Wachzyklen in der Nacht länger anhielten als am Tag. Dies weist darauf hin, dass Schleiereulen trotz einer gewissen Tagaktivität vor allem tagsüber schlafen. Der Schlaf ist bei Schleiereulen recht fragmentiert, so wie bei anderen Vögeln auch. Während der Mensch normalerweise pro Nacht vier bis fünf Tiefschlafepisoden durchläuft (sogenannter REM-Schlaf, vom englischen rapid eye movement, „rasche Augenbewegung“), wurden während einer 24-Stunden-Periode bei jeder von vier untersuchten adulten Schleiereulen durchschnittlich 370 REM-Episoden gemessen. Ein einzelner Wachzyklus dauerte gewöhnlich nur 12 min, wobei der kürzeste 4 s und der längste 1 Stunde anhielt. Die Dauer den einzelnen Schlafzyklen lag dagegen bei durchschnittlich 1 min, der kürzeste bei 4 s und der längste bei 27 min. Offenbar reichen den in Volieren gehaltenen Schleiereulen 12 min aus, um alles Notwendige zu erledigen, und Schlafepisoden von 1 min für die Regeneration. Die Funktion einer derartigen „Schlafarchitektur“ (Ablauf des Schlafs) ist unklar, und die Schleiereule ist sicherlich ein interessanter Modellorganismus, um Schlaf zu untersuchen.

6.1.2 Offene Forschungsfragen • Man sollte untersuchen, ob Schleiereulen im nördlichen Großbritannien eher tagsüber jagen als im südlichen Teil, und ferner, ob die Neigung tagsüber zu jagen mit den Bedingungen des Nahrungssuche im Winter, dem Nahrungsbedarf und den Fortpflanzungsaktivitäten zusammenhängt. • Das Timing der Nahrungssuche während und außerhalb der Brutzeit sollte in Beziehung zu Lichtintensität, Windstärke und Nahrungsangebot erfasst werden. • Die Schlafaktivitäten freilebender adulter Schleiereulen sollten aufgezeichnet werden.

6.2

Ruhen (roosting)

6.2.1 Ein Nickerchen halten 77 Vögel ruhen an sicheren Plätzen, die Schutz vor schlechtem Wetter und Räubern bie-

ten. Die meisten Tytonidae nutzen zwar die verschiedensten Plätze, wie Bäume (auf Ästen und/oder in Baumhöhlen), Fels- und Erdhöhlen sowie vom Menschen errichtete Bauwerke, doch Graseulen schlafen nur auf dem Boden, manchmal in Gruppen von bis zu zwölf Individuen.

Eulen ruhen an ausgewählten Plätzen, die außer Reichweite von Prädatoren liegen wie auch von Kleinvögeln, welche die Schleiereulen mobben. Diese sicheren Plätze schützen vor Regen und Wind und sind weitgehend gegen Kälte und Hitze isoliert (Abb. 6.2). Jede

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6  Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

Abb. 6.2  Schlafender Schleiereulennestling

Tytonidenart hat eine unterschiedliche Lebensraumpräferenz, und die gewählten Ruheplätze variieren je nach Umgebung und Verfügbarkeit. Während Rußeulen ausschließlich in Bäumen und Höhlen ruhen und Graseulen nur auf dem Boden inmitten von Gräsern, sind die Schleiereulen des Tyto-alba-Artkomplexes (T. alba, T. furcata und T. javanica) nicht so wählerisch, was den Ruheplatz angeht.

Tageseinstände Die meisten Schleiereulen des Tyto-alba-Artkomplexes ruhen in Gebäuden und anderen Bauwerken (Abb. 6.4); allerdings können in manchen Regionen, wie im Vereinigten Königreich, häufig Baumverstecke gewählt werden. Wie in Deutschland, Kanada und Indien festgestellt wurde, befinden sich 70–90 % der Einstände in Bauernhöfen, Tempeln und anderen Bauwerken, gewöhnlich in 4–27 m Höhe vom Boden. Hat die Eule ein Gebäude als Tagesversteck gewählt, so kann sie, anders als im Baum, vor allem an nassen und windigen Tagen große Energieverluste vermeiden. Dieser Vorteil erklärt vielleicht, warum Schleiereulen nur gelegentlich in Bäumen ruhen (Abb. 6.3). In Frankreich und der Schweiz konnte man – allerdings selten – auch in Wäldern Ruheplätze finden, und zwar bis zu 600 m vom Waldrand entfernt. Global gesehen, findet man auch Schleiereulenpopulationen, die sich Abb. 6.3  Hier dient eine Palme als Einstand für die Schleiereule

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6  Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

Abb. 6.4 Schleiereulenruheplätze in einer Felsspalte und in einer Scheune

tagsüber in Höhlen, Felsspalten (Abb. 6.4), Lavaröhren, auf dem Erdboden oder sogar unter dem Bodenniveau verstecken – Letzteres vor allem dort, wo es weder Bäume noch Häuser gibt, wie auf der Kanareninsel Alegranza und Nachbarinseln. Auch auf Curaçao und den Kapverden werden bevorzugt Felsplätze als Einstand genutzt. Gelegentlich beobachtet man ungewöhnliche Schlafplätze, z. B. im Röhricht. Es gibt wenige detaillierte Beschreibungen zur Nutzung der Ruheplätze, abgesehen von den großen Rußeulen bzw. Neuhollandeulen & Co. Diese Daten sind wichtig, da diese großen Eulen durch menschliche Aktivitäten bedroht sind und alle Informationen über ihren Alltag für ihren Schutz von Bedeutung sein können. Rußeulen bevorzugen dunkle, geschützte Plätze im dichten Regenwald. Die Weibchen sitzen selten im Laubdach, sondern ziehen Baum- und Fels‑/Erdhöhlen vor, während bei Männchen das Gegenteil zutrifft. Möglicherweise beruht dieser Geschlechterunterschied darauf, dass die Weibchen größer sind und stärker auffallen, wenn sie an exponierten Stellen sitzen. Dagegen jagen die Männchen in einiger Entfernung vom Nest und müssen vielleicht flexibler sein, was die Auswahl eines Einstands angeht. Unter den Ruheplätzen in Felshöhlen werden Steilfelsstandorte gegenüber Schluchten leicht bevorzugt; dabei haben Felswände an der sonnenabgewandten Seite Vorrang (dunklere, schattigere Standorte). Diese Steilfelsen sind vermutlich klimatisch besser und als Versteck vor Störung sicherer. Die Neuhollandeule ruht normalerweise alleine in Eukalyptusbaumhöhlen und im dichten Laubdach enger Schluchten; sie kann jedoch auch in Felshöhlen und -spalten schlafen, anscheinend aber niemals in Gebäuden. Der Einstand befindet sich etwa 3–20 m hoch über

6.2  Ruhen (roosting)

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Abb. 6.5  Eine Schleiereule ruht in einer Baumhöhle

dem Boden; dabei wurde ein Vogel 24 Tage hintereinander am selben Ruheplatz beobachtet. Vermutlich beeinflussen die Klimabedingungen die Auswahl des Ruheplatzes; dies könnte erklären, warum das Ruheverhalten in Tasmanien anders als auf dem australischen Festland ist. So fand man bei einer Untersuchung in Tasmanien, dass Neuhollandeulen (tasmanische Unterart) in der Tat die Hälfte der Zeit in Bäumen schliefen – normalerweise auf einem belaubten Ast und selten in Baumhöhlen (Abb. 6.5) – und gelegentlich Bauwerke (17 %) und Felswände (37 %) wählten. Auch die Sulawesieule (Tyto rosenbergii) nutzt die verschiedensten Ruheplätze; man findet sie in Plantagen mit lockerem Baumbestand, in hohen abgestorbenen Bäumen, in Kokosplantagen, in Felshöhlen und gelegentlich in der Nähe von Dörfern.

Nutzungshäufigkeit Manche Schleiereulen suchen längere Zeit genau denselben Platz auf; dies wurde in Deutschland beobachtet, wo vier Männchen denselben Ruheplatz über 78 Tage am Stück nutzten. Die Mitglieder des Schleiereule-Artkomplexes ruhen normalerweise in Gebäuden und anderen Bauwerken; wahrscheinlich führen nur menschliche Störungen zu einem Wechsel des Einstands. Tatsächlich pendeln diese Eulen oft zwischen mehreren Ruheplätzen, obwohl sie eigentlich einen festen Ruheplatz bevorzugen. In Deutschland wurde ein nichtbrütendes Weibchen beobachtet, das in einem Zeitraum von 128 Tagen an sechs unterschiedlichen Plätzen schlief, sowie ein Männchen mit drei Ruheplätzen innerhalb 16 Tagen.

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6  Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

Bei australischen Rußeulen und Neuhollandeulen liegen völlig andere Beobachtungen vor: Sie wechseln ihren Einstand regelmäßig, um Prädatoren und Mobbing zu vermeiden. Besenderte Rußeulen nutzten im Lauf von mehreren Monaten 6 bis 13 Ruheplätze. Man beobachtet zwar selten Eulen, die an aufeinanderfolgenden Nächten zum selben Einstand zurückkehren, doch manche Plätze werden mehrere Jahre lang von demselben Individuum genutzt. Geeignete Felshöhlen können sogar über Jahrtausende von verschiedenen Eulengenerationen bewohnt werden.

Entfernung vom Nest Gewöhnlich ruhen die Männchen in größerer Entfernung vom Nest als die Weibchen, denn letztere müssen in der Nähe der Eulenjungen bleiben, um sie zu hudern und zu füttern, während die Männchen fern vom Nest nach Beute suchen. Sobald die Nestlinge alt genug sind, um ihre Körpertemperatur selbst zu regulieren und ohne Hilfe der Mutter zu fressen, ruht diese häufig außerhalb des Nests, meistens in einem Radius von 1 km. Wie bei europäischen und amerikanischen Schleiereulen beobachtet wurde, ruhen die Altvögel während der Dauer der Brutpflege entweder bei ihren Jungen in der Nesthöhle oder in bis zu 3–8 km Entfernung vom Nest. Bei einer Untersuchung in Deutschland waren 41 % der Einstände weniger als 500 m vom Nest entfernt, lagen aber nicht unbedingt in der Nähe guter Nahrungsplätze. Dies weist darauf hin, dass die Eigenschaften des Ruheplatzes selbst wichtiger sind als die Qualität des umgebenden Lebensraums. Die Entfernung zwischen Einstand und Nest hängt also vor allem von der Nähe geeigneter Ruheplätze ab. Bei Kapgraseule und Graseule machte man andere Beobachtungen; da diese Eulen in einförmigem offenem Grasland auf dem Boden schlafen, können sie ziemlich nahe beim Nest geeignete Ruheplätze finden. Gemeinschaftsschlafplätze Normalerweise ruhen die Tytonidae alleine in ihrem Revier, um ihre Bruthöhle zu verteidigen – manchmal ganzjährig. Der einzige für die Schleiereule bekannte Gemeinschaftsschlafplatz wurde in Schottland beobachtet: Es handelte sich um ein Paar, das einen Einstand während der Brutzeit zusammen mit einjährigen, nichtverwandten „Gästen“ nutzte. Auch in Australien wurden Gemeinschaftsschlafplätze beobachtet. Dagegen ruhen Waldohreulen regelmäßig gemeinsam mit Artgenossen in Gruppen von 10, manchmal sogar bis zu 100 Individuen – vielleicht, weil sie auf nahe gelegenen Feldern jagen, wo es besonders viele Wühlmäuse gibt und die Nahrungskonkurrenz gering ist. Diese Geselligkeit ist möglich, da Waldohreulen in alten Krähennestern brüten, die zahlreich sind und daher im Winter nicht verteidigt werden müssen. Auch Graseulen sind geselliger und können zu jeder Jahreszeit paarweise zusammen ruhen – wie man in Südafrika bei Kapgraseulen beobachtete, sogar in der Nähe von Kapohreulen. In Afrika observierte man kleine Gruppen von bis zu fünf Individuen (Kapgraseulen) gemeinsam im Einstand, in Australien waren es bis zu zwölf Individuen (Graseulen). Ähnlich wie bei Waldohreulen liegt dies wahrscheinlich daran, dass die Nistplatzverfügbarkeit keinen begrenzenden Faktor für Graseulen darstellt und die Brutplätze nicht ganzjährig verteidigt werden müssen.

6.3  Streifgebiet (home range)

121

6.2.2 Offene Forschungsfragen • Untersuchung der Nutzungshäufigkeit verschiedener Ruheplatztypen in unterschiedlichen Populationen. Diese Informationen werden als Grundlage für den praktischen Artenschutz benötigt. • Man sollte untersuchen, ob manche Ruheplätze vor allem deshalb genutzt werden, weil sie Schutz vor Prädatoren bieten oder bei schlechtem Wetter als Zufluchtsort geeignet sind. • Bestimmung der jahreszeitlichen Unterschiede in der Ruhplatzwahl. • Frequentieren rostbraune und weißliche Formen der Schleiereule unterschiedliche Ruheplätze? Dies könnte zutreffen, falls die Gefiederfärbung eine Rolle bei der Tarnung spielt.

6.3

Streifgebiet (home range)

6.3.1 Home sweet home 77 Top-Prädatoren nutzen typischerweise große Gebiete, um an ihre Nahrungsressourcen

zu gelangen. Ihr Streifgebiet kann jedoch auf wenige hundert Meter rund ums Nest beschränkt sein, wenn es viel Nahrung gibt. Nichtsdestotrotz können Schleiereulen über weite Entfernungen fliegen, wenn Nager oder andere Beutetiere in der Nestumgebung knapp sind. Eulen suchen gewöhnlich gezielt Habitate auf, in denen die Beute gut zu entdecken und leicht zu fangen ist. Während die meisten Schleiereulen Acker- und Wiesenflächen nutzen, jagen und brüten einige Tyto-Arten im Grasland oder in Wäldern.

Das Streifgebiet (home range, auch Aktionsraum oder Heimbereich genannt) beschreibt die Fläche, in der ein Tier regelmäßig nach Nahrung sucht und ruht (Abb. 6.6). Es ist hilfreich, die Größe des Streifgebiets zu kennen, wenn man berechnen will, wie viele Individuen sich in einem bestimmten Gebiet ansiedeln können. Bei Ressourcenknappheit oder häufigen menschlichen Störungen vergrößern Tiere ihren Home Range, damit sie überleben und sich fortpflanzen können. Dagegen ist ein Territorium (Revier) die Fläche, die von brütenden Individuen verteidigt wird. Je nach Sozialverhalten kann das Territorium eines Vogels mit seinem Streifgebiet identisch sein (wie beim Waldkauz), auf die Umgebung des Brutplatzes begrenzt (wie beim Steinkauz) oder auf den Nistplatz selbst beschränkt sein (wie bei Koloniebrütern). Dank Radio- und GPS-Telemetrie nimmt unser Wissen über Ortsveränderungen bei Tieren rasant zu (Abb. 6.7). Während sich ein Streifgebiet leicht quantifizieren lässt, indem man ermittelt, wo sich ein Individuum aufhält, muss man zur Bestimmung der Reviergröße herausfinden, welche Gebiete von einem Individuum verteidigt werden – bei den Tytonidae steht dies noch aus.

Größe des Streifgebiets Brütende Männchen können für ihre Nachkommen in einem Gebiet nach Nahrung suchen, das von 0,9 km2 (wie bei Schleiereulen in Malaysia) bis zu 35 km2 (bei der Rußeule) reicht. Schleiereulen jagen gelegentlich recht weit vom Nest entfernt: 4,2 km in Deutschland, 4,5 km in Schottland, 5,6 km in den USA – und 7,4 km im Fall der Rußeule. In der Schweiz

6  Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

122

Brut in Israel

Jagd auf palästinensischem Gebiet Abb. 6.6 Streifgebiet (home range) eines Schleiereulenpaars, das in Israel brütet und seine Nahrung hauptsächlich auf palästinensischem Gebiet sucht. Die in der Mitte eingezeichneten hellgrauen Flächen zeigen an, wo die Eule die längste Zeit verbrachte: je heller, desto länger (© Motti Charter)

legen die Männchen bei der Nahrungssuche für die Jungen pro Stunde durchschnittlich 5 km zurück; die Wegstrecke einer einzigen Nacht kann 5–53 km betragen. Auf der Jagd fliegen sie mit einer Geschwindigkeit von etwa 18 km/h (5 m/s); sobald sie ein Beutetier gefangen haben, bringen sie es mit 26 km/h (7 m/s) zum Nest zurück. Solange Schleiereulen ihre Nahrung ohne allzu große Schwierigkeiten erbeuten können, dulden sie Artgenossen im Streifgebiet. Wie in Frankreich, Schottland und der Schweiz beobachtet, können die Streifgebiete bei beiden Brutpartnern überlappen. Beim Weibchen ist der Aktionsraum während der Brutzeit kleiner als beim Männchen, da letzteres größere Gebiete patrouillieren muss, um ausreichend Nahrung zu finden, die das Weibchen dann unter den Nestlingen verteilen kann. Bei der Rußeule ist das Streifgebiet des Männchens bzw. seiner Partnerin durchschnittlich 30,25 bzw. 9,94 km2groß. Offensichtlich ist es für jedes Tier oberstes Ziel, eine große und „hochwertige“ Familie aufzuziehen, dabei aber die energetischen Kosten langer Nahrungsflüge zu vermeiden. Folglich sollten nur Paare, die in Nestnähe Zugang zu erheblichen Nahrungsressourcen haben, in der Lage sein, eine große Familie zu produzieren. Paare mit größeren Gelegen und Bruten kontrollierten in der Schweiz kleinere Streifgebiete als die weniger erfolgreichen Paare; in Schottland fingen männliche Schleiereulen ihre Beute in guten Wühlmausjahren außerdem näher am Nest als in schlechten Jahren. Schleiereulen bleiben ihrem Aktionsraum oft über mehrere Jahre treu und brüten regelmäßig am selben Standort. Nutzen die Eulen ihr Territorium innerhalb und außerhalb der Brutsaison unterschiedlich? Wenn sie keine Elternpflichten (mehr) erfüllen müssen, können sie ihr Streifgebiet vergrößern, da keine Jungen mehr „daheim“ sind; dadurch lockern sich die Bindungen der Altvögel an ihren Brutplatz. Außerhalb der Brutzeit ist die Beute zudem meist seltener; daher müssen Eulen nun auf viel größeren Flächen nach Nahrung

6.3  Streifgebiet (home range)

123

Vallon

Nachteinstände Tageseinstände Jagdreviere Pendlerstrecken

Missy

Grandcour

1 km

Hintergrundkarte TLM3D © Swisstopo (DV084371)

Abb. 6.7  Mithilfe von GPS ermittelte Aktivitätsmuster eines brütenden Schleiereulenmännchens in der Schweiz. Tagsüber ruhte dieser Vogel vor allem in Nestnähe (dunkelblau), während er sich nachts an unterschiedlichen Plätzen aufhielt (hellblau). Sobald ein Beutetier gefangen war (orangebraun, Jagdreviere), kehrte die Schleiereule über eine von drei Hauptrouten zum Nest zurück (grau, „Pendlerstrecken“)

suchen. In Schottland stellte man fest, dass die Beobachtungen im Sommer zu 90 % innerhalb eines 1-km-Radius vom Nest lagen, im Winter dagegen nur zu 40 %. In Deutschland bewegte sich ein Weibchen in der Brutzeit durchschnittlich nur 0,637 km (Maximum 3,5 km) vom Nest weg, danach aber 2,164 km (Maximum 4,175 km). Dadurch vergrößerte sich ihr Streifgebiet zwischen Juni und November von 4,62 auf 6,93 km2. Die Daten für die Rußeule sind ähnlich; hier ist die Größe des Streifgebiets bei brütenden Weibchen 1,5- bis 2,2-mal kleiner als bei Nichtbrütern.

Jagdhabitat Aufgrund ihrer nachtaktiven Lebensweise ist es nicht einfach, die exakten Habitate zu identifizieren, in denen Eulen jagen. Einige wenige Eulen wurden besendert und lieferten so wichtige Informationen über ihre Jagdlebensräume. Schleiereulen suchen gezielt dort nach Nahrung, wo die Beute leicht zu entdecken und zugänglich ist, z. B. auf Wiesen mit kurzem Gras. In ariden Gegenden vermeiden die Eulen meist Gebiete mit gefährlichem Dorngebüsch und ziehen offene Flächen zum Jagen vor.

124

6  Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

Abb. 6.8  Drei Habitate, die für die Schleiereule geeignet sind: Offenland (links), lichte Wälder (Mitte) und Feuchtgebiete (rechts)

6.3  Streifgebiet (home range)

125

126

6  Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

In der Schweiz bevorzugten telemetrisch geortete Schleiereulen folgende Habitate (nach Vorliebe geordnet): Getreidefelder, Grasland, Waldränder, Siedlungen, Ufer von Fließgewässern, Tabakfelder, Maisfelder, anderes Ackerland und Blühbrachen (Abb. 6.8). Mithilfe ähnlicher Telemetriemethoden fand man in New Jersey und Ohio (beide USA), dass Grasland und Sumpfwiesen gegenüber Reihenkulturen bevorzugt wurden. Eine weibliche Malegasseneule in Madagaskar vermied Wälder mit geschlossenem Kronendach und konzentrierte ihre Aktivitäten auf Waldränder (50 % der aufgezeichneten Örtlichkeiten), Reisfelder (36 %) und andere Kulturflächen (14 %). In Australien jagte eine Neuhollandeule zum Ende der Brutsaison vor allem im Grenzbereich zwischen dichtem Wald und Flächen mit lichtem Baumbestand, während ein anderes besendertes Individuum zu 23,6 % der Zeit in Buschland, 68,9 % in Wohngebieten, 7,5 % in offenem Gelände und nur selten in semiariden Habitaten auf Jagd ging. Eine männliche Rußeule suchte hauptsächlich im „Sandstone Gully Forest“ und im Waldgebiet des „Sandstone Ridge Woodland“, das Wohngebiete und Wasserflächen einschloss, nach Nahrung. Eine deutlich ausgeprägte Vorliebe für bestimmte Jagdhabitate während der Brutzeit könnte durch die Notwendigkeit bedingt sein, viele Beutetiere innerhalb kurzer Zeit zu fangen. Sobald die Nachkommen unabhängig sind, sind die Eulen vermutlich weniger durch den Zwang zur effizienten Beutebeschaffung gebunden und können ihr Streifgebiet gleichmäßiger nutzen. Dementsprechend fand man bei sechs Schleiereulen in Deutschland, dass sie sich in der Brutsaison auf häufigsten in der offenen Feldflur (51 %) aufhielten, gefolgt von Hecken (38 %), Gebäuden (4 %), Gärten und Wäldern (< 5 %); im Herbst und Winter verbrachten sie dagegen mehr Zeit in Gärten (29 %) und der Umgebung von Gebäuden (28 %), jedoch deutlich weniger in der offenen Feldflur (25 %) und in Hecken (20 %). Um einen Platz zu finden, der als Versteck, zum Aufwärmen und zum Jagen geeignet ist, werden Dörfer auch im Winter öfter als in der Brutzeit aufgesucht.

Spezialisten für Agrarland, Grasland/Sümpfe und Waldgebiete Innerhalb der Tytonidae lassen sich vier Hauptgruppen unterscheiden: Der Großteil der Schleiereulen (Tyto-alba-Artkomplex mit „Western Barn Owl“ T. alba, Amerikaschleiereule T. furcata sowie Australschleiereule T. javanica) nutzt das mit Menschen assoziierte Agrarland (Acker- und Weideflächen) (Abb. 6.9). Diese Eulen werden ihr Verbreitungsgebiet voraussichtlich weiter ausdehnen, und zwar aufgrund von Entwaldung und der Ausbreitung von eingeführten Kleinsäugern – so wie dies vor 100 Jahren in den nördlichen USA und vor jüngerer Zeit in Malaysia der Fall war. Graseulen – sie sind in Afrika (Tyto capensis), Asien, Australien und Ozeanien (T. longimembris) heimisch – leben auch im Offenland, jedoch nicht unbedingt auf Agrarflächen, da sie menschengemachte Landschaften vermeiden. Stattdessen jagen sie in Grasland- und Sumpfgebieten. Sie leben und jagen normalerweise in Regionen, in denen große Gebiete mit hohen (0,6–2 m) Süß- oder Sauergräsern bedeckt sind; diese Flächen sind während der Brutzeit gewöhnlich trocken und zu anderen Zeiten periodisch überflutet. Graseulen sind daher Habitatspezialisten und reagieren folglich sehr empfindlich auf menschliche Störungen, z. B. die Umwandlung vieler Grasland- und Sumpfgebiete in Acker- und Weideland. Eine weitere Gruppe, die vor allem in Australasien heimisch ist, lebt in alten, unberührten Wäldern. Fleckenrußeule (Tyto tenebricosa multipunctata) und Rußeule (mit zwei Unterarten: T. t. tenebricosa, T. t. arfaki) leben in Regenwäldern mit hohem und dichtem Unterwuchs, die

6.3  Streifgebiet (home range)

127

Abb. 6.9  Eine aufmerksame Schleiereule bei der Jagd

bisher nicht durch Holzeinschlag degradiert wurden. Zu den Waldspezialisten zählen ferner die Minahassaeule (T. inexspectata) auf Sulawesi, die Goldeule (T. aurantia) auf der Insel Neubritannien, die Malegasseneule (T. soumagnei) auf Madagaskar, die Serameule (T. almae) sowie die in Asien und Zentralafrika heimischen Maskeneulen (Phodilus spp.). Etliche Tytonidae sind Generalisten, die sowohl in Wäldern als auch im Offenland leben. Die Neuhollandeule (sowohl Tyto novaehollandiae novaehollandiae als auch die tasmanische T. n. castanops) benötigen Eukalyptuswälder zum Ruhen und Brüten, für die Jagd jedoch Waldränder und Flächen mit lichtem Baumbestand. Andere Generalisten sind z. B. die Sulawesieule (T. rosenbergii) und die madegassische Unterart der Schleiereule (T. alba hypermetra).

6.3.2 Offene Forschungsfragen • Wie teilen Artgenossen das Streifgebiet untereinander auf? • Befinden sich die Nester üblicherweise in der Mitte des Streifgebiets? • Wie teilen sich Männchen und Weibchen ihr Territorium auf: Suchen sie an denselben Orten nach Nahrung? • Der Kern-Aktionsraum sollte vom gesamten Streifgebiet unterschieden werden und das Territorium (Revier) vom Streifgebiet (Aktionsraum).

6  Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

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6.4 Flugmechanik 6.4.1 Lautloses Dahingleiten 77 Die Schleiereule ist so leise, dass sie im Flug sogar mit den besten Mikrofonen kaum

detektiert werden kann. Für nachtaktive Flugjäger ist es essenziell, ihre Kleinsäugerbeute hören zu können, aber selbst nicht gehört zu werden (Abb. 6.11). Um langsam in Bodennähe durch die Luft zu gleiten, benötigen Eulen Auftrieb, eine aufwärts gerichtete Kraft, die der Schwerkraft entgegenwirkt. Die Schleiereule wurde zur Inspiration für Luftfahrtingenieure.

Schleiereuleneltern müssen viele Münder – Pardon, Schnäbel – füttern und schaffen das nur durch effiziente Jagdmethoden. Da optische Auflösung und Kontrastempfindlichkeit ihre Grenzen haben, nutzt die nachtaktive Schleiereule zum Orten ihrer Beute akustische Informationen. Doch in Offenlandschaften sind Ansitzmöglichkeiten rar, daher findet die Eule nicht immer einen Platz, wo sie warten kann, bis sie die Bewegungen eines Kleinsäugers hört. Eine Lösung besteht darin, große offene Flächen im langsamen Flug (2,5–7 m/s) und nahe am Boden lautlos zu patrouillieren. Eine derartige Taktik erfordert das Vermögen zum Gleitflug mit geringer Flügelschlagfrequenz (5,6 Flügelschläge pro Sekunde) – ohne jedoch an Manövrierfähigkeit zu verlieren. Dies wird durch Flügel ermöglicht, die viel Auftrieb erzeugen (Abb. 6.10); dieser ist bei der Schleiereule doppelt so hoch wie beim Mäusebussard – aber immer noch geringer als bei Albatrossen, die mühelos den Südlichen Ozean überqueren. Die Anpassungen der Schleiereule an einen lautlosen, langsamen Flug mit viel Auftrieb sind in Abb. 6.12 zusammengefasst. Die wichtigste Anpassung an einen langsamen Flug ist ein verringertes Körpergewicht; bei der Schleiereule wurde dies durch die Verkürzung des Dünndarms und Verkleinerung des Brustbeinkamms erreicht, an dessen Seiten jeweils die beiden Brustmuskeln ansetzen. Wenn die Eule knapp über dem Boden langsam dahinfliegt, indem sie leicht mit den Flügeln schlägt, so erfordert dies – guten Auftrieb vorausgesetzt – relativ wenig Energie. Daher müssen die Brustmuskeln nicht besonders kräftig sein: Sie machen bei der Schleiereule etwa 10 % des Körpergewichts aus, verglichen mit 30 % bei Tauben, die sehr schnell auffliegen müssen, um Prädatoren zu entkommen. Vergrößerte Flügel werden benötigt, um die Belastung zu verringern, die pro Quadratzentimeter Flügelfläche verkraftet werden muss. Nur zum Vergleich: Schleiereulenflügel sind 2,5-mal größer als die Flügel ähnlich großer Vögel (z. B. von Tauben) und im Gegenzug ist die Flächenbelastung des Flügels (Verhältnis der Körpermasse zur Flügelfläche) 3-mal niedriger.

Auftrieb erzeugen Damit die Schleiereule abheben und langsam fliegen kann, wird Auftrieb erzeugt; dieser entsteht, indem die Luft über die Flügeloberseite (dorsale Seite) rascher als über die Unterseite strömt. Durch die schnellere Luftbewegung auf der Dorsalseite der Federn reduziert sich der Luftdruck auf der Flügeloberseite und wirkt folglich als Sog – nach demselben Prinzip, nach dem auch Flugzeuge fliegen (Abb. 6.10). Die vor allem an der Spitze stark

6.4 Flugmechanik

129 Auftrieb

reduzierter Luftdruck höhere Geschwindigkeit

Luftstrom

konstanter Luftdruck geringere Geschwindigkeit

Schwerkraft

Abb. 6.10  Wie beim Fliegen Auftrieb erzeugt wird

Ringeltaube Körnerfresser

Wanderfalke Vogeljäger

Schleiereule Bodenjäger

Abb. 6.11  Wie die Gipfel der Schallwellen in den Sonogrammen zeigen, erzeugt die Schleiereule im Flug fast keinerlei Geräusche, anders als Ringeltaube und Wanderfalke

gewölbten Schwungfedern der Schleiereule sind für diesen aerodynamischen Vorgang wesentlich, insbesondere beim langsamen Flug – wenn sie ähnlich wie die Handflächen eines Leistungsschwimmers wirken. Damit diese Fähigkeit auch bei höheren Geschwin-

130

6  Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

digkeiten erhalten bleibt, garantiert die samtartig flaumige Oberfläche (Abb. 6.14) der Flügeloberseite (d. h. der Federoberseiten) eine stabile Luftströmung und steigert die Flugleistung. Dies verbessert die aerodynamischen Eigenschaften der Federn, indem sie einen Strömungsabriss verhindert. Es ist schwierig, direkt aus dem Flug auf die Beute herabzustoßen; dazu sind schnelle Geschwindigkeitsänderungen (hohe Beschleunigung/Abbremsung) sowie enge Kurven nötig. Dies geschieht, indem Luft zwischen den biegsamen Schwungfedern hindurchströmt; letztere können unabhängig voneinander aktiv abgebogen werden. Während des Aufschlags wird der Luftwiderstand der Federn durch die flexiblen Eigenschaften der sehr großen Innenfahne verringert, während die kleine Außenfahne die Flügelvorderkante verstärkt. Damit die Kräfte, die während des Flugs auf die Federspitzen einwirken, auf Knochen, Muskeln und Sehnen übertragen werden können, müssen diese Federn (Abb. 6.13) fest im Flügel verankert sein. Das ist die Funktion der ausgesprochen steifen Spule (unterer Teil des Federkiels, ohne Federäste), die bei der Schleiereule etwa gleich lang wie bei der Taube ist. Die Spule ist bei der Taube im Verhältnis allerdings länger und macht 23 % des Federkiels aus (der zentralen Achse der Feder), verglichen mit 16 % bei der Schleiereule. Doch diese benötigt keine lange, fest verankerte Spule, da sie mit ihren Flügeln nicht so häufig oder so kräftig wie eine Taube schlägt.

Geräuschreduzierung Ein lautloser Flug (Abb. 6.11) ist für die Schleiereule genauso wichtig wie Auftrieb und Manövrierfähigkeit. Die bekannteste Anpassung zur Geräuschreduzierung beim Fliegen ist die Hakenkammstruktur (Sägekante) an der Außenfahne der zehnten (äußersten) Handschwinge und der zehnten großen Handdecke (Abb. 6.14). Nur diese beiden Federn weisen eine Hakenkammstruktur auf, da nur sie die Vorderkante des Flügels bilden. Bei Wüstenuhu (Afrika), Waldkauz und Waldohreule ist die Hakenkammstruktur auch an der neunten Handschwinge ausgebildet, die ebenfalls Teil der Flügelvorderkante ist. Die meisten nachtaktiven Eulen besitzen diese Sägekante; ausgenommen sind Arten wie Fischuhus (Ketupa spp.), deren Beute im Wasser lebt und daher den heranfliegenden Fischuhu nicht hören kann. Hakenkammstrukturen bestehen aus Federästen (Barbae), die sich trennen und aufwärts biegen und so eine Reihe zahnähnlicher Formen bilden. Sie stabilisieren die Luftströmung rund um den Flügel, sodass die Luft nahe beim Flügel bleibt – nicht nur zur Geräuschdämpfung, sondern auch um zusätzlichen Auftrieb zu erzeugen. Wegen des verbesserten Auftriebs müssen Eulen seltener mit den Flügeln schlagen, was die Fluggeräusche schon an sich um 4–8 dB vermindert, vor allem bei Start und Landung. Zusätzlich verhindert die samtartige Federoberfläche, dass die Federäste von zwei übereinanderliegenden Federn sich zu nahe kommen. Dies reduziert Geräusche, die durch die Luft und die Federn selbst entstehen, wenn sie aneinanderreiben. Die Notwendigkeit zum langsamen geräuschlosen Flug erklärt wahrscheinlich, warum die Innenfahnen der Schleiereulenschwungfedern dreimal breiter sind als bei Vögeln, die viel schneller fliegen und dabei auf die Geräuschentwicklung keine Rücksicht nehmen müssen. Außerdem tragen die hohe Flexibilität und Porosität der Feder dazu bei, die Fluggeräusche zu dämpfen.

6.4 Flugmechanik

131

individuelle, unabhängige Federbewegung enge Kurven

schwarze Querbänderung

steifere Federfahnen

stark gewölbte Federn Auftrieb bei langsamem Flug

flexible Innenfahne

verringerter Luftwiderstand

flauschiger Fransensaum

Hakenkammstruktur

samtartige Oberfläche bessere Luftströmung

Flügel als einheitliche Gesamtstruktur

stabilisiert Luftströmung

steife Spule

verbessert Kraftübertragung

vergrößerte Flügel

reduzierte Flächenbelastung

hohe Federflexibilität und -porosität verringerte Fluggeräusche

Mitternachtsmahlzeit

leerer Magen

kleinere Brustmuskeln nur 10 % der Körpermasse

Abb. 6.12  Schleiereulen haben viele Anpassungen entwickelt, um Auftrieb zu erzeugen und Fluggeräusche zu reduzieren

Abb. 6.13  Die steife Spule sowie die auffallend asymmetrische Innen- und Außenfahne einer Schleiereulenschwungfeder

132

6  Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

Abb. 6.14  Wichtige Merkmale an den Schwungfedern der Schleiereule: die Hakenkammstruktur an der Vorderkante der zehnten Handschwinge (oben) und die samtartig flauschige Federoberfläche (unten) (© Michael Todd und Laurent Willenegger)

Vögel, die es nicht nötig haben, ihre Fluggeräusche zu reduzieren, besitzen an der Innen- und Außenfahne der Schwungfedern (Remiges) scharfe Kanten, während Nachtjäger wie die Schleiereule einen flauschigen Fransensaum an der Hinterkante dieser Federn haben. Die Federäste dieser Fransen sind nicht verbunden, da keine Federstrahlen (Barbulae) ausgebildet sind, und können sich folglich um die benachbarten Federfahnen wickeln. Im Gleitflug muss der Flügel eine einheitliche Gesamtstruktur bilden, über welche die Luft glatt hinwegströmen kann. Dagegen muss der Vogel in engen Kurven oder beim Start häufige Anpassungen vornehmen – in diesem Fall sollte der Flügel keine einheitliche Gesamtstruktur darstellen. Wenn sich die Schwungfedern während des Aufschlags spreizen, verringert der weiche Fransensaum Geräusche auch dadurch, dass er die Turbulenzen der Luft, die durch den Flügel strömt, vermindert.

6.4 Flugmechanik

133

Schwarze Querbänderung Viele Eulen und Taggreife besitzen auf den Schwung- und Steuerfedern schwarze Querbänderungen, denen man bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Bei französischen Schleiereulen stellte man fest, dass auf der zehnten Handschwinge der Anteil dieser Bänderungen bei durchschnittlich 8 % liegt und zwischen 0,4 % und 20,9 % schwankt. Die Funktion der melaninhaltigen Bänderungen könnte eine Verstärkung der Federn sein, ähnlich wie Eisenträger, die einen Balkon stabilisieren, oder Sparren, die das Dach eines Hauses tragen. Lange Federn benötigen möglicherweise mehr Verstärkung als kurze, da sie größerem Druck standhalten müssen – und richtig, längere Federn besitzen mehr Bänderungen. Weibchen – sie sind im Durchschnitt schwerer als Männchen – haben dementsprechend mehr Bänderungen als diese: Die Bänderungen bedecken 8,1 % bzw. 6,6 % der der Federfläche. Außerdem haben Einjährige mehr Bänderungen als Altvögel (8,4 % versus 6,4 %). Inspiration für Luftfahrtingenieure Ingenieure suchen immer nach Möglichkeiten, das Fliegen leiser zu machen. Wir wissen inzwischen, dass Flügelfläche, Wölbung, Form der Flügelkante und Oberflächentextur eine wichtige Rolle beim Erzeugen von Auftrieb und beim Reduzieren von „Fluglärm“ spielen. Bereits geringe Änderungen dieser Kennwerte beeinflussen die Flugeigenschaften merklich – daher regulieren Luftfahrtingenieure diese Werte so, dass die Flugleistung optimiert wird. Dies hat zu neuen Konstruktionen geführt, bei denen scharfe Kanten und gerade Tragflächen nicht unbedingt erforderlich sind. So sieht man inzwischen Flugzeuge mit gebogenen Tragflächen, mit „Winglets“ am Ende der Tragfläche sowie Schubdüsen mit sägezahnartiger Austrittskante (sogenannten Chevron-Düsen).

6.4.2 Offene Forschungsfragen • Das Ausmaß der schwarzen Querbänderung sollte bei einer Reihe von Tyto-Taxa vergleichend bestimmt werden, um die wichtigsten biogeografischen Variablen zu identifizieren, die die Evolution dieser Bänderung gefördert haben könnten. • Als nächste flugbiologische Fragen sollte man dynamische Prozesse untersuchen, wie Schlagflug und aktive Kontrolle der Flügelform. Ferner sollte untersucht werden, wie Eulen bei Turbulenzen reagieren, um die Fluggeräusche aktiv zu reduzieren. • Mithilfe moderner 3-D-Software und High-Speed-Bildgebung kann man möglicherweise die 3-D-Form eines Schleiereulenflügels im Flug rekonstruieren. Anhand von Simulationssoftware könnte man dann die Strömungsphänomene rund um den sich verformenden Flügel untersuchen. • Durch den Einsatz neuer Verfahren und Instrumente wie Beschleunigungssensoren, die zusammen mit GPS-Geräten verwendet werden, kann man in Zukunft untersuchen, welche Beziehung zu verschiedenen Faktoren, wie Körpergewicht oder Landschaftsstrukturen und dem Wechsel zwischen Schlagflug und Gleitflug bei Schleiereulen besteht.

6  Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

134

Abb. 6.15  Eine Schleiereule stürzt sich auf ihre Beute

6.5 Jagdmethoden 6.5.1 Tora! Tora! Tora! 77 Schleiereulen setzen eine Reihe verschiedener Jagdmethoden ein, und zwar in unter-

schiedlichem Ausmaß: den langsamen Pirschflug niedrig über dem Boden, die Ansitzjagd, bei der die Eule auf vorbeikommende Beute wartet, oder auch den Rüttelflug, ähnlich wie beim Turmfalken. Wegen des hohen Prädationsrisikos haben Kleinsäuger Anpassungen entwickelt, um ihren Fressfeinden zu entkommen. Dieses Wettrüsten zwischen Schleiereulen und ihren Beutetieren hat die Entstehung von raffinierten Jagdtaktiken gefördert, die auf die jeweilige spezifische Situation zugeschnitten sind, z. B. Überraschungsangriffe (Abb. 6.15), die der Beute wenig Chancen auf Entkommen lassen.

Schleiereulen setzen verschiedene Jagdtechniken ein. Die großen und schweren Rußeulen sowie Neuhollandeulen & Co. fangen ihre Nahrung hauptsächlich, indem sie sich auf einem Ansitz niederlassen und warten, bis Beute vorbeikommt. Dies ist die typische Strategie eines Lauerjägers; sie bringt geringe Kosten, aber auch geringen Nutzen. Auf einem Pfosten zu warten, ist energetisch billig, doch die Zeit, die benötigt wird, um letztlich nur einen einzigen Kleinsäuger zu fangen, kann lang sein. Dagegen ist die Rüttelflugmethode der Turmfalken eine Strategie, die hohe Kosten verursacht, aber auch hohen Nutzen bringt. Es ist zwar anstrengend, einem umherhuschenden Kleinsäuger zu folgen, indem man flügelschlagend fast wie ein Hubschrauber in einer Position verharrt, doch ist die Wahrscheinlich-

6.5 Jagdmethoden

135

keit hoch, die Beute zu schlagen. Ein guter Kompromiss ist eine Nahrungssuche im langsamen Pirschflug und nahe am Boden: Sie ist effizienter als die Ansitzjagd und energetisch nicht so aufwendig wie der Rüttelflug. Graseulen jagen vor allem im Flug, während Schleiereulen alle drei Methoden einsetzen können (das turmfalkenähnliche Rütteln wird aber selten beobachtet). Sogar noch seltener schlagen die Eulen mit den Flügeln gegen Sträucher, um schlafende Singvögel aufzuschrecken. Unabhängig von der eingesetzten Jagdtechnik attackieren die Tytonidae ihre Beute am liebsten im Überraschungsangriff (entweder fliegend oder indem sie unbeweglich auf einem Ansitz lauern), statt sie aktiv im Flug zu verfolgen. Auffällig ist vor allem die Fähigkeit der Schleiereule, sich auf unterschiedliche Umweltbedingungen einzustellen. Sie ist anatomisch besonders gut an Pirschflug und Ansitzjagd angepasst, jedoch weniger geeignet, um im Rüttelflug auf der Stelle zu stehen. Ihr Flug ist geräuschlos; während sie auf der Sitzwarte lauert, kann sie den Kopf sehr weit drehen und die Beute dank hervorragendem Gehör und Sehvermögen genau anpeilen. Pirschjagd und Ansitzjagd sind Strategien, die der Eule Überraschungsangriffe ermöglichen, wogegen der Rüttelflug wahrscheinlich so viele Turbulenzen erzeugt, dass die Eule von der Beute bemerkt wird. Die Neigung zur Pirschjagd ist bei der Schleiereule sehr variabel und möglicherweise populationsspezifisch. So gibt es Berichte, dass Eulen in Kalifornien im Pirschflug jagen, in Texas überwiegend per Ansitzjagd. Höchstwahrscheinlich hängt so etwas von Umweltparametern und Habitatmerkmalen ab, z. B. dem Wetter oder der Verfügbarkeit von Sitzwarten.

Pirschen oder lauern? Schleiereuleneltern müssen innerhalb kurzer Zeit viel Nahrung für die Familie heranschaffen und erbeuten diese daher häufig per Pirschjagd, also im Flug. Im Winter ist es nicht mehr nötig, jede Nacht große Beutemengen zu fangen, sodass sich die Schleiereulen öfter für eine Lauerstrategie, also Ansitz- oder Wartenjagd, entscheiden können. Falls die Beute jedoch rar ist (denn Mäuse pflanzen sich im Winter kaum fort), können Schleiereulen auch aktiver sein und im Flug jagen. Bei schottischen Schleiereulen, die während der Brutzeit tagsüber jagten, handelte es sich in 54 % der Fälle um eine Ansitzjagd, verglichen mit einem Anteil von 87 % in dunklen Winternächten. Vielleicht liegt es an den kurzen Sommernächten während der Brutzeit, dass die Ansitzjagd bei Schleiereulen in Schottland so häufig ist, denn die Eulen müssen ihre Nahrungssuche bis in die sehr langen Sommertage ausdehnen. In der Schweiz ist das anderes; dort suchten brütende Männchen während der 7–8 Stunden langen Nächte in 22 Fällen (92 %) im Pirschflug nach Futter und nur in 2 Fällen (8 %) über die Ansitzjagd. Hieraus ergibt sich die interessante Annahme, dass schottische Eulen, die die energetisch billige Ansitzjagd nutzen, weniger schlafen, während sich die Schleiereulen auf dem europäischen Festland länger erholen müssen, da sie eine energetisch teurere Technik des Nahrungserwerbs einsetzen. Kleinnager werden durch eine fliegende Eule erschreckt, bemerken aber eine still auf dem Ansitz wartende Eule vermutlich deutlich seltener. Folglich könnte es Umweltbedingungen geben, in denen Schleiereulen mit der Wartenjagd besser fahren. Nehmen wir Regenwetter: Durch den lauten Regen kann die Eule ihre Beute schlechter entdecken, die durchlässigen Federn werden nass und zu schwer zum Fliegen, sodass die Eule es vorzieht sich hinzusetzen. Pflanzenwuchs kann einen freien Flug zusätzlich behindern; wenn

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6  Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

Abb. 6.16  Bildsequenz, die eine Schleiereule in den verschiedenen Stadien der Ansitzjagd zeigt (Gezeichnet nach Warren Photographic)

6.5 Jagdmethoden

137

es dazu zahlreiche Sitzwarten gibt, ist es möglicherweise energetisch kostengünstiger, von dort aus zu jagen. Dies könnte bei kurzflügeligen Schleiereulen der Fall sein, wie auf den Galapagosinseln: Dort beobachtete man, dass die Eulen während eines 8,5-stündigen Zeitraums in 72 % der Zeit von einem Ansitz aus jagten. Allerdings sind nicht alle Ansitze geeignet. Eine Eule muss nahe genug am Boden sein, um die Kleinsäuger deutlich zu sehen, aber weit genug entfernt, um nicht selbst entdeckt zu werden. So erklärt sich, warum Schleiereulen je nach Region auf verschieden hohen Sitzwarten beobachtet wurden – in Indien bevorzugen sie einen Ansitz in 2,7 m Höhe (zur Auswahl standen ferner 2,1 und 1,5 m), während sie in Schottland in einer Höhe von 1–1,5 m sitzen und in Malaysia höhere Sitzwarten (3–5 m hoch) nutzen, um große Ratten zu erbeuten.

Start einer Attacke Bei der Ansitzjagd (Abb. 6.16) muss eine Schleiereule vor Beginn des Angriffs die Entfernung zwischen Abflugpunkt und der genauen Position der Kleinsäugerbeute abschätzen: • Je näher, desto besser! In Volieren werden erfolgreiche Angriffe aus einer mittleren Distanz von 0,57 m und erfolglose Attacken aus durchschnittlich 0,71 m gestartet. Diese Entfernungen sind so kurz, dass die Fluggeschwindigkeit (im Durchschnitt 4,5 m/s) kein Schlüsselfaktor sein kann, der über den Erfolg eines Angriffs entscheidet. • Je weniger aktiv die Beute ist, desto besser: Insgesamt 90 % der Angriffe auf stationäre Beute sind erfolgreich, verglichen mit 21 % bei mobiler Beute. Aus diesem Grund werden die meisten Wühlmäuse nicht mitten in der Bewegung angegriffen, sondern dann, wenn die Bewegung aufhört oder gerade wieder beginnt. • Den Aufprallpunkt vorhersehen: Eulen starten einen Angriff nicht überhastet. Sie fixieren ihre Beute mit den Augen, um abzuschätzen, in welche Richtung sich diese wahrscheinlich bewegen wird, und um die wahrscheinliche Position des Aufprallpunkts zu antizipieren. Wenn sich die bislang stationäre Maus während des Angriffs plötzlich bewegt, liegt die Chance der Eule, sie zu fangen, bei 50–55 %, wenn die Bewegung von der Eule weg gerichtet ist; bei 18–37 %, wenn sich die Maus auf die Eule zu bewegt; bei 23 %, wenn sie sich seitwärts bewegt. • Korrektur im Flug: Bei der Hälfte der Schleiereulenangriffe flieht die Beute im letzten Moment. Wenn die Flucht senkrecht zur Achse des Angriffs erfolgt, muss die Eule ein sehr schwieriges Manöver ausführen, um ihre Flugbahn an den Weg der Beute anpassen: Meistens ist sie gezwungen, zu landen und eine zweite Attacke zu starten. Wenn die Eule einen Nager verfehlt, der sich direkt von ihr fort oder auf sie zu bewegt, passt sie ihre Flugbahn an, um die sich bewegende Beute zu schlagen (70 % der Fälle), kehrt ansonsten zu ihrer Warte zurück (23 % der Fälle) oder landet an dem Fleck, an dem sich die Beute ursprünglich befunden hatte (7 % der Fälle). Die Entscheidung, ob die Eule den Angriff fortführt oder aufgibt, hängt davon ab, wann die Beute zu flüchten versucht. Schleiereulen können ihre Flugbahn mit Erfolg anpassen, wenn die Beute bald nach Start des Angriffs ihre Fluchtbewegung beginnt, nicht jedoch, wenn die Änderung der Fluchtrichtung erst stattfindet, wenn die Eule schon sehr nahe an der Beute dran ist. • Jagdtechnik an Beutespezies anpassen: Schleiereulen in Israel setzen unterschiedliche Methoden ein, um Wühlmäuse bzw. Stachelmäuse zu fangen; diese Mäuse verhalten sich beim Kontakt mit Prädatoren nämlich verschieden: Langschwanzmäuse (zu dieser Familie zählen die Stachelmäuse) flüchten als Reaktion auf eine Eule und suchen nach

6  Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

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Unterschlupf, während Wühlmäuse abwechselnd bewegungslos verharren (um kein Geräusch zu machen, und sich dabei auf die Tarnwirkung ihres braunen Fells verlassen) und flüchten (falls die Eule ihre Position entdeckt hat). Folglich führt die Eule die Jagd auf die Stachelmaus fort, wenn sie diese verfehlt hat; bei einer Wühlmaus begibt sie sich aber zurück zu ihrem Ansitz und wartet, bis diese wieder aktiv wird. Dieser Verhaltensunterschied erklärt, warum es in der Voliere 16 min dauert, bis eine Stachelmaus gefangen ist, aber 31 min, bis eine Wühlmaus erbeutet ist.

Fangen, töten, fressen Bisher hat man nur bei italienischen Schleiereulen in Gefangenschaft untersucht, wie diese ihre Beute töten. In 54 Fällen landeten sie direkt auf der Beute, meistens mit einem Fuß (67 % der Fälle), in 7 Fällen landeten sie in der Nähe der Beute und verfolgten diese vor dem Ergreifen zu Fuß. Dann ergriffen sie die Beute – meistens mit beiden Füßen – am Kopf und töteten sie durch Halsumdrehen, nicht jedoch mit einem Schnabelhieb, wie dies Steinkauz, Waldkauz oder Waldohreule tun.

6.5.2 Offene Forschungsfragen • Die Umweltfaktoren und physiologischen Bedingungen, unter welchen Schleiereulen die Methode der Ansitzjagd oder der Pirschjagd nutzen, sollten untersucht werden. Ferner sind beschreibende Untersuchungen nötig, um festzustellen, ob diese Methoden zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten eingesetzt werden und ob ihre Häufigkeit geografisch schwankt. • Unterscheiden sich die dunkel rostbraunen bzw. die weißen Individuen in ihrem Erfolg bei der Pirschjagd und ihrer Neigung zu dieser Jagdmethode, wenn man die ausgeprägte Variation der Gefiederfärbung bei den einzelnen Individuen berücksichtigt? • Die Erfolgsquote eines Angriffs liegt bei fast 100 %, wenn die Beute sich nicht bewegt, nimmt aber bei fliehender Beute stark ab. Folglich hängt der Fangerfolg vor allem davon ab, ob das Beutetier die Eule bemerkt: Letzteres lässt darauf schließen, dass die Tarnung der Eule sehr wichtig sein könnte. Wenn man die individuelle Variation der Gefiederfärbung mit der Wahrscheinlichkeit, dass Beutetiere eine Schleiereule bemerken, in Beziehung setzt, könnte man wichtige Informationen über die Räuber-BeuteBeziehung erhalten.

6.6 Beutewahl 6.6.1 Die Jagd ist oft besser als die Beute 77 Wählen Schleiereulen ihre Beute gezielt aus, oder fangen sie diese opportunistisch je

nach Verfügbarkeit? Ihre Strategie ist die Nutzung ausgewählter Habitate, wo die Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Beute zu fangen, hoch ist. Obwohl grundsätzlich jeder Kleinsäuger, der der Eule „über den Weg läuft“, geschlagen werden kann (Abb. 6.17), werden manche Arten häufiger als andere erbeutet, die durch ihr Verhalten besonders

6.6 Beutewahl

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Abb. 6.17  Eine Schleiereule frisst eine Maus

gefährdet sind. Doch selbst wenn die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Jagd der verfügbaren Beutearten ähnlich hoch ist, ziehen Schleiereulen die eine Beute der anderen vor. Können Schleiereulen bei gutem Nahrungsangebot also wählerisch sein und sich das Futter aussuchen, das ihnen am besten „schmeckt“?

Beutegreifer sollten die energetischen Kosten der Jagd klein halten, indem sie verschiedene Parameter niedrig halten: die Zeitmenge, bis ein Beutetier gefunden wird, die Anzahl der Fangversuche und die „Verarbeitungszeit“ (Zerteilen etc.), bis es verzehrt ist. Während Schleiereulen relativ schnell über den Boden fliegen, haben sie nur wenig Zeit, um zu entscheiden, ob es sich lohnt, eine aufgespürte Beute zu fangen. Ihre beste Strategie ist daher, in den bevorzugten Offenlandhabitaten zu jagen, wo die Hauptbeute zahlreich ist, und alle angetroffenen potenziellen Beutetiere zu schlagen. Sobald die Beute gefangen ist, kann die Eule entscheiden, was sie als Nächstes tut. Wie in einer deutschen Untersuchung beobachtet wurde, lohnt es sich möglicherweise z. B. nicht, eine kleine Spitzmaus über eine größere Strecke zum Nest zu transportieren. Die Eule sollte sie stattdessen an Ort und Stelle fressen und dann weiterjagen. Wenn ein Beutetier andererseits zu groß ist, um sich leicht verzehren zu lassen, könnten die Nestlinge es verschmähen und warten, bis die Altvögel kleinere und leichter zerteilbare Beute bringen. Große Beutestücke werden daher manchmal vergeudet, da sie bei hoher Außentemperatur rasch verderben.

Ein opportunistischer Gourmand Wenn die Hauptbeuteart zahlenmäßig zunimmt, wird ihr Anteil an der Ernährung der Schleiereule gewöhnlich größer. In Frankreich beobachtete man über eine Zeit von acht Jahren, dass der Feldmausanteil an der Nahrung in direkter Beziehung zur Feldmaus­

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abundanz stand. Eine Zunahme der Feldmausverfügbarkeit führte ferner zu einem höheren Schermausanteil in der Nahrung; dies weist darauf hin, dass den Schleiereulen bei der Jagd auf Feldmäuse auch Schermäuse „über den Weg laufen“. Dagegen nahm der Anteil an Rotzahnspitzmäusen nur zu, wenn die Feldmausabundanz zurückging. Nur wenn die häufigste Beute selten wird, fangen Eulen andere Arten, die sie ansonsten nicht beachten, sogar wenn diese relativ häufig sind. Ob französische Schleiereulen die seltener verzehrten Arten in den Speiseplan aufnehmen, hängt also nicht von der Häufigkeit dieser Arten ab, sondern von der Abundanz der lohnendsten und beliebtesten Beuteart, der Feldmaus. Nicht alle Beute ist gleichermaßen betroffen. In Argentinien beobachtete man, dass die Eulen große Nagetiere proportional öfter erbeuteten, als dies die Häufigkeit dieser Beutetiere im Feld erwarten ließ; entsprechend verhielt es sich mit großen männlichen Seefröschen als Beute in Spanien. Während weibliche Nager sich um ihre Nachkommen im Bau kümmern, sind sie in diesem Versteck außer Reichweite von Beutegreifern – dies erklärt, warum die weiblichen Nager in Argentinien und Wales während der Brutzeit seltener erbeutet werden als im Herbst und Winter. Interessanterweise werden in Chile zwar überproportional viel adulte Nager gefangen, doch in Brasilien werden häufiger Jungtiere erbeutet. Schließlich werden in Spanien Algerische Hausmäuse mit Knochenmissbildungen besonders häufig gefressen. Was führt zu diesem nichtzufälligen Prädationsmuster? Oft werden bestimmte Tierarten deshalb öfter gefangen, als ihre Häufigkeit vermuten ließe, weil sie durch ihr Verhalten besonders gefährdet sind. Unter kontrollierten Haltungsbedingungen in der Voliere fingen Amerikaschleiereulen doppelt so viele Wiesenwühlmäuse wie Weißfußmäuse und Hirschmäuse, denn letztere sind aktiver und daher schwieriger zu erbeuten. Junge weibliche Hausmäuse in Australien waren besonders von Schleiereulenprädation betroffen, weil sie von den Alttieren aus relativ geschützten Bereichen in Lebensräume vertrieben wurden, wo Eulen vorzugsweise jagen. Kleine Individuen könnten auch gehandicapt sein, weil sie nicht schnell genug flüchten können, Männchen durch auffälliges Balzverhalten und Jungtiere durch ihre Unerfahrenheit und die Tendenz, Bereiche mit dichtem Pflanzenwuchs zu verlassen, wenn sie abwandern. Diese Beispiele lassen vermuten, dass Schleiereulen ihre Beute nicht selektiv, sondern eher opportunistisch fangen. Ist das wirklich der Fall? Selbst wenn Schleiereulen opportunistische Jäger sind, die ihre Beute gewöhnlich im Verhältnis zu deren Verfügbarkeit und Ergreifbarkeit schlagen, gibt es Situationen, in denen Eulen potenzielle Beute „laufen lassen“ und auf andere Beutetiere warten. Genaue Beobachtungen in Volieren zeigen, dass Schleiereulen ihre Beute aussuchen, wenn sie die Wahl haben. In Indien fingen sie am liebsten mittelschwere Beutetiere anstelle von leichteren oder schwereren Tieren. In Deutschland verzehrten sie lieber tote oder lebende Mäuse, die 10 g wogen, als 3-g-Mäuse. Wenn sie die Wahl zwischen verschieden schweren toten Beutetieren hatten, bevorzugten sie 40-g-Tiere gegenüber 10-g-Tieren; und wenn man ihnen lebende Ratten anbot, fingen und verzehrten sie 40 g schwere Ratten, verschmähten aber die Tiere mit 160 g. Große Ratten mögen verführerisch sein, doch sie lassen sich nicht nur schwer bezwingen, sondern auch nicht einfach verzehren. Abschließend können wir also feststellen, dass Schleiereulen gewöhnlich zwar opportunistische Jäger sind, doch ihre Beute auch gezielt auswählen können, falls sie die Wahl haben.

6.7 Nahrung

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6.6.2 Offene Forschungsfragen • Haben die Nestlinge Nahrungspräferenzen? Man könnte dies untersuchen, indem man gleichzeitig eine Auswahl an unterschiedlichen Beutespezies anbietet.

6.7 Nahrung 6.7.1 Foodie 77 Kleinsäuger sind die Hauptbeute von Schleiereulen (Abb.  6.18,  6.23 und  6.24). Es

handelt sich vorwiegend um kleine Nager, dabei zählen Arten aus der Familie Langschwanzmäuse (Muridae) auf allen Kontinenten zur Nahrung der Schleiereule. In Asien und Europa werden große Mengen an insektenfressenden Säugern gefangen, auf dem amerikanischen Doppelkontinent und in Australien/Ozeanien geringe Mengen an Beutelsäugern. Die Nahrung anderer Tytonidae (Rußeulen, Neuhollandeulen & Co. sowie Kapgraseulen) ist vielfältiger als diejenige der Schleiereulen und der (Östlichen) Graseule (Tyto longimembris). In Europa hat die Häufigkeit von Evertebraten und insektenfressenden Wirbeltieren (Spitzmäusen, Maulwürfen, Vögeln, Fledermäusen) im Lauf des letzten Jahrhunderts gewaltig abgenommen.

Abb. 6.18  Die Nahrung der Schleiereule besteht vor allem aus Kleinsäugern

6  Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

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Muridae Cricetidae Soricidae Heteromyidae Nesomyidae Dasyuridae Andere

Abb. 6.19  Häufigkeit der meistverbreiteten Kleinsäugerfamilien in der Beute des Schleiereule-Artkomplexes. Diese Darstellung beruht auf 1240 Untersuchungen, die von 1860 bis 2016 veröffentlicht wurden; darin wurden insgesamt 4 769 542 identifizierte Kleinsäuger erfasst

Ein Schleiereulengewölle kann die Überreste von bis zu 15 Kleinsäugern enthalten und bis zu 11 cm lang sein. Die Gewölle (auch Speiballen genannt) sind eine wunderbare Auskunftsquelle über die Nahrung und Ökologie eines Beutegreifers; sie können zudem wichtige Informationen zur Artzusammensetzung und -häufigkeit der lokalen Säugetierfauna liefern.

Nahrung des Schleiereule-Artkomplexes Weltweit besteht die Nahrung der Schleiereulen zu 72–99 % aus Säugetieren; der Rest sind Vögel, Evertebraten, Amphibien und Reptilien (Tab. 6.1). Aus umfassenden Analysen von Gewöllen (sie enthielten Überreste von insgesamt 4,8 Millionen idenfizierten Kleinsäugerbeutestücken) ergab sich, dass Nager (hauptsächlich die mäuseähnlichen wie Muridae und die wühlmausähnlichen Cricetidae, Heteromyidae und Nesomyidae) die Hauptbeute darstellen, gefolgt von insektenfressenden Kleinsäugern (vor allem Spitzmäusen, Soricidae) sowie Beutelsäugern in Australien und Südamerika (Abb. 6.19). Während Muridae weltweit in großer Zahl in der Nahrung der Schleiereule gefunden werden, werden Cricetidae nur in Nord- und Südamerika, Europa und dem Nahen Osten gefangen. Soricidae werden in Europa, Nordafrika, dem Nahen Osten sowie Nordamerika erbeutet. Die einzige Familie, die auf allen Kontinenten Teile der Beute stellt, sind die Muridae. Dabei sind die Mäuse (Gattung Mus) in Australien, Nordafrika, dem Nahen Osten, auf der Iberischen Halbinsel und Madagaskar besonders häufig vertreten. Die Ratten (Gattung Rattus) werden ebenfalls auf allen Kontinenten als Teil der Beute gefunden und in hoher Zahl in Südostasien, auf den Karibikinseln, in den nördlichen Teilen Südamerikas und auf Madagaskar verzehrt (Abb. 6.20). Der Shannon-Index (Shannon’s diversity index) ist ein Diversitätsindex, also eine Maßzahl zur Beschreibung der Diversität. Auf die Nahrung eines Tieres angewandt zeigt er an, wie vielfältig (divers) diese ist und bezieht sich sowohl auf die Artenzahl als auch die

6.7 Nahrung

143

Tab. 6.1  Prozentsatz der verschiedenen Beutetypen sowie deren Shannon-Index beim Schleiereule-Artkomplex. Es wurden nur Untersuchungen berücksichtigt, in denen die Nahrungsanalysen nicht nur auf Säugetiere beschränkt waren; dies erklärt die Unterschiede in den Stichprobengrößen zwischen dieser Tabelle und dem Text. Die Daten basieren auf wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die von 1860 bis 2016 publiziert wurden Schleiereule-Artkomplex (Tyto alba, T. furcata, T. javanica) Europa (ohne UK)

UK

Afrika

Mada- Naher gaskar Osten

Nordamerika

Südamerika

restl. Asien

Australien

Anzahl Beutetiere 3193542 609191 87578

6360

34447 332546 76448

17480 15370

Anzahl Publikationen

493

52

54

5

25

111

64

9

17

Shannon-Index

1,9

1,76

1,69

1,13

1,72

1,57

1,9

1,35

0,98 67,48

Säuger Nager 68,8 (%) Insekten- 27,46 fresser

72,31

68,9

58,78

66,23

89,6

82,05

79,2

26,45

7,64

5,13

21,69

7,82

0,05

16

0,01

0,9

Beuteltiere Primaten

Nichtsäuger (%)

0,23

6,06

1,13

Carnivoren

0,01

0,01

Fledertiere

0,14

0,03

0,32

7,1

1,56

0,14

1,62

1

0,12

Vögel

2,64

1,04

13,29

6,25

6,08

2,15

4,5

1,52

3,33

Reptilien

0,05

0,003

0,48

0,02

0,64

0,15

16,85

Amphibien

0,55

0,13

2,31

19

0,08

0,005

2,69

0,22

1,98

Evertebraten

0,35

0,02

7,31

3,57

3,88

0,25

7,54

1,95

4,17

Crustaceen

0,00003

Fische

0,00059

Gastropoden

0,00059

0,01 0,0003

0,01

0,02

zugehörigen Häufigkeitsangaben. Je spezialisierter die Nahrung, desto näher an 0 ist der Indexwert. Wenn man diesen Index verwendet, so ist die Nahrung der Schleiereule auf dem Festland anscheinend diverser als auf Inseln (im Durchschnitt 1,44 bzw. 1,17) sowie in Südamerika und Kontinentaleuropa diverser als im Nahen Osten, in Afrika, Nordamerika, dem restlichen Asien und Australien, wie in Tab. 6.1 und 6.2 und Abb. 6.20 gezeigt wird. Besonders divers ist die Nahrung der Schleiereule in Südafrika, dem zentralen Teil von Nordamerika, den südlichen Teilen von Südamerika und in Osteuropa. In Australien, Nord-

6  Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

144

Tab. 6.2  Prozentsatz der verschiedenen Beutetypen sowie deren Shannon-Index bei Graseule, Neuhollandeule und Rußeule. Es wurden nur Untersuchungen berücksichtigt, in denen die Nahrungsanalysen nicht nur auf Säugetiere beschränkt waren; dies erklärt die Unterschiede in den Stichprobengrößen zwischen dieser Tabelle und dem Text. Die Daten basieren auf wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die von 1860 bis 2016 publiziert wurden Graseule

Neuhollandeule

Rußeule

T. capensis

T. longimembris

T. novaehollandiae

T. tenebricosa

Anzahl Beutetiere

1666

1117

2562

7797

Anzahl Publikationen

8

9

9

11

Shannon-Index

2,26

1,39

2,01

2,21

91,24

88,63

61,59

18,47

27,71

79,29

Säuger (%)

Nager

Insektenfresser 7,02

2,78

Beuteltiere

1,97

Primaten

Nichtsäuger (%)

Carnivoren

0,04

Fledertiere

0,31

0,1

4,21

7,65

1,72

0,09

0,16

0,33

2,33

2,54

0,08

Vögel Reptilien

1,74

Amphibien Evertebraten Crustaceen

0,01

Fische Gastropoden

und Westafrika sowie den nördlichen Teilen von Nord- und Südamerika ist die Nahrung stärker spezialisiert und konzentriert sich auf wenige Schlüsselarten.

Europa In insgesamt 907 Publikationen waren insgesamt 4,54 Millionen Beutestücke aufgelistet, und bei genauer Analyse dieser Publikationen zeigten sich deutliche Veränderungen im Lauf des Zeitraums von 1860 bis 2012. Nager sind in Europa die mit Abstand häufigste Beute (Abb. 6.21) und machen durchschnittlich 71,6 % der Säugerbeute aus. Die Ordnung der Insektenfresser steht an zweiter Stelle (28,4 %, Fledermäuse fallen nicht darunter), davon 7 Arten der Rotzahnspitzmäuse (der Median-Prozentsatz an Kleinsäugern der Gattung Sorex beträgt 12,5 %), 6 Arten der Weißzahnspitzmäuse (Crocidura, 7,7 %), die Etruskerspitzmaus (Suncus etruscus, 2,5 %), 2 Arten an Wasserspitzmäusen (Neomys, 0,4 %) sowie 6 Maulwurfsarten (Talpa, weniger als 0,0001 %). Bei der Schleiereule ging der Verzehr dieser Insektenfresser im Lauf des letzten Jahrhunderts zurück, ebenso wie der Verzehr

6.7 Nahrung

145

86 % 43 % 0%

Anteil von Mäusen (Mus spp.)

Nahrung des Schleiereule-Artkomplexes

86 % 43 % 0%

Anteil von Ratten (Rattus spp.)

