Schillers Moralästhetik als verfehlte Kant-Kritik und die ‚Kalokagathia‘-Idee 3495994025, 9783495994023

Kritisch analysiert das Buch Schillers Moralästhetik als vermeintlich moderatere Alternative zur Pflichtethik Kants. In

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German Pages 130 [131] Year 2023

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I. Exposition des Problemfeldes
II. Kants Pflichtethik im Fokus der Kritik: Argumente gegen die Einwände von Schiller, Schopenhauer und Nietzsche
III. Die Problematik von Schillers Konzept der ›schönen Seele‹ als Moralrigorismus wider Willen
IV. Die Konkurrenz von Anmut und Würde in Schillers Moralästhetik: ein systematisches Problem und seine Hintergründe
V. Kants dezidierte Replik auf Schillers Kritik
VI. Die Renaissance der antiken ›Kalokagathia‹ in moralästhetischen Konzepten von Schiller, Hölderlin, Shaftesbury und in Hölderlins Roman Hyperion
VII. Ausklang: Hölderlins Musik-Metaphorik als Ausdruck antikisierender ›Sympatheia‹ und Universalharmonie
Literaturverzeichnis
I. Textausgaben
II. Forschungsliteratur
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Schillers Moralästhetik als verfehlte Kant-Kritik und die ‚Kalokagathia‘-Idee
 3495994025, 9783495994023

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Literatur und Philosophie

Barbara Neymeyr

Schillers Moralästhetik als verfehlte Kant-Kritik und die ›Kalokagathia‹-Idee

Literatur und Philosophie Herausgegeben von Jennifer Pavlik und René Torkler Band 6

Barbara Neymeyr

Schillers Moralästhetik als verfehlte Kant-Kritik und die ›Kalokagathia‹-Idee

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99402-3 (Print) ISBN 978-3-495-99403-0 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de

Inhaltsverzeichnis

I.

Exposition des Problemfeldes . . . . . . . . . . . .

7

II. Kants Pflichtethik im Fokus der Kritik: Argumente gegen die Einwände von Schiller, Schopenhauer und Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Die Problematik von Schillers Konzept der ›schönen Seele‹ als Moralrigorismus wider Willen . . . . . . .

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IV. Die Konkurrenz von Anmut und Würde in Schillers Moralästhetik: ein systematisches Problem und seine Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Kants dezidierte Replik auf Schillers Kritik . . . . . .

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VI. Die Renaissance der antiken ›Kalokagathia‹ in moralästhetischen Konzepten von Schiller, Hölderlin, Shaftesbury und in Hölderlins Roman Hyperion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Ausklang: Hölderlins Musik-Metaphorik als Ausdruck antikisierender ›Sympatheia‹ und Universalharmonie . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Exposition des Problemfeldes

Die vorliegende Abhandlung bietet eine gründliche Auseinander­ setzung mit Schillers Kant-Kritik und mit seinen eigenen AlternativKonzepten zur Kantischen Pflichtethik. Dabei wird der systematische Ansatz dieser Arbeit zugleich mit ideengeschichtlicher und kultur­ historischer Horizontbildung verbunden. Denn nur dadurch ist es möglich, die Moralästhetik, mit der Schiller Kant vergeblich zu über­ bieten beansprucht, nicht nur in ihrem Problemgehalt transparent zu machen, sondern darüber hinaus auch zu zeigen, inwiefern die Grundtendenzen und argumentativen Strategien in Schillers theore­ tischen Schriften durch die ›Kalokagathia‹-Tradition seit der Antike nachhaltig beeinflusst sind. Auf vielfältige Weise prägt sich der Idealismus Schillers in sei­ nen theoretischen Schriften aus: Sie umfassen sowohl moralphiloso­ phische und ästhetische Reflexionen als auch geschichtsphilosophi­ sche Entwürfe, kulturhistorische Darlegungen und gattungspoetische Konzepte, vor allem zum Drama. – Dieses Buch entfaltet kritische Analysen zu den Synthese-Konzepten, mit denen Schiller gegen die angeblich rigide Kantische Pflichtethik argumentiert. Indem ich die relevanten Argumentationen von Kant und Schiller vergleichend untersuche, will ich das in der Forschung weit verbreitete Vorurteil entkräften, Schillers Kant-Kritik sei berechtigt, weil er mit seinem Konzept der »Tugend« als »Neigung zu der Pflicht« (FA 8, 366)1 eine moderatere und plausiblere Alternative zum Moralrigorismus von Kants Pflichtethik präsentiere.

1 Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann u.a. Frankfurter Ausgabe [=FA]. Frankfurt a.M. 1988–2002. Bd. 8: Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer. Frankfurt a.M. 1992 [=FA 8]. – Schillers Werke zitiere ich im Folgenden nach dieser Edition. Den Seitenangaben werden dabei jeweils die Sigle FA und die Bandziffer vorangestellt. (Das Literaturverzeichnis nennt die Titel der zitierten Schriften Schillers konkret mit den zugehörigen Seitenzahlen. Außerdem werden dort alle relevanten Siglen erläutert.).

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I. Exposition des Problemfeldes

Die affirmativen Reaktionen auf Schillers Kant-Kritik sind erstaunlich zahlreich. Exemplarisch seien einige Bewertungen zitiert: Wilkinson und Willoughby befürworten nachdrücklich Schillers Ver­ such, »Kants Freiheit des Geistes, die nur durch Selbstverleugnung erreicht werden kann, mit Shaftesburys Freiheit der ganzen Psyche in Einklang zu bringen, eine Freiheit, die nur dann erreicht werden kann, wenn Pflicht mit Neigung glücklich zusammenfällt«.2

Brittnacher betont den »rigorosen Charakter des Kantischen Moralis­ mus« und erklärt: »Gegen Kants rigide Pflichtethik kann Schiller zudem am Beispiel der ›schönen Seele‹ das Modell einer unangestrengten, schönen Sitt­ lichkeit entwickeln, die moralisch zu sein vermag, ohne deshalb auch selbstlos oder asketisch sein zu müssen«.3

Tugendhat goutiert ebenfalls Schillers Versuch, durch eine Synthese von Pflicht und Neigung im Konzept der ›Anmut‹ den Kantischen »Rigorismus« zu überwinden: Seines Erachtens bietet Schiller, der sich »in allen wesentlichen Annahmen« zu Recht »als Kantianer« verstehe, durch seine »Differenzierung in anmutig-moralisches und würdig-moralisches Verhalten« sogar einen wichtigen Fortschritt über Kant und Aristoteles hinaus4: Denn erst Schiller »klärt, wie sich der Mensch, wenn er moralisch gut ist, gegenüber der Gesamtheit seiner Affekte verhalten soll«.5 – Tugendhat sieht darin das Konzept, das »wir durch Schiller gewonnen haben«, und hält es für eine Lösung, die »sogar dem Kantianer« als »Option offen gestanden« habe, jedoch von »Kant nicht wahrgenommen« worden sei.6 Und für Lönker ist das Konzept der »Anmut« als »schöner Aus­ druck von Moralität unter den Bedingungen der Natur« in Schillers Schrift Über Anmut und Würde eine »Korrektur der Kantischen Philo­ sophie« von »grundsätzlicher Art«.7 Um den »Kantischen Dualismus« Elizabeth M. Wilkinson / L.A. Willoughby: Schillers Ästhetische Erziehung des Menschen. Eine Einführung. München 1977. S. 32. 3 Hans Richard Brittnacher: Über Anmut und Würde. In: Schiller-Handbuch. Hrsg. von Helmut Koopmann. Stuttgart 1998. S. 587–609, hier S. 601, 590. 4 Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a.M. 1993. S. 112, 118, 120. 5 Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. S. 120. 6 Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. S. 120, 118. 7 Fred Lönker: Ästhetik und Moral: Über Anmut und Würde. In: Schiller. WerkInterpretationen. Hrsg. von Günter Saße. Heidelberg 2005 (Beiträge zur neueren 2

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I. Exposition des Problemfeldes

zu überwinden, eigne sich daher Schillers »gelungene Synthese von Freiheit und Natur« als »Versöhnung von Pflicht und Neigung« im Konzept der »Anmut«8, zumal Schiller durch seine »entscheidende These« bereits »auf die Philosophie Hölderlins« sowie auf die Sys­ tementwürfe »Schellings und Hegels« vorausdeute9 und durch seine »Theorie der Anmut« einem »neuen Typ von Philosophie den Weg« bahne, der »die Moderne« antizipiere.10 Lönker beschränkt sich also nicht auf die Behauptung, Schiller überbiete mit seiner Moralästhetik die Kantische Pflichtethik, sondern geht darüber noch hinaus, indem er gerade darin sogar einen avantgardistischen Status von Schillers Konzept begründet sieht. Um die Befürwortung der Kant-Kritik Schillers in Forschungs­ thesen dieser Couleur zu widerlegen, gilt es den Nachweis zu führen, dass die affirmative Rezeption von Schillers Kritik an Kants Pflicht­ ethik durch gravierende Fehleinschätzungen und Vorurteile bedingt ist. Im Hauptteil dieser Arbeit (Kapitel II. bis V.) soll daher gezeigt werden, worin eigentlich die Problematik von Schillers Kant-Kritik liegt, der später übrigens auch Schopenhauer und Nietzsche kritiklos gefolgt sind, und welche systematischen Schwierigkeiten zudem aus Schillers moralästhetischem Gegenentwurf zu Kant resultieren, mit dem er sogar selbst in einen Moralrigorismus wider Willen gerät (Kapitel III.). Außerdem verstrickt sich Schiller beim Versuch, Anmut und Würde auf einer Metaebene zu synthetisieren, noch in ein anderes systematisches Problem, das zunächst analysiert und dann unter Einbeziehung weiterer Schriften Schillers auf seine Ursache hin trans­ parent gemacht wird (Kapitel IV.). – Dann wird die Replik Kants auf Literaturgeschichte, Bd. 216). S. 199–219, hier S. 214. Immerhin konzediert Lönker, Schillers Anmut und Würde sei »der zwar nicht völlig gelungene, aber dennoch ein­ drucksvolle Versuch einer Ästhetik, die dem durch Kant vorgegebenen philosophi­ schen Niveau zu entsprechen versucht« (ebd., S. 204). 8 Lönker: Ästhetik und Moral: Über Anmut und Würde. S. 216. 9 Lönker: Ästhetik und Moral: Über Anmut und Würde. S. 205. Nach Lönkers Ansicht deutet Hölderlin Schillers ›Anmut‹ als »Synthese von Freiheit und Natur« zu Recht um, weil für ihn »Freiheit und Natur […] bereits Wesensmerkmale des Schönen selbst« sind (ebd., S. 216). 10 Lönker: Ästhetik und Moral: Über Anmut und Würde. S. 219. Laut Lönker nahm Heinrich von Kleist »Schillers Schrift Über Anmut und Würde« zum »Anlaß einer Abrechnung mit Schillers Vorstellung vom ›ganzen Menschen‹« und distanzierte sich von dessen These, dass »in der Anmut die Möglichkeit einer harmonischen Men­ schennatur zum Ausdruck komme« (ebd., S. 218).

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I. Exposition des Problemfeldes

Schillers Kritik an seiner Pflichtethik, die prima vista moderat formu­ liert ist und daher leicht als Zugeständnis missverstanden werden kann, auf ihren Sachgehalt hin befragt. Unter Rekurs auf relevante Belegstellen in Schriften Kants lässt sich zeigen, dass seine Replik de facto eine energische Abwehr von Schillers Alternativentwurf in Gestalt der ›Anmut‹ impliziert (Kapitel V.). Anschließend erhellt das Kapitel VI. gedankliche Hintergründe für die Konzeption Schillers, indem es eine wichtige philosophische Tradition seit der Antike exponiert: Von zentraler Bedeutung für Schillers Ästhetik ist nämlich das antike Ideal der ›Kalokagathia‹, das in noch höherem Maße auch Hölderlins Denkmuster bestimmt und den idealistischen Subtext seines Romans Hyperion oder Der Eremit in Griechenland bildet – verbunden mit der Imago einer ›Sympatheia‹ und Universalharmonie, die auf idealistische Utopien der mittleren Stoa zurückgeht. Indem die Kapitel VI. und VII. diesen kulturhistorisch wirkungs­ mächtigen Ideen-Kosmos einbeziehen, machen sie zugleich dessen Bedeutung für Schiller und Hölderlin evident: Als wirkungsgeschicht­ lich besonders relevant erwiesen sich die von der ›Kalokagathia‹-Idee beeinflusste Imago der ›schönen Seele‹ und ein Harmonie-Ideal, das in der Vorstellung universeller ›Sympatheia‹ kulminiert. Im Hinblick auf Schillers Kant-Kritik ist allerdings zu betonen, dass diese aus der Antike stammende Diskurstradition mit Grundprinzipien der Kantischen Moralphilosophie inkommensurabel ist. Wenn die fundamentalen Probleme, in die Schiller mit seiner Kant-Kritik und seinem Alternativentwurf zur Kantischen Pflicht­ ethik gerät, auf ihre ideengeschichtliche Genese hin transparent gemacht werden, dann lässt sich nachvollziehen, warum Schiller nicht nur durch seine Einwände gegen Kants Pflichtethik in systematische Schwierigkeiten gerät, sondern auch durch seine vom Harmonie-Ideal bestimmten Synthese-Konzepte. Denn in ihnen versucht er auch inkompatible Ansätze zu verbinden. In Kapitel II. zeige ich, inwiefern Schiller bei seiner Kant-Kritik wesentliche Aspekte von dessen Pflichtethik ignorierte und dadurch zu seinem sachlich nicht gerechtfertigten Verdikt gelangte. Und mehr noch: Durch vergleichende Analysen lässt sich darüber hinaus sogar begründen, warum der Vorwurf des Moralrigorismus, den übrigens im Anschluss an Schillers Kant-Kritik auch Schopenhauer und Nietz­ sche gegen die Pflichtethik erhoben haben, viel eher Schillers Alterna­ tivkonzept trifft als die Kantische Moralphilosophie selbst.

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I. Exposition des Problemfeldes

Als die zentralen Referenztexte für die vorliegende Abhandlung fungieren Schillers Schriften Über Anmut und Würde (1793) und Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) sowie Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und seine Kritik der praktischen Vernunft (1788). Ergänzend berücksichtige ich auch Kants Kritik der Urtheilskraft (1790), seine Schriften Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) und Die Metaphysik der Sitten (1797) sowie Schillers Schriften Über das Pathe­ tische (1793), Über das Erhabene (1801) und seine Briefe Kallias, oder über die Schönheit (1793). Außerdem beziehe ich Schopenhauers Werk Die Welt als Wille und Vorstellung I (1819) in die Argumentation mit ein, vor allem dessen Anhang: Kritik der Kantischen Philosophie (1819), sowie seine Preisschrift über die Grundlage der Moral (1841). Darüber hinaus finden punktuell Nietzsches Schriften Morgenröthe (1881) sowie Menschliches, Allzumenschliches (1878/1886) und Schopenhauer als Erzieher (1874) Berücksichtigung. – Relevant sind Schopenhauer und Nietzsche für den Argumentationsgang dieser Abhandlung insofern, als auch sie massive Vorbehalte gegen die Kantische Pflichtethik artikulieren. Und im Fokus ihrer Kant-Kritik prolongiert sich offen­ kundig die Kant-Kritik Schillers, wie auffallend analoge Aussagen zu erkennen geben. Nicht zufällig rekurriert Schopenhauer sogar zweimal mit expliziter Zustimmung auf die Kant-Kritik, die Schiller in einem bekannten Epigramm formuliert (FA 1, 484), und zwar sowohl in seinem Werk Die Welt als Wille und Vorstellung I (1819) als auch in seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral (1841).11 – Das wird im Kapitel II. genauer gezeigt. Das Kapitel VI. erweitert den systematischen Ansatz der vorlie­ genden Abhandlung, indem es einen philosophiehistorischen Hori­ zont eröffnet: Zunächst skizziert es mit Bezug auf Platon, Shaftes­ bury und Hutcheson selektiv Stationen der Rezeptionsgeschichte der antiken ›Kalokagathia‹-Idee, um dann die am ›Kalokagathia‹-Ideal orientierten Harmonie-Konzepte in Schillers ästhetischen Schriften und Hölderlins Roman Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (1797–1799) zu vergleichen. – Anschließend wird gezeigt, inwie­ Vgl. Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Textkritisch bearbeitet und hrsg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Darmstadt 1976–1982. Fünf Bände. Bd. I [=Lö I]: Die Welt als Wille und Vorstellung I. S. 5–558, hier S. 107. – Bd. III [=Lö III]: Kleinere Schriften. S. 629–815, hier S. 660. (Den Belegen zu dieser Edition werden jeweils die Sigle Lö und die Bandziffer vorangestellt.). 11

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I. Exposition des Problemfeldes

fern Hölderlins empfindsamer Briefroman, dessen pantheistischer Entgrenzungsgestus übrigens deutliche Affinitäten zu Goethes Brief­ roman Die Leiden des jungen Werthers (1774/1787) aufweist, im gedanklichen Subtext an den pantheistischen Monismus Heraklits anschließt und dessen Idee der Alleinheit zugleich mit stoischer ›Sympatheia‹ und der Tradition der ›Kalokagathia‹-Konzepte seit der Antike verbindet. Unter Rekurs auch auf die Platonische Eros-Lehre und auf die Diotima-Figur in Platons Symposion werden diese philo­ sophischen Ideen durch die Liebe des Protagonisten Hyperion zur ›schönen Seele‹ Diotima in Hölderlins Roman poetisch entfaltet. Als ›Ausklang‹ dieser Abhandlung führt das Kapitel VII. vor, inwiefern die Musik-Metaphorik in Hölderlins Roman Hyperion als konsequenter Ausdruck einer antikischen ›Sympatheia‹ und Univer­ salharmonie gelten kann. Dann schlägt das Schlusskapitel nochmals den Bogen zurück zu Schiller, um die Bedeutung dieser philosophi­ schen Traditionen auch mit Bezug auf ein berühmtes Schiller-Gedicht und dessen Vertonung durch Beethoven evident zu machen. Insgesamt eröffnet die vorliegende Abhandlung, die systemati­ sche Analysen mit philosophiehistorischer Horizontbildung vereint, ein weites Spannungsfeld von Diskursen in der Ideengeschichte seit der Antike, auf die Schiller und Hölderlin auf ihre je spezifische Weise zurückgreifen. Auf die Moralästhetik Schillers bezieht sich Hölderlin auch mit eigenen theoretischen Überlegungen zur Ästhetik. In der Orientierung am antiken Ideal der ›Kalokagathia‹ stimmen Schiller und Hölderlin überein. In Schillers ästhetischen Schriften bildet der Rückgriff auf antikisierende Diskurse der Epoche allerdings eine wesentliche Ursache für die Problematik seines Alternativentwurfs zur Kantischen Ethik. Sie resultiert aus inkommensurablen12 Grund­ strukturen der Konzepte, die Schiller selbst offenbar nicht erkannte. In der Ästhetik Schopenhauers ergeben sich übrigens spezifische Probleme durch seinen Versuch, philosophische Konzepte von Platon und Kant zu synthetisieren, die er wiederholt als seine zentralen Vorbilder bezeichnet: So erklärt Schopenhauer, dass er »von dem ausgehe, was der große Kant geleistet hat«, setzt bei seinen Lesern daher »eine gründliche Bekanntschaft« mit »Kants Philosophie« voraus und empfiehlt ihnen zugleich die »Schule des göttlichen Platon« (Lö I, S. 11). Und bereits in Schopenhauers Dissertation Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (1813/1847) beginnt das erste Kapitel emphatisch: »Platon, der göttliche, und der erstaunliche Kant vereinigen ihre nachdrucksvollen Stimmen […]« (Lö III, S. 11). – Die systematischen Probleme von Schopenhauers Ästhetik im Hinblick auf seine Kant- und Platon-Rezeption exponiert Barbara Neymeyr: Ästhetische Autonomie als Abnormität. Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Wil­ 12

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I. Exposition des Problemfeldes

Denn der Ansatz der Kantischen Transzendentalphilosophie unter­ scheidet sich erheblich vom Platonischen Idealismus sowie von der Imago einer ›Sympatheia‹ und Universalharmonie. Dabei ist auch die prinzipielle Differenz zwischen monistischen und dualistischen Theorien relevant. In der Antike-Rezeption wurde das bedeutsame Ideal der ›Kalo­ kagathia‹ mit der naturphilosophischen Imago einer ›Sympatheia‹ und Universalharmonie als monistischem Denkmodell verbunden, das schon die Philosophen der mittleren Stoa vertraten. Schiller und Hölderlin adaptierten derartige Einheitsideale. Wenn Schiller unter dem Einfluss der ›Kalokagathia‹-Idee allerdings meint, er habe mit seiner eigenen moralästhetischen Synthese im Ideal der ›Anmut‹ bei »moralisch schön[em]« Handeln (FA 8, 378) eine Überbietung der Kantischen Pflichtethik erzielt, dann hält er seinen Alternativent­ wurf zur Kantischen Moralphilosophie zu Unrecht für die konstruk­ tive Lösung einer Problematik, die er Kant jedoch nur irrtümlich zuschreibt. Das werde ich vor allem in den Kapiteln II. und III. zeigen. Da die Schiller-Forschung einen so breiten Konsens in der Auf­ fassung zeigt, Schiller sei mit seinem Ideal der »Tugend« als »Neigung zu der Pflicht« (FA 8, 366) tatsächlich ein fundamentaler Fortschritt über Kant hinaus gelungen, bedarf es einer vergleichenden Sondie­ rung von Schillers Moralästhetik und Kants Pflichtethik, um solchen Einschätzungen entgegentreten zu können. Meine Intention zielt also darauf, Schillers Irrtum zu revidieren, und zwar zugunsten Kants. Übrigens finden sich nicht nur in der Literaturwissenschaft und Philosophie der Gegenwart prononciert positive Äußerungen über den synthetischen Gestus von Schillers anthropologisch grundier­ ter Moralästhetik. Denn bereits Schillers Zeitgenosse Wilhelm von Humboldt formuliert mit Nachdruck eine Eloge zur spezifischen Leistung des Ästhetikers Schiller. Zunächst äußert Wilhelm von Humboldt sein Bedauern über den »zu strengen und abstracten Weg« argumentativer Begründung in Schillers Schriften Über Anmut und Würde und Über die ästhetische Erziehung des Menschen, um dann mit Emphase folgendermaßen fortzufahren: »Aber über den Begriff der Schönheit, über das Aesthetische im Schaffen und Handeln, also über die Grundlagen aller Kunst, so wie lensmetaphysik. Berlin/New York 1996 (Quellen und Studien zur Philosophie, Bd. 42). Vgl. hier § 13 (S. 215–263).