Nahrung des Schleiereule-Artkomplexes

3,3 1,8 0,3

Shannon-Index

im Schleiereule-Artkomplex

Abb. 6.20 Anteil von Mäusen der Gattung Mus (oben) und Ratten der Gattung Rattus (Mitte) in der Schleiereulennahrung. In Australien kann die Nahrung z. B. zu 86 % aus Mäusen bestehen. Die Daten basieren auf wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die von 1860 bis 2016 publiziert wurden. Der ShannonIndex (unten) zeigt die Diversität der Nahrung im Schleiereule-Artkomplex an. Hohe Werte (rotbraun) zeigen an, dass die Schleiereulennahrung aus vielen Beutespezies besteht, die etwa gleich häufig gefangen werden, während niedrige Werte (blau) anzeigen, dass die Nahrung aus wenigen Beutespezies besteht. Die Abbildung basiert auf 1274 wissenschaftlichen Veröffentlichungen (im Zeitraum 1860–2016 publiziert) und berücksichtigt nur Kleinsäuger als Beute

6  Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

146 Microtus

Mus

80 %

67 %

Sorex

Apodemus

57 %

57 %

Crocidura

49 %

80 % 60 % 40 %

1000 km

20 % 0%

Abb. 6.21  Häufigkeitsverteilung von Feldmäusen/Kleinwühlmäusen (15 Microtus-Arten), Mäusen (4 Mus-Arten), Waldmäusen (6 Apodemus-Arten), Rotzahnspitzmäusen (7 Sorex-Arten) und Weißzahnspitzmäusen (6 Crocidura-Arten) in der Nahrung von europäischen Schleiereulen. Die Daten basieren auf 897 wissenschaftlichen Veröffentlichungen (im Zeitraum 1860–2016 publiziert)

von Fledermäusen; diese werden auf Inseln häufiger als auf dem Festland, in Ost- häufiger als in Westeuropa sowie in Süd- häufiger als in Nordeuropa erbeutet. Vögel werden relativ oft gefangen, insbesondere auf Inseln sowie in Süd- und Osteuropa. Auch der Verzehr von Vögeln, zumal der Haussperlinge (65,7 % aller erbeuteten Vögel), ging im Lauf des letzten Jahrhunderts zurück, vor allem in Nord- und Osteuropa. Die wahrscheinliche Ursache der Abnahme von Spitzmäusen, Maulwürfen, Fledermäusen und Vögeln in der Schleiereulennahrung dürfte im starken Bestandsrückgang der Evertebratenarten liegen, denn diese bilden ihrerseits die Nahrungsgrundlage von Spitzmäusen, Maulwürfen, Fledermäusen und Vögeln.

6.7 Nahrung

147

Microtus

Sigmodon

90 %

88 %

Peromyscus

Mus

50 %

42 %

80 % 60 %

Reithrodontomys

40 %

31 %

1000 km

20 % 0%

Abb. 6.22  Häufigkeitsverteilung von Feldmäusen/Kleinwühlmäusen (9 Microtus-Arten), Baumwollratten (6 Sigmodon-Arten), Hirschmäusen (8 Peromyscus-Arten), Mäusen (2 Mus-Arten) sowie Erntemäusen (6 Reithrodontomys-Arten) in der Nahrung von nordamerikanischen Schleiereulen. Die Daten basieren auf 124 wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die von 1924 bis 2011 publiziert wurden

Die Schleiereulen in Europa fangen nur wenige tagaktive Reptilien. Amphibien, die in Regennächten recht aktiv sein können, werden von der nachtaktiven Schleiereule zehnmal häufiger erbeutet als Reptilien. Interessanterweise verschmähen Schleiereulen die giftigen Bufonidae (Kröten), Alytidae (Geburtshelferkröten) und Salamandridae (Echte Salamander und Molche). Gastropoden (Schnecken), Flusskrebse und Fische werden nur selten verzehrt.

Nordamerika In insgesamt 124 Publikationen wurden insgesamt 350 160 Beutestücke aufgelistet (Abb. 6.22). Unter den erbeuteten Kleinsäugern in Nordamerika ist die Familie der Cricetidae am häufigsten vertreten; dabei machen Feldmäuse/Kleinwühlmäuse (Microtus spp.) 38,1 % aller Kleinsäuger aus und sind in den nördlichen Teilen des Kontinents besonders

148

6  Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

Abb. 6.23  Aus dem Blickwinkel des Kleinnagers – erschreckende Aussichten!

häufig. Als Gattung am zweithäufigsten vertreten sind die (neuweltlichen) Baumwollratten (Sigmodon, 10,6 % der Kleinsäuger), insbesondere am Golf von Mexiko. Die neuweltliche Gattung der Erntemäuse (Reithrodontomys, 3,9 %) kommt vor allem in der Mitte des Kontinents vor. Andere Familien, die mehr als 1 % der Säugerbeute ausmachen, sind Hirschmäuse (Peromyscus, 9,8 %), semiaquatische Reisratten (Oryzomys, 6,2 %), Taschenmäuse (Perognathus, 3,3 %; Chaetodipus, 2,8 %), Kängururatten (Dipodomys, 3,1 %), Mäuse (Mus, 3.6%), große Spitzmäuse (Blarina, 2,9 %), kleine Spitzmäuse (Cryptotis, 2,6 %) sowie Rotzahnspitzmäuse (Sorex, 1,5 %).

Südamerika In insgesamt 75 Untersuchungen wurden insgesamt 95 551 Beutestücke aufgelistet. Verglichen mit anderen Erdteilen werden in Südamerika öfter Evertebraten gefangen. Unter den erbeuteten Kleinsäugern macht die Familie der Cricetidae die Hauptmasse der Nahrung aus (87,7 %), gefolgt von Muridae (8,3 %) und Didelphidae (1,4 %), während die anderen Familien (Ctenomyidae, Caviidae, Abrocomidae, Octodontidae, Echimyidae, Microbiotherlidae) jeweils weniger als 1 % der Nahrung ausmachen. Unter den Säugern werden am häufigsten erbeutet: die Gelbe Zwergreisratte (Oligoryzomys flavescens, 12,2 %), die Azara-Graslandmaus (Akodon azarae, 8,7 %), die Hausmaus (Mus musculus, 6,2 %), die Kleine Vespermaus (Calomys laucha, 5,6 %), die Langschwanz-Zwergreisratte (Oligoryzomys longicaudatus, 3,1 %), die Darwin-Blattohrmaus (Phyllotis darwini, 2,6 %) und die Haarsohlen-Kaninchenratte (Reithrodon auritus, 2,6 %).

6.7 Nahrung

149

Afrika In insgesamt 76 Publikationen wurden insgesamt 218 209 Beutestücke aufgelistet. Am häufigsten werden Vertreter der Familie Muridae gefangen, vor allem in Nordafrika. Auch Vertreter der Familien Soricidae und Nesomyidae werden oft verzehrt, und die Bathyergidae, Chrysochloridae, Dipodidae, Erinaceidae, Gliridae, Macroscelididae und Spalacidae zählen ebenfalls zu den Familien des Beutespektrums. Verglichen mit anderen Erdteilen werden auch Vögel und Evertebraten in großer Zahl gefangen. Naher Osten In insgesamt 32 Untersuchungen wurden insgesamt 41 220 Beutestücke aufgelistet. Die Nahrung ist bei den Schleiereulen im Nahen Osten ähnlich wie bei den europäischen Eulen, abgesehen davon, dass die Muridae, insbesondere Mäuse (Mus spp.), wesentlich stärker vertreten sind. Restliches Asien In insgesamt elf Untersuchungen wurden insgesamt 19 408 Beutestücke aufgelistet. Der Anteil der Muridae ist sogar noch höher als im Nahen Osten, insbesondere auf Inseln in Südostasien: Bei drei Untersuchungen in Indonesien fand man, dass die Schleiereulennahrung hauptsächlich aus Ratten bestand. Australien In insgesamt 20 Untersuchungen wurden insgesamt 17 620 Beutestücke aufgelistet. Die in Australien heimischen Beuteltiere sind im Lauf der letzten 200 Jahre seit der europäischen Besiedlung zum Teil ausgerottet und massiv dezimiert worden; daher sind historisch wichtige Arten aus der Nahrung der Schleiereule verschwunden. Dies lässt sich anhand von Untersuchungen an subfossilen Gewöllelagern in Schlafplätzen in Höhlen zeigen. Eingeführte Arten, vor allem die Hausmaus (Mus musculus), dominieren inzwischen in vielen Gebieten die Nahrung. Untersuchungen der letzten Jahrzehnte zeigen wenig überraschend, dass die Muridae die Hauptmasse der Nahrung ausmachen, mit Vertretern aus 5 Gattungen (Leggadina forresti, Mus musculus, 4 Arten von Notomys, 4 Arten von Pseudomys, 4 Arten von Rattus). Dies wird gefolgt von 5 Gattungen der Dasyuridae (Raubbeutler, zu den Beuteltieren gehörend: mit 2 Arten von Antechinomys, 2 Arten von Antechinus, 4 Arten von Sminthopsis, 5 Arten von Planigale sowie Ningaui ridei), dem Dickschwanz-Schlafbeutler (Cercartetus nanus) und vielen Reptilien. Nahrung anderer Tytonidae Wenn wir die Nahrung von Schleiereulen und ihren Verwandten untersuchen, können wir wichtige Informationen über Biodiversitätsveränderungen in der Vergangenheit erhalten. Die Europäer besiedelten Australien ab dem Jahr 1788, Tasmanien ab 1803, und dies führte zu einem immensen Wandel in der lokalen Fauna und Flora. Die Neuhollandeulen fressen derzeit vorwiegend eingeführte Tierarten; diese machen bis zu drei Viertel ihrer Nahrung aus. Bei den Neuhollandeulen und Rußeulen war die Verarmung der Ernährung, die mit Ankunft der Europäer einsetzte, daher wahrscheinlich noch massiver als bei den Australschleiereulen.

150

6  Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

Abb. 6.24  Mit Haut und Haaren verschluckt

Durch den Vergleich der prähistorischen und rezenten Nahrungszusammensetzung bei der Rußeule (die durch die Analyse von subfossilen Gewöllelagern in Höhlen möglich wurde) hat sich gezeigt, dass über 75 % der ursprünglichen Beutespezies abgenommen haben. Diese große Eulenart lebt in Wäldern und unterscheidet sich in der Ernährung folglich deutlich von den anderen Schleiereulen. Ihr Speiseplan umfasst Beuteltiere, wie große Ringbeutler und Gleitbeutler, die bis zu 1,5 kg wiegen können. Auch die Neuhollandeule (einschließlich ihrer tasmanischen Unterart) ist sehr groß, jagt aber wie die Schleiereulen in Offenlandschaften und lichten Waldgebieten. Ähnlich wie bei der Rußeule enthält die Nahrung der Neuhollandeule deutlich mehr Beuteltiere als die Nahrung der Schleiereule. Die Graseulen in Afrika und Australasien fressen mehr Nagetiere, in Australasien ist ihre

Weiterführende Literatur

151

Nahrung allerdings wenig divers. Bei Rußeulen, Neuhollandeulen und Kapgraseulen ist die Nahrung hingegen diverser als bei Schleiereulen (Zusammenfassung in Tab. 6.2).

6.7.2 Offene Forschungsfragen • Es wäre wünschenswert, wenn Publikationen eine vollständige Liste aller Beutetierspezies (einschließlich Vögeln und Evertebraten) enthielten, auch wenn die jeweiligen Autoren hauptsächlich an einer bestimmten Beutegruppe (z. B. Kleinsäugern) interessiert sind. • Viele Ornithologen haben Schleiereulengewölle analysiert, doch die meisten Daten sind nicht zugänglich (da nicht publiziert oder in einer Datenbank hinterlegt). Da die Daten für weite Gebiete fehlen, konnten die Karten zur Beuteabundanz nur für Europa und Nordamerika gezeichnet werden.

Weiterführende Literatur Abschnitt 6.1 Bunn DS, Warburton T, Wilson RDS (1982) The barn owl. T. & A. D. Poyser, Calton Charter M, Leshem Y, Izhaki I, Roulin A (2015) Pheomelanin-based colouration is correlated with indices of flying strategies in the barn owl. J Ornithol 156:309–312 Durant JM, Hjermann DØ, Handrich Y (2013) Diel feeding strategy during breeding in male barn owls (Tyto alba). J Ornithol 154:863–869 Erkert HG (1969) Die Bedeutung des Lichtsinnes für Aktivität und Raumorientierung der Schleiereule (Tyto alba guttata Brehm). Z Vgl Physiol 64:37–70 Gerkema MP, Davies WIL, Foster RG, Menaker M, Hut RA (2013) The nocturnal bottleneck and the evolution of activity patterns in mammals. Proc R Soc Lond B 280:20130508 Halle S, Lehmann U (1992) Cycle-correlated changes in the activity behavior of field voles, Microtus agrestis. Oikos 64:489–497 Jaksic FM (1982) Inadequacy of activity time as a niche difference: the case of diurnal and nocturnal raptors. Oecologia 52:171–175 Roulin A (2004) The function of food stores in bird nests: observations and experiments in the barn owl Tyto alba. Ardea 92:69–78 Scriba MF, Harmening WM, Mettke-Hofmann C, Vyssotski AL, Roulin A, Wagner H, Rattenborg NC (2013) Evaluation of two minimally invasive techniques for electroencephalogram recording in wild or free behaving animals. J Comp Physiol A 199:183–189 Abschnitt 6.2 Bilney RJ, Cooke R, White JG (2010) Underestimated and severe: small mammal decline from the forests of south-eastern Australia since European settlement, as revealed by a top-order predator. Biol Conserv 143:52–59 Bilney RJ, Cooke R, White JG (2011) Potential competition between two top-order predators following a dramatic contraction in the diversity of their prey base. Anim Biol 61:29–47 Brandt T, Seebass C (1994) Die Schleiereule: Ökologie eines heimlichen Kulturfolgers. Aula, Wiesbaden Fitzsimons JA (2010) Notes on the roost sites of the Sulawesi masked owl Tyto rosenbergii. Forktail 26:142–145 McCafferty DJ, Moncrieff JB, Taylor IR (2001) How much energy do barn owls (Tyto alba) save by roosting. J Therm Biol 26:193–203

152

6  Der Alltag: Jagen, Fressen, Schlafen

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Weiterführende Literatur

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7

Sexualverhalten

7

7.1

Balz und Paarung

7.1.1 Flirten 77 Schleiereulen haben ein anspruchsvolles Sexleben. In Europa suchen sie im Frühwin-

ter ihre Brutplätze und Brutpartner; in nördlichen gemäßigten Regionen können sie von Februar bis November kopulieren. Die sexuell aktivsten Individuen können daher den größten Teil des Jahres mit Aktivitäten verbringen, die mit der Fortpflanzung zusammenhängen. Sex ist für Schleiereulen Teil eines Rituals: Die Männchen bieten den Weibchen bei der Balz Futter an, während der Kopulation geben sie Lautäußerungen von sich, und rund um den Zeitpunkt der Eiablage kopulieren sie möglicherweise häufiger als einmal pro Stunde. Schleiereulen können daher hunderte Male kopulieren, um ein einziges Gelege zu produzieren.

Das Sexualverhalten der Schleiereulen in Europa ist bis ins Einzelne beschrieben worden.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Roulin, Schleiereulen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62514-9_7

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7.1  Balz und Paarung

157

Abb. 7.1  Balzfütterung bei der Schleiereule; das Männchen bietet seiner Partnerin ein Beutestück an

Paarungszeit Europäische Schleiereulen, und vor allem die erfahreneren älteren Altvögel, erkunden bereits im Winter prospektive Brutplätze. Die Männchen verteidigen ein Revier, und die Weibchen prüfen Brutplätze und Partner, bevor sie entscheiden, wo sie sich niederlassen wollen. Eine weibliche Schleiereule kann eine Menge abgewiesener Freier hinterlassen … Das Männchen kann dem Weibchen Avancen machen, indem er Beutestücke als Balzgeschenk anbietet (Abb. 7.1); das Weibchen kann diese aber auch abweisen und, ohne sie zu verzehren, den Platz verlassen. Die Balzgeschenke zersetzen sich und trocknen schließlich ein. In der Schweiz fand man 240 Nistkästen mit einem Gelege, aber in 27 weiteren nur mumifizierte Beutestücke – was darauf schließen lässt, dass mindestens 10 % der Balzversuche letztlich nicht zu einem Gelege führten. In einem Nistkasten fanden wir sogar 76 verrottete Beutestücke. Da Schleiereulen, anders als Eichelhäher oder Eichhörnchen, keine länger nutzbaren Futtervorräte anlegen, wurden diese Beutestücke vergeblich angeboten. In guten Brutjahren kommt dies häufig vor, wenn alle geschlechtsreifen Individuen versuchen sich fortzupflanzen. In solchen Jahren kann ein einzelnes Männchen mehrere Weibchen anlocken, bevor er seine Traumpartnerin findet. Es gibt so viele Männchen, die brutwillig sind, dass sich die Weibchen genügend Zeit lassen können, um Männchen zu prüfen, bevor sie einen Partner wählen. Das Männchen lockt eine Partnerin an, indem er bis zu 500-mal pro Nacht ruft und in Kreisen um seine Nisthöhle fliegt. Er lädt das Weibchen ins Nest ein und kratzt dort

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7 Sexualverhalten

Abb. 7.2  Ein Schleiereulenmännchen bietet vor der Paarung ein Balzgeschenk an. Die Fotos wurden mit einer Wildkamera aufgenommen. (© Robin Séchaud & Kim Schalcher)

auf dem Boden herum, als ob er der Partnerin zeigen wollte, wo sie ihre Eier legen kann. Erstaunlicherweise legen die Partner, auch wenn die Balz normal abläuft, ein aggressives Verhalten an den Tag – heftiges Schnabelfechten, Hochheben der Flügel als Furchtsignal, „Verhakeln“ mit Fängen und Schnäbeln, oder das Weibchen verfolgt das Männchen, um ihm die Beute abzunehmen, die er ihr gebracht hat. Während der langen Periode vor der Eiablage, die in Europa vom Winter bis ins Frühjahr dauert, schlafen die Weibchen häufiger in der Nesthöhle als die Männchen. Mit fortschreitender Brutzeit ruhen Weibchen und Männchen immer öfter in der Nesthöhle und machen durch Rufe auf sich aufmerksam. Das Männchen präsentiert dem Weibchen sein Nest deutlich häufiger, indem er ihr Beutestücke anbietet (Abb. 7.2). Diese Balzgeschenke sind wesentlich, da das Weibchen Reserven anlegen muss, um Eier zu bilden, und so schwer wird, dass sie kaum noch jagen kann. Ein Männchen muss seine Partnerin daher großzügig füttern, wenn er später ein Gelege haben möchte. Einen Monat vor der Eiablage bringt das Männchen durchschnittlich zwei Wühlmäuse pro Tag zum Nest und fünf Tage vor der Eiablage; wenn beide Partner in der Nesthöhle sitzen, um zu kopulieren, bringt das Männchen fünf Wühlmäuse pro Tag. In Deutschland brachte ein Männchen vor der Eiablage pro

7.1  Balz und Paarung

159

Abb. 7.3  Schleiereulen kopulieren sehr häufig

Tag durchschnittlich 5,7 Beutestücke zum Nest, während der Schlupfperiode 8,4 und in den ersten fünf Tagen der Aufzuchtzeit 15,8 Beutestücke – während der Bebrütung waren es weniger, nämlich nur 4,8. Die Anzahl der vom Männchen eingebrachten Beutestücke stimmt folglich mit dem Nahrungsbedarf überein, doch die Häufigkeit der Balzfütterung erlaubt keine Vorhersage über die Gelegegröße. Wir könnten es auch so ausdrücken: Schleiereulen lieben es sich zu lieben (Abb. 7.3): Dinner im Kerzenschein … In einer französischen Untersuchung bot das Männchen unmittelbar vor der Paarung dem Weibchen in 40 % der Fälle ein Beutestück an. Die Männchen sind nicht immer spendabel, denn in einem 24-Stunden-Zeitraum kann die Zahl der Kopulationen die Zahl der herbeigeschafften Balzgeschenke übersteigen; zudem fressen die Weibchen die angebotene Beute nicht immer. Süße Liebesschwüre … Vor 90 % der Kopulationen stößt das Weibchen laute Rufe aus. Stöhnen … Männchen und Weibchen rufen vor und während der Paarung, und am Ende des Akts stößt das Männchen einen „ekstatischen“ Schnarchruf aus. Fast allzeit bereit … In Deutschland können Schleiereulen jederzeit von Februar, also zwei Monate vor der Eiablage, bis zum Ende der Brutzeit im November kopulieren. Nicht alle Individuen sind so unersättlich; normalerweise beginnen die Kopulationen 20 – 50 Tage vor Ablage des ersten Geleges und 17–33 Tage vor dem zweiten Gelege des Jahres. Geil … Die meisten Paarungsakte finden im Nest statt, sobald das Männchen in die Nesthöhle kommt. Anscheinend kann er nicht länger warten. Exhibitionist … Eulen finden nichts dabei, auch neben ihren Kindern zu kopulieren. Ausgedehnter physischer Kontakt … Die Paarungsdauer ist, verglichen mit anderen Vögeln, relativ lang; sie beträgt im Durchschnitt 29 s mit einem beobachteten Maximum von 1 min – im Vergleich zum Seggenrohrsänger mit rekordverdächtigen 24 min ist das nichts!

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7 Sexualverhalten

Partnerbewachung Schleiereulen sind gewöhnlich sozial monogam, und die Männchen sichern sich jeweils ein Weibchen. Während die Männchen häufig versuchen, außerhalb der Paarbeziehung zu kopulieren (Fremdkopulation), möchten sie aber selbst nicht zum „Hahnrei“ gemacht werden. Bei den Eulen ist das Männchen der Hauptnahrungslieferant; folglich möchte er keine Energie auf die Versorgung von „Kuckuckskindern“ verschwenden, die von Rivalen gezeugt wurden, und folgt seiner Partnerin auf Schritt und Tritt. Diese Strategie wird als Partnerbewachung (mate guarding) bezeichnet. So verbrachten vier besenderte schottische Schleiereulenmännchen unmittelbar vor und während der Eiablage 74 % der Nachtzeit nahe beim Nest. Sobald das Gelege komplett und damit das Betrugsrisiko vernachlässigbar war, verbrachten die Männchen nur mehr 28 % ihrer Zeit dicht bei der Partnerin. Kopulationshäufigkeit Ein einziger Paarungsakt würde zwar ausreichen, um alle Eier eines Geleges zu befruchten, doch Schleiereulen können im Lauf eines einzigen Reproduktionsversuchs hunderte Male kopulieren. Warum? Ein derart häufiges Kopulieren mit dem Sozialpartner garantiert, dass das Sperma eines etwaigen fremden Eindringlings so verdünnt wird, dass er kein einziges Ei befruchten kann. 20 Tage vor Beginn der Eiablage kopulieren die Paare mindestens einmal pro Tag; unmittelbar vor der Eiablage erreichen sie einen Höhepunkt mit mehr als einem Paarungsakt pro Stunde (als Maximum wurden 70 Kopulationen in 24 Stunden beobachtet). Sobald die Eiablage beginnt, nimmt die Paarungshäufigkeit ab (auf etwa eine Kopulation pro Stunde), und während der Bebrütungszeit können die Vögel immer noch mehr als 14-mal pro Tag kopulieren. Auch während des Schlupfs und der Jungenaufzucht finden weiterhin Paarungen statt. Sie enden normalerweise aber, wenn die Mutter beginnt, selbst auch für den Nachwuchs auf Beutefang zu gehen – es sei denn, es kommt später zu einer zweiten Brut. Daher kopuliert ein Männchen möglicherweise weiter, nachdem das erste Gelege komplett ist; dies animiert das Weibchen anscheinend dazu, ein Zweitgelege mit demselben Partner statt eines anderen zu zeitigen. Paare, die später ein größeres Gelege haben, kopulieren pro Tag zwar öfter als Paare mit kleinerem Gelege, doch die Nahrungsversorgung hat anscheinend keinen Einfluss auf die Paarungshäufigkeit. Diese Muster gelten wohl generell für Eulen, Greifvögel und Falken. Alter bei Geschlechtsreife Tiere mit kurzer Lebenserwartung beginnen gewöhnlich früher mit der Fortpflanzung als langlebige Arten: Wachteln können im Alter von 60 Tagen brüten, doch Bartgeier sind mindestens elf Jahre alt, bevor sie erfolgreich zur Brut schreiten. Das Alter bei Geschlechtsreife ist wichtig, weil davon wesentliche Parameter der Life History, wie Altern und Überleben, abhängen. Die Schleiereule wird sehr früh geschlechtsreif, gewöhnlich schon im ersten Lebensjahr. Alle Tytonidae, auch die größten Ruß- und Graseulen, können sich im ersten Lebensjahr fortpflanzen. In den USA und Europa brüten über 95 % der Schleiereulen schon innerhalb ihres ersten Jahrs, nur wenige Individuen warten, bis sie zwei Jahre alt sind. Wie man in einer Untersuchung in den Niederlanden herausfand, kann der Reproduktionsbeginn aufgeschoben werden, wenn ein Vogel nicht in der Lage ist, einen Partner zu binden, oder die Umweltbedingungen im ersten Lebensjahr zu ungünstig sind. Die früheste Repro-

7.2 Paarungssysteme

161

duktion, die bei Schleiereulen beobachtet wurde, erfolgte im Alter von nur 180 Tagen bei Gefangenschaftsvögeln. Bei 283 Schweizer Schleiereulen, die in ihrem ersten Lebensjahr brüteten, wurde das erste Ei durchschnittlich im Alter von 332 Tagen gelegt; das jüngste Individuum war erst 207, das älteste bereits 438 Tage alt. Interessanterweise bestehen keine Unterschiede zwischen Männchen und Weibchen.

7.1.2 Offene Forschungsfragen • Die Variation des Brutzeitbeginns sollte für einzelne Individuen bestimmt werden, um die Merkmale zu identifizieren, die mit einem zeitigen Brutbeginn assoziiert sind. • Identifizierung der Variablen (z. B. Temperatur, Datum, Tageszeit, Morphologie), welche die Variation im Balzfütterungs- und Paarungsverhalten erklären können. • Man sollte untersuchen, ob und warum sich die sexuelle Aktivität individuell unterscheidet. • Zwischen den einzelnen Individuen sollte die Variation des Alters, in dem Eulen zum ersten Mal brüten, untersucht werden, um herauszufinden, welche Individuen am ehesten bereits in jungem Alter brüten werden.

7.2 Paarungssysteme 7.2.1 Frivolitäten 77 Schleiereulen sind im Allgemeinen Einzelbrüter und sichern sich folglich jeweils nur

einen Partner (soziale Monogamie) für einen Brutzyklus (Abb. 7.4), so wie bei den meisten anderen Vögeln. Einige Männchen sind polygyn, wobei die beiden zugehörigen Weibchen manchmal sogar in derselben Nesthöhle brüten, manchmal aber auch mehrere Kilometer voneinander entfernt. Dagegen produzieren nur wenige Weibchen eine Brut mit zwei Männchen (Polyandrie). Graseulen und gelegentlich auch Schleiereulen können gesellig leben und lockere Kolonien bilden, in denen sie Gelegenheit haben, mit mehreren Partnern zu kopulieren. Etwa 1 von 50 Nestlingen wurde nicht von dem Männchen gezeugt, das das Futter bringt, und 1 % der Brutpaare sind inzestuös.

Wenn wir ermitteln wollen, ob die Nachkommen einer Population aus der Fortpflanzung einiger weniger oder der meisten geschlechtsreifen Individuen stammen, brauchen wir Informationen darüber, mit wie vielen Partnern sich Tiere paaren. Polygynie, bei der ein Männchen sich mehrere Weibchen sichert, ist bei Säugetieren häufig, da die Weibchen keine besondere Hilfe von den Männchen bei Aufzucht der Jungen benötigen, denn diese trinken Muttermilch. Aus diesem Grund wetteifern die Männchen darin, sich mit so vielen Weibchen wie möglich zu paaren. Bei Vögeln ist soziale Monogamie häufiger als bei Säugern, da zur Aufzucht der Nachkommen gewöhnlich zwei Elterntiere benötigt werden, die nach Futter suchen. Bei Eulen beschafft das Männchen einen Großteil der Nahrung für die Nachkommen, während das Weibchen die Eier bebrütet, die Jungen hudert und das

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7 Sexualverhalten

Abb. 7.4 Ritualverhalten bei Männchen und Weibchen der Schleiereule

Futter verteilt, bis sie alleine fressen können. Wie gelegentlich beobachtet wurde, kann ein Männchen seine freie Zeit nutzen, um andere Weibchen anzulocken, während seine erste Partnerin sich um die Eier kümmert. Ein Weibchen hat dagegen nur dann Zeit, um andere Männchen zu verführen, wenn ihre Nachkommen die eigene Körperwärme aufrechterhalten können und keine Hilfe mehr benötigen, um die herbeigeschaffte Nahrung zu fressen.

Brutdichte Paarungssysteme stehen in enger Beziehung zum Sozialverhalten. Verglichen mit einer Einzelbrüterart haben Koloniebrüter und gesellige Vögel mehr Gelegenheit, potenzielle Partner zu treffen und polygam zu werden. Auch wenn die meisten Tytonidae Einzelbrüter sind – vermutlich ist ihre Beute, die Kleinsäuger, nicht häufig genug, um viele Eulen zu ernähren – , können sie manchmal lockere Kolonien bilden. Bei der Kapgraseule haben die Nester unter Umständen nur 150 m Abstand, und bei (Östlichen) Graseulen in Australien konnte man 40–50 Paare auf 40 ha Reisfeld-Brachfläche nachweisen. Ornithologen in Europa gehen zwar gewöhnlich von einem Brutpaar Schleiereulen pro Dorf aus, doch die Dichte kann leicht zunehmen, wenn viele potenzielle Nistplätze verfügbar sind, wie die folgenden Beispiele zeigen: • In Südafrika waren zwei Nester nur 20 m voneinander entfernt. • In Simbabwe fand man in einer 100 m langen Abraumhalde fünf Nester. • In Mali wurden bis zu 40 Brutpaare auf einer 250 ha großen Fläche nachgewiesen. • In Frankreich brüteten drei Weibchen in derselben Kirche.

7.2 Paarungssysteme

163

• Auf den Kanaren enthielten drei Felshöhlen in einem 40-m-Radius je eine Schleiereulenfamilie. • In den USA fand man in einer aufgelassenen Tankstelle neun Nester im Abstand von 4,5–140 m. • Auf den Galapagosinseln waren zwei Nester nur 4 m voneinander entfernt, ein drittes Nest lag 60 m entfernt. • In England wurden drei Weibchen beobachtet, die zusammen mit zwei Männchen unter demselben Dach eines Gehöfts brüteten. Dagegen sind die größeren australischen Tytonidae weniger gesellig. Bei der Neuholland­ eule beträgt der kürzeste Abstand zwischen den Nestern normalerweise 1 km; bis zu neun Paare Rußeulen wurden in einem 300–700 km2 großen Gebiet gefunden.

Gemeinschaftsbruten Wie die obigen Beispiele vermuten lassen, können Schleiereulen gegenüber Artgenossen tolerant sein: Zwei Weibchen können sehr dicht beieinander brüten, sogar gemeinsam mit einem einzigen Männchen im selben Nistkasten, wie aus den USA und Europa berichtet wurde. Das erstaunlichste Beispiel kommt aus Israel (Abb. 7.5). Dort verpaarte sich ein einziges Männchen mit zwei Weibchen, die ihre Gelege nahe beieinander ablegten. Oft kopulierte das Männchen mit dem einen Weibchen, während das andere daneben seine Eier bebrütete. Die beiden Weibchen legten insgesamt 20 Eier im selben Nistkasten, es schlüpften 19 Junge, und 16 wurden flügge (Abb. 8.7). Polygynie Es ist nicht so selten, dass ein Männchen gleichzeitig zwei Weibchen an zwei verschiedenen Standorten unterhält (Abb. 7.6). In Schottland wurden unter 419 Brutversuchen 7 derartige Fälle (1,7 %) dokumentiert. Wie in Deutschland beobachtet wurde, tritt Polygynie vor allem in Jahren auf, in denen viele Schleiereulen zwei Jahresbruten hintereinander produzieren. Keine Eifersucht. Die Weibchen wissen offenbar manchmal, dass ihr Männchen eine „Geliebte“ hat, greifen in die „Affäre“ aber nicht ein. Dies wird in dem oben erwähnten Beispiel aus Israel offensichtlich: Die beiden sehr nahe beieinander brütenden Weibchen akzeptierten anscheinend die Situation, und keines versuchte, sich als Favoritin zu etablieren. Vielleicht handelte es sich um Schwestern, was die Toleranz erklären könnte. In der Schweiz beobachtete man allerdings einen ähnlichen Fall, in dem zwei Weibchen zusammen mit einem Männchen im selben Nistkasten brüteten. Die beiden Weibchen waren keine Schwestern, und mithilfe von molekulargenetischen Methoden konnte gezeigt werden, dass beide erfolgreich Nachkommen produzierten. Wenn die Nachkommen in einem Gemeinschaftsnest zusammensitzen, können die Altvögel nicht erkennen, zu welcher Mutter der jeweilige Nestling gehört. Schleiereulen machen nicht einmal einen Unterschied zwischen einem Turmfalkennestling und ihren eigenen Nachkommen. Tatsächlich hat man zwei Schleiereulenweibchen beobachtet, die Turmfalkeneier gemeinsam mit ihren eigenen bebrüteten und anschließend die jungen Schleiereulen und Turmfalken bis zum Flüggewerden fütterten. Favoriten? Bisher wurde in keiner umfassenden Studie untersucht, ob polygyne Männchen mehr Aufwand in die Aufzucht von einer der beiden Bruten investieren.

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7 Sexualverhalten

Abb. 7.5 Gemeinschaftsbruten bei Schleiereulen in Israel. Das Männchen bringt einer seiner Partnerinnen ein Beutetier. Das Männchen kopuliert mit einem der beiden Weibchen. Die beiden Weibchen hudern ihre Jungen (von oben nach unten) (Zeichnungen nach Fotos von Ezra Hadad)

Heimlicher Partner. Sind Schleiereulen Anhänger der freien Liebe? Anscheinend nicht. In vielen Fällen legten die beiden Weibchen eines polygynen Männchens ihre Eier an Brutplätzen mit bis zu 4 km Abstand; dies lässt vermuten, dass das jeweilige Weibchen wahrscheinlich nicht wusste, dass ihr Männchen noch eine andere Partnerin hatte.

7.2 Paarungssysteme

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70

polygyne Männchen 60

Prozentsatz

50 40 30 20

Weibchen mit 2 Jahresbruten

10 0

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Entfernung (km) zwischen den beiden Nestern

Abb. 7.6  Häufigkeitsverteilung der Entfernungen zwischen den beiden Nestern polygyner Männchen und den beiden Nestern von Weibchen, die ihren Partner und Nistplatz wechselten, um am neuen Ort ihre zweite Jahresbrut zu produzieren. Da der Vater die meisten Beutestücke für die Familie fängt, ziehen polygyne Männchen die beiden Familien mit unterschiedlichen Partnern an Brutplätzen auf, die relativ nahe beieinander liegen. Sobald die Nestlinge ihre Nahrung selbstständig fressen und ihre Körpertemperatur ohne die Hilfe der Mutter regulieren können, kann das Weibchen die Familie verlassen und – recht weit vom ersten Nest entfernt – mit einem neuen Partner versuchen, eine Zweitbrut zu starten. Das erste Männchen kümmert sich von nun an alleine um die Nestlinge der Erstbrut

Polyandrie und kooperatives Brüten Der Fall, dass ein Weibchen gleichzeitig mit zwei Männchen verpartnert war, konnte nur in Gefangenschaft beobachtet werden; es handelte sich um eine Volierenhaltung von zwei Männchen und zwei Weibchen. Beide Männchen fütterten zwar beide Weibchen und reagierten nicht aggressiv aufeinander, doch ein Männchen kopulierte mit beiden Weibchen (von denen nur eines Eier legte), während das andere Männchen sich vorwiegend nur mit einem Weibchen paarte. In einer weiteren Gruppe mit vier Individuen hinderte das eine Männchen das andere am Kopulieren. In beiden Fällen brütete nur ein Weibchen, und beide Männchen und das nichtbrütende Weibchen beteiligten sich am Füttern des brütenden Weibchens und seiner Nachkommen. Ähnliche Beobachtungen machte man bei australischen Graseulen in menschlicher Obhut; dort produzierte ein Weibchen ein Gelege, und ein anderes half bei der Aufzucht der Jungen. In freier Wildbahn konnte man bei drei Gelegenheiten beobachten, dass ein Weibchen die Brut eines anderen Weibchens fütterte, was darauf hinweist, dass kooperatives Brüten auch unter natürlichen Bedingungen stattfinden kann. Es ist nicht klar, ob dieses Verhalten üblich oder eher ein Merkmal von hilfebedürftigen Individuen ist. Wir haben in der Schweiz sogar einen Turmfalken beobachtet, der eine Schleiereulenbrut fütterte!

166

7 Sexualverhalten

Fremdvaterschaft Bei monogamen Organismen – hier sichern sich die Individuen jeweils einen Partner je Brutzeitraum – können die Männchen ihren Fortpflanzungserfolg erhöhen, indem sie mit mehreren Partnerinnen kopulieren. Die Weibchen können mit Männchen außerhalb der Paarbeziehung kopulieren, wenn ihr sozialer Partner genetisch minderwertig oder genetisch nicht kompatibel ist. Unter den sozial monogamen Vögeln konnten bei etwa 90 % der Arten „Kuckuckskinder“ gefunden werden; bei manchen Arten sind mehr als 11 % der Nachkommen von Fremdvätern gezeugt. Wie andere Eulen, Greifvögel und Falken auch, kopulieren Schleiereulen so häufig innerhalb der Paarbeziehung (Abb. 7.7), dass die Wahrscheinlichkeit der Fremdbefruchtung durch ein anderes Männchen gering ist. Im weiblichen Genitaltrakt ist die Spermamenge, die vom Sozialpartner stammt, so hoch, dass die von einem Rivalen übertragene Spermamenge dagegen wie der sprichwörtliche Tropfen im Ozean ist. Entsprechend fand man in der Schweiz, dass nur 27 von 1403 Nestlingen (1,9 %) von anderen Männchen gezeugt waren als jenen, die diese Nestlinge versorgten. „Fremdgehen“ (Fremdkopulation, extra-pair copulation) ist daher keine effiziente Strategie für Schleiereulen, um ihre Fitness zu erhöhen. Inzest Die Brut mit einem nahe verwandten Partner kann für die Nachkommen nachteilig sein. Inzest führt zu enger Blutsverwandtschaft (Konsanguinität) und damit zu Erbkrankheiten, die aus Homozygotie resultieren. Blutsverwandtschaft erhöht das Risiko, schädliche Merkmale auszubilden, die durch seltene rezessive Allele codiert werden. Wenn eine Familie derartige rezessive Allele besitzt, sind Einzelindividuen meist nicht betroffen, solange jedes von ihnen noch eine Kopie des gesunden dominanten Allels hat. Sobald diese verwandten Individuen jedoch gemeinsam brüten, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Nachkommen zwei Kopien des rezessiven und geschädigten Allels hat, durchaus gegeben. Wie bei den meisten Vögeln – Inzucht macht bei ihnen nur 0–6 % aller Paarungen aus – ist auch bei Schleiereulen die Wahrscheinlichkeit gering, sich mit einer nahe verwandten Eule zu verpaaren. In Schottland und der Schweiz bestand nur 1 von 157 Paaren (0,6 %) bzw. 10 von 830 Paaren (1,2 %) aus nahe verwandten Partnern. In den USA und Europa erfasste man 8 Brutpaare, die aus Geschwistern desselben Nests bestanden, 1 BruderSchwester-Paar (in unterschiedlichen Jahren geboren), 4 Mutter-Sohn-Paare, 2 Vater-Tochter-Paare, 1 Großmutter-Enkel-Paar sowie 1 Tante-Neffe-Paar. Diese Inzuchtpaare siedelten nur in wenigen Kilometer Entfernung vom Geburtsort, was wiederum zeigt, dass die beste Methode, um Inzucht zu vermeiden, darin besteht, möglichst weit vom Geburtsort wegzuziehen. Eine andere Lösung ist möglicherweise das Erkennen der Familienmitglieder, um eine Verwandtenbrut zu vermeiden; allerdings ist über einen derartigen Mechanismus bei den Tytonidae nichts bekannt.

7.2 Paarungssysteme

Abb. 7.7 Paarung in der Nesthöhle

167

7 Sexualverhalten

168

7.2.2 Offene Forschungsfragen • Die Häufigkeit der Polygynie sollte ermittelt werden, indem man Männchen mit GPSSendern versieht. So könnte man überprüfen, ob das jeweilige Männchen eine oder zwei Familien füttert. • Sobald polygyne Männchen nachgewiesen wurden, könnte man mittels Genanalysen (oder Beringung) herausfinden, ob die beiden Weibchen dieser Männchen nahe verwandt sind. • Der Fortpflanzungserfolg der polygynen Männchen sollte in beiden Nestern protokolliert werden, um zu untersuchen, ob eine Familie gegenüber der anderen bevorzugt gefüttert wird. Weiterhin wäre es interessant herauszufinden, warum das polygyne Männchen eine Familie der anderen vorzieht. • In kleinen Populationen, z. B. auf Inseln, könnte die Inzuchtrate hoch sein, da die Wahrscheinlichkeit, auf nahe Verwandte zu treffen, größer sein kann. Das Ausmaß der Inzucht sollte daher in kleinen und großen Populationen überwacht werden; es hat wichtige Konsequenzen für den Artenschutz. • Die Rate der Fremdvaterschaft ist bei der Schleiereule zwar meistens gering, sie könnte aber bei hoher Populationsdichte größer sein, wenn die Gelegenheit für Fremdkopulationen sehr hoch ist. Daher wäre es interessant, die Möglichkeit der Fremdvaterschaft in Populationen mit unterschiedlicher Dichte zu untersuchen. • Der Anteil der Fremdvaterschaft ist zwar gering, doch wir wissen nichts über den Anteil der Fremdkopulationen. Man sollte Verhaltensuntersuchungen durchführen, um herauszufinden, ob Schleiereulen sehr häufig fremdkopulieren müssen, um mindestens ein Kuckuckskind zu zeugen. • Um Inzucht zu vermeiden, erkennen Eulen möglicherweise Verwandte und brüten nicht mit ihnen. Man sollte Verhaltensversuche durchführen, um zu testen, ob Eulen in der Lage sind, Verwandte zu erkennen.

7.3

Treue und Scheidung

7.3.1 Ewige Liebe oder geschiedene Leute 77 Treue und Scheidung sind die beiden Kehrseiten derselben Medaille, um hohen

Fortpflanzungserfolg zu erreichen. Schleiereulen suchen nach einem Traumpartner (Abb. 7.8), und das braucht Zeit: Dies könnte erklären, warum Männchen im ersten Lebensjahr sich eher von ihrer Partnerin trennen als ältere Männchen. Wenn der Fortpflanzungserfolg gering ist, ist die Versuchung stark, den Partner verantwortlich zu machen und sich zu trennen, um den Reproduktionserfolg mit einem anderen Partner zu verbessern. Im Durchschnitt trennen sich 20 % der Altvögel, doch wenn der geeignete Partner erst gefunden ist, bleiben Schleiereulen einander treu, was die Koordination der Fortpflanzungsaktivitäten im Lauf der Zeit verbessert.

7.3  Treue und Scheidung

169

Abb. 7.8  Schleiereulen können dem Partner gegenüber sehr aufmerksam sein

Albatrosse bilden eine lebenslange Paarbindung aus, und Mehlschwalben gehen nach jedem Brutversuch auseinander. Folglich gibt es bei Vögeln eine erhebliche Variation in den Scheidungsraten, die man erklären muss: Wenn Tiere mit ihrer Umgebung vertraut sind, profitieren sie davon, und eine langfristige Partnerschaft trägt dazu bei, die Zusammenarbeit bei den Fortpflanzungsaktivitäten zu verbessern. Falls ein Partner nicht ausreichend fit oder die Kombination der von Vater und Mutter ererbten Gene nachteilig für die Nachkommen ist und ihre Überlebenschancen reduziert, sind die Scheidung und Suche nach einem neuen Partner eine Lösung. Diese Lösung kann auch einen Wechsel des Brutplatzes beinhalten, insbesondere für Weibchen, die bei den meisten Arten weniger territorial als die Männchen sind.

Brutplatztreue Selbst wenn derselbe Platz Jahr um Jahr von Eulen besetzt ist, handelt es sich nicht immer um dieselben Individuen. Landwirte sind immer wieder überrascht, wenn sie erfahren, dass jedes Jahr andere Schleiereulen in dem Nistkasten auf ihrem Hof brüten. Über einen Zeitraum von acht Jahren brüteten sechs verschiedene Weibchen in einem Nistkasten in Frankreich. In New Jersey (USA) wechselten von einem zum nächsten Jahr in denselben Nistkästen 65 % der brütenden Weibchen bzw. 33 % der Männchen. Dieser hohe Turnover

7 Sexualverhalten

170

erfolgreiche Aufzucht vieler Jungen

Aufzucht weniger Jungen

Treue

Scheidung

Abb. 7.9  Geringer Fortpflanzungserfolg führt oft zur Scheidung

der Brutvögel nimmt mit Mortalität und Immigration zu, wie auch mit der Nistplatzdichte. Denn je mehr Nistplätze verfügbar sind, desto mehr Gelegenheit haben die ansässigen Vögel, zu einem nahe gelegenen Platz zu wechseln. In Gegenden, in denen Naturhöhlen rar sind, haben die Vögel möglicherweise keine andere Wahl als am selben Platz zu bleiben. Möglicherweise ist das der Grund dafür, dass in Schottland 99 % der brütenden Männchen und 95 % der Weibchen ihrem Brutplatz treu blieben und man in Deutschland Weibchen beobachtete, die bis zu sieben Jahre im selben Nistkasten brüteten. Im Normalfall verteidigen die Männchen einen Brutplatz, um Weibchen anzulocken – diese besuchen mehrere potenzielle Partner, bevor sie sich festlegen. Die ortstreuen Männchen können sich trennen, ohne zu einem neuen Brutplatz wechseln zu müssen, da sie ihre Partnerin nur aus ihrem Territorium vertreiben und abwarten müssen, bis ein neues Weibchen aufkreuzt. Dagegen müssen die Weibchen ihr „Heim“ verlassen, um die Paarbeziehung aufzulösen. Die Weibchen sind jedoch bei Vögeln, wie bei den meisten anderen Tieren, vorsichtiger als die Männchen, wenn es um die Entscheidung geht, mit welchem Männchen sie sich verpaaren. Folglich geht die Trennung häufiger von den Weibchen aus; dies konnte bei den Tytonidae allerdings noch nicht bestätigt werden. In der Schweiz wechselten lediglich 40 % der getrennten Männchen zu einem anderen Brutplatz, der im Durchschnitt nur 1,1 km vom ursprünglichen Platz entfernt lag. Dies weist darauf hin, dass Männchen ein Territorium mit mehreren potenziellen Nistplätzen besitzen. Dagegen zogen 96 % der getrennten Weibchen (verglichen mit 22 % der partnertreuen Weibchen) ihre nächste Brut an einem Brutplatz auf, der relativ weit (mittlere Distanz 2,3 km) vom vorhergehenden Brutplatz entfernt war. Dies zeigt, dass die Treue zum Brutplatz bei Weibchen nicht so ausgeprägt ist und sie das Territorium wechseln müssen, wenn sie mit einem anderen Männchen brüten wollen. Ähnliche Verhaltensmuster wurden in Deutschland beobachtet.

7.3  Treue und Scheidung

171

Lac de Neuchâtel

Männchen #1 2006

Männchen #3 2008

Männchen #4 2009

Männchen #2 2007

Männchen #5 2010 & 2011

Männchen #6 2012

2 km

Hintergrundkarte TLM3D © Swisstopo (DV084371)

Abb. 7.10  Dieses Weibchen in der Schweiz brütete im Lauf ihres Lebens mit sechs verschiedenen Männchen (Zeitraum 2006–2012)

Partnerwechsel Tiere können den Brutpartner entweder wegen Scheidung oder Tod des Partners wechseln. Aber nicht immer ist eine Paarbindung so stark. Über einen Zeitraum von drei Jahren zeitigte ein Schleiereulenweibchen in Deutschland fünf erfolgreiche Bruten, jedes Mal mit einem anderen Partner und in einem anderen Nistkasten. In einer Schleiereulenpopulation in der Schweiz wechselten 60 % der Männchen und 50 % der Weibchen von einem auf das andere Jahr den Partner. Von 758 verschiedenen Paaren brüteten 634 (83,6 %) nur für ein Jahr zusammen, 82 (10,8 %) für zwei Jahre, 27 (3,6 %) für drei Jahre, 12 (1,6 %) für vier Jahre, 2 Paare (0,3 %) für fünf Jahre und 1 Paar (0,1 %) für sechs Jahre. Scheidungen von einem auf das andere Jahr sind relativ häufig und wurden in der Schweiz bei 23,5 % der Paare bzw. in Deutschland bei 18,5 % beobachtet. Scheidungsgründe Ein Partnerwechsel, der stattfindet, während der vorherige Partner noch lebt, wird als Scheidung bezeichnet. Ihre wichtigste Funktion: einen qualitativ hochwertigeren oder besser kompatiblen Partner als den Vorgänger zu beschaffen. Dieser Aspekt wurde 26 Jahre lang in einer Schweizer Population untersucht (Abb. 7.10 und 7.11). Zwei Faktoren waren mit Trennung assoziiert: geringer Fortpflanzungserfolg (Abb 7.9) und geringe Erfahrung des Männchens: • Geringer Fortpflanzungserfolg: Eine Scheidung erfolgte besonders häufig nach dem vollständigen Scheitern eines Brutversuchs. Unter den Paaren, die sich trennten, hatten

7 Sexualverhalten

172

1988

1995 Lac de Neuchâtel 1987

Geburtsort

1989

1990

1996 1991

4 km

Hintergrundkarte TLM3D © Swisstopo (DV084371)

Abb. 7.11  Ein Weibchen in der Schweiz brütete im Lauf ihres Lebens an vier verschiedenen Brutplätzen. Sie schlüpfte 1987 und brütete im Folgejahr relativ nahe beim Geburtsort. Dann zog sie ziemlich weit weg und brütete in drei aufeinanderfolgenden Jahren (1989, 1990, 1991) in zwei verschiedenen Nistkästen, kehrte 1995 in die Nähe des Geburtsorts zurück und ließ sich zum Schluss (1996) im selben Nistkasten wie 1989 und 1990 nieder

10 % im vorhergehenden Jahr keine flüggen Jungen produziert, während es bei den Paaren, die sich treu blieben, nur 2 % waren. Unter den Paaren, die mindestens ein flügges Junges großzogen, war eine Trennung im Folgejahr bei denjenigen mit mehr flüggen Jungen (im Durchschnitt 4,7 flüggen Jungen) unwahrscheinlicher als bei Paaren, die weniger flügge Nachkommen hatten (im Durchschnitt 3,5 flügge Junge). • Erfahrung: Den Traumpartner zu finden, ist ein langwieriger Prozess, bei dem man mehrere Partner prüfen muss, bevor man entscheidet, welcher Partner am passendsten ist. Dies trifft vor allem bei Männchen zu. Die Wahrscheinlichkeit für eine Scheidung war bei noch einjährigen Männchen größer als bei älteren. Das Alter des Weibchens hatte dagegen keinen Einfluss auf eine Scheidung.

Nutzen und Kosten einer Scheidung Wie in der Schweiz gezeigt wurde, ist eine Scheidung vorteilhaft, da sie glücklosen Individuen ermöglicht, ihren Reproduktionserfolg zu verbessern. Neu verpaarte „Geschiedene“ produzierten mehr Nachkommen als im Jahr vor der Scheidung und zogen

7.3  Treue und Scheidung

173

Abb. 7.12  Gehen oder bleiben? Die ewige Frage, sogar für eine Schleiereule (Tyto alba sertens, Indien) (© Jim Parkås)

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7 Sexualverhalten

eine ähnliche Anzahl an flüggen Jungvögeln auf wie die treuen Paare. Eine Scheidung gibt es jedoch nicht kostenlos. Die Geschiedenen und ihr neuer Partner zeitigen ihre Gelege später in der Brutsaison als Individuen, die ihrem Partner treu bleiben. Individuen, die sich trennen, haben möglicherweise wenige Optionen bei der Auswahl eines neuen Partners – ganz einfach, weil die besten potenziellen Partner ihren Qualitätspartnern treu sind. Die neuen Weibchen von geschiedenen Männchen hatten kleinere schwarze Flecke auf den Spitzen ihres Bauchgefieders (ein Qualitätssignal) und waren meist jünger und folglich weniger erfahren als die Weibchen, mit denen jene Männchen im Jahr vor der Scheidung gebrütet hatten. Und schließlich müssen die Geschiedenen häufig ihren Brutplatz verlassen, um einen neuen Partner zu finden, und daher mit qualitativ schlechteren Plätzen vorliebnehmen.

Nutzen und Kosten einer Langzeit-Monogamie Während Scheidung für eine Schleiereule, die mit einem weniger „fitten“ oder nichtkompatiblen Partner liiert ist, die beste Option sein mag, verbessert eine langfristige Monogamie die Effizienz in der Zusammenarbeit der Partner beim Brüten. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine geschlüpfte Jungeule mit Erfolg flügge wurde, nahm proportional zur Anzahl der Jahre zu, während der die Elterneulen mit demselben Partner gebrütet hatten. Treue Partner wurden mit der Zeit so effizient, dass sie sogar die Gelegegröße reduzieren konnten, um immer noch dieselbe Anzahl an flüggen Jungvögeln zu produzieren. Daher sind Schleiereulen auf der Suche nach einer langfristigen Beziehung, um die Zusammenarbeit zu verbessern. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten sie sich unter Umständen trennen, wenn sie nicht mit dem bestgeeigneten Partner verpaart sind (Abb. 7.12).

7.3.2 Offene Forschungsfragen • Man sollte untersuchen, welche relative Bedeutung Immigration und die Verfügbarkeit von Brutplätzen haben, wenn es darum geht, ob ein Individuum sich trennen oder den Brutplatz wechseln wird. • Es sollte untersucht werden, wer – also ob Männchen oder Weibchen – die Scheidung initiiert.

Weiterführende Literatur Abschnitt 7.1 Antor RJ, Margalida A, Frey H, Heredia R, Lorente L, Sesé JA (2007) First breeding age in captive and wild bearded vultures Gypaetus barbatus. Acta Ornithol 42:114–118 de Bruijn O (1994) Population ecology and conservation of the barn owl Tyto alba in farmland habitats in Liemers and Achterhoek (the Netherlands). Ardea 82:1–109 Durant JM, Gendner J-P, Handrich Y (2010) Behavioural and body mass changes before egg laying in the barn owl: cues for clutch size determination? J Ornithol 151:11–17 Epple W (1985) Ethologische Anpassungen im Fortpflanzungssystem der Schleiereule (Tyto alba Scop., 1769). Ökol Vögel 7:1–95 Marti CD (1997) Lifetime reproductive success in barn owls near the limit of the species’ range. Auk 114:581–592

Weiterführende Literatur

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8

Fortpflanzung

8

8.1 Nistplätze 8.1.1 Schlafzimmer 77 Die Eulen des Schleiereule-Artkomplexes (Tyto alba, T. furcata und T. javanica) sind

vor allem wegen ihrer Vorliebe für das Brüten in Gebäuden bekannt. Von Natur aus legen sie ihre Eier aber in Baumhöhlen, Felsspalten, größeren Höhlen, Erdhöhlen in Uferböschungen oder sogar unterirdisch. Möglicherweise kann und konnte sich die Schleiereule weltweit so erfolgreich ausbreiten, weil sie so flexibel in der Brutplatzwahl ist. Andere Tytonidae mit stärker spezialisierter Nistplatzwahl sind nicht annähernd so erfolgreich. Graseulen brüten z. B. ausschließlich auf dem Boden, Neuhollandeulen & Co. und Rußeulen brüten vorwiegend in Baumhöhlen, selten in Felshöhlen und niemals in Bauwerken.

Es ist wichtig zu wissen, wo die Tytonidae brüten, um gezielte Schutzmaßnahmen für die wesentlichen Elemente in den Habitaten zu ergreifen. Eulen stehen zurzeit wie viele andere Tiere unter erheblichem Druck durch Habitatverlust und Störungen. Eulenarten, die einen spezialisierten Brutplatz benötigen, sind gefährdet, wenn diese Standorte aufgrund von anthropogener Habitatveränderung verlorengehen. In der Forstwirtschaft werden z. B. alte Bäume mit Höhlen nicht gerne erhalten, obwohl diese als Nistplatz für viele Tierarten äußerst wichtig sind. Zumindest in Europa sind außerdem die meisten Gebäude inzwischen so „hermetisch“ versiegelt, dass Eulen keine Plätze mehr für ihr Gelege finden können.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Roulin, Schleiereulen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62514-9_8

177

8.1 Nistplätze

179

Abb. 8.1  Eine Schleiereule im Eingang zum Brutplatz, der sich im Inneren eines Gebäudes befindet

Die Vorliebe der Schleiereule für Gebäudebruten ist weit verbreitet (Abb. 8.1), doch gibt es ausgeprägte regionale Unterschiede. Nordamerikanische Schleiereulen brüten z. B. häufiger in Naturhöhlen, wie im Inneren von Bäumen, als europäische Schleiereulen. In Nordamerika gibt es riesige Gebiete ohne irgendwelche Bauwerke (d. h. vom Menschen errichtete Konstruktionen), was die Schleiereulen möglicherweise dazu zwingt, andere Brutplätze zu nutzen. Wo es wenige Gebäude gibt, ruht und brütet die Schleiereule regelmäßig in Baumhöhlen, wie man auf Inseln in Südostasien, im Pazifik, auf São Tomé und der Inselgruppe Mayotte beobachtet hat (Abb. 8.2). In Regionen ohne Nistkästen, z. B. in New Jersey (USA) oder Pakistan, brüten drei Viertel der Eulen in Bäumen und ein Viertel in Bauwerken. Baumbrütende Schleiereulen sind auf dem europäischen Festland selten, im Vereinigten Königreich jedoch häufig. An Orten, an denen sowohl Bauwerke wie auch Bäume rar sind, brüten Schleiereulen in Felspalten im Steilfels, in Naturhöhlen, in den Wänden von Lavaablagerungen (Lavahöhlen) und sogar in Bodenhöhlen – wie auf Madeira, Teneriffa, Sardinien, den Kapverden und den Galapagosinseln beobachtet. Nur selten werden die Nester anderer Vögel übernommen. So wurden in Nordamerika nur sehr wenige Fälle beobachtet, in denen Schleiereulen in alten Fischadlerhorsten, Bandtauben- oder Krähennestern brüteten. In Afrika nutzen Schleiereulen regelmäßig die Kuppelnester von Hammerkopf und Siedelweber weiter. In Mali befanden sich von 178 bekannten Schleiereulengelegen alle in Hammerkopfnestern, in Südafrika dagegen 53 von 107 und in Simbabwe 11 von 28 Bruten.

180

8 Fortpflanzung

Abb. 8.2  Schleiereulen und ihre Verwandten können eine Reihe von Nistplätzen nutzen. Eine bodenbrütende Graseule auf Taiwan (links). (© Yi-Shuo Tseng) Eine Schleiereule brütet in einer Baumhöhle auf der Insel Sumba, Indonesien (rechts). (© Thierry Quelennec)

Warum brüten Schleiereulen in Bauwerken? Wie Haussperlinge und Haustauben haben Schleiereulen sich gut an die Entwicklung des Menschen angepasst. Bevor der Mensch Brutplätze für die Schleiereule bereitstellte, brütete sie wahrscheinlich in Baumhöhlen und in Steilfelsen, teils bis zu 450 m über Bodenniveau, wie man in Schottland beobachtet. Häuser, Scheunen und Tempel haben zwar eine gewisse Ähnlichkeit mit Felsklippen, doch warum brüten die Eulen generell lieber in (vom Menschen errichteten) Bauwerken als an Naturstandorten, wie Steilfelsen oder Baumhöhlen? Es gibt mehrere Erklärungen, die sich gegenseitig nicht ausschließen: • Thermoregulatorischer Schutz: Schleiereulen brüten (und ruhen) möglicherweise in Gebäuden, weil diese Plätze besser gegen Kälte oder Hitze isoliert sind. Folglich brüten die Eulen im Vereinigten Königreich, wo das Klima im Winter und zu Beginn der Brutsaison milder ist, häufiger in Bäumen. In Kalifornien (USA), wo hohe Außentemperaturen herrschen können, kann es jedoch riskant sein, in Gebäuden direkt unter dem Dach zu brüten, da es dort es extrem heiß werden kann. Dies könnte teilweise erklären, warum Schleiereulen in Kalifornien nur in 28 % der Fälle in Bauwerken brüteten und Naturstandorte vorzogen. • Schutz vor Niederschlägen: In einer Untersuchung im Vereinigten Königreich waren in Gebieten mit mehr als 1000 mm Jahresniederschlag 90 % der Schleiereulen Gebäudebrüter; in Gebieten mit weniger als 550 mm Jahresniederschlag brüteten dagegen 70 % der Schleiereulen in Bäumen. Tatsache ist, dass Wasser an den Baumstämmen heruntertropft und in Nisthöhlen laufen kann, wo Eier und Küken durchnässt werden können. • Gebäude sind langfristig gesehen dauerhafter: Naturhöhlen sind meistens ein begrenzender Faktor, und die Konkurrenz um diese Plätze kann erheblich sein. Da natürliche Nistplätze, z. B. in alten Bäumen, oft durch Stürme zerstört werden oder sich nach starken Regenfällen auflösen, ist die Suche nach einem Brutplatz für baumbrütende Individuen möglicherweise mit mehr Stress verbunden als für gebäudebrütende Eulen. So wurden in den USA und Kanada binnen vier Jahren etwa 35 % der Bäume mit bekannten

8.1 Nistplätze

181

Schleiereulennestern zerstört, während im selben Zeitraum nur 6 % der menschengemachten Nistkonstruktionen verschwanden. Bei einem einzigen Sturm wurden in Großbritannien und Irland 19 % der Schleiereulen-Baumnester zerstört. • Schutz vor Prädatoren: Möglicherweise sind Gebäude von weniger Prädatoren oder Singvögeln bewohnt (letztere mobben die Eulen). Berücksichtigt man jedoch, dass die Eulen auch unter menschlichen Störungen leiden können, so muss man sich fragen, ob die Störung von Bruten in Gebäuden insgesamt wirklich geringer ist als in Naturhöhlen. • Verminderte interspezifische Konkurrenz um Nistplätze: Der Wettbewerb um Baumhöhlen ist möglicherweise stärker als jener um Nester, die in Wirtschaftsgebäuden liegen, da viele andere Tierarten häufiger in Bäumen als in Bauwerken brüten oder Schutz suchen. Möglicherweise haben Schleiereulen daher einen Ausweg aus der interspezifischen Konkurrenz gewählt, indem sie in Menschennähe brüten. Viele Vogelarten brüten in Steilfelsen, doch die Schleiereule gehört zu den wenigen, die sich an Gebäude angepasst haben. • Nähe zu Futterplätzen: Passende Gebäude (Abb. 8.3) befinden sich oft in der Nähe von landwirtschaftlichen Nutzflächen, die den Schleiereulen als ideale Jagdreviere dienen. Gebäudebrütende Eulen leben daher näher an ihren Futterplätzen als Eulen, die z. B. in Felswänden brüten. Viele Vogelarten brüten in Steilfelsen, doch warum hat nur die Schleiereule es geschafft, Gebäude als Brut- und Ruheplatz zu besiedeln? Kommen Schleiereulen mit menschlichen Störungen besonders gut zurecht? Da sie nur mittelgroß und nachtaktiv sind, werden Schleiereulen vermutlich nicht so leicht von Menschen entdeckt. Außerdem sind Schleiereulen möglicherweise stressresistenter als andere Vögel und folglich besser in der Lage, mit der Anwesenheit von Menschen fertig zu werden. Selbst wenn dies der Fall wäre, können menschliche Störungen trotzdem „Kosten“ verursachen. Eine Untersuchung in der Schweiz zeigte, dass Schleiereulen durch die Anwesenheit von Menschen physiologisch gestresst werden. In Kanada, Israel, Portugal, Spanien, der Schweiz und dem Vereinigten Königreich werden Brutplätze, die von einer größeren Zahl an Straßen (mit entsprechend hohem Verkehrsaufkommen) umgeben sind, seltener besetzt als Plätze, die weit entfernt von Straßen liegen. Schleiereulen werden von den Gebäuden angezogen, nicht jedoch von den Menschen selbst!

Vorliebe für Nistkästen In den meisten Industrieländern der Welt (bis auf Australien) brüten Schleiereulen in Gebäuden: von Kirchen, Tempeln (Abb. 1.6) und Minaretten über Scheunen und Bauernhäusern bis zu Ruinen – und vor allem in Nistkästen. Nistkästen in Scheunen (Abb. 8.4), an Bäumen oder auf Masten inmitten von landwirtschaftlichen Nutzflächen werden oft sehr gerne angenommen und den traditionellen Nistplätzen sogar vorgezogen, die folglich aufgegeben werden. In Tschechien nahm der Anteil der Kirchturmbrüter von 51 % im Jahr 1940 auf 2 % im Jahr 2007 ab; in Deutschland nahm in einer Population der Prozentsatz der Nistkastenbrüter von 17 % im Jahr 1977 auf 100 % im Jahr 1987 zu. Auch aus anderen europäischen Ländern gibt es ähnliche Beobachtungen; Grund könnte sein,

Abb. 8.3  Dieses Schleiereulenweibchen sitzt direkt unter einem Scheunendach auf ihren Eiern

8 Fortpflanzung

184

06:19:03

06:19:12

06:20:11

06:20:22

Abb. 8.4 Diese Schleiereule brütet in einem Nistkasten, der direkt hinter einen Scheunenmauer angebracht ist. Die Eule hielt sich noch keine Minute im Nistkasten auf, als bereits ein Turmfalke zu Besuch kommt – obwohl es noch dunkel ist. Die Fotos wurden mit einer Wildkamera in der Schweiz aufgenommen (© Robin Séchaud & Kim Schalcher)

dass man die Kirchtürme inzwischen gerne „vogelsicher“ macht und dass Schleiereulen die hervorragenden Brutbedingungen in den gut konstruierten Nistkästen zu schätzen gelernt haben. Die Bevorzugung von Nistkästen kann dadurch erklärt werden, dass der Fortpflanzungserfolg in Kästen oft höher ist als in anderen Gebäuden und Bauwerken; dies wurde in den USA, Argentinien und den Niederlanden beobachtet. Nistkästen sollten an geeigneten Standorten angebracht werden: vor Prädatoren geschützt, hoch über dem Boden (meist mehr als 5 m), im Schatten und zudem regen- wie windgeschützt.

Nistplätze der anderen Tytonidae Schleiereulen sind in der Brutplatzwahl Generalisten, doch die anderen Tytonidae sind eher Spezialisten (Abb. 8.2). Die Kapgraseule und die (Östliche) Graseule brüten ausschließlich in dichten Gräserbeständen auf dem Boden – von Bäumen entfernt! Rußeulen brüten in großen Baumhöhlen in bis zu 40 m Höhe und stets in dichten Wäldern. Die Neuhollandeule und ihre tasmanische Unterart brüten in Eukalyptusbäumen in lichten Waldgebieten, dichten Wäldern und sogar auf isolierten Bäumen inmitten von Agrargebieten. Die Daten für andere Tytonidae sind relativ uneinheitlich. Die Minahassaeule lebt in dichten montanen Wäldern, ein Nest wurde in einer Baumhöhle gefunden. Bei der Sulawesieule fand man

8.2  Interspezifische Nistplatzkonkurrenz

185

zwei Nester in Baumhöhlen (nicht weit entfernt von einem Dorf), ein weiteres Nest in einer Höhle in 10 m Höhe. Und die sehr seltene Malegasseneule brütet in Baumhöhlen im dichten immergrünen Regenwald Madagaskars.

Nestbau Wie bei anderen Eulenarten findet auch bei den Tytonidae nur ein rudimentärer Nestbau statt. Die Altvögel tragen zwar kein Material ein, um ihr Nest aufzubauen oder zu verstärken, doch das Weibchen kann durch Zerkleinern der vorhandenen Gewölle eine kleine Nestmulde formen, in die es seine Eier legen kann. Im Fall von neuen Nistplätzen gibt es jedoch nur wenig Gewölle; Vogelschützer stellen den Eulen daher häufig ein passendes Substrat auf den Boden des Nistkastens zur Verfügung. In Gegenden mit wenigen Höhlen oder hohen Außentemperaturen müssen die Eulen manchmal hart arbeiten, um sich einen Brutplatz zu schaffen. Schleiereulen können lange Röhren graben (gemessen wurden bis zu 132 cm), indem sie das Erdreich an senkrechten Böschungen mit ihren Fängen herauskratzen: Dieses Verhalten wird in Nordamerika relativ häufig an Flussufern oder in Trockentälern beobachtet.

8.1.2 Offene Forschungsfragen • Wir müssen herausfinden, warum Schleiereulen in manchen Regionen häufiger in Baumhöhlen brüten als in anderen. Man sollte untersuchen, ob eine Vorliebe für unterschiedliche Baumtypen mit klimatischen Variablen oder menschlichen Aktivitäten in Beziehung steht. • Wo sind die negativen Auswirkungen durch Störungen aller Art (durch Menschen, Prädatoren, Rivalen und andere Tiere) weniger ausgeprägt – bei Nistplätzen in Gebäuden oder bei natürlichen Nistplätzen?

8.2

Interspezifische Nistplatzkonkurrenz

8.2.1 Missbilligung, Toleranz, Indifferenz 77 Tiere stehen in einem ständigen Wettbewerb um ihre Brutplätze, denn diese Res-

sourcen sind oft rar (Abb. 8.5 und 8.6). Es kann gefährlich und zeitraubend sein, den Wettbewerb um einen Nistplatz mit anderen Eulen, Taggreifen und weiteren Prädatoren auszufechten – und zudem energetisch sehr teuer. Das erklärt vielleicht, warum Schleiereulen häufig die Anwesenheit anderer Tiere dulden, die in ihrer Nähe brüten.

Wenn eine Schleiereule sich eine Nisthöhle gesichert hat, verwehrt sie allen anderen den Zutritt – es sei denn, der Brutplatz ist groß genug zum Teilen. Es bringt jedoch Kosten mit sich, die Anwesenheit anderer Tiere zu tolerieren: So kann die Sichtbarkeit für Fressfeinde erhöht oder der Parasitenbefall begünstigt werden, oder Störungen beeinträchtigen Ruheund Schlafaktivitäten. Doch die gemeinsame Verteidigung der Nesthöhle kann diese Nachteile aufwiegen; ferner können Schleiereulen auch von Prädatoren profitieren, mit denen sie eine Höhle teilen, da diese Artgenossen oder andere Tiere abschrecken oder angreifen.

186

8 Fortpflanzung

Abb. 8.5  Auch Rostgänse brüten gelegentlich in Nistkästen, die eigentlich für Schleiereulen hergerichtet und aufgehängt wurden. Das Foto wurde mit einer Wildkamera in der Schweiz aufgenommen (© Robin Séchaud & Kim Schalcher)

Abb. 8.6 Mehrere Vögel, sogar Nichthöhlenbrüter wie diese Rabenkrähe (links), inspizieren einen Schleiereulennistkasten vielleicht aus reiner Neugierde. Marder (rechts) kontrollieren die Nistkästen, um Schleiereuleneier und -nestlinge zu fressen. Das Foto wurde mit einer Wildkamera in der Schweiz aufgenommen (© Robin Séchaud & Kim Schalcher)

Bisher konnte für die Tytonidae jedoch noch kein klarer Nutzen für das gemeinsame Brüten mit anderen Vögeln ermittelt werden. Durch die Größe des Höhleneingangs ist festgelegt, wer diese Höhle in Besitz nehmen kann. Alle Tiere, die kleiner als Schleiereulen sind (z. B. Zwergohreulen, Dohlen, Haussperlinge und Ratten) sind zu schwach, um mit einer Schleiereule in Konkurrenz

8.3 Brutzeit

187

zu treten; sie können große Nistkästen nur dann besetzen, wenn der Eingang so klein ist, dass die Schleiereule nicht durchpasst, so wie in Israel beobachtet. Dagegen kann der Turmfalke Schleiereulen mit seinem scharfen Schnabel und Krallen verletzen und eignet sich manchmal eine Eulennisthöhle an. Normalerweise sind es jedoch die Schleiereulen, die den Turmfalken aus dem Feld schlagen. Für einen tagaktiven Falken, der im Dunkeln fast nichts sehen kann, führt ein nächtlicher Eulenangriff zu deutlichem Stress. In Israel wurde beobachtet, dass 22 % der Turmfalken ihr Gelege in einem Nistkasten aufgrund von Störungen durch Eulen aufgaben. Diese Beobachtungen suggerieren vielleicht, dass die Beziehung zwischen Turmfalken und Schleiereulen immer angespannt ist, doch die beiden Vogelarten können koexistieren (Abb. 8.4). In Frankreich, Deutschland, Israel, der Schweiz und dem Vereinigten Königreich hat man gleichzeitige und erfolgreiche (!) Bruten von Turmfalken- und Schleiereulenpaaren im selben Nistkasten beobachtet. Manchmal legt der Turmfalke seine Eier im schmalen Eingangsbereich hinter dem Einflugloch. Wenn die Schleiereulen dann nachts ihr Nest verlassen bzw. zurückkehren, klettern sie über den Rücken des Turmfalken. Eine gelungene Mitbenutzung der Nesthöhle wurde auch bei einem Waldkauzpaar beobachtet, ferner Haustauben, Dohlen und sogar Hornissen als Mitbewohner. Schleiereulen und ihre Verwandten besitzen zwar scharfe Krallen und Schnäbel, doch das einzelne Individuum vermeidet vermutlich kostspielige Konflikte. Obwohl Uhus Schleiereulen fressen können, brüten die beiden Arten manchmal mit nur wenigen Metern Abstand voneinander – vielleicht weil die Schleiereulen in einigen Fällen von dem Abschreckungseffekt des Uhus gegenüber anderen Fressfeinden profitieren können. Auch Kapgraseulen sind anderen Arten gegenüber sehr tolerant und brüten unter Umständen nur 20–50 m entfernt von Kapohreulen und Froschweihen.

8.2.2 Offene Forschungsfragen • Man sollte die Kosten und Nutzen ermitteln, die das Brüten in der Nähe anderer Vögel mit sich bringt, um zu verstehen, warum Schleiereulen einerseits konkurrieren, um sich eine Nesthöhle zu sichern, und andererseits die Anwesenheit von Artgenossen oder fremden Tierarten tolerieren. • Schleiereulen, die eine Nesthöhle mit anderen Tieren teilen, sind möglicherweise weniger selbstbewusst als Eulen, die vehement darum kämpfen, ihren Nistplatz alleine zu nutzen. Man könnte die Schleiereulenpersönlichkeit in freier Natur beurteilen und in Beziehung dazu setzen, inwieweit die Eulen die Anwesenheit anderer Tiere tolerieren.

8.3 Brutzeit 8.3.1 Wie die Kaninchen … 77 Wann soll die Fortpflanzung erfolgen? Dies ist eine wesentliche Entscheidung, um

erfolgreich eine Familie aufzuziehen. Schleiereulen und Rußeulen, in geringerem Ausmaß auch Neuhollandeulen & Co. sowie Graseulen, sind sehr flexibel, was das Timing

188

8 Fortpflanzung

Abb. 8.7  Eine Gemeinschaftsfamilie in Israel; die 16 Nestlinge wurden von einem Männchen und zwei Weibchen aufgezogen (© Ezra Hadad)

der Fortpflanzung angeht. Wenn ein Individuum grundsätzlich in der Lage ist, in jedem Monat des Jahres zu brüten, kann es den Brutzeitpunkt unter Berücksichtigung von lokalen Umweltbedingungen, Gesundheit und persönlicher Reproduktionshistorie wählen und optimieren.

In den gemäßigten Klimazonen variieren Außentemperatur und Nahrungsangebot im Lauf der vier Jahreszeiten sehr stark; dagegen haben es Organismen in den äquatorialen und tropischen Regionen häufig mit Regen- und Trockenzeiten zu tun, die das Nahrungsangebot beeinflussen. Die Fortpflanzung ist gewöhnlich zwar streng an Jahreszeiten gebunden, doch Arten, die sich ganzjährig fortpflanzen können, haben vermutlich Vorteile wie verringerten Wettbewerb mit Artgenossen und könnten ferner in der Lage sein, mehrere Bruten pro Jahr aufzuziehen (Abb. 8.7). In Mitteleuropa hat die Schleiereule, als Bewohnerin von Offenlandschaften, eine zweimal so lange Fortpflanzungsperiode wie der Waldkauz, der in Waldgebieten lebt. Die längere Brutsaison gibt Schleiereulen die Gelegenheit, zwei Bruten pro Jahr aufzuziehen und ein gescheitertes Gelege zu ersetzen. Ersatzgelege sind beim Waldkauz selten. Wenn wir die Fortpflanzungsphänologie einer Art kennen, können wir gut abschätzen, wie flexibel diese Art Brutzeitpunkt und Bruthäufigkeit festlegen kann.

Fortpflanzungs-Timing bei der Schleiereule Diese Artengruppe kann sich in Regionen mit mildem Klima, wie Australasien und dem amerikanischen Doppelkontinent, ganzjährig fortpflanzen. Sogar in gemäßigten Klimaregionen mit durchaus harten Wintern kann man im Winter Gelege und Nestlinge finden, so in Nordamerika (British Columbia, Kalifornien, North und South Carolina, Delaware, Kentucky, Illinois, Ohio, Utah, Texas, Washington DC), Europa (Kroatien, Tschechien,

8.3 Brutzeit

189

Äthiopien Marokko Kanaren Mali Kapverden São Tomé Malawi/Simbabwe Südafrika UK Schweden Tschechien Deutschland Schweiz Frankreich Madeira Spanien Israel Utah Maryland Arkansas Kalifornien Texas Galapagosinseln Curaçao Venezuela Tonga Vanuatu Australien Malaysia Pakistan

Tyto alba

Tyto furcata

Tyto javanica

Jan

Feb

März

Apr

Mai

Jun

Jul

Aug

Sep

Okt

Nov

Dez

Abb. 8.8  Zeitspanne der Brutaktivitäten für die Schleiereule (Western Barn Owl, Tyto alba), Amerikaschleiereule (T. furcata) und Australschleiereule (T. javanica). Die schwarzen Balkenabschnitte zeigen die Hauptlegeperiode an (oder Legeperioden, falls Entsprechendes bekannt). Das Fehlen von schwarzen Abschnitten bedeutet, dass (bisher) keine Hauptlegeperiode in der Literatur beschrieben wurde. Beispielsweise können malaysische Schleiereulen zu jeder Jahreszeit brüten (mit einem Gipfel im August), während die Eulen auf Tonga zwei unterschiedliche Brutzeiten aufweisen

Frankreich, Deutschland, Sardinien, Schweiz) oder Argentinien. Obwohl eine Fortpflanzung im Winter sehr selten ist, demonstrieren diese Fälle, dass die Schleiereule in der Lage ist, sich unter den meisten Umweltbedingungen fortzupflanzen, was nicht auf alle Eulen mit ähnlicher Ökologie zutrifft. Diese hohe Flexibilität hat natürlich Grenzen. In Ländern mit besonders harten Wintern, wie Schweden und dem größten Teil von Kanada, oder mit sehr hohen Sommertemperaturen, z. B. Israel, beschränken Schleiereulen ihre Brutzeit auf die Monate mit günstigen Umweltbedingungen. Aus demselben Grund haben Schleiereulen in Pakistan, Südafrika und Tonga zwei Hauptfortpflanzungsperioden: Sie vermeiden damit die Hitzemonate oder den Monsunregen und profitieren andererseits vom größten Nahrungsangebot (Abb. 8.8).

Welche Faktoren bestimmen den Zeitpunkt der Eiablage bei der Schleiereule? Nahrungsverfügbarkeit und Wetterbedingungen sind zwar die Hauptfaktoren für Schwankungen der Legedaten (über mehrere Jahre gesehen), doch die Auswirkungen dieser Faktoren unterscheiden sich von Population zu Population (Abb. 8.9). Nach Schneewintern

190

8 Fortpflanzung

Abb. 8.9  Brütendes Weibchen

legen die Schleiereulen in Utah (USA) erst später im Jahr. In Frankreich, dem Vereinigten Königreich und Utah starten die Eulen ihre Fortpflanzungsaktivitäten nach milden Wintern im zeitigen Frühjahr, nach kälteren Wintern aber später. Solche Anpassungen wurden in der Schweiz jedoch nicht beobachtet; dort üben Schnee und kalte Wintertemperaturen keinen Einfluss auf das Timing der Brutsaison aus. Diese regionalen Unterschiede in Bezug auf die Klimaeinflüsse beruhen möglicherweise auf den relativen Auswirkungen zusätzlicher Faktoren, z. B. der Nahrungsverfügbarkeit, die den Eulen einen früheren Brutbeginn in Jahren ermöglichen kann, in denen Kleinsäuger häufiger sind. Dementsprechend erfolgte die Eiablage bei schottischen Schleiereulen in Jahren mit geringem Wühlmausaufkommen im Durchschnitt am 23. Mai, in Jahren mit hohen Wühlmauszahlen am 10. April. Dies wurde experimentell in Deutschland und im Vereinigten Königreich bestätigt; dort war der Legebeginn bei Schleiereulen einen Monat früher, wenn sie zusätzliches Futter bekamen. Doch welcher Mechanismus triggert, dass Schleiereulen zu einem bestimmten Datum zu legen beginnen? Wie in Frankreich beobachtet, wird das exakte Legedatum anscheinend etwa 18 Tage vorher festgelegt, wenn die Häufigkeit von Nestbesuchen und Kopulationen zunimmt.

Fortpflanzungs-Timing bei anderen Tytonidae Leider ist über die relevanten Faktoren für die Legedaten bei anderen Tytonidae nur wenig bekannt. Nur Daten zur Fortpflanzungsphänologie sind bisher publiziert; andere relevante Informationen fehlen, z. B. was genau die Phänologie festlegt. Bei der Rußeule in Australien

8.4  Die Eule und ihr Ei

191

gibt es anscheinend beim Flüggewerden einen leichten Frühjahrsgipfel, der wahrscheinlich auf den dann verfügbaren frühjahrsbrütenden Beutespezies beruht. Die Neuhollandeulen legen in Australien von Februar bis Anfang Oktober Eier, mit einem Gipfel von März bis Juli, während in Tasmanien ein Gipfel im Oktober beobachtet wird. Graseulen können in Australien ganzjährig brüten, doch die Hauptlegezeit ist von März bis Juni, während die Kapgraseule (Afrika) von November bis Juni legt. Die Malegasseneule in Madagaskar beginnt zum Ende der Regenzeit mit der Fortpflanzung, sodass die Jungeulen während der Trockenzeit flügge werden.

8.3.2 Offene Forschungsfragen • Wir benötigen neben dem Schleiereule-Artkomplex mehr Daten zur Fortpflanzungsphänologie der restlichen Tytonidae.

8.4

Die Eule und ihr Ei

8.4.1 Wie kommt die Eule zum Ei? 77 Schleiereulen produzieren kleine Eier (zunächst sind sie weiß, Abb. 8.10), was darauf

hindeutet, dass die anfängliche Investition in jeden Nachkommen relativ gering ist. Dies hat den Vorteil, dass Schleiereulen sich große Gelege leisten können, was wiederum eine spätere Reduktion der Brutgröße erlaubt, falls die Nahrungsversorgung sich verschlechtert. Die geringe Körpergröße der frisch geschlüpften Schleiereulennestlinge erklärt zumindest teilweise, warum sie so langsam wachsen.

Je größer ein Ei ist, desto mehr Ressourcen enthält es. Folglich kann es in den ersten Lebenstagen einen Vorteil verschaffen, aus einem großen Ei zu schlüpfen. Dieser anfängliche Vorteil nimmt jedoch bald ab, da die von den Eltern herbeigeschaffte Futtermenge sehr schnell zum wichtigsten Faktor für Wachstum und Überleben der Nestlinge wird. Die Eigröße einer Art liefert somit Informationen zur Art und Weise, wie Eltern Ressourcen in ihre Nachkommen investieren, und zwar von der Empfängnis bis zur Selbständigkeit der Jungvögel.

Zeitspanne vor der Eiablage Anders als capital breeders wie die Schneegans (sie sammelt über lange Zeit „Kapital“ an, also Körperreserven, die sie dann in die Bildung der Eier steckt) ist die Schleiereule ein income breeder: Sie bestreitet die energetischen Kosten für die Fortpflanzung aus dem „Einkommen“, also der Nahrung, die unmittelbar vor der Eiablage zur Verfügung steht. So erklärt sich auch, warum unterernährte Schleiereulen sich schnell erholen und eine ähnliche Zahl an Eiern zu einem ähnlichen Zeitpunkt legen können wie Individuen, die nicht unter Nahrungsmangel gelitten haben. Bei income breeders reagiert die Eibildung empfindlich auf die Umweltbedingungen, die zur Zeit der Eiablage herrschen, jedoch nicht auf die Bedingungen lange vor der Fortpflanzung. Selbst wenn eine Schleiereule durch harte Umweltbedingungen, wie in Schneewintern, beeinträchtigt ist, hat dieser Vogel die Fähig-

192

8 Fortpflanzung

Abb. 8.10  Die anfangs weißen Schleiereuleneier nehmen bald eine bräunliche Färbung an, vor allem wenn die Nesthöhle feucht ist

keit, sich rasch zu erholen, sobald sich die Verhältnisse bessern. Dank dieser Eigenschaft können Schleiereulen als income breeders erfolgreich sein. Wie ist es einer Eule möglich, die nötigen Ressourcen für die Produktion der Eier unmittelbar vor der Eiablage zu gewinnen? Zumal wenn die Weibchen, wie in Frankreich beobachtet, die Nahrungsaufnahme in der Zeit vor und während der Eiablage nicht wesentlich erhöhen? Das Körpergewicht des Weibchens nimmt vor der Eiablage rapide zu, doch diese Zunahme geht vor allem auf Wassereinlagerung im Gewebe zurück, die sich aus dem Proteinstoffwechsel ergibt, und nicht auf Speicherproteine und -fette aus der Nahrung. Eierlegende Weibchen lagern 1,27-mal so viel Wasser ein wie nichtlegende Weibchen, außerdem 1,19-mal mehr Mineralstoffe und 1,11-mal mehr Proteine. Der Fettgehalt im Körper eines legenden Weibchens liegt aber nur bei 63 %, bezogen auf den Fettgehalt eines nichtlegenden Weibchens. Die ausgeprägte Wassereinlagerung der brütenden Weibchen ermöglicht ihnen die Bildung von Eiern, die vor allem aus Wasser bestehen (77 %), gefolgt von Proteinen (9 %, davon 70 % Albumin), Mineralstoffen (8 %, von denen 91 % für die Eischale benötigt werden) sowie Lipiden (6 %, vor allem im Eigelb). Ein wichtiger Teil der Eibildung besteht im Einbringen von Nährstoffen in die Oocyte, um den Dotter zu bilden. Sie verläuft bei Vögeln im Vergleich zu den anderen oviparen Vertebraten schnell – bei letzteren dauert sie normalerweise 1–2 Monate. Tauben benötigen 5–8 Tage, um Eier von 18 g Gewicht zu produzieren, Turmfalken brauchen 9 Tage für 20-g-Eier und Krähenscharben 13,4 Tage für 40-g-Eier. Zumindest in Frankreich dauert es bei Schleiereulen 14 Tage, um Eier von etwa 17 g Gewicht zu bilden – die Geschwindigkeit der Dotterbildung ist also verglichen zu anderen Vögeln relativ gering. Das liegt daran, dass gleichzeitig in mehreren Eiern Dotter abgelagert wird. Da sich im Ovar parallel etwa sechs Eier entwickeln, ist der energetische Bedarf für die Eibildung dann am höchsten, wenn sich die ersten sechs Eier bilden, d. h. im Zeitraum, der 1,5 Tage vor dem Legen des ersten Eis bis zum Legen des dritten Eis umfasst.

8.4  Die Eule und ihr Ei

193

Eigröße Jedes Ei macht 4,9 % des Körpergewichts einer weiblichen Schleiereule aus – im Vergleich zu anderen, ähnlich großen Eulenarten ist das wenig. Wenn man die Größe der Schleiereule berücksichtigt, sollten ihre Eier eher 25 g statt der gemessenen 17 g wiegen. Auch der Energiegehalt ist bei Schleiereuleneiern niedriger als bei den Eiern von Turmfalke oder Waldohreule; dies könnte eine Anpassung der Schleiereule an die Produktion großer Gelege sein. Ein potenzieller Nachteil ist jedoch das geringe Schlupfgewicht der Küken und die dadurch bedingte langsame Wachstumsrate der Nestlinge. Die Produktion kleiner, aber zahlreicher Eier deutet darauf hin, dass die Anfangsinvestition des Weibchens in jeden Nachkommen nicht besonders hoch ist und durch eine lange Aufzuchtperiode kompensiert wird. Die Fortpflanzungsstrategie der Tytonidae besteht also darin, die elterliche Investition über einen langen Zeitraum auszudehnen statt über eine kürzere Zeitspanne sehr hart zu arbeiten. Verglichen mit der zwei Monate langen Aufzuchtperiode bei den Tytonidae dauert die Aufzucht bei Waldkauznestlingen – sie sind bei Schlupf und Flüggewerden größer als Schleiereulennestlinge – hingegen nur einen Monat. Gemessen an der Jungenaufzucht sind Schleiereulen also eher Langstreckenläufer als Kurz-

Mali Südafrika England Schottland Deutschland Tschechien Slowenien Schweiz Frankreich Kanaren Madeira USA Kuba Grenada (Kleine Antillen) Venezuela Surinam Brasilien Fidschi Australien Sumba (Insel) Sulawesi (Celebes) Indonesien Malaysia Indien Afrika Indien Australien Tasmanien Australien Australien Madagaskar Asien 25

Tyto alba

Tyto furcata

Tyto javanica

Tyto capensis Tyto longimembris Tyto novaehollandiae Tyto tenebricosa Tyto soumagnei Phodilus badius 30

35

40

45

50

55

Eibreite und Eilänge (mm)

Abb. 8.11  Die mittlere Eibreite und mittlere Eilänge werden durch schwarze Balkenabschnitte angezeigt, die Spannweite der Eigröße durch waagerechte farbige Balken. Aufgeführt sind Schleiereule-Artkomplex (Schleiereule/Western Barn Owl, Amerikaschleiereule und Australschleiereule), Graseulen (Tyto capensis und T. longimembris), Neuhollandeule (T. novaehollandiae), Malegasseneule (T. soumagnei), Rußeule (T. tenebricosa) und Maskeneule (Phodilus badius)

8 Fortpflanzung

194

streckensprinter. Offenbar verausgabt die Schleiereule sich nicht und kann daher mehrere Bruten pro Jahr zeitigen. Dies würde erklären, warum die Schleiereule so fruchtbar ist. Die Fortpflanzungssaison ist deshalb sehr lang, was bedeutet, dass Schleiereulen nur wenig Zeit haben, um sich vom jeweiligen Brutgeschäft zu erholen. Da die „Kükenproduktion“ so geringe Kosten verursacht, erklärt dies möglicherweise auch, warum die Eltern anscheinend so leicht bereit sind, ihre Kinder zu opfern (z. B. sie verhungern zu lassen, wenn zu wenig Nahrung verfügbar ist). Wie in der Schweiz gezeigt wurde, ist das Eivolumen weniger variabel als die Gelegegröße und hängt sehr stark vom betreffenden Weibchen ab (80 % der Varianz); dabei legten manche Schleiereulen im ganzen Leben immer wieder kleine und andere große Eier. Dies weist darauf hin, dass die Eigröße eine starke genetische Komponente hat und von der Weibchengröße abhängt, während die Umwelt einen schwachen, aber doch signifikanten Einfluss hat. In der Schweiz, Tschechien und Mali nimmt die Eilänge mit fortschreitender Brutzeit ab (in der Schweiz beträgt die durchschnittliche Eilänge am 1. März 39,7 mm und am 1. August 39,0 mm), sowohl in der Schweiz als auch in Tschechien sind die Eier in großen Gelegen im Durchschnitt etwas dicker als in kleinen (30,7 mm Breite in 10-EiGelegen und 30,4 mm in 2-Ei-Gelegen) (Abb. 8.11).

8.4.2 Offene Forschungsfragen • Man sollte die Eigröße im Verhältnis zur Legefolge messen, um zu untersuchen, ob die Weibchen mehr Ressourcen in die zuerst oder zuletzt gelegten Eier investieren. • Man sollte die Eigröße in Populationen in der ganzen Welt messen, um die geografische Variation zu untersuchen. Dies könnte sowohl bei Wildvögeln als auch in den Eiersammlungen von Naturkundemuseen durchgeführt werden.

8.5 Gelegegröße 8.5.1 Eierschwemme 77 Nahrungsversorgung und Klimabedingungen beeinflussen die Anzahl der Eier, die ein

Schleiereulenweibchen legt. Dagegen ist die Größe des Eis vor allem von genetischen Faktoren abhängig. Aktuelle Umweltveränderungen, die sich auf die Habitatqualität auswirken, könnten erklären, warum die Gelegegröße in Europa im Lauf der letzten 50 Jahre zugenommen hat.

Schleiereulen sind, verglichen mit ähnlich großen Eulen, sehr produktiv und bilden große Gelege (Abb. 8.12). Neuhollandeulen & Co. Rußeulen, Maskeneulen und in geringerem Maße Graseulen haben dagegen nur relativ kleine Gelege mit 2–4 Eiern. Dies erklärt vielleicht, warum die Schleiereule (d. h. Common Barn Owl, Angehörige des Schleiereule-Artkomplexes), nicht jedoch andere Tyto-Arten die ganze Welt besiedelt haben.

8.5 Gelegegröße

195

Abb. 8.12  Ein Schleiereulengelege mit acht Eiern

Variation der Gelegegröße Im Gegensatz zur Größe des Eis variiert die Gelegegröße innerhalb und zwischen Populationen sehr stark (Abb. 8.13). Das ist nicht bei allen Vögeln der Fall: Bei einigen Arten ist die Zahl der Eier festgelegt (der Adeliepinguin hat z. B. normalerweise ein Ei pro Gelege), und bei anderen wie dem Turmfalken schwankt die Gelegegröße nur bedingt, auch wenn er ähnliche Lebensräume wie die Schleiereule besiedelt. So gab es beispielsweise eine Schleiereulenpopulation in Deutschland, deren Gelege in einem Jahr durchschnittlich nur drei Eier enthielten, in einem anderen Jahr fand man jedoch bis zu sieben Eier. Achtzehn Eier – das sind die größten jemals beobachteten Schleiereulengelege in Deutschland und Tschechien; doch potenziell könnten Schleiereulen noch mehr Eier legen. Die Weibchen bilden pro Brutperiode etwa 25 Follikel, von denen nur ein Teil befruchtet wird. Überflüssige Follikel werden resorbiert; dies spricht dafür, dass die Entscheidung für oder gegen weitere Eier relativ spät fallen kann, z. B. wenn einige der bereits gelegten Eier verloren gehen. Französische Wissenschaftler brachten ein Weibchen dazu, ein einziges Gelege mit 18 Eiern zu zeitigen, indem sie ein Ei nach dem anderen wegnahmen. Das bedeutet, dass die Gelegegröße durch Umweltfaktoren beeinflusst werden kann, die sich nicht nur vor dem Beginn der Eiablage, sondern während der gesamten Legezeit auswirkten. Einflussfaktoren für die Gelegegröße Die Gelegegröße schwankt bei der Schleiereule oft je nach Jahreszeit; in Jahren mit zeitigem Legebeginn sind die Gelege größer. Die mittlere Größe des jährlichen Erstgeleges nimmt in Frankreich und der Schweiz von Februar bis Juni zu, während die Größe des Zweitgeleges von Mai bis August nur leicht abnimmt. Dies stimmt mit der Beobachtung überein, dass Zweitgelege in den meisten untersuchten Populationen im Durchschnitt größer als Erstgelege sind (Tschechien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Schweden,

8 Fortpflanzung

196 Südafrika Simbabwe Malawi Ostafrika Kapverden Mali Kanaren Marokko Israel Zypern Schweden UK Dänemark Tschechien Ungarn Niederlande Deutschland Schweiz Frankreich Spanien Madeira Kanada USA Surinam Galapagosinseln Argentinien Australien Malaysia Indien Pakistan Afrika Asien Australien Tasmanien Australien Australien Asien 1

Tyto alba

Tyto furcata

Tyto javanica Tyto capensis Tyto longimembris Tyto novaehollandiae Tyto tenebricosa Phodilus badius 2

3

4

5

6

7

8

Gelegegröße (Anzahl der Eier)

Abb. 8.13  Die mittlere Gelegegröße ist durch schwarze Balkenabschnitte angezeigt und die Spannweite der mittleren Jahresgelegegrößen (wo bekannt) durch horizontale farbige Balken: für den Schleiereule-Artkomplex (Tyto alba, T. furcata und T. javanica), die Graseulen (Tyto capensis und T. longimembris), die Neuhollandeule (T. novaehollandiae), die Rußeule (T. tenebricosa) sowie die Maskeneule (Phodilus badius)

Schweiz, Malaysia und Südafrika; Abb. 8.14); dazu zählte auch eine Population in Deutschland mit unbegrenzter Nahrungsversorgung, die in menschlicher Obhut lebte. Nur zwei Populationen, in Spanien und Utah (USA), fallen als Ausnahme heraus (Abb. 8.14); dort waren die Zweitgelege kleiner als die Erstgelege – möglicherweise, weil die Nahrungsversorgung an diesen beiden Orten im Lauf der Brutsaison ab- und nicht zunimmt. In den mediterranen Bereichen von Spanien geht die Dichte der Waldmauspopulation vom Frühsommer bis zum Winter zurück, da die Vegetation vertrocknet und damit die Nahrungsgrundlage für Kleinsäuger abnimmt. Dagegen findet in Mitteleuropa, wo die Zweitgelege größer als die Erstgelege sind, die Reproduktion der Feldmäuse im zeitigen Frühjahr statt. Das führt zu größeren Mäusebeständen im Sommer und einer Abnahme im Herbst. Daraus lässt sich schließen, dass der Größenunterschied zwischen Erst- und Zweitgelege der Schleiereule auf einem Jahreszeiteneffekt beruht und nicht auf einem unterschiedlichen Ausmaß an Investitionen in die beiden Gelege. Mit anderen Worten: In einer gegebenen Population kann man davon ausgehen, dass zwei Schleiereulen, die ihr Erst- und ihr Zweitgelege zu einem ähnlichen Zeitpunkt zeitigen, erwartungsgemäß auch eine ähnliche Anzahl an Eiern produzieren sollten. Die zentrale Rolle der Nahrungsversorgung für die Variation in der Schleiereulen-Gelegegröße wurde in Europa und Afrika aufgezeigt. Die Eulen legen in den Spitzenwühl-

8.5 Gelegegröße

197 8

Durchschnittsgröße des Zweitgeleges

F CZ

F

Malaysia

F

7 DK CH 6

D

D

D D

F

USA

S Südafrika 5

Spanien

4

4

5

6

7

8

Durchschnittsgröße des Erstgeleges

Abb. 8.14  Mittlere Anzahl der Eier in Erst- und Zweitgelegen bei Schleiereulenpopulationen in Europa (orangebraune Punkte), Malaysia (hellblauer Punkt), USA (dunkelblauer Punkt) und Südafrika (grauer Punkt). Ein Punkt oberhalb der Diagonalen weist darauf hin, dass die Zweitgelege im Durchschnitt größer als die Erstgelege sind; in Spanien und den USA, die unterhalb der Diagonalen liegen, ist die Situation allerdings umgekehrt. CH = Schweiz, CZ = Tschechien, D = Deutschland, DK = Dänemark, F = Frankreich, S = Schweden

mausjahren mehr Eier als in den Mangeljahren; zudem legen in Schottland und der Schweiz schwerere Weibchen mehr Eier als leichtere Weibchen. Es gibt ferner Berichte über die Rolle des Klimas bei der Festlegung der Gelegegröße, doch ist es nicht klar, ob klimatische Bedingungen die Fortpflanzung der Schleiereule direkt oder indirekt (durch einen Effekt auf die Nahrungsversorgung) beeinflussen. Soweit wir heute wissen, ist die Gelegegröße in der Schweiz, in Frankreich, im Vereinigten Königreich und den USA nach harten Wintern kleiner als nach milden Wintern. Sowohl in der Schweiz als auch im Vereinigten Königreich sind die Gelege in Jahren mit hohen Niederschlägen größer, vor allem wenn es in den drei Wochen vor Legebeginn intensiver regnet. Der Regen kann stärkeres Pflanzenwachstum fördern und damit auch die Kleinnagerpopulationen – oder größere Regenmengen verstärken vielleicht die Aktivität der Nager und erhöhen damit ihre Vulnerabilität gegenüber Prädatoren. Die Umwelt hat folglich einen eindeutigen Effekt auf die Gelegegröße, doch auch genetische Faktoren spielen eine – allerdings geringere – Rolle: Immerhin betreffen 20 % der Variation in der Gelegegröße das jeweilige Weibchen. Dies steht im Gegensatz zur Eigröße, bei der 80 % der Variation auf das jeweilige Weibchen zurückgehen. Folglich legt ein bestimmtes Weibchen zwar immer ähnlich große Eier, doch die Anzahl der Eier kann zwischen verschiedenen Reproduktionsversuchen sehr stark schwanken.

8 Fortpflanzung

198

8.5.2 Offene Forschungsfragen • Der relative Einfluss der genetischen und ökologischen Faktoren auf die Gelegegröße sollte analysiert werden. • Man sollte untersuchen, ob die Weibchen die Gelegegröße vorher festlegen und anpassen können, und zwar je nach der Beutehäufigkeit, die während der Brutpflege und später vorliegen wird. • Man sollte untersuchen, warum die Gelegegröße in Europa im Lauf der letzten 50 Jahre zugenommen hat.

8.6 Bebrütung 8.6.1 Gluckige Henne 77 Bei der Schleiereule spielt jedes Geschlecht eine bestimmte Rolle bei der Fortpflan-

zung. Das Weibchen bebrütet die Eier, hudert (wärmt) die Nachkommen und verteilt das vom Männchen herangeschaffte Futter unter den Nestlingen. Die Eier der Tytonidae müssen rund 32 Tage bebrütet werden, bevor die Küken schlüpfen.

Bebrütungsdauer Damit aus einem Vogelei ein Küken schlüpfen kann, muss es für eine Zeitspanne, die von 13 Tagen (beim Kanarienvogel) bis zu 81 Tagen (beim Königsalbatros) dauern kann, bebrütet werden. Diese Bebrütungszeit beträgt bei der Schleiereule im Durchschnitt 32 Tage (Spannweite 27–36 Tage), bei der Graseule 29–31 Tage und bei der Neuhollandeule durchschnittlich 33 Tage. Die Bebrütungsdauer ist bei der Schleiereule etwa fünf Tage länger als bei Sumpfohreule und Waldohreule, die beide ähnlich groß sind. Liegt das daran, dass die Schleiereulengelege im Durchschnitt größer sind und daher mehr Bebrütungsenergie und -zeit benötigen? Oder bilden die Schleiereulenmütter weniger Wärme zum Bebrüten der Eier und inkubieren sie stattdessen länger? Oder statten die Mütter die Eier mit weniger Ressourcen aus, sodass die Schleiereulenembryonen nicht so schnell wie die Embryonen anderer Eulen wachsen können? Wie auch immer, die Dauer der Bebrütung durch die Mutter ist zeitlich nicht limitiert: Auch wenn aus keinem Ei des Geleges ein Küken schlüpft, brütet die Mutter weiter – unter Umständen drei bis sechs Monate lang. Brutfleck und Bebrütungsverhalten Bei den Tytonidae hat nur das Weibchen einen Brutfleck (Abb. 8.15): Dies ist ein Bereich auf dem Bauch, wo die Federn vor der Eiablage spontan ausfallen, sodass Eier und frischgeschlüpfte Küken in direkten Kontakt mit der Haut kommen. Daher bebrütet nur das Weibchen die Eier, auch wenn das Männchen bei seltenen Gelegenheiten hilft, indem es auf ihnen sitzt. Doch ohne Brutfleck ist die väterliche Hilfe vermutlich nicht sehr effizient. Während der Bebrütung bleibt das Weibchen gewöhnlich in der Nesthöhle und verlässt sie im Durchschnitt nur 2,5-mal pro Tag. Sie kann auf den Eiern bleiben, da das Männchen das gesamte Futter besorgt, das sie für den eigenen Stoffwechsel und zur Bebrütung

8.6 Bebrütung

199

Abb. 8.15  Schleiereulenweibchen mit Brutfleck. An einer Stelle des Bauchs fallen die Federn aus; darunter bildet sich ein gelbliches Fettpolster, um so die Haut und über den Hautkontakt die Eier bzw. Küken zu erwärmen

benötigt. Schleiereulenweibchen investieren eine beträchtliche Energiemenge in das Aufwärmen der Eier; dies wird durch die Tatsache gezeigt, dass 70 % der in der Haut gefundenen Fette (Lipide) im Brutfleck konzentriert sind. Nachdem das erste Küken geschlüpft ist, verlässt die Mutter das Nest regelmäßiger. Die Bebrütungsintensität kann daher parallel zur Legereihenfolge der Eier abnehmen. Die Küken schlüpfen asynchron, und die zuletzt gelegten Eier werden möglicherweise nicht mehr so ausdauernd bebrütet wie die ersten. Diese Vermutung wird durch Untersuchungen aus Schottland unterstützt: Bei 83 % der nichtgeschlüpften Eier handelte es sich hier um das letzte oder vorletzte Ei eines Geleges. In großen Gelegen könnte dieser Effekt sogar noch ausgeprägter sein, denn der Brutfleck der Schleiereule ist relativ klein (etwa 12,8 cm2) und nicht immer groß genug, um alle Eier gleichzeitig zu bedecken. Dies könnte zumindest teilweise die Ergebnisse aus der Schweiz erklären; dort ist die Wahrscheinlichkeit, dass aus einem Ei kein Küken schlüpft, in großen Gelegen höher als in kleinen Gelegen.

200

8 Fortpflanzung

Die Bebrütung ist also kein passiver Prozess, und die Weibchen sollten sicherstellen, dass kein Ei zu kurz kommt. Genau das passiert wahrscheinlich auch, denn sie verändern ihre Bebrütungsposition jede Minute bis jede Stunde um 180°. Schleiereulenweibchen kümmern sich sehr aufmerksam um ihre Eier.

8.6.2 Offene Forschungsfragen • Bisher sind die Bebrütungsdauer und Bebrütungseffizienz für jedes einzelne Ei eines Geleges nur selten exakt gemessen worden. Daher ist unbekannt, ob die Dauer mit einem der folgenden Faktoren korreliert ist: Außentemperatur, Körpertemperatur des Weibchens, Gelegegröße, Legedatum und Legefolge. • Man sollte das Bebrütungsverhalten untersuchen, darunter die Gewissenhaftigkeit des Weibchens bei der Bebrütung und die Zeit, die es in die Bebrütung investiert.

8.7 Schlupf 8.7.1 Hier bin ich! 77 Bei den Tytonidae schlüpft alle 2–3 Tage ein Küken, was zu einer ausgeprägten Größen-

hierarchie innerhalb des Geleges führt – der älteste Nestling kann bis zu einem Monat älter sein als das letztgeschlüpfte Geschwister. Die erstgeschlüpften Individuen haben bevorzugten Zugang zu den elterlichen Ressourcen; somit ist bei den letztgeschlüpften Geschwistern die Wahrscheinlichkeit höher, bei Nahrungsmangel zu verhungern. Bei etwa 10–20 % der Eier kommt es gar nicht zum Schlupf, Grund sind Unfruchtbarkeit des Männchens oder frühes Absterben der Embryonen.

Schlupfvorgang Zwei Tage vor dem Schlüpfen beginnt das Küken im Inneren des Eis zu rufen – wahrscheinlich, um auf den bevorstehenden Nahrungsbedarf aufmerksam zu machen. Das Futter wird nur nachts zum Nest gebracht, doch die frischgeschlüpften Küken benötigen rund um die Uhr etwas zu fressen. Damit dann auch wirklich Nahrung vorhanden ist, rufen die Küken schon im Ei, um ihre Eltern über das Timing des Schlüpfens – der Vorgang dauert 12–36 Stunden – zu informieren. Als Reaktion bringt der Vater mehr Beute zum Nistplatz. Das Küken zerbricht die Eischale mit dem auf dem Oberschnabel sitzenden Eizahn (Abb. 8.16); oft hilft die Mutter, indem sie große Schalenstücke ablöst. Damit Nesträuber nicht aus Schalenresten vor dem Brutplatz auf das Vorhandensein von frischgeschlüpften Küken schließen können, beseitigt der Vater die Reste, oder die Mutter frisst sie auf. Nicht selten findet man jedoch Eischalenreste im Nest, was darauf hindeutet, dass diese elterlichen Verhaltensweisen anpassungsfähig sind, z. B. wenn Prädatoren fehlen.

8.7 Schlupf

201

Abb. 8.16  Ein schlüpfendes Schleiereulenküken

Schlupferfolg Berücksichtigt man nur Gelege, in denen mindestens ein Küken schlüpfte, dann betrug die Schlupfrate insgesamt 93 % (Schweiz), 83 % (Mali) sowie 80 % (Malaysia). Nur in 7 von 933 Nestern schlüpfte überhaupt kein Küken. Männliche Unfruchtbarkeit kann ein wichtiger Grund sein, wenn aus den Eiern keine Küken schlüpfen, wie eine niederländische Untersuchung nahelegt: Dort wiesen 55 % der Eier, die keinerlei Embryonalentwicklung zeigten, Sperma auf der Schalenhaut auf. Die Männchen waren daher offenbar in der Lage gewesen, Sperma zu übertragen, das aber anscheinend nicht imstande war, die Eier zu befruchten. Möglicherweise ist männliche Unfruchtbarkeit im höheren Alter häufiger. Eine Fallstudie zeigte, dass sich ein bestimmtes Männchen bis zum Alter von neun Jahren neunmal mit sechs verschiedenen Weibchen fortpflanzte, die insgesamt 55 Eier legten, aus denen 51 Küken schlüpften (93 %). Dasselbe Männchen hatte ab einem Alter von zehn Jahren sieben Gelege, die von zwei neuen Partnerinnen sorgfältig bebrütet wurden, doch nur aus 1 von 44 Eiern (2 %) schlüpfte ein Küken. Eine gründlichere Untersuchung in der Schweiz zeigte, dass der Schlupferfolg tatsächlich mit dem Alter des Männchens zusammenhängt und vermutlich durch eine abnehmende Fruchtbarkeit zurückgeht. Embryonen können auch absterben, weil die Eischalen versehentlich zerbrechen oder genetische Probleme vorliegen. Solche Fälle gehen anscheinend nicht auf ein unterschiedliches mütterliches Bebrütungsverhalten zurück (dessen Qualität durch Umweltbedingungen

202

8 Fortpflanzung

verursacht sein könnte). In der Schweiz stand zumindest die Härte eines vorherigen Winters nicht in Beziehung zum Schlupferfolg in der folgenden Brutsaison. Auch Außentemperatur, Niederschlagsintensität und Nahrungsversorgung während der Brutzeit sind keine Prädikatoren für die Schlupfwahrscheinlichkeit.

Schlupfasynchronie Zur Schlupfasynchronie (d. h. die Küken schlüpfen nicht gleichzeitig, sondern zeitlich gestaffelt) kommt es, wenn das Weibchen mit dem Bebrüten der Eier beginnt, bevor das Gelege vollständig ist. Ein synchroner Schlupf (d. h. alle Küken schlüpfen gleichzeitig) erfolgt dagegen, wenn das Weibchen erst mit dem Bebrüten der Eier beginnt, sobald das Gelege vollständig ist. Bei sogenannten Nestflüchtern (z. B. Hühnern, Gänsen und Enten) schlüpfen alle Küken eines Geleges fast gleichzeitig. Die bereits gut entwickelten Küken können das Nest daher sofort verlassen, um sich gemeinsam auf Futtersuche zu machen. Bei Nesthockern (z. B. den meisten Singvögeln, Eulen, Greifvögeln, Falken und vielen anderen) ist ein synchroner Schlupf nicht so wichtig, da sie für eine gewisse Zeit im Nest bleiben (von wenigen Tagen bei einigen Singvögeln bis zu mehreren Wochen wie bei der Schleiereule). Bei den meisten Nesthockern schlüpfen die Küken de facto mehr oder weniger gleichzeitig, da die Bebrütung erst beginnt, wenn das Gelege vollständig ist. Bei Eulen, Greifvögeln und Falken ist Schlupfasynchronie jedoch die Regel. Einige Arten, wie Waldkauz und Turmfalke, warten mit der Bebrütung, bis ein paar Eier gelegt sind, doch bei der Schleiereule beginnt die Bebrütung sofort mit dem ersten Ei. Dies erklärt, warum die Schlupfasynchronie bei ihr so viel stärker ausgeprägt ist als bei vielen anderen Eulen und Greifvögeln. Bei dieser Art hängt der Altersunterschied zwischen Nestgeschwistern vor allem von der Zeitspanne ab, die bis zum Legen des nächsten Eis vergeht. Bei Schleiereulen, die in Argentinien, Tschechien, Frankreich, den Galapagosinseln, Deutschland, Indien, Malaysia und den USA untersucht wurden, sowie Graseulen in Australien und Neuhollandeulen in Tasmanien werden die Eier gewöhnlich alle 1–4 Tage gelegt (Mittelwert 2–3 Tage). Gleichwohl kann ein Gelege in zwei Runden gelegt werden, manchmal mit einem Abstand von 1–2 Wochen, was zu einem extremen Altersunterschied bei den Nestgeschwistern führt. Obwohl die Legedaten so weit auseinanderliegen, schwankt die Bebrütungsdauer für die einzelnen Eier nur wenig. So fand man bei einem Gelege in Deutschland, dass jedes der sieben Eier etwa gleich lang bebrütet wurde; die Spanne reichte von 31 Tagen bis zu 32 Tagen und 7 Stunden. Es gibt mehrere Hypothesen, mit denen sich die Evolution der Schlupfasynchronie erklären lässt; am meisten favorisiert wird die Brut-Reduktions-Hypothese. Diese besagt, dass in Zeiten von Nahrungsmangel oder wenn die Eltern Schwierigkeiten bei der Nahrungssuche haben, die letztgeschlüpften Nestgeschwister (jünger und schwächer als ihre älteren Geschwister) verhungern. Der Effekt der Schlupfreihenfolge auf Wachstum (Abb. 8.17) und letztlich Überleben ist in der Phase des schnellsten Wachstums am stärksten ausgeprägt: bei der Schleiereule vom Schlupf bis zum 35. Tag. Der Tod des jüngsten Nestlings ist das Beste, das bei Nahrungsmangel passieren kann, denn die Eltern müssen dann weniger Schnäbel füttern. In der Schweiz fand man, dass dies in Bruten, in denen mindestens ein Nestling starb, in 95 % der Fälle die letztgeschlüpften Individuen betraf und nur in 5 % der Fälle die früher geschlüpften Individuen. Wenn die Eier gleichzeitig

8.7 Schlupf

203

Abb. 8.17  Diese sechs Nestlinge einer Schleiereulenbrut zeigen die deutlichen Größenunterschiede, die auf asynchrones Schlüpfen zurückgehen

schlüpfen würden, wären die Nestgeschwister alle gleich alt und alle gleich wettbewerbsfähig; dies würde letztlich das Risiko, dass alle verhungern, erhöhen. Einen Teil der Familie zu opfern, um die Brutgröße an das Nahrungsangebot anzupassen, stellt sicher, dass wenigsten ein paar Nachkommen erfolgreich ausfliegen können. Bei Schleiereulen wurde dieses Phänomen weltweit in zahlreichen Fällen beobachtet. Dies weist daraufhin, dass Schlupfasynchronie bei dieser Vogelgruppe eine eindeutige adaptive Funktion hat. Ein asynchroner Schlupf bringt bei Nahrungsknappheit zwar selektive Vorteile für die Eltern, doch er kann unter optimalen Nahrungsbedingungen potenzielle Fitnesskosten zur Folge haben. Wenn Eltern genug Futter finden können, um eine Brutreduktion zu vermeiden, können die älteren Nestlinge aufgrund ihrer physischen Überlegenheit den größeren Anteil der elterlichen Ressourcen auf Kosten der jüngeren Geschwister beanspruchen. Dadurch kann sich die Ungleichheit im Körperzustand der Nestlinge noch weiter verstärken, was sich letztlich negativ auf die elterliche Fürsorge auswirkt. Denn aus Sicht der Eltern sollte es besser sein, wenn alle Nachkommen einen ähnlichen Start im Leben haben und

8 Fortpflanzung

204 Bruterfolg

Häufigkeit (%)

1,0

25

0,8

20

0,6

15

0,4

10

0,2

5

0,0

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Nestlingsposition in der Schlupfreihenfolge

0

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Brutgröße

Abb. 8.18  Wahrscheinlichkeit, dass ein Nestling flügge wird, im Verhältnis zu seinem Rangplatz innerhalb der Schlupfsequenz in einer Brut. Die Zahl  1 steht für Nestlinge, die als Erste schlüpfen, 3  steht für den drittgeschlüpften Nestling (links). Häufigkeitsverteilung von Bruten unterschiedlicher Größe. Die Daten stammen aus der Schweiz (rechts)

nicht nur das Erstgeborene in guter Verfassung flügge wird, während das Letztgeborene in vergleichsweise schlechtem Zustand ist (Abb. 8.18). Kosten und Nutzen der Schlupfasynchronie sollten in Hinblick auf die Fitness der Eltern wie auch der älteren und jüngeren Nestlinge untersucht werden. Es wurden weitere Hypothesen vorgeschlagen, um die adaptive Funktion der Schlupfasynchronie zu erklären. Wenn die Nestgeschwister verschieden alt sind, erreichen sie nacheinander ihren maximalen Nahrungsbedarf (mit etwa 15 Tagen, gekoppelt mit der maximalen Wachstumsrate, Abb. 8.19). Daher ist die Geschwisterrivalität geringer, und die Arbeitslast für die Eltern verteilt sich über längere Zeit. Durch einen zeitlich gestaffelten Schlupf wird auch die Aufenthaltszeit der Eltern am Nest verringert und damit das Prädationsrisiko minimiert. Bei den Tytonidae sind all diese Aspekte jedoch noch nicht untersucht worden.

8.7.2 Offene Forschungsfragen • Es werden Daten über die jeweilige Tageszeit des Schlupfes benötigt. • Man sollte systematisch untersuchen, welche Auswirkungen das Bettelverhalten der Küken vor dem Schlupf auf die Jagdintensität des Männchens hat. • Das Ausmaß der Schlupfasynchronie sollte in vielen Populationen aufgezeichnet werden.

8.8 Brutgröße

205 400

20

Wachstumsrate (g/Tag)

10

200

Körpergewicht (g)

300

0 100

0

–10 1

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

55

60

65

70

Nestlingsalter (Tage)

Abb. 8.19  Wachstumsrate der Nestlinge (Gewichtszunahme in Gramm/Tag; durchgehende orangebraune Linie) und Körpergewicht der Nestlinge (in Gramm; unterbrochene hellblaue Linie) in der Schweiz. Die maximale Wachstumsrate wird im Alter von 15 Tagen erreicht (senkrechte schwarze Linie)

8.8 Brutgröße 8.8.1 Kinderreiche Familie 77 Schleiereulen zeitigen große Bruten (Abb. 8.20 und 8.21), anders als Neuhollandeulen

& Co. oder Rußeulen. Die Haupteinflussfaktoren für den Fortpflanzungserfolg sind Nahrungsangebot und Wetterbedingungen. Wenn die Bedrohung durch Räuber hoch oder die Nistplatzkonkurrenz groß ist, geben die Eltern das Nest unter Umständen auf, vor allem während der Eiablage und Bebrütung. Wenn ein Brutversuch scheitert, produzieren viele Schleiereulenpaare ein Ersatzgelege, sofern die Nahrungsbedingungen gut sind und die Brutsaison nicht fortgeschritten ist.

Schwankungen in der Brutgröße Die Brutgröße schwankt zwischen den einzelnen Populationen und Jahren sehr stark – in Frankreich und Südafrika wurden maximal zwölf flügge Jungeulen je Brut beobachtet. Die mittlere Brutgröße liegt bei der Schleiereule (Western Barn Owl), der Amerikaschleiereule und der Australschleiereule bei durchschnittlich 4 Nestlingen; bei Neuhollandeule & Co. und Rußeulen ist sie mit durchschnittlich 1–2 Nestlingen deutlich kleiner (Abb. 8.22). Jahreszeitliche Effekte auf die Brutgröße Der Verlust von Eiern und Nestlingen kommt bei der Schleiereule häufig vor. So schlüpften in Utah (USA) nur in 16 % der Nester aus allem Eiern Küken, die allesamt flügge wurden. In Europa nimmt die Gelegegröße zwar gewöhnlich mit fortschreitender Saison zu, doch

206

8 Fortpflanzung

Abb. 8.20  Eine Brut mit sieben Schleiereulennestlingen

die Brutgröße nimmt ab. Anscheinend korrespondiert die Anzahl der Eier pro Gelege mit den Nahrungsbedingungen zum Zeitpunkt der Eiablage und nicht mit den Bedingungen, die ein paar Monate später während der Aufzuchtzeit herrschen. Zu Anfang der Brutsaison (etwa 1. März) legen Paare in der Schweiz im Durchschnitt 5,6 Eier, da noch keine großen Nahrungsmengen verfügbar sind. Da das Nahrungsangebot rasch zunimmt, können aus diesen 5,6 Eiern drei Monate später bis zu 5,2 Jungeulen erfolgreich ausfliegen. Die Nahrungsbedingungen sind zu diesem Zeitpunkt und bis zum Ende des Sommers besser; die letzten Gelege von Anfang August enthalten im Durchschnitt 7,2 Eier. Im Herbst verschlechtern sich die Nahrungsbedingungen jedoch rapide; es regnet mehr, die Außentemperatur ist niedriger: Aus diesem Grund werden aus den ursprünglich 7,2 Eiern nur 2,8 Eulen flügge. In ariden Regionen wie Israel nimmt der Fortpflanzungserfolg der Eulen im Lauf der Brutsaison auch deshalb ab, weil die Fortpflanzung ihrer Beutetiere (der Kleinnager) aufgrund der Dürre zurückgeht.

Einfluss des Wetters auf die Brutgröße Wie in der Schweiz gezeigt wurde, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich mindestens ein Nachkomme im Folgejahr fortpflanzen wird, in großen Bruten höher als in kleinen Bruten – auch wenn die Nestlingsmortalität in großen Bruten höher als in kleinen ist. Die natürliche Selektion begünstigt daher optimistische Eltern, die selbst dann große Gelege produzieren, wenn sie zum Zeitpunkt der Eiablage nicht vorhersagen können, wie erfolgreich sie bei der Futterbeschaffung für ihre Nachkommen sein werden. Bei starkem Dauerregen jagen die Eltern kaum; dies ist vor allem für junge Nestlinge sehr ungünstig, die noch nicht kräftig genug sind, um ein paar Tage ohne Futter zu überleben. Die Niederschläge zählen daher zu

8.8 Brutgröße

207

den Schlüsselfaktoren für den Fortpflanzungserfolg. Doch die Auswirkungen des Wetters können je nach Ort und Region schwanken, das gilt besonders für die Außentemperatur. In der Schweiz haben Nestlinge in wärmeren Jahren eine höhere Überlebenschance als in kälteren Jahren. Bei warmen Außentemperaturen (30 °C) können Nestlinge ihre Körpertemperatur von 40 °C leicht aufrechterhalten; bei kühleren Außentemperaturen (15 °C) haben junge Nestlinge hingegen Schwierigkeiten mit dem Aufwärmen, und ihre durchschnittliche Kloakentemperatur liegt dann nur bei 34,5 °C. In Israel sind jedoch nicht kühle Außentemperaturen das Problem, sondern Hitzewellen, in denen die Nestlinge an Überhitzung sterben können. Das Leben eines Jungvogels ist nicht einfach, gleichgültig wo auf der Erde er aus dem Ei schlüpft (Abb. 8.23).

Brutverlust Bei einer Untersuchung in Mali fand man, dass nur 57 % der Brutpaare mindestens eine flügge Jungeule hervorbrachten; hingegen waren in Nordamerika, Europa und im Nahen Osten 71 % bis 95 % der Paare erfolgreich. Mehr als zwei Drittel der Brutverluste erfolgen in der Bebrütungszeit, da die Eltern eher die Gelege als die Nestlinge verlassen, vor allem, wenn das Gelege noch nicht vollständig ist. Ein Scheitern im Gelegestadium liegt vor allem daran, dass Artgenossen und andere Tiere um die (mengenmäßig begrenzten) Nesthöhlen konkurrieren, die vor Räubern sicher sind. Die Anwesenheit von Menschen während der Eiablagezeit gilt als Risiko, und es kann passieren, dass die Altvögel ihr Gelege verlassen, um nach einem ungestörteren Nistplatz zu suchen und dort ein Ersatzgelege zu zeitigen. Zur Aufgabe einer Brut kommt es vor allem in Jahren, in denen die Umweltbedingungen so ungünstig sind, dass der Nachwuchs nur geringe Überlebenschancen hat. In Schottland fand man z. B., dass in guten Wühlmausjahren nur 5–10 % der Nestlinge sterben, in schlechten Jahren hingegen 45 %. Eine Nestaufgabe durch das Weibchen erfolgt häufiger in den Jahren vor einem schlechten Wühlmausjahr, in dem nur wenige der überlebenden Nestlinge brüten werden. Das bedeutet, dass Eltern – zumindest in gewissem Maße – vorhersagen können, ob im Folgejahr optimale Aufzuchtbedingungen mit reichlichem Nahrungsangebot herrschen werden. Viele Nager – die Hauptbeute der Schleiereule – zeigen spezifische Abundanzmuster innerhalb und über die Jahre. Wenn die Bestandsdichte der Nager in einem Jahr abnimmt, können die Eulen erwarten, dass die Nahrungsbedingungen im Folgejahr noch schlechter sein werden. In solchen Fällen ist der Wert der aktuellen Nachkommen relativ gering, und die Eltern kümmern sich daher nicht so aufmerksam um sie. Der Tod des Männchens stellt die größte Bedrohung für das Überleben der jungen Nestlinge dar. Ohne das Männchen, den „Haupternährer“, wird die Brut wahrscheinlich scheitern. Wenn er umkommt, während die Nestlinge noch so jung sind, dass die Mutter sie hudern, die Beute auseinanderreißen und sie mit den Fleischstückchen füttern muss, kann die Mutter sie nicht alleine lassen, um auf Nahrungssuche zu gehen. Falls das Männchen stirbt, wenn die Nestlinge älter, also schon zur eigenen Thermoregulation und selbstständigen Nahrungsaufnahme in der Lage sind, verhungern sie unter Umständen trotzdem, z. B. wenn das Weibchen die Fütterungsrate nicht erhöht oder die Familie bereits verlassen hat, um eine zweite Brut zu beginnen (häufig in weiter Entfernung vom ersten Nest).

208

Abb. 8.21  Eine Familie mit sieben Schleiereulennestlingen in Israel (© Amir Ezer)

8 Fortpflanzung

8.8 Brutgröße

209

8 Fortpflanzung

210 Südafrika Kapverden Mali Kanaren Israel Zypern Schweden UK Dänemark Polen Slowakei Tschechien Ungarn Niederlande Belgien Deutschland Schweiz Frankreich Italien Spanien Kanada USA (Massachusetts) USA (Arkansas) USA (Florida) USA (Maryland) USA (Colorado) USA (Kalifornien) USA (New Jersey) USA (Utah) USA (Texas) USA (Oklahoma) Venezuela Surinam Galapagosinseln Argentinien Australien Malaysia Indien Pakistan Australien 1

Tyto alba

Tyto furcata

Tyto javanica Tyto novaehollandiae Tyto tenebricosa 2

3

4

5

6

7

Brutgröße

Abb. 8.22  Die mittlere Brutgröße wird durch schwarze Balkenabschnitte angezeigt, die Spannweite der mittleren Brutgröße (wo bekannt) durch horizontale farbige Balken. Anscheinend variiert die Brutgröße in Deutschland zwischen den einzelnen Jahren stärker als in anderen Ländern; diese Schlussfolgerung ist möglicherweise jedoch dadurch verzerrt, dass aus Deutschland eine größere Anzahl an Ergebnissen publiziert wurde

Ersatzgelege Nach einem gescheiterten Fortpflanzungsversuch können die Eulen entweder bis zum nächsten Frühling warten oder ein bis zwei Wochen später ein Ersatzgelege produzieren. Bei Arten mit zwei Jahresbruten wie der Schleiereule ist eine Ersatzbrut funktionell der zweiten Jahresbrut gleichzusetzen. Daher ist die Häufigkeit von Ersatzbruten nach einem Brutverlust ähnlich hoch wie diejenige von Zweitbruten, die in Frankreich bei 14–56 % liegt. Diese Prozentsätze sind vermutlich jedoch zu niedrig geschätzt. Ersatzgelege erfolgen häufig nicht am Platz des gescheiterten Brutversuchs, sondern mit einem anderen Partner an einem anderen Platz. Wie in Deutschland beobachtet wurde, kann dieser in bis zu 85 km Entfernung liegen! Viele Ersatzgelege liegen somit außerhalb des Untersuchungsgebiets und werden daher häufig nicht erfasst. Ersatzgelege sind nicht besonders erfolgreich. In den USA zeitigen nur 50 % der Paare, die eine Ersatzbrut machen, ein vollständiges Gelege. Zwei Faktoren sind bei der Entscheidung für eine Ersatzbrut besonders wichtig: Zeit und Nahrungsangebot. In Frankreich und Deutschland kommt es in Jahren, in denen das Erstgelege sehr zeitig gelegt wurde, häufiger zu Ersatzgelegen. Dies erklärt, warum die

8.8 Brutgröße

211

Abb. 8.23  Ein Schleiereulennestling kurz vor dem Verhungern

Wahrscheinlichkeit für eine Ersatzbrut bei Schleiereulen 15-mal so hoch ist, wenn der Brutverlust beim ersten Brutversuch stattgefunden hat, statt erst bei der zweiten Jahresbrut.

8.8.2 Offene Forschungsfragen • Die Messungen der Brutgröße sollten nach einer Standardmethode erfolgen, um Vergleiche zwischen Schleiereulenpopulationen zu ermöglichen. Der Vergleich von Brutgrößen zwischen unterschiedlichen Populationen ist aus drei Gründen fehlerbehaftet: Erstens schwankt die Nestlingsmortalität zwischen verschiedenen Jahren stark, was impliziert, dass eine Brutgröße, die in Langzeit-Populationsuntersuchungsreihen ermittelt wird, den allgemeinen Trend besser widerspiegelt als eine durch Kurzzeitmonitoring erhaltene Brutgröße. Zweitens überschätzt eine Brutgröße, die kurz nach dem Schlupf ermittelt wird, die Anzahl der Nestlinge, die ausfliegen. Da selten erwähnt wird, in welchem Nestlingsalter die Brutgröße erhoben wird, ist ein Vergleich der Brutgrößen aus verschiedenen Studien meist fehlerhaft. Drittens wird bei der Berechnung der mittleren Brutgröße selten zwischen Paaren unterschieden, die keinerlei flügge Nachkommen hatten, und Paaren, bei denen wenigstens ein Nestling ausflog.

8 Fortpflanzung

212

Abb. 8.24  Schleiereulennestling kurz vor dem ersten Flug

8.9 Nestlingswachstum 8.9.1 Vom Küken zum flüggen Jungvogel 77 Verglichen mit Vogelarten ähnlicher Größe wachsen Schleiereulennestlinge lang-

sam. Erstaunlicherweise legen sie beträchtliche Gewichtsreserven an, die sie vor dem Flüggewerden aber von selbst wieder verlieren (Abb. 8.24). Auch wenn sie sich bereits außerhalb des Nests aufhalten, kehren sie zum Fressen und Schlafen noch dorthin zurück. Die Jungeulen verlassen das Nest mit 2–3 Monaten endgültig und werden mit 3–4 Monaten von ihren Eltern unabhängig.

Übergewicht und Gewichtsverlust Mit 40–45 Tagen können Schleiereulennestlinge ein größeres Körpergewicht als die Altvögel erreichen. In der Schweiz beträgt das männliche Maximalgewicht bei Nestlingen 470 g und bei Altvögeln 412 g. Das Maximalgewicht der Nestlinge unterscheidet sich je nach Population: 447 g in Indien, 455 g im Vereinigten Königreich, 475 g in Frankreich, 550 g in Venezuela, 632 g in Malaysia und 650 g in den USA. Nachdem sie ein derartiges Topgewicht erreicht

8.9 Nestlingswachstum

213

haben, nehmen die Nestlinge von selbst wieder ab – so verliert z. B. ein Schleiereulenküken in Frankreich im Durchschnitt 73 g an Gewicht und wiegt beim Ausfliegen 315 g. Warum zusätzliche Gewichtsreserven anlegen, nur um sie zwei Wochen später wieder zu verlieren? Ursprünglich nahm man an, dass es sich bei dem „Vorrat“ um Fettreserven für den Fall von Nahrungsmangel handelt, erkannte später aber, dass die Ursache eingelagertes Wasser ist. Wie man ferner herausfand, resultiert der Gewichtsverlust vor dem Ausfliegen jedoch aus einer Reduktion der Nahrungsaufnahme, nicht aus einem Verlust von Wasser – ein Ergebnis, das es schwierig macht, die adaptive Funktion des zusätzlichen Gewichts zu verstehen. Ist es ein Weg, um den Körper wie einen Behälter mit Wasser zu füllen oder die Nahrungsaufnahme unmittelbar vor dem Ausfliegen zu reduzieren, oder ist es eine Reserve, um die Reifung von Federn, Organen, Geweben oder physiologischen Funktionen, wie dem Immunsystem, anzukurbeln? Was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass alles überschüssige Gewicht zum Zeitpunkt des Flüggewerdens verbraucht ist, und obwohl besser ernährte Nestlinge mehr Extragewicht zulegen als schlecht gefütterte, werden sie allesamt mit einem relativ geringen Körpergewicht flügge. Die beste Situation für einen Nestling ist daher, zunächst Extragewicht zuzulegen und beim Flüggewerden schlank zu sein.

Einflussfaktoren für das Nestlingskörpergewicht Das Körpergewicht des Nestlings wird vor allem davon bestimmt, wie häufig die Hauptbeute­ tiere der Schleiereule sind. Das Nahrungsangebot variiert von Jahr zu Jahr, genauso wie das Körpergewicht der Nestlinge. Wie in Mali und der Schweiz beobachtet wurde, haben Paare, die zeitig in der Saison brüten, auch Zugang zu mehr Nahrung als später brütende Paare. In der Schweiz wiegen die Nestlinge am 15. April durchschnittlich 371 g und am 15. September nur 343 g. Schweizer Eltern mit großen Bruten versorgten ihre Nestlinge besser als Eltern mit kleinen Bruten. Das impliziert, dass die Eltern in Top-Lebensräumen (d. h. solchen mit nicht so intensiv bewirtschaftetem Offenland und ohne Weidevieh) Zugang zu genügend Ressourcen haben, um viele qualitativ hochwertige Nachkommen aufzuziehen. In Malaysia ist dies nicht der Fall; dort ergeht es Nestlingen aus großen Bruten schlechter als denen aus kleinen Bruten. Auch wenn das Nahrungsangebot gewöhnlich nicht von einem auf den anderen Tag schwankt, können die Eltern manchmal Schwierigkeiten haben, ausreichend Beute zu fangen. In der Schweiz wirkt sich die Niederschlagsmenge der vorausgegangenen Nacht, nicht jedoch von zwei Nächten vorher, negativ auf das Körpergewicht der Nestlinge aus. Dies deutet darauf hin, dass die Eltern die negative Wirkung einer einzigen Regennacht rasch ausgleichen können. Im Anschluss an eine kurze Phase mit schlechten Jagdbedingungen können sie z. B. die Fütterungsrate erhöhen. Erstes Verlassen des Nests In Europa verlassen Schleiereulen ihr Nest zum ersten Mal mit etwa 55 Tagen, in Malaysia mit 59–65 Tagen, in Venezuela mit 61 Tagen und in den USA und Argentinien mit 62–67 Tagen. Die Neuhollandeule ist zwar viel größer als die Schleiereule, doch sie wird in einem ähnlichen Alter flügge, nämlich mit 60–65 Tagen. Einige Individuen sind stärker auf das Erkunden der Außenwelt erpicht als andere. In der Schweiz hielten sich besenderte Jungeulen im Alter von 54–105 Tagen (Durchschnitt 74 Tage) zum ersten Mal außerhalb des Nests auf. Diese Unternehmungen kann man als

8 Fortpflanzung

214

echte Ausflüge ansehen, da sich die Jungeulen dabei bis zu 4 km vom Brutstandort entfernen und zwei Drittel der „Stromer“, die einen oder mehrere Tage außerhalb des Nests schlafen, regelmäßig wieder zum Schlafen zurückkehren. Sie verlassen das Nest endgültig im Alter von 60–113 Tagen (Durchschnitt 79 Tage) und wandern mit durchschnittlich 90 Tagen endgültig aus dem Brutgebiet ab.

Loslösung von den Eltern Der Nachkommen fordern mehr Aufmerksamkeit, als die Eltern ihnen zugestehen möchten. Die Eltern können z. B. ihre Nachkommen verlassen, bevor diese gelernt haben zu jagen. Die Altvögel zischen und attackieren die Jungen, um sie vor die „Tür“ zu setzen, vor allem, wenn sie selbst beginnen, erneut zu brüten. Dies kann durchaus nötig sein, weil die unruhigen Flügglinge Krach machen, ihre Mutter beim Legen und Bebrüten der Eier stören oder Beutestücke an sich reißen, die eigentlich für ihre Mutter bestimmt sind. Falls die Eltern keine Zweitbrut planen, tolerieren sie ihren Nachwuchs möglicherweise länger – bei der Schleiereule bis zu zwei Monate nach dem Flüggewerden und bei den größeren Rußeulen bis zu 3–5 Monate. Wenn die Mutter eine zweite Brut tätigen möchte, hört sie drei Wochen vor der zweiten Eiablage auf, den Nachwuchs im ersten Nest zu füttern.

8.9.2 Offene Forschungsfragen • Man sollte ermitteln, wie hoch das überschüssige Körpergewicht der Jungvögel in unterschiedlichen Populationen (verteilt auf die verschiedensten Ökosysteme) ist; so könnte man untersuchen, welche Umweltfaktoren die Evolution des kurzzeitigen Übergewichts gefördert haben könnten. • Eltern und Nachkommen sollten besendert werden, um das genaue Alter festzustellen, in dem die Fürsorge der Eltern aufhört. • Die Tatsache, dass Weibchen ihren jungen Nachwuchs manchmal verlassen, um mit einem anderen Partner eine zweite Jahresbrut zu machen, impliziert, dass Weibchen möglicherweise früher als die Männchen aufhören, für ihren Nachwuchs zu sorgen. • Man sollte die Fütterungsrate vor, während und nach Regennächten aufzeichnen, um zu untersuchen, wie Eltern den negativen Einfluss einer verminderten Fütterungsrate nach starken Niederschlägen ausgleichen können.

8.10

Zweit- und Drittbruten

8.10.1 Doppelt genäht hält besser 77 Obwohl es rund 4–6 Monate dauert, eine einzige Brut aufzuziehen, können Schleier-

eulen zwei- oder dreimal pro Jahr brüten. In Europa machen durchschnittlich 20 % der Paare zwei Jahresbruten. Das Zweitgelege wird im Regelfall bereits gelegt, bevor die Nachkommen der ersten Brut flügge sind (Abb. 8.25). Auch sehr fitte Individuen können nur dann eine Zweitbrut realisieren, wenn sie genügend Zeit und Nahrung zur Verfügung haben und nicht bereits eine große Erstbrut versorgen müssen.

8.10  Zweit- und Drittbruten

215

Abb. 8.25  Eine Schleiereule bebrütet die Eier ihres zweiten Jahresgeleges. Im Hintergrund sind die Nestlinge der ersten Brut

Normalerweise können nur Vögel, die in der laufenden Brutsaison über ausreichend Zeit verfügen, mehrere Jahresbruten realisieren; in der Regel handelt es sich um kleine Vogelarten mit kurzer Brutpflegedauer. Zweitbruten (definiert als Brut, die nach einer erfolgreichen Erstbrut stattfindet) sind daher bei Eulen und Greifvögeln selten – doch die Schleiereule ist eine Ausnahme. Wenn man die sehr lange Brutpflegeperiode berücksichtigt, ist die Schleiereule eine echte Besonderheit in der Vogelwelt.