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I. Exposition des Problemfeldes

über die Kunst selbst enthalten diese Arbeiten alles Wesentliche auf eine Weise, über die es niemals möglich seyn wird hinauszugehen. In diesem ganzen Gebiet dürfte schwerlich eine Frage vorkommen, deren richtige Beantwortung sich nicht würde bis zu den in diesen Abhandlungen aufgestellten Principien hinaufführen lassen. Dies liegt nicht bloss in der scharfen Absonderung und Begränzung der Begriffe, sondern fliesst bei weitem mehr aus dem viel seltneren Verdienst, alle in ihrem ganzen Umfange, schon mit der Ahndung aller aus ihnen hervorgehenden Folgerungen hingestellt zu haben. Ueberhaupt werden die Ideen in diesen Aufsätzen […] gewissermassen in Facetten geschnitten, von denen jede ein neues Licht empfängt und zurückwirft. Dies gilt vorzüglich von der letzten Hälfte von Anmuth und Würde«.13

Den Enthusiasmus Wilhelm von Humboldts, der diese beiden Schrif­ ten Schillers sogar vollmundig als endgültigen, nämlich unüberbiet­ baren Höhepunkt im Terrain der Ästhetik überhaupt apostrophiert und dabei annimmt, dass Schillers Begriffen bereits die Antizipation »aller aus ihnen hervorgehenden Folgerungen« inhärent sei, teilt Friedrich Nietzsche – fünfzig Jahre später – keineswegs. Humboldt würdigt emphatisch die singuläre Bedeutung von Schillers ästhetischen Schriften, indem er erklärt: »Niemals vorher sind diese Materien so rein, so vollständig und lichtvoll abgehandelt worden.«14 – Nietzsche hingegen wählt den ›Fall‹ Schillers sogar als Negativ-Paradigma aus, um mit süffisantem Esprit die seines Erach­ tens problematische Anmaßung des Künstlers zu attackieren, welcher der »Versuchung« erliegt, »auch einmal über die gerade ihm verbotene Wiese zu gehen und in der Wissenschaft ein Wort mitzusprechen«.15 In seinem Werk Menschliches, Allzumenschliches II (1886) lässt Nietzsche den Text 123, der hier zum Teil Der Wanderer und sein Schatten (1880) gehört, folgendermaßen beginnen:

Wilhelm von Humboldt: Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung [1830]. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Bd. 2: Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. Die Vasken. 4. Aufl. Stuttgart 1986. S. 357–394, hier S. 367–368. – Einen emphatischen Titel trägt auch das Buch von Norbert Oellers (Hrsg.): Schiller – Zeitgenosse aller Epochen. Frankfurt a.M. 1970. 14 Humboldt: Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung. S. 368. 15 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Bd. II, 2: Der Wanderer und sein Schatten. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Stu­ dienausgabe in 15 Bänden [=KSA]. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/New York 1980. Bd. 2: S. 535–704, hier S. 605. (Belegen aus dieser Edition wird im Folgenden die Sigle KSA vorangestellt.). 13

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I. Exposition des Problemfeldes

»Affectation der Wissenschaftlichkeit bei Künstlern. – Schiller glaubte, gleich anderen deutschen Künstlern, wenn man Geist habe, dürfe man über allerlei schwierige Gegenstände auch wohl mit der Feder improvisiren. Und nun stehen seine Prosa-Aufsätze da, – in jeder Beziehung ein Muster, wie man wissenschaftliche Fragen der Aesthetik und Moral nicht angreifen dürfe, – und eine Gefahr für junge Leser, welche, in ihrer Bewunderung des Dichters Schiller, nicht den Muth haben, vom Denker und Schriftsteller Schiller gering zu denken.«16

Aber damit nicht genug. Nietzsche spinnt den Faden subversiver Polemik kunstvoll weiter, indem er betont, dass ein solcher Wilderer auf fremdem Terrain Reputationsschäden riskiert: »diese Versuchung bringt den Künstler so weit, aller Welt zu zeigen, was sie gar nicht zu sehen braucht, nämlich, dass es in seinem Denk­ zimmerchen eng und unordentlich aussieht – warum auch nicht? er wohnt ja nicht darin! –, dass die Vorrathsspeicher seines Wissens theils leer, theils mit Krimskrams gefüllt sind – warum auch nicht? es steht diess sogar im Grunde dem Künstler-Kinde nicht übel an […]«.17

Die Hauptpointe nach diesen Attacken mit jovialer Attitüde aber liegt in der Fortsetzung: Denn Nietzsche attestiert dem ins falsche Ter­ rain geratenen »Künstler-Kinde«, dessen »Gelenke zu ungeübt und schwerfällig« sogar »für die leichtesten Handgriffe der wissenschaftli­ chen Methode« sind, nun nämlich »keine geringe Kunst«, alle »Fehler, Unarten und schlechten Gelehrtenhaftigkeiten« der »wissenschaftli­ chen Zunft« beflissen »nachzuahmen«, wobei dieses ›Künstler-Kind‹ dann aber unversehens, »ohne es zu wollen, doch thut, was seines Amtes ist: die wissenschaftlichen und unkünstlerischen Naturen zu parodiren«.18 Und gerade das hält Nietzsche selbst für »das Lustige an solchen Künstler-Schriften«, für die er die »Prosa-Aufsätze« von »Schiller« als repräsentativen Problemfall glaubt anführen zu kön­ nen.19 Höchst problematisch erscheinen natürlich beide Statements, wenn auch in ganz unterschiedlicher Hinsicht: Unhaltbar ist die apodiktische Prognose Humboldts, wenn er die Zukunft der Ästhetik pauschal meint antizipieren zu können, indem er Schillers Ästhetik zu deren ultimativem Höhepunkt erklärt. Und Probleme völlig anderer 16 17 18 19

Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. KSA 2, S. 605. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. KSA 2, S. 605. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. KSA 2, S. 605–606. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. KSA 2, S. 606.

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I. Exposition des Problemfeldes

Art involviert später die auf Schiller (als angebliches Paradebeispiel) bezogene jovial-herablassende Perspektive Nietzsches auf die chao­ tischen Geisteskammern des ›Künstler-Kindes‹, das mit falschen Mitteln unwissentlich doch die ›richtigen‹ parodistischen Zwecke erreicht: sozusagen per Malheur. – Übrigens scheint Nietzsche durch den eigenen Gedankengang im Medium der Parodie hier wohl auch selbst eine Art von Künstler-Ästhetik zu zelebrieren. Zwar entwerfen Humboldt und Nietzsche diametral entgegenge­ setzte Perspektiven auf Schiller, aber in der apodiktischen Grundten­ denz stimmen die pointierten Aussagen beider überein. Denn auch Nietzsche schließt im Text 123 von Menschliches, Allzumenschliches II (vielleicht wider besseres Wissen) Denkalternativen kategorisch aus: etwa die Möglichkeit poetisch-essayistischer Doppelbegabungen – wie Schiller (oder später Thomas Mann oder Gottfried Benn oder Robert Musil …). Solche Doppelbegabungen aber generell für ausgeschlossen zu erklären, ist Dogmatismus. Entsprechendes gilt für die Funktionszu­ schreibung Nietzsches, wenn er dem Künstler hinsichtlich der Wis­ senschaft definitiv und alternativlos die folgende Position zuweist: »Eine andere Stellung zur Wissenschaft, als die parodische, sollte er nämlich nicht haben«.20 Und ebenso dogmatisch erscheint Nietzsches Verdikt über den Künstler, der es wagt, »auch einmal über die gerade ihm verbotene Wiese zu gehen und in der Wissenschaft ein Wort mit­ zusprechen«.21 Wenn Nietzsche ausgerechnet mit Schiller (als vermeintlichem Negativ-Paradigma) die Allotria der vom rechten Wege abgekom­ menen ›Künstler-Kinder‹ glaubt exemplifizieren zu können, deren Geisteskämmerchen Chaos, Leere oder ›Krimskrams‹ enthalten, dann bleibt bei dieser süffisanten Kuriositäten-Schau außer Acht, dass gerade Schiller vom Pfeil dieser Polemik gar nicht getroffen werden kann: Denn zweifellos ist Schiller dem Typus des ›poeta doctus‹ zuzurechnen, da er sich hochgebildet im intellektuellen Diskurs seiner Zeit zu bewegen wusste, über ein weites geistiges Panorama verfügte, mit der Kultur- und Ideengeschichte von der Antike bis zur eigenen

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Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. KSA 2, S. 606. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. KSA 2, S. 605.

I. Exposition des Problemfeldes

Gegenwart vertraut war und intensiven Gedankenaustausch mit maß­ geblichen Repräsentanten der eigenen Epoche pflegte.22 Das Zerrbild, das Nietzsche mit Bezug auf Schiller vom wissen­ schaftlich dilettierenden und scheiternden Künstler zeichnet, ist vom intellektuellen Profil Schillers jedenfalls weit entfernt. Und deshalb überrascht es nicht, dass der theoretische Anspruch Schillers – im Gegensatz zu Nietzsches Pauschalverdikt – in der wissenschaftlichen Fachliteratur mit guten Gründen sehr ernstgenommen wird.23 Übrigens hat bereits Wilhelm von Humboldt, der als Zeitgenosse Schillers mit dessen intellektuellem Zuschnitt vertraut war und in der Zeitphase von 1794 bis 1797 auch näheren Umgang mit ihm pflegte24, in seinem Essay als Hauptcharakteristikum Schillers hervorgehoben, dass »der Gedanke das Element seines Lebens war«, so dass er »immer dem Gebiete des Denkens neuen Boden zu gewinnen suchte« und beim »Trieb nach Beschäftigung mit abstracten Ideen« die Absicht verfolgte, »Poesie und Philosophie […] zu verbinden«.25 Humboldt sieht bei Schiller »die Eigenthümlichkeit seines intellectuellen Stre­ bens« diesbezüglich darin, »die Identität ihres Ursprungs zu fassen 22 Exemplarisch hingewiesen sei auf Schillers Prägung durch die Hohe Karlsschule, auf spätere Einflüsse durch Moritz, Wieland, Bürger, Lessing, Klopstock, Platner, Burke sowie auf den intellektuellen Briefwechsel mit Körner, von dem sich Schiller produktive Reibungsenergien erhoffte, außerdem auf Korrespondenzen mit Hum­ boldt und anderen Autoren – und nicht zuletzt auf die intensive freundschaftliche Kooperation mit Goethe. – Jedenfalls steht Schillers Auseinandersetzung mit Kant auch im Kontext seiner Rezeption früherer Theorien der Ästhetik und Anthropologie, für die sich Schiller so lebhaft interessierte, dass er für sein Kallias-Projekt die Ästhe­ tiker des 18. Jahrhunderts (auch Schriften von Winckelmann und Lessing) umfassend studieren wollte (vgl. Schillers Werke. Nationalausgabe [=NA]. Begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese. Hrsg. im Auf­ trag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Lite­ ratur in Weimar und dem Schiller-Nationalmuseum in Marbach von Norbert Oellers und Siegfried Seidel. Bd. 26: Briefwechsel. Schillers Briefe 1.3.1790 – 17.5.1794. Hrsg. von Edith Nahler und Horst Nahler. Weimar 1992. S. 172). – Zu den vielfältigen Ein­ flüssen auf Schillers Ästhetik und Anthropologie noch in seiner vorkantischen Phase vgl. Jörg Robert: Vor der Klassik. Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption. Berlin/Boston 2011. Vgl. hier z.B. S. 354–355, 422–423. 23 So erklärt sich auch der Titel des folgenden Sammelbandes: Georg Bollenbeck / Lothar Ehrlich (Hrsg.): Friedrich Schiller – Der unterschätzte Theoretiker. Köln/ Weimar/Wien 2007. 24 Vgl. Wilhelm von Humboldt: Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwick­ lung. S. 357. 25 Humboldt: Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung. S. 361, 362, 374, 371. Vgl. ebd. auch S. 388–389.

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und darzustellen.«26 – Der Kontrast zum Verdikt Nietzsches über verfehlte wissenschaftliche Ambitionen des per se unintellektuellen ›Künstler-Kindes‹ (ausgerechnet mit Schiller als Beispiel) könnte kaum größer sein. Immerhin ließe sich die oben entfaltete Kritik an Nietzsches (exemplarisch auf Schiller bezogener) Künstler-Parodie zumindest partiell etwas relativieren, wenn man berücksichtigt, dass zum Den­ ken Nietzsches wesentlich auch die Lust an geschliffenen Pointen und das Kaleidoskop vielfältiger Perspektiven gehört, das essayistische Schreibweisen auszeichnet. Dazu zählt wesentlich die Offenheit von Reflexionsprozessen, die als Gedankenexperimente27 vielschichtige Erfahrungen spiegeln und dabei dynamische Kraftfelder jenseits systematischer Strenge bilden. Im Essay können auch dialektische Denkbewegungen, Brüche und Perspektivenwechsel28 eine Art Eigen­ recht gewinnen und dabei oft sogar mit einem spezifisch ästhetischen Reiz verbunden sein. Durchaus auch in diesem Sinne charakterisiert Nietzsche das »Denken« in der Götzen-Dämmerung als »eine Art Tanzen«: »mit den Begriffen, mit den Worten« und »auch mit der Feder«; zugleich sieht er sich selbst im Denk- und Schreibgestus als Antipoden zum »grossen Kant«.29 Von moderneren Formen essayistischer Reflexion, die sich seit der Ästhetik und Transzendentalpoesie der Frühromantik als experi­ mentelles Denken zwischen Kunst und Wissenschaft etablierten und im Bewusstsein hypothetischer Vorläufigkeit auch eine permanente Selbstrelativierung vollziehen30, unterscheidet sich Schillers Ästhetik Humboldt: Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung. S. 372. In seiner Schrift Die fröhliche Wissenschaft erklärt Nietzsche, »dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe« (KSA 3, 552). Und später bekennt er in der Götzen-Dämmerung: »Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit« (KSA 6, 63). 28 In Jenseits von Gut und Böse tritt Nietzsches Perspektivismus hervor, wenn er dezidiert behauptet: »Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ›Erkennen‹; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ›Begriff‹ dieser Sache, unsre ›Objektivität‹ sein« (KSA 5, 365). 29 Nietzsche: Götzen-Dämmerung. KSA 6, S. 109, 110. Den »grossen Kant« diffa­ miert Nietzsche hier allerdings mit einem maliziösen Verdikt als den »verwachsensten Begriffs-Krüppel, den es je gegeben hat« (ebd., S. 110). 30 Gleichermaßen prägnant und elegant reflektiert Adorno diese Charakteristika des Essays: Theodor W. Adorno: Der Essay als Form. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 26

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aber fundamental: und zwar durch ihren argumentativen Gestus. – Daher hat die aktuelle Schiller-Forschung (mit exemplarischem Bezug auf Über Anmut und Würde) den theoretischen Schriften Schillers bezeichnenderweise sogar den Duktus »einer streng logi­ schen Analyse und Beweisführung« attestiert.31 Schiller begegnet Kant nämlich im Terrain eines philosophischen Systemanspruchs32, ja sogar mit der Absicht, ihn bei aller Wertschätzung doch zumindest partiell zu überbieten, indem er sich mit Schriften Kants kritisch auseinandersetzt, seine Einwände formuliert und mit der eigenen Moralästhetik dann sogar ein Alternativkonzept zur Kantischen Pflichtethik entwirft. Gerade im Hinblick auf Schillers eigenes Streben nach dem System, das ihn als Repräsentanten der Klassik zugleich grundlegend vom experimentellen Gestus neuartiger Denkformen seit der Frühro­ mantik unterscheidet, erscheint es naheliegend, die Argumentation seiner Kant-Kritik und seines Gegenentwurfs zur Pflichtethik mit den Mitteln systematischer Analyse zu untersuchen.

11: Noten zur Literatur. Frankfurt a.M. 1974. S. 9–33. (Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Utopie und Experiment. Zur Konzeption des Essays bei Musil und Adorno. In: Eupho­ rion 94 (2000), S. 79–111.). 31 Alice Stašková: Friedrich Schillers philosophischer Stil. Logik – Rhetorik – Ästhe­ tik. Paderborn 2021. S. 272. Stašková ist von der »strengen ›demonstrativischen‹ Beweisführung« und von der »analytisch[en]« Methode Schillers überzeugt (ebd., S. 253) und erläutert ihre These folgendermaßen: Im Sinne »der ihm vertrauten Logik« gehe Schiller so vor, dass er »die zu beweisende These […] ›absteigend‹ schrittweise« beweist und damit der traditionellen »Beweisführung […] der Syllogistik« folgt (ebd., S. 253). Stašková meint sogar, Schillers Schrift Über Anmut und Würde zeige durch »die bemerkenswerte Klarheit ihrer Struktur und Argumentation« besondere Quali­ tät, und widerspricht explizit den Forschungsthesen, die an der Schrift »Inkonsequen­ zen ihrer Durchführung« bemängeln (ebd., S. 243). 32 Jörg Robert attestiert Schiller in diesem Sinne sogar nachdrücklich eine »Sehnsucht nach dem System«, die er bedingt sieht durch das »Vakuum, das mit dem Zusam­ menbruch der älteren Systempoetik entstanden war« (Jörg Robert: Vor der Klassik. Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption. Berlin/Boston 2011. S. 429.).