Reproduktionspotenzial (Fortpflanzungspotenzial) In menschlicher Obhut können Schleiereulen hintereinander fünf oder sechs Gelege realisieren; bei der Neuhollandeule (Australien und Tasmanien) sind es bis zu drei Bruten, bei der Rußeule bis zu zwei. In freier Natur kommt es selten vor, dass im selben Jahr drei Bruten hintereinander erfolgreich aufgezogen werden. Schleiereulen produzieren drei Gelege nacheinander meist nur dann, wenn aus dem ersten und/oder zweiten Gelege keine Nachkommen flügge geworden sind. Zwei erfolgreiche Jahresbruten werden jedoch weltweit regelmäßig beobachtet (für Europa siehe Abb. 8.26). Laut einer Untersuchung erzielten in Malaysia 78 % der Paare zwei erfolgreiche Bruten pro Jahr, in Kalifornien (USA) waren es 56 %, in Venezuela 32 % und in Utah (USA) 11 %. In Deutschland und der Schweiz können in manchen Jahren bis zu 65 % der Brutvögel eine Zweitbrut machen, doch bezogen auf ihr gesamtes Leben schaffen weniger als 25 % der Eulen eine Zweitbrut. Schleiereulen haben fast dasselbe Legepotenzial wie Haushühner! Die Gesamtzahl der Eier aus zwei oder drei Jahresgelegen betrug in Malaysia bis zu 32 Eier, in Deutschland 28 Eier, in Frankreich 24 Eier und in der Schweiz 23 Eier. Auch wenn Zweitbruten

8 Fortpflanzung

216

450 km

Zweitbruten 1–10% 11–18% 19–27% 28–35% 36–44%

Höchsttemperatur 37 °C

18 °C

0 °C

Abb. 8.26  Mittlere Häufigkeit von Zweitbruten bei der Schleiereule in Europa. Ein Prozentsatz von 36– 44 % zeigt z. B. an, dass im Durchschnitt 36–44 % der Brutpaare nach einer erfolgreichen Erstbrut eine zweite Jahresbrut realisieren

meistens weniger erfolgreich sind als Erstbruten, zeitigen Paare mit zwei Jahresbruten insgesamt mehr flügge Junge als Paare mit nur einer Jahresbrut. In der Schweiz erzielten Paare mit zwei Jahresbruten im Durchschnitt 7,3 flügge Junge (Summe der flüggen Jungeulen aus Erst- und Zweitbrut), verglichen mit 3,9 bei Paaren mit nur einer Jahresbrut. In Frankreich und Tschechien zogen Schleiereulen ein Maximum von 17 flüggen Jungeulen auf. Offenbar dienen Zweitbruten dazu, die Gesamtzahl der Nachkommen zu erhöhen, sollen aber primär nicht einen schlechten Fortpflanzungserfolg im ersten Brutversuch kompensieren. De facto hat die Anzahl der Nachkommen aus der Erstbrut keinen Einfluss darauf, ob ein Weibchen eine Zweitbrut macht. Zudem gefährdet die Beteiligung an einer Zweitbrut nicht den Erfolg der noch laufenden Brut im ersten Nest. „Doppelbrütige“ Väter müssen die Beute allerdings auf zwei Familien aufteilen, was zu einer leichten Verminderung im Körpergewicht des Erstbrut-Nachwuchs führt.

Einflussfaktoren für Zweitbruten Vier Faktoren erklären, warum die Bereitschaft zu Mehrfachbruten variiert: 1. Nahrungsangebot: In Jahren mit reichlichem Nahrungsangebot tätigen Eulen öfters Zweitbruten. In einer französischen Untersuchung beobachtete man in Jahren, in denen viele Paare eine Zweitbrut realisierten, dass die Erstbrut durchschnittlich 4,3 Küken

8.10  Zweit- und Drittbruten

217

umfasste; in Jahren ohne Zweitbruten zeitigten die Erstbruten dagegen nur 3,0 Küken – ein Hinweis auf ein geringeres Nahrungsangebot. Ebenso ermöglichten nur die besten Standorte mit üppiger Nahrungsversorgung zwei Jahresbruten. So erklärt sich, warum Brutplätze, an denen im selben Jahr zwei Bruten flügge wurden, im Folgejahr häufiger wiederbesetzt waren als Plätze mit nur einer Jahresbrut. 2. Zeit: Es ist zeitaufwändig, zwei Bruten nacheinander aufzuziehen, daher haben nur Paare, deren Erstbrut zeitig in der Saison erfolgt, Chancen auf ein Zweitgelege. In Frankreich, der Schweiz und dem Vereinigten Königreich legten Paare mit zwei Jahresbruten ihr Erstgelege im Durchschnitt einen Monat früher als Eulen mit nur einer Jahresbrut. 3. Elterliche Pflichten: Da Zweitgelege begonnen werden, bevor der Nachwuchs der Erstbrut unabhängig ist, kann ein begrenzender Faktor für die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Brutversuchs darin bestehen, ob das Männchen in der Lage ist, zwei Bruten gleichzeitig zu versorgen. Wie in der Schweiz gezeigt wurde, führt eine große Erstfamilie dazu, dass Männchen keine Zweitbrut machen, da die gesamte Beute auf zwei Familien aufgeteilt werden müsste und dies die Entwicklung des Nachwuchses im ersten Nest verlangsamen würde. Während die Männchen eine große Erstbrut zu versorgen haben, können die Weibchen ihre noch nicht unabhängigen Kinder verlassen und mit einem anderen Männchen eine Zweitbrut beginnen, ohne sich um die Brutpflege kümmern zu müssen. Polyandrie lohnt sich! 4. Fitness des Weibchens: Besonders fitte Weibchen realisieren eher eine Zweitbrut als Weibchen von minderer Qualität. Verglichen mit den Einfachbrüter-Weibchen haben die Weibchen mit Zweitbruten dementsprechend in Deutschland, der Schweiz und Utah (USA) eine höhere Überlebensrate und sind auch, was den Fortpflanzungserfolg angeht, überlegen, da sie größere Erstgelege produzieren.

Legeintervall zwischen Erst- und Zweitbrut In Europa liegt zwischen dem Beginn von Erst- und Zweitgelege durchschnittlich ein Zeitraum von 100 Tagen. Einige Paare können dieses Intervall auf 45 Tage verkürzen, andere warten bis zu 185 Tage. Die Zeit ist jedoch wesentlich, denn die Nachkommen der Zweitbrut müssen flügge sein, bevor das Wetter zu rau wird und die Nahrungsressourcen erschöpft sind. Da eine Zweitbrut also nicht zu spät im Jahr erfolgen darf, sind Verhaltensweisen notwendig, die die Einleitung eines neuen Brutversuchs beschleunigen können: • Schneller Flirt: Bei einer Volierenpopulation von Schleiereulen in Deutschland begann das Balzverhalten 29 Tage vor dem Legebeginn des Erstgeleges (Spanne 1–41 Tage), beim Zweitgelege jedoch erst 18 Tage vor Legebeginn (Spanne 10–23 Tage), vermutlich, weil der Nistplatz bereits bekannt war. • Ortswechsel: Durch den Wechsel zu einem anderen Brutplatz „sparen“ die Paare zwei Wochen; dies stellte man in der Schweiz und im Vereinigten Königreich fest: Dort wurden sehr viele Nistkästen aufgehängt, was den Nistplatzwechsel erleichterte. Würde die Mutter im selben kleinen Nest bleiben, so müsste sie oft bis zum Ausfliegen des Erstnachwuchses warten, bevor sie das nächste Gelege initiiert. Bei Paaren, die auch zur Zweitbrut zusammenbleiben, liegt der neue Nistplatz meist in der Nähe (wenige Meter), kann aber auch relativ weit entfernt vom ersten Nistplatz sein (bis zu 3 km).

8 Fortpflanzung

218

• Partnerwechsel: Wenn in der Nähe des Erstnests kein zweiter Nistplatz verfügbar oder das Männchen noch nicht zu einer Zweitbrut bereit ist, kann das Weibchen als letzte Möglichkeit seine erste Familie verlassen und einen neuen Partner suchen, der aktuell keine Brut versorgen muss. In diesem Fall kann es das Zweitgelege zehn Tage früher initiieren, als wenn es warten müsste, bis das erste Männchen weniger Arbeit mit der Versorgung der Erstbrut hat. In der Schweiz wählt etwa die Hälfte der Weibchen diese Option, die auch als Scheidungszweitbrut bezeichnet wird. • Kompromisse: Es dauert lange, bis eine große Brut flügge ist; das Legeintervall zwischen Erst- und Zweitbrut kann daher kürzer sein, wenn die Erstbrut nicht viele, sondern nur wenige Nachkommen zählt.

8.10.2 Offene Forschungsfragen • Die Klimaerwärmung führt dazu, dass Tiere zeitiger im Jahr mit der Fortpflanzung beginnen. Dies könnte die Dauer der Brutsaison verlängern und den Schleiereulen demnach mehr Gelegenheit für Mehrfachbruten bieten. Dieser Aspekt sollte untersucht werden, vor allem in den Gebieten, für die bereits Langzeitschätzungen zur Anzahl der Paare mit Zweitbruten vorliegen. Man hätte so die Gelegenheit, Veränderungen in der Rate der Zweitbruten in Zusammenhang mit der Klimaerwärmung zu untersuchen.

8.11

Verlassen des Nachwuchses

8.11.1 Dates mit jüngeren Männern 77 Ein Schleiereulenweibchen, das die Familie verlässt (Abb. 8.27), bevor der Nachwuchs

unabhängig ist, und dem Männchen die Versorgung der Kinder überlässt, kann selbst rascher mit einer Zweitbrut beginnen. Um den neuen Brutversuch einzuleiten, lockt sie einen neuen, häufig unerfahrenen Partner an, oft in großer Entfernung vom ersten Nest.

Bei Säugern bedeuten das Austragen der Jungen und die anschließende Säugeperiode, dass die Weibchen den „Schwarzen Peter“ haben und sich im Zweifelsfall alleine um die Jungen kümmern müssen. Daher können Männchen ihre Familie einfacher verlassen, wenn ihr Anteil an der Brutpflege nicht essenziell ist. Bei der Schleiereule – und bei einigen polyandrischen Vögeln wie manchen Limikolen und dem Steinsperling – ist das Gegenteil der Fall. Die Männchen haben keine andere Wahl, als sich um ihre Nachkommen zu kümmern, während die Anwesenheit der Mutter zum Ende der Aufzuchtperiode nicht immer zwingend ist. Wenn das Männchen folglich nach der ersten keine zweite Brut ernähren kann, verlässt das Weibchen möglicherweise auf der Suche nach neuen Paarungsmöglichkeiten die Erstfamilie. Die Entscheidung für Gehen oder Bleiben hängt von der Wahrscheinlichkeit ab, einen neuen Partner zu finden, und davon, ob die Anwesenheit des Weibchens unverzichtbar für eine erfolgreiche Aufzucht der Erstbrut ist.

8.11  Verlassen des Nachwuchses

219

Abb. 8.27  Eine Schleiereulenmutter verlässt ihr Nest, um eine Zweitbrut mit einem anderen Partner zu realisieren

Warum verlassen Weibchen ihren Nachwuchs? In Deutschland realisierten zwei Drittel der Zweitbrüter-Schleiereulenweibchen beide Jahresbruten mit demselben Partner; das andere Drittel verließ das erste Nest, um sich neu zu verpaaren. In der Schweiz ist die Situation ähnlich (Beispiel in Abb. 8.28): Die Hälfte der Weibchen und ein Viertel der Männchen tätigen Erst- und Zweitbrut mit unterschiedlichen Partnern. Auch Männchen können ihre Partnerin wechseln, verlassen im Gegensatz zu den Weibchen ihr erstes Nest aber nicht mitten in der Aufzuchtperiode. Durch das Verlassen des Erstnests haben Weibchen daher höhere Chancen auf eine Zweitbrut – im Mittelwert machen 13 % von ihnen eine Zweitbrut, verglichen mit 8 % bei den Männchen. Die Fitness der Weibchen, die ihr Nest verlassen oder nicht verlassen, unterscheidet sich nicht grundlegend: Es sind vorwiegend externe Faktoren, die bestimmen, ob ein bestimmtes Weibchen ihre Familie verlässt: • Zeitdruck: Ein Weibchen ohne Elternpflichten kann gezielter nach einem neuen Männchen suchen, um schnell eine Zweitbrut zu starten, statt zu warten, bis der Erstpartner mit der ersten Brut weniger Arbeit hat. Da die Umweltbedingungen gegen Ende der Brutsaison schlechter werden, ist ein Verlassen der Familie bei Spätbrütern wahrscheinlicher als bei Frühbrütern – Ziel ist es, mit der Zweitbrut zu beginnen, bevor es zu spät ist. • Große Familie: Die Männchen – sie sind ja für die Ernährung der Nachkommen verantwortlich – sind durch zahlreichen Nachwuchs in der Erstbrut sogar noch stärker eingeschränkt. Das ungeduldige Weibchen kann die Familie verlassen, um Zeit zu sparen, und sich auf die Suche nach einem neuen Männchen ohne Elternpflichten machen.

8 Fortpflanzung

220

2 km

Hintergrundkarte TLM3D © Swisstopo (DV084371)

Abb. 8.28  Ortsbewegungen von Männchen (blaue Linien) und Weibchen (orangebraune Linien) an zwei Nestern mit einmonatigen Nachkommen in der Schweiz. Die beiden Männchen suchen relativ nahe beim Nest nach Nahrung; ihre beiden Partnerinnen schauen hingegen bei anderen Nistkästen (schwarze Dreiecke) vorbei, während sie auf der Suche nach einem anderen Nistplatz und potenziellen Partner sind, um eine zweite Jahresbrut zu initiieren. Die Daten wurden mithilfe eines „GPS-Rucksacks“ erhoben, der auf dem Rücken der brütenden Schleiereulen befestig war

Betrachtet man Zweitbrüter-Weibchen in der Schweiz, so hatten die Scheidungszweitbrüter im ersten Nest durchschnittlich 4,5 Nachkommen, während es bei den „treuen“ Zweitbrüter-Weibchen 3,8 Nachkommen waren. • Verhindern, dass Männchen ihre Investition zwischen zwei Familien aufteilen: Aus der Perspektive des Weibchens könnte es vorteilhaft sein, wenn der Partner nicht in zwei Bruten gleichzeitig engagiert ist, damit die Nahrung nicht unter zwei Familien aufgeteilt werden muss. Indem das Weibchen das Erstnest verlässt, kann sie sicherstellen, dass ihr Erstmännchen seine gesamte Energie auf die Erstbrut konzentriert. Diese Strategie ist anscheinend wirksam, denn weniger als 23 % der Männchen, deren Partnerin die Familie verlassen hatte, zogen mit einer anderen Partnerin eine zweite Familie auf. • Nervender Nachwuchs: Der Nachwuchs des Erstnests kann die Eltern während der Kopulation stören oder den Vater verfolgen, um ihm Beute abzujagen, die eigentlich für

8.11  Verlassen des Nachwuchses

221

die Mutter vorgesehen ist. Auch das kann ein Weibchen dazu bringen, das Nest vorzeitig zu verlassen und andernorts eine Zweitbrut zu starten. • Versuchung: Männchen, die es nicht geschafft haben, ein Weibchen für einen zeitigen Brutversuch anzulocken, suchen möglicherweise „verzweifelt“ nach potenziellen Partnerinnen. Wenn diese vagabundierenden Männchen zahlreich sind, bietet sich dem Weibchen vermutlich mehr Gelegenheit, die Erstfamilie zu verlassen.

Wer ist der glückliche Mann, den eine Ausreißerin erwählt? Ein neues Männchen zu finden, braucht seine Zeit, und so streift ein Weibchen manchmal weit umher und kommt auch immer wieder zurück zu ihrem ersten Nest. In der Schweiz flog ein Weibchen 60 km weit und kam zwei Tage später mit „leeren Händen“ zu ihrem Nest zurück. Meistens entdecken die Weibchen ein neues Männchen ohne elterliche Pflichten, denn die Zweitbrut des Weibchens war in 77 % der Fälle die Erstbrut des Männchens. In weiteren 5 % der Fälle handelt es sich um Ersatzgelege nach dem Scheitern der Erstbrut. Nur in 18 % der Fälle war es auch die zweite Jahresbrut des Männchens. Für das AusreißerWeibchen sind das gute Nachrichten, da der neue Partner seine gesamte Energie auf die neue Brut konzentrieren kann. Es besteht jedoch ein gewisses Risiko, dass das Weibchen ein erfahrenes Männchen verlassen muss (83 % der Männchen hatten bereits in den Vorjahren gebrütet), wenn sie ein unerfahrenes einjähriges Männchen verführt (50 % von ihnen hatten noch niemals gebrütet). Fitnesskonsequenzen des Nestverlassens Verlässt das Weibchen das Nest, so bedeutet dies, dass ihr Männchen alle Elternpflichten für das Erstnest alleine erfüllen muss. Häufig erfolgt das Ausreißen zu einem Zeitpunkt, wenn der Nachwuchs noch sehr jung ist: Die letztgeschlüpften Nestlinge sind z. B. nur 22 Tage alt, ein Alter, in dem sie zum Füttern und Hudern noch sehr auf ihre Mutter angewiesen sind. Erstaunlicherweise werden diese Mutterpflichten zumindest teilweise von den ältesten Nestlingen übernommen; sie „kuscheln“ mit ihren jüngsten Geschwistern und füttern sie. Hat mütterliche „Selbstsucht“ die Evolution von kooperativem Verhalten unter jungen Geschwistern gefördert? Das Verlassen der Nestlinge ist vor allem eine Sache der Zeitersparnis. Die Anzahl der Tage zwischen Ablage von Erst- und Zweitgelege lag für „Ausreißerinnen“ bei 83 Tagen, für Nicht-Ausreißerinnen, die für die Zweitbrut den Nistkasten wechseln, bei 91 Tagen und für Nicht-Ausreißerinnen, die im selben Nistkasten blieben, bei 103 Tagen. Ausreißerinnen legten zwar mehr Eier als Nicht-Ausreißerinnen im Zweitnest, doch Brutgröße und Körpergewicht der Nachkommen waren bei Ausreißerinnen und Nicht-Ausreißerinnen ähnlich. Die Weibchen verlassen ihre Brut also nicht, weil der erste Partner von schlechter Qualität ist, sondern häufig einfach, um die Realisierung einer Zweitbrut zu beschleunigen. Diese Annahme wird durch die Tatsache unterstützt, dass die Hälfte der Weibchen, die ihre Erstbrut für einen zweiten Brutversuch verließen, im Folgejahr zum vorherigen Partner zurückkehrte, um mit ihm erneut ihre erste Jahresbrut aufzuziehen. Es herrscht keine Verbitterung!

222

8 Fortpflanzung

Verlassen impliziert einen Nistplatzwechsel Der Nistplatz und das angeschlossene Territorium gehören dem Männchen (obwohl das Weibchen, wenn es sich erst zur Eiablage entschlossen hat, den Nistplatz hartnäckig verteidigt, während das Männchen das umliegende Territorium besetzt). Findet man an einem bestimmten Brutplatz also eine erste und eine zweite Jahresbrut, so gehören sie immer zu demselben Männchen, doch nicht unbedingt zu demselben Weibchen. In einem Viertel der Bruten hat ein Zweifachbrüter-Männchen für die zweite Jahresbrut die Partnerin gewechselt. Liegt das daran, dass sein vorheriges Weibchen das erste Nest verlassen hat und daher für die Zweitbrut nicht zur Verfügung stand? Unabhängig davon, ob ein Männchen die Partnerin wechselt, tätigt er in mehr als der Hälfte der Fälle die Erst- und Zweitbrut an unterschiedlichen Stellen. Der neue Nistplatz befindet sich nach wie vor in seinem Territorium und nicht sehr weit vom ersten Nest entfernt (von wenigen Metern bis zu 3,3 km), wo sein noch nicht unabhängiger Nachwuchs nach wie vor mit Futter versorgt werden muss. Die Weibchen legen dagegen größere Distanzen zurück, um mit einem anderen Männchen zu brüten. Sie müssen möglicherweise relativ weit entfernt vom ersten Männchen brüten (im Durchschnitt 4,6 km, Maximum 41 km). Trotzdem gestattet ein Männchen seiner untreuen Partnerin manchmal, in der Nähe eine zweite Brut mit einem anderen Männchen zu starten, gelegentlich sogar weniger als 40 m von seinem Nest entfernt. Wird diese Toleranz im Tausch für die andauernde Hilfe des Weibchens am Erstnest gewährt oder stimmt das erste Männchen diesem neuen Arrangement zu, wenn das Ausreißerweibchen ihn weiterhin besucht, um zu kopulieren? Kopulation mit dem Ausreißerweibchen Wenn ein Männchen seine Partnerin nicht am Verlassen der Nestlinge hindern kann, kann er möglicherweise wenigstens noch einen Teil seiner neuen Nachkommen zeugen. Während der Aufzucht der Erstbrut kommt es häufig zu Kopulationen, was dazu führt, dass 8 % der Zweitbruten eines Ausreißerweibchens Jungvögel enthalten, die durch das erste Männchen gezeugt wurden. Die betroffenen Weibchen brüteten relativ nahe bei ihrem ersten Nest (in bis zu 1500 m Entfernung), was darauf hindeutet, dass sie weiterhin ihr erstes Männchen besuchten (wie in der Schweiz einmal beobachtet) oder dass sich das erste Männchen in der Nähe ihres neuen Nests zu seiner „Verflossenen“ gesellte. Für die Männchen, die keine zweite Jahresbrut machen können, ist das Ausreißen des Weibchens möglicherweise eine Gelegenheit, ein paar zusätzliche Nachkommen im neuen Nest der Expartnerin zu zeugen. Auch die Weibchen profitieren möglicherweise, falls das erste Männchen genetisch höherwertig als der neue Partner ist.

8.11.2 Offene Forschungsfragen • Kommt es häufiger vor, dass das Weibchen das erste Nest verlässt, um mit einem neuen Partner eine zweite Jahresbrut zu machen (serielle Polyandrie), oder dass das Männchen erfolgreich zwei Weibchen gleichzeitig anlockt (Polygynie)? • Kümmert sich ein Weibchen trotzdem weiter um die Nachkommen des ersten Nests, auch wenn sie eine zweite Jahresbrut mit einem neuen Männchen eingeleitet hat?

Weiterführende Literatur

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9

Brutpflege

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9.1

Eltern auf der Jagd

9.1.1 Die Jagdzeit ist eröffnet 77 Wie bei anderen Tag- und Nachtgreifen ist bei der Schleiereule vor allem das Männchen

dafür verantwortlich, sein Weibchen und seinen Nachwuchs mit Nahrung zu versorgen. In der ersten Hälfte der Aufzuchtperiode verteilt die Mutter die Beutestücke unter den Nestlingen. Wenn diese älter werden, muss die Mutter entscheiden, ob sie den Vater bei der Beutejagd unterstützt. Normalerweise liefert sie etwa ein Viertel der Beutetiere, doch in einigen Familien nehmen die Mütter nicht an der Jagd teil.

Warum investiert ein Elternteil mehr in die Nahrungssuche für die Nestlinge? Handeln die Eltern dieses Investment aus? Kann ein schlechter Jagderfolg des Partners ausgeglichen werden? Passen Eltern ihre Reaktion an, wenn die Nachkommen betteln, oder investieren sie einen festen „Betrag“ in die Brutpflege, gleichgültig, wie sehr die Jungen quengeln? Dies sind Schlüsselthemen, um zu verstehen, wie viel Zeit und Energie Tiere für die Brutpflege bereitstellen.

Elterliche Fütterungsaktivität Der Jagderfolg ist bei der Schleiereule manchmal extrem hoch; dies konnte anhand eines Männchens im Vereinigten Königreich gezeigt werden, das in weniger als 1 Stunde 11 Beutetiere zum Nest brachte. Normalerweise ist die Fütterungsrate jedoch geringer. Wie in der Schweiz beobachtet, liefern die Eltern bei Bruten von durchschnittlich fünf Jungen pro Nacht im Mittel 11 Beutetiere (maximal 31) ab. Die Fütterungsrate variiert und hängt von vielen Faktoren ab, wie Habitatqualität, Fluktuationen in der Beutepopulation, Aktivitätsrhythmen der Beutetiere, Brutgröße und elterlicher Fitness. Nach einer erfolgreichen Jagd (Abb. 9.1) kehrt der Altvogel erneut zur selben Stelle zurück, wie man in Frankreich beobachtete. Die Witterungsbedingungen haben einen großen Einfluss; so ruhen die Männchen in Regennächten über 90 % der Zeit, statt zu jagen. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Roulin, Schleiereulen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62514-9_9

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9.1  Eltern auf der Jagd

229

Abb. 9.1 Wühlmausjagd

Zum vollständigen Bild der elterlichen Arbeitslast gehören eigentlich auch Informationen über die Beutegröße, diese wurde aber nur selten ermittelt. Doch wie eine Untersuchung in Indien zeigte, ist dieser Parameter wichtig: Eltern, die kleine Beutetiere fangen, liefern pro Nacht mehr Beutestücke ab als Eltern, die größere Tiere erbeuten.

Rollen der Eltern bei der Fütterung Die Männchen bringen ihren Partnerinnen während der Legezeit mehr Beutestücke als während der Bebrütungsperiode – vermutlich, weil die Bildung von Eiern energetisch aufwändiger ist als die Bebrütung. Sobald der Schlupf der Jungen beginnt, steigert das Männchen seine Fütterungsrate. Wenn die Familie allerdings größer und daher hungriger wird, kann es passieren, dass das Männchen seine Fütterungsrate nur noch etwas erhöht, wahrscheinlich, weil es das Maximum seiner Jagdfähigkeiten erreicht hat. In Europa bringt der Vater durchschnittlich drei Viertel aller Beutestücke zum Nest, die Mutter trägt den Rest bei. Falls der Vater den zunehmenden Futterbedarf nicht mehr befriedigen kann, beginnt die Mutter, meistens 15 Tage (Spanne 14–17 Tage) nach dem Schlupf des ersten Kükens wieder

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9 Brutpflege

zu jagen. Sie muss Gewicht verlieren, um wendiger zu sein; dieses „Abspecken“ beginnt 6 Tage vor Wiederaufnahme der Jagd. Wie in Frankreich beobachtet wurde, beginnt die Mutter ganze Nächte außerhalb der Nisthöhle zu verbringen, sobald der erstgeschlüpfte Nestling durchschnittlich 27 und der jüngste 20 Tage alt ist – sie besucht die Nisthöhle nur noch, um Nahrung einzutragen. Falls das Männchen jedoch die gesamte Nahrung für die ganze Familie liefern kann, kümmert sie sich weiter intensiv um die jüngeren Nestlinge, statt zu jagen (Abb. 9.2). In der Schweiz beobachteten wir in 103 Nestern, die wir 259 Nächte lang überwachten, dass die Weibchen in 31 % der Nächte gar keine Beutetiere herbeischafften, sondern dem Partner die Arbeit überließen. An einem französischen Brutplatz jagte das Weibchen überhaupt nicht, vermutlich, weil das Männchen in der Lage war, genügend Futter für alle Nestlinge zu erbeuten.

Wann wird gefüttert? Der Gesamtjagderfolg ist von der Wendigkeit und einer Reduktion der Flugkosten abhängig. Um die hungrige Familie mit möglichst vielen Beutetieren versorgen zu können, versuchen Schleiereulen, ihr Körpergewicht zu minimieren – dazu regulieren sie, wann und wie viel sie selbst fressen. Das ist einer der Gründe, warum der Vater zu Beginn der Nacht die größten Beutestücke zu seinem Nachwuchs trägt und selbst nur einen „Snack“ nimmt, bevor er im späteren Verlauf der Nacht mehr frisst. Ein solches Verhalten wurde während der gesamten Aufzuchtperiode in Europa und Nordamerika beobachtet; in Venezuela zeigen Schleiereuleneltern hingegen zwei Gipfel in der Jagdaktivität und liefern die Beute vor allem zu Beginn und zum Ende der Nacht. Solche geografischen Unterschiede könnten darauf zurückgehen, dass die verschiedenen Beutespezies zu entsprechend unterschiedlichen Zeiten aktiv sind. Wenn die Nestlinge noch jünger als zwei Wochen sind, verteilt die Mutter, genau wie der Vater, zu Beginn der Nacht die Nahrung unter den Nestlingen und frisst selbst erst später. Elterliche Reaktion auf das Betteln der Nachkommen Bei allen Tieren, die Brutpflege praktizieren, betteln die Nachkommen auffällig und intensiv um Futter, z. B. durch laute Rufe. Die Eltern können die Fütterungsrate an diesen Stimulus anpassen. Bei der Schleiereule kann das Betteln des Nachwuchses die Mutter dazu bringen, dem Vater bei der Nahrungssuche für die Brut zu helfen. Drei Beobachtungen deuten jedoch auf die Möglichkeit hin, dass die Hauptfunktion des Bettelverhaltens nicht darin liegt, die Eltern zu einer Steigerung ihrer Jagdaktivitäten zu drängen. Erstens liefern die Eltern den größten Teil der Beute, die für den täglichen Nahrungsbedarf erforderlich ist, in den ersten Nachtstunden. Folglich sammeln sich die Beutestücke rascher an, als die Nestlinge sie verzehren können. Dies deutet darauf hin, dass Eltern die Fütterungsrate nicht an den akuten Nahrungsbedarf des Nachwuchses anpassen, aber irgendwie wissen, wie viel Nahrung dieser im Lauf von 24 Stunden fressen wird. Zweitens ändern Eltern, deren Brut experimentell um zwei Nestlinge verringert oder vergrößert worden war, ihre Fütterungsintensität nicht. Folglich ist das Ausmaß der elterlichen Brutpflege möglicherweise bereits vor der Manipulation der Brutgröße fixiert. Dies impliziert, dass die Eltern ihre Jagdaktivitäten möglicherweise nicht verstärken, wenn die Nestlinge plötzlich hungriger werden. Diese Interpretation ist mit der folgenden Beobachtung kon-

9.1  Eltern auf der Jagd

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Abb. 9.2  Das Männchen jagt, und das Weibchen verteilt die Nahrung an die Jungen – eine typische Situation für Greifvögel, Falken und Eulen

sistent, nämlich drittens: An Nestern, an denen man experimentell zusätzliche Nahrung angeboten hatte, reduzierten die Eltern ihre Fütterungsrate in der Folgenacht nicht, sodass sich größere Beutedepots entwickelten. Manchmal schaffen die Eltern mehr Futter als nötig herbei, das dann verdirbt.

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9 Brutpflege

Die Hauptfunktion des Bettelns liegt daher vermutlich darin, Einfluss auf die Reihenfolge der der Beuteverteilung zu nehmen, sobald ein Altvogel mit Futter zurückkehrt. Bedenkt man, dass die Mutter das im Nest „gehortete“ Futter verteilt, so wird plausibel, warum die Nestlinge sie stärker anbetteln als den Vater; er nimmt sich weniger Zeit für die Entscheidung, welcher Nestling die frisch gefangene Beute erhält. Dieses Verhalten ist einleuchtend, denn in der Schweiz und im Vereinigten Königreich wurden Nestlinge, die heftiger bettelten als ihre Geschwister, vorrangig gefüttert – gleichgültig, wie nahe am Nesteingang sie saßen.

9.1.2 Offene Forschungsfragen • Falls ein Weibchen ihre Fütterungsrate im Verhältnis zur Fütterungsrate des Männchens anpasst (weil der Partner nicht in der Lage ist, genügend Nahrung für die Brut zu beschaffen), wie rasch erfolgt diese Anpassung der Fütterungsrate dann? Ist es eine Frage von Stunden, einem Tag oder mehreren Tagen? Wir könnten in diesem Zusammenhang untersuchen, ob der mütterliche Beitrag zur Nahrungsversorgung nur dann erbracht wird, wenn das Männchen die Brut während der gesamten Aufzuchtzeit nicht mit genügend Nahrung versorgen kann, oder auch bei einer zeitweiligen Verminderung der männlichen Fütterungsaktivitäten. • Welche ökologischen Faktoren und individuellen Merkmale legen fest, wann die Mutter beginnt, für die Nachkommen zu jagen, bzw. aufhört, zu hudern und die vom Männchen herbeigeschaffte Nahrung zu verteilen? • Die Weibchen nehmen bereits wieder an der Jagd teil, wenn das letztgeschlüpfte Küken noch jung ist. Hängt die zeitige Rückkehr zur Jagd vielleicht damit zusammen, dass letztgeschlüpfte Küken eine erhöhte Mortalität aufweisen? Mit anderen Worten: Trägt die mütterliche Rückkehr zur Jagd zu einer höheren Überlebensrate des ältesten Nestlings bei, und zwar auf Kosten des letztgeschlüpften Nestlings? • Die Eltern jagen in der ersten Nachthälfte für die Brut, bevor sie selbst fressen. Steht dieses Verhalten in direktem Zusammenhang mit der Beutemenge, die sie machen müssen? Mit anderen Worten: Wenn der Nahrungsbedarf der Brut zurückgeht, wie teilen die Eltern dann die Jagdzeit während der Nacht auf? • Hört die Mutter vor dem Vater auf, sich um die Nestlinge zu kümmern, wenn diese unabhängig werden? • Es sollte genau registriert werden, wie Vater und Mutter die Nahrung unter dem Nachwuchs aufteilen. Der Vater ist meistens schneller darin, eins seiner Kinder zu füttern; möglicherweise favorisieren Vater und Mutter daher unterschiedliche Nestlinge, wenn sie Futter aufteilen. Bevorzugt der Vater ältere Nestlinge und versorgt die Mutter den hungrigsten Nestling mit Futter? Dieser Aspekt der elterlichen Brutpflege ist bei der Schleiereule noch weitgehend unerforscht.

9.2  Verhalten der Eltern am Nest

9.2

233

Verhalten der Eltern am Nest

9.2.1 Der Küchenchef 77 Vor allem der Vater trägt die Verantwortung, für die Brut zu jagen, während die Mut-

ter die Mahlzeiten „zubereitet“, indem sie das Fleisch in mundgerechte Stücke für die Jungen reißt. Die Eltern geben zwar auch Nahrung an Nestlinge ab, die den Nesteingang gierig blockieren, doch sobald sie im Nest sind, bieten sie normalerweise dem hungrigsten Individuum, das am intensivsten bettelt, Futter an. Die beiden Altvögel haben unterschiedliche Regeln zum Füttern der Nachkommen.

Der Nachwuchs fordert mehr Aufmerksamkeit, als die Eltern geben wollen. Die Eltern sollten nicht bis zur Erschöpfung arbeiten, um nicht ihr eigenes Überleben in den Folgejahren zu gefährden. Auch wenn die Jungvögel ein gewisses Interesse daran haben sollten, dass ihre Eltern in Zukunft Geschwister oder Halbgeschwister produzieren (sogenannte Verwandtenselektion, englisch kin selection), liegt das Hauptinteresse eines Jungvogels darin, in möglichst guter Kondition den ersten Winter zu überleben, um sich im Folgejahr fortpflanzen zu können.

Ankunft am Nest Das Männchen besucht das Nest während der Bebrütungszeit häufig, aber nicht immer mit Beute – an einem Nest in Frankreich schaffte das Männchen bei acht nächtlichen Besuchen nur in der Hälfte der Fälle Nahrung herbei. Nach dem Schlupf bringt das Männchen gewöhnlich ein Beutetier für die Jungen mit, wenn es zum Nest zurückkehrt (Abb. 9.3). Wenn es, wie in bis zu 20 % der Fälle, ohne Beute zurückkommt, wozu dient dieser Nestbesuch dann? Soll der Nahrungsbedarf der Nestlinge kontrolliert oder überprüft werden, ob das Weibchen am Nest anwesend ist? Wer schwere Beutestücke über weite Strecken transportieren muss, benötigt eine Strategie, um die energetischen Kosten des Fliegens zu reduzieren. Die Beute wird in den Fängen gehalten, um eine bessere Flugbalance zu erreichen; sobald die Eule am Nest gelandet ist, wird die Beute in den Schnabel transferiert und einem Nestling oder der Mutter übergeben. Da die größten Beutestücke mit bis zu 120 g (Europa) halb so schwer wie eine brütende Schleiereule sein können, lässt sich das zu transportierende Gewicht (Nutzlast) verringern, indem die Beuteteile mit dem geringsten Fleischanteil entfernt werden. In einer tschechischen Population wurden 33 % der Beutetiere vor dem Transport dekapitiert. In Schottland, wo die Beutetiere meist kleiner waren, wurden sie immer intakt abgeliefert. Auch wenn sich große Beutestücke ohne Kopf leichter verzehren lassen, ist das möglicherweise nicht der Grund, warum der Vater sie in diesem Zustand abliefert. Ansonsten würde er große Beutestücke zusätzlich zerlegen und Fleisch herausreißen, damit die Nestlinge einfacher fressen können – aber das macht ja nur die Mutter. Möglich wäre auch, dass der Altvogel den Kopf besonders gerne selbst frisst, da das Hirngewebe viele Proteine, Kohlenhydrate und Lipide enthält.

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9 Brutpflege

Abb. 9.3  Am Nistkasten in Israel: Ein Schleiereulenmännchen bringt seinen fast flüggen Jungen eine Wühlmaus (© Amir Ezer)

Gelegentlich wird beobachtet, dass das Männchen ein Beutetier aus dem Depot ergreift und es an die bettelnden Nestlinge verfüttert. In der Schweiz lagen 14 % der vom Altvogel an eine Jungeule übergebenen Beutestücke bereits im Nest (die restlichen 86 % wurden im Feld frisch gefangen). Die Nestlinge hätten diese Beutestücke zwar selbst vom Nestboden aufnehmen können, doch Eltern, die Futter anbieten (Abb. 9.4), regen den Nachwuchs offenbar zum Fressen an. Manchmal beobachtet man ein Verhalten, das die Nestlinge noch stärker stimulieren soll – die Eltern ergreifen ein Beutetier im Nest, verlassen das Nest und kehren ein paar Minuten später wieder mit ihm zurück!

Zubereitung der Nahrung Wenn die Nestlinge noch sehr jung sind, jagt der Vater und übergibt die Nahrung an die Mutter, normalerweise in der Nesthöhle. Selbst wenn dort noch ein paar nichtverzehrte Beutestücke liegen, bettelt die Mutter ihren Partner trotzdem um Nahrung an, vielleicht um ihn zu motivieren, noch mehr Futter zum späteren Verzehr herbeizuschaffen. Die Mutter bereitet die Mahlzeit mit der vom Vater übergebenen Beute zu, entfernt die Eingeweide und reißt das Fleisch in Stücke. Während sie die Jungen füttert, gibt sie „gluckende“ Fütterungslaute von sich, die das Betteln auslösen. Es ist zwar nicht bekannt, ob sie sich um jedes Küken proportional zu dessen Bettelverhalten kümmert, doch erscheint dies plausibel – denn sie kann einen heftig bettelnden Jungvogel mit bis zu 15 Fleischstücken füttern, bevor das nächste Nestgeschwister an der Reihe ist.

9.2  Verhalten der Eltern am Nest

235

Abb. 9.4  Die Eltern zerreißen die Beute in kleine Stücke, um die Jungen damit zu füttern

Zuteilung der Nahrung an die Nestlinge Wenn die Nestlinge 4–8 Wochen alt sind, wird in 70 % der Fälle das Individuum mit den intensivsten Bettellauten von den Eltern bevorzugt mit Beute versorgt. Vermutlich sind die Nestlinge, die in diesem Alter mehr und länger betteln, hungriger als die „leiseren“ Geschwister. Die Eltern können sich jedoch trotzdem irren und anschließend korrigieren, wie sich im Fall einer Mutter zeigte: Sie hatte einem Nestling ein Stück Nahrung gegeben, holte es aber unmittelbar danach zurück und gab es einem Nestling, der hartnäckiger bettelte. Solche Irrtümer sind möglicherweise in großen Bruten häufiger, da es schwierig ist, genau festzustellen, welcher Nestling am meisten Lärm macht. Um derartige Irrtümer zu vermeiden, muss man sich die Zeit nehmen, die Bettelrufe sorgfältig zu beurteilen. Dies steht in Konflikt zur schnellen Futterübergabe, die für die Mutter typisch ist. Folglich haben die Nachkommen mehr Zeit, ihren Vater zum Aushändigen eines Beutestücks zu bringen – und so erklärt sich vielleicht, warum sie ihre Mutter intensiver um Nahrung anbetteln (allerdings kürzer) als ihren Vater. Obwohl das Bettelverhalten der Nestlinge bestimmt, wie Eltern die Nahrung zuteilen, können sie indirekt das älteste und stärkste Junge besonders fördern. In 25 % bzw. 12 % der Fälle übergeben Mutter und Vater die Beutestücke, ohne in die Nisthöhle zu kommen. Dieses Verhalten begünstigt Jungeulen, die den Nesteingang besetzen können, ohne herauszufallen. Auch wenn die Mutter sich weniger gerne als der Vater in die Nisthöhle begibt,

9 Brutpflege

236

liegt das anscheinend nicht daran, dass sich die Nestlinge bei der Mutter anders als beim Vater verhalten. Tatsächlich können die Jungen ja nicht vorhersehen, welcher Elternteil demnächst kommen wird, da die Reihenfolge von väterlicher bzw. mütterlicher Nahrungsübergabe zufällig ist. Folglich blockieren die Nestlinge den Eingang bei der Ankunft der Mutter nicht häufiger als bei der Ankunft des Vaters. Zusammenfassend kann man sagen, dass Mutter und Vater unterschiedliche Regeln anwenden, um zu entscheiden, wie sie die Beute abliefern und wie sie priorisieren, welcher Nestling gefüttert wird.

9.2.2 Offene Forschungsfragen • Bei Betrachtung der Gesamtbeute stellt sich die Frage: Werden die größten, die mittelgroßen oder die kleinsten Beutetiere verfüttert und der Rest selbst gefressen? Bei kleiner Beute lohnt sich möglicherweise nicht einmal der Transport zum Nest, während die Nestlinge bei großen Stücken Schwierigkeiten haben können, diese ohne Hilfe der Mutter zu fressen. Wählen die Eltern die Beutestücke für ihre Jungen nach dem Fang aus und entscheiden, was sie für sich selbst behalten und was sie zurück zum Nest transportieren? • Warum kehren Männchen manchmal ohne irgendwelche Nahrung zum Nest zurück? • Setzen die Eltern unterschiedliche Jagdmethoden und -strategien ein, wenn ihre Jungen besonders hungrig sind? • Hängt das Dekapitieren großer Beutestücke davon ab, in welcher Entfernung vom Nest die Eltern die Beute gefangen haben? • Ist es wahrscheinlicher, dass Mütter eher als Väter dem Nestling, der am meisten bettelt, das Beutestück geben? Falls Nestlinge in Gegenwart des Vaters weniger intensiv als bei der Mutter betteln, liegt das vielleicht daran, dass der Vater nicht so empfindlich auf das Betteln der Jungen reagiert und vorzugsweise den ältesten Nestling füttert? Wir benötigen mehr Informationen darüber, wie Eltern die Nahrung unter den Nestlingen aufteilen. • Unmittelbar vor dem Einflug in die Nisthöhle stößt der Vater oft einen typischen Ruf aus; dies wurde bei der Schleiereule in der Schweiz und der Malegasseneule in Madagaskar beobachtet. Warum informiert anscheinend der Vater, nicht jedoch die Mutter die Familie, so deutlich von seiner Ankunft? Soll damit verhindert werden, dass die Nestlinge so laut betteln, wie sie das in Gegenwart der Mutter tun? Experimentell ließe sich diese Frage durch Abspielen der väterlichen Rufe direkt neben dem Nesteingang testen.

9.3

Körpergewicht der Altvögel

9.3.1 Bis an die Belastungsgrenze 77 Das Fortpflanzungsgeschäft ist so anstrengend (Abb. 9.5), dass die Weibchen vom

Beginn der Bebrütungs- bis zum Ende der Aufzuchtperiode durchschnittlich 114 g an Gewicht (27 % ihres Körpergewichts) verlieren und schließlich weniger wiegen als wäh-

9.3  Körpergewicht der Altvögel

237

Abb. 9.5  Anstrengende Brutpflege: Eine Schleiereule ruht sich aus, bevor sie wieder auf Jagd geht

rend der Nichtbrutzeit. Die Männchen verlieren nur 10 % ihres Körpergewichts (30 g). Beide Eltern erreichen ihr Minimalgewicht, wenn die Nachkommen rund 40 Tage alt sind, etwa zwei Wochen vor deren Flüggewerden.

Brutvögel passen ihr Körpergewicht an den Fortpflanzungszyklus an. In Frankreich und der Schweiz beginnen Schleiereulenweibchen etwa 19 Tage vor Legebeginn an Gewicht zuzunehmen, und ihr Körpergewicht erreicht mit etwa 430 g ein Maximum, wenn das erste Ei gelegt wird. Das Gewicht nimmt danach immer weiter ab, bis zu einem Minimum von rund 316 g, wenn der älteste Nestling im Durchschnitt 42 Tage alt ist, und steigt danach bis zum Ende der Aufzuchtperiode wieder kontinuierlich an (Abb. 9.6). Da die Weibchen von sieben Uhr morgens bis Mitternacht fasten, nehmen sie pro Tag durchschnittlich 12 g ab. Dieser tägliche Gewichtsverlust ist während der Aufzuchtperiode stärker ausgeprägt als während der Bebrütung, wahrscheinlich, weil in der Bebrütungsphase tagsüber mehr Beute im Nest verbleibt, als von der Mutter gefressen werden kann. Wenn Beute im Nest verfügbar ist, sind die Weibchen genau 12 g schwerer, als wenn keine Nahrung vorrätig ist. So ist es nicht verwunderlich, dass Schleiereulenweibchen in Jahren

9 Brutpflege

238

Körpergewicht (g)

500

Bebrütung

Aufzuchtperiode

Flüggewerden

450

400

350

300

250 –20

0

20

40

60

Tage seit Schlupf des ältesten Nestlings

Abb. 9.6 Körpergewicht brütender Schleiereulen (468  Männchen und 620  Weibchen; Daten aus der Schweiz) in Beziehung zur Fortpflanzungsphase. Bei jeder Brut wurde das Schlüpfdatum des ältesten Nestlings zum „Tag 0“ deklariert; der Nestling wurde nach etwa 55 Tagen flügge. Die brütenden Männchen wurden durchschnittlich 2,2-mal (Maximum 11-mal) gewogen, die brütenden Weibchen durchschnittlich 4,4-mal (Maximum 38-mal). Das Minimalgewicht ist durch einen senkrechten schwarzen Strich dargestellt (durchschnittlich 278 g bei den Männchen, wenn die Nestlinge 40 Tage alt waren; durchschnittlich 316 g bei den Weibchen, wenn die Nestlinge 42 Tage alt waren)

mit besserem Beuteangebot mehr wiegen als in Jahren mit schlechter Nahrungsversorgung. Dies könnte teilweise erklären, warum manche Individuen einen höheren Fortpflanzungserfolg haben als andere: Weibchen mit vielen Nachkommen sind schwerer als diejenigen mit kleineren Bruten. Es stellt auch große Anforderungen an die Männchen, eine Familie erfolgreich aufzuziehen, denn sie schaffen die meiste Beute für die Jungen herbei. Um wendiger und damit bei der Jagd erfolgreicher zu werden, müssen die Männchen Gewicht verlieren. Während der Bebrütungsperiode liegt das mittlere Körpergewicht der Männchen bei 308 g und bei 278 g (Gewichtsverlust 10 %), wenn das erstgeschlüpfte Junge 40 Tage alt ist. Interessanterweise erreichen Männchen und Weibchen ihr geringstes Körpergewicht zum selben Zeitpunkt der Fortpflanzungsperiode.

9.3.2 Offene Forschungsfragen • Man sollte die ökologischen Faktoren bestimmen, die sich auf das Körpergewicht der Altvögel auswirken. Da Altvögel auch unabhängig von dem Aufwand, den sie in die Fortpflanzung investieren, an Gewicht verlieren können, sollte man untersuchen, ob der Gewichtsverlust strategisch reguliert ist (d. h. um die Fortpflanzungsleistung zu steigern). Oder dient der Gewichtsverlust gar nicht dazu, die Jagdeffizien der Eltern zu verbessern, sondern ist vielmehr eine Folge des anstrengenden Brutgeschäfts? • Falls der Gewichtsverlust während der Aufzuchtperiode adaptiv ist, könnte er mit dem Fortpflanzungserfolg assoziiert sein. Um das zu untersuchen, sollte das Körpergewicht

9.4 Nahrungsdepots

239

von Männchen bzw. Weibchen während der gesamten Fortpflanzungssaison wiederholt ermittelt werden. • Ältere Weibchen sind schwerer als jüngere (in der Schweiz ist ein Altvogel eines gegebenen Alters im Durchschnitt 2,2 g schwerer als ein ein Jahr jüngeres Individuum). Unterscheiden sich junge und alte Brutvögel im Körpergewicht, weil Erfahrung zu höherem Jagderfolg führt oder weil die Vögel besser in der Lage sind, sich ein Territorium von hoher Qualität zu sichern? • Männchen und Weibchen erreichen ihr niedrigstes Körpergewicht, wenn die Nachkommen etwa 40 Tage alt sind. Fällt dies mit dem maximalen Nahrungsbedarf der Brut zusammen? Man könnte diese Frage beantworten, wenn man die tägliche Gesamtmenge der von einer Brut verzehrten Nahrung in Relation zum jeweiligen Nestlingsalter ermittelt.

9.4 Nahrungsdepots 9.4.1 Beutelager 77 Die meisten Greifvögel, Falken, Eulen und Würger verstecken Beute für den späteren

Verzehr. Das Horten von Nahrung ist zwar für den Fall nützlich, dass sich die Bedingungen für die Nahrungsbeschaffung verschlechtern, doch Eulen sind nicht so weise. Sie deponieren Nahrung in ihrem Nest (Abb. 9.7). Sie tun dies allerdings bei besten Jagdbedingungen und nicht unbedingt, wenn es am nützlichsten sein könnte, z. B. vor einem Schlechtwettereinbruch. Die Beutestücke sammeln sich vor allem deshalb an, weil die Nestlinge ihre Mahlzeiten verschieben, denn sie fressen sowohl tagsüber als auch nachts.

Schleiereulen verstecken nur gelegentlich Nahrung an ihren Winterschlafplätzen, doch zur Brutzeit horten sie häufig Beuteüberreste im Nest. Warum?

Versicherung gegen Nahrungsmangel? Nahrungsvorräte werden opportunistisch angelegt, wenn plötzlich ein reichliches Angebot an Kleinsäugern verfügbar ist (Abb. 9.8). In Frankreich und der Schweiz horten Schleiereuleneltern in den Jahren mehr Beute im Nest, in denen viele Paare brüten, d. h. in Jahren mit einem Überfluss an Nahrung (Abb. 9.10). Lagern sie das Futter bei besten Jagdbedingungen ein als Versicherung gegen Ereignisse wie Schlechtwetterperioden? Nein! In der Schweiz nimmt die elterliche Fütterungsrate nicht ab, nachdem Nahrung gehortet wurde, und der Fortpflanzungserfolg liegt nicht höher, wenn das Nahrungsdepot besonders groß ist. Außerdem beobachtete man, dass eine Eule, die in einer Voliere lebte und unter keinerlei Nahrungsmangel litt, 165 Mäuse tötete und etliche davon an neun verschiedenen Plätzen in der Voliere versteckte. Ist es also alles Verschwendung? Sofern Nahrungsdepots nicht eine außergewöhnlich hohe Anzahl an Beuteüberresten enthalten, werden die Vorräte normalerweise in weniger als einem Tag aufgefressen. Doch manche Beutestücke liegen tagelang unberührt herum. Gewöhnlich sind das die größten

240

Abb. 9.7  Nicht aufgefressene Beute im Nest

Abb. 9.8  Ein Schleiereulenmännchen legt in seiner Nisthöhle ein Beutelager an

9 Brutpflege

9.4 Nahrungsdepots

241

Mittelwert an Beuteüberresten pro Nest und Nestling

Prozentsatz an Nestern mit mindestens einem Beutestück

100 80 60 40 20 0

0

14

28

42

56

70

Alter des ältesten Nestlings (Tage)

84

1,5

1,0

0,5

0

0

14

28

42

56

70

84

Alter des ältesten Nestlings (Tage)

Abb. 9.9  Häufigkeit von unverzehrten Beutestücken in Schleiereulennestern (Schweiz) in Relation zum Alter des ältesten Nestlings. Zum Schlüpfzeitpunkt wird in mehr als 80  % der Nester mindestens ein noch nicht verzehrtes Beutestück gefunden wird. Der Prozentsatz der Nester nimmt kontinuierlich ab und erreicht einen Minimalwert von 15  % (links). Zum Schlüpfzeitpunkt sind normalerweise pro Nestling mehr als 1,5 noch nicht verzehrte Beutestücke vorhanden sind (rechts)

Beutetiere, die nicht im Ganzen heruntergewürgt werden können und mehr als eine Mahlzeit darstellen: Sie können nur dann verzehrt werden, wenn Fleischstücke herausgerissen werden, und das ist für junge Schleiereulen schwierig. Manchmal kommt es wirklich vor, dass die Nestlinge 45 min lang mit einem großen Beutestück beschäftigt sind, ohne auch nur ein einziges Fleischstück verzehren zu können. Deshalb werden die kleinsten Beutetiere zuerst gefressen und die größeren erst später mit der Hilfe der Mutter oder sie bleiben einfach liegen. Während der gesamten Aufzuchtperiode verderben weniger als zwei Beutestücke und werden gar nicht gefressen. Dies zeigt, dass die Eltern pro Tag nicht mehr Beute töten als benötigt. Wenn also während der Tagesstunden Beutereste in Schleiereulennestern gefunden werden, zeigt das nicht, dass dieser Nahrungsvorrat vergeudet wird, sondern nur, dass er noch nicht aufgefressen wurde.

Wann gibt es etwas zu fressen? Menschliche Babys werden Tag und Nacht an der Brust gestillt. Babyschleiereulen verhalten sich nicht sehr viel anders: Die Mutter füttert sie häufig mit Fleischstückchen, auch hier Tag und Nacht. Aus diesem Grund befindet sich zum Zeitpunkt des Schlupfes in den meisten Nestern (80 %) mindestens ein nicht angefressenes Beutetier – beim Flüggewerden trifft das nur mehr auf 15 % der Nester zu (Abb. 9.9). Zur Schlüpfzeit enthält ein Nest durchschnittlich 4 Beutestücke, doch diese Menge kann manchmal unglaubliche Ausmaße annehmen: In den USA fand man in einem einzigen Nest bis zu 189 Beutereste in den verschiedensten Verwesungsstadien, 136 in Schottland, 79 in einem anderen Nest im Vereinigten Königreich, ferner 60 Beutestücke in einem Nest in Tschechien. Sobald die Nestlinge ohne die Hilfe der Mutter fressen können, wird ihr täglicher Nahrungsbedarf durch wenige Mahlzeiten befriedigt, in der Schweiz sind es im Durchschnitt 3,4 Wühlmäuse. Da das Verdauungssystem noch nicht so entwickelt ist, können die Nestlinge diese 3–4 Wühlmäuse nicht hintereinander und in der relativ kurzen Zeitspanne fressen, in der sie von den Eltern angeliefert werden. Dies erklärt, warum man vergleichs-

9 Brutpflege

Mittelwert von Beuteresten pro Nest

242

5

4

3

2

1

0

20

30

40

50

60

70

80

Anzahl der Brutpaare pro Jahr

Abb. 9.10  In Jahren, in denen mehr Schleiereulen brüten, werden mehr unverzehrte Beuteüberreste in Schleiereulennestern gefunden. Die Daten wurden von 1990 bis 2003 in der Schweiz erhoben

weise viele nichtgefressene Beutestücke findet. Diese Situation kennen wir zwar von vielen Tag- und Nachtgreifen, doch bei der Schleiereule kann sie besonders ausgeprägt sein: In den ersten 2,5 Stunden der Nacht schaffen die Eltern 50 % der Nahrung herbei, doch die Nestlinge verteilen ihre Mahlzeiten über die ganze Nacht. Auch wenn bei Sonnenaufgang einige Beutestücke noch nicht verzehrt sind, werden sie nach und nach bis zum Abend gefressen.

9.4.2 Offene Forschungsfragen • Nicht nur die Nestlinge fressen die Beutereste im Nest, auch die Eltern beteiligen sich. Man sollte untersuchen, wie die Beutereste innerhalb der Familie geteilt werden. • Es sollte protokolliert werden, zu welchen Zeiten jeder Nestling Nahrung verzehrt. Tatsächlich frisst jedes Individuum zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten, und dies bedeutet, dass nicht alle Geschwister gleichzeitig versuchen, das von den Eltern herbeigeschaffte Futter für sich alleine zu beanspruchen. Dadurch könnte die Geschwisterrivalität verringert werden.

9.5 Adoption 9.5.1 Romulus und Remus 77 Bei den verschiedensten Organismen kümmern sich die Eltern gelegentlich auch um

nichtverwandte Jungtiere. Beim Menschen können z. B. Säuglinge auch von anderen Frauen als der Mutter gestillt werden (Ammen), und Adoption ist häufig. Bei nesthockenden Vögeln ist eine Adoption selten, da die Nestlinge das Nest einer anderen

9.5 Adoption

243

Abb. 9.11  Eine fremde, nichtverwandte Jungeule hat sich zu einer Familie von vier jüngeren Nestlingen gesellt. Vielleicht ist dieses Individuum ins Nest geflogen, um Nahrung zu stehlen, die von den Eltern für den eigenen Nachwuchs herbeigeschafft wurde

Familie erst erreichen können, nachdem sie flügge sind. Bei der Schleiereule sind es allerdings Flügglinge, die sich die Brutpflege von Pflegeeltern „ergaunern“ – wahrscheinlich sogar häufiger als die wenigen Beobachtungen vermuten lassen.

Bei nestflüchtenden Vögeln, wie Enten und Möwen, können die Nestlinge andere Familien schwimmend oder laufend erreichen, während Nesthocker, wie Störche und Greife, erst flügge sein müssen, um ihr Geburtsnest zu verlassen und nach einer Pflegefamilie zu suchen. Warum füttern Pflegeeltern nichtverwandte Jungvögel, und warum besuchen Flügglinge andere Nester?

Eltern akzeptieren Adoptivkinder Die Brutpaare in Schleiereulenpopulationen leben gewöhnlich recht weit voneinander entfernt, was bedeutet, dass frischgeschlüpfte Eulen nur wenig Gelegenheit haben, zwischen den Nestern zu pendeln. Somit sind Berichte von der Adoption „fremder“, gerade erst flügger Eulen selten: einmal aus den Niederlanden, einmal aus den USA (in Utah) und viermal aus Deutschland. In der Schweiz fand man bei 257 Nestern (mit zweimaliger Kontrolle während der Flügglingsphase) sieben Fälle, in denen Flügglinge tagsüber nicht in ihrem Geburtsnest ruhten, sondern in einem anderen Nest (Abb. 9.11). Einer dieser zwei Monate alten Flügglinge hielt sich in einem Nest mit einmonatigen Nestlingen auf und verließ es etwa 30 min vor Beginn der Dunkelheit – lag das vielleicht daran, dass die Pfle-

244

9 Brutpflege

geeltern ihn als deutlich älteren Jungvogel direkt entdeckt hätten? Um unerkannt zu bleiben, sollte ein Flüggling daher Familien mit etwa gleich alten Nestgenossen wählen, genau das wird meistens auch beobachtet. Dies deutet an, dass eine Verwandtenerkennung (kin recognition), die auf Gefiedermerkmalen oder Lautäußerungen basiert, nicht vorhanden ist. Warum? Eine mögliche Erklärung ist, dass Adoption zu selten vorkommt, um die Evolution komplexer Mechanismen zur Verwandtenerkennung zu begünstigen. Adoptionen finden nicht nur statt, wenn Eltern fremde Nestlinge adoptieren, sondern auch, wenn sie fremde Eier adoptieren – und das müssen nicht einmal Schleiereuleneier sein! Wenn ein Schleiereulenpaar eine Nesthöhle mit einer Turmfalkenbrut (Situation in Europa) erobert, bebrütet das Weibchen die Turmfalkeneier oft zusammen mit ihrem eigenen Gelege. Sie vernachlässigt die Turmfalkeneier nicht, vermutlich, weil durchaus Verwechselungsgefahr mit den eigenen Eiern besteht. Wenn aus allen Eiern Junge schlüpfen, ziehen Schleiereuleneltern gelegentlich junge Eulen und Turmfalken erfolgreich auf.

Parasitismus? Flügglinge dringen auf der Suche nach zusätzlicher Hilfe von Pflegeeltern manchmal in andere Nester ein, z. B. wenn ihre eigenen Eltern sie nicht angemessen füttern oder tot sind. So könnte sich erklären, warum man Nestwechsler, die erst 64 Tage alt sind, in anderen Nestern fand, die nur wenige hundert Meter vom Geburtsnest entfernt lagen. In diesem Alter sind die Nestlinge noch von ihren biologischen Eltern abhängig. Der Fund einer verletzten 89 Tage alten Jungeule in einem Pflegenest bestätigt, dass manche Individuen wohl dringend nach zusätzlicher elterlicher Fürsorge suchen. Jungvögel, die die Verbindung zu den biologischen Eltern bereits gekappt haben, können zu Beginn ihrer Unabhängigkeit Schwierigkeiten bei der Jagd haben und daher versuchen, die Periode der elterlichen Fürsorge zu verlängern. Diese Nestwechsler können jedoch wirklich „alt“ (bis zu 144 Tage) sein und weit entfernt vom Geburtsnest auftauchen (bis zu 104 km). Dies lässt vermuten, dass Flügglinge auch dann noch elterliche Fürsorge suchen können, wenn sie von ihren biologischen Eltern bereits unabhängig sind. In Anbetracht dieser Informationen könnte man sich vorstellen, dass einzelne Jungvögel auch opportunistisch bei anderen Familien Nahrung stehlen, wobei es keine Rolle spielt, ob sie bereits unabhängig von ihren Eltern sind und zusätzliche Brutpflege suchen. Infantizid oder Adoption Bei den obigen Beispielen geht es um Situationen, in denen junge Individuen in eine Familie eindringen. Es gibt auch Fälle, in denen ein nichtbrütendes Männchen Nestlinge tötete oder adoptierte, um sich mit der Mutter zu verpaaren. In der Schweiz bestand bei zwei Männchen der Verdacht, dass sie eine Brut getötet hatten, um sich mit dem Weibchen fortzupflanzen. Möglicherweise hatte die Mutter nach dem Verlust ihrer ersten Brut keine andere Wahl, als ein Ersatzgelege mit dem „Killer“ zu starten, ähnlich, wie es bei Löwen häufig beobachtet wird. Doch zum Glück kann es auch friedlicher zugehen, wie ein Beispiel aus Deutschland zeigt: Ein Schleiereulenmännchen kam um, als seine Nachkommen fünf Wochen alt waren, was deren Schicksal eigentlich besiegelt hätte. Doch ein neues Männchen adoptierte die Nestlinge, zog sie auf und startete mit der Mutter im selben Nest ein neues Gelege.

Weiterführende Literatur

245

9.5.2 Offene Forschungsfragen • Man sollte die Verwandtenerkennung untersuchen, um herauszufinden, ob Eltern und Nestlinge fremde Flügglinge erkennen können. Wichtig wäre vor allem herauszufinden, ob die Fähigkeit, einen fremden Flüggling zu erkennen, vom Altersunterschied zwischen den Pflege- und den biologischen Nachkommen abhängt. • Mithilfe von GPS-Trackern kann man die Aktivität der kürzlich ausgeflogenen Vögel über lange Zeitspannen aufzeichnen. So erhält man Informationen über die Häufigkeit und Dauer von Adoptionen bzw. wie wichtig sie für das Überleben der flüggen Jungeulen sind. Falls die Flügglinge andere Nester vorwiegend nachts besuchen, könnte man anhand von GPS-Daten die Häufigkeit des Nestwechselns korrekt protokollieren. Bisher wurden alle Adoptionsfälle tagsüber (im Hellen) beobachtet, doch es könnte sogar sein, dass die meisten Nestwechsler ihre Pflegefamilien nachts heimsuchen, um sich einige Beutestücke zu sichern und anschließend in ihr Geburtsnest zurückzukehren, wo sie tagsüber schlafen. • Verhalten sich Nestwechsler auf eine ganz bestimmte Weise, um sich mit Erfolg in eine Pflegefamilie einzuschleichen? Sie könnten z. B. möglichst alle Lautäußerungen vermeiden, um nicht als Fremdling aufzufallen. • Das Nestwechseln könnte eine Methode sein, um zusätzliche Nahrungsressourcen, Obdach oder Schutz vor Prädatoren zu finden. Derartige Funktionen konnten bisher jedoch nicht eindeutig belegt werden.

Weiterführende Literatur Abschnitt 9.1 Almasi B, Roulin A, Jenni-Eiermann S, Jenni L (2008) Parental investment and its sensitivity to corticosterone is linked to melanin-based coloration in barn owls. Horm Behav 54:217–223 Durant JM (2002) The influence of hatching order on the thermoregulatory behaviour of barn owl Tyto alba nestlings. Avian Sci 2:167–173 Durant JM, Gendner J-P, Handrich Y (2004) Should I brood or should I hunt: a female barn owl’s dilemma. Can J Zool 82:1011–1016 Durant JM, Hjermann DØ, Handrich Y (2013) Diel feeding strategy during breeding in male barn owls (Tyto alba). J Ornithol 154:863–869 Epple W (1985) Ethologische Anpassungen im Fortpflanzungssystem der Schleiereule (Tyto alba Scop., 1769). Ökol Vögel 7:1–95 Langford IK, Taylor IR (1992) Rates of prey delivery to the nest and chick growth patterns of barn owls Tyto alba. In: Galbraith CA, Taylor IR, Percival SM (Hrsg) The ecology and conservation of European owls. Joint Nature Conservation Committee, Peterborough, S 101–104 Pande S, Dahanukar N (2012) Reversed sexual dimorphism and differential prey delivery in barn owls (Tyto alba). J Rapt Res 46:184–189 Roulin A, Bersier L-F (2007) Nestling barn owls beg more intensely in the presence of their mother than in the presence of their father. Anim Behav 74:1099–1106 Roulin A, Ducrest A-L, Dijkstra C (1999) Effect of brood size manipulations on parents and offspring in the barn owl Tyto alba. Ardea 87:91–100 Roulin A, Kölliker M, Richner H (2000) Barn owl (Tyto alba) siblings vocally negotiate resources. Proc R Soc Lond B 267:459–463 Roulin A, Da Silva A, Ruppli CA (2012) Dominant nestlings displaying female-like melanin coloration behave altruistically in the barn owl. Anim Behav 84:1229–1236

246

9 Brutpflege

Abschnitt 9.2 Bühler P (1980) Die Lautäusserungen der Schleiereule (Tyto alba). J Ornithol 121:36–70 Roulin A, Bersier L-F (2007) Nestling barn owls beg more intensely in the presence of their mother than in the presence of their father. Anim Behav 74:1099–1106 Roulin A, Da Silva A, Ruppli CA (2012) Dominant nestlings displaying female-like melanin coloration behave altruistically in the barn owl. Anim Behav 84:1229–1236 Thorstrom R, Hart J, Watson RT (1997) New record, ranging behavior, vocalization and food of the Madagascar red owl Tyto soumagnei. Ibis 139:477–481 Abschnitt 9.3 Baudvin H, Jouaire S (2001) Breeding biology of the barn owl (Tyto alba) in Burgundy (France): a 25 year study (1971–1995). Buteo 12:5–12 Durant JM, Gendner J-P, Handrich Y (2004) Should I brood or should I hunt: a female barn owl’s dilemma. Can J Zool 82:1011–1016 Durant JM, Gendner J-P, Handrich Y (2010) Behavioural and body mass changes before egg laying in the barn owl: cues for clutch size determination? J Ornithol 151:11–17 Durant JM, Hjermann DØ, Handrich Y (2013) Diel feeding strategy during breeding in male barn owls (Tyto alba). J Ornithol 154:863–869 Roulin A (2009) Covariation between eumelanic pigmentation and body mass only under specific conditions. Naturwissenschaften 96:375–382 Abschnitt 9.4 Baudvin H (1980) Les surplus de proies au site de nid chez la chouette effraie, Tyto alba. Nos Oiseaux 35:232–238 Kaufman DW (1973) Captive barn owls stockpile prey. J Field Ornithol 44:225 Roulin A (2004) The function of food stores in bird nests: observations and experiments in the barn owl Tyto alba. Ardea 92:69–78 Abschnitt 9.5 Charter M, Izhaki I, Roulin A (2018) The presence of kleptoparasitic fledglings is associated with a reduced breeding success in the host family in the barn owl. J Avian Biol 49:e1770 Roulin A (1999) Natural and experimental nest-switching in barn owl Tyto alba fledglings. Ardea 87:237– 245

10

Geschwisterbeziehungen

10

10.1

Timing der Nestlingsaktivitäten

10.1.1 Bloß nicht schlafen 77 Schleiereulen sind nachtaktiv, das wäre auch bei ihrem Nachwuchs zu erwarten. Als

man das Verhalten und die Gehirnaktivität der Nestlinge über 24 Stunden aufzeichnete, zeigte sich jedoch ein völlig anderes Muster als ursprünglich erwartet: Die Nestlinge schlafen nachts genauso viel wie tagsüber. Manche Verhaltensweisen (vor allem gegenseitige Gefiederpflege) sind tagsüber sogar häufiger als nachts, andere weisen zwei Aktivitätsgipfel auf, nämlich bei Sonnenuntergang und Sonnenaufgang (Abb. 10.1).

Abb. 10.1  Eine junge Schleiereule schlägt mit den Flügeln © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Roulin, Schleiereulen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62514-9_10

247

10.2  Geschwisterverhandlungen (sibling negotiations)

249

Was machen Nestlinge den lieben langen Tag? Fressen sie nachts, und schlafen sie tagsüber, wie man es von einem nachtaktiven Vogel erwarten würde, oder zeigen sie ein komplexeres Spektrum an Aktivitäten?