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II. Kants Pflichtethik im Fokus der Kritik: Argumente gegen die Einwände von Schiller, Schopenhauer und Nietzsche

In seiner Götzen-Dämmerung (1888) etikettiert Nietzsche den Idea­ listen Schiller im Kapitel »Streifzüge eines Unzeitgemässen« unter dem Titel »Meine Unmöglichen« ironisch als den »Moral-Trompeter von Säckingen«.33 – Dieses polemische Diktum wird den komplex­ eren Intentionen Schillers jedoch keinesfalls gerecht, der in seinen Schriften ja bekanntlich nicht nur moralphilosophische Reflexionen anstellt, sondern auch ästhetische, dramentheoretische und kultur­ historische Konzepte entfaltet. Zudem leitet Schiller aus seiner KantRezeption Konsequenzen ab, die über bloße Kritik erheblich hinaus­ reichen: Den vermeintlichen Moralrigorismus Kants versucht Schiller nämlich durch ästhetisch-ethische Synthesen zu überbieten, in denen Pflicht und Neigung oder sogar Würde und Anmut harmonisch zusammenwirken sollen. In seiner Schrift Über Anmut und Würde kritisiert Schiller an der Kantischen Ethik die »Härte« einer »grelle[n] Entgegensetzung« von Pflicht und Neigung (FA 8, 367). Er selbst suggeriert, er könne Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer phi­ losophirt. KSA 6, S. 111. Schon im Frühwerk rekurriert Nietzsche häufig auf Schiller. In seiner Schrift David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller erklärt Nietzsche, »dass Schiller aus Kant wie aus einer Kaltwasseranstalt herausgetreten sei« (KSA 1, S. 181). Damit paraphrasiert er David Friedrich Strauß, der zwar »einige der werth­ vollsten« Schriften Schillers auf den Einfluss Kants zurückführt, aber dadurch auch einen Verlust an »Frische und Natürlichkeit« bei Schiller bedingt sieht. Nur der inten­ sive Kontakt mit Goethe habe verhindern können, dass »ihm die Cur« eher schadete – so jedenfalls die Ansicht von David Friedrich Strauß: Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß. Leipzig 1872. S. 325. Nietzsche komprimiert den Vergleich zur Meta­ pher: »Kant als Kaltwasseranstalt« (KSA 1, S. 224). – Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen. I. David Strauss der Beken­ ner und der Schriftsteller. II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Berlin/Boston 2020 (Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, Bd. 1/2). S. 126, 143–150. [Open Access] 33

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II. Kants Pflichtethik im Fokus der Kritik

zu einem solchen Rigorismus eine bessere Alternative anbieten, die durch ein Ethos der »Liberalität« (FA 8, 381) auch der Neigung eine angemessene Beteiligung an moralischem Verhalten zu sichern ver­ möge. Aber obwohl Schiller mit seinem Gegenentwurf den Eindruck erweckt, er ziele auf eine Relativierung des Kantischen Pflichtprinzips durch ein moderateres Konzept, ergibt sich dabei stattdessen eine Radikalisierung der Anforderungen an Moralität. Die spezifischen Implikationen von Schillers Postulat eines ›moralisch schönen Han­ delns‹ werden zum Problem, wenn er für die ›schöne Seele‹ den Anspruch erhebt, sie handle durch eine habituelle »Neigung zu der Pflicht« (FA 8, 366) »moralisch schön« (FA 8, 378). Entgegen dem Anspruch Schillers, den Moralrigorismus Kants durch ein Harmonie-Konzept zu überwinden, führt sein eigener Alternativentwurf zur Kantischen Pflichtethik tatsächlich zu einer Verschärfung der Moralitätskriterien, die meines Erachtens sogar die These nahelegt: Der eigentliche Moralrigorist ist gar nicht Kant, sondern Schiller selbst, weil seine Ästhetik der Sitten letztlich einen viel höheren Anspruch an Moralität impliziert. Im Folgenden wird zu zeigen sein, warum sich Schillers Alterna­ tivvorschlag zur Kantischen Ethik gerade nicht als ein konstruktives Gegenmodell erweist, so suggestiv die Grundtendenz zur Harmoni­ sierung der Komponenten der menschlichen Natur prima vista auch erscheinen mag: durch die Konvergenz von Pflicht und Neigung, Vernunft und Sinnlichkeit sowie (auf einer Metaebene) sogar durch eine Synthese von Würde und Anmut, deren zusätzliche Problematik dann das Kapitel IV. entfalten wird. Schiller gibt seiner Kant-Kritik im Zyklus der Xenien, den er gemeinsam mit Goethe für den »Musen-Almanach auf das Jahr 1797« verfasste, in Gestalt von Distichen eine satirische Pointierung.34 Angeregt durch Martials Xenien, die gemäß der Etymologie des Titels

Da Lönker die jokose Polemik in Schillers Distichen, denen zweifellos eine »par­ odistische Übertreibung« inhärent ist, und Schillers Anspruch, mit seinem Konzept der Anmut den Rigorismus der Kantischen Pflichtethik zu korrigieren, nicht durch eigene Kant-Recherchen überprüft, gelangt er vorschnell zum Verdikt, dass »der Kan­ tische Ansatz von vornherein unzureichend« sei (Fred Lönker: Ästhetik und Moral: Über Anmut und Würde. In: Schiller. Werk-Interpretationen. Hrsg. von Günter Saße. Heidelberg 2005 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 216). S. 199–219, hier S. 199, 216). Das lässt sich aber mit guten Gründen bestreiten! 34

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II. Kants Pflichtethik im Fokus der Kritik

als ›Gastgeschenke‹ intendiert waren35, wollten Goethe und Schil­ ler mit ihrem Gemeinschaftsprojekt ironisch-polemischer Xenien unliebsame Zeitgenossen attackieren, insbesondere im zeitgenössi­ schen Literaturbetrieb. Die beiden epigrammatischen Distichen, mit denen Schiller seine Vorbehalte gegen die Kantische Pflichtethik im Medium ironischer Übertreibung formuliert, lauten folgendermaßen (FA 1, 484)36: »Gewissensskrupel Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin. Decisum Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten, Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.«

Der ironische Titel »Gewissensskrupel« simuliert hier die Verlegen­ heit eines Kant-Adepten, der keine Möglichkeit zu sehen glaubt, ein freundschaftliches Verhalten ›aus Neigung‹ auch in Einklang mit der Kantischen Pflichtethik zu bringen, so dass er meint, ihm komme beim Umgang mit Freunden unversehens die Möglichkeit abhanden, in orthodox-kantischem Sinne moralisch zu handeln. Aus dieser Problemlage wird der Skrupulöse dann durch einen Ratgeber befreit, der hier wie das Sprachrohr eines Moralrigoristen Kantischer Prove­ nienz erscheint. Er empfiehlt kurzerhand, das Dilemma durch einen autosuggestiven Kunstgriff zu eskamotieren, der einer psychischen Selbstvergewaltigung gleichkommt: Durch strategische Verachtung der Freunde lasse sich nämlich der Störfaktor Neigung zwanglos eliminieren, so dass die Befolgung des Pflichtgebots mit »Abscheu« dann die erhoffte Moralität des eigenen Handelns auch Freunden gegenüber zu sichern verspreche. – Soweit Schillers Inszenierung im provokativen Experiment der Distichen, aus deren anti-kantischem Impuls er mit subversivem Esprit satirische Funken zu schlagen weiß.

Auf das altgriechische Wort ξένος (xénos), das die Bedeutung ›Fremdling‹ sowie ›Gast‹ oder ›Gastfreund‹ hat, rekurriert der singularische Begriff ξένιον (xénion). Die Pluralform dazu lautet ξένια (xénia) und bedeutet ›Gastgeschenke‹. 36 Zur Autorschaft Schillers im Falle der beiden Distichen Gewissensskrupel und Decisum vgl. den Kommentar in: Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann u.a. Frankfurter Ausgabe [=FA]. Frankfurt a.M. 1988–2002. Bd. 1: Sämtliche Gedichte und Balladen. Hrsg. von Georg Kurscheidt. Frankfurt a.M. 1992. FA 1, S. 1236–1237. 35

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Der Suggestivkraft von Schillers Polemik gegen Kant erliegt mehr als zwei Jahrzehnte später übrigens auch Schopenhauer, der in seinem Werk Die Welt als Wille und Vorstellung I (1819) ebenfalls nachdrücklich seine Vorbehalte gegen die Kantische Pflichtethik arti­ kuliert: »Wir könnten Kanten, sofern er zur Bedingung des moralischen Wer­ tes einer Handlung macht, daß sie aus rein vernünftigen abstrakten Maximen ohne alle Neigung oder momentane Aufwallung geschehe, vom Vorwurf der Veranlassung moralischer Pedanterei [sic] nicht ganz freisprechen; welcher Vorwurf auch der Sinn des Schillerschen Epigramms, ›Gewissensskrupel‹ überschrieben, ist«.37

Schopenhauer hat Die Welt als Wille und Vorstellung I übrigens durch einen Anhang: Kritik der Kantischen Philosophie ergänzt. Unter Beru­ fung auf den Common sense attestiert Schopenhauer der Kantischen Ethik hier einen »Fehler«, der »dem Gefühl eines jeden Anstoß« gebe und daher »oft gerügt und von Schiller in einem Epigramm persifliert« worden sei.38 Unter Rekurs auf die oben zitierten Xenien Schillers polemisiert Schopenhauer dann energisch gegen Kants »pedantische Satzung, daß eine Tat, um wahrhaft gut und verdienstlich zu sein, einzig und allein aus Achtung vor dem erkannten Gesetz und dem Begriff der Pflicht und nach einer der Vernunft in abstracto bewußten Maxime vollbracht werden muß, nicht aber irgend aus Neigung, nicht aus gefühltem Wohlwollen gegen andere, nicht aus weichherziger Teilnahme, Mitleid oder Herzensaufwallung, welche […] wohldenkenden Personen, als ihre überlegten Maximen verwir­ rend, sogar sehr lästig sind; sondern die Tat muß ungern und mit Selbstzwang geschehn«.39

Hier zitiert Schopenhauer aus einer Textpassage der Kritik der prakti­ schen Vernunft, in der Kant im Falle von Moralität Neigungen jeglicher Art als die eigentliche Triebfeder der Handlung ausschließt und im Hinblick auf den positiven Affekt des Mitleids konstatiert (AA 5, 118)40: Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I. Lö I, S. 107. Schopenhauer: Kritik der Kantischen Philosophie. Lö I, S. 704. 39 Schopenhauer: Kritik der Kantischen Philosophie. Lö I, S. 704–705. 40 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. In: Kants Werke. AkademieTextausgabe [=AA]. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften. Berlin 1968. Bd. 5 [=AA 5], S. 1–163. – Nach dieser Akade­ 37

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»Selbst dies Gefühl des Mitleids und der weichherzigen Theilneh­ mung, wenn es vor der Überlegung, was Pflicht sei, vorhergeht und Bestimmungsgrund wird, ist wohldenkenden Personen selbst lästig, bringt ihre überlegte[n] Maximen in Verwirrung und bewirkt den Wunsch, ihrer entledigt und allein der gesetzgebenden Vernunft unter­ worfen zu sein«.

Ein genauerer Textvergleich allerdings macht evident, dass Schopen­ hauer Kants Aussage verfälscht, indem er sie radikalisiert und dabei negativ umdeutet: Seine Behauptung, dass die moralische Handlung laut Kant »ungern und mit Selbstzwang geschehn« müsse, lässt sich bei Kant nämlich gerade nicht belegen. Als gleichermaßen problematisch erweist sich die Kant-Kritik Nietzsches, dessen eher beschränkte Kant-Kenntnisse sich bekannt­ lich der Vermittlung über Schopenhauer und über Kuno Fischers Geschichte der neuern Philosophie verdanken. Vermutlich schließt Nietzsche an die oben zitierte Kant-Kritik Schopenhauers an, wenn er im Text 339 seiner Schrift Morgenröthe (1881) erklärt: »Zu verlangen, dass die Pflicht immer etwas lästig falle – wie es Kant thut – heisst verlangen, dass sie niemals Gewohnheit und Sitte werde: in diesem Verlangen steckt ein kleiner Rest von asketischer Grausam­ keit.«41

Schopenhauer und Nietzsche kritisieren die Kantische Pflichtethik ganz im Einklang mit der Grundtendenz der ironisch pointierten Kant-Kritik in Schillers Doppel-Distichon. In diesem Sinne distan­ ziert sich Schopenhauer in seiner Schrift Kritik der Kantischen Philo­ sophie nachdrücklich von der »Forderung Kants, daß jede tugendhafte Handlung aus reiner, überlegter Achtung vor dem Gesetz und nach dessen abstrakten Maximen kalt und ohne, ja gegen alle Neigung geschehn solle«.42 Und abschließend formuliert er sogar das ebenso

mie-Textausgabe werden die Werke Kants jeweils mit der Sigle AA, nachgestellter Bandziffer und Seitenzahl zitiert. (Zum Umfang der zitierten Schriften Kants vgl. jeweils die konkreten Angaben im Literaturverzeichnis.). 41 Nietzsche: Morgenröthe. KSA 3, S. 236. 42 Schopenhauer: Kritik der Kantischen Philosophie. Lö I, S. 705. Im Kontext verwirft Schopenhauer hier die Vorstellung von der Lehrbarkeit der Tugend, indem er per ana­ logiam mit der produktionsästhetischen Problematik normativer Rezepte argumen­ tiert. Dabei suggeriert er, die Tugend für lehrbar zu halten, sei »geradeso, wie wenn behauptet würde, jedes echte Kunstwerk müßte durch wohl überlegte Anwendung ästhetischer Regeln entstehn« (Lö I, S. 705).

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radikale wie pauschale Verdikt, dass »Kant in die eigentliche Bedeu­ tung des ethischen Gehaltes der Handlungen keineswegs eingedrun­ gen sei«.43 Allerdings übersieht Schopenhauer dabei ebenso wie Schiller, dass Kants Pflicht-Purismus allein im Hinblick auf den konstitutiven Bestimmungsgrund moralischen Handelns gilt, ohne dass er dabei zugleich kategorisch jedwede Form möglicher Beteiligung von Nei­ gungen ausschließt. Denn in der Kritik der praktischen Vernunft erklärt Kant sogar ausdrücklich: »Freiheit und das Bewußtsein derselben als eines Vermögens, mit überwiegender Gesinnung das moralische Gesetz zu befolgen, ist Unabhängigkeit von Neigungen, wenigstens als bestimmenden (wenn gleich nicht als afficirenden) Bewegursachen unseres Begehrens« (AA 5, 117).

Daraus geht eindeutig hervor, dass Kant Neigungen durchaus als Begleitphänomene im Sinne von ›affizierenden Bewegursachen‹ akzeptiert, solange sichergestellt ist, dass das Pflichtgesetz als der ent­ scheidende Bestimmungsgrund der moralischen Handlung fungiert. Und das ist konsequent im Sinne der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in der Kant nachweislich auch Handlungen, die ›aus Pflicht‹ und ›gemäß der Neigung‹ erfolgen, als moralisch klassifiziert. Auf­ schlussreich ist diesbezüglich Kants Beispiel des ehrlichen Kaufmanns (vgl. AA 4, 397), das später noch genauer zur Sprache kommen wird. In seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral (1841) rekur­ riert Schopenhauer kritisch auf die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in der Kant den »sittliche[n] Gehalt« von »Handlungen« gerade damit begründet, dass sie »nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht« getan werden (AA 4, 398). Zwar konzediert Schopenhauer immerhin, »das große Verdienst« der Ethik Kants liege darin, »sie von allem Eudaimonismos gereinigt zu haben«, mithin im Vorzug »der moralischen Reinigkeit und Erhabenheit ihrer Resultate«.44 »Von der imperativen Form der Kantischen Ethik« aber distanziert er sich mit Nachdruck, indem er schon dem Ethik-Begriff Kants »eine entschiedene petitio principii« glaubt attestieren zu können: »Wer sagt euch, daß es Gesetze gibt, denen unser Handeln sich unterwerfen soll? Wer sagt euch, daß geschehn soll, was nie geschieht? 43 44

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Schopenhauer: Kritik der Kantischen Philosophie. Lö I, S. 706. Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 642, 643.

II. Kants Pflichtethik im Fokus der Kritik

Was berechtigt euch, dies vorweg anzunehmen und demnächst eine Ethik in legislatorisch-imperativer Form als die allein mögliche uns sofort aufzudringen? Ich sage im Gegensatz zu Kant, daß der Ethiker wie der Philosoph überhaupt sich begnügen muß mit der Erklärung und Deutung des Gegebenen, also des wirklich Seienden oder Gesche­ henden«.45

Und nachdem Schopenhauer diesen rhetorischen Fragen seine Skep­ sis gegen fundamentale Prämissen der Kantischen Pflichtethik einge­ schrieben hat, sieht er sich veranlasst, den Begriff ›Gesetz‹ mit apo­ diktischer Ausschließlichkeit auf »das bürgerliche Gesetz (lex, νόμος) eine menschliche Einrichtung, auf menschlicher Willkür beruhend«, und auf die davon »abgeleitete, tropische, metaphorische Bedeutung« im Begriff »Naturgesetze« festzulegen, hingegen »rein moralische Gesetze« zu verwerfen, um stattdessen anschließend selbst determi­ nistische Basisannahmen zu formulieren: mit der Ansicht, es gebe für »den menschlichen Willen […] auch ein Gesetz, sofern der Mensch zur Natur gehört, und zwar ein streng nachweisbares, […] ausnahmslo­ ses, felsenfeststehendes, welches nicht wie der kategorische Imperativ vel quasi, sondern wirklich Notwendigkeit mit sich führt: es ist das Gesetz der Motivation, eine Form des Kausalitätsgesetzes«.46 Über seine generellen Vorbehalte gegen die Kantische Pflicht­ ethik hinaus erhebt Schopenhauer auch konkrete Einwände im Hin­ blick auf zwei Exempla, mit denen Kant seine moralphilosophische Argumentation zu veranschaulichen sucht. So erläutert Kant die nega­ tive Stimmung eines »Menschenfreundes«, dessen Gemüt »vom eige­ nen Gram umwölkt« ist und der sich dennoch aus dieser »Unemp­ findlichkeit« gegen fremdes Leid herausreißt, um einem Notleidenden »ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht« zu helfen (AA 4, 398). – Dieses Beispiel eines Philanthropen mit passagerem Empa­ thie-Mangel ergänzt Kant, indem er außerdem einen Mann imagi­ niert, der sogar »von Temperament kalt und gleichgültig gegen die Leiden anderer wäre«, aber dennoch den höchsten »Werth des Cha­ rakters« zeigt: im Wohltun »nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht« (AA 4, 398 f.). Da Schopenhauer den Gehalt dieser beiden exemplarischen Fälle jedoch vorschnell verabsolutiert, als würden sie bereits die Kanti­ sche Pflichtethik als solche repräsentieren, und auf weitere relevante 45 46

Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 645–646. Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 646.