Nestlinge sind nicht rein nachtaktiv Erwachsene Schleiereulen sind im größten Teil ihres Verbreitungsgebiets ausschließlich nachtaktive Jäger und schaffen die gesamte Nahrung für die Nestlinge nachts herbei. Passen die Nestlinge ihre Aktivitäten an die der Eltern an? Wie Abb. 10.2 zeigt, ist dies teilweise tatsächlich der Fall: Sie konkurrieren vokal um Nahrungsressourcen (Geschwisterverhandlungen) und fressen (Nestlinge fressen) hauptsächlich nachts, und vom Einbruch der Dunkelheit bis zum Sonnenaufgang nehmen diese Aktivitäten graduell ab, genauso wie die Nahrungsversorgung durch die Eltern (Eltern füttern). Die folgenden Aktivitäten finden nachts allerdings kaum häufiger als tagsüber statt: sich bewegen und herumkrabbeln (Bewegungen der Nestlinge), das eigene Gefieder putzen (Eigengefiederpflege), nach den Geschwistern picken (Picken), mit den Flügeln schlagen (Flügelschlagen). Die gegenseitige Gefiederpflege der Geschwister (Allopreening) erfolgt tagsüber sogar häufiger als nachts. Da die Nestlinge rund um die Uhr derart aktiv sind, sollte man erwarten, dass sie nicht nur tagsüber schlafen (wie für nachtaktive Tiere üblich), sondern auch während der Nacht – tatsächlich ist der Schlaf (REM-Schlaf und Non-REM-Schlaf) ziemlich gleichmäßig zwischen Tag und Nacht verteilt. Was Bewegungen und Flügelschlagen während des Wachzustands angeht, zeigen sich zwei Aktivitätsgipfel (ungefähr zu Sonnenaufgang und Sonnenuntergang), in etwas geringerem Maß trifft dies auch auf Allopreening und Picken der Nestgeschwister zu (Abb. 10.3). Schlafarchitektur Menschen haben einige wenige Schlafepisoden pro Nacht, doch bei Vögeln ist der Schlaf in häufigere und kürzere Episoden unterteilt. Bei Eulennestlingen wurde dies mithilfe von nichtinvasiver Elektroenzephalografie gemessen: Die mittlere Dauer der Wachepisoden betrug 50,7 s (gemessen über eine 24-Stunden-Periode), die Non-REM-Schlaf-Episoden dauerten im Mittel 17,1 s und die REM-Schlaf-Episoden (Tiefschlaf) 12,0 s. Möglicherweise werden die Schlafphasen auf diese Weise unterbrochen, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, einen sich nähernden Fressfeind rechtzeitig zu entdecken.

10.1.2 Offene Forschungsfragen • Es muss nach wie vor untersucht werden, welche adaptive Funktion es hat, dass die Nestlinge tagsüber derart aktiv sind.

10.2

Geschwisterverhandlungen (sibling negotiations)

10.2.1 Diplomatie 77 Die Schleiereule ist recht ungewöhnlich, was die vielfältigen sozialen Beziehungen

der einzelnen Familienmitglieder untereinander angeht. Jeder Nestling möchte ausschließlichen Zugriff auf die herbeigeschaffte Beute haben, deshalb betteln die jungen

10 Geschwisterbeziehungen

250 Nacht

Tag‘

Prozentsatz an Nachtaktivität und Tagaktivität

100

50

ng

f

ni

Al

lo

pr

ee

ch

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-S

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EM -R

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n

0

Abb. 10.2 Fütteraktivitäten der Eltern und Aktivitäten der Nestlinge im Verlauf von Nacht und Tag (Schleiereulen in der Schweiz). Die Eltern schaffen nachts Nahrung herbei, welche die Nestlinge überwiegend nachts verzehren. Dementsprechend verhandeln die Geschwister vor allem nachts vokal um den Zugang zur Nahrung, allerdings beginnt dies schon vor Einbruch der Dunkelheit. Zwar bewegen und putzen die Nestlinge sich nachts häufiger als tagsüber, zeigen diese Aktivitäten aber auch tagsüber. NonREM-Schlaf und Allopreening der Geschwister finden tagsüber etwas häufiger als nachts statt. Tagsüber und nachts etwa gleich häufig sind zerebrale Wachheit, REM-Schlaf (d. h. Tiefschlaf), Picken nach den Geschwistern und Flügelschlagen (Aus Scriba et al. 2017)

Geschwister ihre Eltern ständig an und konkurrieren um die Nahrung, ähnlich wie alle anderen Tiere mit Brutpflege. Erstaunlicherweise verhandeln die Schleiereulennestlinge untereinander mithilfe von Lautäußerungen und legen auf diese Weise friedfertig fest, wer vorrangig Zugang zum nächsten Beutestück hat, das sich nicht aufteilen lässt (Abb. 10.4 und 10.5).

Vor 1974 galt es bei Ökologen als ausgemacht, dass Familienbeziehungen harmonisch sind; doch seither ist man übereingekommen, dass diese Interaktionen häufig konfliktreich verlaufen. Inzwischen erlebt die Idee der Harmonie jedoch eine Renaissance: Junge Nestgeschwister konkurrieren zwar um die elterlichen Ressourcen, können aber auch kooperieren. Paradigmen kommen und gehen!

Ideale Bedingungen für ein Aushandeln unter Geschwistern Ein kluges arabisches Sprichwort lautet: „Ich gegen meine Brüder, meine Brüder und ich gegen meinen Cousin, wir drei gegen die Fremden.“ In freier Natur kooperieren die jungen, noch von ihren Eltern abhängigen Nestgeschwister gelegentlich, was die Verbreitung von gemeinsamen Genen sicherstellt. Empirische Belege für eine Kooperation zwischen jungen Geschwistern sind jedoch auf wenige Arten begrenzt, da die Bedingungen, welche die Evolution einer Kooperation fördern könnten, meist recht restriktiv sind.

10.2  Geschwisterverhandlungen (sibling negotiations) Fressen

Wachzustand

Standardisiertes Aktivitätsniveau

Allopreening

251

Nacht Sonnenuntergang

Sonnenaufgang

Abb. 10.3 Aktivität von Schleiereulennestlingen in Relation zur Tages- und Nachtzeit. Die Aktivitätsniveaus wurden standardisiert, um unterschiedliche Verhaltensweisen vergleichen zu können. „Allopreening“ bezieht sich auf Nestlinge, die Geschwister mit ihrem Schnabel putzen; „Fressen“ auf Nestlinge, die Beutestücke verzehren, und „Wachzustand“ darauf, dass messbare Gehirnaktivität existiert (d. h., die Vögel schlafen nicht)

Bei der Schleiereule handeln die jungen Geschwister den vorrangigen Zugang zu den elterlichen Nahrungsressourcen lautstark aus, statt endlos zu kämpfen. So weit bekannt, ist dies bei Tieren einmalig. Damit sich eine derartige Kooperationsform ausbilden kann, müssen sechs Bedingungen erfüllt sein: 1. Verwandtschaft: Tiere können gegenüber nahe verwandten Individuen großzügiger sein als gegenüber Fremden. Zu verhandeln, statt um eine gemeinsame Ressource zu kämpfen, ist daher zwischen Vollgeschwistern wahrscheinlicher als zwischen Halbgeschwistern oder nichtverwandten Individuen. Bei der Schleiereule sind die Nestlinge normalerweise Vollgeschwister, und deshalb kann der Anreiz zum Verhandeln mit den Nestgenossen hoch sein. 2. Teure Geschwisterrivalität: Wenn die Rivalität unter den Geschwistern um die elterlichen Ressourcen zur Erschöpfung führt und – wie bei Greifen mit ihren scharfen Schnäbeln und Krallen – ein Verletzungsrisiko mit sich bringt, könnte es besser sein, einen Wettstreit friedlich zu lösen. 3. Vorhersagbarer Ausgang des Wettstreits: Warum nicht zu einer Einigung kommen, wenn man sich einem Individuum gegenüber sieht, das viel hungriger als man selbst und dazu kampfbereit ist? Eine einzelne Schleiereule frisst pro Nacht nur drei oder vier komplette Beutetiere; das bedeutet, dass ein Nestling nach dem Verzehr einer Mahlzeit eine Weile gesättigt und daher weniger bereit ist, das nächste Beutestück für sich zu beanspruchen. Der betreffende Nestling würde einem der hungrigen Geschwister eher erlauben, das nächste Beutestück zu fressen. 4. Die begehrte Nahrung ist wertvoll: Normalerweise kommt es zu Verhandlungen, wenn eine begehrte Ressource wertvoll ist. Da Schleiereulennestlinge pro Tag nur wenige

252

10 Geschwisterbeziehungen

Abb. 10.4  Geschwisterverhandlungen um die nächste Beute

Mahlzeiten verzehren, ist die jeweilige Einzelmahlzeit aus einem einzigen Kleinsäuger wertvoller als z. B. eine Mahlzeit aus Hunderten von Samen oder kleinen Evertebraten, wie es bei Singvögeln Tag für Tag üblich ist. Daher ist die Entwicklung von Verhandlungsstrategien bei der Schleiereule, deren Eltern pro Nacht etwa 20 Beutetiere ins Nest bringen, wahrscheinlicher als bei kleinen Singvögeln, deren Eltern den Nachwuchs hunderte Male am Tag füttern. 5. Teilbarkeit der Ressource: Wenn mehrere Individuen leicht an ein Stück Kuchen gelangen können, könnte es eine Herausforderung für den Einzelnen sein, den gesamten Kuchen für sich zu beanspruchen. Schleiereuleneltern bringen bei jedem Nestbesuch ein Beutetier, das nur von einem einzigen Nestling verzehrt wird. Daraus folgt, dass nur dieses Individuum für seine Anstrengungen belohnt wird (nämlich seine Geschwister zu übertrumpfen und diese Beute zu erhalten). Wenn es daher schwierig ist, eine Nahrungsressource zu monopolisieren, insbesondere eine nichtteilbare Ressource wie einen Kleinsäuger, könnte es sich als nutzlos herausstellen, mit einem hochmotivierten Geschwister in Konkurrenz zu treten, das wahrscheinlich heftig um dieses Nahrungsstück kämpfen wird. Statt stundenlang und ergebnislos zu streiten, ist es sicher besser, sich darauf zu einigen, dass das hungrigste Geschwister das nächste Beutestück verzehrt, das ins Nest gelangt, und die anderen warten, bis sie an der Reihe sind. 6. Billige Geschwisterverhandlungen: Politiker verhandeln dann einen Waffenstillstand, wenn ein Krieg zu teuer wird. Ähnlich ist es bei der Schleiereule: Verhandeln macht

10.2  Geschwisterverhandlungen (sibling negotiations)

253

Sinn, solange es die Kosten des Wettbewerbs nicht übersteigt. Geschwisterverhandlungen sollten daher keine Fressfeinde anziehen und energetisch billig sein – zumindest billiger als ein physischer Wettstreit. Geschwisterverhandlungen (sibling negotiations)

Ein gesättigtes Individuum wird sich nicht um nichtteilbare Nahrungsressourcen streiten, die es wahrscheinlich sowieso nicht bekommen kann, während ein hungriges Individuum seine Bereitschaft, um diese Ressourcen zu kämpfen, lautstark kundtun wird. Da die Jungeulen nun über den gegenseitigen Nahrungsbedarf informiert sind, können die Geschwister ihre Investition im Wettbewerb feinjustieren, indem sie sich vorübergehend aus einem Wettbewerb zurückziehen, den sie wahrscheinlich nicht gewinnen würden. Der hungrigste Nestling verhandelt intensiv und bettelt wiederum seine Eltern lautstark um Nahrung an, während die weniger hungrigen Geschwister ruhiger bleiben und auf Wettbewerb und Betteln verzichten (Abb. 10.5). So erhält das lautstärkste Individuum eine gute Gelegenheit, ohne allzu intensive Rivalität an ein Beutetier zu kommen. Der Verhandlungsprozess benötigt Zeit, da die Geschwister sich gegenseitig herausfordern, um festzustellen, wer am hungrigsten ist. Langwierige vokale Interaktionen sind nötig, um den Gewinner des Verhandlungsprozesses zu ermitteln. Sogar bei Arten wie der Schleiereule, bei denen Geschwisterverhandlungen stattfinden, könnte es Situationen geben, in denen das Aushandeln keine zusätzlichen Vorteile bringt. Ein Nestling ist möglicherweise gewillt, ein Geschwister zuerst fressen zu lassen, falls die Eltern rasch mit Futter zurückkehren. Falls die Nahrungsversorgung aber schlecht ist, könnte ein Nestling ein Verhandeln ablehnen, da die Eltern vielleicht bis zur nächsten Nacht kein weiteres Futter herbeischaffen werden. Tatsächlich ist in solchen Situationen eher ein heftiger Wettstreit um das knappe Futter angesagt, als „lieb“ zu Brüdern und Schwestern zu sein. Stress hat einen ähnlichen Effekt: Wenn Nestlinge sich gestresst fühlen (gemessen an einer Zunahme der Blutwerte für das Stresshormon Corticosteron), sind sie weniger auf stimmliche Verhandlungen aus und streiten stattdessen physisch.

Wie Geschwister verhandeln Ist für ein Aushandeln immer eine verbale Kommunikation nötig, wie bei uns Menschen? Bei der Schleiereule ist dies der Fall: Die Nestlinge stoßen kreischende Rufe aus, mit dem einzigen Sinn, ihren Hunger zu demonstrieren, und in der Hoffnung, dass die Geschwister sich dann aus dem Wettstreit ums nächste Beutestück zurückziehen. Dieser Vorgang wird als sibling negotiation (Geschwisterverhandlungen, Aushandeln unter Geschwistern) bezeichnet. Er findet statt, wenn die Eltern länger abwesend sind, da sie oft in größerer Entfernung vom Nest jagen. Wenn ein Nestling sehr hungrig ist, informiert er seine Geschwister vokal über seine Absicht, sich das nächste Beutestück durch intensiven Wettstreit alleine zu sichern. Da seinen Geschwistern klar ist, wie schwierig es würde, diese Beute zu ergattern, ziehen sie sich vorübergehend aus dem Wettstreits zurück und warten, bis dieser hungrige Nestling gefressen hat, bevor sie um das nächste Nahrungsstück konkurrieren.

10 Geschwisterbeziehungen

254 Verhandeln

Betteln

in Anwesenheit der Eltern (Verhandler bettelt am meisten)

Füttern

Eltern füttern den lautesten Nachkommen

Dritte Runde

Zweite Runde

Erste Runde

in Abwesenheit der Eltern (Hungrigster schreit am lautesten)

Abb. 10.5  Schema der Geschwisterinteraktionen vor dem Füttern und in dem Moment, in dem ein Elternvogel ein erstes nichtteilbares Beutestück bringt, das vom orangebraunen Nestling gefressen wird (erste Runde), ein zweites Beutestück, das vom grauen Nestling gefressen wird (zweite Runde), und ein drittes Beutestück, das vom blauen Nestling gefressen wird (dritte Runde). Bevor ein Elternteil das erste Nahrungsstück herbeibringt, verhandeln die Geschwister lautstark; dabei ist der orangebraune Nestling lauter als seine Geschwister. Nachdem sie ihrem insistierenden orangebraunen Geschwisterteil zugehört haben, ziehen sich der graue und der blaue Nestling vorübergehend aus dem Wettbewerb zurück und verzichten darauf, um Nahrung zu betteln. Dagegen bettelt die orangebraune Jungeule den Altvogel intensiv an, der sie daraufhin füttert. Vor dem zweiten Fütterungsbesuch verhandelt der graue Nestling intensiv und bettelt seinerseits intensiv; vor der dritten Fütterungsvisite verhandelt der blaue Nestling intensiv und bettelt seinerseits intensiv. Daher beeinflussen Geschwisterverhandlungen das Ausmaß, in dem jeder Nestling bettelt, und die Intensität des Bettelverhaltens legt fest, welches Individuum Futter vom Altvogel erhält. ZZZ = schlafender Nestling

Sobald die Eltern mit Nahrung zurückkehren, betteln die Nachkommen diese kreischend an. Der hungrigste Nestling (er hat in Abwesenheit der Eltern am intensivsten verhandelt und mehr und längere Rufe ausgestoßen als seine weniger hungrigen Nestgeschwister), bettelt

10.2  Geschwisterverhandlungen (sibling negotiations)

255

intensiver um die neue Beute. Diese Strategie funktioniert in bis zu 70 % der Fälle, da die Eltern die Nahrung vorzugsweise an den am stärksten „schreienden“ Nestling verfüttern. Sobald dieser satt ist, beruhigt er sich, wird still, und die nichterfolgreichen Geschwister, die in der vorherigen Verhandlungsperiode weniger lautstark waren und auf das Betteln verzichtet haben, nehmen wieder intensive vokale Verhandlungen auf. Das ist eine gute Strategie: Die vorher erfolglosen Individuen werden bei der nächsten Elternvisite wohl eher an die Reihe kommen, da ihr vorher hungriges Geschwister bereits gefressen hat.

Die Stärksten verhandeln und die Schwächsten konkurrieren Obwohl die ältesten und größten Schleiereulennestlinge alle Vorteile auf ihrer Seite haben und sich aufgrund ihrer Stärke nehmen können, was sie wollen, verhandeln sie, um genau zu justieren, wie und wann sie ihre Überlegenheit am besten ausspielen. Schwächere und kleinere Nestlinge können Geschwister, die mehrere Tage vor ihnen geschlüpft sind, physisch nicht übertreffen. Ihre Alternative besteht darin, mehr Energie in die geschwisterliche Kommunikation zu investieren und auf die Verhaltensantwort ihrer dominanten Geschwister zu achten, damit sie die „Erlaubnis“ erhalten, das nächste herbeigeschaffte Beutetier zu fressen. Dies funktioniert, da die älteren Nestlinge ihr Verhalten in Relation zur Art und Weise anpassen, wie die Geschwister verhandeln. So verringern ältere Nestlinge ihre Ruffrequenz in Antwort auf Playback-Stimmen stärker als jüngere Geschwister und sind auch eher bereit, das Fressen aufzuschieben. Jüngere Geschwister sind gewöhnlich hungriger als die älteren und folglich weniger bereit, sich im Wettstreit um den alleinigen Zugriff auf ein Beutestück zurückzuhalten. Das ist der Grund, warum die letztgeschlüpften Nestlinge einer Brut durch Schreien vehement zeigen, wie hungrig sie sind, gleichgültig, ob ihre älteren Geschwister ebenfalls hungrig sind. Verhandeln braucht Zeit Nach vorherigem intensivem Schreien besteht für einen Nestling eine größere Wahrscheinlichkeit, ein Nahrungsstück für sich alleine zu sichern. Warum versuchen also nicht alle Nestlinge, ständig so intensiv wie möglich zu rufen? Vermutlich ist das ziemlich ermüdend und wohl eher nicht lohnend, da der hungrigste Nestling der Brut mit Sicherheit intensiver krakeelen wird, sobald die Eltern mit Nahrung zum Nest zurückkehren. Außerdem reicht es nicht, nur einige wenige Schreie auszustoßen, um die Wettbewerbsabsicht eindeutig zu demonstrieren; dies erklärt, warum die Geschwister sich Zeit für vokale Interaktionen nehmen, während die Eltern auf Jagd sind. Denn so legen sie fest, wer den Vorzugszugriff auf die Nahrung haben wird. Die Jungeule, die es schafft, ihre Geschwister zu überzeugen, ist diejenige mit der größten Zahl an langen „Schreimonologen“. Da es lange dauern kann, bis klar ist, welches Individuum am hungrigsten ist, versucht jeder Nestling, lange Monologe zu halten. Ein Nestling stößt jede Nacht bis zu 4600 Rufe aus, die Hälfte davon in Form von kurzen bis langen Monologen. In einem Fall gab ein Individuum 1591 Rufe im Lauf von 2 Stunden von sich, ohne von seinen Geschwistern unterbrochen zu werden. Die andere Hälfte der Rufe erfolgt in einem Dialog mit den Geschwistern (Abb. 10.6 oben). Um die Führung zu übernehmen und einen Monolog zu halten, muss ein Individuum entscheiden, wann es sein rufendes Geschwister unterbrechen soll und wie es die vokale Interaktion dann

10 Geschwisterbeziehungen

256

1,2

Rufdauer (s)

1,1 1,0 0,9 0,8 0,7 0,6 0

2

4

6

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12

14

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Zeit (min) 1,2 1,1

Rufdauer (s)

1,0 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0

5

10

15

20

25

30

35

Zeit (min)

Abb. 10.6  Zwei Schleiereulengeschwister (blaue bzw. orangebraune Punkte) interagieren vokal. Jeder Punkt entspricht einem Verhandlungsruf, der während der langen Abwesenheit der jagenden Eltern ausgestoßen wird. (oben) Geschwister unterbrechen einander nicht, sondern schreien nacheinander. (unten) Geschwister setzen spezifische Debattierregeln ein, d. h., das blaue Individuum beginnt erneut zu rufen, nachdem das orangebraune Geschwister nur noch kürzere Rufe ausstößt

dominieren kann. Zu diesem Zweck nutzen Schleiereulennestlinge spezielle „Debattierregeln“ (Abb. 10.6 unten), die die Reihenfolge festlegen – ganz ähnlich wie Menschen. Wie entscheidet ein Nestling, wann er ein Geschwister unterbrechen soll, das einen langen Monolog hält? Und wie schafft es dieses Individuum anschließend, die Situation zu seinen Gunsten zu drehen, um das Plenum zu dominieren? Wenn ein Herausforderer die Führung übernehmen will, ist sein erster Ruf leise, als ob er schüchtern versuchen wollte, den Diskurs seines Geschwisters zu unterbrechen. Wäh-

10.2  Geschwisterverhandlungen (sibling negotiations)

257

rend der folgenden vokalen Interaktion antwortet der Herausforderer seinem Geschwister immer schneller und stößt insistierende (d. h. längere) Rufe aus, um es zum Schweigen zu bringen. Was sollte der Herausforderer anschließend tun, nachdem er sein Geschwister mit Erfolg zum Schweigen gebracht hat? Weiterhin intensiv schreien, um das Geschwister still zu halten, oder mit dem Verhandeln aufhören, auf die Gefahr hin, für nicht so hungrig gehalten zu werden wie anfangs vorgegeben? Der Herausforderer reduziert die Intensität des Verhandelns leicht, um einzuschätzen, ob sein Gegenüber den Wettstreit wirklich aufgegeben hat und nicht versucht, erneut loszulegen. Wenn der Rivale nicht aufgibt, nimmt er das Verhandeln wieder auf, und beide Diskutanten interagieren weiterhin vokal, wobei sie die Dauer ihrer Verhandlungsrufe aneinander anpassen. Diese vokalen Herausforderungen helfen den Geschwistern, das jeweilige relative Hungerniveau des anderen einzuschätzen; dies ist notwendig, um die jeweilige Rufintensität anzupassen. Diese alternierenden Perioden, während derer ein Individuum die Interaktion vokal dominiert, können zeitraubend sein, vor allem, wenn die Rivalen ähnlich hungrig sind. Um ein erfolgreicher Diplomat zu sein, benötigt man Zeit, Engagement und Überzeugungskunst! Ein Individuum, das vorgibt, notleidend zu sein, muss auch wirklich bedürftig sein. Verhandeln basiert auf Vertrauen, nicht nur unter Diplomaten, sondern auch unter Schleiereulen. Ein einziger Verhandlungsruf, der energetisch zu vernachlässigen ist, kann das Ausmaß des Hungers nicht reflektieren. Junge Schleiereulen müssen daher wiederholt ihre Motivation demonstrieren, wenn sie ihre Geschwister davon abbringen möchten, sich am laufenden Wettstreit weiter zu beteiligen. Deshalb erfordert das Aushandeln Zeit und beginnt oft schon tagsüber, lange vor der erstmöglichen Fütterungsvisite der Eltern. Aber wie funktioniert es? Zählen die Nestlinge die Rufe, die ein Geschwister zwischen zwei elterlichen Besuchen ausstößt, um einzuschätzen, wie hungrig es ist? Das wäre nutzlos, da im Lauf dieser Zeit viele Ereignisse dazwischenkommen könnten, darunter auch das Fressen von Beute. Stattdessen basiert die Information über das Nahrungsbedürfnis auf den Rufen, die in den unmittelbar vorhergehenden Minuten gehört wurden. Da die Nestlinge nicht vorhersagen können, wann ein Elternvogel mit Nahrung kommen wird, müssen die Geschwister fortlaufend verhandeln. Sie müssen „dranbleiben“ und die Debatte durch reine Hartnäckigkeit gewinnen!

Schleiereulen sind höflich Wie unangenehm, wenn uns eine andere Person ins Wort fällt! Dasselbe gilt für Schleiereulen, deren Nestlinge es gezielt vermeiden, gleichzeitig mit Geschwistern zu rufen, und zwar fünfmal weniger, als per Zufall zu erwarten wäre. Es ist kontraproduktiv, die Monologe eines Nestgeschwisters zu übertönen, da die Nestlinge sich gegenseitig hören müssen, um verlässliche Informationen über ihren Futterbedarf übermitteln bzw. erhalten zu können. Würden die Geschwister gleichzeitig rufen, müssten sie mehr und länger schreien, um sicherzustellen, dass die Information richtig verstanden wurde. Könnte ein Individuum die Rufe eines Geschwisters vielleicht absichtlich durch eigenes Geschrei überdecken, um dessen akustische Signale in den Hintergrund zu drängen? Anscheinend nicht, denn die Neigung der Geschwister, gleichzeitig zu rufen, steht nicht in Beziehung zu Hungerniveau und sozialer Rangordnung. Tatsächlich wird gleichzeitiges Rufen sozial geahndet, denn anhand von Playback-Experimenten zeigte sich Folgendes: Wenn ein Individuum ein Ge-

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10 Geschwisterbeziehungen

schwister unterbricht, reagiert letzteres durch noch intensiveres Rufen, was die unhöfliche Jungeule zum Schweigen bringt.

Schreien bringt nichts Schleiereulennestlinge übermitteln Informationen über ihr Hungerniveau, indem sie Anzahl und Dauer der Verhandlungsrufe modulieren. Verändern sie auch die Lautstärke ihrer Rufe? Um eine akustische Nachricht zu übermitteln, könnte es vielleicht überzeugender sein, laut zu schreien statt zu flüstern. Dies ist jedoch nicht der Fall, da gezeigt wurde, dass lautstarke Vokalisationen die Lösung eines Verhandlungsprozesses nicht verbessern. Wenn man bedenkt, dass die Jungeulen in einer engen Nesthöhle kommunizieren, müssen sie überhaupt nicht laut schreien, um die neben ihnen sitzenden Geschwister dazu zu bringen, sich aus dem Wettstreit zurückzuziehen. Geschrei ist vermutlich keine gute Idee, da es Räuber anlocken könnte. Ausspähen und individuelles Erkennen Fast wie ein militärischer Geheimdienst sammeln Schleiereulen Informationen über Dominanzstatus und Nahrungsbedürfnisse ihrer Artgenossen, bevor sie vokal mit ihnen interagieren. Zu diesem Zweck „belauscht“ z. B. ein bestimmter Nestling die Monologe von zwei anderen Nestlingen und modifiziert auf der Grundlage dieser Informationen sein eigenes Verhalten, sobald er mit einem der belauschten Geschwister konfrontiert ist. Dies setzt die Fähigkeit voraus, Nestgeschwister anhand der Stimme zu erkennen – tatsächlich sind Schleiereulennestlinge sogar für Menschen stimmlich leicht zu unterscheiden. Dieses Identifizierungsvermögen ist ferner wichtig, um zu garantieren, dass Geschwisterverhandlungen ein ehrliches Signal für Hunger darstellen. Ein mithilfe von Rufen verhandelndes Individuum sollte sicherstellen, dass die von ihm ausgestoßenen Rufe alle als seine eigenen erkannt und nicht fälschlicherweise für die Rufe eines Geschwisters gehalten werden. Andernfalls könnten die Geschwister irrtümlich annehmen, dass das rufende Individuum weniger hungrig ist, als es tatsächlich ist. Ein individueller Erkennungsmechanismus, der auf vokalen Hinweisen beruht, könnte den Nestgeschwistern auch helfen zu überprüfen, dass das aktuell erfolgreich gefütterte Individuum auch dasselbe ist, das vorher auf der höchsten Ebene verhandelt hatte. Die Konkurrenten zählen Was ist besser – ein Kampf gegen viele schwächer motivierte Konkurrenten oder gegen einen einzigen hochmotivierten Rivalen? Um diese komplexe Fragestellung zu untersuchen, wurden einem Nestling verschiedenen Playback-Rufe vorgespielt. Dabei hörte er Rufe von einem, zwei oder vier Individuen, die unterschiedlich häufig abgespielt wurden. Der Nestling traute sich eher, am Schreiwettbewerb teilzunehmen, wenn er weniger Rufe hörte, die von weniger anstatt von vielen Rivalen ausgingen. Wenn er sich vielen Rivalen gegenübersah, wurde der Wettstreits als zu scharf wahrgenommen, und der Nestling zog sich aus dem Schreiwettbewerb zurück. Schleiereulennestlinge können demnach die von verschiedenen Individuen ausgestoßenen Lautäußerungen unterscheiden und anhand dieser Informationen die Anzahl der rufenden Individuen ermitteln.

10.3 Bettelverhalten

259

10.2.2 Offene Forschungsfragen • Das Rufverhalten wurde bei Nestlingen untersucht, die bereits ohne mütterliche Hilfe fressen können. Bisher ist nichts über die vokalen Interaktionen zwischen jüngeren Geschwistern bekannt oder zwischen Eltern und ihrem jüngeren Nachwuchs. • Gibt es bei allen Tytonidae Geschwisterverhandlungen? Besteht beispielsweise bei bodenbrütenden Arten wie den Graseulen ein zu hohes Prädationsrisiko, als dass sich ein lautstarkes Aushandeln entwickeln konnte? Übrigens ist insgesamt noch nicht geklärt, wie verbreitet Geschwisterverhandlungen bei Vögeln und im übrigen Tierreich sind.

10.3 Bettelverhalten 10.3.1 Stand up and shout 77 Schleiereuleneltern beurteilen das Bettelverhalten ihres Nachwuchses, um die hung-

rigsten Nestlinge zuerst mit Futter zu versorgen, statt die Fütterungsrate den kurzzeitigen Schwankungen beim Futterbedarf der Jungeulen anzupassen, wie dies bei den meisten anderen Vögeln der Fall ist. Auch wenn die Nestlinge erst kürzlich gefressen haben, betteln sie ihre Eltern weiterhin intensiv an, als ob sie noch hungrig wären. Dies könnte Eltern dazu motivieren, die Fütterungsrate über mehrere Nächte hinweg auf hohem Niveau zu halten.

Nachkommen kommunizieren mit ihren Eltern, um Futter, Schutz und Fürsorge zu erhalten. Bereits gegen Ende der Bebrütungszeit beginnen junge Schleiereulen noch im Ei tschirpende Rufe von sich zu geben. Ähnliche Rufe werden in der ersten Woche nach dem Schlupf als Reaktion auf Kälte, physische Kontakte und Hunger ausgestoßen. In den ersten Lebenstagen reagiert die Mutter in 85 % der Fälle auf das Tschirpen der Nestlinge. Wenn die Nestlinge 18 Tage alt sind, reagiert sie nicht mehr, da diese ihre Körpertemperatur ab dann selbst regulieren können. Unterdessen geben die Nestlinge zunehmend eindringlichere Verhandlungs- und Bettelrufe von sich, um Geschwistern bzw. Eltern zu zeigen, wie hungrig sie sind.

Um Futter betteln Wie die meisten Vögel bemühen sich Schleiereulennestlinge um elterliche Aufmerksamkeit, um Nahrung zu erhalten. Sie beginnen vor ihren Geschwistern laut zu betteln, rangeln um die beste Position im Nest, strecken ihren Hals weit empor, um die Eltern abzufangen, und flattern mit den Flügeln, um die Geschwister aufzustören. Hungrige Nestlinge zeigen diese übertriebenen Verhaltensweisen stärker als gesättigte Jungeulen, was erklärt, warum die Eltern die auffälligsten Nestlinge zuerst füttern (Abb. 10.7). Allerdings ist die Schleiereule unter den Vögeln recht ungewöhnlich. Bei den Arten (z. B. Körnerfressern), bei denen die Eltern mehrere Küken pro Nestbesuch füttern und dabei mehrere Körner mitbringen, steigern die Nestlinge das Bettelverhalten im typischen Fall immer mehr. Sobald ein Individuum auffällig bettelt, versuchen seine Geschwister es zu übertrumpfen, um an die Ex-

260

10 Geschwisterbeziehungen

Abb. 10.7 Welchem Nestling soll der Altvogel ein Beutetier geben? Üblicherweise wird der größte Schreihals zuerst gefüttert

trakörner zu gelangen – ein endloser Prozess, fast wie ein Wettrüsten. Bei der Schleiereule ist die Situation umgekehrt; hier verzichten die Nestlinge aufs Betteln (statt es zu steigern), da die Geschwister ja vorher bereits intensiv verhandelt haben. Obwohl die jüngsten Individuen einer Brut gewöhnlich hungriger als ältere Geschwister und folglich lautstärker sind, geben die älteren Geschwister die Richtung vor, und die jüngeren folgen. Das beste Anzeichen dafür, welcher Nestling gefüttert wird, ist die Rufintensität, mit der die älteren Geschwister die Eltern begrüßen. Hingegen sind das Betteln und die Position jüngerer Geschwister innerhalb der Nisthöhle (d. h. in der Nähe oder weit entfernt vom Nesteingang, wo die Eltern mit Nahrung ankommen) nur ein schlechter Indikator für das Resultat des Geschwisterwettstreitss. Wenn man das geringe Resource Holding Potential (RHP, entspricht etwa Durchsetzungsvermögen) jüngerer Geschwister bedenkt, können sie ihre älteren Geschwister physisch nicht aus dem Feld schlagen. Daher ermitteln die jüngeren Nestlinge, ob ihre älteren Geschwister bereit sind, auf das demnächst verfügbare Nahrungsstück zu verzichten, bevor sie versuchen, es für sich zu beanspruchen. Zu diesem Zweck verhandeln die jüngeren Geschwister vokal und berücksichtigen die Informationen aus dieser Verhandlung, um nur dann lautstark zu betteln, wenn sie eine realistische Chance auf Monopolisierung der Nahrung haben – wenn die älteren Geschwister also auf Verhandeln und anschließend auf Betteln verzichten. Ältere Geschwister könnten sich das Objekt der Begierde sehr einfach mit brutaler Kraft sichern, doch derart aggressives Verhalten ist anstrengend und potenziell gefährlich. Unabhängig davon, ob ihre jüngeren Geschwister Nahrung benötigen oder nicht, verhandeln und betteln auch ältere Jungeulen intensiv, um ihre jüngeren Geschwister von einem direkten Wettstreit um die Beute abzuhalten. Sogar der Stärkste kann durch Verhandeln nur gewinnen.

10.3 Bettelverhalten

261

Elterliches Füttern und Nahrungszuteilung innerhalb der Brut Schleiereuleneltern passen die Fütterungsrate zwar nicht an kurzfristige Schwankungen im Hungerlevel der Nestlinge an (d. h., wenn Nestlinge lauter betteln, erhöhen die Eltern die Fütterungsrate nicht – zumindest nicht rasch und nicht in hohem Maße), doch sie beurteilen das Betteln der einzelnen Nestlinge, um zu entscheiden, wem von ihnen sie das frisch gefangene Beutestück geben sollen. Da die Eltern ihren Nachwuchs zu Beginn jeder Nacht mit Nahrung versorgen, kann sich die Beute schneller ansammeln, als die Nestlinge sie fressen können. Sollen die Nestlinge deshalb mit dem Betteln aufhören, nachdem sie etwas gefressen haben und zumindest momentan gesättigt sind? Tatsächlich betteln die Nestlinge lautstark weiter (Abb. 10.8), obwohl sie nicht hungrig sind, und erhalten von ihren Eltern auch weiter Nahrung, wie in den USA und Europa beobachtet wurde. Auch wenn die angelieferte Beute nicht sofort gefressen wird, betteln satte Nestlinge möglicherweise deshalb weiter, damit die Eltern motiviert sind, ihre intensiven Jagdaktivitäten bis zum Ende der Aufzuchtzeit beizubehalten. Satte Nestlinge können auch lautstark betteln, um Beutestücke zu erhalten, auf die sie sich dann (im wahrsten Sinne des Wortes) setzen, um sie später zu fressen und die Geschwister am Diebstahl zu hindern. Das Bettelverhalten der Schleiereulennestlinge ist in seinen Einzelheiten jedoch nach wie vor nicht vollständig aufgeklärt. Vor der Rückkehr der Eltern Beim Wettstreit um die Beute können die Nestlinge entweder mit ihren Geschwistern streiten oder die Aufmerksamkeit der Eltern erregen – beides gleichzeitig könnte aber schwierig sein. Während die Nestlinge auf ihre Eltern warten, richten sie sich in Erwartung von frischer Nahrung in 80 % der Zeit zum Nesteingang aus und blicken nur in 40 % der Zeit zu ihren Geschwistern. Nur bei 9 % der Beobachtungen schauten die Nestlinge auf ihre Geschwister, ohne gleichzeitig den Nesteingang sehen zu können, während sie in 43 % der Fälle nur den Nesteingang und nicht die Geschwister im Blick hatten. Es ist daher für die Nestlinge anscheinend wichtiger, mit ihren Eltern per Blickkontakt zu kommunizieren, statt mit den Geschwistern. Das ist nicht überraschend: Um Informationen über den Hungerstatus zu übermitteln, müssen Verhandlungsrufe nämlich nicht unbedingt laut sein und daher nicht unmittelbar neben oder vor Geschwistern ausgestoßen werden – doch die Nahrung gibt es nur direkt aus dem Schnabel der Eltern. Dieses generelle Muster variiert etwas zwischen den jüngeren und älteren Geschwistern. Wenn jüngere Geschwister sich in der Nähe des Nesteingangs befinden und auf das Abfangen eines Altvogels warten, blicken sie häufiger zum Eingang als ihre älteren Geschwister. Falls eine baldige Beutelieferung also sehr wahrscheinlich ist, sind die jüngeren Geschwister aufmerksamer als ihre älteren Geschwister, damit sie die Ankunft des Altvogels schneller entdecken. Ältere Geschwister, die sich im hinteren Teil des Nests befinden, blicken vergleichsweise häufiger zu ihren jüngeren Geschwistern als diese in der entsprechenden Situation. Wenn es relativ unwahrscheinlich ist, dass bald Nahrung herangeschafft wird, bleiben die älteren Geschwister daher wachsam, um zu sehen, was ihre jüngeren Geschwister gerade tun.

262

10 Geschwisterbeziehungen

Abb. 10.8  Schleiereulennestlinge betteln ihre Eltern heftig und lauthals um Nahrung an

10.3 Bettelverhalten

263

10 Geschwisterbeziehungen

264

10.3.2 Offene Forschungsfragen • Auch wenn die Nestlinge zum aktuellen Zeitpunkt nicht hungrig sind, betteln sie lautstark weiter, bis die Eltern das gesamte Futter herangeschafft haben, das für die Nacht benötigt wird. Dies könnte erklären, warum die Eltern die Fütterungsrate nicht oder nur wenig an kurzfristige Schwankungen im Hungerstatus des Nachwuchses anpassen. Möglicherweise ermitteln die Eltern über das Betteln der Kinder den täglichen Nahrungsbedarf, den sie von Nacht zu Nacht, aber nicht direkt in derselben Nacht anpassen. Mit anderen Worten: Wenn die Nestlinge ihre Bettelintensität in einer Nacht reduzieren (oder erhöhen), könnten die Eltern die Fütterungsrate im Lauf von mehreren Nächten reduzieren (oder erhöhen), jedoch nicht direkt in derselben Nacht. Um diese Möglichkeiten zu untersuchen, sollte man die Bettelrate der Jungeulen und die Fütterungsrate der Eltern über viele Nächte aufzeichnen und so ermitteln, ob die in einer Nacht aufgezeichnete Bettelrate mit der Fütterungsrate der folgenden Nächte korreliert ist. • Wenn Nestlinge erst kürzlich gefressen haben, verhandeln sie deutlich weniger mit ihren Geschwistern, verringern jedoch nicht die Anzahl der ausgestoßenen Bettelrufe. Es ist daher wichtiger, das aktuelle Hungerniveau den Geschwistern präzise zu signalisieren als den Eltern. Dadurch ergibt sich folgende Möglichkeit: Falls Verhandlungsrufe den Kurzzeit-Nahrungsbedarf signalisieren (d. h. das Schwanken des Nahrungsbedarfs im Lauf einer einzigen Nacht), könnte das Betteln den Langzeit-Nahrungsbedarf widerspiegeln (d. h. über mehrere Tage). Diese Interpretation sollte man gezielt prüfen. • Die Rolle der Geschwisterverhandlungen beim Bettelverhalten ist untersucht worden, der umgekehrte Fall jedoch noch nicht.

10.4

Nahrungsdiebstahl unter Geschwistern

10.4.1 Gauner und Gentleman 77 Verglichen mit anderen Greifen sind Schleiereulen erstaunlich friedfertig. Tote Nest-

linge werden zwar häufig gefressen (Kannibalismus), doch Infantizid und Siblizid (Geschwistermord) sind selten. Als einzige häufige Form von aggressivem Verhalten kennen wir den Nahrungsdiebstahl unter Geschwistern.

Häufigkeit des Diebstahls Daten von in der Schweiz beobachteten Schleiereulennestern zeigen, dass die Nestlinge bei 3–10 % der elterlichen Fütterungsbesuche Beutestücke von ihren Geschwistern stehlen (Abb. 10.9). Am häufigsten finden diese Diebstähle zu Beginn der Nacht statt, wenn die Nestlinge hungrig sind. Da es für jüngere Geschwister schwieriger ist, Futter von ihren Eltern zu erhalten, kompensieren sie diesen Nahrungsmangel, indem sie Beute von ihren älteren Geschwistern stehlen. Diese Diebereien passieren am häufigsten, wenn „Schummler“ an Futter gelangen, ohne vorher vokal mit den Geschwistern verhandelt zu haben. Die „düpierten“ Verhandler stellen die Gerechtigkeit wieder her, indem sie Beute von diesen Schummlern stehlen.

10.4  Nahrungsdiebstahl unter Geschwistern

265

Abb. 10.9  Der Nestling links versucht Nahrung zu stehlen, die sein Geschwister gerade erst von einem Altvogel erhalten hat

Verhindern des Diebstahls Es gibt wirkungsvolle Taktiken zum Verhindern von Nahrungsdiebstahl, denn nur ein Drittel der Raubversuche ist erfolgreich. Die Nestlinge stoßen ein Abwehrzischen aus, schützen die Nahrung mit ihren Flügeln, drehen den anderen während des Fressens den Rücken zu, verstecken Beutestücke in dunklen Ecken der Nisthöhle oder sitzen sogar bis zum späteren Verzehr darauf. Die Beute kann auch im Ganzen rasch verschlungen werden – das ist die beste Taktik für Nestlinge, die älter als zwei Wochen sind. Eulen sind erstaunlich schnell im Verschlingen von Beute: Der ganze Vorgang dauert im Mittel nur 3,5 min, während es 8 min (im Maximum 19 min) dauert, bis ein Beutetier Stück für Stück gefressen ist. So erklärt sich, warum die Beute zu Beginn der Nacht häufig im Ganzen verschlungen wird – nämlich direkt, nachdem tagsüber gefastet wurde, ferner, wenn die Geschwister intensiv rufen, um ihren Hungerstatus anzuzeigen, und wenn Gefahr besteht, dass die Beute gestohlen wird. Als Kinder haben wir gelernt, Fleisch klein zu schneiden, damit es besser verdaulich ist. Die bessere Verdaulichkeit erklärt möglicherweise, warum ältere Nestlinge die Nahrung zerteilen und kleinere Mahlzeiten über die Nacht verteilen. Die jüngeren Geschwister tun das seltener, denn sie sind erst im Alter von etwa 26 Tagen in der Lage, Beutetiere zu zerkleinern und Fleischstücke abzureißen. Falls nur Teile des Beutestücks verzehrt werden, besteht zudem akute Gefahr, dass der Rest gestohlen wird. Mit dem Fressen zu beginnen, die Beute dann aufzusparen und später weiterzufressen – einen solchen „Luxus“ können sich nur die durchsetzungsfähigsten älteren Nestlinge erlauben. Kannibalismus, Infantizid und Siblizid Schleiereulen verteidigen Nistplatz, Partner und Nachwuchs zwar vehement, sind aber ansonsten ruhig und friedfertig. Für einen Beutegreifer ist das bemerkenswert. Wilde Altvögel, die gemeinsam in menschlicher Obhut leben, gehen sich z. B. aus dem Weg oder zeigen friedfertiges Verhalten, wie Fremdputzen (Allopreening). Von 202 protokollierten

10 Geschwisterbeziehungen

266

Abb. 10.10 Kannibalismus ist zwar häufig, doch Siblizid ist bei der Schleiereule selten

sozialen Interaktionen waren nur 13 (6,4 %) von aggressiver Natur; eine Eule ergriff ihren Gegner dabei mit den Füßen. Junge Schleiereulen verhalten sich ähnlich. Die Nestlinge können zwar tatsächlich ihre Geschwister auffressen (Kannibalismus), doch der Tod erfolgt viel häufiger durch Verhungern und fast niemals durch Siblizid (Geschwistermord) (Abb. 10.10). Es gibt auch nur wenige Berichte von Eltern, die reglosen Nachwuchs töten oder Eier zerstören und auffressen.

10.4.2 Offene Forschungsfragen • Bevorzugen Schleiereulenküken bestimmte Beutespezies oder Körperteile? Man könnte dies untersuchen, indem man den Nestlingen eine Auswahl an Beutearten anbietet.

10.5

Nahrung mit Geschwistern teilen

10.5.1 Großzügigkeit 77 Bei Vögeln kommt es eher selten vor, dass Geschwister ihre Nahrung teilen, doch bei

der Schleiereule ist es üblich. Nachdem die älteren Geschwister am Beginn der Nacht mehrere Beutetiere gefressen haben, füttern sie die jüngeren Nestlinge mit bis zu vier Beutestücken pro Nacht. Wenn die Geschwister ihre Nahrung teilen (Abb. 10.11), entlastet dies möglicherweise die Eltern bei der Brutpflege der jüngeren Geschwister am Nest, und die Eltern können daher länger auf Jagd gehen. Dieses altruistische Ver-

10.5  Nahrung mit Geschwistern teilen

267

Abb. 10.11  Schleiereulennestlinge können großzügig sein und ihre jüngeren Geschwister füttern

halten dürfte außerdem die Überlebenschancen der jüngeren Geschwister erhöhen, wodurch indirekt die Verbreitung von Genen gefördert würde, die die jüngeren mit den altruistischen älteren Geschwistern gemeinsam haben.

Das Teilen von Nahrung ist bei eusozialen Insekten weit verbreitet, bei anderen Tieren jedoch selten – die Schleiereule gehört zu den wenigen Ausnahmen. Die Untersuchung dieses Verhaltens bei nichtmenschlichen Organismen liefert wichtige Informationen über die Evolution von Sozialverhalten und Verwandtenselektion, bei der sich die verwandten Individuen altruistisch verhalten.

Häufigkeit des Futterteilens Schleiereulennestlinge können ihren Geschwistern jede Nacht bis zu vier Beutestücke „schenken“; im Durchschnitt wird eins von acht Beutetieren verschenkt. Der Schenkende geht zum prospektiven Beschenkten und lässt die Beute zu dessen Füßen fallen oder übergibt sie (allerdings seltener) von Schnabel zu Schnabel; in diesem Fall übernimmt der Nestling die Beute ohne weitere Reaktion (also nichtaggressiv). Normalerweise sind es die ältesten Nestlinge, die großzügig sind, vor allem zu Beginn der Nacht, wenn die jüngeren Geschwister hungrig sind. Dieses altruistische Verhalten hat jedoch Grenzen: Die älteren Geschwister teilen ihre Nahrung nur, nachdem sie selbst ein paar Beutestücke gefressen haben. Paradoxerweise findet ein Futterteilen vor allem in Bruten statt, deren ältere Individuen superdominant sind und von den Eltern den Löwenanteil der Beutestücke erhalten, selbst dann, wenn sie nicht hungrig sind. Liegt das daran, dass ältere Geschwister die meiste Nahrung monopolisieren oder dass die Eltern dem ältesten Nestling bevorzugt Futter zuteilen? Wie auch immer, ältere Geschwister sind nur großzügig, wenn die Kosten für einen

268

10 Geschwisterbeziehungen

Beuteverzicht gering sind, d. h., wenn die Eltern mehr Nahrung abliefern, als gefressen wird, oder wenn zahlreiche noch nicht verzehrte Nahrungsstücke übrig sind. Ältere Nestlinge besitzen daher anscheinend irgendeinen Sinn für Gerechtigkeit, da sie die Nahrung unter ihren „Brüdern und Schwestern in Not“ verteilen. Dieses Verhalten ist angeboren und ausgeprägt, denn auch im Brutkasten geschlüpfte Eulen teilen ihr Futter, selbst wenn sie niemals ihre fütternden Eltern zu Gesicht bekommen, und manche versuchen sogar, Geschwister zu füttern, die schon satt sind.

Verwandtenselektion Möglicherweise entwickelte sich das Futterteilen bei der Schleiereule, um die häufige Abwesenheit der Mutter vom Nest zu kompensieren – denn sie ist auf Jagd, obwohl die jüngeren Nestlinge noch ihre Hilfe beim Fressen benötigen. Um viele Nachkommen in derart unterschiedlichen Altersstadien zu versorgen, muss die Mutter sich an der Nahrungssuche beteiligen, kann sich aber nicht gleichzeitig um die jüngsten Nachkommen im Nest kümmern. Die Mutter kann außerdem permanent abwesend sein, falls sie eine zweite Jahresbrut gestartet hat. Manchmal geschieht dies sogar schon, wenn das Nesthäkchen der Brut erst 20 Tage alt ist und noch Fürsorge benötigt. Aus Sicht der Mutter ist es daher hochwillkommen, wenn der älteste Nestling bei der Versorgung des jüngsten mithilft. Doch warum sollte der ältere Nestling eine derartige Verhaltensweise zeigen? Warum sollten ältere Geschwister Nahrung mit ihren jüngeren Geschwistern teilen, die ihrerseits oft versuchen, ihnen das Futter zu stehlen? Eine Erklärung könnten „gegenseitige Gefälligkeiten“ sein, nach dem Prinzip der Reziprozität. In Bruten mit drei Jungen wurde beispielsweise beobachtet, dass die Nestlinge dem Geschwister, das vorher Nahrung „verschenkt“ hatte, mehr Beutestücke überließen als dem anderen Geschwister, das nichts abgegeben hatte. Die Großzügigkeit funktioniert also anscheinend nach dem Motto: „Ich füttere dich jetzt nur, wenn du mich später fütterst!“ Reziprozität kann jedoch nicht der einzige Grund sein, warum Geschwister Nahrung teilen, denn sie erklärt nicht, warum ältere Geschwister häufig jüngere Geschwister füttern, die das Futter eher stehlen, als es zu teilen. Eine Antwort ist die Verwandtenselektion (englisch kin selection). Ältere Geschwister können einen so genannten (Gesamt-Fitnessnutzen (englisch inclusive fitness benefits) haben, indem sie ihren jüngeren Geschwistern helfen – vor allem, wenn diese hungrig sind und lautstark um Nahrung bitten, wie in der Schweiz gezeigt werden konnte. Indem sie die jüngeren Geschwister füttern, können die älteren Nestlinge die Überlebensaussichten der jüngeren erhöhen; diese können ihrerseits zusätzlich ihre gemeinsamen Gene verbreiten: In Nestern, in denen das Futterteilen besonders häufig war, hatten die Nestlinge eine höhere Überlebensrate als in Nestern, in denen die älteren Nestlinge weniger großzügig waren.

10.5.2 Offene Forschungsfragen • Ältere Nestlinge teilen Futter mit den jüngeren Geschwistern, die weniger Fürsorge von der Mutter erhalten. Möglicherweise hat es Auswirkungen auf die weitere Entwicklung, wenn ein Teil der Fürsorge von den Geschwistern statt von der Mutter kommt – diese Möglichkeit wurde für die Schleiereule bisher nicht in Erwägung gezogen.

10.6  Gegenseitige Gefiederpflege

10.6

269

Gegenseitige Gefiederpflege

10.6.1 Kraulst du mich, kraul ich dich 77 Sogenanntes Fremdputzen (Allopreening) bringt gegenseitigen Nutzen für den

„Putzer“ und den „Geputzten“. Wenn eine Schleiereule die Körperteile eines anderen Individuums reinigt, die dieses nur schwer erreichen kann, so dient dies nicht nur der Entfernung von Ektoparasiten, sondern auch der sozialen Körperpflege. Im Nest beruhen diese Gefälligkeiten auf Gegenseitigkeit: Ein Nestling wird ein Geschwister eher putzen, das ihn vorher auch geputzt oder Nahrung mit ihm geteilt hat.

Menschen umarmen sich, Schimpansen kraulen sich gegenseitig den Rücken und Schleiereulen putzen das Gefieder von Partner und Geschwistern (Abb. 10.12). Diese Zärtlichkeit zeigt, wie friedfertig und liebenswürdig Schleiereulen sein können.

Fremdputzen unter Altvögeln Allopreening ist zwischen fest verpaarten Partnern ganzjährig üblich, dabei ist das Weibchen fürsorglicher als das Männchen. Während des Allopreenings geben die Brutpartner „schnurrende“ oder „tschirpende“ Laute von sich, um Beachtung einzufordern. Allopreening kann der Entfernung von Ektoparasiten an schwer erreichbaren Körperteilen dienen, z. B. an Kopf und Rücken. Es kann ferner durch den angenehmen Massageeffekt soziale Bindungen stärken. Die soziale Funktion des Allopreenings ist anscheinend wichtig: Dies zeigte sich bei Eulen in Volierenhaltung, bei denen man ein Allopreening der Neuzugänge beobachtet hat.

Abb. 10.12  Schleiereulengeschwister putzen sich oft gegenseitig

270

10 Geschwisterbeziehungen

Fremdputzen unter Nestlingen Schleiereulennestlinge zeigen komplexe soziale Interaktionen, wie Geschwisterverhandlungen, Futterteilen und Allopreening. Die Nestlinge kümmern sich anscheinend zunächst um sich selbst, denn das eigene Putzen ist achtmal häufiger als das Allopreening der Geschwister. Das eigene Putzen ruft offenbar Allopreening hervor, denn ein Individuum ist eher bereit, ein Geschwister fremdzuputzen, wenn dieses sich bereits selbst putzt. Warum sollte ein Nestling das Gefieder seiner Geschwister putzen, wenn er sich „selbstsüchtig“ um die eigene Körperpflege kümmern könnte? Die Hauptfunktion eines solchen Verhaltens hat möglicherweise wenig oder gar nichts mit der Verbreitung gemeinsamer Gene zu tun, denn es ist eher unwahrscheinlich, dass Allopreening das Überleben von Geschwistern direkt fördert. Möglicherweise besitzt Allopreening zudem keine wichtige hygienische Funktion, da Ektoparasiten sich selten am Kopf, Rücken und Hals befinden – doch drei Viertel des Allopreenings betreffen diese Körperregionen. Wahrscheinlicher erscheint die Erklärung, dass Allopreening den Stresslevel vermindert, indem es als entspannende Massage wirkt und so die Blutkonzentrationen des Stresshormons Corticosteron reduziert. Vermutlich putzen jüngere Nestlinge aus diesem Grund (nämlich um die älteren zu beruhigen) häufiger das Gefieder der älteren Geschwister als umgekehrt. Folglich würden „Putzer“ und „Geputzter“ beidseitig vom Allopreening profitieren. Allopreening ist eine „Dienstleistung“ für Geschwister, eine Art von gegenseitigem Gefallen. Ein Nestling wird ein Geschwister eher fremdputzen, wenn er von diesem später im Gegenzug auch geputzt wird. Auch andere Gefälligkeiten können ausgetauscht werden, z. B. Allopreening gegen Nahrung (ähnlich wie bei Primaten): Eine Schleiereule wird nachts eher Beute an ein Nestgeschwister weitergeben, von dem sie tagsüber fremdgeputzt wurde. Dies würde eine weitere mögliche Erklärung beisteuern, warum jüngere Nestlinge die älteren (die ihr Futter eher als die jüngeren teilen) fremdputzen. Die sozialen Interaktionen zwischen den einzelnen Mitgliedern einer Schleiereulenfamilie sind faszinierend!

10.6.2 Offene Forschungsfragen • Allopreening könnte mehrere sich nicht gegenseitig ausschließende Funktionen haben, wie das Beruhigen von Individuen, die Reduktion der sozialen Aggression, Hilfe beim Etablieren einer Rangordnung oder dem Entfernen von Ektoparasiten. Man sollte die relative Wichtigkeit dieser potenziellen Funktionen untersuchen. • Eulen sind zwar erwartungsgemäß nachtaktiv, doch die Nestlinge putzen ihre Geschwister tagsüber häufiger als nachts. Der Grund ist unbekannt und sollte ermittelt werden. • Auch die Hypothese, dass Allopreening Stresslevel reduziert, sollte gezielt untersucht werden. Postuliert wird, dass Allopreening in Bruten mit stressigeren Interaktionen häufiger ist, ferner bei Individuen mit höheren Corticosteron-Blutkonzentrationen.

10.7  Soziales Kuscheln

10.7

271

Soziales Kuscheln

10.7.1 Eiskalt 77 Bei kaltem Wetter können Tiere sich zum gegenseitigen Wärmen dicht aneinander-

drängen. Schleiereulennestlinge sind keine Ausnahme, denn sie „kuscheln“ aktiv, insbesondere die jüngsten Individuen. Die letztgeschlüpften Nestlinge sind kleiner, ihr Federkleid ist schwächer entwickelt, ihre Gesundheit ist fragiler als bei den älteren Geschwistern – folglich ist es für sie schwerer, eine konstante Körpertemperatur aufrechtzuerhalten. Indem die älteren Nestlinge nahe bei ihren jüngeren Geschwistern bleiben, entlasten sie ihre Mutter, die dann nicht hudern muss und mehr Zeit für die Nahrungssuche hat.

Physiologische Prozesse sind im Allgemeinen für einen engen Bereich der Körpertemperatur optimiert. Um eine konstante Körpertemperatur aufrechtzuerhalten, sind spezielle physiologische und verhaltensbiologische Prozesse notwendig, insbesondere bei jungen Vögeln in der Wachstumsphase. Nestlinge teilen das Nest, und manchmal ist so wenig Platz, dass es ohne Aneinanderdrängen („Kuscheln“) nicht geht (Abb. 10.13). In der großen Schleiereulennesthöhle ist dieses Kuscheln dagegen etwas, das die am heftigsten frierenden Individuen aktiv auslösen, indem sie sich an ihre Geschwister drängen.

Abb. 10.13  Kaum Platz im Nest

272

10 Geschwisterbeziehungen

Soziales Kuscheln (social huddling) In einem bestimmten Bereich der Außentemperatur kann ein Tier seine Körpertemperatur aufrechterhalten, ohne die metabolische Wärmeproduktion (zum Aufwärmen) oder den Wärmeverlust durch Verdunstung (zum Abkühlen) verändern zu müssen. Diese „Zone des thermischen Wohlbefindens“ ist bei den erstgeschlüpften Schleiereulennestlingen nicht so eng begrenzt wie bei den letztgeschlüpften (20–31 °C gegenüber 21–28 °C). Bei den zuletzt geschlüpften Nestlingen ist das Gefieder nämlich noch nicht so gut entwickelt, und sie haben größere Schwierigkeiten, ihre Körpertemperatur physiologisch zu regulieren. Dies liegt unter anderem daran, dass sie weniger zu fressen bekommen als ihre sozial dominanten älteren Geschwister. Bei abnehmender Außentemperatur müssen die jüngeren Nestlinge ihr Verhalten ändern, indem sie sich eng an die älteren Geschwister kuscheln, um ihre eigene Körpertemperatur konstant zu halten (Abb. 10.14). Bei endothermen Tieren (homoiothermen oder „warmblütigen“ Tieren, die ihre Körpertemperatur metabolisch innerhalb der Zone des thermischen Wohlbefindens halten) kann der Energieaufwand durch soziales Kuscheln (social huddling) um 6–53 % reduziert werden. So erklärt sich, warum Schleiereulennestlinge derart viel Zeit dich aneinandergedrängt verbringen – innerhalb von 24 Stunden durchschnittlich 78 % (maximal 97 %) der Zeit. Das Kuscheln ist vor allem bei kaltem Wetter häufig („Wärmepyramide“), wenn die Nestlinge eigentlich von der Mutter gehudert werden müssten und mehr fressen sollten,

Abb. 10.14  Bei niedriger Außentemperatur drängen sich die Schleiereulengeschwister dicht aneinander

Weiterführende Literatur

273

um ein Absinken der Körpertemperatur zu verhindern. Doch wie soll die Mutter gleichzeitig jagen (außerhalb des Nests) und die Küken hudern (innerhalb des Nests)? In diesem Dilemma bieten die älteren Nachkommen eine Lösung des Problems an, indem sie die Abwesenheit der Mutter durch Kuscheln mit den jüngeren Geschwistern kompensieren.

10.7.2 Offene Forschungsfragen • Wenn sich alle Geschwister aneinanderdrängen, werden die Nestlinge im Zentrum der Gruppe gewärmt. Rivalisieren die Nestlinge um diese Position oder rotieren sie, so dass jedes Individuum eine gewisse Zeit in der Mitte der Gruppe verbringen kann? Möglicherweise verbringen die jüngsten Nestlinge, für die das physiologische Regulieren der Körpertemperatur schwieriger ist, mehr Zeit im Zentrum als die älteren Geschwister. Dies sollte untersucht werden.

Weiterführende Literatur Abschnitt 10.1 Scriba M, Ducrest A-L, Henry I, Vyssotski AL, Rattenborg N, Roulin A (2013) Linking melanism to brain development: expression of a melanism-related gene in barn owl feather follicles predicts sleep ontogeny. Front Zool 10:42 Scriba M, Dreiss AN, Henry I, Béziers P, Ruppli C, Ifrid E, Ducouret P, Da Silva A, des Monstiers B, Vyssotski AL, Rattenborg NC, Roulin A (2017) Nocturnal, diurnal and bimodal patterns of locomotion, sibling interactions and sleep in nestling barn owls. J Ornithol 158:1001–1012Tyto alba Durant JM, Gendner J-P, Handrich Y (2004) Should I brood or should I hunt: a female barn owl’s dilemma. Can J Zool 82:1011–1016 Durant JM, Hjermann DØ, Handrich Y (2013) Diel feeding strategy during breeding in male barn owls (Tyto alba). J Ornithol 154:863–869 Epple W (1985) Ethologische Anpassungen im Fortpflanzungssystem der Schleiereule (Tyto alba Scop., 1769). Ökol Vögel 7:1–95 Langford IK, Taylor IR (1992) Rates of prey delivery to the nest and chick growth patterns of barn owls Tyto alba. In: Galbraith CA, Taylor IR, Percival SM (Hrsg) The ecology and conservation of European owls. Joint Nature Conservation Committee, Peterborough, S 101–104 Pande S, Dahanukar N (2012) Reversed sexual dimorphism and differential prey delivery in barn owls (Tyto alba). J Rapt Res 46:184–189 Roulin A, Bersier L-F (2007) Nestling barn owls beg more intensely in the presence of their mother than in the presence of their father. Anim Behav 74:1099–1106 Roulin A, Ducrest A-L, Dijkstra C (1999) Effect of brood size manipulations on parents and offspring in the barn owl Tyto alba. Ardea 87:91–100 Roulin A, Kölliker M, Richner H (2000) Barn owl (Tyto alba) siblings vocally negotiate resources. Proc R Soc Lond B 267:459–463 Roulin A, Da Silva A, Ruppli CA (2012) Dominant nestlings displaying female-like melanin coloration behave altruistically in the barn owl. Anim Behav 84:1229–1236 Abschnitt 10.2 Dreiss AN, Ruppli CA, Faller C, Roulin A (2013) Big Brother is watching you: eavesdropping to resolve family conflicts. Behav Ecol 24:717–722Tyto alba Dreiss AN, Ruppli CA, Oberli F, Antoniazza S, Henry H, Roulin A (2013) Barn owls do not interrupt their siblings. Anim Behav 86:119–126

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10 Geschwisterbeziehungen

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11

Populationsstruktur

11

11.1

Abwandern vom Geburtsort (natal dispersal)

11.1.1 Das Gras auf der anderen Seite des Hügels ist immer grüner 77 Juvenile Schleiereulen wandern von ihrem Geburtsort ab und suchen eine neue Hei-

mat, wo es genügend Nahrung gibt, um erfolgreich eine Familie aufzuziehen. Diese Reise – von wenigen hundert Metern bis zu mehr als 3000 Kilometern – findet bald nach dem Flüggewerden statt. Die Männchen müssen lange vor dem ersten Fortpflanzungsversuch bereits ein Territorium in Besitz nehmen und gegen Rivalen verteidigen; dies könnte erklären, warum die Dispersal-Distanz bei ihnen geringer ist als bei den Weibchen.

Das Abwandern vom Geburtsort (natal dispersal, auch Jugendstreuung genannt) ist der Prozess, während dessen Jungtiere ihren Geburtsort verlassen, um den Platz zu finden, an dem sie zum ersten Mal brüten werden. Sie suchen nach einem „gelobten Land“, das so weit vom Geburtsort entfernt ist, dass es eher unwahrscheinlich ist, auf ein nahe verwandtes Individuum zu treffen und mit ihm zu brüten. Ferner sollte es reichlich Nahrung geben und die Konkurrenz mit Artgenossen gering sein. Es ist zwar immer riskant, unbekannte Gebiete zu durchqueren, doch es hat den Schleiereulen ermöglicht, fast die ganze Welt zu erobern (Abb. 11.1).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Roulin, Schleiereulen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62514-9_11

277

11.1  Abwandern vom Geburtsort (natal dispersal)

279

Abb. 11.1  Eine Schleiereule macht sich auf den Weg über das Meer – von Florida in Richtung Bahamas

Dispersal-Distanz Die Ausbreitung (dispersal) beginnt, sobald die Jungeulen von ihren Eltern unabhängig werden, und findet, wie in Deutschland und Dänemark beobachtet wurde, vorwiegend 4–5 Monate nach dem Flüggewerden statt. Ein Individuum legte z. B. in den ersten 30 Tagen nach dem ersten Ausfliegen 660 km zurück, bei einem anderen waren es 475 km in den ersten 40 Tagen. Die Ortsveränderungen müssen schnell erfolgen, damit die Jungeulen die besten Nahrungsgründe finden und die Männchen einen Brutplatz gegen Rivalen verteidigen können, lange bevor sie den ersten Brutversucht starten. Vermutlich aus diesem Grund legen territoriale Männchen kürzere Strecken als die Weibchen zurück. Dies konnte man in begrenzten Untersuchungsgebieten in Europa zeigen, in denen die Männchen bzw. Weibchen im ersten Lebensjahr durchschnittlich 9 bzw. 11 km weiterwandern, um ihren ersten Brutplatz zu erreichen. Diese Entfernungen müssen nicht unbedingt repräsentativ für andere Populationen sein: In Nordamerika wurden beringte Jungvögel (Totfunde) in größerer Entfernung vom Geburtsnest wiedergefunden (Medianentfernung von 36 km, ermittelt aus 2993 Wiederfunden seit 1923) als in Europa (19 km, ermittelt aus 23 243 Wiederfunden seit 1910). Wenn man die Totfunde von beringten Vögeln zugrunde legt, die in mehr als 1000 km Entfernung vom Geburtsort gemeldet wurden, und die Zahlen von Nordamerika und Europa vergleicht, so ist das Verhältnis zugunsten von Nordamerika mehr als doppelt so hoch (2,07 % versus 0,83 %) (Abb. 11.2 und 11.3).

280

11 Populationsstruktur

500 km

Abb. 11.2 Ausbreitung europäischer Schleiereulen, die als Nestling beringt wurden. Die Daten stammen aus einigen Beringungsprogrammen in Tschechien, Ungarn, Schweiz, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich. Die Karte zeigt, dass Schleiereulen geografische Barrieren wie Meer und Gebirge vermeiden und dass sich Schleiereulen im Vereinigten Königreich über kürzere Entfernungen ausbreiten als auf dem europäischen Festland. Die Farben dienen nur zur Unterscheidung der verschiedenen Beringungsprogramme (Mit Genehmigung der EURING Datenbank)

Warum nicht zu Hause bleiben? Das Abwandern vom Geburtsort (natal dispersal) ist ein typisches Verhalten bei den meisten Vogelarten. Bis auf wenige Ausnahmen, z. B. drei Individuen, die an ihrem Geburtsort brüteten (je eins in Deutschland, dem Vereinigten Königreich bzw. den USA), verlassen Schleiereulen zum Brüten ihre Heimat. Ein hochwertiges Nahrungsrevier zu finden, das auch über einen passenden Nistplatz verfügt, zählt zu den wichtigsten Aktivitäten des ersten Lebensjahrs. Doch warum sollte ein Jungvogel, der in einer Region mit vielen verfügbaren Nistplätzen geboren wird, das Risiko einer großen Ortsveränderung eingehen, bevor er sich niederlässt? Im Lauf des letzten Jahrhunderts hat man in jeweils relativ kleinen Gebieten zahlreiche Nistkästen aufgehängt, sodass Schleiereulen zurzeit nicht weit umherfliegen müssen, um einen Nistplatz zu finden. Dies könnte zumindest teilweise erklären, warum sich die Dispersal-Distanzen in Europa sehr stark verringert haben: von einem Mittelwert von 39 km im Jahr 1930 auf nur 4 km im Jahr 2015.

11.1  Abwandern vom Geburtsort (natal dispersal)

281

500 km

Abb. 11.3 Ausbreitung nordamerikanischer Schleiereulen, die als Nestling beringt wurden. Die Daten stammen aus einigen Beringungsprogrammen in British Columbia (Kanada) und einer Reihe von Bundesstaaten in den USA (Kalifornien, Idaho, New Jersey, Ohio, Oklahoma und Utah). Die Karte zeigt, dass die Ausbreitung in Nordamerika durchschnittlich über größere Distanzen erfolgt als in Europa und dass Eulen von der Westseite der Rocky Mountains kürzere Entfernungen zurücklegen als Eulen, die auf der Ostseite beringt wurden. Die Farben dienen nur zur Unterscheidung der verschiedenen Beringungsprogramme (Mit Genehmigung von USGS Bird Banding 2017; Datensatz von North American bird banding and band encounter data set; Patuxent Wildlife Research Centre, Laurel, MD. 2017/11/01)

Anscheinend bestimmen die Umweltbedingungen, die während der Dispersal-Periode herrschen (d. h. Abundanz von Beute und Nistplätzen), weitgehend, wie weit die Jungvögel sich ausbreiten. Weniger wichtig ist es anscheinend, ob ein Individuum zum Zeitpunkt des Flüggewerdens in hervorragendem oder schlechtem Körperzustand ist. In den meisten Untersuchungen waren Schlupfdatum, Schlupfreihenfolge und Brutgröße schwach mit der Dispersal-Distanz korreliert. In einigen Untersuchungen war die Dispersal-Distanz bei Vögeln, die zeitig oder spät in der Brutsaison geschlüpft waren, größer als bei jenen, die in der Mitte der Brutsaison zur Welt gekommen waren; ferner breiteten sich Individuen aus der ersten Jahresbrut weiter aus als die Vögel der zweiten Jahresbrut; Individuen aus großen Bruten begannen früher mit dem Dispersal als diejenigen aus kleineren Bruten. Auch wenn sich die Umwelt je nach Jahr und Population verschieden auf das Abwanderungsverhalten auswirken kann, ist als Grundmuster erkennbar, dass Dispersal eher von den Umweltbedingungen im Zeitraum nach dem Flüggewerden abhängt als in der Zeit davor.

282

11 Populationsstruktur

Auch genetische Faktoren könnten eine Rolle spielen, wie in der Schweiz gezeigt wurde: Dort tendieren junge Schleiereulen im ersten Lebensjahr dazu, etwa genauso weit abzuwandern wie das gleichgeschlechtliche Elternteil. Lange Wanderungen könnten vielleicht sogar als Familie unternommen werden. So fand man zwei Geschwister aus Schweden im selben Dorf in Dänemark wieder, zwei Geschwister aus Wisconsin (USA) in 1920 km Entfernung in Florida, zwei Geschwister aus der Region Elsass-Lothringen (Frankreich) in der Bretagne (700 bzw. 800 km entfernt). Zwei Geschwister aus Tschechien tauchten 288 Tage nach der Beringung als Totfunde in einem 17 km entfernten Wassertank auf, zwei andere wurden 114 Tage nach der Beringung am selben Platz gefunden, 8 km von ihrem Geburtsort entfernt. Die Geschwisterbindung bleibt demnach auch lange nach dem Flüggewerden eng – doch sie führt nicht bis zur gemeinsamen Brut, was aus der geringen Inzuchtrate ersichtlich ist.

Geografische Barrieren Schleiereulen haben bekanntlich keine Angst vor Dunkelheit, doch sie vermeiden wenn möglich das Überqueren von Gebirgen (Abb. 11.2 und 11.3), und nur wenige haben es nachweislich überhaupt versucht. Ein Individuum wurde in den Schweizer Alpen auf einer Höhe von 2000 m gefangen; ferner hat man in Italien 26 Vögel kontrolliert, die nördlich der Alpen (Belgien, Tschechien, Deutschland, Ungarn, Luxemburg, Niederlande und Schweiz) beringt worden waren. Dies ist ein Hinweis, dass Schleiereulen gelegentlich Hochgebirge überqueren können. Gewöhnlich vermeiden Schleiereulen zwar einen Flug über das Meer, doch sie sind zu solchen Fernreisen in der Lage und müssen sie de facto auch unternommen haben, um abgelegene Inseln zu besiedeln. Es gibt 21 Nachweise von Schleiereulen, die auf dem europäischen Festland beringt und in Großbritannien wiedergefunden wurden – sie hatten also den 34 km breiten Ärmelkanal überflogen. Ferner überquerte ein Vogel, der auf der Insel Bengkalis vor Sumatra beringt worden war, die 50 km breite Straße von Malakka. Eine in Deutschland beringte Eule wurde auf der Insel Gotland wiedergefunden (130 km vor dem schwedischen Festland), eine in New Jersey (USA) beringte Eule tauchte in 1250 km Entfernung auf der Insel Bermuda wieder auf, eine in Tunesien beringte Schleiereule überquerte das Mittelmeer und erreichte Süditalien. Es gibt auch Direktbeobachtungen, die bestätigen, dass Schleiereulen große Gewässer überqueren können: Einige Individuen, die in 2 m Höhe über die Ostsee flogen (8 km von der Küste entfernt), eine andere Eule, die in 56 km Entfernung vor einer Insel in Hawaii beobachtet wurde.

11.1.2 Offene Forschungsfragen • Wir benötigen mehr Untersuchungen zum potenziellen Einfluss von Schlupfdatum, Brutgröße und Schlupfreihenfolge auf das Dipsersal; ferner muss untersucht werden, ob Nestlinge aus der ersten bzw. zweiten Jahresbrut unterschiedlich weit abwandern. • Die Dispersal-Distanzen sollten in Relation zu den verfügbaren Nistplätzen bestimmt werden, unter der Annahme, dass die Individuen in Gegenden mit vielen potenziellen Nistplätzen nur über kürzere Entfernungen abwandern werden. • Schleiereulen fliegen manchmal über große Gewässer, denn nur so können sie viele entlegene Inseln besiedelt haben. Eine Frage wäre, ob Individuen, die den Flug über Gewässer riskieren, phänotypisch anders sind als jene, die dieses Risiko nicht eingehen.

11.2  Abwandern vom Brutort (breeding dispersal) und Zug (migration)

11.2

283

Abwandern vom Brutort (breeding dispersal) und Zug (migration)

11.2.1 Wanderlust 77 Schleiereulenaltvögel sind gewöhnlich sesshaft, auch wenn manche Individuen von

einer Brutzeit zur nächsten über Hunderte von Kilometern abwandern, um an einem anderen Platz zu brüten. Die Männchen verteidigen eine Nesthöhle gegen Rivalen, und die Weibchen besuchen mehrere Männchen, bevor sie sich für einen Brutplatz entscheiden. Männchen sind folglich ortstreuer als Weibchen, und wenn sie den Nistplatz wechseln, ist es eine Umsiedlung über kürzere Entfernungen. In den kalten Regionen der nördlichen USA und Südkanadas ziehen die Schleiereulen im Winter südwärts – dieses Verhalten wird in Europa nicht beobachtet.

Das Abwandern vom Brutort (breeding dispersal) ist definiert als die Ortsbewegung von Adulten zwischen zwei Folgebrutplätzen, also die Umsiedlung vom alten zum neuen Brutplatz. Da Brutvögel ein Revier ganzjährig verteidigen können, ist die Entfernung zwischen zwei Nistplätzen, die in aufeinanderfolgenden Jahren genutzt werden, normalerweise geringer als die Entfernung zwischen Geburtsort und allererstem Brutplatz.

Dipsersal-Distanzen Bei der Schleiereule sind die Abwanderungen vom Geburtsort bzw. vom Brutort (natal bzw. breeding dispersal) unterschiedliche Prozesse, die unterschiedlichen Einschränkungen unterliegen. Die Entfernung, die eine Jungeule zwischen Geburtsort und erstem Brutplatz zurücklegt, lässt daher keine Vorhersage über ihr Dispersal-Verhalten als Altvogel zu. Einige Eulen neigen inhärent zwar stärker zur Abwanderung als andere, doch mit dem Alter werden Eulen sesshafter – wahrscheinlich, weil alte erfahrene Individuen eine Nesthöhle besser gegen Rivalen verteidigen können als junge; vielleicht auch einfach, weil sie mehr Zeit hatten, um die Lage der besten Nistplätze herauszufinden. Die Männchen besetzen die Brutreviere. Falls ein relativ kleines Gebiet über mehrere Nistplätze verfügt, kann ein Männchen zum Brüten ohne Weiteres von einem Platz zum anderen wechseln, unabhängig davon, ob es ein treuer Partner ist. Wenn sich dagegen ein Weibchen trennen will, muss es innerhalb oder zwischen den Fortpflanzungsperioden umsiedeln, um einen neuen Partner in einem anderen Territorium zu finden (gelegentlich sind Schleiereulen allerdings nicht so territorial, und mehrere Paare können in enger Nachbarschaft brüten). Die Männchen sind demnach brutortstreuer (in der Schweiz brüten 46 % der Männchen in zwei Folgejahren am selben Platz) als die Weibchen (33 %), und die mittlere Entfernung zwischen zwei Folgebrutplätzen beträgt bei den Männchen nur 1,8 km, bei den Weibchen dagegen 3,8 km. Bei der Schleiereule führt schlechter Fortpflanzungserfolg häufig zur Scheidung, aber nicht unbedingt zum Wechsel des Nistplatzes. Das Individuum, das die Entscheidung zur Scheidung trifft, hält demnach möglicherweise häufiger den Partner und nicht die Qualität des Nistplatzes für den Grund des schlechten Reproduktionserfolgs. Doch das Nahrungsangebot erklärt sicherlich auch, warum Schleiereulen den Brutplatz wechseln und warum sie manchmal über große Entfernungen abwandern, vielleicht auf der Suche nach besseren Bedingungen für die Nahrungssuche. In Europa legen 2–3 % der Altvögel mehr als 100 km

284

11 Populationsstruktur

Abb. 11.4  Überwinternde Schleiereule in Montana (USA)

zwischen den Folgejahren zurück (bis zu 844 km). Vermutlich gehören diese „Entdecker“ zu den konkurrenzstärksten Individuen, denn ansonsten liefen sie Gefahr, auf die schlechtesten Nistplätze in der „neuen Heimat“ verwiesen zu werden, in der die ansässigen Eulen bereits die besten Plätze kennen. Eulen, die lieber zu Hause bleiben, sind anscheinend aber häufiger. In den 1970er-Jahren nutzten in Frankreich 97 % der Schleiereulen ihre Kirchturmnester von einem zum nächsten Jahr, in Utah (USA) waren 96 % der brütenden Eulen brutortstreu. Dies weist darauf hin, dass es möglicherweise für eine Eule sogar besser ist, zu Hause zu bleiben, wenn die Umweltbedingungen zeitweilig schlecht werden (Abb. 11.4). In Regionen, in denen viele Nistkästen aufgehängt wurden, sind die Brutvögel weniger ortstreu: In Schottland wechseln z. B. durchschnittlich 29 % der brütenden Eulen zwischen den Folgejahren die Nester. Möglicherweise verändern Ornithologen das Verhalten der Eulen, indem sie ihnen viele potenzielle Nistplätze anbieten.

Zugbewegungen (migration) In Nordamerika führen juvenile wie auch adulte Schleiereulen größere Ortsbewegungen durch als in Europa. Amerikaschleiereulen können sogar echte Zugvögel sein; etwa drei Viertel der Vögel wandern zwischen August und Dezember südwärts und ziehen im März/April wieder

11.3 Überlebensaussichten

285

nordwärts. In Europa ist die Schleiereule zwar kein Zugvogel, doch Ausweichbewegungen über große Distanzen finden häufiger in West‑/Südwest-Richtung statt als in Ost‑/NordostRichtung; Kurzstreckenbewegungen können dagegen in jede Himmelsrichtung erfolgen.

11.2.2 Offene Forschungsfragen • Man sollte die Faktoren untersuchen, die bei Altvögeln den Wechsel des Nistplatzes auslösen und die beeinflussen, wie weit sie abwandern, um einen neuen Platz zu finden – insbesondere die jeweilige Rolle des Nahrungsangebots, der Verfügbarkeit von Nistplätzen und der Nisthöhlenkonkurrenz zwischen Artgenossen und anderen Tieren. • Es ist unklar, aus welchem Grund Schleiereulen in Nordamerika, aber nicht in Europa Zugvögel sind. Liegt es daran, dass zum Verbreitungsgebiet in Nordamerika auch extrem kalte Regionen zählen und die Wintertemperaturen auf Höhe desselben Breitengrads in Nordamerika viel tiefer sind als in Europa?

11.3 Überlebensaussichten 11.3.1 Scheitern vorprogrammiert 77 Für Jungvögel ist vor allem die Zeitspanne, in der sie unabhängig werden, gefährlich

und viele kommen in dieser Zeit um (Abb. 11.5). In strengen Wintern sterben die Jungvögel durch Verhungern, dies ist im Winter auch die Haupttodesursache bei Altvögeln. In den meisten westlichen Ländern war vor den 1960er-Jahren jedoch gezielte Tötung durch den Menschen die wichtigste Todesursache der Schleiereule; inzwischen ist es der Straßenverkehr. Die nachweislich älteste wildlebende Schleiereule wurde 23 Jahre alt.

Abb. 11.5  Tote Schleiereule

286

11 Populationsstruktur

Schleiereulen werden regelmäßig von Ornithologen beringt, um Daten über ihr Ausbreitungsverhalten (Dispersal-Verhalten) und Mortalitätsrisiken zu erhalten. Viele Ursachen für die Mortalität haben sich im Lauf der letzten 150 Jahre aufgrund der gewandelten Mensch-Schleiereule-Beziehungen verändert. Die Informationen zur Sterblichkeit (Mortalität) stammen vorwiegend von Schleiereulen der Nordhalbkugel.

Unterschiedliches Überleben Die Altvögel in Europa und Nordamerika sind vor allem von kalten Außentemperaturen und verringertem Nahrungsangebot betroffen – denn im Winter sterben mehr Altvögel (in den Niederlanden fallen z. B. 55 % der Totfunde in den Winter) als in jeder anderen Jahreszeit (19 % im Herbst). Möglicherweise beruhen die Effekte der harten Winter auf das Überleben darauf, dass es schwierig wird, Kleinsäuger zu erbeuten, die versteckt unter einer dicken Schneedecke leben. Auch Fluktuationen der Wühlmauspopulationen spielen eine wichtige Rolle und bedingen in den Niederlanden und Schottland 51–73 % der Variation in der Schleiereulen-Bestandsgröße. Jungvögel leiden zwar auch unter dem Winterwetter, doch am kritischsten ist für Juvenile der Zeitraum, wenn sie von den Eltern unabhängig werden. Bei Schleiereulen im ersten Lebensjahr liegt der Anteil der umgekommenen Individuen in den Niederlanden von September bis November höher (44 % aller wiedergefundenen Juvenilen) als von Dezember bis Februar (33 %), obwohl die Nahrungssituation im Winter schlechter als im Herbst ist. Die frühgeschlüpften Individuen haben im Gegensatz zu den spätgeschlüpften mehr Zeit zum Verfeinern ihrer Jagdmethoden, bevor sich das Nahrungsangebot verschlechtert, und daher höhere Überlebenschancen. Da Altvögel und Jungvögel häufig aus unterschiedlichen Gründen oder zu unterschiedlichen Jahreszeiten sterben, sind ihre jährlichen Überlebensraten gewöhnlich nicht korreliert, wie man in der Schweiz zeigen konnte. Besonders strenge Winter können sich allerdings unabhängig vom Alter auf alle Individuen auswirken (Abb. 11.7). Für eine verlässliche Einschätzung der Überlebenswahrscheinlichkeit sind moderne Fang-Wiederfang-Auswertungsprogramme erforderlich (Abb. 11.6). Mit ihrer Hilfe lässt sich die Wahrscheinlichkeit abschätzen, ob eine beringte Schleiereule von Ornithologen lebend wiedergefangen oder zufällig von Nichtornithologen als Totfund entdeckt wird. Die Daten beringter Schleiereulen, die in der Schweiz zwischen 1934 und 2002 wiedergefunden wurden, zeigen an, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit von einem Jahr zum Folgejahr für Juvenile bei 29 % und für Altvögel bei 57 % lag. In diesen Auswertungen wurde jedoch nicht berücksichtigt, dass einige Vögel vermutlich nicht gefunden wurden, weil sie aus dem Untersuchungsgebiet abgewandert waren. Bei einer kombinierten Auswertung von Lebend-Wiederfang-Daten, die innerhalb eines definierten Untersuchungsgebiets ermittelt wurden, und Tot-Wiederfund-Daten, die inner- und außerhalb dieses Gebiets gesammelt wurden, fand man, dass die jährlichen Überlebensraten für Juvenile bzw. Altvögel in der Schweiz im Zeitraum von 1990 bis 2002 bei 17 % bzw. 72 % lagen. Während des ersten Lebensjahrs ist die Überlebensrate daher extrem gering. Sie ist für diesen Zeitraum bei der Schleiereule geringer als bei Waldohreule bzw. Waldkauz, die ähnlich groß sind. Die Lebenserwartung im Alter von 1 Jahr beträgt für die Schleiereule 1,2 Jahre, verglichen mit 1,4 Jahren für die Waldohreule und 2,6 Jahren für den Waldkauz;

11.3 Überlebensaussichten

287

50

Prozentsatz

40

30

20

10

0 1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

Alter der Brutvögel

Abb. 11.6  Alter brütender Weibchen (blau) und brütender Männchen (orangebraun). Die Daten beruhen auf 683 Fängen von Männchen (346 verschiedene Individuen) sowie 550 Fängen von Weibchen (330 verschiedene Individuen) im Zeitraum von 1988 bis 2017 in der Schweiz. Die Vögel wurden als Nestlinge beringt, daher ist ihr Alter beim Wiederfang als Brutvogel bekannt

im Alter von 2 Jahren liegt sie bei 1,8 Jahren (Schleiereule), verglichen mit 3,3 bzw. 3,6 Jahren für die beiden anderen Arten. Es gibt aber auch einige wildlebende Schleiereulen, die ein eindrucksvolles Alter von 23 Jahren erreichen.

Verkehr Weltweit hat die Anzahl und Länge von Straßen und entsprechend der Straßenverkehr in rasantem Tempo zugenommen. In den USA gibt es über 230 Mio. Autos, die auf einem Straßennetz von mehr als 6 Mio. km unterwegs sind. In den Niederlanden hat die Gesamtlänge der Autobahnen im Zeitraum von 1960 bis 1985 von 350 km auf 2000 km zugenommen, und die Zahl der Fahrzeuge hat sich verzehnfacht: von 450 000 auf 4,5 Mio. In Dänemark legten Autos im Jahr 1958 „nur“ 6,8 Mrd. km zurück, im Jahr 1999 dagegen 46 Mrd. km. Es überrascht daher nicht, dass bei vielen Wildtieren inzwischen der Verkehrstod die häufigste (von Menschen verursachte) Todesursache ist und nicht mehr die Jagd, wie noch in den 1960er-Jahren. Dies trifft besonders auf die Schleiereule zu; unter den größeren Wirbeltieren, die tot am Straßenrand gefunden werden, hat sie einen Anteil von über 30 %, bei den Eulen sogar bis zu 80 %. Im Vereinigten Königreich nimmt der Verkehrstod, bezogen auf alle Schleiereulen mit bekannter Todesursache, einen immer größeren Anteil ein: 6 % im Zeitraum von 1910 bis 1954, 15 % von 1955 bis 1969, 42 % von 1963 bis 1989 und 52 % von 1982 bis 1986. In den Niederlanden starben vor 1963 65,5 % der beringten Schleiereulen durch Verhungern und 4,4 % durch Verkehrstod; nach 1963 änderten sich diese Prozentsätze zu 10,8 % bzw. 40,3 %. Ähnlich in Tschechien: Dort lag die Schleiereulenmortalität aufgrund von Verkehrstod im Zeitraum von 1966 bis 1975 bei 4,3 % aller

288

11 Populationsstruktur

Abb. 11.7 Harte Winter können bei der Schleiereule zu einem drastischen Bestandszusammenbruch führen

Todesfälle mit bekannter Ursache, von 1976 bis 1985 bei 10,4 %, von 1986 bis 1995 bei 22,2 % und von 1996 bis 2007 bei 30,2 %. Der Verkehrstod ist so häufig, dass Jungvögel oft nicht fern vom Geburtsort umkommen, noch bevor sie überhaupt die Möglichkeit zum Langstrecken-Dispersal hatten. Dies könnte auch dafür verantwortlich sein, dass die Entfernung zwischen Geburtsort und Fundort bei toten Schleiereulen in Europa immer geringer geworden ist: von durchschnittlich 47 km im Jahr 1930 zu 7,5 km im Jahr 2015. In Frankreich kommen jährlich etwa 20 000 Schleiereulen auf den Straßen um. Dieser Schätzwert ist jedoch mit Sicherheit zu niedrig, denn andere Tiere können tote Eulen wegtragen, verletzte Eulen können sich verstecken oder tote Eulen werden im hohen Gras übersehen (wie aus Idaho, USA, berichtet). Mehrere in Frankreich durchgeführte Untersuchungen haben die dramatischen Auswirkungen des Straßenverkehrs bestätigt: Von November 1991 bis Dezember 1995 fand man in einer Untersuchung 1731 tote Schleiereulen, verglichen mit 811 Waldohreulen und 539 Mäusebussarden. In der betreffenden Untersuchung entspricht das einer (!) toten Schleiereule pro Straßenkilometer! Tote Eulen werden häufiger an Straßenabschnitten neben Getreidefeldern (68 %) gefunden als neben Wiesen (15 %) und Wäldern (17 %), außerdem häufiger an Straßenabschnitten, die höher als das umgebende Gelände sind, als an tieferliegenden (64 % versus 36 %) und schließlich öfter an Straßenstücken mit hoher Feldmaushäufigkeit (76 %) als dort, wo Feldmäuse selten sind (24 %). Auch in Idaho (USA) ist es die Schleiereule (in diesem Fall die Amerikaschleiereule), die am häufigsten an Straßen umkommt (32 % aller im Straßenverkehr getöteten Tiere); hier werden jährlich 6 tote Schleiereulen pro 100 Straßenkilometer gefunden. Außerdem ist die Sterblichkeit hier von Oktober bis März höher als von April bis September. An Straßen, die in landwirtschaftlich genutzten Gebieten liegen, ist die Mortalität der Schleiereulen im Winter, nicht jedoch im Sommer, höher als an Straßen in Gebieten mit Strauchsteppen und gemischten Habitaten.

11.3 Überlebensaussichten

289

In Portugal beobachtete man bei elf besenderten Schleiereulen, dass sie die Randbereiche von Straßen bei dichtem Verkehr aktiv vermieden, Straßen aber eher anflogen, wenn diese von Bächen oder dicht bewachsenen Randstreifen gesäumt waren – genau den Stellen, die für zahlreiche Beutearten ein sicherer Rückzugsort sind. Im Durchschnitt muss ein Individuum eine Straße 111-mal überqueren, bevor es zur Kollision mit einem Fahrzeug kommt; dieses Risiko ist an den Straßenabschnitten am höchsten, welche die Eulen normalerweise eher vermeiden. Wie können wir diese dramatischen Auswirkungen des Straßenverkehrs abschwächen? Schleiereulen fliegen in Bodennähe und könnten daher durch künstliche Abschirmungen oder Pflanzungen (Bäume) am Straßenrand gezwungen werden, Straßen in größerer Höhe zu überfliegen. Neue Straßen sollten unter dem Niveau der umgebenden Felder angelegt werden. Eine weitere Schutzmaßnahme wäre das regelmäßige Mähen der Randstreifen, um die Beuteverfügbarkeit zu verringern, damit weniger Beutegreifer von den Straßenrändern angezogen würden. (Allerdings wäre diese Maßnahme für die Umwelt insgesamt weniger günstig.) Schließlich sollten wir das Agrarland gezielt als Nahrungsraum aufwerten und dadurch verhindern, dass Eulen in der Nähe von Straßen jagen.

Andere Todesursachen Im Lauf des letzten Jahrhunderts hat das gezielte Töten von Schleiereulen abgenommen (Abb. 2.13): Dank Bildung und Aufklärung verstehen die Menschen inzwischen besser, dass Greifvögel, Falken und Eulen nicht als Feind, sondern eher als Freund zu sehen sind. In Frankreich wurden z. B. in den 1980er-Jahren von 1000 Nestern nur mehr 2 mutwillig zerstört. Im Vereinigten Königreich hat die Sterblichkeit durch Abschuss stetig abgenommen: von 12 % (aller bekannten Todesursachen) im Zeitraum von 1910 bis 1954 über 5 % von 1955 bis 1969 auf 2 % von 1963 bis 1989. In Spanien konnte man in den 1980er- und 1990er-Jahren dagegen noch regelmäßig beobachten, dass Nestlinge dem Nest entnommen oder Vögel abgeschossen wurden. Weltweit werden in zahlreichen Ländern, insbesondere im Mittelmeerraum, viele Vogelarten immer noch aktiv getötet; vor allem in Asien werden Schleiereulen auch auf Märkten verkauft (Abb. 11.8). In der ganzen Welt kommen jährlich etwa 1 Mio. Vögel durch Windräder um. In Europa fanden sich (im Rahmen mehrerer Erfassungen) unter 19 010 Totfunden unter Windrädern nur 4 Schleiereulen. Möglicherweise sind Schleiereulen in den USA jedoch stärker durch Windenergieanlagen gefährdet; laut einer Erfassung von 1998 bis 2003 kamen mindestens 50 Amerikaschleiereulen, 213 Rotschwanzbussarde, 70 Kaninchenkäuze, 59 Buntfalken und 18 Virginiauhus durch Windräder zu Tode. Zu weiteren Todesursachen zählen: Verfangen im Pflanzenbewuchs (wahrscheinlich aufgrund des samtigen Gefieders), Vogelschlag an Glasflächen, Verfangen in Zäunen, in Gebäuden eingeschlossen sein sowie Tod durch Krankheiten. Hochspannungsleitungen sind zwar für große Vögel wie Uhus, Störche und Geier gefährlich, doch anscheinend fallen ihnen wenige Schleiereulen zum Opfer.

290

11 Populationsstruktur

Abb. 11.8 Wie in anderen Ländern auch werden in Indonesien auf Märkten Wildtiere und vor allem Schleiereulen als Heimtiere verkauft. Dieses Foto wurde auf einem Straßenmarkt in Jakarta im November 2017 aufgenommen. Die Harry-Potter-Filme haben den Verkauf von Eulen auf den indonesischen Vogelmärkten stark beeinflusst, und viele Kinder wünschen sich eine eigene Eule als „Kuscheltier“. Daher sind Wildfänge und der Verkauf dieser Eulen in letzter Zeit sprunghaft angestiegen (© Joan de la Malla)

11.4 Populationsdynamik

291

11.3.2 Offene Forschungsfragen • Der Verkehr zählt zu den Haupttodesursachen der Schleiereule. Nach wie vor ist nicht klar, ob Individuen in schlechterem Allgemeinzustand eher an Straßen jagen als gesunde Individuen. • Die Informationen zur Mortalität der Schleiereule stammen größtenteils von der Nordhalbkugel, wo Extremwinter sich verheerend auf Schleiereulenbestände auswirken. Unbekannt sind hingegen die Auswirkungen von Dürreperioden in ariden Regionen wie auch die wichtigsten Bedrohungen, denen die Tytonidae in tropischen und subtropischen Regionen ausgesetzt sind.

11.4 Populationsdynamik 11.4.1 Personalauffrischung 77 Die Schleiereule durchläuft im Jahreslauf gewöhnlich stärkere Bestandsschwankungen

(Abb. 11.9) als Greife von vergleichbarer Größe, z. B. der Turmfalke. Die Eulenpopulationen können in strengen Wintern und bei einem Mangel an Kleinsäugern zusammenbrechen. Wenn die Nahrung knapp wird, nimmt die Bestandsgröße bei dichter Besiedlung aufgrund einer ausgeprägten Adultmortalität ab. Die Größe von kleinen Populationen kann bei reichlichem Nahrungsangebot zunehmen; dadurch erhöht sich für das Individuum die Wahrscheinlichkeit, bereits im ersten Lebensjahr brüten zu können.

Schleiereulen sind vielfältigen Bedrohungen ausgesetzt, die vom Menschen ausgehen: Verfolgung, Verkehrstod, Pestizide, vermindertes Nahrungsangebot durch Habitatzerstörung und -fragmentierung, Verlust von Brutplätzen sowie verheerende Wetterereignisse, die aufgrund des Klimawandels vielleicht noch häufiger werden. Die hohe Empfindlichkeit der Schleiereule gegenüber Umweltfaktoren, wie strengen Wintern in Europa und Nordamerika, erklärt möglicherweise die Herausbildung bestimmter Besonderheiten in ihrer Biologie. Hierzu zählen die frühe Geschlechtsreife, die Fähigkeit, zwei bis drei Jahresbruten mit vielen Nachkommen zu realisieren, schließlich ihre Fähigkeit, über weite Entfernungen abzuwandern, um kurzzeitig verfügbare Ressourcen nutzen zu können (z. B. Wasser, das in australischen Wüstengebieten nach sturzartigen Regenfällen zugänglich ist). Dank dieser Anpassungen kann sich die Schleiereule von Bestandszusammenbrüchen rasch erholen.

Überleben, Emigration und Immigration Um die Mechanismen zu verstehen, die den Veränderungen der Populationsgröße (als Populationsdynamik bezeichnet) zugrunde liegen, sind genaue Kenntnisse von Mortalität, Emigration und Immigration nötig. Kleine Bestände können sich vergrößern, wenn lokal geschlüpfte Individuen rekrutiert werden und sich Immigranten aus anderen Regionen ansiedeln. Sobald die Umweltkapazität (carrying capacity) erreicht ist und ein Gebiet kaum weitere Vögel ernähren kann, nimmt die Eulenpopulation aufgrund der dichteabhängigen Mortalität ab, da viele Individuen um begrenzte Ressourcen konkurrieren.

292

11 Populationsstruktur

Abb. 11.9  Die Bestandsgröße der Schleiereule weist erhebliche jährliche Schwankungen auf

Die Individuenzahl, die ein Gebiet ernähren kann, ist durch Nahrungsangebot und verfügbare potenzielle Nistplätze begrenzt. In der Schweiz verlassen drei Viertel der Jungvögel in Jahren mit hoher Überlebensrate und Fortpflanzungserfolg ihre Geburtsregion, vermutlich um die Konkurrenz mit Artgenossen zu vermeiden. Nur 1 % der Altvögel wandern ab, doch auch bei ihnen gibt es Wettbewerb. In Jahren, in denen mehr Altvögel das Untersuchungsgebiet verlassen haben, wechseln die verbliebenen häufig den Nistplatz – ein Hinweis darauf, dass die Konkurrenz um bessere Nistplätze in den betreffenden Jahren höher sein könnte. In Jahren mit hoher Emigration kann die Immigration sogar noch ausgeprägter sein, so dass die Bestandsgröße insgesamt zunimmt – selbst wenn die lokale Population viele Individuen durch Emigration verloren hat. In der Schweiz schlüpfen 78 % bzw. 62 % der brütenden Weibchen bzw. Männchen außerhalb des Untersuchungsgebiets (Abb. 11.10). In einem Untersuchungsgebiet in Utah (USA) waren 77 % der Individuen Immigranten; in einem Untersuchungsgebiet in Deutschland waren 55 % der Brutvögel Immigranten, 14 % waren lokal geschlüpfte Neurekrutierte, und der Rest (31 %) hatte auch in den Vorjahren schon im Untersuchungsgebiet gebrütet. Der Populationswechsel ist also ausgeprägt; so sind in der Population in

11.4 Populationsdynamik

293

78 % der Weibchen sind Immigranten 62 % der Männchen sind Immigranten

75 % der lokal geschlüpften Juvenilen wandern aus dem Untersuchungsgebiet ab

1 % der brütenden Altvögel wandern aus dem Untersuchungsgebiet ab

Abb. 11.10  In der Schweiz besteht ein hoher Prozentsatz einer Schleiereulenpopulation in einem definierten Gebiet aus Immigranten, und viele der im Gebiet geschlüpften Individuen verlassen es nach der Brutzeit

Utah jedes Jahr 25–79 % der brütenden Individuen Erstbrüter (Durchschnitt 48 %). Man muss allerdings festhalten, dass diese Zahlen mit der Größe des Untersuchungsgebiets zusammenhängen: In einem kleinen Untersuchungsgebiet ist es wahrscheinlicher, dass sich die lokal geschlüpften Eulen außerhalb niederlassen als in einem großen. Ebenso beherbergt ein kleines Untersuchungsgebiet fast immer einen größeren Anteil an Immigranten als ein größeres.

Die Überlebensrate ist wichtiger als der Reproduktionserfolg Umweltfaktoren, die gleichzeitig Überleben und Fortpflanzung aller Individuen beeinträchtigen, und zwar altersunabhängig, erhöhen die Aussterbewahrscheinlichkeit beträchtlich. Populationen sind stabiler, wenn die Individuen nicht alle gleichermaßen empfindlich auf bestimmte Umweltfaktoren reagieren, denn so können einzelne Vögel überleben, um die Population wieder aufzufüllen. Im Zeitraum von 1934 bis 2002 brach die Schweizer Schleiereulenpopulation zweimal zusammen, und zwar in den äußerst strengen Wintern 1952/1953 und 1962/1963; betroffen war das Überleben der Jungvögel wie auch der Altvögel. Wenn die Witterung nicht ganz so extrem ist, hängt die Populationsdynamik hauptsächlich von der schwankenden Überlebensrate ab; den größten Effekt hat dabei die Überlebensrate der Jungvögel, gefolgt von jener der über zwei Jahre alten Altvögel und jener der Einjährigen. Die Wachstumsrate der Population reagiert weniger empfindlich auf Schwankungen des Fortpflanzungserfolgs; dieser schwankt von Jahr zu Jahr wesentlich stärker als die Überlebensraten. Dies ist z. B. in Schottland, der Schweiz und in Utah (USA) der Fall, wo die Gesamtzahl der Flügglinge in einem Jahr nichts über die Populationsgröße des Folgejahres aussagt.

11 Populationsstruktur

294 50

Prozentsatz der Individuen

40

30

20

10

5

0 –9 86

0 –8

81 –8

76

5

–7 0 71 –7 5

66

5

0

5

0

0 –6

61 –6

56

51 –5

–5 46

41 –4

0

5

0

5

–4 36

31 –3

–3 26

21 –2

17 –2

11 –1 6

6– 10

1– 5

0

Anzahl an Eiern und Flügglingen in der Gesamtlebenszeit

Abb. 11.11 Lebensreproduktionserfolg bei brütenden Schleiereulen; die Anzahl der im Gesamtleben produzierten Eier ist blau dargestellt, die Anzahl der Flügglinge grün. Die zugrunde liegenden Daten wurden von 672 verschiedenen Männchen und 864 verschiedenen Weibchen im Zeitraum von 1990 bis 2017 in der Schweiz gesammelt. So ist z. B. in der Kategorie „6–10“ dargestellt, dass 44,7 % der Brutvögel während ihres Gesamtlebens 6–10 Eier zeitigten und 25,0 % der Brutvögel 6–10 Flügglinge

Lebensreproduktionserfolg (lifetime reproductive success) Einige Individuen tragen im Vergleich zu anderen überproportional viel zum Populationswachstum bei. In Utah (USA) – dort wurden 357 Brutversuche im Zeitraum von 1977 bis 1995 überwacht – zeitigten einige Weibchen bis zu 7 Bruten, doch die mittlere Zahl an Brutversuchen lag nur bei 1,4. So legte das produktivste Weibchen im Lauf ihres Lebens sechsmal so viele Eier wie im Populationsmittel zu erwarten (66 versus 10) und produzierte achtmal so viele Flügglinge (50 versus 6). Mit anderen Worten: Nur 12 % der brütenden Weibchen (21 von 179) hatten Nachkommen, die später in der lokalen Population brüteten; die maximale Zahl für ein Weibchen lag bei 7 brütenden Nachkommen. In der Schweiz (Untersuchungszeitraum 1990–2017, Abb. 11.11) produzierte ein (1) Weibchen in ihrem Gesamtleben bis zu 90 Eier und bis zu 60 Flügglinge. Für die Gesamtlebenszeit eines Männchens lag die maximale Zahl der Nachkommen, die später im Untersuchungsgebiet brüteten, bei 14. Die Wahrscheinlichkeit, dass mindestens ein Nachkomme später im Untersuchungsgebiet brütet, ist höher, wenn die Schleiereulen zeitig (statt spät) in der Brutsaison brüten.

11.4.2 Offene Forschungsfragen • Nur eine Untersuchung hat sich bisher mit der Frage beschäftigt, ob der Reproduktionserfolg mit dem Alter abnimmt. Man fand einen Einfluss der Seneszenz auf den Schlupferfolg; bei einem alten Vater lag die Wahrscheinlichkeit höher, dass weniger

Weiterführende Literatur

295

Küken schlüpften, als bei einem jungen. In einer gründlicheren Untersuchung sollte man prüfen, ob die Reproduktionsparameter vom Jugendalter bis zu einem Gipfel im mittleren Alter zunehmen, bevor die Seneszenz einsetzt. • In Jahren mit hoher Überlebensrate und Fortpflanzungserfolg sind Emigration wie auch Immigration ausgeprägt. Versuchen die Emigranten so die Konkurrenz mit Artgenossen zu vermeiden? Falls dies der Fall wäre – hieße das, dass Emigranten weniger konkurrenzbereit sind als die Sesshaften und dass Immigranten stärker zu Konkurrenz neigen als Emigranten?

Weiterführende Literatur Abschnitt 11.1 Baege L (1955) Beachtlicher Zug junger Schleiereulen. Falke 2:213 Bairlein F (1995) Dismigration und Sterblichkeit in Süddeutschland beringter Schleiereulen (Tyto alba). Vogelwarte 33:81–108 Duffy K, Kerlinger P (1992) Autumn owl migration at Cape May Point, New Jersey. Wilson Bull 103:312– 320 Huffeldt NP, Aggerholm IN, Brandtberg NH, Jorgensen JH, Dichmann K, Sunde P (2012) Compounding effects on nest-site dispersal of barn owls Tyto alba. Bird Study 59:175–181 Stewart PA (1952) Winter mortality of barn owls in central Ohio. Wilson Bull 64:164–166 Van den Brink V, Dreiss AN, Roulin A (2012) Melanin-based colouration predicts natal dispersal in the barn owl Tyto alba. Anim Behav 84:805–812 Abschnitt 11.2 Van den Brink V, Dreiss AN, Roulin A (2012) Melanin-based colouration predicts natal dispersal in the barn owl Tyto alba. Anim Behav 84:805–812 Abschnitt 11.3 Altwegg R, Roulin A, Kestenholz M, Jenni L (2006) Demographic effects of extreme winter weather in the barn owl. Oecologia 149:44–51 Altwegg R, Schaub M, Roulin A (2007) Age-specific fitness components and their temporal variation in the barn owl. Am Nat 169:47–61 Baudvin H (1986) La reproduction de la chouette effraie (Tyto alba). Le Jean Le Blanc 25:1–125 Boves TJ, Belthoff JR (2012) Roadway mortality of barn owls in Idaho, USA. J Wildl Manag 76:1381–1392 de Bruijn O (1994) Population ecology and conservation of the barn owl Tyto alba in farmland habitats in Liemers and Achterhoek (the Netherlands). Ardea 82:1–109 De Jong J, van den Burg A, Liosi A (2018) Determinants of traffic mortality of barn owls (Tyto alba) in Friesland, the Netherlands. Avian Conserv Ecol 13:article 2 Forman RTT, Alexander LA (1998) Roads and their major ecological effects. Annu Rev Ecol Syst 29:207– 231 Gomes L, Grilo C, Silva C, Mira A (2009) Identification methods and deterministic factors of owl roadkills hotspots locations in Mediterranean landscapes. Ecol Res 24:355–370 Grilo C, Sousa J, Ascensão F, Matos H, Leitão I, Pinheiro P, Costa M, Bernardo J, Reto D, Lourenço R, Santos-Reis M, Revilla E (2012) Individual spatial response towards roads: implications for mortality risk. Plos One 7:e43811 Grilo C, Reto D, Filipe J, Ascensão F, Revilla E (2014) Understanding the mechanisms behind road effects: linking occurrence with road mortality in owls. Anim Conserv 17:555–564 Guinard E, Juillard R, Barbraud C (2012) Motorways and bird traffic casualties: carcasses surveys and scavenging bias. Biol Conserv 147:40–51 Newton I, Wyllie I, Asher A (1991) Mortality causes in British barn owls Tyto alba, with a discussion of aldrin–dieldrin poisoning. Ibis 133:162–169

296

11 Populationsstruktur

Abschnitt 11.4 Altwegg R, Roulin A, Kestenholz M, Jenni L (2003) Variation and covariation in survival, dispersal, and population size in barn owls. J Anim Ecol 72:391–399 Altwegg R, Roulin A, Kestenholz M, Jenni L (2006) Demographic effects of extreme winter weather in the barn owl. Oecologia 149:44–51 Altwegg R, Schaub M, Roulin A (2007) Age-specific fitness components and their temporal variation in the barn owl. Am Nat 169:47–61 de Bruijn O (1994) Population ecology and conservation of the barn owl Tyto alba in farmland habitats in Liemers and Achterhoek (the Netherlands). Ardea 82:1–109 Kniprath E, Kniprath SS (2014) Schleiereule Tyto alba: Eigenschaften und Bruterfolg einer zweiten niedersächsischen Population. EulenWelt 2014:43–65 Marti CD (1997) Lifetime reproductive success in barn owls near the limit of the species’ range. Auk 114:581–592 Sæther B-E, Grøtan V, Engen S, Coulson T, Grant PR, Visser ME, Brommer JE, Grant BR, Gustafsson L, Hatchwell BJ, Jerstad K, Karell P, Pietiäinen H, Roulin A, Røstad OW, Weimerskirch H (2016) Demographic routes to variability and regulation in bird populations. Nat Comm 7:12001 Taylor IR (1994) Barn owls: predator–prey relationships and conservation. Cambridge University Press, Cambridge

12

Gefiederpolymorphismus

12

12.1 Farbpolymorphismus 12.1.1 Schwarz und Weiß 77 In den meisten Schleiereulenpopulationen gleichen sich keine zwei Individuen haar-

genau. Das Gefieder auf der Körperunterseite variiert zwar von Individuum zu Individuum – von weiß bis dunkelrostbraun und von ungefleckt bis stark schwarz gefleckt. Man kann dennoch unterschiedliche Farbformen, die sogenannten Farbmorphen, definieren. Über den Farbpolymorphismus lassen sich Evolution und adaptive Funktion verschiedener Phänotypen verstehen, und auch, wieso diese Phänotypendiversität erhalten bleibt.

Die Farbunterschiede, die man zwischen und innerhalb von Schleiereulenarten beobachten kann, beruhen auf Melaninfarbstoffen. Melanin ist das häufigste Pigment in tierischen Integumenten und für einige der schönsten Farbmuster verantwortlich. Das graue bis schwarze Eumelanin ist nicht nur im Tierreich, sondern fast im gesamten Organismenreich verbreitet, während das hell- bis dunkelrotbraune Phäomelanin vor allem bei Säugern und Vögeln vorkommt – es mehren sich aber die Hinweise, dass es auch von Reptilien und Insekten synthetisiert werden kann. In der frühen Evolution schützte Melanin Bakterien und Pilze gegen biotische und abiotische Angriffe aus der Umwelt. In Einzellern sowie Evertebraten und Vertebraten übt Melanin nach wie vor dieselbe Schutzfunktion gegen ultraviolettes Licht und Parasiten aus. Melanin trägt auch zur Wärmespeicherung bei. Ferner regulieren einige Gene, die an der Melaninbiosynthese (Melanogenese) beteiligt sind, zahlreiche physiologische und verhaltensbiologische Prozesse (sogenannte pleiotrope Gene). So viele Funktionen für ein einziges Molekül! Während die gelben bis orangeroten Carotinoide (z. B. verantwortlich für die rote Färbung der Flamingos) über die Nahrung aufgenommen werden, wird die körpereigene Biosynthese von Melanin durch mindestens 120 Gene kontrolliert – was zeigt, dass die Melaninbildung eine Schlüsseladaptation ist. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Roulin, Schleiereulen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62514-9_12

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12.1 Farbpolymorphismus

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Abb. 12.1  Schleiereulenpaar mit rostbraun gefärbtem Weibchen (links) und weißlichem Männchen (rechts) (© Alexandre Roulin)

Die Untersuchung von Gefiedermerkmalen bei der Schleiereule Bei Evolutionsökologen ist es sehr beliebt, die adaptiven Funktionen der Farbmerkmale bei Vögeln zu untersuchen. Erstaunlicherweise haben sich außerhalb des Wissenschaftsbetriebs nur wenige Hobby-Ornithologen dafür interessiert – ihnen dienen Gefiedermerkmale hauptsächlich als Mittel zum Zweck, nämlich zur Bestimmung von Art, Geschlecht oder Alter eines Vogels. Nur sehr wenige Wissenschaftler haben untersucht, warum das Gefieder von Schleiereulen so unterschiedlich sein kann und welche adaptiven Funktionen die verschiedenen Farbmorphen haben könnten. Ich begann mich für diese Variabilität zu interessieren, als ich zum ersten Mal ein Schleiereulenpaar in der Hand hielt, bei dem das Männchen weißlich und das Weibchen dunkelrostbraun gefärbt war (Abb. 12.1). Es war genau dieses Ereignis, das mich zu einer akademischen Laufbahn motivierte und dazu, die Bedeutung der Grundfärbung und Fleckung des Gefieders zu erforschen. Als ich 1990 mit diesen Untersuchungen anfing, lachten mich Freunde und andere Ornithologen aus, da sie annahmen, ein scheinbar triviales Detail wie die Größe und Anzahl schwarzer Federtüpfel könne wohl kaum eine Funktion haben. In ihren Augen war es pure Zeitverschwendung, die schwarzen Flecke bei Schleiereulen zu zählen und auszumessen – wenn man mich fragte, warum das denn so interessant sei, hatte ich tatsächlich auch keine überzeugende Antwort. Nach Jahren intensiver Forschung sind die Ergebnisse jedoch verblüffend: Es zeigen sich Verbindungen zwischen Gefiedermerkmalen, Physiologie, Verhalten, Persönlichkeit, Ökologie sowie letztendlich natürlicher

300

12 Gefiederpolymorphismus

und sexueller Selektion. Es ist schon merkwürdig, dass derart winzige Gefiederdetails so wichtig sein können – und das bei einem Nachtvogel! Diese Ergebnisse werfen wichtige Fragen zu den genetischen Mechanismen auf, die derartigen Phänomenen zugrunde liegen.

Gefiedermerkmale der Schleiereule Die Schleiereulen und ihre Verwandten (Familie Tytonidae), mit ihrem cremefarbenen Rücken, der weißlichen Unterseite und dem herzförmigen Gesichtsschleier, lassen sich von den „typischen“ oder „echten“ Eulen (Familie Strigidae) klar unterscheiden. Die individuelle Variabilität der Gefiederfärbung (von weiß bis dunkelrostbraun und von makellos ungefleckt bis zu stark mit Schwarz gezeichneten Federspitzen; Abb. 12.2) ist bei den Schleiereulen, Graseulen sowie Neuhollandeulen & Co. erstaunlich ähnlich. Die einzige Ausnahme bilden die Rußeulen, die schwärzlich statt weißlich sind und weiße Flecke anstelle der schwarzen aufweisen, fast wie ein Fotonegativ der anderen Tytoniden. In seltenen Fällen kann eine Schleiereule aufgrund von Mutationen eine ganz andere Färbung aufweisen. Einige melanistische Schleiereulen wurden z. B. in den USA; Deutschland und Tschechien beobachtet. Dies weist darauf hin, dass sich vollständig schwarzes Gefieder – ähnlich wie bei der Rußeule – grundsätzlich überall auf der Welt ohne Weiteres entwickeln könnte. Diese Art von Färbung ist vermutlich bei Schleiereulen jedoch nicht so vorteilhaft wie bei Rußeulen und bleibt daher selten. Farbaberrationen sind selten, können aber nichtsdestotrotz in freier Natur auftreten, da sie wahrscheinlich oft von rezessiven Allelen codiert werden, die von beiden Eltern ererbt sein müssen, um sich auf den Phänotyp auszuwirken. In Tschechien waren bei zwei Geschwistern, die gemeinsam in einer Voliere brüteten, 23 % der Nachkommen melanistisch (7 von insgesamt 30), was den nach den Mendel’schen Regeln vorausgesagten 25 % sehr nahekommt, wenn Melanismus von einem einzigen rezessiven Allel codiert würde. Neben melanistischen Formen gibt es bisher nur zwei Berichte über Albinismus, einen über Erythrismus (ungewöhnliche rötliche Pigmentierung) sowie mehrere Fälle von teilweisem Verlust der Pigmentierung (Leuzismus) in Argentinien, Deutschland, Sardinien und der Schweiz. Farbpolymorphismus In den Populationen vieler Eulen, Greifvögel und Falken kann bei Individuen desselben Geschlechts und Alters eine von mehreren Farbmorphen auftreten. Wenn die Morphen ausreichend häufig sind, um nicht als Farbaberrationen angesehen zu werden, spricht man für die betreffende Art von einem Farbpolymorphismus. Bei den meisten Schleiereulenpopulationen kann man weltweit eine begrenzte Anzahl von Morphen unterscheiden (z. B. die „weiße“ und „rote“ Morphe), auch wenn die Färbung innerhalb der Population ein Kontinuum von Weiß bis zu Dunkelrostbraun aufweist. Die Expression des Farbpolymorphismus wird gewöhnlich nur durch eine Handvoll von Genen kontrolliert, wobei jede Morphe von einem eigenen Allel codiert wird. Die Untersuchung des Farbpolymorphismus ermöglicht die Beantwortung von drei wichtigen Fragen: 1. Wie können sich unterschiedliche Phänotpyen entwickeln? Eine Mutante für eine neue Farbvariante kann sich in einer Population ausbreiten, wenn sie ihrem Träger einen Startvorteil verschafft, ansonsten würde die neue Morphe so schnell verschwinden, wie

12.1 Farbpolymorphismus

301

Abb. 12.2  Bei der Schleiereule und ihren Verwandten sind die Gefiedermerkmale extrem variabel. Die Variation reicht von weiß bis dunkelrostbraun und von ungefleckt bis zu zahlreichen, verschieden großen schwarzen Flecken

302

12 Gefiederpolymorphismus

sie aufgetreten ist (oder zumindest sehr selten bleiben). In einem dichten Wald kann sich z. B. eine dunkel pigmentierte Mutante eines ansonsten hellen Greifvogels oder Falken besser verbergen. Damit könnte sie den hellen Artgenossen gegenüber einen Vorteil haben, wenn sie in einem derartigen Habitat jagt. (Außerdem könnte sie dadurch die Bandbreite der ökologischen Nischen für die betreffende Art erweitern.) Eine neue Morphe könnte sich auch verbreiten, wenn sie Vorteile vermittelt, solange sie noch selten ist. Eine neue Morphe könnte z. B. einen höheren Jagderfolg haben, solange die Beutetiere sie nicht als Beutegreifer erkennen. Räuber-Beute-Beziehungen können daher als starker Selektionsfaktor wirken, der die Herausbildung von Farbpolymorphismen bei Greifen und ihrer Beute auslöst, um den Jagderfolg zu steigern oder Prädatoren zu entgehen. 2. Wie können Farbmorphen in derselben Population koexistieren? Eine Farbmorphe kann fortbestehen, wenn es für das Individuum gleichgültig ist, ob es die eine oder die andere Morphe aufweist, und die Morphe keinen Effekt auf sein Verhalten oder seine Physiologie oder auf das Verhalten seiner Prädatoren, Rivalen und potenziellen Partner hat. Diese Annahme ist nicht besonders aufregend, und man hat daher versucht, wissenschaftlich zu klären, ob sich eine gegebene Färbung nicht doch in irgendeiner Weise auf das tägliche Leben ihres Trägers auswirkt. In der Wissenschaft fragt man sich, ob Morphen alternative verhaltensbiologische oder physiologische Strategien darstellen könnten, mit deren Hilfe ihre Träger im Lauf des Gesamtlebens dieselbe Zahl an Nachkommen zeitigen. Anders ausgedrückt: Die Tiere mit den unterschiedlichen Morphen haben dieselbe Langzeit-Fitness, erreichen diese jedoch mit verschiedenen Mitteln. Um zu erklären, warum eine Morphe sich nicht in der gesamten Population durchsetzt, indem sie die anderen Morphen so lange verdrängt, bis diese aussterben, können zwei Szenarien postuliert werden. Erstens kann jede Morphe an ein spezifisches Habitat angepasst sein – so könnte eine Morphe in offenen Lebensräumen und eine andere in geschlossenen Habitaten besser gedeihen. Die Häufigkeit (Frequenz) dieser beiden Morphen stünde dann in direkter Beziehung zur Prävalenz des jeweiligen Habitats. Zweitens können die Morphen dieselbe Fitness bei der sogenannten Gleichgewichtsfrequenz (equilibrium frequency) erreichen, solange sich die Häufigkeit der Morphe nicht von diesem Gleichgewicht entfernt. Jedes Abweichen von der Gleichgewichtsfrequenz würde das System destabilisieren und dazu führen, dass die übermäßig häufige Morphe eine verminderte Fitness und die andere, weniger häufige Morphe dann eine gesteigerte Fitness aufweist. In diesem Szenario würde sich eine Gleichgewichtsfrequenz rasch wieder einstellen. So könnten z. B. rote und weiße Individuen in einer bestimmten Population nur dann dieselbe Fitness erreichen, wenn (hypothetisch angenommen) 60 % rot und 40 % weiß wären. Wenn die roten bzw. weißen Morphen häufiger bzw. weniger häufig werden (vielleicht weil die meisten Immigranten, die aus einer anderen Population kommen, rot sind), würden die roten Individuen daraufhin eine Fitnessreduktion und die weißen eine Fitnesszunahme erfahren. Deshalb würde dann die rote Morphe wieder seltener und die weiße Morphe häufiger werden, bis das 60/40-Gleichgewicht wieder erreicht ist. Diese sogenannte frequenzabhängige Selektion (frequency-dependent selection) kann sehr effektiv dafür sorgen, dass eine bestimmte Morphe die anderen Morphen nicht verdrängt. Ein Beispiel: Um Zugang zu

12.1 Farbpolymorphismus

303

Abb. 12.3  Beim Kampfläufer sind schwarze Männchen aggressiver, während weiße Männchen sich hinterlistig verhalten, um sich Paarungen mit den Weibchen zu erschleichen

potenziellen Brutpartnerinnen zu haben, sind schwarze Kampfläufermännchen ihren Rivalen gegenüber aggressiv, während weiße Männchen sich eher „hinterlistig“ verhalten (Abb. 12.3). Wenn die schwarzen Männchen immer häufiger werden, vertun sie zunehmend Zeit mit Rivalenkämpfen, statt sich zu paaren. Dies begünstigt hinterlistige weiße Männchen, die nicht kämpfen, sondern sich darauf konzentrieren, Weibchen direkt anzulocken. 3. Worin liegt die adaptive Funktion jeder Morphe? Wenn Farbmorphen an spezifische lokale Umweltbedingungen angepasst sind oder die Fitness frequenzabhängig ist, können Morphen als alternative Strategien angesehen werden. Morphen können sich unterschiedlich verhalten, um Partner anzulocken, wie es bei schwarzen und weißen Kampfläufern der Fall ist. Morphen können auch verschiedene Fortpflanzungsstrategien nutzen, wie beim Waldkauz: Rostbraune Männchen sind unabhängig von den Umweltbedingungen konstant brutbereit, während hellere, eher graue Männchen ihre Brutbereitschaft an unterschiedliche Umweltbedingungen anpassen. Verschieden gefärbte Individuen könnten auch alternative physiologische Strategien verfolgen; dabei käme die eine Morphe physiologisch mit Stressfaktoren besser zurecht als die andere. Dies könnte der Fall sein, wenn die Morphen die Synthese von Glucocorticoiden (den Stresshormonen) in Relation zu Prädatoren, Pathogenen, Nahrungsmangel oder anderen Stressoren unterschiedlich regulieren.

12 Gefiederpolymorphismus

304

12.1.2 Offene Forschungsfragen • Es ist nicht einfach, morphenspezifische Strategien zu identifizieren, da diese Strategien kontextabhängig sein können. Unter den meisten Bedingungen reagieren die Morphen ähnlich, doch bei Kälte, Nahrungsmangel oder einer Epidemie könnte es passieren, dass eine Morphe plötzlich erfolgreicher wird. Daher muss man Fortpflanzungserfolg, Überlebensrate, Verhalten und Physiologie von unterschiedlich gefärbten Individuen, die unter verschiedensten Umweltbedingungen leben, langfristig untersuchen. Sobald die adaptive Funktion einer Morphe identifiziert ist, muss man im nächsten Schritt verstehen, wie die verschiedenen Morphen koexistieren können, d. h. ob eine Morphe an spezifische Umweltbedingungen angepasst ist oder ob die Fitness jeder Morphe in Relation zu ihrer Häufigkeit schwankt. • Um zu bestimmen, wie Morphen im Lauf der Evolution entstanden sind, müssen zahlreiche Arten verglichen werden, um zu identifizieren, welche Färbung ursprünglich und welche abgeleitet ist.

12.2

Genetik des Gefiederpolymorphismus

12.2.1 Das Erbe 77 Die Anzahl und Identität von Genen sowie ihr Einfluss auf die Expression melaninba-

sierter Farbmerkmale sind wichtig, um zu verstehen, warum Gefiedermerkmale bei Schleiereulen, Graseulen und Neuhollandeulen & Co. so variabel sind. Bei der Schleiereule beruht die große Ähnlichkeit zwischen verwandten Individuen auf gemeinsamen Genen (Abb. 12.4) und nicht auf einer gemeinsamen Umwelt. Da die Vererbung der rostbraunen Grundfärbung und jene der Anzahl sowie Größe der schwarzen Flecke nicht völlig unabhängig sind, beeinflusst die Selektion, die auf ein Gefiedermerkmal ausgeübt wird, auch den Evolutionsverlauf der anderen beiden Merkmale.

Die quantitative Genetik ermittelt die relativen Beiträge von Genetik und Umwelt auf die Variabilität des Phänotyps. So hängt z. B. die Rosafärbung bei Flamingos hauptsächlich von der Carotinoidmenge ab, die aus der Umwelt aufgenommen wird (die von Flamingos gefressenen Algen und Kleinkrebse). Bei farbpolymorphen Tieren, wie Stadttauben und Kampfläufern, beruhen die Farbunterschiede der Individuen auf unterschiedlichen Allelen des Polymorphismus-Gens.

Quantitative Genetik Die Unterseite eines Schleiereulenkörpers variiert von weiß zu dunkelrostbraun und von ungefleckt bis zu stark gefleckt. Um zu ermitteln, ob Genetik oder Aufzuchtbedingungen die Erklärung für Geschwisterähnlichkeit sind, wurden in der Schweiz Fremdpflegeversuche (cross-fostering) durchgeführt, indem Eier oder frischgeschlüpfte Küken zwischen zufällig ausgewählten Nestern ausgetauscht wurden. Dadurch konnten wir verwandte Individuen vergleichen, die in verschiedener Umgebung aufgezogen wurden, sowie nichtverwandte

12.2  Genetik des Gefiederpolymorphismus

305

Abb. 12.4  Diese vier jungen Schleiereulen (rechts) sind ihrem Elternvogel (links) sehr ähnlich, da sie gemeinsame Gene haben

Individuen, die in derselben Umgebung groß wurden. Theoretisch könnten unterschiedlich gefärbte Eltern qualitativ verschiedene Habitate nutzen und unterschiedlich viel Aufwand in die Brutpflege investieren. Durch die Verteilung auf zufällig ausgewählte Nester konnte jedoch garantiert werden, dass Nestlinge, die von Eltern mit unterschiedlichem Gefieder stammten, im Mittel ähnlichen Aufzuchtbedingungen ausgesetzt waren. Die Ergebnisse dieser Versuche sind klar. Vollgeschwister, die in verschiedenen Nestern aufgezogen wurden, ähneln einander hinsichtlich ihrer rostbraunen Färbung und Anzahl sowie Größe der schwarzen Flecke, während nichtverwandte Nestgenossen keine Gefiederähnlichkeit besitzen und ihren biologischen, nicht jedoch ihren Adoptiveltern ähneln (Abb. 12.5). Dies weist darauf hin, dass verwandte Individuen deshalb ein ähnliches Gefieder aufweisen, weil sie gemeinsame Gene besitzen und nicht weil sie in derselben Umwelt leben. Überdies führte eine schlechtere Nahrungsversorgung (z. B. durch Zunahme der Brutgröße) bei den Nestlingen nicht zur Ausbildung von unterschiedlichem Gefieder, genauso wenig wie bei Jungeulen in experimentell verkleinerten Bruten (mit besserer Nahrungsversorgung, die Eltern weniger Nestlinge füttern mussten). Demnach bildete ein Individuum immer die genetisch programmierte Farbmorphe aus, und zwar unabhängig von Menge und Qualität der verzehrten Nahrung sowie unabhängig von seinem Körperzustand. Um unterschiedlich gefärbt zu sein, reicht bereits ein verändertes Allel eines Polymorphismus-Gens aus, das für die Melaninsynthese verantwortlich ist (d. h. eines Melanoge-

12 Gefiederpolymorphismus

Brüder in verkleinerten Bruten

Brüder im Adoptivnest

306

Brüder in vergrößerten Bruten

Nichtverwandte Nestgenossinnen

Brüder im Ursprungsnest

Schwestern im Ursprungsnest

Abb. 12.5  Verwandte Schleiereulen ähneln sich hinsichtlich des Ausmaßes der rostbraunen Färbung, da sie gemeinsame Gene haben, nicht aber weil sie unter denselben Aufzuchtbedingungen groß geworden sind (oben links). Von ihren biologischen Eltern aufgezogene männliche Nestlinge entwickeln eine ähnliche Gefiederfärbung wie ihre von Adoptiveltern aufgezogenen Brüder (Punkte auf der Diagonalen repräsentieren Brüder, die genau dieselbe Färbung aufweisen) (oben rechts). Männliche Nestlinge, die in Bruten aufgezogen wurden, in denen zwei frischgeschlüpfte Küken dazugesetzt wurden, entwickelten eine ähnliche Färbung wie ihre Brüder, die in Bruten groß wurden, in denen zwei Küken entfernt wurden (Punkte liegen gleich oft über wie unter der Diagonalen) (unten). Im Ursprungsnest aufgezogene weibliche Nestlinge ähnelten ihren nichtverwandten weiblichen Nestgenossen nicht (Punkte liegen nicht in der Nähe der Diagonalen, die die Einheitsgerade darstellt). Jeder Punkt repräsentiert die durchschnittliche Geschwisterrotfärbung (Aus Roulin et al. 1998)

nese-Gens). Auch wenn theoretisch nur ein einziges oder wenige Gene zur Modifizierung der Färbung führen können, sind in den meisten Fällen viele Gene an der Expression der Gefiedermerkmale beteiligt. Sogar ohne die Identität der spezifischen Gene zu kennen, die ein Merkmal beeinflussen, können wir die Größenordnung berechnen, welche die addierten Effekte ihrer Unterschiede in den Gefiedermerkmalen annehmen, und zwar über die Heritabilität. Die Werte der Heritabilität reichen von 0 (verwandte Individuen ähneln sich nicht,

12.2  Genetik des Gefiederpolymorphismus

307

oder es sind keine genetischen Faktoren an ihrer Ähnlichkeit beteiligt) bis 1 (verwandte Individuen ähneln sich aufgrund von genetischen Faktoren völlig). Die Heritabilitätswerte sind für die rostbraune Färbung größer (h2male = 0;87; h2female = 0;79; male = „männlich“, female = „weiblich“) als für den Durchmesser der Flecke (h2male = 0;81; h2female = 0;58) und die Anzahl der Flecke (h2male = 0;72; h2female = 0;50), was darauf hinweist, dass verwandte Individuen hinsichtlich der rostbraunen Färbung ähnlicher sind als hinsichtlich der Gefiederfleckung. Diese Heritabilitätswerte sind sehr hoch; dies bedeutet, dass die Ausbildung von Gefiedermerkmalen streng genetisch kontrolliert ist und kaum von den Umweltbedingungen beeinflusst wird. Falls also Individuen mit einem bestimmten Gefiedertyp in schlechterem physiologischem Zustand sind oder andere Habitate nutzen als andersartig gefiederte Artgenossen, so liegt dies demnach nicht daran, dass die Umwelt die Ausbildung der melaninbasierten Färbung reguliert. Vielmehr würde ein Zusammenhang zwischen Gefieder, Umweltvariablen und Körperzustand darauf hindeuten, dass der Besitz eines gegebenes Gefiedermerkmals irgendwie direkt oder indirekt beeinflussen kann, wie Individuen ihre Umwelt nutzen oder ihre Fähigkeit anzeigen, „stressige“ Umweltereignisse auszuhalten. Die Ausbildung eines genetisch vererbten Gefiedermerkmals könnte daher Verhalten und Physiologie dieser Individuen vorhersagen. So könnten dunkelrostbraune und weißliche Eulen z. B. an unterschiedliche Umweltbedingungen angepasst sein und vorzugsweise unterschiedliche Beute sowie unterschiedliche Habitate nutzen. Wie wir später sehen werden, ist das tatsächlich der Fall! Die Heritabilitätswerte liegen für Männchen höher als für Weibchen und deuten darauf hin, dass die Ähnlichkeit zwischen Eltern und ihrem Nachwuchs für die Väter stärker als für die Mütter ausgeprägt ist. Teilweise liegt das daran, dass einige der Gene, die für Gefiedermerkmale codieren, auf dem Geschlechtschromosom Z liegen. Die homo­ gametischen Männchen besitzen zwei Z-Kopien und die heterogametischen Weibchen nur ein Z-Chromosom – diese Z-Kopie wird an die Söhne vererbt, die Töchter erhalten eine Kopie des W-Chromosoms. Bei Vögeln liegen auf dem Z-Chromosom typischerweise mehr Gene als auf dem W-Chromosom, sodass letzteres vermutlich nur wenige Auswirkungen auf Gefiedermerkmale hat. Daher ist es nicht überraschend, dass die auf dem Z-Chromosom gelegenen Gene etwa für die Hälfte der Variation in der Fleckengröße verantwortlich sind, verglichen mit Genen, die auf autosomalen Chromosomen (Autosomen) liegen (27 % versus 44 %). Da Schleiereulen 92 Chromosomen besitzen, auf denen Gene, die für Gefiedermerkmale codieren, lokalisiert sein könnten, ist der höhere Wert von 44 % nicht überraschend. Demnach ist etwa ein Drittel der Gene (oder ein Drittel ihrer Auswirkungen), die an der Ausbildung der Gefiederflecke beteiligt sind, auf dem Z-Chromosom lokalisiert, und zwei Drittel befinden sich auf autosomalen Chromosomen.

Genetische Korrelationen zwischen Gefiedermerkmalen Die rostbraune Färbung wird durch Räuber-Beute-Interaktionen natürlich selektiert, und die Gefiederfleckung wird sexuell durch Partnerwahl selektiert. Diese Gefiedermerkmale werden jedoch nicht unabhängig vererbt, sondern sind genetisch korreliert (Abb. 12.6). Demnach sollte die natürliche Selektion, der die rostbraune Färbung unterliegt, auch die Entwicklung der sexuell selektierten Gefiederfleckung beeinflussen und umgekehrt. Dun-

308

12 Gefiederpolymorphismus

kelrostbraue Eulen weisen z. B. mehr und größere schwarze Flecke auf als weißliche Eulen, und folglich sollten – wenn die natürliche Selektion rostbraune gegenüber weißlichen Eulen bevorzugt – nicht nur rostbraune, sondern auch stark gefleckte in ihrer Häufigkeit zunehmen. Dies könnte ein Nachteil sein, falls die sexuelle Selektion klein gefleckte gegenüber groß gefleckten Individuen bevorzugt. Folglich werden genetische Korrelationen zwischen phänotypischen Merkmalen gewöhnlich als evolutionäre Beschränkung (evolutionary constraint) angesehen, da genetische Korrelationen die Organismen indirekt über ihr phänotypisches Optimum hinaustreiben. Indem man die genaue Beziehung zwischen Gefiedermerkmalen ermittelt, könnte man Informationen darüber gewinnen, welche Merkmalskombinationen am häufigsten und potenziell die besten sind. Bei der Schleiereule basieren rostbraune Färbung und Gefiederfleckung auf der Einlagerung von Melaninpigmenten, und deshalb könnten Melanogenese-Gene gleichzeitig mehr als ein Gefiedermerkmal verändern. Ausgehend von dieser Feststellung liegt die genetische Korrelation zwischen rostbrauner Färbung und Zahl und Größe der Flecke bei 0,50 bzw. 0,56 (ein Wert von 0 zeigt an, dass die beiden Merkmale nicht genetisch korreliert sind, und ein Wert von 1, dass sie perfekt korreliert sind). Das bedeutet, dass rostbraune Eulen im Durchschnitt mehr und größere schwarze Flecke haben als weiße Eulen. Da die Korrelation nicht perfekt ist (d. h. einige weiße Eulen können viele große Flecke aufweisen), können wir daraus schließen, dass verschiedene Gene an der Ausprägung der rostbraunen Färbung und der Gefiederfleckung beteiligt sind. Die genetische Korrelation zwischen Zahl und Größe der schwarzen Flecke ist viel stärker (0,93), demnach gilt: Je mehr Flecke ein Vogel erbt, desto größer sind diese Flecke. Die Tatsache, dass genetische Korrelationen zwischen Gefiedermerkmalen bei Männchen 1,6mal stärker als bei Weibchen sind, deutet darauf hin, dass es für Männchen entscheidender als für Weibchen ist, entweder rostbraun und stark gefleckt oder weiß und ungefleckt zu sein.

Genetische Korrelationen zwischen den Geschlechtern Männliche und weibliche Geschwister können einander ähneln, da sie große Anteile ihrer von den Eltern ererbten genetischen Ausstattung teilen. Durch die Auswirkung der Geschlechtschromosomen können sie sich jedoch in wichtigen Aspekten unterscheiden – das bedeutet, dass bei manchen Merkmalen Söhne stärker ihrem Vater gleichen und Töchter ihrer Mutter (Abb. 12.7). Das ist insofern nicht trivial, als die Ausbildung der Gefiedermerkmale bei vielen Vögeln geschlechtsspezifisch ist – wie beim Strauß, bei dem nur die Männchen schwarz, die Weibchen dagegen braun sind. Wir können berechnen, in welchem Ausmaß ein bestimmtes Merkmal zwischen den Geschlechtern genetisch korreliert ist, d. h. in welchem Ausmaß die genetische Variabilität sowohl an männliche als auch weibliche Geschwister weitergegeben bzw. bei ihnen ausgebildet wird. Bei der Schleiereule liegen die Werte für die genetischen Korrelationen zwischen den Geschlechtern für die rostbraune Färbung (0,996), Fleckendurchmesser (0,963) sowie Anzahl der Flecke (0,903) sehr nahe am Höchstwert von 1. Das bedeutet, dass bei der Schleiereule bei Männchen und Weibchen dieselben Gene an der Ausbildung von Gefiedermerkmalen beteiligt sind, und dass diese Gene in den beiden Geschlechtern nur wenig unterschiedlich exprimiert werden. Demnach gibt es nur wenig Variation bei

12.2  Genetik des Gefiederpolymorphismus

309

Rostbraune Färbung

Fleckdurchmesser (mm)

1,6 1,4 1,2 1,0 0,8 0

45

95

0

45

95

Anzahl der schwarzen Flecke

Rostbraune Färbung

Anzahl der schwarzen Flecke

0

0,5

1,0

1,5

2,0

2,5

Fleckdurchmesser (mm)

Abb. 12.6  Gefiedermerkmale werden nicht unabhängig voneinander vererbt, wie durch die Korrelation zwischen Gefiedermerkmalen bei 1692 Weibchen (orangebraune Linie) und 1547 Männchen (graue Linie) gezeigt wurde (Daten in der Schweiz erhoben). Genetische Korrelation zwischen Anzahl und Größe der schwarzen Flecke (oben links), Anzahl der schwarzen Flecke und rostbrauner Färbung (oben rechts) sowie Größe der schwarzen Flecke und rostbrauner Färbung (unten)

den genetischen Faktoren, welche die geschlechtsspezifischen Effekte steuern. Wenn zum Beispiel Männchen (nicht jedoch Weibchen) auf weißeres Gefieder selektiert werden, verläuft die Etablierung einer weißlichen Färbung möglicherweise langsam, da die Weibchen ständig Gene, die für eine rostbraune Farbe codieren, an ihre Söhne weitergeben. Ferner können Weibchen sich zunehmend zu einer weißlichen Färbung hin fortentwickeln, auch wenn sie nicht daraufhin selektiert werden, schlicht deshalb, weil Väter Gene an ihre Töchter weitergeben, die für ein weißes Gefieder codieren. Die genetischen Korrelationen zwischen den Geschlechtern haben viele Implikationen. Man denke nur an den genetischen Konflikt, der dadurch entsteht, dass Männchen und Weibchen mit kleinen bzw. großen schwarzen Flecken positiv selektiert werden. Für die Männchen ist es besser, ungefleckt zu sein, während für die Weibchen eine intensive schwarze Gefiederfleckung besser ist. Diesem Konflikt liegt die starke genetische Korrelation zwischen den Geschlechtern in Bezug auf Fleckendurchmesser zugrunde, da die

12 Gefiederpolymorphismus

Männchen-Gefiederfärbung

310

Weibchen-Gefiederfärbung

Abb. 12.7  Durchschnittliche Gefiederfärbung von Männchen und Weibchen in sechs europäischen Populationen der Schleiereule. Die Abbildung zeigt, dass in Populationen mit dunkelrostbraunen Weibchen auch die Männchen dunkelrostbraun und umgekehrt in Populationen mit weißlichen Weibchen auch die Männchen weißlich waren (Aus Roulin et al. 2001)

bei einem Geschlecht ausgeübte Selektion auf ein Gefiedermerkmal unweigerlich auch dasselbe Merkmal beim anderen Geschlecht beeinflussen wird. Dies konnte in der Schweiz gezeigt werden; dort führte eine positive Selektion auf die Größe der schwarzen Flecke bei Weibchen zu einer Zunahme des Anteils an großfleckigen Weibchen und Männchen, auch wenn bei den Männchen eher gegen große Flecke selektiert wurde.