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Beispiele Kants nicht eingeht, übersieht er, dass ein Handeln »aus Pflicht« von Kant keineswegs prinzipiell als neigungswidrig betrachtet wird. In seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral attestiert Schopenhauer der Kantischen Pflichtethik daher zu Unrecht eine »Apotheose der Lieblosigkeit«47, der er die eigene Mitleidsmoral mit apodiktischem Nachdruck als bessere Alternative glaubt entgegenhal­ ten zu können. Dabei nimmt Schopenhauer ausschließlich für das eigene Konzept ein Ethos der Philanthropie in Anspruch und negiert zugleich apodiktisch den »moralischen Wert« von Handlungen, die nicht aus Mitleid entspringen: »Dieses Mitleid ganz allein ist die wirkliche Basis […] aller echten Menschenliebe. Nur sofern eine Handlung aus ihm entsprungen ist, hat sie moralischen Wert: und jede aus irgendwelchen andern Motiven hervorgehende hat keinen.«48

In diesem Sinne versucht Schopenhauer in der Preisschrift über die Grundlage der Moral einen »Beweis der allein echten moralischen Triebfeder« zu geben49, und zwar durch seine eigene Mitleidsmoral. In der Grundüberzeugung weiß er sich dabei mit »Jean Jacques Rousseau« als dem »größten Moralisten der ganzen neuern Zeit«50 und mit dessen Mitleidspostulat gemäß dem Discours sur l’Origine de l’Inégalité parmi les Hommes (1755) einig, aus dem er in seiner eigenen Preisschrift über die Grundlage der Moral (1841) ausführlich zitiert, darunter auch die These, »la pitié« (das Mitleid) sei »la seule vertu naturelle« (die einzige natürliche Tugend).51 Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 660. Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 740. 49 Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 737. 50 Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 781. 51 Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 782. Vgl. dazu die Passagen in der zweisprachigen Edition: Jean-Jacques Rousseau: Schriften zur Kulturkritik: Discours sur les Sciences et les Arts (1750). Discours sur l’Origine de l’Iné­ galité parmi les Hommes (1755). Über Kunst und Wissenschaft (1750). Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755). Eingeleitet, übersetzt und hrsg. von Kurt Weigand. 4. erw. Aufl. Hamburg 1983 (Philosophische Bibliothek Bd. 243). S. 170/171. Wenig später erklärt Rousseau: »Il est donc bien certain que la pitié est un sentiment naturel, qui, modérant dans chaque individu l’activité de l’amour de soimême, concourt à la conservation mutuelle de toute l’espèce. C’est elle qui nous porte sans réflexion au secours de ceux que nous voyons souffrir; c’est elle qui, dans l’état de nature, tient lieu de lois, de mœurs et de vertu, avec cet avantage que nul n’est tenté de désobéir à sa douce voix« (»Es ist demnach gewiß, daß das Mitleid ein natürliches Gefühl ist, das in jedem Individuum die Gewalt der Eigenliebe mäßigt und zur wech­ 47

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So apodiktisch Schopenhauer das Grundprinzip der Kantischen Pflichtethik verwirft, um seine Mitleidsmoral gegen ihn zu posi­ tionieren, so entschieden stellt er sich in seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral zugleich auf die Seite Schillers, der den »taktlosen moralischen Pedantismus« Kants »in zwei treffenden Epi­ grammen persifliert« habe, »überschrieben ›Gewissensskrupel‹ und ›Entscheidung‹.«52 – Von Kants Pflichtethik hingegen distanziert sich Schopenhauer mit der Begründung, dass deren Gestus »dem echten Geiste der Tugend gerade entgegen« sei; denn »nicht die Tat, sondern das Gerntun derselben, die Liebe, aus der sie hervorgeht und ohne welche sie ein totes Werk ist, macht das Verdienstliche derselben aus«.53 – Und Nietzsche behauptet in seiner Schrift Morgenröthe, der Pflichtethik Kants sei sogar »ein kleiner Rest von asketischer Grausamkeit« inhärent, weil er hier irrtümlich voraussetzt, Kant pos­ tuliere, »dass die Pflicht […]niemals Gewohnheit und Sitte werde«.54 Und dennoch: Der Vehemenz der Attacken auf die Kantische Pflichtethik, die Schiller, Schopenhauer und Nietzsche unisono for­ mulieren, entspricht keineswegs eine Plausibilität ihrer Argumente. – Um Kant in dieser Kontroverse Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, empfiehlt sich eine genauere Lektüre der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hier gibt Kant zum Kriterium von Moralität zu bedenken: »Denn bei dem, was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, daß es dem sittlichen Gesetze gemäß sei, sondern es muß auch um desselben willen geschehen; widrigenfalls ist jene Gemäßheit nur sehr zufällig und mißlich, weil der unsittliche Grund zwar dann und wann gesetzmä­ ßige, mehrmals aber gesetzwidrige Handlungen hervorbringen wird« (AA 4, 390).

selseitigen Erhaltung der gesamten Gattung beiträgt. Gerade das Mitleid bringt uns dazu, ohne Nachdenken denen zur Hilfe zu kommen, die wir leiden sehen. Gerade das Mitleid nimmt im Naturzustand die Stelle der Gesetze, der Sitten und der Tugend ein, doch mit dem Vorteil, daß keiner versucht ist, nicht auf seine sanfte Stimme zu hören« (ebd., S. 174–177). 52 Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 660. – Die (von mir weiter oben zitierte) ältere Fassung von Schillers Distichen (1797) wurde für die Ausgabe der »Gedichte. Zweiter Teil. 1805« leicht modifiziert. Dabei trat der deutsche Titel Entscheidung an die Stelle des lateinischen Titels Decisum (vgl. FA 1, S. 215). – Schopenhauer zitiert Schillers Gedicht also mit der späteren Titelversion. 53 Schopenhauer: Kritik der Kantischen Philosophie. Lö I, S. 705. 54 Nietzsche: Morgenröthe. KSA 3, S. 236.

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II. Kants Pflichtethik im Fokus der Kritik

Wenn Kant anschließend zweimal ausdrücklich auf der »Reinigkeit« des Sittengesetzes insistiert (AA 4, 390), dann wird zwar deutlich, warum Schiller gegen den Purismus der Kantischen Pflichtethik glaubt rebellieren zu müssen. Aber Schiller, Schopenhauer und Nietz­ sche übersehen bei ihrer Kant-Kritik wichtige Differenzierungen: Kant erklärt nämlich, moralisches Handeln müsse ›umwillen der Pflicht‹, also ›aus Pflicht‹ geschehen, so dass Moralität nicht schon für ein bloß pflichtgemäßes Handeln ›aus Neigung‹ in Anspruch genom­ men werden dürfe.55 Denn im letzteren Falle fungiert das Moralgesetz nicht als die entscheidende Handlungsmaxime, also nicht als ›Triebfe­ der‹ in Kantischem Sinne; vielmehr erscheint Pflichtgemäßheit hier eher als kontingentes Begleitphänomen, weil die Handlung in diesem Falle primär durch die Neigung motiviert ist.56 Vorschnell setzen Schiller, Schopenhauer und Nietzsche bei ihren Einwänden gegen Kant voraus, eine moralische Handlung ›aus Pflicht‹ müsse nach den Prämissen der Kantischen Ethik zugleich prinzipiell ›entgegen der Neigung‹ erfolgen. Gerade auf dieser Unter­ stellung basiert ja die polemische Spitze, die bereits Schiller der satirischen Inszenierung seines Distichons »Gewissensskrupel« ein­ geschrieben hat: Wer sich »mit Neigung« für das Wohl von »Freun­ den« engagiere, verhalte sich dabei in Kantischem Sinne eben »nicht tugendhaft« – so jedenfalls Schillers Perspektive in den Xenien. Und später beruft sich Schopenhauer sogar zweimal affirmativ auf diese Kant-Kritik in Schillers Doppel-Distichon.57 Anders, als es Schiller, Schopenhauer und Nietzsche unterstel­ len, behauptet Kant aber keineswegs, eine Handlung ›aus Pflicht‹ müsse per se ›neigungswidrig‹ erfolgen. Und eine Handlung »mit Neigung«58 muss – anders als Schiller es im Distichon »Gewissens­ 55 Kant erläutert diesen Fall am Beispiel des ehrlichen Kaufmanns, der seine Kunden nicht betrügt (vgl. AA 4, 397), aber nur dann moralisch handelt, wenn er damit primär die Pflicht befolgt. Verhält er sich hingegen nur aus strategischen Gründen ehrlich, um seine Käufer nicht zu verlieren, dann handelt er nicht »aus Pflicht«, »sondern bloß in eigennütziger Absicht« (AA 4, 397), also ›aus Neigung‹ und daher nur ›gemäß der Pflicht‹, mithin legal. 56 Kant selbst bezeichnet dieses kontingente Begleitphänomen einer Pflichtge­ mäßheit im Falle von Handlungen ›aus Neigung‹ im obigen Zitatkontext als »zufällig« (AA 4, 390). 57 Vgl. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I. Lö I, S. 107. – Schopen­ hauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 660. 58 Prauss sieht die Formulierung »mit Neigung« in Schillers Distichen uneindeutig zwischen ›aus Neigung‹ und ›gemäß der Neigung‹ changieren: vgl. Gerold Prauss:

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II. Kants Pflichtethik im Fokus der Kritik

skrupel« suggeriert – Moralität qua Pflichterfüllung auch keineswegs prinzipiell ausschließen. Denn entgegen dieser Unterstellung reprä­ sentiert eine Handlung ›aus Pflicht‹, die zugleich ›entgegen der Nei­ gung‹ geschieht, nur einen von drei möglichen Fällen moralischer Handlungen bei Kant, so dass dieser Fall keineswegs mit Moralität schlechthin koinzidiert. Denn für eine Handlung ›aus Pflicht‹ besteht nach Kants Auffassung auch die Möglichkeit, dass sie ›gemäß der Neigung‹ oder ›ohne Neigung‹ erfolgt, ohne dass sie dadurch das Kriterium von Moralität verfehlt. Als Konstituens einer moralischen Handlung muss nach Kants Überzeugung nämlich lediglich sicherge­ stellt sein, dass der Anspruch auf Pflichterfüllung aus Achtung vor dem Moralgesetz als das eigentliche Handlungsmovens wirksam ist, mithin als ›Triebfeder‹ im Sinne Kants. Und dies trifft auf insgesamt drei Handlungstypen zu: auf Handlungen ›aus Pflicht‹ und ›gemäß der Neigung‹, auf Handlungen ›aus Pflicht‹ und ›ohne Neigung‹ sowie auf Handlungen ›aus Pflicht‹ und ›entgegen der Neigung‹.59 Belegen lässt sich diese Trias moralischer Handlungsoptionen mit Aussagen Kants in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: Hier spricht er ausdrücklich einer »Handlung«, die »ohne alle Nei­ gung, lediglich aus Pflicht« erfolgt, »ächten moralischen Werth« zu (AA 4, 398).60 Und wenn Kant »Wohlthun aus Pflicht« geboten sieht, selbst dann, »wenn dazu gleich gar keine Neigung treibt, ja gar natürliche und unbezwingliche Abneigung widersteht« (AA 4, 399), dann thematisiert er hier zwei der drei Möglichkeiten moralischen Handelns: nämlich Handlungen ›aus Pflicht‹, die entweder ›ohne Neigung‹ oder ›entgegen der Neigung‹ erfolgen. Hinzu kommt als Kant über Freiheit als Autonomie. Frankfurt a.M. 1983 (Philosophische Abhandlun­ gen, Bd. 51). S. 244, 245, 248. Er versteht Schillers Konzept einer ›Neigung zur Pflicht‹ als ›verdienstliches Handeln‹ im Sinne ›praktischer Liebe‹ und sieht darin einen Handlungstypus, den Kant selbst noch nicht entfaltet habe (ebd., S. 248–267). – Allerdings beschreibt – lange vor Prauss – bereits Schopenhauer den Typus verdienst­ lichen Handelns, wenn er in seiner Kritik der Kantischen Philosophie konstatiert: »nicht die Tat, sondern das Gerntun derselben, die Liebe, aus der sie hervorgeht und ohne welche sie ein totes Werk ist, macht das Verdienstliche derselben aus« (Schopenhauer: Kritik der Kantischen Philosophie. Lö I, S. 705). 59 Das betont bereits Prauss: Kant über Freiheit als Autonomie (ebd.), S. 71–78. 60 Kurz zuvor schreibt Kant etwas missverständlich über Handlungen, »die wirklich pflichtmäßig sind, zu denen aber Menschen unmittelbar keine Neigung haben« (AA 4, 397). Der Kontext zeigt nämlich, dass er »pflichtmäßig« hier eigentlich im Sinne eines moralischen Handelns »aus Pflicht« versteht (AA 4, 397), also gerade nicht im Sinne eines bloß pflichtgemäßen Handelns, das primär ›aus Neigung‹ erfolgt und daher eben nicht ›moralisch‹, sondern nur ›legal‹ sein kann.

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dritte Option aber noch die Handlung ›aus Pflicht‹, die zugleich ›gemäß der Neigung‹ geschieht (vgl. AA 4, 397). Und genau diese – für eine adäquate Gesamteinschätzung der Kantischen Pflichtethik so wichtige – Möglichkeit wird von Schiller, Schopenhauer und Nietzsche übersehen. Denn bereits Schiller betrachtet Handlungen ›aus Pflicht‹ und ›entgegen der Neigung‹ fälschlich als den einzigen Fall moralischen Handelns gemäß der Kantischen Pflichtethik. So erklärt sich seine satirisch pointierte Unterstellung im Doppel-Distichon, aufgrund des Kantischen Rigorismus sei für moralisches Handeln gegenüber »Freunden« eine negative Einstellung wie »Abscheu« oder Verach­ tung zwingend vorauszusetzen. Diesem Irrtum Schillers entspricht die gleichermaßen unzutref­ fende Suggestion Schopenhauers, Kant postuliere für moralische Handlungen: »die Tat muß ungern und mit Selbstzwang geschehn«, nämlich »kalt und ohne, ja gegen alle Neigung«.61 Im Unterschied zu Schiller bezieht sich Schopenhauer zwar immerhin auf zwei der drei Optionen moralischen Handelns, indem er sich an die oben zitierte Formulierung aus Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten anzulehnen scheint, »Wohlthun aus Pflicht« sei geboten, und zwar selbst dann, »wenn dazu gleich gar keine Neigung treibt, ja gar natürliche und unbezwingliche Abneigung widersteht« (AA 4, 399). Aber genau wie Schiller übersieht auch Schopenhauer dabei die wichtige dritte Möglichkeit von Moralität im Sinne Kants: nämlich das Handeln ›aus Pflicht‹ und ›gemäß der Neigung‹. Deshalb unterläuft ihm letztlich dieselbe Fehleinschätzung der Kantischen Pflichtethik wie zuvor bereits Schiller. Nietzsche folgt diesen Fehleinschätzungen Schillers und Scho­ penhauers, wenn er in der Morgenröthe irrtümlich behauptet, Kant verlange, »dass die Pflicht immer etwas lästig falle«.62 In analogem Sinne wie zuvor bereits Schiller und Schopenhauer wendet sich Nietz­ sche mit dieser Unterstellung im Text 339 der Morgenröthe gleichfalls gegen die Kantische Pflichtethik. Interessant ist der gedankliche Kontext, in den Nietzsche seine Kant-Kritik integriert. Denn er imaginiert hier als Gegenentwurf zu Kant sogar eine Metamorphose der Pflicht zur Neigung und tendiert

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Schopenhauer: Kritik der Kantischen Philosophie. Lö I, S. 705. Nietzsche: Morgenröthe. KSA 3, S. 236.

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dabei zu einer Art von Eudaimonismus63: nämlich in der Vorstellung einer um ihrer selbst willen intendierten Pflicht-»Lust«. Sie bildet den argumentativen Kontext für Nietzsches nicht berechtigtes Verdikt über die Kantische Pflichtethik, wenn er in der Morgenröthe Folgen­ des schreibt: »Verwandlung der Pflichten. – Wenn die Pflicht aufhört, schwer zu fallen, wenn sie sich nach langer Übung zur lustvollen Neigung und zum Bedürfniss umwandelt, dann werden die Rechte Anderer, auf welche sich unsere Pflichten, jetzt unsere Neigungen beziehen, etwas Anderes: nämlich Anlässe zu angenehmen Empfindungen für uns. Der Andere wird vermöge seiner Rechte von da an liebenswürdig (anstatt ehrwürdig und furchtbar, wie vordem). Wir suchen unsere Lust, wenn wir jetzt den Bereich seiner Macht anerkennen und unterhalten. […] Zu verlangen, dass die Pflicht immer etwas lästig falle – wie es Kant thut – heisst verlangen, dass sie niemals Gewohnheit und Sitte werde: in diesem Verlangen steckt ein kleiner Rest von asketischer Grausam­ keit.«64

Entgegen den Vorurteilen von Schiller und Schopenhauer, denen Nietzsche im Text 339 der Morgenröthe implizit folgt, charakterisiert Kant in einer aufschlussreichen Passage der Kritik der praktischen Vernunft allerdings auch ein Handeln ›aus Pflicht‹ und ›gemäß der Neigung‹ ausdrücklich als Fall moralischen Handelns. Nicht zufällig hebt Kant gerade in dieser Textpassage die Bedeutung der Gesin­ nung als konstitutives Kriterium von Moralität hervor. Von außen betrachtet, lässt sich nämlich im konkreten Einzelfall einer Handlung schwerlich ermitteln, ob sie ›aus Pflicht‹ und zugleich ›gemäß der Nei­ gung‹ geschieht oder ob sie – genau umgekehrt – ›aus Neigung‹ und lediglich ›gemäß der Pflicht‹ erfolgt. Laut Kants Kritik der praktischen Kant grenzt sich vom Prinzip des Eudaimonismus in der Ethik entschieden ab, wenn er in seiner Kritik der praktischen Vernunft erklärt: »Epikur […] rechnete die uneigennützigste Ausübung des Guten mit zu den Genußarten der innigsten Freude, und die Genügsamkeit und Bändigung der Neigungen, so wie sie immer der strengste Moralphilosoph fördern mag, gehörte mit zu seinem Plane eines Vergnügens (er ver­ stand darunter das stets fröhliche Herz); wobei er von den Stoikern vornehmlich nur darin abwich, daß er in diesem Vergnügen den Bewegungsgrund setzte, welches die letztern, und zwar mit Recht, verweigerten« (AA 5, 115). – Diese Position Kants befürwortet Schopenhauer in seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral mit Nachdruck, indem er hier konstatiert: »Kant hat in der Ethik das große Verdienst, sie von allem Eudaimonismos gereinigt zu haben«, der die ethischen Konzepte der Antike bestimmte (Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 642). 64 Nietzsche: Morgenröthe. KSA 3, S. 236. 63

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II. Kants Pflichtethik im Fokus der Kritik

Vernunft erfüllt zwar der erstgenannte Handlungstyp die Bedingung der Moralität, nicht aber der letztere, der stattdessen bloß als ein Fall legalen Handelns zu klassifizieren ist (vgl. AA 5, 71, 81). – In diesem Sinne legt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft dar: »Das Wesentliche alles sittlichen Werths der Handlungen kommt darauf an, daß das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme. Geschieht die Willensbestimmung zwar gemäß dem moralischen Gesetze, aber nur vermittelst eines Gefühls […], das vorausgesetzt werden muß, damit jenes ein hinreichender Bestimmungsgrund des Willens werde, mithin nicht um des Gesetzes willen: so wird die Handlung zwar Legalität, aber nicht Moralität enthalten« (AA 5, 71).

Wenige Seiten später betont Kant in der Kritik der praktischen Vernunft noch prägnanter den »Unterschied zwischen dem Bewußtsein, pflichtmäßig und aus Pflicht, d. i. aus Achtung fürs Gesetz, gehandelt zu haben, davon das erstere (die Legalität) auch möglich ist, wenn Neigungen blos die Bestim­ mungsgründe des Willens gewesen wären, das zweite aber (die Mora­ lität), der moralische Werth, lediglich darin gesetzt werden muß, daß die Handlung aus Pflicht, d.i. blos um des Gesetzes willen, geschehe« (AA 5, 81).

Diese Differenzen, die moralphilosophisch von fundamentaler Bedeutung sind, erläutert Kant bereits in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten mit dem aufschlussreichen Beispiel eines ehrli­ chen Kaufmanns: Dieser handelt nach Kants Auffassung nicht mora­ lisch, falls er seine Kunden nur aus strategischen, von Eigeninteresse bestimmten Motiven nicht betrügt, weil er sie als potentielle Käufer nicht verprellen will. Da der Kaufmann bei einer solchen Motivation nicht »aus Pflicht« handelt, »sondern bloß in eigennütziger Absicht« (AA 4, 397), exemplifiziert dieser Fall ein bloß legales Handeln: Die­ ses geschieht primär ›aus Neigung‹, zugleich aber immerhin ›gemäß der Pflicht‹.65 Ist das ehrliche Verhalten des Kaufmanns gegenüber den Käufern aber durch die Maxime motiviert, das Moralgesetz zu befolgen, so handelt er ›aus Pflicht‹, auch wenn zusätzlich – ›gemäß seiner Neigung‹ – der positive Nebeneffekt der Kundentreue eintritt. Laut Kant handelt auch derjenige, der sich vor allem »an der Zufriedenheit anderer« über sein pflichtmäßiges Handeln ergötzt, letztlich primär ›aus Neigung‹ und bloß ›gemäß der Pflicht‹, also nicht moralisch, sondern nur legal (vgl. AA 4, 398). – Von legalen Handlungen unterscheiden sich auch die unmoralischen Handlungen ›aus Neigung‹ und ›entgegen der Pflicht‹. 65

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Als Gesinnungsethik macht Kant seine Moralphilosophie in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten durch die Feststellung kennt­ lich: »eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Werth nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird« (AA 4, 399). Daraus ergibt sich für moralisches Handeln folglich eine Evidenz-Problematik, die Kant auch selbst reflektiert: »In der That ist es schlechterdings unmöglich, durch Erfahrung einen einzigen Fall mit völliger Gewißheit auszumachen, da die Maxime einer sonst pflichtmäßigen Handlung lediglich auf moralischen Grün­ den und auf der Vorstellung seiner Pflicht beruht habe« (AA 4, 407).

Aus dem Bewusstsein des Pflichtgebots allein kann also noch »nicht mit Sicherheit geschlossen werden, daß wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe unter der bloßen Vorspiegelung jener Idee die eigentliche bestimmende Ursache des Willens gewesen sei« (AA 4, 407). Ja, mehr noch: Da es einen verlässlichen empirischen Indikator moralischen Handelns gar nicht gibt, ist laut Kant sogar »zweifelhaft […], ob auch wirklich in der Welt irgend wahre Tugend angetroffen werde« (AA 4, 407). Diese radikale Feststellung in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ist plausibel: Denn wie ließe sich ausschließen, dass der relevante Bestimmungsgrund einer Handlung im Einzelfall nicht letztlich doch aufseiten egoistischer Motive ›aus Neigung‹ lag, so dass sie nur ›gemäß der Pflicht‹, nicht aber ›aus Pflicht‹ geschah – wie im Fall eines primär aus Eigennutz ehrlichen Kaufmanns. Und ein solcher Fall ist eben nicht als moralisches, sondern bloß als legales Handeln zu qualifizieren. Trotz seiner entschiedenen Vorbehalte gegenüber der normati­ ven Ethik Kants, deren Fundament er selbst kritisch hinterfragt, teilt Schopenhauer in dieser Hinsicht die Zweifel Kants. In seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral begründet er seine eigene Skepsis ausführlich und führt in diesem Kontext zwei Argumente an: »Man würde sich in einem großen und sehr jugendlichen Irrtum befinden, wenn man glaubte, daß alle gerechte[n] und legale[n] Hand­ lungen der Menschen moralischen Ursprungs wären. Vielmehr ist zwischen der Gerechtigkeit, welche die Menschen ausüben, und der echten Redlichkeit des Herzens meistens ein analoges Verhältnis wie zwischen den Äußerungen der Höflichkeit und der echten Liebe des Nächsten, welche nicht wie jene zum Schein, sondern wirklich den

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II. Kants Pflichtethik im Fokus der Kritik

Egoismus überwindet. […] In Wahrheit beruht die allgemeine im menschlichen Verkehr ausgeübte und als felsenfeste Maxime behaup­ tete Rechtlichkeit hauptsächlich auf zwei äußeren Notwendigkeiten: erstlich auf der gesetzlichen Ordnung […] und zweitens auf der erkannten Notwendigkeit des guten Namens oder der bürgerlichen Ehre zum Fortkommen in der Welt, mittelst welcher die Schritte eines jeden unter der Aufsicht der öffentlichen Meinung stehn«.66

Später konstatiert Nietzsche in der Götzen-Dämmerung: »Nichts ist seltner unter Moralisten und Heiligen als Rechtschaffen­ heit; vielleicht sagen sie das Gegentheil, vielleicht glauben sie es selbst. Wenn nämlich ein Glaube nützlicher, wirkungsvoller, überzeugender ist, als die bewusste Heuchelei, so wird, aus Instinkt, die Heuchelei als­ bald zur Unschuld: erster Satz zum Verständniss grosser Heiliger« (KSA 6, S. 143–144).

Zumindest in der Skepsis bezüglich genuiner Moralität stimmen Kant, Schopenhauer und Nietzsche also überein. Angesichts der ansonsten ausgeprägten Fronten im moralphilosophischen Diskurs überrascht es allerdings, dass Nietzsche auch die Mentalität Schillers dem Terrain der Kantischen Pflichtethik zuordnet: Denn er rechnet »Schiller« zu »jenen Deutschen, welche die großen glänzenden Worte und Prunk-Gebärden der Tugend liebten (– selbst sein Geschmack an der Kantischen Moral und ihrem unbedingten Commando-Tone gehört hierhin –)«.67 Frappierend erscheint diese von Nietzsche behauptete Allianz Schillers mit Kant angesichts mehrerer rhetorischer Fragen, mit denen Schiller selbst in der Schrift Über Anmut und Würde seine Kant-Kri­ tik formuliert. Eine von ihnen lautet so: »Mußte schon durch die imperative Form des Moralgesetzes die Menschheit angeklagt und erniedriget werden […]?« (FA 8, 369). – Mit dem »unbedingten Com­ mando-Tone« der »Kantischen Moral« gemäß der Perspektive Nietz­ sches zeigt sich Schiller in seiner kritischen Suggestion jedenfalls gerade nicht einverstanden. In dieser Hinsicht unterläuft Nietzsche also ein Irrtum. Auch andere Textstellen dokumentieren die markanten Vorbe­ halte Schillers gegen Kants Pflichtethik, die – mit analoger Grund­ tendenz – später auch Schopenhauer und Nietzsche formulieren. 66 67

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Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 717–718. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente: NL 1885, 36 [38]. KSA 11, S. 567.

II. Kants Pflichtethik im Fokus der Kritik

Während Nietzsche diesbezüglich an Schopenhauer anschließt, beruft sich Schopenhauer mehr als einmal affirmativ auf die Kant-Kritik Schillers.68 – Wie die Argumentation dieses Kapitels II. bereits gezeigt hat, sind die Einwände von Schiller, Schopenhauer und Nietzsche gegen Kants Pflichtethik aber keineswegs berechtigt, sondern lassen sich sogar widerlegen. Die oben beschriebene heterogene Diskurs-Konstellation führt nun zu dem folgenden kuriosen Befund: Wenn Nietzsche ausgerech­ net Schiller in eine Affinität zum »unbedingten Commando-Tone« der Kantischen Pflichtethik rückt69 und ihn zudem apodiktisch als den »Moral-Trompeter von Säckingen« meint etikettieren zu können70, dann scheint ihm die eigene Übereinstimmung mit Schillers KantKritik dabei ebenso wenig bewusst zu sein wie deren Problematik. Insofern liegt der Eindruck nahe, dass Nietzsche seine – gleicher­ maßen kritisch gegen Kant und Schiller gerichtete – Fanfare hier unwissentlich auf Schillers ›Moral-Trompete‹ bläst.

68 Vgl. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I. Lö I, S. 107. – Schopen­ hauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 660. 69 Nietzsche: Nachgelassene Fragmente: NL 1885, 36 [38]. KSA 11, S. 567. 70 Nietzsche: Götzen-Dämmerung. KSA 6, S. 111.

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III. Die Problematik von Schillers Konzept der ›schönen Seele‹ als Moralrigorismus wider Willen

Vor dem Hintergrund der bereits dargelegten wichtigen Differen­ zierungen Kants ist nun die ästhetische Transformation der Moral­ philosophie unter Einbeziehung der sinnlichen Sphäre genauer zu untersuchen, die Schiller in seiner Schrift Über Anmut und Würde entfaltet und als konstruktive Lösung exponiert, um der angeblichen Problematik des Kantischen Rigorismus zu entkommen. Denn Schil­ ler sieht dem Moralgesetz durch Kant »eine Rigidität beigelegt«, welche »die kraftvolleste Äußerung moralischer Freiheit nur in eine rühmlichere Art von Knechtschaft verwandelt« (FA 8, 369). Aus diesem Grund hält es Schiller für erforderlich, als Alterna­ tive zur Kantischen »Rigidität« sein Konzept der ›schönen Seele‹ zu entwerfen, die er durch ein harmonisches Zusammenwirken von »Neigung und Pflicht«, von »Vernunft und Sinnlichkeit« charakteri­ siert (FA 8, 378). Und Schiller geht noch darüber hinaus, indem er in einer späteren Textpassage seiner Schrift Über Anmut und Würde dann sogar die Einheit von »Anmut und Würde« als den Idealzustand betrachtet, in dem der »Ausdruck der Menschheit […] vollendet« sei (FA 8, 385). Inwiefern dieses Synthese-Konzept Schillers allerdings zu gravierenden systematischen Problemen führt, werde ich im Kapi­ tel IV. darlegen. In seiner Schrift Über Anmut und Würde entfaltet Schiller das Denkmodell der ›schönen Seele‹ als positive Alternative zu der Ein­ seitigkeit, die er sowohl im Falle einer Unterdrückung der sinnlichen Natur des Menschen durch Vernunftprinzipien als auch im Falle einer Dominanz der Sinnennatur über die Vernunft entstehen sieht. Nur dann, wenn sich die Triebe der Sinnennatur »in Harmonie« mit »den Gesetzen« der Vernunftnatur setzen, ist »der Mensch« laut Schiller »einig mit sich selbst« (FA 8, 363). Und dieses Ideal der »Harmonie« propagiert er zunächst in moralphilosophischem Kontext, um es

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III. Die Problematik von Schillers Konzept der ›schönen Seele‹

dann insofern ästhetisch zu überformen, als er mit ihm zugleich die »Schönheit des Ausdrucks« verbunden sieht (FA 8, 365). Als das eigentliche Telos betrachtet Schiller dabei den idealen Zustand, in dem »Vernunft und Sinnlichkeit – Pflicht und Neigung zusammenstimmen« – nämlich als »Bedingung« für »die Schönheit des Spiels« (FA 8, 365). – Übrigens ist die Vorstellung des ›Spiels‹ auch Kant nicht fremd. So betont er in seiner Kritik der Urtheilskraft in ästhetischem Kontext »ein freies Spiel der Vorstellungskräfte« (AA 5, 242): »Nur da, wo Einbildungskraft in ihrer Freiheit den Verstand erweckt, und dieser ohne Begriffe die Einbildungskraft in ein regelmäßiges Spiel versetzt: da theilt sich die Vorstellung, nicht als Gedanke, sondern als inneres Gefühl eines zweckmäßigen Zustandes des Gemüths, mit« (AA 5, 296).

Schiller versteht die eigene moralästhetische Synthese als konstruk­ tive Alternative zur Kantischen Pflichtethik, deren Rigorosität er sich psychologisch aus einem Bedürfnis nach prophylaktischer Absi­ cherung gegen die Triebsphäre der Sinnlichkeit erklärt. In diesem Sinne konstatiert Schiller in seiner Schrift Über Anmut und Würde, ein »grober Materialismus in den moralischen Prinzipien« der Zeit habe es Kant vorrangig erscheinen lassen, »die Sinnlichkeit« dort, »wo sie mit frecher Stirne dem Sittengefühl Hohn spricht, […] ohne Nachsicht zu verfolgen«, um »die Verkehrtheit zurecht zu weisen. Erschütterung fo[r]derte die Kur […]« (FA 8, 368). Mit einer Anspielung auf die Kantische Pflichtethik formuliert Schiller hier die folgende Einschätzung: »Um also völlig sicher zu sein, daß die Neigung nicht mit bestimmte, sieht man sie lieber im Krieg, als im Einverständnis mit dem Vernunftgesetze« (FA 8, 365). – Tatsächlich gibt es bei Kant gelegentlich Aussagen, die solche Missverständnisse nahelegen könnten: In der Kritik der praktischen Vernunft definiert Kant nämlich »Tugend« in der Tat als »moralische Gesinnung im Kampfe« und grenzt sie hier explizit von der »Heiligkeit im vermeintlichen Besitze einer völligen Reinigkeit der Gesinnungen des Willens« ab (AA 5, 84). Kurz darauf exponiert Kant dann sogar das »Joch« der »Pflicht, d. i. Achtung fürs Gesetz«, um dann allerdings sogleich die Härte dieses ›Jochs‹ durch eine Parenthese zu relativieren, indem er dieses ›Joch‹ mit einem Relativsatz beträchtlich abmildert: »(das gleichwohl, weil es uns Vernunft selbst auferlegt, sanft ist)« (AA 5, 85).

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III. Die Problematik von Schillers Konzept der ›schönen Seele‹

Dieser markanten Abgrenzung der ›Heiligkeit‹ von menschlicher ›Tugend‹ schreibt Kant im konkreten Argumentationskontext seiner Kritik der praktischen Vernunft eine spezifische Funktion zu: Hier finden sich die obigen Zitate nämlich in der »Elementarlehre der reinen praktischen Vernunft« und gehören insofern zur »Analytik«, deren »Drittes Hauptstück« sich dann speziell »den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft« widmet (AA 5, V). – Und in diesem Kontext erscheint es plausibel, dass Kant die einschränkende conditio humana des Sinnenwesens mitreflektiert, das Moralität trotz der stets präsenten Verführungskraft von Neigungen und Trieben erringen soll. Den Sonderfall von »Heiligkeit« nutzt Kant dabei als Kontrastfolie, indem er betont, dass »ein Ideal der Heiligkeit von keinem Geschöpfe erreichbar, dennoch das Urbild ist«, dem wir uns zu nähern und in einem »unendlichen Progressus gleich zu werden streben sollen« (AA 5, 83), wobei die essentielle Differenz trotz allen Bemühens letztlich realiter unüberwindbar bleibt. Schopenhauer behauptet in seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral, Kant habe »den Begriff des Sollens, des Gesetzes und der Pflicht ohne weiteres aus der theologischen Moral« adaptiert, und erwägt hier sogar süffisant Reminiszenzen Kants »an die lieben Engelein«.71 – Allerdings hat die Reflexion über ›Heiligkeit‹ bei Kant eine strategische Funktion, und zwar als Kontrastfolie im Rahmen der moralphilosophischen Argumentation, die darauf zielt, einen adäquaten Tugendbegriff zu profilieren. Weil Kant beim Menschen voraussetzt, dass er aufgrund seiner Physis »niemals von Begierden und Neigungen ganz frei sein« und daher »mit dem moralischen Gesetze […] nicht von selbst« übereinstimmen kann (AA 5, 84), bedarf es hier notwendigerweise der »Achtung, welche die Befolgung des Gesetzes […] fordert«, und zwar »aus Pflicht, nicht aus freiwilliger Zuneigung und […] von selbst gern unternommener Bestrebung«, weil anderenfalls die dem Menschen mögliche Moralität »in Heilig­ keit überginge« und dadurch »aufhören würde Tugend zu sein« (AA 5, 84). Allein durch die spezifische conditio humana also ist es bedingt, Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 659, 658. Im Kontext seiner Kritik an der Kantischen Pflichtethik beanstandet Schopenhauer auch generell Kants »Aufstellung der Moral nicht für Menschen als Menschen, sondern für alle vernünftige[n] Wesen als solche« (ebd., S. 657), um dann mit spöttischem Unterton zu erklären: »Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, daß Kant dabei ein wenig an die lieben Engelein gedacht oder doch auf deren Beistand in der Überzeugung des Lesers gezählt habe« (ebd., S. 658). 71

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III. Die Problematik von Schillers Konzept der ›schönen Seele‹

dass Kant die »Tugend, d. i. moralische Gesinnung im Kampfe« sieht (AA 5, 84). Um die »Reinigkeit« des Sittengesetzes (AA 4, 390) zu gewährleisten, bedarf es laut Kant also dieser rigoristisch misszuver­ stehenden Bestimmungen, durch die sich Schiller, Schopenhauer und Nietzsche zur Kritik herausgefordert fühlen. In seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten rekurriert Kant in einem anderen moralphilosophischen Kontext auf »gerechte Klagen […], daß man von der Gesinnung, aus reiner Pflicht zu handeln, so gar keine sichere[n] Beispiele anführen könne, daß, wenn gleich manches dem, was Pflicht gebietet, gemäß geschehen mag, dennoch es immer noch zweifelhaft sei, ob es eigentlich aus Pflicht geschehe und also einen moralischen Werth habe« (AA 4, 406).

Mit Bezug zu diesen Prämissen der Kantischen Moralphilosophie betont Schiller, »daß der Anteil der Neigung an einer freien Handlung für die reine Pflichtmäßigkeit dieser Handlung nichts beweist« (FA 8, 366). Die laut Kant konstitutive Differenz zwischen den Handlungen, die ›aus Pflicht‹ als eigentlichem Bestimmungsgrund geschehen, und den Handlungen, die nur ›gemäß der Pflicht‹ erfolgen, sofern sie primär durch Neigung motiviert sind, wird von Schiller hier allerdings nicht mitberücksichtigt. – Und eine fundamentale Opposition zur Kantischen Pflichtethik tritt sogar hervor, wenn Schiller behauptet, »daß die sittliche Vollkommenheit des Menschen gerade nur aus die­ sem Anteil seiner Neigung an seinem moralischen Handeln erhellen kann«; seiner Überzeugung zufolge geht es nämlich darum, nicht bloß »einzelne sittliche Handlungen zu verrichten, sondern ein sittliches Wesen zu sein« (FA 8, 366).72

72 Ernst Tugendhat vertritt gerade im Hinblick auf diese Thesen Schillers die Auffas­ sung: »Diesem letzten Satz hätte natürlich Kant zugestimmt, aber für Schiller versteht sich dieser Satz vom vorigen her, und das heißt: es kommt darauf an, mit seinem ganzen affektiven Wesen moralisch zu sein. Es soll der Mensch, und nicht nur etwas in ihm, moralisch sein« (Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a.M. 1993. S. 119). – Erstaunlich affirmativ äußert sich Tugendhat im Hinblick auf Schillers Alternativkonzept zu Kants Pflichtethik: »Schillers Maxime ist also: soviel Anmut wie möglich, soviel Würde wie nötig. Die Position erscheint überzeugend, weil die Hand­ lung in beiden Fällen ›aus Pflicht‹ geschieht, und das heißt: das bestimmende Motiv ist immer das Moralische […]« (ebd., S. 120). Und die Perspektive, die »wir durch Schiller gewonnen haben«, sieht Tugendhat darin, dass Schiller »in die Motivations­ frage eine Differenzierung eingeführt« habe (nämlich »die Differenzierung in anmu­ tig-moralisches und würdig-moralisches Verhalten«), die bei Kant und Aristoteles

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III. Die Problematik von Schillers Konzept der ›schönen Seele‹

Zu diesen Thesen, die Schiller in seiner Schrift Über Anmut und Würde formuliert, ist zweierlei kritisch anzumerken: Erstens exponiert Schiller hier einen Gegenentwurf zur Kantischen Pflicht­ ethik, indem er die Moralität einer Handlung ausgerechnet von der Neigung abhängig machen will. Dass er dabei die von Kant betonte wichtige Differenz zwischen Handlungen ›aus Pflicht‹ und ›gemäß der Pflicht‹ verwischt, erleichtert ihm seinen Versuch, Pflicht und Neigung im Konzept der ›schönen Seele‹ synthetisiert zu denken. – Und zweitens steigert Schiller den Anspruch an Moralität zugleich beträchtlich, indem er sie primär als Charakterqualität betrachtet, den Wert »einzelne[r] sittliche[r] Handlungen« demgegenüber jedoch deutlich abschwächt (FA 8, 366). Wie weit sich Schiller damit von den Prämissen der Kantischen Moralphilosophie entfernt, wird evident, wenn er sich nicht darauf beschränkt, die vermeintliche »Härte« des Antagonismus zwischen dem Pflichtprinzip der Vernunft und den Neigungen der Sinnlichkeit bei Kant zu kritisieren (FA 8, 367), sondern darüber hinaus sogar Neigung und Pflicht konvergieren lässt, weil er eine moderatere Alternative zum angeblichen Moralrigorismus Kants entwerfen will. Seine eigene Auffassung bringt Schiller in der Schrift Über Anmut und Würde zum Ausdruck, wenn er erklärt, der Mensch sei »nicht dazu bestimmt, einzelne sittliche Handlungen zu verrichten, sondern ein sittliches Wesen zu sein. Nicht Tugenden, sondern die Tugend ist seine Vorschrift, und Tugend ist nichts anders ›als eine Neigung zu der Pflicht.‹« (FA 8, 366). Mit dieser apodiktischen These suspendiert Schiller die Differen­ zierungen Kants, der (wie bereits dargelegt) nicht nur eine, sondern drei Möglichkeiten moralischen Handelns voraussetzt (nämlich ›aus Pflicht‹ und zugleich ›gemäß der Neigung‹ oder ›ohne Neigung‹ oder ›entgegen der Neigung‹) und ihnen ein legales Handeln (›aus Neigung‹ und ›gemäß der Pflicht‹) sowie unmoralisches Handeln (›aus Neigung‹ und ›entgegen der Pflicht‹) gegenüberstellt.73 Wenn Schiller jedoch postuliert: »der Mensch darf nicht nur, sondern soll Lust und Pflicht in Verbindung bringen; er soll seiner Vernunft mit Freuden gehorchen« (FA 8, 366), dann erhöht er das Anspruchsniveau von Moralität weit über die Kantische Pflichtethik noch fehle: Denn erst Schiller »klärt, wie sich der Mensch, wenn er moralisch gut ist, gegenüber der Gesamtheit seiner Affekte verhalten soll« (ebd., S. 120). 73 Vgl. dazu die tabellarische Darstellung von Gerold Prauss: Kant über Freiheit als Autonomie. Frankfurt a.M. 1983 (Philosophische Abhandlungen, Bd. 51). S. 78.