Molekulargenetik Bisher verwendete man den Kandidatengen-Ansatz, um Gene zu identifizieren, die für phänotypische Variation verantwortlich sind (Abb. 12.8). Dieser Ansatz ist einfach: Wenn ein Gen bei Labortieren (wie Mäusen) bekanntermaßen an der Bildung von Melaninpigmenten beteiligt ist, dann untersucht man bei anderen Organismen, z. B. der Schleiereule, ob genau dieses Gen erklären kann, warum einige Eulen dunkel und andere hell sind. Idealerweise sollte dieses Gen polymorph sein – die dunklen Vögel also ein anderes Allel besitzen als die hellen Artgenossen. Diese Methode wurde z. B. eingesetzt, um zu bestimmen, ob das Melanocortin-1-Rezeptor-Gen (MC1R) auch bei der Schleiereule für die Ausbildung der Farbe verantwortlich ist, so wie bei vielen anderen Wirbeltieren (beim Menschen bedingt es Rothaarigkeit). In den europäischen Populationen der Schleiereule (Western Barn Owl) ist MC1R polymorph; dabei codiert das anzestrale Allel MC1RWhite (White = „Weiß“) eine weißliche Färbung und das abgeleitete Allel MC1RReddish (Reddish = „Rostbraun“) eine rostbräunliche Färbung. Das letztgenannte Allel entwickelte sich nach der letzten Eiszeit im Lauf der Wiederbesiedlung von Nordosteuropa; dort ist es nach wie vor sehr häufig. Der MC1REinfluss auf Gefiedermerkmale variiert zwischen den Körperteilen und unterscheidet sich

12.2  Genetik des Gefiederpolymorphismus

311

Abb. 12.8  Die Molekulargenetik versucht, Gene zu identifizieren, die an der Ausbildung phänotypischer Merkmale beteiligt sind; ein Beispiel sind die Gefiedermerkmale bei der Schleiereule

je nach Geschlecht und jeweiligem Gefiedermerkmal. Dieses Gen hat einen relativ starken Effekt auf die Ausbildung der rostbraunen Färbung, insbesondere bei Männchen unter den Flügeln, und erklärt dort 79 % der Färbungsvariation – deutlich geringer ist der Effekt auf der Brust von Weibchen (10 %). Der Einfluss von MC1R auf Anzahl und Größe der schwarzen Flecke ist deutlich weniger ausgeprägt; nur weniger als 1 % der Variation zwischen den Individuen lässt sich so erklären. Der Effekt dieses Gens ist bei Männchen fast doppelt so groß wie bei Weibchen und erklärt 64 % bzw. 34 % der interindividuellen Varianz bei der rostbraunen Färbung. Dies liegt an einem stärkeren Effekt von MC1RWhite auf die männliche Färbung als auf die weibliche; hingegen sind Männchen und Weibchen, die das MC1RReddish-Allel besitzen, in der Färbung ähnlicher. Dies hat zur Folge, dass der sexuelle Dimorphismus bei homozygoten Individuen, die zwei Kopien von MC1RWhite besitzen, stärker ausgeprägt ist als bei homozygoten Individuen mit zwei Kopien von MC1RReddish sowie bei heterozygoten Individuen. Diese Ausprägung des sexuellen Dimorphismus ist nicht auf die Schweiz beschränkt, sondern wird weltweit beobachtet: Männchen und Weibchen ähneln sich in Regionen, in denen die Schleiereulen rostbraun sind, stärker als in Regionen, in denen sie weißlich sind.

12 Gefiederpolymorphismus

312

12.2.2 Offene Forschungsfragen • Ist als es Individuum besser, dunkelrostbraun mit vielen großen Flecken zu sein oder von diesem generellen Muster abzuweichen (d. h. rostbraun mit kleinen Flecken oder weiß mit großen Flecken)? Verbessern schwarze Flecke die potenziell tarnende Funktion des rostbraunen Gefieders, oder können schwarze Flecke von Artgenossen besser bei weißen als bei rostbraunen Eulen wahrgenommen werden? Mehrere Ansätze sind möglich, um diese Fragen zu beantworten; beispielsweise könnte man untersuchen, ob die unterschiedlichen Kombinationen von rostbrauner Färbung und Fleckung unterschiedlich mit Überleben und Fortpflanzungserfolg assoziiert sind. Ein anderer Ansatz wäre, weltweit zu untersuchen, ob unterschiedliche ökologische Faktoren die Ausbildung unterschiedlicher Merkmalskombinationen steuern. • Die Genomik ist eine neue Methode zum Screening von Genomen, um genetische Varianten zu finden, die mit der phänotypischen Variation zusammenhängen – und zwar ohne vorheriges Wissen darüber, welches Gen an der Farbproduktion beteiligt sein könnte (ähnlich wie beim Kandidatengen-Ansatz). Diese Methode könnte dabei helfen, abgesehen von MC1R weitere Gene zu identifizieren, die an der Ausbildung der unterschiedlichen Gefiedermerkmale beteiligt sind. • MC1R sollte bei allen Tytonidae sequenziert werden, um zu ermitteln, ob es auch außerhalb von Europa am Farbpolymorphismus beteiligt ist. Es wäre ferner interessant herauszufinden, ob dieselben oder unterschiedliche Mutationen mit der Farbvariation der übrigen Tytonidae in Beziehung stehen.

12.3

Sexualdimorphismus der Gefiedermerkmale

12.3.1 Androgynie 77 Bei allen Populationen der Schleiereulen, Graseulen sowie Neuhollandeulen & Co.

sind die Weibchen durchschnittlich in der Grundfärbung dunkler rostbraun als die Männchen und weisen mehr und größere schwarze Gefiederflecke auf (Abb. 12.9). Die Gefiedermerkmale können jedoch nicht zur Geschlechtsbestimmung eines Vogels verwendet werden, da einige Männchen ein typisches Weibchengefieder und einige Weibchen ein typisches Männchengefieder zeigen. Was die Färbung angeht, ist der Sexualdimorphismus unvollständig und variiert daher zwischen Familien; dabei ähneln die Brüder manchmal den Schwestern.

Das Ausmaß, in dem sich Männchen und Weibchen morphologisch unterscheiden, d. h. sexualdimorph sind, hängt davon ab, ob unterschiedliche Phänotypen bei Männchen und Weibchen selektiert werden. Bei Vögeln sind meistens die Weibchen stärker in die Brutpflege eingebunden als die Männchen, daher wird eine kryptische Färbung bei den Weibchen natürlich selektiert – so können sie sich mit ihrem Nachwuchs verborgen halten. Dagegen werden auffällige Färbungen bei den Männchen primär sexuell selektiert – so können sie eine Partnerin anlocken oder Rivalen abschrecken. Diese verbreitete Situation

12.3  Sexualdimorphismus der Gefiedermerkmale

313

Abb. 12.9  Im Durchschnitt sind Männchen weißer als Weibchen und besitzen weniger und kleinere schwarze Gefiederflecke

könnte aber bei Greifen (Greifvögeln, Falken, Eulen), bei denen das Männchen intensiv an der Aufzucht beteiligt ist, etwas abweichen. Bei ihnen könnte die Gefiederfärbung der Männchen einer natürlichen Selektion auf verbesserten Jagderfolg unterliegen.

Sexualdimorphismus der Gefiedermerkmale Alle Schleiereulen, Graseulen sowie Neuhollandeulen & Co. sind, was die Gefiedermerkmale angeht, sexualdimorph. Verglichen mit den Männchen sind die Weibchen im Durchschnitt dunkler rostbraun und weisen auf der Körperunterseite mehr und größere schwarze Gefiederflecke auf. Der Sexualdimorphismus ist jedoch nicht vollständig, denn es wurden männchenähnliche Weibchen (weißlich mit wenigen kleinen Flecken) und weibchenähnliche Männchen (rostbraun mit vielen großen Flecken) beobachtet. In der Schweiz unterscheiden sich Schwestern nur in 57 % der Nester durch eine dunkler rostbraune Färbung mit mehr und größeren Flecken von ihren Brüdern. Gefiedermerkmale können demnach nicht zuverlässig zur Geschlechtsbestimmung herangezogen werden. Wenn die Eltern und besonders die Mutter dunkler pigmentiert sind (d. h. dunkelrostbraun und intensiv mit großen schwarzen Flecken gezeichnet), weisen die Söhne und Töchter ein ähnlich dunkel pigmentiertes Gefieder auf. Wenn dagegen beide Eltern blassrostbraun sind und ihr Gefieder leicht gefleckt ist, sind auch die Söhne hell und leicht gefleckt, während die Töchter dunkel und intensiv gefleckt sind. Folglich ist der Sexualdimorphismus der Nachkommen wesentlich deutlicher ausgeprägt, wenn die dunkle Pigmentierung bei den Eltern nur schwach ist. Das liegt daran, dass weibliche Nachkommen kein typisches männchenähnliches Gefieder (weiß und ungefleckt) ausbilden, nicht aber daran,

314

12 Gefiederpolymorphismus

dass männliche Nachkommen kein typisches weibchenähnliches Gefieder (rostbraun und stark gefleckt) ausbilden. Es verursacht für die Weibchen vermutlich höhere Kosten, ein männchenspezifisches Gefieder zu besitzen, als umgekehrt für die Männchen im Fall eines weibchenspezifischen Gefieders. Dies ist ein globaler Trend in allen Schleiereulenpopulationen, da Männchen und Weibchen überall dort ähnlicher aussehen, wo die Vögel im Durchschnitt eher rostbraun als weißlich sind. In Deutschland (dort sind die Schleiereulen dunkel) ist der Sexualdimorphismus bei Gefiedermerkmalen z. B. viel schwächer als in Spanien (dort sind sie hell).

Einflussfaktoren für den Sexualdimorphismus Wie in der Schweiz gezeigt, ist das Ausmaß des Sexualdimorphismus bei Gefiedermerkmalen von Genen abhängig, die auf autosomalen Chromosomen, nicht jedoch auf Geschlechtschromosomen liegen. Der Sexualdimorphismus ist bei der rostbraunen Grundfärbung stärker ausgeprägt als bei der Anzahl der Flecke oder dem Durchmesser der Flecke: Bei 92 % der Familien sind die Schwestern dunkler rostbraun als ihre Brüder, zudem besitzen 78 % mehr schwarze Flecke bzw. 67 % größere schwarze Flecke als die Brüder. Dieses Muster ist jedoch nicht universell. Im Vereinigten Königreich ist der Sexualdimorphismus bei der rostbraunen Grundfärbung stärker ausgeprägt, gefolgt vom Fleckendurchmesser und dann der Fleckenanzahl. In den USA besteht bei den sexualdimorphen Merkmalen dagegen die Reihenfolge Fleckengröße und Fleckenanzahl, gefolgt von rostbrauner Grundfärbung. Vermutlich selektieren demnach in unterschiedlichen Regionen unbekannte ökologische Faktoren auf unterschiedliche Abstufungen im Sexualdimorphismus. Die einzigen verfügbaren Daten zu diesem Themenkomplex weisen darauf hin, dass der Sexualdimorphismus bei der Fleckengröße auf abgelegenen Inseln stärker ist als auf Inseln, die in Festlandsnähe liegen. Was die Intensität der rostbraunen Färbung angeht, ist der Sexualdimorphismus auf Inseln schwächer ausgeprägt als auf dem Festland und zudem auf der Südhalbkugel stärker als auf der Nordhalbkugel. Ferner ist der Sexualdimorphismus in Anzahl und Größe der schwarzen Flecke in gemäßigten Klimazonen stärker ausgeprägt als in Äquatornähe, während bei der rostbraunen Färbung der entgegengesetzte Trend beobachtet wird, nämlich dass die Weibchen den Männchen in gemäßigten Zonen ähnlicher sind als in Äquatornähe. Diese Befunde sind faszinierend – um ihre biologische Bedeutung zu verstehen, ist jedoch mehr Forschung nötig.

12.3.2 Offene Forschungsfragen • Die Gene, die an der Ausprägung von Gefiederunterschieden bei Männchen und Weibchen beteiligt sind, sollten weltweit und bei vielen Individuen identifiziert und sequenziert werden. Damit ließe sich besser ermitteln, warum – aus mechanistischer Sicht – der Sexualdimorphismus geografisch variiert und wie er sich herausbilden konnte und aufrechterhalten wird. • Der Sexualdimorphismus variiert je nach Familie, was die Frage aufwirft, ob Altvögel, die Töchter aufziehen, die sich im Gefieder von ihren Brüdern unterscheiden, eine höhere Fitness erreichen als Altvögel, die ähnlich gefärbte Söhne und Töchter aufziehen.

12.4  Altersabhängige Veränderungen der Gefiedermerkmale

315

Da der Sexualdimorphismus auf Weibchen zurückgeht, deren Gefieder nicht weiß und nicht ungefleckt ist, jedoch nicht auf Männchen, deren Gefieder nicht dunkel und nicht stark gefleckt ist, muss man fragen, ob die Selektion stärker gegen männchenähnliche Weibchen als gegen weibchenähnliche Männchen gerichtet ist.

12.4

Altersabhängige Veränderungen der Gefiedermerkmale

12.4.1 Kostümwechsel 77 Junge Schleiereulen zeigen bereits die volle Variationsbreite der Gefiederformen, die

wir von Altvögeln kennen, doch zwischen erstem und zweitem Lebensjahr verändert sich die Farbe der Körperunterseite geringfügig. Nach der ersten Mauser sind bei beiden Geschlechtern die Federn weißer als das Kleid der Nestlingsphase (Abb. 12.10). Bei den Männchen sind die neuen Federn nicht so stark gefleckt wie die ausgewechselten

Abb. 12.10  Unabhängig vom Geschlecht werden Schleiereulen im Lauf des ersten Lebensjahrs nach der ersten Mauser heller

316

12 Gefiederpolymorphismus

Federn, während bei den Weibchen die schwarzen Flecke auf den neuen Federn größer sind als auf den alten. Die Altvögel haben einen besseren Fortpflanzungserfolg, wenn sie – im Vergleich zum vorhergehenden Federkleid – weißer werden, weniger Flecke haben oder wenn diese größer sind.

Bei Vögeln ist das Gefieder der Jungvögel oft unauffälliger als das Kleid der Altvögel – letzteres wird häufig, aber nicht immer nach der ersten Mauser ausgebildet. Die Jungvögel tragen häufig ein Tarnkleid, um von Prädatoren nicht erkannt zu werden, oder ein sexuell weniger attraktives Kleid, um Aggressionen von dominanten Artgenossen zu vermeiden. Diese Situation liegt bei vielen Vögeln vor – vermutlich aber nicht bei der Schleiereule, bei der sämtliche Gefiedertypen bei Juvenilen und Adulten vorkommen, auch wenn sich das Gefieder im Verlauf des Älterwerdens kontinuierlich verändert.

Gefiederwechsel Das Gefieder der Schleiereule wird besonders nach der ersten Mauser heller rostbraun; danach wird es mit jeder Mauser immer heller, aber in einem geringeren Ausmaß. Das Aufhellen des Gefieders verläuft bei beiden Geschlechtern ähnlich, doch die Veränderung der Gefiederfleckung ist geschlechtsspezifisch: Während die Männchen nach der ersten Mauser ein paar schwarze Flecke verlieren, werden die Flecke bei den Weibchen größer. Diese Veränderungen sind relativ geringfügig, und ein stark gefleckter rostbrauner Flüggling behält diese Gefiedermerkmale bis ins Erwachsenenalter bei. Daher bieten im ersten Lebensjahr beobachtete Gefiedermerkmale einen guten Anhaltspunkt für das Erscheinungsbild im späteren Leben. Gefiedermerkmale sind jedoch bei der Geschlechts- oder Altersbestimmung von Schleiereulen wenig hilfreich. Die Veränderung der Gefiedermerkmale kommt nicht durch Abnutzung des Gefieders zustande, denn diese ist bei Eulen viel weniger ausgeprägt als bei Taggreifen, die fast den gesamten Tag über dem aggressiven UV-Licht ausgesetzt sind. Wenn Schleiereulen ihre Federn bei der ersten Mauser wechseln, unterscheiden sich die neuen Federn demnach etwas, und zwar nicht so sehr, weil die alten abgenutzt waren, sondern wahrscheinlich vor allem, weil sich das Hormonprofil vom Juvenil- zum Adultstadium verändert hat. Während diese bisher nicht ermittelten Hormone möglicherweise zur Vergrößerung der schwarzen Flecke durch eine höhere Eumelaninproduktion führen, verringern sie gleichzeitig die Phäomelaninproduktion rund um die schwarzen Flecke, sodass die rostbraune Färbung der Eulen mit dem Alter abnimmt (Abb. 12.11). Tatsächlich werden Weibchen, deren Flecke zwischen zwei Folgemausern größer werden, auch weniger rostbraun. Das Ausmaß der Gefiederveränderungen hat offensichtlich eine genetische Basis, da ein Weibchen, das zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr weißer als ein anderes Weibchen wird, später Nachkommen hat, die ebenfalls zwischen diesen beiden Altersklassen weißer werden. Da Hormone morphologische Merkmale und sexuelle Aktivität regulieren, ist es nicht überraschend, dass im Erwachsenenalter Gefiederveränderungen zwischen zwei Jahren mit einer Veränderung der Fortpflanzungsaktivitäten korreliert sind. Weibchen, deren schwarze Flecke sich zwischen zwei Folgejahren vergrößern, pflanzen sich früher in der Brutsaison fort und legen größere Eier. Männchen, die zwischen zwei Folgejahren mehr schwarze Punkte verlieren, ziehen mehr Nachkommen auf. Unabhängig

12.4  Altersabhängige Veränderungen der Gefiedermerkmale

317

Rostbraune Färbung im zweiten Lebensjahr

Rostbraun

Weiß Weiß

Rostbraune Färbung im ersten Lebensjahr

Rostbraun

Abb. 12.11  Individuelle Veränderung der Gefiederfärbung zwischen erstem und zweitem Lebensjahr. Jeder Punkt repräsentiert ein Individuum; Weibchen sind durch weiße Punkte und Männchen durch orange­ braune Punkte dargestellt

vom Geschlecht gilt, dass Individuen, die zwischen zwei Folgejahren heller rostbraun werden, größere Familien aufziehen. Dies weist darauf hin, dass in der Schweiz, wo diese Beobachtungen gemacht wurden, weißere Schleiereulen – die Weibchen mit größeren Flecken und die Männchen mit weniger Flecken – gegenüber anderen Individuen selektive Vorteile haben oder alternativ mehr Energie in Fortpflanzungsaktivitäten investieren.

12.4.2 Offene Forschungsfragen • Bisher ist die Veränderung des Gefieders im Lauf des Alters nur bei der Schleiereule untersucht worden; sie sollte auch bei den anderen Tytonidae erforscht werden. • Man sollte die Hormone und Gene identifizieren, die die Veränderung des Gefieders vom erstem zum zweitem Lebensjahr triggern. • Es sollte untersucht werden, ob die Veränderung der Gefiedermerkmale vom ersten zum zweiten Lebensjahr adaptiv ist. Wir können vorhersagen, dass ein dunkelrostbraunes Gefieder bei Männchen wie auch Weibchen – insbesondere im ersten Lebensjahr – günstig ist, während die Ausprägung weniger Flecke bei Männchen und großer Flecke bei Weibchen für Altvögel vorteilhafter ist als für Einjährige.

12 Gefiederpolymorphismus

318

12.5 Partnerwahl 12.5.1 Todschick 77 Tiere suchen sich ihren Fortpflanzungspartner sorgfältig aus. Da Schleiereulenmänn-

chen beträchtliche Ressourcen in die Aufzucht ihrer Familie investieren, suchen sie vermutlich genetisch hochwertige Weibchen aus, die ihrerseits nach effizienten Jägern Ausschau halten. Es gibt Hinweise, dass ein Schleiereulenmännchen bei der Partnerwahl und seiner Brutpflegeaktivität berücksichtigt, wie hoch das Ausmaß der schwarzen Federzeichnung beim Weibchen ist (Abb. 12.12).

Im Tierreich investieren die Männchen meistens weniger Ressourcen in die Brutpflege als die Weibchen und haben daher Zeit zur Kopulation mit mehreren Partnern. Weibchen scheuen sich im Regelfall jedoch, die sexuellen „Gelüste“ jedes Männchens zu befriedigen und sind bei der Wahl eines Partners recht wählerisch. Für Weibchen ist die in die Aufzucht einer Familie investierte Mühe nur lohnend, wenn die Nachkommen von qualitativ hochwertigen Vätern gezeugt wurden, die potenziell anhand des auffälligen Gefieders zu erkennen sind. Diese Situation ist für die meisten Vogelarten typisch, doch wie sieht es bei den Schleiereulen aus, bei denen die Männchen so viel Zeit und Energie aufwenden, um ihre Jungen zu füttern? Wählen Männchen und Weibchen ihre Partner beide aufgrund von Gefiedermerkmalen aus?

Nichtzufällige Verpaarung in Relation zur Gefiederfleckung Männliche Schleiereulen investieren beträchtliche Zeit und Energie in die Nahrungssuche für ihre Familie. Das lohnt sich so lange, wie der Nachwuchs von der Mutter gute Gene erbt. Diese Situation ist das Gegenteil von dem, was wir bei vielen Säugetieren finden, bei denen sich die Männchen nicht um ihre Nachkommen kümmern und die Weibchen statt-

Abb. 12.12  Ein stark geflecktes Schleiereulenweibchen

12.5 Partnerwahl

319

Abb. 12.13  Rostbraune Brustfedern mit schwarzer Zeichnung in verschiedenen Größen und Formen. Bei rostbraunen Individuen befindet sich oberhalb des schwarzen Flecks oft eine weiße Zeichnung

dessen versuchen, einen Partner mit guten Genen auszuwählen. Somit können wir bei der Schleiereule eine Partnerwahl durch die Männchen postulieren, ohne aber eine weibliche Partnerwahl ausschließen zu können. Die Männchen erkennen hochwertige Weibchen möglicherweise am Ausmaß der Gefiederfleckung (Abb. 12.12 und 12.13) und selektieren entsprechend, wie die folgenden in der Schweiz gesammelten Beobachtungen nahegelegen: • Ähneln sich männliche und weibliche Partner (assortative Paarung) hinsichtlich der Größe der schwarzen Flecke? Dies ist in manchen Jahren der Fall, doch in anderen sind groß gefleckte Individuen mit klein gefleckten verpaart (disassortative Paarung). Diese nichtzufälligen Paarungsmuster liefern aber keinen Beweis dafür, dass Gefiederfleckung ein Kriterium bei der Partnerwahl ist, da dies auch Resultat einer nichtzufälligen Verteilung von Schleiereulen in den verschiedenen Habitaten sein könnte. Stark gefleckte Schleiereulen könnten z. B. in anderen Habitaten vorkommen als gering gefleckte Eulen, was auch zu einer assortativen Paarung führen würde. • Verpaaren sich Männchen bei weiteren Bruten mit Weibchen, die ähnlich große schwarze Flecke aufweisen wie die Partnerin der ersten Brut? Die Befunde zeigen, dass Männchen sich eine neue Partnerin sichern, deren Flecke denen der vorherigen Partnerin ähneln. Das weist darauf hin, dass jedes Männchen solche Weibchen bevorzugt, die Flecke mit einer bestimmten Größe besitzen. Alternativ wäre auch möglich, dass jedes Männchen einen Brutplatz verteidigt, der für Weibchen geeignet ist, die Flecke mit einer bestimmten Größe besitzen, sodass das Männchen sich schließlich Jahr für Jahr mit einem ähnlich aussehenden Weibchen verpaart. • Passen Männchen ihr Fortpflanzungsverhalten je nach Gefiederfleckung der Partnerin an? Zur Beantwortung dieser Frage wurde die Gefiederfleckung bei Weibchen experimentell manipuliert und die Verhaltensantwort des männlichen Partners protokolliert. Einen Monat, nachdem man bei brütenden Weibchen die schwarzen Federflecke mit einer Schere abgeschnitten hatte, lieferte der dazugehörige Partner weniger Beutestücke für die Nestlinge

320

12 Gefiederpolymorphismus

Abb. 12.14  Beispiel für eine „weiße“ Schleiereule (© Guillaume Rapin)

als Männchen, die mit nichtmanipulierten Weibchen verpaart waren. Dies führte zu einem geringeren Körpergewicht der Nestlinge und wiederum zu einem schlechteren Bruterfolg. Diese Versuchsanordnung liefert einen Hinweis, dass die Männchen beim Fütterungsaufwand den Fleckungsgrad ihrer Partnerin berücksichtigen. Das Entfernen der schwarzen Flecke hatte zwar keinen Einfluss auf die Überlebensrate der Weibchen, doch künstlich ungefleckte Weibchen brüteten im Folgejahr seltener als natürlich gefleckte Weibchen – vermutlich, weil sie Schwierigkeiten hatten, einen Partner zu finden.

Zufällige Verpaarung in Relation zur rostbraunen Färbung? Die Körperunterseite ist bei den Männchen der Schleiereulen, Graseulen sowie Neuhollandeulen & Co. schwächer rostbraun gefärbt als bei den Weibchen, und folglich könnte eine weiße Färbung als männliches Gefiedermerkmal angesehen werden. Beurteilen Weibchen das Ausmaß der „Weißheit“ beim Männchen, wenn sie einen Partner wählen (Abb. 12.14)? Es ist nicht einfach, diese Frage zu beantworten, da sich die Gefiederfarbe der gesamten Körperunterseite experimentell nur schwer modifizieren lässt (d. h., die Färbung einer rostbraunen Eule in Weiß zu verwandeln bzw. umgekehrt). Das wäre notwendig, um zu ermitteln, ob diese Veränderung das Jagdverhalten verändert oder die Wahrscheinlichkeit, sich einen qualitativ hochwertigen Partner zu sichern. Hinweise kommen nur aus Frankreich, Deutschland, Ungarn, Israel und der Schweiz; dort verpaaren sich weiße Männchen genauso häufig wie rostbraune Männchen mit weißen oder rostbraunen Weibchen. Das Fehlen einer assortativen Paarung hinsichtlich der Gefiederfärbung ist jedoch kein Beweis, dass dieses Merkmal nicht doch zur Partnerwahl genutzt wird. Das Geheimnis bleibt.

12.6  Sexuell antagonistische Selektion

321

12.5.2 Offene Forschungsfragen • Man sollte untersuchen, ob sich Eulen mit unterschiedlichen Gefiedermerkmalen Partner von unterschiedlicher Qualität sichern. So könnten sich groß gefleckte Weibchen z. B. häufiger mit größeren Männchen paaren oder mit Männchen, die bessere Überlebensaussichten haben. Da die Gefiedermerkmale geografisch variieren, kann der Zusammenhang zwischen Gefiedermerkmalen und Partnerqualität zwischen den Populationen unterschiedlich ausgeprägt sein. • Man sollte die Präferenz für spezielle Gefiedermerkmale beim anderen Geschlecht formal testen. Außerdem wäre es wichtig zu ermitteln, ob sich die Präferenz im Lauf des Alters ändert – sind Einjährige und Altvögel mit unterschiedlich gefiederten Partnern verpaart? • Die Gefiederfleckung der Weibchen wurde durch Abschneiden der schwarz gefleckten Federspitzen manipuliert. Ein ähnliches Experiment sollte auch bei Männchen durchgeführt werden. • Haben alle Männchen dieselbe Präferenz für groß gefleckte Weibchen oder schwankt die männliche Präferenz für spezifische Weibchen räumlich und zeitlich? Wir benötigen mehr Informationen zu den Partnerwahlkriterien, die männliche und weibliche Schleiereulen einsetzen.

12.6

Sexuell antagonistische Selektion

12.6.1 Transgender-Schleiereulen? 77 Männchen und Weibchen teilen den größten Teil ihrer genetischen Ausstattung und

sind sich daher in vieler Hinsicht sehr ähnlich. Allerdings könnte ein Phänotyp, der für das eine Geschlecht vorteilhaft ist, für das andere ungünstig sein. In der Schweiz haben weibliche bzw. männliche Schleiereulen mit großen schwarzen Gefiederflecken im ersten Jahr eine höhere bzw. geringere Überlebensrate. Dieses Muster einer positiven Selektion der Gefiederfleckung bei Weibchen und negativen Selektion bei Männchen (Abb. 12.15) ist ein Beispiel für sexuell antagonistische Selektion.

Auch wenn Schleiereulenmännchen im Schnitt anders als Weibchen gefärbt sind, können die Individuen beider Geschlechter letztlich jedes beliebige Gefiedermerkmal aufweisen. Dies bietet eine Gelegenheit zu untersuchen, wie sich eine Ähnlichkeit mit dem anderen Geschlecht auswirkt, was es also heißt, als Männchen dunkelrostbraun und stark gefleckt bzw. als Weibchen fleckenlos weiß zu sein. Die Stärke der natürlichen und der sexuellen Selektion ist zwar oft geschlechtsabhängig, doch diese Selektion kann manchmal umgekehrt werden, indem Männchen und Weibchen eine hohe Fitness erwerben, wenn sie die gegensätzliche Version eines Merkmals ausbilden. Ein Beispiel: Bei Homo sapiens ist das Becken bei Männern schmäler (damit sie bei der Jagd schnell laufen können) und bei Frauen breiter (damit auch Kinder mit großem Kopf geboren werden können). Eltern geben ihre Gene aber sowohl an Söhne als auch an Töchter weiter, was zu Problemen führen kann

12 Gefiederpolymorphismus

322

– so hätten Männer mit kleinerem Becken zur Zeit der Jäger und Sammler Töchter gezeugt, die schlecht ans Gebären angepasst waren, und Frauen mit größerem Becken hätten Söhne geboren, die schlecht ans schnelle Jagen angepasst waren. Eine sexuell antagonistische Selektion könnte daher dafür verantwortlich sein, dass die Variationsbreite in der Beckengröße bei Männern und Frauen beibehalten wurde.

Evidenz für sexuell antagonistische Selektion Ist es ein Nachteil, wenn Männchen stark gefleckt sind wie die Weibchen bzw. wenn Weibchen schwach gefleckt sind wie die Männchen? In der Schweiz haben Weibchen mit großen schwarzen Gefiederflecken im ersten Lebensjahr einen höheren Überlebensvorteil als Weibchen mit kleineren Flecken; dagegen beobachtet man bei den Männchen einen gegenläufigen Trend, der allerdings schwächer ist (Abb. 12.16). Dass groß gefleckte Individuen im Lauf von zwölf Jahren in der Population zunahmen, beruhte auf einer stärkeren positiven Überlebensselektion bei den Weibchen und nicht auf einer negativen Überlebensselektion bei Männchen. Aus genetischer Sicht impliziert eine sexuell antagonistische Selektion, dass die Allele, die für die Ausprägung von großen Flecken verantwortlich sind, bei Weibchen gefördert werden; bei Männchen werden hingegen die Allele, die für kleine Flecke codieren, gefördert. Dies führt zu einem genetischen Konflikt. Die Situation wird bei der Schleiereule noch komplexer, weil das von der Mutter (und nicht vom Vater!) vererbte „Kleine-Fle-

Kleinere schwarze Flecke

Abb. 12.15  Männchen werden auf das Merkmal „schwach gefleckt“ hin selektiert (blauer Pfeil), Weibchen auf das Merkmal „stark gefleckt“ (orangebrauner Pfeil)

12.6  Sexuell antagonistische Selektion

323

cken-Allel“ den Söhnen einen Überlebensvorteil vermittelt, während das vom Vater (nicht von der Mutter!) vererbte „Große-Flecken-Allel“ den Töchtern einen Überlebensvorteil vermittelt (Abb. 12.17). Um die Intensität dieses genetischen Konflikts zu vermindern, produzieren Schleiereulen mehr Nachkommen mit dem Geschlecht, das am meisten vom Erbe eines bestimmten Allels profitiert. Dementsprechend schlüpft aus dem zuerst gelegten Ei einer klein gefleckten Mutter häufiger ein Sohn, ist die Mutter hingegen mit einem groß gefleckten Männchen verpaart, so ist es häufiger eine Tochter. Ist es besser, das Allel zu besitzen, das für große Flecke codiert, oder jenes für kleine Flecke? Wenn wir diese Frage beantworten könnten, würden wir besser verstehen, ob der genetische Konflikt intensiver ist, wenn die Eltern groß oder klein gefleckt sind. Anders ausgedrückt: Kompensieren die Vorteile, die durch groß gefleckte Töchter entstehen, die Nachteile, die auf groß gefleckte Söhne zurückgehen, und kompensieren die Vorteile, die durch klein gefleckte Söhne entstehen, die Nachteile, die auf klein gefleckte Töchter zurückgehen? Abb. 12.16 zeigt, dass der Unterschied in der Überlebenswahrscheinlichkeit zwischen Männchen und Weibchen bei groß gefleckten Individuen am höchsten ist. Der genetische Konflikt könnte also am größten sein, wenn die Eltern ihren Nachkommen das „Große-Flecken-Allel“ vererben. Dies wäre vor allem bei einer groß gefleckten Mutter der Fall, da der Sexualdimorphismus beim Nachwuchs hinsichtlich der Fleckengröße am schwächsten ausfiele und Söhne wie auch Töchter groß gefleckt wären. Ist hingegen die

Größere schwarze Flecke

12 Gefiederpolymorphismus

324

Überlebenswahrscheinlichkeit im ersten Lebensjahr

1

0,8

Weibchen

0,6

0,4

Männchen

0,2

0 0

0,5

1,0

1,5

2,0

2,5

Durchmesser der schwarzen Federflecke (mm)

1 0,8

Söhne

0,6 0,4 Töchter

0,2 0 0

0,5

1,0

1,5

2,0

Durchmesser der schwarzen Federflecke (mm) bei der Mutter

2,5

Überlebenswahrscheinlichkeit der Nachkommen im ersten Lebensjahr

Überlebenswahrscheinlichkeit der Nachkommen im ersten Lebensjahr

Abb. 12.16  Weibchen mit großen schwarzen Flecken haben in der Schweiz im ersten Lebensjahr eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit als Weibchen mit kleinen Flecken (orangebraune Linie), während bei Männchen der entgegengesetzte Trend beobachtet wird (gestrichelte blaue Linie)

1 0,8

Töchter

0,6 0,4

Söhne

0,2 0 0

0,5

1,0

1,5

2,0

2,5

Durchmesser der schwarzen Federflecke (mm) beim Vater

Abb. 12.17  Söhne haben im ersten Lebensjahr eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit, wenn ihre Mutter kleine, nicht jedoch große schwarze Flecke aufweist (links), während Töchter eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit haben, wenn ihr Vater große, nicht jedoch kleine schwarze Flecke besitzt (rechts)

Mutter klein gefleckt, dann wären die Söhne klein gefleckt, ihre Schwestern hätten jedoch große Flecke. Dies lässt vermuten, dass Mutationen, die die Größe von schwarzen Flecken erhöhen, mit einem intensiveren genetischen Konflikt einhergehen, während Mutationen, die die Ausbildung großer Flecke unterdrücken, vermutlich die Intensität des genetischen Konflikts verringern. Die sexuell antagonistische Selektion bleibt eine ziemlich komplexe Materie!

12.7  Adaptive Funktionen der weißlichen und rostbraunen Färbung

325

12.6.2 Offene Forschungsfragen • Rostbraunes und weißliches Gefieder werden natürlich ausgelesen, doch es ist immer noch ungeklärt, ob sie auch sexuell selektiert werden. • Die Gene, die mit der sexuell antagonistischen Selektion in Zusammenhang stehen, sollten ermittelt werden, um zu verstehen, warum Weibchen in ihrem ersten Lebensjahr eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit aufweisen, wenn ihr Vater groß gefleckt ist, und warum Männchen besser überleben, wenn ihre Mutter klein gefleckt ist. • Die sexuell antagonistische Selektion könnte erklären, warum wir immer noch klein und groß gefleckte Individuen beobachten. Obwohl gegen groß gefleckte Männchen selektiert werden könnte, überlebt dieser Phänotyp, da die groß gefleckten Mütter positiv selektiert werden und ihre Gene an ihre Söhne weitergeben. Entsprechend ist es bei klein gefleckten Weibchen: Obwohl gegen sie selektiert wird, sterben sie nicht aus, da ihre Väter weiterhin klein gefleckte Töchter zeugen. • Die Intensität der sexuell antagonistischen Selektion sollte zwischen Populationen verglichen werden, in denen Eulen große Flecke bzw. kleine Flecke aufweisen.

12.7

Adaptive Funktionen der weißlichen und rostbraunen Färbung

12.7.1 Eine Frage der Farbe 77 Die Grundfärbung der Körperunterseite ist das Merkmal, das zwischen den Individuen

am meisten variiert. In derselben Population können Schleiereulen weiß oder dunkelrostbraun sein (Abb. 12.18 und 12.19) oder jede Farbnuance zwischen diesen beiden

Abb. 12.18  Extreme Farbvariation bei der Schleiereule: weißes und dunkelrostbraunes Individuum

12 Gefiederpolymorphismus

326 40

Adulte Männchen

30 Männchen: Flügglinge und Einjährige

Häufigkeitsverteilung

20

10

Färbung

0

10 Adulte Weibchen 20

30 Weibchen: Flügglinge und Einjährige 40

Abb. 12.19  Häufigkeitsverteilung verschiedener Gefiederfärbungen bei der Schleiereule in der Schweiz. Diese Darstellung beruht auf der Messung von 1987 männlichen und 2038 weiblichen Flügglingen, 415 männlichen und 505 weiblichen Einjährigen sowie 288 männlichen und 327 weiblichen Adulten. Sie zeigt, dass ein großer Anteil der adulten Männchen weißlich gefärbt ist, während jüngere Männchen und die meisten Weibchen eine intermediäre Färbung aufweisen

Extremen aufweisen. Die Grundfärbung spielt anscheinend eine wichtige Rolle im täglichen Leben der Schleiereule, da sie mit der Nahrungssuche, Habitatwahl und Fortpflanzungsverhalten in Verbindung steht. Die dunkler rostbraunen Eulen breiten sich auch über größere Entfernungen aus und sind sozialer als weiße Artgenossen.

Es spielt eine Rolle, ob man weiß oder rostbraun ist! Tatsächlich sind Farbmorphen an die lokalen Umweltbedingungen angepasst und für Räuber-Beute-Beziehungen von Bedeutung, was die Evolution von farbspezifischen Verhaltensweisen vermutlich gefördert hat.

Jagdverhalten Eine dunkel- oder blassrostbraune Gefiederfärbung verändert das Aussehen der Schleiereule stark und sollte sich auch auf die Jagd auswirken. Das ist vermutlich der Grund, warum in Israel und der Schweiz rostbraune Individuen mehr Wühlmäuse fressen und weißliche (helle) Vögel mehr Langschwanzmäuse (Muridae). Außerdem werden in Israel die großen Rennmäuse öfter von hellen als von rostbraunen Schleiereulen gefangen. Die flinken Rennmäuse können sehr schnell rennen (Name!); um diese Tiere zu erbeuten, könnten kurze Flügel, die rasante Flugmanöver erlauben, von zusätzlichem Nutzen sein. Tatsächlich verzehren kurzflügelige Eulen mehr Rennmäuse als Eulen mit längeren Flü-

12.7  Adaptive Funktionen der weißlichen und rostbraunen Färbung

327

geln. Für Eulen, die sowohl weißlich als auch kurzflügelig sind, sollte die Jagd auf diese Mäuse daher einfacher sein, und dementsprechend haben heller gefärbte Schleiereulen in Israel kürzere Flügel – diese Eigenschaften werden in Europa, wo es keine Rennmäuse gibt, nicht beobachtet. Bei früheren Untersuchungen wurde zudem festgestellt, dass rostbraune Eulen häufiger mit vollem Magen fliegen als weiße Eulen (bei Totfunden am Straßenrand hatte man beobachtet, dass der Mageninhalt bei rostbraunen Individuen mehr wog als bei hellen). Beim Flug übt ein höheres Körpergewicht einen höheren Druck auf die Flügel aus; dieser wird zwangsläufig von den Federn auf die Muskeln und Knochen übertragen – eine potenzielle Erklärung für die Tatsache, dass die Armschwingen bei den stärker rostbraunen Vögel tiefer in der Haut verankert sind.

Habitatwahl Schleiereulen sind in Südeuropa überwiegend weißlich und in Nordosteuropa rostbraun. Diese geografische Variation der Gefiederfärbung bleibt anscheinend deshalb durch natürliche Selektion erhalten, weil die rostbraune Färbung an das Erbeuten von Wühlmäusen (sie sind in Nordosteuropa häufig) angepasst ist, die weißliche Färbung hingegen an das Erbeuten von Langschwanzmäusen, die in Südeuropa häufiger sind. Da Wühlmäuse in offenen Lebensräumen und Waldmäuse in bewaldeten Gebieten leben, besiedeln rostbraune Schleiereulen vermutlich bevorzugt offene Habitate und weißliche Eulen bewaldete Habitate. Bei Schleiereulenweibchen in Israel und der Schweiz konnte man dies tatsächlich beobachten. Diese nichtzufällige Verteilung der Schleiereulen (hinsichtlich der Gefiederfärbung) auf verschiedene Habitate ist adaptiv – rostbraune bzw. weißliche Weibchen zeitigen mehr besonders fitte Flügglinge, wenn sie in offenen bzw. bewaldeten Habitaten brüten. Fortpflanzung Die Langzeitkoexistenz von weißlichen und rostbraunen Eulen bedeutet, dass unterschiedlich gefärbte Individuen letztlich dieselbe Fitness erzielen. Bisher wurde noch nicht untersucht, ob weißliche und rostbraune Eulen im Lauf ihrer Lebenszeit unterschiedliche Fitness zeigen. Wir wissen nur, dass der jährliche Fortpflanzungserfolg weißlicher und rostbrauner Individuen in der Schweiz und Israel, über ein paar Jahre ermittelt, ähnlich war. Dies weist darauf hin, dass die Farbmorphen gleichermaßen erfolgreich sind. Doch in der aktuellen Situation mit Umweltveränderungen, wie dem Klimawandel, sollte man untersuchen, ob sich die Leistungsfähigkeit zwischen den Farbmorphen verändert, denn dadurch könnten sich deren relative Häufigkeiten verschieben. Dies erscheint nicht unplausibel, wenn man die Schweiz ansieht: Dort brüten die weißen Weibchen im Durchschnitt zeitiger in der Brutsaison als rostbraune Weibchen; zudem füttern rostbraune Männchen ihre Brut in manchen Jahren häufiger als weiße Männchen. Diese Beobachtungen belegen, dass die Grundfärbung mit dem Fortpflanzungsverhalten assoziiert ist, und implizieren, dass unterschiedlich gefärbte Vögel vermutlich alternative Reproduktionsstrategien einsetzen und daher verschieden empfindlich auf schwankende Umweltbedingungen reagieren könnten.

328

12 Gefiederpolymorphismus

Ausbreitung (dispersal) Um einen passenden Brutplatz zu finden, muss ein Individuum auch in der Lage sein, neue Gebiete zu erschließen. Möglicherweise zerstreuen sich einige Individuen über größere Distanzen als andere, da sie weniger durchsetzungsfähig beim Besetzen von Nisthöhlen in der Nähe ihres Geburtsorts sind oder höhere Risiken eingehen, um bessere Plätze für die Fortpflanzung zu finden. Zwei unabhängige Studien in der Schweiz ergaben, dass rostbraune Schleiereulen inhärent dazu neigen, sich über weitere Entfernungen zu zerstreuen als ihre weißen Artgenossen (Durchschnittswerte 22 versus 6 km). Warum die Grundfärbung in Zusammenhang mit dem Dispersal-Verhalten steht, ist bisher nicht bekannt, doch interessanterweise hat man auch bei dunkler rostbraunen Individuen der Rauchschwalbe eine höhere Dispersal-Neigung beobachtet. Sozialverhalten Da man beobachtet hat, dass stärker rostbraune Schleiereulen ihre Familie häufiger füttern als weißlich Eulen und folglich potenziell mehr Arbeit in die Brutpflege der Jungen investieren, ergibt sich die Hypothese, dass das Ausmaß der rostbraunen Färbung mit den sozialen Interaktionen in der Familie in Beziehung stehen könnte. Die vorliegenden Daten sind mit dieser Vorstellung vereinbar. Die dunkler rostbraunen Nestlinge teilen ihre Nahrung bereitwilliger mit den Geschwistern als hellere Nestlinge; rostbraune weibliche Nestlinge putzen ihre Geschwister (zeitlich) länger, und rostbraune Mütter putzen ihren Nachwuchs häufiger als weißliche Mütter. Tendenziell erscheinen uns rostbraune Schleiereulen also altruistisch und weißliche Eulen egoistisch.

12.7.2 Offene Forschungsfragen • Die Gefiederfärbung der Tytonidae weist weltweit eine große Variationsbreite auf. Welcher ökologische Faktor (oder Faktoren) die Evolution des rostbraunen oder weißen Gefieders befördert hat, muss noch ermittelt werden. Derartige Analysen sind wichtig, um z. B. zu erklären, warum Schleiereulen in Südeuropa und den südlichen Teilen Südamerikas weißer sind bzw. in Nordeuropa und den nördlichen Teilen Südamerikas rötlicher. Neue Analysen zeigen, dass die Gefiederfarbe (Grundfärbung) bei der Schleiereule (Western Barn Owl), der Amerikaschleiereule und der Australschleiereule mit zunehmendem Jahresniederschlag dunkler rostbraun wird. Sie zeigen ferner, dass die Gefiederfarbe bei Schleiereule (Western Barn Owl) und Amerikaschleiereule auch mit abnehmender Temperatur dunkler rostbraun wird. Bisher ist nicht bekannt, ob die Klimavariablen die Evolution der Gefiederfarbe bei der Schleiereule kausal beeinflussen oder ob andere korrelierte Faktoren eine Rolle spielen. • Warum koexistieren unterschiedlich gefärbte Vögel in derselben Region? Liegt es daran, dass Farbmorphen an unterschiedliche Habitate angepasst sind, oder daran, dass Individuen einer gegenselektierten Morphe regelmäßig aus anderen Gebieten (wo sie gut gedeihen) einwandern? • Weiße und rostbraune Schleiereulen nutzen in der Schweiz unterschiedliche Fortpflanzungsstrategien; dabei brüten die weißen Weibchen zeitiger in der Brutsaison, und die rostbraunen Männchen investieren manchmal mehr Ressourcen in die Aufzucht des

12.8  Adaptive Funktionen kleiner und großer schwarzer Flecke

329

Nachwuchses. Sind diese Ergebnisse spezifisch für das 1000 km2 große Untersuchungsgebiet in der Schweiz oder für den Untersuchungszeitraum? Noch wichtiger ist die Frage, ob weiße und rostbraune Eulen in anderen Tytonidae-Populationen ähnliche Verhaltensunterschiede zeigen. • Man konnte bei mehreren Vogelarten, z. B. beim Waldkauz, zeigen, dass sich der Klimawandel bei unterschiedlich gefärbten Morphen auf verschiedene Weise auswirkt. Hat sich die Performance rostbrauner und weißer Schleiereulen in den letzten Jahren aufgrund der globalen Erwärmung verändert? • Man sollte die Gründe ermitteln, warum rostbraune Schleiereulen sich über größere Distanzen ausbreiten als ihre weißlichen Artgenossen, und warum sie sozialer sind.

12.8

Adaptive Funktionen kleiner und großer schwarzer Flecke

12.8.1 Je größer, desto besser 77 Wenn keine spezifischen Verhaltensweisen oder offensichtlichen Merkmale zur Schau

gestellt werden, lassen sich physiologische Merkmale nicht leicht beurteilen, oder es lässt sich auch nicht erkennen, zu welchen Investitionen in die zukünftige Fortpflanzung ein Individuum bereit sein könnte. Bei der Schleiereule signalisieren schwarze Flecke, die sich an den Federspitzen des Bauchgefieders befinden, die Qualität von physiologischen Stoffwechselprozessen, Verhalten und Fortpflanzungseigenschaften. In der Schweiz besitzen die größer gefleckten Weibchen einen Selektionsvorteil gegenüber kleiner gefleckten Weibchen und produzieren Nachkommen, die eine bessere Resistenz gegenüber etlichen Stressfaktoren zeigen (z. B. Parasiten und Nahrungsmangel). Dies führt im ersten Lebensjahr bei Weibchen zu einer höheren Überlebensrate.

Bei Schleiereulen beobachten wir eine enorme Variationsbreite in der Größe der schwarzen Flecke auf der Körperunterseite (Abb. 12.20 und 12.21); daher stellt sich die Frage, ob sich die stark und schwach gefleckten Individuen auch in anderer Hinsicht unterscheiden. Die Ergebnisse zahlreicher Untersuchungen haben erstaunliche Zusammenhänge zwischen Größe oder Anzahl der schwarzen Gefiederflecke einerseits und Physiologie, Verhalten und Persönlichkeit andererseits aufgezeigt. Die allerersten Resultate waren unglaublich (dies ging so weit, dass einige wissenschaftliche Zeitschriften die Publikation ablehnten), doch sie wurden inzwischen so häufig bestätigt, dass man sie nicht länger ignorieren kann. Um den potenziellen Zusammenhang zwischen Gefiederfleckung und physiologischen Merkmalen zu ermitteln, führt man am häufigsten Fremdpflegeversuche (cross-fostering) durch. Dank dieser und anderer Methoden konnte man zeigen, dass die Gefiederfleckung mit individuellen Fitnessaspekten assoziiert ist. Eier oder frischgeschlüpfte Küken wurden zwischen den Nestern ausgetauscht, um sicherzustellen, dass die Nestlinge von zufällig ausgewählten Pflegeeltern aufgezogen wurden. Kurz vor dem ersten Flug der Nestlinge wurden mehrere phänotypische Merkmale gemessen, wie Körpergröße und Resistenz gegen stressauslösende Umweltfaktoren. Diese Messwerte wurden dann mit der Gefiederfleckung der Nestlinge selbst sowie der ihrer biologischen und ihrer Pflegeeltern verglichen.

330

12 Gefiederpolymorphismus

Abb. 12.20  Die schwarzen Gefiederflecke auf der Körperunterseite von Schleiereulen variieren in der Größe

Gewöhnlich bestand nur eine Assoziation zwischen den phänotypischen Merkmalen der fremdgepflegten Nestlinge und der Größe der schwarzen Gefiederflecke bei ihrer biologischen Mutter; gelegentlich zeigte sich eine Assoziation mit der Fleckengröße der Nestlinge selbst, selten mit der des biologischen Vaters und niemals mit derjenigen der Pflegeeltern. Wenn die Fleckengröße also individuelle Fitnessaspekte signalisiert, liegt das vermutlich daran, dass die Fleckengröße bei den Eltern mit Genen oder in den Eiern enthaltenen Verbindungen assoziiert ist, welche die Eltern an die Nachkommen weitergeben. Dies wiederum wirkt sich auf die Ausbildung anderer phänotypischer Merkmale aus. Falls nicht anders vermerkt, wurden sämtliche unten beschriebenen Untersuchungen in der Schweiz durchgeführt; Abb. 12.22 zeigt eine Zusammenfassung.

Stressfaktoren Viele morphologisch, verhaltensbiologisch und physiologisch charakterisierte Merkmale, die bei der Stressbewältigung helfen, stehen in Beziehung zur Fleckengröße. Eine junge Schleiereule ist gewöhnlich stresstoleranter, wenn sie selbst oder ihre Mutter groß gefleckt ist: • Stressresistenz: Bei stressauslösenden Ereignissen, wie Nahrungsmangel, Pathogenen, Feindattacken oder oxidativem Stress geben Tiere schnell mehr Glucocorticoide in den Blutstrom ab, z. B. Corticosteron bei Vögeln und Cortisol beim Menschen. So kann das Individuum rasch frische Energie für physiologische und verhaltensbiologische Funk-

12.8  Adaptive Funktionen kleiner und großer schwarzer Flecke

331

30

Männchen: Flügglinge und Einjährige

20

Häufigkeitsverteilung

Adulte Männchen 10

0

0,50 0,75 1,00 1,25 1,50 1,75

2,50 2,75 3,00

Durchmesser der Flecke (mm)

10 Adulte Weibchen

20

30

Weibchen: Flügglinge und Einjährige

Abb. 12.21  Häufigkeitsverteilung der Fleckengröße (schwarze Flecke) auf der Körperunterseite von Schweizer Schleiereulen. Bei den meisten Schleiereulen weisen die Flecke eine intermediäre Größe auf; bei Weibchen sind die Flecke etwas größer als bei Männchen

tionen bereitstellen, um der gefährlichen Situation zu entkommen. Eine derartige Reaktion ist kurzfristig zwar günstig, doch dauerhaft hohe Corticosteron-Konzentrationen im Blut sind physiologisch schädlich. Daher müssen die stressinduzierten CorticosteronKonzentrationen präzise angepasst werden, und sobald die Gefahrensituation vorbei ist, sollten die Corticosteron-Konzentrationen wieder auf den Normalwert fallen. Nestlinge, deren biologische Mütter größer gefleckt sind, zeigen eine weniger intensive Corticosteron-Stressantwort und können die experimentell induzierten erhöhten Corticosteron-Blutwerte schneller wieder herunterfahren als die Nestlinge von kleiner gefleckten Müttern. Gemessen an Körpergewicht und Flügelwachstum leiden die Nestlinge von größer gefleckten Müttern daher weniger unter einer Corticosteron-Stressreaktionen. Adulte Weibchen zeigten ähnliche Ergebnisse – das Einfangen führte bei größer gefleckten Weibchen zu einem geringeren Anstieg der Corticosteron-Konzentrationen als bei kleiner gefleckten. • Parasiten: Die Größe der schwarzen Flecke ist ein Hinweis auf potenzielle Resistenz gegen Parasiten. Verglichen mit den Nachkommen kleiner gefleckter Mütter bilden die Nachkommen von größer gefleckten Müttern mehr spezifische Antikörper gegen einen Impfstoff; auf ihrem Körper finden sich weniger Gefiederfliegen (Carnus hemapterus) und im Nest weniger Eier dieser Ektoparasiten. • Resistenz gegen oxidativen Stress: Die Größe der schwarzen Gefiederflecke zeigt die Fähigkeit an, reaktive Sauerstoffspezies (reactive oxygen species, ROS) zu inaktivieren, einem Stoffwechsel-Nebenprodukt, das alle Zellbestandteile schädigt. Nestlinge mit größeren schwarzen Gefiederflecken bilden mehr Antioxidantien zur Entgiftung des Körpers als kleiner gefleckte Nestlinge.

12 Gefiederpolymorphismus

332

Stressresistenz

Die Größe der schwarzen Flecke steht in Rela on zu anderen Merkmalen

Nestlingswachstum

Testosteron

Federqualität Überleben

Väterliche Brutpflege Mütterliche Brutpflege

Abb. 12.22  Bei der Schleiereule geht die Größe der schwarzen Gefiederflecke mit einer Reihe anderer phänotypischer Merkmale einher, wie Stressresistenz, Nestlingswachstum, Federqualität, Überleben, Brutpflege und Testosteronkonzentrationen

• Entwicklungshomöostase: Stressige Aufzuchtbedingungen können die Entwicklung der beiden Körperseiten stören, die unter der Kontrolle derselben Gene stehen. Beim Menschen sind z. B. linke und rechte Gesichtshälfte oft nicht absolut symmetrisch. Die Fähigkeit, einen symmetrischen Körper zu bilden, kann daher den Besitz von Genen anzeigen, die stressauslösende Umweltfaktoren ausgleichen. Bei der Schleiereule ist die Größe der schwarzen Gefiederflecke mit Genen assoziiert, die eine solche Pufferrolle spielen. Verglichen mit dem Nachwuchs von kleiner gefleckten Müttern bilden die Nachkommen der größer gefleckten Mütter einen deutlich symmetrischeren Körper aus. So sind z. B. Hand- und Armschwingen des linken bzw. rechten Flügels häufiger gleich lang als beim Nachwuchs von kleiner gefleckten Müttern. • Lateralität: Links- oder Rechtshänder zu sein, ist unter machen Umständen günstig, Schnelligkeit und Präzision beim Aufgabenlösen sind bei Individuen, die eine Aufgabe mit der bevorzugten Seite erledigen, meist besser. Lateralität („Händigkeit“) bringt aber nicht immer Vorteile und kann durch Stress ausgelöst werden. Schleiereulen sollten die linke bzw. rechte Körperseite zwar mit gleicher Intensität putzen und kratzen, doch die Nestlinge von klein gefleckten Müttern reinigen bevorzugt eine bestimmte Körperseite, während die Nestlinge von groß gefleckten Müttern sich gleichmäßiger um beide Körperseiten kümmern. Dies weist darauf hin, dass die Fähigkeit von groß gefleckten Eulen, Stress auszuhalten, mit der Verhaltenslateralität in Zusammenhang steht. • Feindverhalten: In Gegenwart von Prädatoren können Schleiereulennestlinge diese erschrecken, angreifen oder sich auch totstellen, um einem Angriff zu entgehen. Es zeigt

12.8  Adaptive Funktionen kleiner und großer schwarzer Flecke

333

sich, dass bei Schleiereulen in Israel wie auch in der Schweiz die Reaktion auf Menschen in Beziehung zur Gefiederfleckung steht. Wenn man Schleiereulen in der Hand hält, sind klein gefleckte Individuen aggressiv und aufgebracht, groß gefleckte vermeiden eine direkte Konfrontation, indem sie ruhig bleiben, sich totstellen und versuchen, den Feind durch lautes Zischen („Drohrauschen“) zu erschrecken. Klein gefleckte Eulen setzen also auf ein forsches und proaktives Abwehrverhalten, groß gefleckte bleiben dagegen fügsam. • Nahrungsmangel: Nahrungsmangel ist eine der Hauptmortalitätsursachen bei Nestlingen und adulten Schleiereulen. Die Selektion auf das Zurechtkommen mit Nahrungsmangel sollte daher stark sein. Wenn Futter „uferlos“ zur Verfügung steht, weisen größer gefleckte Nestlinge geringeren Appetit auf als kleiner gefleckte Nestlinge; nach 24-stündigem Nahrungsentzug ist der Gewichtsverlust bei Nestlingen mit großen schwarzen Flecken geringer. Die Größe der schwarzen Flecke spiegelt daher die Fähigkeit wider, Hungerperioden auszuhalten, wenn man den geringeren Appetit der groß gefleckten Individuen und ihre Fähigkeit, mit Nahrungsmangel fertigzuwerden, bedenkt. Das Vermögen, mit solchen Hungerzeiten umzugehen, steht auch mit dem Durchmesser der mütterlichen, nicht aber der väterlichen Flecke in Zusammenhang. Dies ist mit einem Befund bei brütenden Weibchen vereinbar: Nachdem sie abends gefressen haben, ist das morgendliche Körpergewicht nicht mit der Größe ihrer schwarzen Flecke korreliert – werden sie jedoch abends gewogen, nachdem sie tagsüber gefastet haben, so wiegen größer gefleckte Weibchen mehr als kleiner-gefleckte.

Nestlingswachstum Während der Ruhephase – vom frühen Morgen bis zum ersten Fütterungsbesuch der Eltern in der Nacht – sind groß gefleckte Nestlinge schwerer als klein gefleckte. Dies stimmt mit den oben geschilderten Beobachtungen überein, die zeigen, dass die Größe der schwarzen Flecke in Zusammenhang mit der Fähigkeit steht, stressige Umweltbedingungen auszuhalten. Wie sieht es mit dem Zusammenhang zwischen Nestlingskörpergewicht und der Größe der schwarzen Flecke bei ihren biologischen Eltern aus? Fremdpflegeversuche zeigen, dass die Nachkommen von kleiner gefleckten Müttern in schlechten Brutjahren über den gesamten Tag mehr wiegen, während sie ruhen und fasten. Dies weist darauf hin, dass Kleinfleckigkeit bei Weibchen mit genetischen Faktoren in Beziehung stehen könnte, die unter bestimmten Umweltbedingungen günstig sind. Testosteron Dieses Hormon vermittelt viele Stoffwechsel- und Verhaltensprozesse, die mit Fortpflanzungsaktivitäten in Verbindung stehen, z. B. Aggressivität und Sexualverhalten. Testosteron kann zwar die Melaninbildung auslösen, doch dunkle Individuen müssen nicht unbedingt mehr freies Testosteron haben als helle Individuen. Allerdings kann der Grad der melaninbasierten Färbung die sozialen Interaktionen eines Vogels beeinflussen, und diese wiederum die Testosteronkonzentrationen. Zudem regulieren auch Gene, die an der Melanogenese beteiligt sind, wie das POMC-Gen (Gen für Proopiomelanocortin), die Bildung von Testosteron im Zusammenspiel mit den vorherrschenden Umweltbedingungen. Möglicherweise verändert sich der Zusammenhang zwischen Färbung und Testosteronkonzentrationen im Lauf von Zeit und Raum in Relation zu vielen Faktoren, z. B. Fortpflanzungsphase, Alter, Geschlecht und Umweltbedingungen.

334

12 Gefiederpolymorphismus

Bei männlichen Schleiereulen weisen Nestlinge und brütende Altvögel mit kleineren schwarzen Flecken höhere Testosteronkonzentrationen auf; dies steht mit der Beobachtung im Einklang, dass kleiner gefleckte Individuen aggressiver als größer gefleckte Artgenossen sind. In deutlichem Gegensatz findet sich bei brütenden größer gefleckten Weibchen während der Aufzuchtperiode (aber nicht während der Bebrütung der Eier) mehr Testosteron als bei klein gefleckten Weibchen. Dies korrespondiert mit der Tatsache, dass größer gefleckte Weibchen im Durchschnitt eher dazu neigen, im Alter von einem Jahr zum ersten Mal zu brüten, als kleiner gefleckte Weibchen.

Mütterliche Brutpflege Die Größe der schwarzen Gefiederflecke steht in Beziehung zum Fortpflanzungsverhalten. In Israel und der Schweiz brüten größer gefleckte Weibchen zeitiger in der Brutsaison und legen größere Eier als kleiner gefleckte Weibchen. Weibchen, bei denen die Fleckengröße von Jahr zu Jahr zunimmt, verlegen den Brutbeginn in jedem Folgejahr nach vorn und legen größere Eier. Wenn sich die Umweltbedingungen für die Aufzucht einer Familie verschlechtern, sollten langlebige Tiere wie die Schleiereule ihr Investment in die Fortpflanzung reduzieren, um bis zur nächsten Brutzeit zu überleben. Auch wenn größer gefleckte Weibchen mehr „Kapital“ in die Fortpflanzung investieren, sind sie dennoch nicht lebensmüde! Unter Stressbedingungen nutzen groß gefleckte Weibchen Ressourcen, die ursprünglich für den Nachwuchs vorgesehen waren, in einer Art Notfallmaßnahme fürs eigene Überleben. Unter optimalen Bedingungen hudern groß gefleckte Weibchen ihren Nachwuchs häufiger als klein gefleckte Weibchen, doch nach zusätzlichen Corticosterongaben (die Konzentration dieses Hormons steigt, wie erwähnt, unter Stressbedingungen an) verringern groß gefleckte Weibchen ihre „Huder-Investition“ und helfen dem Partner weniger bei der Nahrungssuche für den Nachwuchs. Väterliche Brutpflege In einer Untersuchung stellte man fest, dass groß gefleckte Männchen als Jäger weniger effizient waren; sie legten größere Entfernungen zurück, um ihre Beute zu fangen, als klein gefleckte Männchen. Kleiner gefleckte Männchen füttern ihre Brut demnach häufiger als größer gefleckte Männchen. Dies stimmt auch mit der Hypothese überein, dass die Eigenschaft der Kleinfleckigkeit bei Männchen von der Selektion favorisiert ist. Federqualität Zu den wichtigsten Melaninfunktionen zählt der Schutz der Haut vor schädlichen Umwelteinflüssen, wie Staub, Regen, ultraviolettem Licht, ferner auch vor Ektoparasiten, die sich von Federn ernähren. Federn mit starker Melanineinlagerung sind tatsächlich härter und verschleißen nicht so schnell wie Federn ohne Melanin. Wenn größer gefleckte Vögel auf anderen Körperteilen stärker melanisiert sind als kleiner gefleckte Artgenossen, dann sind, wie zu erwarten, ihre Schwung- und Steuerfedern kräftiger: Der untere Teil des Federkiels (die Spule) der Schwungfedern wie auch die Fahne von Schwung- und Steuerfedern sind schwerer, die Schwungfedern enthalten mehr Melanin und weisen mehr schwarze Querbänderung auf – Letzteres kann die Federn verstärken, sodass sie sich im Flug nicht zu sehr durchbiegen. Möglicherweise verbringen stark gefleckte Schleiereulen weniger Zeit mit der Gefiederpflege, weil ihre Federn kräftiger sind. Zudem ist ihre Bürzeldrüse (sie

12.8  Adaptive Funktionen kleiner und großer schwarzer Flecke

335

bildet ein wachsartiges Sekret zur Reinigung und zum Schutz der Federn) leichter; vermutlich wird also bei stark gefleckten Vögeln weniger Bürzeldrüsensekret benötigt als bei schwach gefleckten.

Überlebensrate Bei einer Langzeituntersuchung in der Schweiz, in deren Verlauf Nestlinge und brütende Altvögel über einen Zwölf-Jahres-Zeitraum beringt und jedes Jahr wiedergefangen wurden, fand man, dass größer gefleckte Weibchen im ersten Lebensjahr eine höhere Überlebensrate haben als kleiner gefleckte Weibchen. Möglicherweise gibt es auch in anderen Populationen einen derartigen Selektionsvorteil, wenn man berücksichtigt, dass größer gefleckte Weibchen in Israel wie auch der Schweiz schwerer als kleiner gefleckte Weibchen sind. Honest Signaling Wie kann eine Schleiereule herausfinden, dass eine groß gefleckte Eule stressresistenter ist als ein klein geflecktes Individuum oder dass der Nachwuchs der groß gefleckten Eule stressresistenter sein wird? Die genetisch fixierte Größe der schwarzen Gefiederflecke wird vererbt und spiegelt den Besitz von Genen wider, die es unterschiedlich gefleckten Individuen ermöglichen, mit unterschiedlicher Fitness zu agieren. Somit sind die Gefiederflecke ein sogenanntes honest signal (verlässliches Signal), das z. B. der oben genannten Schleiereule verlässliche Informationen über das Gegenüber vermittelt. Bei stressauslösenden Umweltbedingungen sollte sich ein Schleiereulenmännchen demnach vorzugsweise mit einem stark gefleckten Weibchen verpaaren, um fitte Nachkommen zu produzieren. Sind die Umweltbedingungen dagegen weniger stressig, ist es möglicherweise nicht so vordringlich, ein stark geflecktes Weibchen als Partnerin zu wählen. Der genetische Zusammenhang zwischen Fleckigkeit (spottiness) und inhärenter Qualität ist so stark, dass Eulen nicht gegen das handeln können, was ihre Flecke anzeigen. Doch die Gründe dieses Effekts sind unbekannt. Warum ist dieser genetische Zusammenhang so stark? Möglicherweise haben sich Melanine als nützliche Verbindungen entwickelt, um die schädliche Wirkung von UV-Licht zu dämpfen, um Parasiten und Pathogene zu bekämpfen (bei Insekten werden Endoparasiten durch Melanisierung ausgeschaltet) oder um Sonnenenergie zu absorbieren (was Tieren in kalter Umgebung ein rascheres Aufwärmen ermöglicht). Stressresistenz ist normalerweise nur mithilfe verschiedenster Anpassungen möglich; vermutlich wurde daher die Entwicklung von Melanin und anderen verhaltensbiologischen und physiologischen Prozessen durch natürliche Selektion gefördert. Möglicherweise war die Selektion auf Ausbildung all dieser Merkmale unter stressigen Bedingungen so stark, dass diese Merkmale (Melanin, Verhalten und Physiologie) an einem bestimmten Punkt der Evolution genetisch korreliert wurden, was sicherstellte, dass diese Eigenschaften zusammen vererbt wurden.