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III. Die Problematik von Schillers Konzept der ›schönen Seele‹

hinaus, indem er den Tugendbegriff zugleich auf charakteristische Weise verengt. Die Radikalität von Schillers Position in der Schrift Über Anmut und Würde besteht also darin, dass er – im Unterschied zu Kants Pflichtethik – nur den Fall einer Konvergenz von Pflicht und Neigung überhaupt als »Tugend« gelten lassen will, wie seine pointierte These zeigt: »Tugend ist nichts anders ›als eine Neigung zu der Pflicht.‹« (FA 8, 366). Im näheren Kontext dieser dogmatischen Behauptung versucht Schiller die Pflicht zur Befolgung des Moralgebots im Kantischen Sinne übrigens noch zu ergänzen und zugleich zu überbieten, indem er ihr eine Pflicht des Menschen gegenüber der ›Natur‹ voranstellt und überordnet. Und diese Pflicht will er anthropologisch fundieren, indem er sie mit der sinnlich-vernünftigen Doppelnatur des Men­ schen zu legitimieren sucht (FA 8, 367): »Dadurch schon, daß sie ihn zum vernünftig sinnlichen Wesen, d. i. zum Menschen machte, kündigte ihm die Natur die Verpflichtung an, nicht zu trennen, was sie verbunden hat, auch in den reinsten Äußerun­ gen seines göttliches Teiles den sinnlichen nicht hinter sich zu lassen, und den Triumph des einen nicht auf Unterdrückung des andern zu gründen. Erst alsdann, wenn sie aus seiner gesamten Menschheit als die vereinigte Wirkung beider Prinzipien, hervorquillt, wenn sie ihm zur Natur geworden ist, ist seine sittliche Denkart geborgen, denn so lange der sittliche Geist noch Gewalt anwendet, so muß der Naturtrieb ihm noch Macht entgegenzusetzen haben. Der bloß niedergeworfene Feind kann wieder aufstehen, aber der versöhnte ist wahrhaft überwunden.«

In dieser Überlegung, die der Kriegsmetaphorik ihre Suggestivkraft verdankt, wertet Schiller die naturale Dimension der Sinnlichkeit erheblich auf.74 Denn er stellt sie der Sphäre von Vernunft und Offenbar bezieht sich Tugendhat implizit auf diese Textpassage in Schillers Schrift Über Anmut und Würde, wenn er – abermals mit erstaunlich affirmativer Einstellung zu Schillers Kant-Kritik – konstatiert: »Was die zeitgenössischen Kritiker an der Kan­ tischen Auffassung bemängelt haben, insbesondere Schiller und dann auch der junge Hegel, ist, daß Kant die menschliche Natur in zwei Teile auseinandergerissen habe, und das ist nicht nur ein philosophisches Problem, sondern bedeutet moralisch gese­ hen, daß es nicht mehr der ganze Mensch ist, der moralisch handelt. Wenn ich nur so handle, weil es mir geboten ist, bin es dann überhaupt noch ich, dieses affektive Wesen, der [sic] handelt?« (Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a.M. 1993. S. 116). Hier geht Tugendhat tatsächlich so weit, der Handlungs- und Subjekttheorie im Rahmen der Kantischen Pflichtethik implizit ein Problem der Zurechnungsfähig­ keit zu attestieren. Das Kantische Autonomiekonzept wird im Rahmen einer solchen Position aber missverstanden. 74

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Pflicht im Kantischen Sinne als zumindest gleichrangige Komponente gegenüber und sieht ihren moralphilosophischen Relevanz-Anspruch durch eine Eigenwertigkeit begründet, die mit schlichter Unterord­ nung unter das Pflichtprinzip seines Erachtens nicht kompatibel wäre. Durch eine anthropologisch ansetzende Argumentation versucht Schiller sein Harmonie-Konstrukt hier also gegen die vermeintliche Rigorosität der Kantischen Pflichtethik zu positionieren. Und mehr noch: Dabei erhebt Schiller die Neigung eigentlich sogar zum konsti­ tutiven Faktor, indem er eine »Neigung zu der Pflicht« postuliert (FA 8, 366). Allerdings beginnt der Begriff ›Neigung‹ in auffallender Weise zu changieren, wenn Schiller Neigung in seiner Schrift Über Anmut und Würde als »Lust« zur »Pflicht« versteht, die im Sinne freudi­ ger Affirmation des Moralgesetzes den Status des Menschen als »sittliches Wesen« allererst ermöglichen und sichern soll (FA 8, 366). Diese pflichtaffine Vorstellung der ›Neigung‹ unterscheidet sich nämlich grundlegend vom Kantischen Begriff der ›Neigung‹: Denn Schiller siedelt Neigung hier eher auf dem höheren Niveau kultivier­ ter Gefühle an – im Unterschied zu sinnlichen Triebimpulsen oder Affekten im Falle von ›Neigung‹ im Kantischen Sinne. Diese für die moralphilosophische Argumentation bedeutsame und folgenreiche Ambiguität des Begriffs ›Neigung‹ scheint Schiller aber nicht zu erkennen. – Kant jedenfalls charakterisiert das ›moralische Gefühl‹75 in seiner Schrift Die Metaphysik der Sitten folgendermaßen: »Nun kann es keine Pflicht geben ein moralisches Gefühl zu haben, oder sich ein solches zu erwerben; denn alles Bewußtsein der Verbind­ lichkeit legt dieses Gefühl zum Grunde, um sich der Nöthigung, die im Pflichtbegriffe liegt, bewußt zu werden: sondern ein jeder Mensch (als ein moralisches Wesen) hat es ursprünglich in sich; die Verbindlichkeit aber kann nur darauf gehen, es zu cultiviren […]: welches dadurch geschieht, daß gezeigt wird, wie es abgesondert von allem pathologi­ schen Reize und in seiner Reinigkeit, durch bloße Vernunftvorstellung, eben am stärksten erregt wird« (AA 6, 399–400).

75 Höffe betont gerade im Zusammenhang mit »sittlichem Gefühl« die »Differenz« zwischen »Kant und Schiller«: »Kant und Schiller unterscheiden sich nicht im Gedan­ ken einer Harmonie von moralischem Willen und sittlichem Gefühl, sondern im methodischen Status des Gefühls: Als Achtung vor dem Gesetz ist es bei Kant rein rational« (Otfried Höffe: Kants Kritik der praktischen Vernunft. Eine Philosophie der Freiheit. München 2012. S. 197).

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Ein derartiges »moralisches Gefühl« im Sinne Kants unterscheidet sich also fundamental von der Sphäre der Sinnlichkeit, deren ›Nei­ gungen‹ als Affekte oder Triebimpulse wirksam sind. Deshalb grenzt Kant ein solches »moralisches Gefühl« so entschieden »von allem pathologischen Reize« ab (AA 6, 400). Dass er das Epitheton ›patho­ logisch‹ hier in unspezifisch-neutralem Sinne verwendet, ist bei­ spielsweise durch die (Eindeutigkeit herstellende) Explikation in § 5 der Kritik der Urtheilskraft zu erkennen: Denn hier unterscheidet Kant »ein pathologisch-bedingtes (durch Anreize, stimulos)« und »ein rei­ nes praktisches Wohlgefallen« (AA 5, 209). Offenkundig hat die Ambiguität, die durch das Bedeutungsspek­ trum des Begriffs ›Neigung‹ bei Schiller bedingt ist, gravierende argu­ mentative Unschärfen zur Folge. Und diese erleichtern ihm sein gegen Kants Pflichtethik gerichtetes Synthese-Konstrukt. Zugleich schafft diese Ambiguität auch Distanz zum klarer profilierten Kantischen Begriff der ›Neigung‹ und stellt die Basis für Schillers Kant-Kritik insofern nachhaltig in Frage. Für Schiller jedenfalls erreicht erst ein Verhalten, bei dem sich auch die Neigung aufseiten der Pflicht befindet, den Rang genuiner Moralität. Und erst sie wird seines Erachtens dem Sonderstatus des Menschen als sinnlich-vernünftiges Doppelwesen gerecht. Demge­ mäß erfüllt eine Handlung ›aus Pflicht‹ und ›entgegen der Neigung‹ zwar für Kant, nicht aber für Schiller das Kriterium vollwertiger Moralität. Das macht Schiller in seiner Schrift Über Anmut und Würde deutlich, indem er erklärt: »Es ist für moralische Wahrheiten gewiß nicht vorteilhaft, Empfindungen gegen sich zu haben, die der Mensch ohne Erröten sich gestehen darf« (FA 8, 369). Und wenig später schreibt Schiller: »Es erweckt mir kein gutes Vorurteil für einen Menschen, wenn er der Stimme des Triebes so wenig trauen darf, daß er gezwungen ist, ihn jedesmal erst vor dem Grundsatze der Moral abzuhören; vielmehr achtet man ihn hoch, wenn er sich demselben, ohne Gefahr, durch ihn mißgeleitet zu werden, mit einer gewissen Sicherheit [an]vertraut« (FA 8, 370).

Außerdem formuliert Schiller die rhetorische Frage, wie sich die »Empfindungen der Schönheit und Freiheit« mit der Strenge »eines Gesetzes vertragen« sollen, »das ihn mehr durch Furcht als durch Zuversicht leitet« und ihm geradezu »Mißtrauen« gegenüber einem »Teil seines Wesens« einflößt (FA 8, 369), nämlich gegenüber der sinnlichen Komponente. Als Gegenentwurf zu einer solchen Selbst­

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entfremdung des Menschen versteht Schiller deshalb sein Ideal eines Einklangs von Sinnlichkeit und Vernunft. Zum Leitbild erhebt er dabei die Vorstellung »einer schönen Seele« (FA 8, 370), die er folgendermaßen charakterisiert: »In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung. Nur im Dienst einer schönen Seele kann die Natur zugleich Freiheit besitzen« (FA 8, 371).

Wie weit sich Schiller damit von der Philosophie Kants entfernt, geben mehrere Passagen der Kritik der Urtheilskraft zu erkennen. Hier kontrastiert Kant bereits in der Einleitung »die Naturbegriffe« und den »Freiheitsbegriff« (AA 5, 171) als die »zwei Gebiete« des »Erkenntnißvermögen[s]« (AA 5, 174), um auf dieser Basis dann den Bereich der Philosophie selbst zu spezifizieren: »in die theoretische als Naturphilosophie und die praktische als Moralphilosophie« (AA 5, 171). Entgegen voreiligen Synthese-Bemühungen hält Kant fest: »Der Freiheitsbegriff bestimmt nichts in Ansehung der theoretischen Erkenntniß der Natur; der Naturbegriff eben sowohl nichts in Anse­ hung der praktischen Gesetze der Freiheit: und es ist in sofern nicht möglich, eine Brücke von einem Gebiete zu dem andern hinüberzu­ schlagen« (AA 5, 195).76

Vor dem Hintergrund dieser zentralen Differenzierungen Kants wird evident, dass Schiller durch die Vorstellung ›freier Natur‹ und ›schö­ ner Moralität‹ in seinem Harmonie-Konzept die Denkkategorien Kants geradezu konterkariert. Zugleich dispensiert er sich von den Prämissen der Kantischen Moralphilosophie. In der Kritik der Urtheilskraft hebt Kant zudem grundlegende Unterschiede zwischen Ethik und Ästhetik hervor: Das Wohlgefallen am Angenehmen, Guten und Nützlichen sieht er auf je spezifische Weise mit Interesse77 verbunden: Als ›angenehm‹ definiert Kant »das, Immerhin reflektiert Kant in der Einleitung zur Kritik der Urtheilskraft über die »Spontaneität im Spiele der Erkenntnißvermögen«, die »den gedachten Begriff zur Vermittelung der Verknüpfung der Gebiete des Naturbegriffs mit dem Freiheitsbe­ griffe in ihren Folgen tauglich« macht, »indem diese zugleich die Empfänglichkeit des Gemüths für das moralische Gefühl befördert« (AA 5, 197). 77 In seiner Kritik der Urtheilskraft (§ 2 bis § 5) definiert Kant »Interesse« generell als »das Wohlgefallen […], was wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden. Ein solches hat daher immer zugleich Beziehung auf das Begehrungsver­ mögen« (AA 5, 204). »Das Angenehme und Gute haben beide eine Beziehung auf das 76

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was den Sinnen in der Empfindung gefällt« (AA 5, 205). »Gut ist das, was vermittelst der Vernunft durch den bloßen Begriff gefällt«: Während »das Nützliche […] nur als Mittel gefällt«, gefällt das, was »an sich gut« ist, »für sich selbst«. Und in »beiden ist immer der Begriff eines Zwecks, mithin das Verhältniß der Vernunft zum (wenig­ stens möglichen) Wollen, folglich ein Wohlgefallen am Dasein eines Objects oder einer Handlung, d. i. irgend ein Interesse, enthalten« (AA 5, 207). – In diesem Sinne ist es laut Kant »das schlechterdings und in aller Absicht Gute, nämlich das moralische, welches das höchste Interesse bei sich führt. Denn das Gute ist das Object des Willens (d. i. eines durch Vernunft bestimmten Begeh­ rungsvermögens). Etwas aber wollen und an dem Dasein desselben ein Wohlgefallen haben, d. i. daran ein Interesse nehmen, ist identisch« (AA 5, 209).

Davon unterscheidet sich laut Kant »ein uninteressirtes und freies Wohlgefallen« am Schönen grundlegend (AA 5, 210): »denn kein Interesse, weder das der Sinne, noch das der Vernunft, zwingt den Beifall ab. […] Ein Gegenstand der Neigung und einer, welcher durch ein Vernunftgesetz uns zum Begehren auferlegt wird, lassen uns keine Freiheit, uns selbst irgend woraus einen Gegenstand der Lust zu machen. Alles Interesse setzt Bedürfniß voraus, oder bringt eines hervor; und als Bestimmungsgrund des Beifalls läßt es das Urtheil über den Gegenstand nicht mehr frei sein« (AA 5, 210).

Schiller hingegen versucht eine Versinnlichung und Ästhetisierung des Moralischen, indem er »einer schönen Seele« die Harmonie von »Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung« attestiert und der »Natur zugleich Freiheit« zuschreibt (FA 8, 371). Dieses

Begehrungsvermögen und führen sofern, jenes ein pathologisch-bedingtes (durch Anreize, stimulos), dieses ein reines praktisches Wohlgefallen bei sich, welches nicht bloß durch die Vorstellung des Gegenstandes, sondern zugleich durch die vorgestellte Verknüpfung des Subjects mit der Existenz desselben bestimmt wird« (AA 5, 209). »Das Angenehme, das Schöne, das Gute« (AA 5, 209) sieht Kant mit einem jeweils spezifischen Wohlgefallen verbunden, das er im Falle des Angenehmen als »Nei­ gung«, im Falle des Schönen als »Gunst« und im Falle des Guten als »Achtung« cha­ rakterisiert (AA 5, 210). Zu diesen Differenzen vgl. Kants Kritik der Urtheilskraft (AA 5, 203–219). Als Sonderfall erweist sich demgegenüber die ästhetische Einstellung. Denn laut Kant gefällt das Schöne »ohne alles Interesse« (AA 5, 354). Zudem ist das »Geschmacksurtheil« laut Kant »kein Erkenntnißurtheil, mithin nicht logisch, son­ dern ästhetisch«, also »subjectiv« (AA 5, 203).

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Konzept ist mit den Prämissen der Kantischen Ästhetik und Ethik keinesfalls kompatibel. Übrigens bietet auch das kulturpessimistisch getönte Gedicht Jeremiade in Schillers Gedankenlyrik ein Indiz für den unüberbrück­ baren Hiat zu den moralphilosophischen Prämissen Kants. Denn Schiller subsumiert die »Tugend« hier mit dogmatischem Nachdruck dem Bereich der »Ästhetik«. Jeremiade gehört zum Zweiten Teil seiner Gedichte (1805); das dritte Distichon lautet so (FA 1, 216): »Aus der Ästhetik, wohin sie gehört, verjagt man die Tugend, Jagt sie, den lästigen Gast, in die Politik hinein.«

Diese Grenzüberschreitung signalisiert eine ausgeprägte Distanz zum Tugendbegriff der Kantischen Pflichtethik und lässt zugleich bereits eine subkutane Affinität zur Tradition der ›Kalokagathia‹-Kon­ zepte erahnen. Gleichwohl schätzte Schillers Kants Kritik der Urtheilskraft durchaus wegen ihres »neuen lichtvollen geistreichen Inhalt[s]«.78 In seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen glaubt er selbst übrigens »größtenteils Kantische Grundsätze« zu berück­ sichtigen, vertritt hier aber auch die Ansicht, dass Kants Argumenta­ tion in diesem Werk durch die »technische Form« das »natürliche Gefühl« befremde (FA 8, 557–558). Und im Hinblick auf den eigenen Anspruch, eine neue Kunsttheorie vorzulegen, formuliert Schiller in einem Brief sogar das Geständnis: »In der That würde ich nie den Muth dazu gehabt haben, wenn nicht Kants Philosophie selbst mir die Mittel dazu verschaf[f]te. Diese fruchtbare Philosophie, die sich so oft nachsagen lassen muß, daß sie nur immer einreiße und nichts aufbaue gibt, nach meiner gegenwärtigen Überzeugung, die festen Grundsteine her, auch ein System der Aesthetik zu errichten, und ich kann es mir blos aus einer

Dies teilte Schiller seinem Freund Körner am 3.3.1791 in einem Brief mit (Schillers Werke. Nationalausgabe Bd. 26, S. 77–78). – Koopmann bewertet Schillers Ausein­ andersetzung mit Kant als »Abweg« von Schillers zunächst politisch-philosophischem Denken in seiner vorkantischen Phase (vgl. Helmut Koopmann: »Bestimme Dich aus Dir selbst«. Schiller, die Idee der Autonomie und Kant als problematischer Umweg. In: Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Ein Symposium. Hrsg. von Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1982. S. 202–219, hier S. 212). 78

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vorgefaßten Idee ihres Schöpfers erklären, daß er ihr nicht auch noch dieses Verdienst erwarb.«79

Diese aufschlussreiche Einschätzung entfaltet Schiller am 9.2.1793 in einem Brief an Friedrich Christian von Augustenburg. Obwohl sich Schiller hier emphatisch zu Kant bekennt, nimmt er in Kallias, oder über die Schönheit. Briefe an Gottfried Körner selbstbewusst für sich in Anspruch, Kants Ästhetik teilweise zu überbieten. Denn hier erklärt er am 19.2.1793, also nur zehn Tage nach der soeben zitierten Briefpassage: »Ich fo[r]dere Dich auf mir unter allen Schönheitserklärungen, die Kantische mit eingerechnet, eine einzige zu nennen, die das uneigent­ liche Schöne so befriedigend auflöste, als, wie ich hoffe, hier geschehen ist« (FA 8, 296).

In derselben Zeitphase bekundet Schiller auch, er wolle mit Bezug auf Kants Kritik der Urtheilskraft »nicht bloß Nachbeter seyn«, sondern versuche sie »durch die That zu widerlegen«.80 – Das sind kühne Intentionen, die sich bei genauerer Betrachtung aber nicht als halt­ bar erweisen. Offenbar changiert Schiller zwischen dem selbstbewussten Anspruch, Kant partiell zu überbieten81, und einer enormen Hoch­ Vgl. Schillers Werke. Nationalausgabe Bd. 26, S. 186. Diese Absicht offenbart Schiller am 11.2.1793 in einem Brief an Fischenich (Schil­ lers Werke. Nationalausgabe Bd. 26, S. 188). In diesem Zusammenhang will Schiller auch eine eigene »Terminologie« einführen und etablieren (ebd., S. 228). Bei der Intention auf Widerlegung Kants geht es Schiller vor allem um die Entkräftung von Kants »Behauptung, daß kein objektives Princip des Geschmacks möglich sey« (ebd.). Denn Schiller selbst glaubt dieses Prinzip gefunden zu haben und meint, er könne es in seinen Briefen Kallias, oder über die Schönheit präsentieren. Dezidiert behauptet er: »Die Kantische Kritik leugnet die Objektivität des Schönen aus keinem genügenden Grunde, weil sich nämlich das Schönheitsurteil auf ein Gefühl der Lust gründe« (Nationalausgabe Bd. 21, S. 81). Und er erklärt: »Den objectiven Begriff des Schönen, […] an welchem Kant verzweifelt, glaube ich gefunden zu haben« (ebd., S. 170). – Allerdings konzediert Schiller dann doch: »Der Umstand, daß das Schöne bloß gefühlt, nicht eigentlich erkannt wird, macht die Ableitung der Schönheit aus Prinzi­ pien a priori zweifelhaft« (ebd., S. 86). Nun befindet er sich im Konsens mit Kants plausibler Abgrenzung in der Kritik der Urtheilskraft: »[…] Das Geschmacksurtheil ist also kein Erkenntnißurtheil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjectiv sein kann« (AA 5, 203). 81 Diese Ambivalenz betont übrigens auch Wilhelm von Humboldt in seinem Schil­ ler-Essay: Einerseits sieht er »Kant von Schiller gewürdigt«, als sich Schiller »an die 79

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achtung für die philosophischen Pionierleistungen Kants, die er übri­ gens auch in seiner Gedankenlyrik rühmt. So publizierte Schiller im Zweiten Teil seiner Gedichte das – metrisch nicht überzeugende82 – Distichon Kant und seine Ausleger (FA 1, 216): »Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung Setzt! Wenn die Könige bau’n, haben die Kärrner zu tun.«

Übrigens reflektiert nicht erst Schiller über die Relation zwischen Ästhetik und Ethik. Dass bereits Kant selbst Überlegungen dazu anstellt, gibt schon der Titel von § 59 in der Kritik der Urtheilskraft zu erkennen: »Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit« (AA 5, 351). In diesem Abschnitt vertritt Kant die These: »das Schöne ist das Sym­ bol des Sittlich-Guten« (AA 5, 353). Und er begründet sie unter Rekurs auf Sprachkonventionen, wenn er konstatiert, dass »sich das Gemüth zugleich einer gewissen Veredlung und Erhebung über die bloße Empfänglichkeit einer Lust durch Sinneneindrücke bewußt ist« (AA 5, 353). Dann fährt er folgendermaßen fort (AA 5, 354): »wir benennen schöne Gegenstände der Natur oder der Kunst oft mit Namen, die eine sittliche Beurtheilung zum Grunde zu legen scheinen. Wir nennen Gebäude oder Bäume majestätisch und prächtig, oder Gefilde lachend und fröhlich […], weil sie Empfindungen erregen, die etwas mit dem Bewußtsein eines durch moralische Urtheile bewirkten Gemüthszustandes Analogisches enthalten. Der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnenreiz zum habituellen moralischen Interesse ohne einen zu gewaltsamen Sprung möglich, indem er […] sogar an Gegenständen der Sinne auch ohne Sinnenreiz ein freies Wohlgefallen finden lehrt«.

Deduction des Schönheitsprincips und des Sittengesetzes« heftete; andererseits hebt Humboldt hervor, »dass Schiller, als er zuerst Kant’s Namen öffentlich aussprach, in [Über] Anmuth und Würde, als sein Gegner auftrat« (Wilhelm von Humboldt: Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung [1830]. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Bd. 2: Schriften zur Altertums­ kunde und Ästhetik. Die Vasken. 4. Aufl. Stuttgart 1986. S. 357–394, hier S. 378, 379). 82 Der in der zweiten Hälfte im Daktylus-Metrum nicht gut funktionierende Hexa­ meter-Vers durchbricht sogar die klare Zäsur zwischen Hexameter und Pentameter: Daher beginnt Schiller den Pentameter mit »Setzt!«, obwohl dieses Wort noch zur Sinneinheit des Hexameters gehört. In poetischer Hinsicht erscheint dieses Distichon daher weniger gelungen. – Als rhythmische Alternative wäre denkbar: Bringt doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung / Wenn die Könige bau’n, haben die Kärrner zu tun.

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Diese symbolische Funktion des Schönen gilt laut Kant allerdings nicht korrelativ; mithin behauptet er keine wechselseitige Symbol­ funktion des Schönen und des Sittlich-Guten füreinander.83 Obwohl die Funktion des Schönen als »Symbol des Sittlich-Guten« (AA 5, 353) nichts an den kategorialen Differenzen zwischen Ethik und Ästhetik ändert84, vollzieht Kant auch in § 42 seiner Kritik der Urtheilskraft einen hypothetischen Brückenschlag: Hier erklärt er, bei demjenigen, den »die Schönheit der Natur unmittelbar interessirt«, habe »man Ursache, wenigstens eine Anlage zu guter moralischen [sic] Gesinnung zu vermuthen« (AA 5, 300–301). Dass Schiller seinen eigenen Gegenentwurf zum angeblich so problematischen Moralrigorismus Kants irrtümlich als moderatere Alternative zur Kantischen Ethik ansieht, zeigen die Definitionen von ›Anmut‹ und ›Würde‹, die er in seiner Schrift Über Anmut und Würde präsentiert: »So wie die Anmut der Ausdruck einer schönen Seele ist, so ist Würde der Ausdruck einer erhabenen Gesinnung« (FA 8, 373). Einige Seiten später betont Schiller im Zusammenhang mit der Würde: »Übereinstimmung mit dem Vernunftgesetz ist also im Affekte nicht anders möglich, als durch einen Widerspruch mit den Fo[r]derungen der Natur. Und da die Natur ihre Fo[r]derungen […] nie zurücknimmt […], so ist hier keine Zusammenstimmung zwischen Neigung und Pflicht, zwischen Vernunft und Sinnlichkeit möglich, so kann der Mensch hier nicht mit seiner ganzen harmonierenden Natur, sondern ausschließungsweise nur mit seiner vernünftigen handeln. Er handelt 83 Recki betont im Hinblick auf § 59 in Kants Kritik der Urtheilskraft, dass »die Sym­ bolisierung eine Versinnlichung leisten soll«, dabei allerdings keine »Strukturgleich­ heit zwischen der Form des ästhetischen und des moralischen Urteils« impliziert (Bir­ git Recki: Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant. Frankfurt a.M. 2001 (Philosophische Abhandlungen, Bd. 81). S. 162–163). 84 Vgl. dazu die relevanten Differenzierungen in Kants Kritik der Urtheilskraft (AA 5, 204–219). Die fundamentalen Unterschiede zwischen dem Schönen und dem Guten rekapituliert Kant hier in Kurzform so: »1) Das Schöne gefällt unmittelbar (aber nur in der reflectirenden Anschauung, nicht wie Sittlichkeit im Begriffe). 2) Es gefällt ohne alles Interesse (das Sittlich-Gute zwar nothwendig mit einem Interesse, aber nicht einem solchen, was vor dem Urtheile über das Wohlgefallen vorhergeht, verbunden, sondern was dadurch allererst bewirkt wird)« (AA 5, 353–354). – Vossenkuhl sieht die Brücke zwischen Ethik und Ästhetik in der Selbstbestimmung im (ästhetischen und moralischen) Urteil (vgl. Wilhelm Vossenkuhl: Schönheit als Symbol der Sitt­ lichkeit. Über die gemeinsame Wurzel von Ethik und Ästhetik bei Kant. In: Philoso­ phisches Jahrbuch 99 (1992), S. 91–104, hier S. 104).

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also in diesen Fällen auch nicht moralisch schön, weil an der Schönheit der Handlung auch die Neigung notwendig Teil nehmen muß, die hier vielmehr widerstreitet. Er handelt aber moralisch groß, weil alles das, und das allein groß ist, was von einer Überlegenheit des höhern Vermögens über das sinnliche Zeugnis gibt« (FA 8, 377–378).

Kurz darauf erklärt Schiller mit definitorischer Prägnanz: »Beherr­ schung der Triebe durch die moralische Kraft ist Geistesfreiheit, und Würde heißt ihr Ausdruck in der Erscheinung« (FA 8, 378). Und wenig später pointiert Schiller den Kontrast folgendermaßen: »Bei der Würde also führt sich der Geist in dem Körper als Herrscher auf« und behauptet »seine Selbstständigkeit gegen den gebieterischen Trieb […]. Bei der Anmut hingegen regiert er mit Liberalität […]« (FA 8, 381). Der suggestive Begriff der ›Liberalität‹ darf hier jedoch keines­ falls zu Missverständnissen im Sinne einer legeren Haltung führen, so als wäre die Rigorosität des Kantischen Pflichtprinzips in Schillers Konzept abgemildert. Genau das Gegenteil ist nämlich der Fall. – Denn laut Schiller »sind bei einer schönen Seele die einzelnen Handlungen eigentlich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es« (FA 8, 370). Genau auf dieses anspruchsvolle Ideal einer Moralität des »ganze[n] Charakter[s]« (FA 8, 370) zielt Schillers Postulat, der Mensch solle »ein sittliches Wesen« sein (FA 8, 366). Bereits Kant hatte in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten den Zweifel formuliert, »ob auch wirklich in der Welt irgend wahre Tugend angetroffen werde« (AA 4, 407), also genuine Mora­ lität, mithin mehr als ein bloß legales Handeln. Und diese Skepsis Kants, die Schopenhauer in seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral übrigens teilt85, lässt sich mit noch größerem Recht auf Schillers Konzept der »schönen Seele« gemäß der Schrift Über Anmut und Würde beziehen: Denn hier hält Schiller die Moralität von »ein­ zelnen Handlungen« nicht einmal für hinreichend, sondern erhebt stattdessen den erheblich höheren Anspruch, dass sogar »der ganze Charakter« moralisch sein soll (FA 8, 370). Den Sonderstatus der ›schönen Seele‹ begründet Schiller, indem er sie durch eine habituell gewordene »Neigung zu der Pflicht« cha­ rakterisiert (FA 8, 366), also durch eine Haltung, die seines Erachtens Vgl. Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 717–718. (Die Argumente Schopenhauers werden weiter oben am Ende von Kapitel II. aus­ führlich zitiert.) 85

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über bloße Einzelfälle moralischer Handlungen weit hinausreicht. Denn das ideale, die menschliche Normalität transzendierende Ethos »einer schönen Seele« beschreibt Schiller in seiner Schrift Über Anmut und Würde folgendermaßen: »Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf, und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen« (FA 8, 370).

Dieses Konzept Schillers ist nicht moderat, sondern radikal! – Denn es ist von einem idealistischen Harmonie-Postulat bestimmt, das utopisch erscheint, weil es auf ein Ethos zielt, das nahezu jenseits des Menschenmöglichen liegt und daher im Radikalitätsgrad den angeblichen Kantischen Moralrigorismus weit hinter sich lässt. Ent­ gegen dem Eindruck, den die »Liberalität« der geistigen Regentschaft (FA 8, 381) im Falle der von Schiller postulierten Harmonie von »Sinnlichkeit und Vernunft«, von »Pflicht und Neigung« nahelegen könnte (FA 8, 371), erweist sich Schiller mit seinem Konzept der »schönen Seele« also gerade nicht als »kongenialer Leser Kants«.86 Anders, als es Schiller mit seinem Begriff der »Liberalität« (FA 8, 381) suggeriert, kann er mit seinem Gegenentwurf zu Kants Pflicht­ ethik keineswegs als Fürsprecher einer moderateren Ethik gelten. Stattdessen erscheint er im Vergleich mit Kant – und entgegen seiner eigenen Intention – sogar als der eigentliche Moralrigorist. Denn nicht allein sieht Schiller die Aufgabe des Menschen darin, »eine innige Übereinstimmung zwischen seinen beiden Naturen zu stiften, immer ein harmonierendes Ganze[s] zu sein« (FA 8, 373). Vielmehr geht er darüber noch hinaus, wenn er »Tugend« in seiner Schrift Über Anmut und Würde sogar definitiv und ausnahmslos auf »Neigung zu der Pflicht« festlegt: »Tugend ist nichts anders ›als eine Neigung zu der Pflicht.‹« (FA 8, 366). Diese Vorstellung einer »Tugend«, die es dem Menschen ermöglichen soll, jederzeit Violetta L. Waibel vertritt erstaunlicherweise tatsächlich die Überzeugung, Schiller sei »ein kongenialer Leser Kants« (Violetta L. Waibel: Friedrich Schiller, ein konge­ nialer Leser Kants. In: Umwege. Annäherungen an Immanuel Kant in Wien, in Öster­ reich und in Osteuropa. Hrsg. von Violetta L. Waibel. Göttingen 2015. S. 279–302, hier S. 279). Offenkundig entgehen ihr die komplexen Problemdimensionen in Schil­ lers Auseinandersetzung mit Kant, mithin auch die problematischen Implikationen von Schillers Gegenentwurf. 86

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bedenkenlos »dem Affekt die Leitung des Willens« anzuvertrauen (FA 8, 370), reicht im Anspruch weit über die Kantische Pflichtethik hinaus, zumal Schiller den utopischen Charakter dieses Konzepts auch selbst betont, wenn er konzediert: »Aber diese Charakterschönheit, die reifste Frucht seiner Humanität, ist bloß eine Idee«, die er »bei aller Anstrengung nie ganz erreichen kann« (FA 8, 373). Kant beschreibt die »Tugend« in seiner Metaphysik der Sitten als »eine moralische Stärke des Willens« (AA 6, 405), nimmt aber zugleich noch eine wichtige Differenzierung vor, indem er hier erklärt: »Aber dies erschöpft noch nicht den Begriff; denn eine solche Stärke könnte auch einem heiligen (übermenschlichen) Wesen zukommen, in welchem kein hindernder Antrieb dem Gesetze seines Willens entgegen wirkt; das also alles dem Gesetz gemäß gerne thut. Tugend ist also die moralische Stärke des Willens eines Menschen in Befolgung seiner Pflicht: welche eine moralische Nöthigung durch seine eigene gesetzgebende Vernunft ist, insofern diese sich zu einer das Gesetz ausführenden Gewalt selbst constituirt« (AA 6, 405).

Aufschlussreich ist diese Textpassage, weil sie Tugend-Definitionen wie etwa die apodiktische Behauptung Schillers – »Tugend ist nichts anders ›als eine Neigung zu der Pflicht.‹« (FA 8, 366) – für den Menschen implizit verwirft, um sie als Sonderfall moralischen Han­ delns stattdessen hypothetisch »einem heiligen (übermenschlichen) Wesen« zuzuschreiben, das »alles dem Gesetz gemäß gerne thut« (AA 6, 405). Angesichts der Anfechtungen durch sinnliche Reize und empirische Bedürfnisse situiert Kant die für den Menschen relevanten Tugendkriterien auf einem realistischen Niveau unterhalb dieses »übermenschlichen« Sonderfalls. Gerade diese fundamentale Differenz zum Menschen zeigt erneut das Ausmaß von Schillers Moralrigorismus, wenn er »Tugend« dezidiert nur als »Neigung zu der Pflicht« (FA 8, 366) gelten lassen will. Dass Schiller mit dieser Auffassung im ethischen Anspruchsni­ veau weit über die Kantische Pflichtethik hinausgeht, macht die fol­ gende Textpassage in seiner Schrift Über Anmut und Würde evident, die auch den Kontext seiner Tugend-Definition bietet. Denn hier behauptet Schiller sogar, »daß die sittliche Vollkommenheit des Menschen gerade nur aus die­ sem Anteil seiner Neigung an seinem moralischen Handeln erhellen kann. Der Mensch nehmlich ist nicht dazu bestimmt, einzelne sittliche Handlungen zu verrichten, sondern ein sittliches Wesen zu sein. Nicht

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III. Die Problematik von Schillers Konzept der ›schönen Seele‹

Tugenden, sondern die Tugend ist seine Vorschrift, und Tugend ist nichts anders ›als eine Neigung zu der Pflicht.‹« (FA 8, 366).

Wenn Schiller seinen radikalen Begriff der »Tugend« ganz auf eine zum dauerhaften Ethos stabilisierte »Neigung zu der Pflicht« festlegt (FA 8, 366), dann nähert er sich bereits der Kantischen Perspektive auf ›Heiligkeit‹, auf die Schopenhauer allerdings mit ausgeprägter Skep­ sis reagiert: Denn er kritisiert die Kantische Pflichtethik auch insofern, als Kant hier »Moral nicht für Menschen als Menschen, sondern für alle vernünftige[n] Wesen als solche« zu konzipieren beabsichtige.87 In dieser Hinsicht divergieren also die Perspektiven von Schiller und Schopenhauer auf Kants Ethik. Und während Schopenhauer »den Begriff des Sollens, des Gesetzes und der Pflicht« durch Kant »aus der theologischen Moral« adaptiert sieht und insofern verwirft88, übernimmt Schiller zwar das Kantische ›Sollen‹, deklariert es aber im Sinne seiner eigenen Konzeption um, indem er postuliert: »der Mensch darf nicht nur, sondern soll Lust und Pflicht in Verbindung bringen; er soll seiner Vernunft mit Freuden gehorchen« (FA 8, 366). – Abgesehen von diesen Unterschieden stimmen Schiller und Schopenhauer aber im prinzipiellen Vorbehalt gegen den angeblichen Rigorismus der Kantischen Pflichtethik überein. Wie im Vorangegan­ genen bereits gezeigt, schließt Schopenhauer diesbezüglich ja sogar ausdrücklich an Schillers Kant-Kritik an, und zwar mit Bezug auf das Doppel-Distichon Schillers, das satirisch auf Kants Pflichtethik rekur­ riert. Im Hinblick auf Schillers Gegenentwurf zur Kantischen Pflicht­ ethik legt die Ästhetisierung des moralischen Charakters, die Schiller durch sein Ideal der »Charakterschönheit« als Zenit von »Huma­ nität« exponiert (FA 8, 373), auch insofern kritische Vorbehalte nahe, als Schiller damit die sinnvollen kategorialen Differenzierungen zwischen dem ›Schönen‹, ›Guten‹, ›Nützlichen‹ und ›Angenehmen‹ gemäß Kants Kritik der Urtheilskraft suspendiert.89 – Darüber hinaus gerät Schiller in seiner Schrift Über Anmut und Würde auch in die Problematik rigoristischer Einseitigkeit, und zwar in gewisser Gegenläufigkeit zum weit ausgreifenden synthetischen Gestus seiner anthropologisch grundierten Moralästhetik: Denn im Unterschied zu Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 657. Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 659. 89 Vgl. dazu die (im Vorangegangenen bereits zitierten) einschlägigen Passagen in Kants Kritik der Urtheilskraft (vgl. AA 5, 203–219). 87

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III. Die Problematik von Schillers Konzept der ›schönen Seele‹

Kant ist Schiller nicht dazu bereit, ein Handeln ›aus Pflicht‹ per se als genuin moralisches Verhalten zu qualifizieren. Vielmehr definiert er als Tugend allein den – von Kant als ›übermenschlich‹ klassifizierten (AA 6, 405) – Sonderfall einer zum Ethos stabilisierten »Neigung zu der Pflicht« (FA 8, 366). Und damit propagiert Schiller einen – verglichen mit Kant – erheblich radikalisierten Tugendbegriff. Durch diese extreme Steigerung des Qualitätsanspruchs, die mit einer vorschnellen Fokussierung auf diesen Sonderfall verbunden ist, verengt Schiller das Spektrum moralischer Handlungsmöglichkeiten im Rahmen seines Konzepts zugleich auf problematische Weise. Denn sein Alternativkonzept zur Kantischen Pflichtethik zielt auf ein Ideal, das mit Kants Vorstellung von ›Heiligkeit‹ korrespondiert, dadurch aber eigentlich die Sphäre des Menschen transzendiert. Denn als ein in vielfältiger Hinsicht bedürftiges Sinnenwesen könnte der Mensch durch das Ethos einer permanenten »Neigung zu der Pflicht« (FA 8, 366) die Abhängigkeit von der Triebsphäre dauerhaft nur um den Preis des eigenen Lebens suspendieren. Außerhalb seiner Reichweite liegt mithin der von Kant in der Metaphysik der Sitten beschriebene Sonderstatus eines »heiligen (übermenschlichen) Wesen[s]«, in dem »kein hindernder Antrieb dem Gesetze seines Willens entgegen wirkt; das also alles dem Gesetz gemäß gerne thut« (AA 6, 405). Im Sinne eines heuristischen Denkmodells erscheint Kants Per­ spektive auf ›übermenschliche‹ Wesen in seiner Metaphysik der Sitten durchaus nachvollziehbar, weil ihr in diesem Kontext die spezifische Funktion zukommt, die conditio humana kontrastiv zu profilieren. Das scheint Schopenhauer allerdings nicht bewusst zu sein, wenn er Kant diesbezüglich ein theologisches Erbe attestiert und damit tendenziell auch einen religiösen Dogmatismus vorwirft. In seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral schreibt Schopenhauer: »Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, daß Kant dabei ein wenig an die lieben Engelein gedacht« hat.90 Im Hinblick auf Schillers Moralästhetik lassen sich noch wei­ tere Ungereimtheiten feststellen: Schiller meint nämlich sogar, die ›schöne Seele‹ dürfe »dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen«, weil sie angeblich »nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen« (FA 8, 370). Angesichts dieser These stellt sich aber die Frage, warum Schiller im Falle der »Anmut« gleichwohl den »Geist« ›regieren‹ lässt, wenn auch 90

Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 658.