12.8.2 Offene Forschungsfragen • Weibchen, die größere schwarze Flecke aufweisen, zeitigen Nachkommen, die gegenüber zahlreichen Stressfaktoren resistenter sind und im ersten Lebensjahr bessere Überlebensaussichten besitzen. Wie in der Schweiz gezeigt, begünstigte die natürliche Selektion

12 Gefiederpolymorphismus

336

größer gefleckte Weibchen, wodurch die Häufigkeit der groß gefleckten Individuen in der Population in einem Zeitraum von nur zwölf Jahren zunahm. Warum finden wir in der Population immer noch klein gefleckte Individuen? Wir haben bisher keine eindeutige Antwort. Es können drei sich nicht gegenseitig ausschließende Mechanismen vorgeschlagen werden: (1) Wenn die Selektion in der Schweiz groß gefleckte Weibchen begünstigt, haben klein gefleckte möglicherweise in anderen Populationen einen Vorteil, und Immigration aus diesen Populationen könnte zum „Nachschub“ der klein gefleckten Individuen in der Schweiz führen. (2) Es könnte eine sexuell antagonistische Selektion vorliegen, sodass groß gefleckte Männchen gegenselektiert und klein gefleckte Männchen ständig den „Nachschub“ an klein gefleckten Töchtern produzieren würden. (3) Die starke positive Selektion auf stark gefleckte Weibchen erfolgt möglicherweise nur vorübergehend, und zu anderen Zeiten haben klein gefleckte Weibchen einen Selektionsvorteil, sodass langfristig kein Nettonutzen aus der Großfleckigkeit resultiert. Dies könnte der Fall sein, wenn Großfleckigkeit unter irgendwelchen Umweltbedingungen (die in der Schweiz während des Untersuchungszeitraums nicht galten) mit Verhaltensweisen und physiologischen Prozessen assoziiert wäre, die mehr Kosten als Nutzen nach sich zögen. Zu klären, welcher dieser drei Mechanismen für die Koexistenz von klein und groß gefleckten Weibchen verantwortlich ist, wäre eine Aufgabe für zukünftige Untersuchungen. • Warum ist – aus mechanistischer Sicht – die Größe der mütterlichen schwarzen Gefiederflecke mit derart vielen verhaltensbiologischen und physiologischen Phänotypmerkmalen assoziiert, wie wir durch unsere Umsetzungsexperimente herausgefunden haben? Da die Ausbildung von kleinen oder großen Flecken von genetischen Faktoren abhängt und nicht davon, ob Individuen in sehr gutem oder schlechtem Körperzustand sind, gibt die biologische Mutter an ihre Nachkommen möglicherweise Gene, epigenetische Faktoren oder Nährstoffe im Ei weiter, die nicht nur die Größe der Flecke, sondern auch andere phänotypische Merkmale bestimmen. Gene, die an der Ausbildung schwarzer Gefiederflecke beteiligt sind, könnten z. B. pleiotrope Effekte haben (dabei reguliert ein Gen mehrere Funktionen). Die Aufklärung des genetischen Mechanismus, der dem Zusammenhang zwischen Gefiederfleckung und anderen phänotypischen Merkmalen zugrunde liegt, ist eines der wichtigsten Vorhaben, um die adaptive Funktion dieses Gefiedermerkmals zu verstehen.

12.9

Adaptive Funktionen von wenigen bzw. vielen schwarzen Flecken

12.9.1 Gefleckt oder ungefleckt 77 Bei der Schleiereule sind nicht alle Federn der Körperunterseite mit schwarzen Flecken

gezeichnet, und einige Federn haben auch mehr als einen Fleck (Abb. 12.13). Die ausgeprägte Variabilität zwischen den Individuen steht in Beziehung zum Schlaf sowie der physiologischen und verhaltensbiologischen Fähigkeit, den Körper aufzuwärmen. Bei abnehmender Außentemperatur erhöhen stark gefleckte Nestlinge ihren Grundumsatz und kuscheln sich häufiger an ihre Geschwister, um sich aufzuwärmen, denn stark gefleckte Nestlinge kühlen rascher aus als schwach gefleckte.

12.9  Adaptive Funktionen von wenigen bzw. vielen schwarzen Flecken

337

Die Anzahl der Flecke auf Brust, Bauch, Flanken und Flügelunterseiten der Schleiereule variiert von Individuum zu Individuum (Abb. 12.23 und 12.25): Manche Eulen sind ungefleckt, andere weisen Hunderte von Flecken auf. Diese ausgeprägte Variation steht zwar mit weniger Phänotypmerkmalen in Beziehung, als es beim Fleckendurchmesser der Fall ist, doch schwach bzw. stark gefleckte Individuen setzen unterschiedliche Stoffwechsel- und Verhaltensstrategien ein, damit aus einem kleinen Küken ein ausgewachsener Flüggling wird.

Körpertemperatur Nestlinge haben größere Schwierigkeiten, eine konstante Körpertemperatur zu halten, als Altvögel. Wenn die Außentemperatur von 30 °C auf 15 °C fällt, nimmt die Körpertemperatur des Nestlings von 40 °C auf 36 °C ab. Um den Körper warm zu halten, wird nicht nur Nahrung als Brennstoff für den Stoffwechsel benötigt, sondern auch die Bereitschaft, sich an die Geschwister zu kuscheln. Diese physiologischen und verhaltensbiologischen Eigenschaften stehen mit der Anzahl der schwarzen Flecke auf der Körperunterseite in Beziehung (Abb. 12.24). Schlaf und Wachsamkeit Nestlinge mit mehr Flecken haben größere Schwierigkeiten, sich aufzuwärmen, und einen höheren Grundumsatz – daher können sie es sich nicht leisten, eine Fütterung durch die Eltern zu verpassen. Möglicherweise müssen sie deshalb sehr wachsam sein, um einen ankommenden Altvogel schnell zu entdecken und die mitgebrachte Nahrung abzufangen. Dementsprechend weisen Nestlinge, deren Mütter mehr schwarze Flecke besitzen, kürzere Non-REM-Schlafepisoden und mehr Wachepisoden auf, sind wachsamer, indem sie häufiger zum Nesteingang blicken (wo die Eltern mit der Beute ankommen) wie auch zu

Abb. 12.23  Die schwarzen Gefiederflecke auf der Körperunterseite von Schleiereulen variieren stark in Anzahl und Größe

338

12 Gefiederpolymorphismus

Abb. 12.24  Das Gefieder von Schleiereulen zeigt eine geografische Variation. So weisen die Amerikaschleiereulen in Nordamerika z. B. im Zentrum des Kontinents mehr Flecke auf als an der Ost- und Westküste. Für Nestlinge mit mehr Flecken ist es schwieriger sich aufzuwärmen, und ihr Körper ist kühler als bei Nestlingen mit weniger Flecken. Stark gefleckte Nestlinge haben daher einen höheren Grundumsatz und kuscheln sich schneller an ihre Geschwister, wenn die Außentemperatur abfällt. Diese Beobachtungen regen zu einer interessanten Hypothese an: Können stark gefleckte Nestlinge die zum Aufwärmen benötigte Energiemenge reduzieren, indem sie ein spezifisches Verhalten zeigen (sich an die Geschwister kuscheln)? Könnte die eingesparte Energie eingesetzt werden, um das Wachstum und die Ausreifung der Organe zu beschleunigen?

ihren Geschwistern, mit denen sie rivalisieren. Um ihren „kalorienhungrigen“ Stoffwechsel zu versorgen, erhöhen gefleckte Nestlinge also vermutlich ihre Chancen auf exklusive Nutzung der elterlichen Nahrungsressourcen, indem sie seltener in Tiefschlaf fallen und stattdessen sehr wachsam auf die Rückkehr der fütternden Eltern warten.

12.9.2 Offene Forschungsfragen • Es ist unbekannt, welcher genetische Mechanismus dem Zusammenhang zwischen Anzahl der Flecke, Thermoregulation und Schlafarchitektur zugrunde liegt – dies sollte aufgeklärt werden. Aus ökophysiologischer Sicht werden ferner Daten benötigt, um zu

12.10  Geografische Variation der Gefiedermerkmale

339

40 Adulte Männchen 30

20

Häufigkeitsverteilung

Männchen: Flügglinge und Einjährige 10

0

10

20

30 40 50

60

70

80 90 100 110 120 130 140 150 160

Anzahl der Flecke 10

20

Weibchen: Flügglinge und Einjährige

Adulte Weibchen

30

40

Abb. 12.25  Häufigkeitsverteilung der Anzahl an schwarzen Flecken auf der Körperunterseite von Schweizer Schleiereulen. Viele Männchen weisen wenige Flecke auf, während Weibchen meistens eine mittlere Anzahl an Flecken besitzen

erklären, warum stark gefleckte Nestlinge größere Schwierigkeiten beim Aufwärmen haben als schwach gefleckte Nestlinge. • Die Beziehung zwischen Anzahl der schwarzen Federflecke und Geschwisterrivalität sollte genauer untersucht werden. • Auch bei Altvögeln sollte die Rolle der Fleckenzahl aufgeklärt werden.

12.10 Geografische Variation der Gefiedermerkmale 12.10.1 Unendliche Schönheit 77 Dunkelfärbung durch Einlagerung von Melaninen spielt bei der Thermoregulation

eine Rolle und beim Schutz der Haut vor Wasser, UV-Licht und Parasiten. Aus all diesen Gründen sind Tiere, die in hohen und niedrigen geografischen Breiten leben, nicht ähnlich gefärbt. Auch bei der Schleiereule ist dies der Fall: In Amerika, Europa, Afrika und Australasien haben sich die rostbraunen Färbungen (Abb. 12.26) in kalten und regnerischen Regionen herausgebildet, die weißlichen Färbungen in warmen und trockenen Regionen. Die geografische Variabilität der Gefiederfleckung ist bei Schleiereulen dagegen für jeden Kontinent spezifisch.

340

12 Gefiederpolymorphismus

Abb. 12.26  Eine hübsche rostbraune Schleiereule mit vielen großen schwarzen Flecken

Dank der weltweiten Verbreitung der Tytonidae bietet sich eine einzigartige Gelegenheit: Wir können testen, ob dieselben ökologischen und klimatischen Faktoren quer über alle Kontinente wiederholt die Ausbildung dunkler versus weißer Gefiederformen oder ungefleckter versus stark gefleckter Gefiederformen begünstigt haben. Zu diesem Zweck wurden 11 000 Tytonidae-Exemplare (darunter 8500 Schleiereulen) aus naturhistorischen Museen vermessen und analysiert.

Breitengradabhängige Variation der Gefiedermerkmale Die geografische Variation der Gefiedermerkmale kann ausgeprägt sein (Abb. 12.27, 12.28 und 12.29). In den nördlichen Teilen von Kontinentaleuropa und Nordamerika sind die Schleiereulen dunkler rostbraun und besitzen größere Flecke als die Artgenossen in den südlichen Regionen dieser Kontinente. Diese sogenannte klinale (clinale) Variation ist in Europa allerdings sechsmal stärker als in Nordamerika. Auf der Südhalbkugel folgen die Kapgraseule (Afrika), die Schleiereulen in Afrika und Australien sowie die Neuhollandeule derselben geografischen Variation: Die Vögel weisen also in den gemäßigten Regionen stärkere Melanineinlagerungen auf (d. h., sie sind dunkler rostbraun und stärker gefleckt) als in den äquatorialen Regionen der Kontinente. Ein gegensätzliches Muster herrscht jedoch in Südamerika vor; dort sind Schleiereulen (Tyto furcata tuidara) zum Äquator hin dunkler rostbraun und stärker gefleckt. Die Ergebnisse sind in Abb. 12.30 zusammengefasst.

12.10  Geografische Variation der Gefiedermerkmale

341

SchleiereuleArtkomplex Brustfarbe –1 –4,5 –8

SchleiereuleArtkomplex

Anzahl der Flecke 119 61 2

SchleiereuleArtkomplex Durchmesser der Flecke (mm) 3,9 2,1 0,3

Abb. 12.27  Geografische Variation im Ausmaß der rostbraunen Grundfärbung sowie der Anzahl und Größe der schwarzen Flecke beim Schleiereule-Artkomplex. Die Skala für die Grundfärbung reicht von Weiß (–8) bis zu Dunkelrostbraun (–1)

12 Gefiederpolymorphismus

342

Graseule Brustfarbe –1 –4,5 –8

Graseule

Anzahl der Flecke 119 61 2

Graseule

Durchmesser der Flecke (mm) 4,5 2,6 0,7

Abb. 12.28  Geografische Variation im Ausmaß der rostbraunen Grundfärbung sowie der Anzahl und Größe der schwarzen Flecke bei Graseulen. Die Skala für die Grundfärbung reicht von Weiß (–8) bis zu Dunkelrostbraun (–1)

12.10  Geografische Variation der Gefiedermerkmale

343

Neuhollandeule Brustfarbe –1 –4,5 –8

Neuhollandeule Anzahl der Flecke 47 27 7

Neuhollandeule

Durchmesser der Flecke (mm) 5,5 2,9 0,4

Abb. 12.29  Geografische Variation im Ausmaß der rostbraunen Grundfärbung sowie der Anzahl und Größe der schwarzen Flecke bei Neuhollandeulen & Co. Die Skala für die Grundfärbung reicht von Weiß (–8) bis zu dunkel Rostbraun (–1)

12 Gefiederpolymorphismus

344

Tyto alba (Europa)

Tyto capensis

Ventrale rostbraune Färbung

(Afrika)

Tyto alba

Tyto furcata

(Afrika)

(Nordamerika)

Tyto furcata

(Südamerika)

Tyto novaehollandiae

(Australien)

Tyto javanica delicatula (Australien)

–60

–50

–40

–30

–20

–10

0

10

20

30

40

50

60

Breitengrad

Abb. 12.30  Geografische Variation im Ausmaß der rostbraunen Grundfärbung, in der Anzahl der schwarzen Flecke und im Durchmesser der Flecke auf der Körperunterseite verschiedener Tytonidae. Die Regressionsgeraden zeigen die Stärke des Zusammenhangs zwischen Breitengrand und Gefiedermerkmalen an. Die breitengradabhängige Variation ist in Europa (verglichen zu anderen Regionen) besonders ausgeprägt (Fortsetzung auf der nächsten Seite)

Geschlechtsspezifische Klinen Gefiedermerkmale sind sexualdimorph; im Schnitt sind die Weibchen dunkler rostbraun und stärker gefleckt als die Männchen. Wie bereits besprochen, weisen diese Farbunterschiede darauf hin, dass einige Gefiedervarianten bei dem einen Geschlecht eine wichtigere Funktion haben als beim anderen, z. B. werden große schwarze Flecke bei Weibchen begünstigt, aber bei Männchen gegenselektiert. Falls die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Gefiedermerkmale geografisch variieren, sollte die Breitengradvariation bei dem einem Geschlecht stärker als beim anderen sein. Dementsprechend weisen Männchen in Nordeuropa größere Flecke auf als in Südeuropa, während Weibchen in ganz Kontinentaleuropa ähnlich große Flecke haben. Vielleicht ist bei Weibchen die Selektion auf Großfleckigkeit in ganz Europa stark, bei Männchen aber nur in Nordeuropa. Alternativ sind die Kosten der Großfleckigkeit bei den Männchen in Nordeuropa möglicherweise weniger ausgeprägt als in Südeuropa. Was die weiße bis rostbraune Färbung der Bauchseite angeht, ist die Situation völlig anders: Unabhängig vom Geschlecht sind Individuen in Nordosteuropa meistens dunkelrostbraun und in Südeuropa weißlich. Diese Beobachtung könnte darauf hinweisen, dass die rostbraune Färbung des Gefieders bei beiden Geschlechtern eine ähnliche Funktion hat

12.10  Geografische Variation der Gefiedermerkmale

Tyto alba

50

Anzahl der schwarzen Flecke

345

(Afrika)

Tyto capensis

(Afrika)

40

Tyto alba (Europa)

Tyto furcata

(Südamerika)

Tyto furcata

30

(Nordamerika)

Tyto javanica delicatula (Australien)

Tyto novaehollandiae

(Australien)

20 –60

–50

–40

–30

–20

–10

0

10

20

30

40

50

60

50

60

4,0

Tyto novaehollandiae

Tyto capensis

Durchmesser der Flecke (mm)

(Australien)

(Afrika)

3,0

Tyto furcata

(Nordamerika)

Tyto furcata

(Südamerika) 2,0

Tyto alba

Tyto javanica delicatula

(Afrika)

(Australien)

Tyto alba (Europa)

1,0 –60

–50

–40

–30

–20

–10

0

10

Breitengrad

Abb. 12.30  (Fortsetzung)

20

30

40

346

12 Gefiederpolymorphismus

und dass Kosten und Nutzen des Merkmals Dunkelrostbraun oder Weißlich bei Männchen und Weibchen auf dem ganzen Kontinent ähnlich sind.

Niederschläge und Temperatur Es ist nicht einfach herauszufinden, welche ökologischen Faktoren die Herausbildung der Breitengradvariation bei Gefiedermerkmalen auf verschiedenen Kontinenten gefördert haben. Im (großen) Kontinentalmaßstab verändern sich die meisten bioklimatischen Variablen von Nord nach Süd. Daher ist es schwierig, Rückschlüsse auf die Art der Umweltfaktoren ziehen, an welche die Gefiedervarianten in unterschiedlichen Populationen angepasst sind. So gibt es z. B. in der Äquatorialregion mehr Parasiten, und das Klima ist weniger jahreszeitlich geprägt als in der gemäßigten Klimazone. Wir haben daher Analysen durchgeführt, um zu ermitteln, ob Außentemperatur und Niederschläge mit der Ausbildung von Gefiedermerkmalen assoziiert sind, und zwar so, wie von zwei biogeografischen Regeln postuliert: 1. In Übereinstimmung mit Glogers Regel sind Schleiereulen in feuchten Lebensräumen stärker pigmentiert als in trockenen Lebensräumen. Dies trifft für das Ausmaß der rostbraunen Grundfärbung auf globaler Ebene zu; für die Größe der schwarzen Flecke gilt dies aber nur auf stärker lokaler Ebene, zumindest in den USA und dem Vereinigten Königreich. Eine dunklere Färbung in niederschlagsreichen Regionen könnte eine Anpassung zum Schutz des Körpers vor Parasiten sein – denn diese sind in feuchten Habitaten zahlreich. In Habitaten mit derart üppiger Vegetation herrschen zudem schlechte Lichtverhältnisse, so dass dunkles Gefieder die Tarnung verbessern könnte. Und schließlich könnte Melanin den Federverschleiß im dichten Pflanzenwuchs vermindern. 2. In Übereinstimmung mit Bogerts Regel haben Schleiereulen aus Amerika, Afrika und Europa in kühleren Regionen eine dunkler rostbraune Färbung ausgebildet und in wärmeren Regionen ein weißliches Gefieder. Vielleicht besitzt eine dunkelrostbraune Färbung bei der Schleiereule eine thermoregulatorische Funktion – ähnlich wie bei kaltblütigen Tieren, die Sonnenwärme benötigen, um sich aufzuwärmen. Interessanterweise ist diese Beziehung in Australasien nicht ersichtlich. Bleibt die Tatsache, dass Schleiereulen auf Inseln kleinere und weniger schwarze Flecke sowie eine heller rostbraune Färbung aufweisen als auf Kontinenten – die biologische Bedeutung dieser Beobachtungen ist nach wie vor unklar. Dasselbe gilt für die Befunde, dass Schleiereulen auf kleinen Inseln dunkler rostbraun als auf größeren Inseln sind und dass Schleiereulen auf der Nordhalbkugel zum Äquator hin größere schwarze Flecke aufweisen. Man sieht, wir haben noch viel über die geografische Variation der Gefiedermerkmale zu lernen!

12.10.2 Offene Forschungsfragen • Die Gründe, warum Schleiereulen in feuchten und kalten Regionen dunkler rostbraun und in trockenen und heißen Regionen heller sind, müssen ermittelt werden. • Es ist unklar, warum Bogerts Regel auf Amerika, Europa und Afrika zutrifft, jedoch nicht auf Australasien.

Weiterführende Literatur

347

• Sind geografische Variationen evolutionär stabil, oder sind sie zurzeit – in Zusammenhang mit den anthropogenen globalen Umweltveränderungen – im Wandel begriffen? • Bisher ist unbekannt, warum die Inselpopulationen von Schleiereulen andere Gefiedermerkmale besitzen als Populationen auf Kontinenten. • Haben Räuber-Beute-Beziehungen auf globaler Ebene eine Rolle in der Evolution der Gefiederfärbung gespielt? Um diese Hypothese zu testen, muss man untersuchen, ob Unterschiede im Nahrungsspektrum zwischen einzelnen Populationen mit Unterschieden in der Gefiederfärbung auf der Interpopulationsebene assoziiert sind.

Weiterführende Literatur Abschnitt 12.1 Literák I, Roulin A, Janda K (1999) Close inbreeding and unusual melanin distribution in barn owls (Tyto alba). Folia Zool 48:227–231 Roulin A (2004) The evolution, maintenance and adaptive function of genetic colour polymorphism in birds. Biol Rev 79:815–848 Abschnitt 12.2 Burri R, Antoniazza S, Gaigher A, Ducrest A-L, Simon C, Fumagalli L, Goudet J, Roulin A, The European Barn Owl Network (2016) The genetic basis of color-related local adaptation in a ring-like colonization around the mediterranean. Evolution 70:140–153 Larsen TC, Holland AM, Jensen H, Steinsland I, Roulin A (2014) On estimation and identifiability issues of sex-linked inheritance with a case study of eumelanic spot diameter in Swiss barn owl (Tyto alba). Ecol Evol 4:1555–1566 Roulin A (2016) Evolutionary trade-off between naturally and sexually selected melanin-based colour traits in the worldwide distributed barn owls and allies. Biol J Linn Soc 119:455–476 Roulin A, Dijkstra C (2003) Genetic and environmental components of variation in eumelanin and phaeomelanin sex-traits in the barn owl. Heredity 90:359–364 Roulin A, Jensen H (2015) Sex-linked inheritance, genetic correlations and sexual dimorphism in three melanin-based color traits in the barn owl. J Evol Biol 28:655–666 Roulin A, Richner H, Ducrest A-L (1998) Genetic, environmental and condition-dependent effects on female and male plumage ornamentation. Evolution 52:1451–1460 Roulin A, Riols C, Dijkstra C, Ducrest A-L (2001) Female- and male-specific signals of quality in the barn owl. J Evol Biol 14:255–266 San-Jose LM, Ducrest A-L, Ducret V, Béziers P, Simon C, Wakamatsu K, Roulin A (2015) Effect of the MC1R gene on sexual dimorphism in melanin-based coloration. Mol Ecol 24:2794–2808 Abschnitt 12.3 Roulin A, Jensen H (2015) Sex-linked inheritance, genetic correlations and sexual dimorphism in three melanin-based color traits in the barn owl. J Evol Biol 28:655–666 Roulin A, Randin C (2015) Gloger’s rule in North American barn owls. Auk 132:321–332 Roulin A, Randin C (2016) Barn owls display larger black feather spots in cooler regions on the British Isles. Biol J Linn Soc 119:445–454 Roulin A, Salamin N (2010) Insularity and the evolution of melanism, sexual dichromatism and body size in the worldwide-distributed barn owl. J Evol Biol 23:925–934 Abschnitt 12.4 Dreiss AN, Roulin A (2010) Age-related change in melanin-based coloration: females that become more female-like and males more male-like with age perform better in barn owls (Tyto alba). Biol J Linn Soc 101:689–704

348

12 Gefiederpolymorphismus

Abschnitt 12.5 Roulin A (1999) Nonrandom pairing by male barn owls Tyto alba with respect to a female plumage trait. Behav Ecol 10:688–695 Abschnitt 12.6 Roulin A, Jensen H (2015) Sex-linked inheritance, genetic correlations and sexual dimorphism in three melanin-based color traits in the barn owl. J Evol Biol 28:655–666 Roulin A, Altwegg R, Jensen H, Steinsland I, Schaub M (2010) Sex-dependent selection on an autosomal melanic female ornament promotes the evolution of sex ratio bias. Ecol Lett 13:616–626 Abschnitt 12.7 Antoniazza S, Ricardo K, Neuenschwander S, Burri R, Gaigher A, Roulin A, Goudet J (2014) Natural selection in a post-glacial range expansion: the case of the colour cline in the European barn owl. Mol Ecol 23:5508–5523 Charter M, Peleg O, Leshem Y, Roulin A (2012) Similar patterns of local barn owl adaptation in the Middle East and Europe with respect to melanic coloration. Biol J Linn Soc 106:447–454 Charter M, Leshem Y, Izhaki I, Roulin A (2015) Pheomelanin-based colouration is correlated with indices of flying strategies in the barn owl. J Ornithol 156:309–312 Dreiss AN, Antoniazza S, Burri R, Fumagalli L, Sonnay C, Frey C, Goudet J, Roulin A (2012) Local adaptation and matching habitat choice in female barn owls with respect to melanic coloration. J Evol Biol 25:103–114 Romano A, Séchaud R, Hirzel AH, Roulin A (2019) Climate-driven convergent evolution of plumage colour in a cosmopolitan bird. Glob Ecol Biogeogr 28:496–507 Roulin A (2013) Ring recoveries of dead birds confirm that darker pheomelanic barn owls disperse longer distances. J Ornithol 154:871–874 Roulin A, Riols C, Dijkstra C, Ducrest A-L (2001) Female- and male-specific signals of quality in the barn owl. J Evol Biol 14:255–266 Roulin A, Da Silva A, Ruppli CA (2012) Dominant nestlings displaying female-like melanin coloration behave altruistically in the barn owl. Anim Behav 84:1229–1236 Roulin A, des Monstiers B, Ifrid E, Da Silva A, Genzoni E, Dreiss AN (2016) Reciprocal preening and food sharing in colour polymorphic nestling barn owls. J Evol Biol 29:380–394 Van den Brink V, Dolivo V, Falourd X, Dreiss AN, Roulin A (2012) Melanic color-dependent anti-predator behavior strategies in barn owl nestlings. Behav Ecol 23:473–480 Abschnitt 12.8 Almasi B, Roulin A (2015) Signalling value of maternal and paternal melanism in the barn owl: implication for the resolution of the lek paradox. Biol J Linn Soc 115:376–390 Almasi B, Roulin A, Jenni-Eiermann S, Jenni L (2008) Parental investment and its sensitivity to corticosterone is linked to melanin-based coloration in barn owls. Horm Behav 54:217–223 Almasi B, Jenni L, Jenni-Eiermann S, Roulin A (2010) Regulation of stress-response is heritable and functionally linked to melanin-based coloration. J Evol Biol 23:987–996 Almasi B, Roulin A, Korner-Nievergelt F, Jenni-Eiermann S, Jenni L (2012) Coloration signals the ability to cope with elevated stress hormones: effects of corticosterone on growth of barn owls is associated with melanism. J Evol Biol 25:1189–1199 Almasi B, Roulin A, Jenni L (2013) Corticosterone shifts reproductive behaviour towards self-maintenance in the barn owl and is linked to melanin-based coloration in females. Horm Behav 64:161–171 Dreiss A, Henry I, Ruppli C, Almasi B, Roulin A (2010) Darker eumelanic barn owls better withstand food depletion through resistance to food deprivation and low appetite. Oecologia 164:65–71 Dreiss AN, Roulin A (2010) Age-related change in melanin-based coloration: females that become more female-like and males more male-like with age perform better in barn owls (Tyto alba). Biol J Linn Soc 101:689–704 Roulin A (2007) Melanin pigmentation negatively correlates with plumage preening effort in barn owls. Funct Ecol 21:264–271

Weiterführende Literatur

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13

Ausblick

13

13.1

Für die Zukunft

Im Lauf der Jahre hat sich die Schleiereule als sehr guter Modellorganismus für viele biologische Schlüsselfragen erwiesen, mit einer Spannbreite von der Physiologie (Gesichtssinn, Gehörsinn, Stoffwechsel), Ökologie (Räuber-Beute-Beziehungen, Jagdverhalten), Verhaltensökologie (Familienbeziehungen, Dispersal) und Populationsdynamik bis zur Genetik und Evolutionsbiologie (Farbpolymorphismen). Ich habe mir diesen umfangreichen Wissensfundus zunutze gemacht, um diesen hochinteressanten Vogel auf eine umfassendere Weise vorzustellen, als dies in bisherigen Monografien über die Schleiereule versucht wurde: Denn ich habe auch alle bislang untersuchten Aspekte der Evolutionsökologie berücksichtigt und mein Bestes getan, um die vielfältigen Querverbindungen zwischen all diesen Themen aufzuzeigen. Selbst dann, wenn man nur einen bestimmten Aspekt der Biologie einer Art verstehen will, ist ein profundes Wissen aller biologischen Fakten nötig, um die Befunde richtig einzuordnen. Auf Hobby-Ornithologen haben Schleiereulen und ihre Verwandten immer eine große Faszination ausgeübt, doch Wissenschaftler waren ursprünglich der Ansicht, es lohne sich bei dieser Gruppe nicht, derart viel Zeit zu investieren (sehr zeitintensive Arbeit, nicht nur tagsüber, sondern auch nachts) und Entfernungen zurückzulegen (beim Sammeln der Daten kommen in den großen Untersuchungsgebieten viele Kilometer zusammen). Ich erinnere mich, dass ein Professor mich fragte: „Alex, warum arbeitest du nicht lieber mit Gehäuseschnecken als mit Schleiereulen?“

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Roulin, Schleiereulen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62514-9_13

351

13.1  Für die Zukunft

353

Letztlich konnten Untersuchungen an der Schleiereule nicht nur wichtige Wissenslücken schließen, die mit anderen Vögeln nur schwer zu klären waren, sondern auch neues Licht auf alte biologische Fragen werfen. Entdeckungsfreude motivierte Wissenschaftler auch dazu, sich kleinen Details wie Gefiedermerkmalen zu widmen – mit den erstaunlichsten Ergebnissen. Wie hätten wir ahnen können, dass weißes Gefieder der Schleiereule bei der Jagd auf Nager hilft, insbesondere bei Vollmond? Wie hätten wir uns in den 1990er-Jahren vorstellen können, dass die Größenvariation der schwarzen Gefiederflecke genetische Qualitäten vorhersagen könnte? Diese Ergebnisse führten zu neuen Konzepten, die von generellem, weit über die Schleiereule hinausgehendem Interesse sind: Beispielsweise können wir heute erklären, wie verschiedene Farbmorphen koexistieren können und warum und wie melaninbasierte Merkmale mit Physiologie und Persönlichkeit assoziiert sein können. Da Gefiederzeichnungen meist auf Melaninfarbstoffen beruhen (ähnlich wie die Variationen der menschlichen Hautfarbe), erlaubt uns die Untersuchung der Schleiereule wichtige Rückschlüsse für das Verständnis unserer eigenen Biologie und Evolutionsgeschichte. Kürzlich haben wir biomedizinische Untersuchungen begonnen und fanden, dass das POMC-Gen (Gen für Proopiomelanocortin) bei der Schleiereule eine ungewöhnliche Nukleotidsequenz aufweist. Das POMC-Gen kodiert für ein Prohormon, das in zehn (auch medizinisch wichtige) Peptidhormone gespalten wird. Untersuchungen an der Schleiereule lassen demnach Rückschlüsse auf viele Bereiche des Lebens zu. In der Biologie der Schleiereule spielen ferner die komplexen Interaktionen der Familienmitglieder eine wichtige Rolle. Mir war zwar früher schon aufgefallen, dass die Nestlinge nachts die ganze Zeit – auch in Abwesenheit der Eltern – rufen. Doch erst 1997 wurde mir klar, dass dieses Verhalten nach den gängigen Theorien zu Eltern-Kind-Konflikt und Geschwisterrivalität keinen Sinn machte. Die detaillierte Untersuchung dieses Verhaltens führte zur Entwicklung der Geschwisterverhandlungen-Theorie (sibling negotiation theory); sie besagt, dass junge Nestgeschwister vokal miteinander kommunizieren, um Konflikte friedlich zu lösen. Ein derartiges Verhalten ist nicht nur von rein wissenschaftlichem Interesse, sondern dazu hochsymbolisch in dem Sinne, dass ein Beutegreifer mit einsatzbereitem „Waffenarsenal“ (scharfer Schnabel und Klauen) „klug“ genug ist, Konflikte durch Aushandeln statt durch Kampf zu lösen. Auch für uns Menschen könnte das ein Vorbild sein! Wir wissen eine ganze Menge über die Evolutionsökologie der Schleiereule – allerdings viel weniger über ihre Verwandten, die anderen Mitglieder der Familie Tytonidae. Für dieses Buch wurden mehr als 3600 wissenschaftliche Veröffentlichungen ausgewertet und in einer Synthese vereinigt. Obwohl die bisher publizierte Literatur bereits eine so große Fülle an Erkenntnissen liefert, besteht nach wie vor erheblicher Forschungsbedarf. Diese Synthese öffnet die Türen zu neuen Fragestellungen und zu zahlreichen neuen Projekten. Es ergeben sich im Folgenden vier Schwerpunkte: 1. Wissenslücken füllen: Etliche Aspekte in der Biologie der Schleiereule konnten in diesem Buch nicht behandelt werden, da genauere Untersuchungen fehlen. So wurde das Mausermuster zwar gelegentlich beschrieben, doch die Ursachen und Folgen der verschiedenen Mausermuster sind unbekannt. Da die Brutperiode der Schleiereule sehr lange andauert, mausern die Brutvögel ihre Schwung- und Steuerfedern oft während der Bebrütungs- und Aufzuchtzeit, was in der Vogelwelt relativ selten vorkommt. Weitere offene Fragen sind z. B. die Empfindlichkeit der Schleiereule gegenüber verschiedensten

354

13 Ausblick

menschlichen Störungen (Gifte, Lärm, Auswirkungen des Straßenverkehrs auf Nahrungssuche etc.) sowie die globale Populationsgenetik/-genomik. 2. Neue Forschungsfragen anpacken: In diesem Buch werden etliche spannende Ideen diskutiert, die über die Schleiereule hinaus von allgemeinem Interesse sind. Die melaninabhängigen Farbmerkmale sind beispielsweise mit vielen anderen Phänotypen assoziiert, wie Resistenzen gegen zahlreiche Stressfaktoren. So stellt sich aus funktioneller Sicht die Frage, warum dies passiert, und aus mechanistischer Sicht, wie dies möglich ist – wichtige Fragen, wenn man bedenkt, dass Melaninfarbstoffe bei den meisten Tieren vorkommen. Andere Frage: Die weltweite Verbreitung der Schleiereule weist darauf hin, dass sie sich aufgrund ihres Körperbaus an eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensräume anpassen kann. Welche Merkmale genau sind es, die die Schleiereule so erfolgreich machen? Dank ihrer weltweiten Verbreitung können wir nicht nur den Einfluss von Schlüssellebensraumfaktoren (z. B. Regenwald, Wüste, gemäßigtes Klima) auf die Evolution der Diversität von Lebensformen untersuchen, sondern auch die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Schleiereulenpopulationen auf verschiedenen Kontinenten. Es ist daher zwingend erforderlich, auch außerhalb von Europa und Nordamerika Untersuchungen durchzuführen. Ein weiterer Aspekt, der besser erforscht werden sollte, ist das auffällige kooperative Verhalten der jungen Schleiereulennestgeschwister. Und schließlich sind wir mithilfe der neuen Technologien wie GPS in der Lage, die Eulen in Zeit und Raum zu observieren – dies wird uns neue Einblicke in das Leben eines nachtaktiven Räubers geben, der ansonsten nur schwer zu beobachten ist. 3. Informieren und Weitersagen: Auch wenn zahlreiche Schlüsselaspekte in der Biologie der Schleiereule (wie Ernährung und Fortpflanzungserfolg) bereits intensiv untersucht wurden, sammeln viele Ornithologen weiterhin Daten zu solchen Fragestellungen. Die weitere Datenerhebung ist sehr wichtig, damit wir ermitteln können, ob die Populationen stabil sind, auf lokaler/regionaler Ebene unter menschlichen Aktivitäten leiden oder von globalen Effekten wie dem Klimawandel betroffen sind. Wir müssen die Forschungsergebnisse jedoch stärker kommunizieren. Die meisten dieser potenziell wertvollen Beobachtungen sind nach wie vor nicht veröffentlicht. 4. Die Öffentlichkeit einbeziehen: Die Schleiereule lebt in enger Nachbarschaft zum Menschen und galt zwar früher als Unglücksbote, ist aber inzwischen auch zum Symbol von Versöhnung und Frieden geworden. Im Nahen Osten hat die Schleiereule Menschen aus Bevölkerungsgruppen, die miteinander in Konflikt liegen, an einem Tisch zusammengebracht, um das Potenzial dieser Art in der Schädlingsbekämpfung zu diskutieren: Sie kann dort Rodentizide ersetzen und so die Schadnager dezimieren, die zurzeit große Schäden in der Landwirtschaft anrichten. Wir müssen derartige Erfolgsgeschichten auch außerhalb der Wissenschaftswelt so weit wie möglich verbreiten! Dieses Bottom-up-Verfahren wurde durch Mitakteure vorangetrieben, die an der Lösung grenzüberschreitender Fragen arbeiten. Das Programm zeigt, dass Menschen mit verschiedenem kulturellem, sozialem und politischem Hintergrund einen erfolgreichen Dialog führen können, wenn es um dieselbe Sache geht. Die Schleiereule als Friedenssymbol ist daher bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass sie in vielen Kulturen als Unglücksbote galt und gilt. Ich hoffe, dass Sie dieses Buch mit so viel Freude gelesen haben, wie Laurent Willenegger und ich beim Schreiben, Illustrieren und Zusammenarbeiten hatten. Vor allem hoffe ich,

13.1  Für die Zukunft

355

dass die Leser etwas über die Schleiereule gelernt haben und die Art mit neuem Interesse sehen werden – einem Interesse, das sich im Schutz der Schleiereule (und im Naturschutz generell) niederschlägt oder in Forschungsvorhaben zu Schleiereulen oder anderen Tierarten. Wenn man ein dickes Buch über einen einzigen Organismus schreibt oder liest, kann man leicht den Eindruck haben, dass unser Wissen bereits komplett ist – doch das Gegenteil ist der Fall: Ein derartiges Buch zeigt eher, dass unser Interesse ungebrochen ist und wir mehr denn je versuchen sollten, Antworten auf die vielen wissenschaftlichen Fragen zu finden, die noch offen sind.

357

Anhang

Artnamen Um den Textfluss nicht zu unterbrechen, wurden die wissenschaftlichen Namen der im Text erwähnten Arten im Allgemeinen nicht aufgeführt (die wissenschaftlichen Namen der Tytonidae wurden an den relevanten Stellen erwähnt). Zur besseren Orientierung folgt hier eine Liste der Trivialnamen mit zugehörigen wissenschaftlichen Namen: zuerst alle Tiere mit Ausnahme der Tytonidae, danach die Tytonidae selbst. Adeliepinguin Algerische Hausmaus Azara-Graslandmaus Baumfalke Baumwollratten Blassuhu Bulwersturmvogel Buntfalke Darwin-Blattohrmaus Dickschwanz-Schlafbeutler Dohle Erdmaus Erlenzeisig Erntemäuse Etruskerspitzmaus Feldmaus Feldmäuse/Kleinwühlmäuse Fischadler Fischuhus Froschweihe Gelbe Zwergreisratte Haarsohlen-Kaninchenratte Habicht Habichtfalke Hammerkopf

Pygoscelis adeliae Mus spretus Akodon azarae Falco subbuteo Sigmodon spp. Bubo lacteus Bulweria bulwerii Falco sparverius Phyllotis darwini Cercartetus nanus Coloeus monedula Microtus agrestis Spinus spinus Reithrodontomys spp. Suncus etruscus Microtus arvalis Microtus spp. Pandion haliaetus Ketupa spp. Circus ranivorus Oligoryzomys flavescens Reithrodon auritus Accipiter gentilis Falco berigora Scopus umbretta

Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Roulin, Schleiereulen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62514-9

357

Anhang

358 Hausmaus Haussperling Haustaube Hirschmäuse Hornisse Indischer Riesenflughund Kampfadler Kampfläufer Kaninchenkauz Kapohreule Kleine Vespermaus Kohlmeise Königsalbatros Königsbussard Kornweihe Krähe (hier: Rabenkrähe) Krähenscharbe Langschwanz-Zwergreisratte Lannerfalke Löwe Mäusebussard Mehlschwalbe Nacktbäuchige Grabfledermaus Nördliche Bandtaube Ostkreischeule Präriefalke Rauchschwalbe Raufußbussaurd Raufußkauz Reisratten Rennmäuse Rostgans Rotmilan Rotschwanzbussard Rotzahnspitzmäuse Schabrackenschakal Schermäuse Schimpanse Schneegans Seefrosch Seggenrohrsänger Siedelweber Sperber Stachelmäuse Steinadler Steinkauz Steinmarder

Mus musculus Passer domesticus Columba livia domestica Peromyscus spp. Vespa crabro Pteropus giganteus Polemaetus bellicosus Calidris pugnax Athene cunicularia Asio capensis Calomys laucha Parus major Diomedea epomophora Buteo regalis Circus cyaneus Corvus corone Phalacrocorax aristotelis Oligoryzomys longicaudatus Falco biarmicus Panthera leo Buteo buteo Delichon urbicum Taphozous nudiventris Patagioenas fasciata Megascops asio Falco mexicanus Hirundo rustica Buteo lagopus Aegolius funereus Oryzomys spp. Gerbillinae Tadorna ferruginea Milvus milvus Buteo jamaicensis Sorex spp. Canis mesomelas Arvicola spp. Pan troglodytes Anser caerulescens Pelophylax ridibundus (syn. Rana ridibunda) Acrocephalus paludicola Philetairus socius Accipiter nisus Acomys spp. Aquila chrysaetos Athene noctua Martes foina

Anhang Steinsperling Streifenkauz Sumpfohreule Sumpfweihe Turmfalke Uhu Virginiauhu Waldkauz Waldmäuse Waldohreule Wanderfalke Wasserspitzmäuse Weißfußmaus Weißzahnspitzmäuse Wiesenwühlmaus Wildschwein Wolf Wüstenuhu Zwergohreule

359 Petronia petronia Strix varia Asio flammeus Circus approximans Falco tinnunculus Bubo bubo Bubo virginianus Strix aluco Apodemus spp. Asio otus Falco peregrinus Neomys spp. Peromyscus leucopus Crocidura spp. Microtus pennsylvanicus Sus scrofa Canis lupus Bubo ascalaphus Otus scops

Anhang

360

Trivialnamen der Tytonidae Amerikaschleiereule (American Barn Owl) Australschleiereule (Eastern Barn Owl) Fleckenrußeule Goldeule Graseule, (Östliche) Graseule Graseulen Hispaniolaschleiereule Kapgraseule Malegasseneule Maskeneulen (Bay Owls) Minahassaeule Molukkeneule Neuhollandeule Neuhollandeulen & Co. (Masked Owls) Rußeule Rußeulen Schleiereule (traditionell) Schleiereule (Western Barn Owl) Schleiereule-Artkomplex (Common Barn Owl group) Serameule Sulawesieule Taliabueule

Tyto furcata Tyto javanica Tyto multipunctata Tyto aurantia Tyto longimembris Tyto capensis, T. longimembris Tyto glaucops Tyto capensis Tyto soumagnei Phodilus prigoginei, P. assimilis, P. badius Tyto inexspectata Tyto sororcula Tyto novaehollandiae Tyto aurantia, T. almae, T. novaehollandiae, T. inexspectata, T. rosenbergii, T. nigrobrunnea Tyto tenebricosa Tyto tenebricosa, T. multipunctata Tyto alba (Scopoli, 1769) Tyto alba Tyto-alba-Gruppe, umfasst (nach gegenwärtiger Definition) Tyto alba, T. furcata und T. javanica Tyto almae Tyto rosenbergii Tyto nigrobrunnea

Stichwortverzeichnis

A Aberglauben  40 absolutes Gehör  77 Abwanderung vom Brutort (breeding dispersal)  283 Abwanderung vom Geburtsort (natal dispersal)  277, 280, 292 Dispersal-Distanz  277, 279, 280, 281 Abwehrlaute  74 Adoption  242, 243, 244 Afrika Ausbreitung  15 Hauptbeute  149 aggressives Verhalten  73 Agrarland  126 Aktionsraum  121 Siehe Streifgebiet (home range) Aktivitätsmuster  123 Albinismus  300 Allopreening  68, 247, 249, 250, 251, 265, 269, 270 altruistisches Verhalten  267, 328 anatomische Anpassungen  77 Androgynie  312 Anpassungen  8, 22, 111, 134 anatomische  77 an Beutespezies  137 an das Nachtleben  80 an Gebäudebrut  180 an Geschwisterverhandlungen (sibling negociations)  255 an langsamen Flug  128 des Verhaltens  83 physiologische  77 visuelle  80 zur Geräuschreduzierung beim Fliegen  130 zur Parasitenabwehr  61 Ansitzjagd  134, 135, 137 anthropogene Lebensräume  23 Artefakte  8

Artenschutz  37 Asien Ausbreitung  18 Hauptbeute  149 assortative Paarung  319, 320 asynchroner Schlupf  202, 203, 204 asynchrones Schlüpfen  6 Aufklärung der Bevölkerung  48 Aufklärung und Erziehung  56 Auftrieb  128, 129, 131, 133 Aufzuchtbedingungen  105 Aufzuchtperiode  193, 218, 227, 241 Gewichtsverlust  237 Aufzuchtumgebung  105 Augen  80, 81, 82 Ausbreitung (dispersal)  279, 280, 281, 328 Aussterbewahrscheinlichkeit  293 Australien Ausbreitung  19 Hauptbeute  149 B Babyboom  23 Balz  155, 158 Balzgeschenk  157, 158 Balzgeschenke  159 Baumbrüter  179, 180 Bebrütung  198, 200, 202, 229 Gewichtsverlust  237 Bebrütungsdauer  198, 202 Bebrütungszeit  233 Beringung  286 Beringungsprogramme  280, 281 Bestandsgröße  292 Bestandsrückgang  47, 48 Gegenmaßnahmen  48 Bestandsschätzung  41 Bestandszunahme durch Nistkästen  49 361

362 Bestandszusammenbruch  288, 291, 293 Bettellaute  235 Bettelverhalten  230, 234, 235, 254, 259, 261 Hauptfunktion  232 Beute im Nest  241 Übergabe  233, 234 unverzehrte  241, 242 Verschlingen  265 Zerlegung  233, 234, 235 Beutegröße  229 Beutejagd  227 Beutelager  114, 239, 240 Beutetiere  139, 140, 142, 143, 144 Abundanz  140 Beutewahl  138 Bewegungsparallaxe  83 Biodiversität  8, 31, 32 biologische Schädlingsbekämpfung  33, 42, 44 auf Inseln  46 Blutsauger  71 Blutsverwandtschaft (Konsanguinität)  166 Bodenbrüter  180 Bogerts Regel  346 Brutaufgabe  207 Brutdichte  162 Brutfleck 198, 199 Brutgröße  205, 206, 227 Anpassung an Nahrungsangebot  203 Bruthäufigkeit 188 Brutpaare  243 Brutpartner  155 Brutpflege 230, 318 und Gefiederfleckengröße 334 Brutplatz  179 Aufgabe  38 Brutplätze  25, 90, 155, 157, 172 Mangel  48 Verteidigung  170 Brutplätze (s. auch Nistplätze)  90 Brutplatztreue  169, 170 Brut-Reduktions-Hypothese  202 Brut- und Auswilderungsprogramm  48 Brutverlust  207 Brutzeit  114, 126, 187, 189 Brutzeitpunkt  188 C Carnus hemapterus  68, 69 Corticosteron  253, 270, 330 cross-fostering (Fremdpflege) 105

Stichwortverzeichnis D Darm  87 disassortative Paarung  319 Dispersal Siehe Ausbreitung (dispersal) Dominanzstatus  258 dreidimensionales Sehen  81 Drittbrut  214 Drohrauschen  74 E egoistisches Verhalten  328 Eiablage  191 Zeitpunkt  189 Eibildung  192 Eier  191, 192, 198, 199, 229 Adoption  244 Dotterbildung  192 Größe  191, 193, 194 Zusammensetzung  192 Einzelbrüter  161, 162 Eiszeit  14, 15 Ektoparasiten  67, 68, 70, 71, 334 entfernen  269 Emigration  291, 292 Endoparasiten  61, 63, 65 extrazelluläre  65 Monitoring  63 energetische Kosten Flug  114, 122, 139, 233 für die Reproduktion  191 Energieverbrauch  91 Entfernung zwischen Nestern  165 Entwicklungshomöostase  332 Erkrankungsrisiko  61 Ernährung  109, 111 Ersatzbrut  210 Ersatzgelege  188, 210, 244 Erstbrut gescheiterte  221 Erstgelege  195 Erythrismus  300 Eumelanin  297 Europa Ausbreitung  15 Hauptbeute  144 ringförmige Besiedlung  15 Evolution  1, 14, 19 blitzschnelle  22 der Tytonidae  11 neuer Arten  14 evolutionäre Beschränkung (evolutionary constraint)  308 experimentelle Methode  35 experimentelles Vorgehen  35

Stichwortverzeichnis F Familienbeziehungen  250 Fang-Wiederfang-Auswertungsprogramme  286 Farbaberrationen  300 Farbmorphen  297, 300, 302, 303, 326, 327 genetisch programmierte  305 Farbpolymorphismus  297, 300, 302 Fasten  91, 92, 93 Federlinge  67, 70, 71 Federn  42, 128, 130, 132 aerodynamische Eigenschaften  130 mit Hakenkammstruktur  130 Querbänderungen  133 Feindverhalten  71, 332 Fettreserven  90 Fettschicht  91 Fitness des Weibchens  217 elterliche  227 Gesamt-Fitnessnutzen  268 Konsequenzen des Nestverlassens  221 und Gefiederfärbung 327 und Gefliederfleckung 329 von Morphen  302 Flug  128, 129, 130 energetische Kosten  114, 122, 233 lautloser  128, 129, 130, 135 Start des Angriffs  137 Flügel  128, 130, 132, 326 Flächenbelastung  128 Flügellänge  105 Variation  104 Flügelschlagen  250 Fluggeräusche  130 Flügglinge  213, 214, 243, 244 Flugmechanik  128 Forstwirtschaft  177 Fortpflanzung Siehe Reproduktion Fortpflanzungspotenzial Siehe Reproduktionspotenzial Fortpflanzungsstrategien 303 Fremdkopulation (extra-pair copulation)  160, 166 Fremdpflege (cross-fostering) 105, 304, 329, 333 Fremdpflegeexperimente 105 Fremdputzen  68, 247, 249, 250, 251, 265, 269, 270 Fremdvaterschaft  166 frequenzabhängige Selektion (frequency-dependent selection)  302 Fressfeinde  72, 74 Futter teilen  266, 267, 268, 328 Fütteraktivitäten  227, 250

363 Fütterung Rolle der Eltern  229 Zeitpunkt  230 Fütterungslaute  234 Fütterungsrate  227, 229, 230, 239, 259, 261 G Gebäudebrut  177, 179 Gründe  180 Gefahrenquellen  52 Gefieder 6 weißes  22 Gefiederfärbung 300, 306, 307, 308, 310 adaptive Funktionen  325 geografische Variation 341, 342, 343, 344 Häufigkeitsverteilung 326 und Jagdverhalten  326 und Reproduktionserfolg  327 und Reproduktionsverhalten  320 und Sozialverhalten  328 und Testosteronkonzentration  333 Variation  311, 325, 327 Gefiederfleckenanzahl adaptive Funktionen  336 geografische Variation 338 Gefiederfleckengröße adaptive Funktionen  329 Häufigkeitsverteilung 331 und Reproduktionsverhalten  334 Gefiederfleckung 307, 308, 316, 321 und physiologische Merkmale  329 und Reproduktionsverhalten  318, 319 Gefiederfliege 68 Gefiedermerkmale 299, 300, 304, 306, 307, 308, 316 altersabhängige Veränderungen  315 Breitengradvariation  340, 344, 346 genetische Korrelationen  307, 308, 309 geografische Variation 339 MC1R-Einfluss 310 Sexualdimorphismus  312, 313, 314, 344 und Partnerwahl  318 Variation  301, 315 Gefiederpflege 68 gegenseitige  68, 247, 249, 250, 251, 265, 269, 270 Gefiederpolymorphismus 304 Gefiedervariation 4 Gefiederwechsel 316, 317 und Reproduktionsaktivität  316 gegenseitiges Wärmen  271 Gehör  22, 77 Gelege  191

364 Gelegegröße  92, 194, 195, 196, 197, 205 Einflussfaktoren 195 Variation  195, 196 Gemeinschaftsbrut  163, 164 Gemeinschaftsschlafplätze  120 Genetik des Gefiederpolymorphismus 304 quantitative  304 genetische Faktoren  282 genetische Korrelationen zwischen den Geschlechtern  308, 309 zwischen Gefiedermerkmalen 307, 308, 309 genetischer Konflikt 323 genetische Variation  105 geografische Barrieren 282 geografische Verbreitung 99 Geräuschreduzierung beim Fliegen  130, 133 geräuschvolles Verhalten  74 Gerinnungshemmer  43 Geschlechter genetische Korrelationen  308, 309 Geschlechtsbestimmung  313 Geschlechtschromosom  307, 308 Geschlechtsreife  160 geschlechtsspezifische Klinen 344 Geschwisterähnlichkeit  304 Geschwisterinteraktionen  6 Geschwistermord  264, 266 Geschwisterrivalität  6, 251 Geschwisterverhandlungen (sibling negotiations)  249, 250, 252, 253, 257, 258 ideale Bedingungen  250 Lautstärke  258 Schema  254 Verhaltensanpassung  255 gesetzlicher Schutz  41 Gesichtsschleier  22, 77, 79 Gewichtsverlust  212, 213, 237 Gewöllbildung  87, 89 Probleme  89 Gewölle  1, 33, 42, 85, 86, 87, 88, 142, 185 Gewölleanalyse  33 Gifte  42 Gleichgewichtsfrequenz (equilibrium frequency)  302 Gleitflug 128 Glogers Regel  346 Glucocorticoide  303, 330 Graseule Nahrung  150 Shannon-Index  144 Graseulen  14, 18, 19 Großes-Weibchen-Hypothese  108 Grundfärbung  328 Grundlagenforschung  37

Stichwortverzeichnis H Habitate  124, 138 bevorzugte  126 Habitatverlust  41, 177 Habitatwahl  327 Habitatwandel  40 Hakenkammstruktur  130, 132 Hauptbeute  141, 142 Heimtierhandel  56 Heritabilität  105, 306, 307 Hirnaktivität  114 Höhlenbrüter  68 Home Range Siehe Streifgebiet Honest Signaling  335 Hormone  316 Hörvermögen  3, 77, 82 Hunger  91, 92, 93 Hungertod  266, 285, 287 Hygiene  64 I Immigration  291, 292, 293 Immunsystem  63, 68 Infantizid  244, 264 Infektionswege  63, 64 Inseln  14, 19, 46, 101 biologische Schädlingsbekämpfung  46 Gefiedermerkmale 346 Sexualdimorphismus der Gefiedermerkmale 314 Interaktionen soziale  266 interaurale Laufzeitdifferenz (ITD)  79 interaurale Pegeldifferenz (ILD)  80 Inzest  166 Inzucht  166, 168 Ixodes ricinus  68 J Jagd  113, 227, 230, 233 bei Tageslicht  113 energetische Kosten  139 Opportunismus  140 Jagdeffizienz 238 Jagderfolg  77, 80, 114, 227 Jagdflug 114 Jagdhabitate  123 bevorzugte  126 Wiederherstellung  48 Jagdmethoden  87, 128, 134 Anpassung an Beutespezies  137

Stichwortverzeichnis Jagdverhalten  109 und Gefiederfärbung 326 Jugendstreuung  277 Siehe Abwanderung vom Geburtsort (natal dispersal) K Kälte  93 Kälteempfindlichkeit 23, 90, 93 Kälteresistenz  93 Kandidatengen  310 Kannibalismus  264, 266 Kleines-Männchen-Hypothese  107 Kleinsäuger  141, 142 klinale Variation  340 Koloniebrüter  162 Kolonienbildung  161 Kontamination durch Nahrung  42 Kontrastempfindlichkeit 80 Kooperation Voraussetzungen  251 kooperatives Brüten  165 kooperatives Verhalten  221 Kopfbewegungen  83 Kopulation  159 Siehe Paarung Körpergewicht  92, 236, 327 Anpassung an Fortpflanzungszyklus 237 der Nestlinge  212, 213 Einflussfaktoren 213 geringes  93, 128 Reduktion  230 Schwankungen  89 während der Bebrütung  238 Zunahme  192 Körpergröße  22, 99, 107, 191 Einfluss von Aufzuchtumgebung 105 Einfluss von Umwelt und Vererbung 105 geografische Variation 99 Körpertemperatur  91, 92, 271, 272, 337 Krallenlänge  105 Krankheiten  66 Krankheitsüberträger  64 Kuckuckskinder  166 Kulturfolger  24 künstliche Auslese  8 künstliche Nisthilfen  47, 48 L Labortiere  8 Landwirtschaft  23, 33, 44, 63 Intensivierung  28 umweltverträglichere  48 Langzeitfitness 302

365 Lateralität  332 Lauerjagd  135 Lauerjäger  134 Läuse  67, 70 federfressende  67 lautlauses Fliegen  22 lautloser Flug  3 Lebenserwartung  286 lebenslange Paarbindung  169 Lebensreproduktionserfolg (lifetime reproductive success)  294 Legeintervall zwischen Erst- und Zweitbrut  217 Leuzismus  300 M Magen  114, 327 Mallophagen  71 Siehe Federlinge Männliche Unfruchtbarkeit 201 Maskeneulen  14 Mäuse  142 Mauser  315, 316 Melanin  297, 334, 335, 340 Melanismus  300 Melanocortin-1-Rezeptor-Gen (MC1R)  310 Melanogenese  297, 333 Melanogenese-Gen  306, 308 Migration  20, 23, 283, 284 Mittelamerika  19 Modellorganismen  1, 7 Modellsystem  7 Molekulargenetik  310, 311 Monitoring von Vogelpopulationen  39 Monogamie  160, 161 Nutzen und Kosten  174 Morphen  300, 302 adaptive Funktion  303 Morphologie Aberrationen  105 Mortalität  73, 90, 286, 287, 288, 291 Nestlinge  56, 206, 207 Mutationen  324 N nachtaktiv  77, 80, 83, 111, 113, 115, 128, 130, 247 Nachteinstände  123 Nachtjäger  132 Nachtsehen  81 Nager  142 Naher Osten Hauptbeute  149 Nährstoffelimination  88

366 Nahrung  101, 122, 139, 141, 142, 145, 149, 230 Einfluss auf Gelegegröße 196 Geschwisterkonkurrenz  252 teilen  266, 267, 268, 328 Nahrungsanalysen  1 Nahrungsangebot  188, 206, 207, 210, 213 Einfluss für Zweitbrut 216 Nahrungsaufnahme  84 Nahrungsbedarf  84, 114 der Nestlinge  241 Nahrungsbedürfnis  258 Nahrungsdepot  239 Nahrungsdiebstahl unter Geschwistern  264, 265 Nahrungskette  32 Nahrungsknappheit  113 Nahrungskonkurrenz  108, 111, 250, 253 Nahrungsmangel  91, 92, 333 Nahrungsqualität  84 Nahrungsressourcen Teilbarkeit  252 Nahrungssuche  107, 114, 122, 123, 135 Nahrungsvorräte  239 Nahrungszubereitung  234 Nahrungszusammensetzung  85 Nahrungszuteilung  235, 261 natürliche Selektion  307, 312, 321, 327, 335 Naturschutz  29, 32, 33, 37, 38, 48 ethische Fragen  34 Nestbau  185 Nestflüchter 202 Nesthocker  202 Nestlinge  6, 36, 74, 202, 203, 215 Adoption  242, 243, 244 Aktivitäten  247, 250, 251 Bettelverhalten  230, 232, 234, 235, 254, 259, 261 Futterbedarf  229 Hungertod  207 Konkurrenz  255 Körpergewicht  212, 213 Körpertemperatur  207 Mortalität  56, 206, 207 Nahrungsbedarf  241 Rangplatz innerhalb der Schlupfsequenz  204 Rivalität  258 Schlaf  337 Stress  253 Thermoregulation  337 Überleben  191 Verdauung  86 vokale Interaktionen  255, 257 Wachsamkeit  337 Wachstum  191, 212, 333 Wachstumsrate  69, 205 Wettstreit  251, 253, 258, 260, 261

Stichwortverzeichnis Nesträuber  51 Nestreinigung  64 Nestverlassen  218, 222 Gründe  219 Nestwechsler  244 Neuhollandeule Nahrung  149 Shannon-Index  144 Neuhollandeulen & Co.  14, 18, 19 Niederschläge  346 Nisthilfen künstliche  47, 48 Nistkästen  41, 44, 49, 157, 181, 280 Anbringung  184 Hinweise zum Anbringen  51 Mitbenutzung  187 Nistplätze  177, 184 Nistplatzkonkurrenz  185 Nistplatzverfügbarkeit  49, 170 Nistplatzwahl  177 Nistplatzwechsel  217, 222 Non-REM-Schlaf  249, 250 Non-REM-Schlaf-Episoden  249 Nordamerika  41 Ausbreitung  19 Hauptbeute  147 O Ohren  77, 79, 82 asymmetrische  80 Ökologie  35 ökologische Bedeutung  84 opportunistische Ernährung  22 Ortsbewegungen  220 oxidativer Stress  331 Ozeanien Ausbreitung  19 P Paarbindung lebenslange  169 Paarung  155, 159, 167 assortative  319, 320 disassortative  319 mit Ausreißerweibchen  222 Paarungsdauer  159 Paarungshäufigkeit 160 Paarungssysteme  161 Paarungszeit  157 Parasiten  61, 63, 331 Entfernung durch Fremdputzen  68 extrazelluläre  66

Stichwortverzeichnis Parasitenabwehr  61 Parasitenbefall  70 Parasitenresistenz  69 Parasitismus  244 Partnerbewachung (mate guarding)  160 Partnerwahl  157, 318 und Gefiedermerkmale 318 Partnerwechsel  171, 222 Pflegestationen 52 Phänotypen  297, 300, 304 phänotypische Variation  310 Phäomelanin  297 Phodilus  14, 127 phylogenetischer Stammbaum  12 Physiologie  3 physiologische Anpassungen  77 Pirschjagd  134, 135 Plasmodium relictum  63 Playback-Experiment  36 Polyandrie  165, 217 Polygynie  161, 163 Polymorphismus-Gen  304, 305 Population Monitoring  39 Populationsdynamik  6, 291 Populationsgröße  90 Populationsrückgang  39 Prädationsmuster  140 Prädationsrisiko  72, 74 Prädatoren  71, 111 Putzkralle  68 Q quantitative Genetik  304 R rasche Differenzierung  23 Ratten  142 Räuber-Beute-Interaktionen  73, 302, 307, 326 räumliches Sehen  81 REM-Schlaf  115, 249, 250 REM-Schlaf-Episoden  249 Reproduktion  108, 155, 198, 329 Einfluss des Klimas 197 energetische Kosten  191 gescheiterte  210 und Gefiederfleckengröße 334 Zeitpunkt  187, 188, 190 Reproduktionserfolg  166, 168, 170, 172, 184, 206, 293, 316 Einfluss des Gewichts 238 Einfluss des Wetters 207

367 geringer  171 Haupteinflussfaktoren 205 und Gefiederfärbung 327 Reproduktionspotenzial  3, 90, 93, 215 Reproduktionsrate  23 Reproduktionsstrategie  193 Reproduktionsverhalten und Gefiederfärbung 320 und Gefiederfleckung 318, 319 Resource Holding Potential (RHP)  260 Rettung von Einzelindividuen  51, 52 reverser Sexualdimorphismus (RSD)  106, 107, 108 Revier  157 Reziprozität  268 Ritualverhalten  162 Rodentizide  28, 33, 42, 43, 44 Rückstände  43 Rückgang der Population  39 durch Landschaftsveränderungen  41 Ruheplätze  116, 118 Entfernung vom Nest  120 Nutzungshäufigkeit 119 Rußeulen  14 Nahrung  149 Shannon-Index  144 Rütteljagd  135 S Sauerstoffspezies (reactive oxygen species, ROS)  331 Schädlingsbekämpfung  84 Schadstoffe  42 Scheidung  168, 169, 171, 283 Gründe  171 Nutzen und Kosten  172 Scheidungsrate  169 Scheidungszweitbrut  218 Scheidungszweitbrüter  220 Schlaf  115 Schlafarchitektur  249 Schlafenszeit  114, 115 Schlafmuster  111 Schlafplätze  118 Schlafzyklen  115 Schleiereule-Artkomplex  14 Beutetiere  142 Nahrung  142, 145 Shannon-Index  143 Schlupf  200, 233 Schlupfasynchronie  202, 203, 204 Schlupfrate  201

Stichwortverzeichnis

368 Schnabelhaken  68 Schnabelknappen  74 Schnabellänge  105 reverser Sexualdimorphismus (RSD)  108 Variation  102, 103 Schneedecke  90, 92 Schutzmaßnahmen  39, 47, 177 Schwanzlänge  105 Schwestergruppe  11 Sehschärfe  80, 81, 82 Sehvermögen  80, 82 Selektion frequenzabhängige  302 natürliche  307, 312, 321, 327, 335 sexuell antagonistische  321, 322, 324 sexuelle  308, 312, 321 Selektionsvorteil  329 Sexualdimorphismus  311, 323 der Gefiedermerkmale 312, 313, 314, 344 Einflussfaktoren 314 Sexualdimorphismushypothese  107 Sexualverhalten  155 sexuell antagonistische Selektion  321, 322, 324 sexuelle Selektion  308, 312, 321 Shannon-Index (Shannon’s diversity index)  142, 143, 144, 145 sibling negotiations Siehe Geschwisterverhandlungen (sibling negotiations) Siblizid (Geschwistermord)  264, 266 Sitzwarten  135, 137 soziale Interaktionen  266 soziale Körperpflege 269 soziales Kuscheln (social huddling)  272 Sozialverhalten  267 und Gefiederfärbung 328 Speiballen  33, 88 Siehe Gewölle Speziation begrenzte  23 Sterblichkeit  56 Siehe Mortalität Störungen  25, 35, 38, 39, 63, 126, 177, 181 Straßenverkehr  28, 285, 287, 288, 289 Streifgebiet (home range)  121, 122, 126, 127 Entfernung vom Nest  122 Größe  121, 122 Stress  63, 253, 303, 334 oxidativer  331 Stressbewältigung und Gefiederfleckengröße 330 Stressfaktoren  330 Stresshormon  253, 270, 303 Stressresistenz  330, 335 Stressverminderung  270 Strigea  64

Südamerika Ausbreitung  19 Hauptbeute  148 synchroner Schlupf  202 T tagaktiv  111, 113 Tageseinstände  116, 123 tägliche Nahrungsaufnahme  84 täglicher Nahrungsbedarf  84 Tagsehen  81 Tarnkleid  316 Temperatur  346 Territorium (Revier)  121, 122, 127, 277 Thermoregulation  337 Tod des Männchens  207 Todesursachen  52, 285, 287, 289 Treue  168 Tyto alba  14, 15 Tyto alba alba  14 Tyto alba detorta  15 Tyto alba erlangeri  14, 18 Tyto alba ernesti  14 Tyto alba gracilirostris  18 Tyto alba guttata  14 Tyto alba hypermetra  127 Tyto alba  126 Tyto-alba-Artkomplex  126 Tyto almae  19, 127 Tyto aurantia  19, 127 Tyto capensis  15, 19, 126 Tyto furcata  14, 19, 126 Tyto gigantea  14 Tyto glaucops  14, 19 Tyto inexspectata  19, 127 Tyto javanica  14 Tyto javanica delicatula  19 Tyto-javanica-Gruppe  18 Tyto javanica javanica  19 Tyto javanica  126 Tyto javanica stertens  18 Tyto longimembris  19, 126 Tyto multipunctata  19 Tytonidae Evolution  11 Tyto nigrobrunnea  14, 19 Tyto novaehollandiae castanops  19, 127 Tyto novaehollandiae  19 Tyto novaehollandiae novaehollandiae  127 Tyto rosenbergii  14, 18, 127 Tyto sororcula  19 Tyto soumagnei  15, 127 Tyto tenebricosa arfaki  126

Stichwortverzeichnis Tyto tenebricosa  19 Tyto tenebricosa multipunctata  126 Tyto tenebricosa tenebricosa  126 Tyto thomensis  15 U Übergewicht  212 Überlebensrate  90, 91, 92, 93, 286, 293, 329 und Gefiederfleckengröße 335 Überlebensvorteil  322, 323 Überlebenswahrscheinlichkeit  323, 324 Überraschungsangriff  134, 135 Umweltfaktoren 291, 293 Umweltkapazität (carrying capacity) 291 Umweltschäden 42 Umweltverschmutzung 42 Unterarten 14 urbane Sichtweise  32 V Variation der Flügellänge  104 der Gefiederfärbung 311, 325, 327, 341, 342, 343, 344 der Gefiederfleckengröße 338 der Gefiedermerkmale 6, 301, 315, 339, 340, 344, 346 der Gelegegröße  195, 196 der Körpergröße  99 der Schnabellänge  102, 103 genetische  105 klinale  340 phänotypische  310 Variation der Gefiedermerkmale 4 Vektoren  64 Verdauung  84, 85, 86, 87, 88, 92, 114 Vererbung  304 Verhalten aggressives  73 altruistisches  267, 328 der Eltern am Nest  233 egoistisches  328 geräuschvolles  74 kooperatives  221 Verhaltensanpassungen  83 Verhaltensforschung  35 Verhandeln  257 Siehe Geschwisterverhandlungen (sibling negotiations) Verhungern  52, 90, 91 Verkehrstod  285, 287, 288 Schutzmaßnahmen  289

369 Verlassen der Nestlinge  218, 222 Gründe  219 Verlassen des Nachwuchses  219 Verlassen des Nests  213 Versöhnung zwischen Israelis, Palästinensern und Jordaniern  34 Versuchsaufbau  35, 36, 37 Verwandtenerkennung (kin recognition)  244 Verwandtenselektion (kin selection)  233, 267, 268 visuelle Anpassungen  80 Vogeljäger  87 vokale Interaktionen  255, 257 W Wachstumsrate der Nestlinge  69 Wachzustand am Tag  114 Wachzyklen  115 Wartenjagd  135 weißes Gefieder 22 weltweite Verbreitung  3, 13, 14 Voraussetzungen  20 Wetter Einfluss auf Brutgröße 206 Wettstreit unter Nestlingen  251, 253, 258, 260, 261 Wiederauswilderung  52 Wiederherstellung des Jagdhabitats  48 Windräder  289 wissenschaftliche Literatur  9 wissenschaftliche Untersuchungen 37 Wühlmausjahre  207 Z Zecken  67, 68, 70, 71 Zug (migration)  20, 23, 283, 284 Zweitbrut  214, 216, 219 beschleunigende Verhaltensweisen  217, 221 Einflussfaktoren 216 Häufigkeit 216 Zweitgelege  195, 214, 215