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III. Die Problematik von Schillers Konzept der ›schönen Seele‹

»mit Liberalität, weil er es hier ist, der die Natur in Handlung setzt, und keinen Widerstand zu besiegen findet« (FA 8, 381). Dass Schiller dieses ›Regieren‹ dort dem ›Affekt‹, hier dem ›Geist‹ überträgt, ist jedenfalls nicht damit zu rechtfertigen, dass dort von der ›schönen Seele‹, hier von der ›Anmut‹ die Rede ist. Denn beide sieht er ja als essentielle Einheit, wenn er die ›schöne Seele‹ durch ›Anmut‹ oder ›Grazie‹ als deren »Ausdruck in der Erscheinung« charakterisiert (FA 8, 371). Zu kritischer Reflexion fordern übrigens auch Schillers moraläs­ thetische Synthese-Vorstellungen als solche heraus, die im Konzept der »schönen Seele« auf eine harmonische Vermittlung von »Sinn­ lichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung« zielen (FA 8, 371). In seiner Schrift Über Anmut und Würde nimmt Schiller die Alternative einer Harmonie oder Disharmonie »zwischen Neigung und Pflicht, zwischen Vernunft und Sinnlichkeit« (FA 8, 378) zum Anlass, die ›schöne Seele‹ von der ›erhabenen Seele‹ abzugrenzen: »So wie die Anmut der Ausdruck einer schönen Seele ist, so ist Würde der Ausdruck einer erhabenen Gesinnung« (FA 8, 373). Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass Schiller den Kontrast zwischen ›Schönem‹ und ›Erhabenen‹ auch lyrisch reflektiert hat: Von seinen drei Distichen, die den Titel Moral der Pflicht und der Liebe tragen, lautet das markante erste Distichon folgendermaßen (FA 1, 440): »Jede, wohin sie gehört! Erhabene Seelen nur kleidet Jene, die andere steht schönen Gemütern nur an.«

Gemäß Schillers Schrift Über Anmut und Würde handelt der Mensch mit ›erhabener Seele‹ im Konflikt von Pflicht und Neigung »nicht moralisch schön«, sondern »moralisch groß« (FA 8, 378) – jedenfalls der (nicht unproblematischen) Terminologie Schillers zufolge, der die klaren Grenzziehungen zwischen Ethik und Ästhetik gemäß Kants Kritik der Urtheilskraft (AA 5, 205–211) nonchalant zu suspendie­ ren sucht. Allerdings scheint auch diese Klassifikation Schillers, die durch die Gegenüberstellung von ›moralisch großem‹ und ›moralisch schö­ nem‹ Handeln erheblich von Kants Konzepten abweicht, in sich nicht stabil und konsistent zu bleiben. Denn Schiller behauptet auch: »Die schöne Seele muß sich also im Affekt in eine erhabene verwandeln«

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III. Die Problematik von Schillers Konzept der ›schönen Seele‹

(FA 8, 378).91 Die Vorstellung einer solchen Metamorphose jedoch überrascht. Denn diese ›schöne Seele‹ soll sich laut Schiller doch gerade durch den Einklang von Sittlichkeit und Sinnlichkeit auszeich­ nen – im Sinne einer zum permanenten Habitus avancierten Morali­ tät: Nur durch die Harmonie »aller Empfindungen des Menschen« – so glaubt Schiller doch – sei die Stabilität eines Ethos gesichert, das es der ›schönen Seele‹ erlaube, »dem Affekt die Leitung des Willens« ohne Risiko zu überlassen (FA 8, 370), weil sich die Sinnlichkeit hier stets in Übereinstimmung mit dem Pflichtgebot befinde, und zwar durch eine Konvergenz von »Lust und Pflicht« (FA 8, 366). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang übrigens auch Schillers markante Kriegsmetaphorik: »Der bloß niedergeworfene Feind kann wieder aufstehen, aber der versöhnte ist wahrhaft über­ wunden« (FA 8, 367): Mit dieser suggestiven Metaphorik versucht Schiller die fundamentale Differenz zwischen der ›erhabenen Seele‹ und der ›schönen Seele‹ zu pointieren. Seines Erachtens zeichnet sich die ›schöne Seele‹ ja dadurch aus, dass in ihrem Falle die »sittliche Denkart« bereits »zur Natur geworden ist« (FA 8, 367). Wenn die ›schöne Seele‹ aufgrund ihrer »Neigung zu der Pflicht« (FA 8, 366) laut Schiller allerdings per se bereits über ein stabilisiertes Ethos verfügt und daher gar nicht gegen den Andrang der Sinnlichkeit in Gestalt von Neigungen und Trieben zu kämpfen braucht, weil sie »keinen Widerstand zu besiegen findet« (FA 8, 381), dann erscheint die Vorstellung, sie verwandle sich im »Affekt« in eine ›erhabene Seele‹ (FA 8, 378), gerade nicht naheliegend: Denn per definitionem repräsentiert die »schöne Seele« für Schiller doch bereits die idealtypi­ sche Harmonie von »Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung« (FA 8, 370–371), und zwar jenseits jedes moralischen Kampfschau­ platzes, so dass sie aufgrund ihrer »Neigung zu der Pflicht« (FA 8, 366) »dem Affekt« angeblich bedenkenlos »die Leitung des Willens« übertragen kann (FA 8, 370). In seinen Briefen Kallias, oder über die Schönheit (1793) analo­ gisiert Schiller die »schöne Handlung« erstaunlicherweise sogar mit einem naturalen Faktum: Erst wenn »eine moralische Handlung« Im 25. Brief seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen sieht Schiller durch »die Vereinbarkeit beider Naturen« die »Möglichkeit der erhabensten Menschheit bewiesen« (FA 8, 659). Einen »Übergang von der sinnlichen Abhängigkeit zu der moralischen Freiheit« ermögliche die »Schönheit«, indem sie zeige, »daß die letztere mit der erstern vollkommen zusammen bestehen könne« (ebd.). 91

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III. Die Problematik von Schillers Konzept der ›schönen Seele‹

einer »sich von selbst ergebende[n] Wirkung der Natur« ähnelt, erscheint sie ihm als »schöne Handlung« (FA 8, 295–296). Und die höchste »Charaktervollkommenheit« sieht Schiller unter dieser Prä­ misse erst durch die »moralische Schönheit« erreicht, deren conditio sine qua non er darin erblickt, dass dem Menschen »die Pflicht zur Natur geworden ist« (FA 8, 296). Auch diese Ansicht Schillers weicht erheblich vom Konzept der Moralität in Kants Pflichtethik ab, deren angeblichen Rigorismus Schiller durch seinen Gegenentwurf einer Harmonie von Pflicht und Neigung zu überwinden beansprucht. Dabei entgeht ihm allerdings, dass er selbst in einen ausgeprägten Moralrigorismus gerät. Denn das Qualitätskriterium für Moralität setzt Schiller weit oberhalb des Anforderungsniveaus der Kantischen Pflichtethik an, wenn er apodiktisch dekretiert (FA 8, 366): »Tugend ist nichts anders ›als eine Neigung zu der Pflicht.‹«

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IV. Die Konkurrenz von Anmut und Würde in Schillers Moralästhetik: ein systematisches Problem und seine Hintergründe

In seiner Schrift Über Anmut und Würde konstatiert Schiller: »Über­ haupt ist es nicht eigentlich Würde, sondern Anmut, was man von der Tugend fo[r]dert. Die Würde gibt sich bei der Tugend von selbst, die schon ihrem Inhalt nach Herrschaft des Menschen über seine Triebe voraussetzt« (FA 8, 382). Mit Nachdruck behauptet Schiller deshalb den moralischen Primat der Anmut vor der Würde, indem er allein der Anmut moralische Vollkommenheit attestiert: »Da aber das Ideal vollkommener Menschheit keinen Widerstreit, sondern Zusammenstimmung zwischen dem Sittlichen und Sinnlichen fo[r]dert, so verträgt es sich nicht wohl mit der Würde, die, als ein Ausdruck jenes Widerstreits zwischen beiden, entweder die besondern Schranken des Subjekts oder die allgemeinen der Menschheit sichtbar macht« (FA 8, 382).

Umso erstaunlicher erscheint es im Hinblick auf diesen Antagonis­ mus von Anmut und Würde, dass Schiller nur wenige Seiten später ein produktives Zusammenwirken von Anmut und Würde in einem komplementären Verhältnis postuliert. Denn daraus ergibt sich impli­ zit zugleich eine Umwertung seines Tugend-Ideals »vollkommener Menschheit« (FA 8, 382), das er nun nicht mehr in der Anmut allein erblickt, sondern durch deren Vereinigung mit der Würde noch erheblich überboten sieht. Schiller geht jetzt nämlich so weit, sogar eine Synthese von Anmut und Würde zu postulieren, indem er erklärt: »Würde und Anmut […] schließen […] einander in derselben Person, ja in demselben Zustand einer Person nicht aus; vielmehr ist es nur die Anmut, von der die Würde ihre Beglaubigung, und nur die Würde, von der die Anmut ihren Wert empfängt« (FA 8, 385).

Aber wie ließe sich eine solche Interdependenz von Anmut und Würde aufgrund wechselseitiger Komplementarität sinnvoll begründen? – Der durch Schiller so nachdrücklich pointierte Kontrast zwischen

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IV. Die Konkurrenz von Anmut und Würde in Schillers Moralästhetik

Anmut und Würde legt eine solche Vermittlungschance doch gerade nicht nahe, sondern schließt sie sogar kategorisch aus. Indem Schiller die Anmut durch eine Harmonie von Pflicht und Neigung charakte­ risiert, die Würde hingegen durch deren Disharmonie, erzeugt er in seinem Konzept nämlich eigentlich eine Inkompatibilität von Anmut und Würde. Im Hinblick darauf erscheint es frappierend, dass er in seiner Schrift Über Anmut und Würde dennoch dezidiert erklärt: »Sind Anmut und Würde […] in derselben Person vereinigt, so ist der Ausdruck der Menschheit in ihr vollendet« (FA 8, 385). Mit dem überraschenden Konstrukt einer Synthese von Anmut und Würde, das weder mit seinen eigenen Definitionen von ›Anmut‹ und ›Würde‹ noch mit dem zuvor von ihm behaupteten Primat der Anmut vor der Würde kompatibel ist, manövriert sich Schiller zugleich in eine systematische Problematik hinein: Denn auf welche Weise sollte ausgerechnet das komplementäre Verhältnis von Harmo­ nie (qua Anmut) und Disharmonie (qua Würde) zu einer Harmonie höherer Stufe führen? – Und diese kritische Frage drängt sich gera­ dezu auf, weil Schiller zuvor doch die Anmut bereits als »das Ideal vollkommener Menschheit« (FA 8, 382), mithin als unüberbietbar charakterisiert hat: nämlich als Ideal von Harmonie schlechthin. – Kurz darauf erklärt er jedoch apodiktisch: »Sind Anmut und Würde […] in derselben Person vereinigt, so ist der Ausdruck der Menschheit in ihr vollendet« (FA 8, 385). In diesem Kontext wertet Schiller bezeichnenderweise auch die Würde auf: »In der Würde nehmlich legitimiert sich das Subjekt als eine selbstständige Kraft« (FA 8, 385). Über die Hintergründe für diese Inkonsistenz in Schillers Argu­ mentation ist noch genauer nachzudenken: Könnte die Aufwertung der Würde hier vielleicht dadurch bedingt sein, dass im Falle der Anmut durch das Ethos einer »Neigung zu der Pflicht« (FA 8, 366), die ihr vorgeblich schon »zur Natur geworden ist« (FA 8, 296), der autonome Willensakt eines sich in seiner Freiheit als souverän erfah­ renden Subjekts fehlt? – Soll mithin eine Synthese der Anmut mit der Würde für Schiller sicherstellen, dass »moralische Schönheit« (FA 8, 296) als das Naturell der Anmut durch eine Vereinigung mit der Würde gleichsam ausbalanciert wird, und zwar dadurch, dass dabei auch der Wille als praktische Vernunft das ihm gebührende Gewicht erhält? Wie auch immer: In Schillers Postulat einer Vereinigung von »Anmut und Würde« zum vollendeten »Ausdruck der Menschheit« (FA 8, 385) scheint deren Komplementarität vorausgesetzt zu sein,

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IV. Die Konkurrenz von Anmut und Würde in Schillers Moralästhetik

sofern beide seines Erachtens nun der wechselseitigen Ergänzung bedürfen. Dabei übersieht Schiller allerdings die systematische Pro­ blematik, in die er mit diesem Konstrukt der Interdependenz gerät: Einerseits charakterisiert er nämlich die Anmut, in der sich seines Erachtens die perfekte Harmonie »aller Empfindungen des Men­ schen« manifestiert (FA 8, 370), für sich genommen bereits als »das Ideal vollkommener Menschheit« (FA 8, 382). Andererseits jedoch soll es – gewissermaßen auf einer Metaebene – erst die ›Vereinigung‹ von »Anmut und Würde […] in derselben Person« sein, die den »Ausdruck der Menschheit in ihr vollendet« sein lässt (FA 8, 385). In Schillers Schrift Über Anmut und Würde jedenfalls ist die Konkurrenz dieser beiden Denkmodelle nicht aufzulösen. Sucht man nun nach möglichen Ursachen für diese Akzentver­ schiebung zugunsten der Würde92, die angesichts der in Schillers Schrift Über Anmut und Würde klar hervortretenden Präferenz für die Anmut überrascht und mit ihr nicht kompatibel ist, so ergeben sich interessante Anhaltspunkte durch die Mitberücksichtigung anderer ästhetischer Schriften Schillers. Denn die Variabilität der argumen­ tativen Strategien hängt vermutlich mit den Intentionen des Drama­ tikers und Dramentheoretikers Schiller zusammen, der mit seinen Schriften Über das Pathetische (1793) und Über das Erhabene (1801) andere Ziele verfolgt und daher in ihnen Perspektiven entwickelt, die sich vom Konzept seiner Schrift Über Anmut und Würde erheb­ lich unterscheiden. Wenn Schiller in seiner Schrift Über das Pathetische das zum Mitempfinden animierende Leiden des Protagonisten betont, der seine moralische Souveränität im Drama erst durch siegreiche Aus­ einandersetzung mit Widerständen unter Beweis stellen kann, dann spielt Anmut jedenfalls keine Rolle. Denn die an widrigen Umständen aller Art leidende Dramenfigur vermag nach Schillers Ansicht erst im Kampf ein Ethos der Würde zu erringen. Dabei bildet die heroische 92 Diana Schilling sieht im zweiten Teil der Schrift Über Anmut und Würde, der den Titel »Würde« trägt (FA 8, 373–394) und etwa ein Drittel des Gesamttextes umfasst, »eine Wiederannäherung an Kants Vernunftkritik« und folgert sogar: »Schiller war auch mit seiner Schrift Über Anmut und Würde Kantianer geblieben« (Diana Schilling: Über Anmut und Würde (1793). In: Schiller-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Matthias Luserke-Jaqui. Stuttgart/Weimar 2011. S. 388–398, hier S. 395, 397). – Allerdings sprechen die divergenten Argumentationsstrategien Schillers in dieser Schrift und vor allem sein Konzept der »Tugend« als »Neigung zu der Pflicht« (FA 8, 366) m.E. gerade nicht dafür.

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IV. Die Konkurrenz von Anmut und Würde in Schillers Moralästhetik

Leistung der Selbstüberwindung, die bis in die Dimension des Erha­ benen reichen kann, laut Schiller eine essentielle Voraussetzung für die tragische Wirkung des Dramas. Paradigmatisch für diese Haltung erscheint die Protagonistin Maria Stuart, die in Schillers gleichnami­ gem Trauerspiel mit heroischer Souveränität und erhabener Würde ihrer Hinrichtung entgegengeht. Schillers Schrift Über das Erhabene ist zwar nicht auf die Fikti­ onswelt des Dramas fokussiert, aber dennoch gibt es hier markante Strukturanalogien zum inneren Konflikt im Bewusstsein von Dra­ menfiguren, und zwar durch den »Widerspruch« von »Vernunft und Sinnlichkeit« im Falle des »Erhabenen« (FA 8, 828). Im Unterschied zum Primat der Anmut vor der Würde gemäß der Schrift Über Anmut und Würde erklärt sich Schiller den besonderen »Zauber« eines Antagonismus von »Vernunft und Sinnlichkeit« in seiner Schrift Über das Erhabene damit, dass dort, wo der »physische« Mensch »nur seine Schranken empfindet«, gerade »der moralische Mensch […] die Erfahrung seiner Kraft« macht und dadurch »unendlich erhoben« wird (FA 8, 828). Hier avanciert also gerade die Überwindung von Widerständen zum Qualitätskriterium, und zwar im Kontrast zu der Harmonie von Sinnlichkeit und Vernunft, durch die Schiller die Anmut ausgezeichnet sieht. Wesentlichen Aufschluss im Hinblick auf diese auffallende Akzentverschiebung von der Anmut zur Würde bietet Schillers Schrift Über das Pathetische. Hier erklärt er im Kontext seiner Dramenästhe­ tik, die »Darstellung des Leidens« sei ein äußerst wichtiges Mittel zum Zweck des tragischen Dichters, der »uns die moralische Independenz von Naturgesetzen im Zustand des Affekts versinnlicht« (FA 8, 423). Daher gelte: »Das Sinnenwesen muß tief und heftig leiden; Pathos muß da sein, damit das Vernunftwesen seine Unabhängigkeit kund tun und sich handelnd darstellen könne« (FA 8, 423). Den Grund für die im anderen Argumentationskontext erheb­ lich veränderten Präferenzen Schillers bilden also offenbar seine dra­ menästhetischen Prämissen: Denn ihnen zufolge liegt der eigentliche »Zweck der Kunst« darin, dass »der tragische Held« seine »Seelen­ stärke« unter Beweis stellen soll, damit »wir ihm als Vernunftwesen huldigen« (FA 8, 423). »Pathos« als Leiden von »Sinnenwesen« (FA 8, 423) hat dabei insofern große Bedeutung, als der Bereich der Affekte hier zum Bewährungsfeld für die voluntativen Kräfte der Dramenfigur avanciert. In diesem Sinne kann der Dramatiker das Pathos gezielt zu wirkungsästhetischen Zwecken instrumentalisieren: Wenn sein Prot­

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agonist »in einem Sturm, der die ganze sinnliche Natur aufregt, seine Gemütsfreiheit zu behalten« vermag, dann offenbart er dadurch »ein Vermögen des Widerstandes, das über alle Naturmacht unendlich erhaben ist« (FA 8, 423). Und wer über ein solches Potential verfügt (wie etwa die Titelheldin in Schillers Trauerspiel Maria Stuart), zeich­ net sich gerade dadurch besonders aus. Zu den Konzepten Schillers finden sich Affinitäten in der später von Schopenhauer entfalteten Ästhetik des Tragisch-Erhabenen.93 Trotz dieser Akzentuierung in der Schrift Über das Pathetische (1793), die sich von der Schwerpunktsetzung in Über Anmut und Würde fundamental unterscheidet, kehrt Schiller nur zwei Jahre spä­ ter in seiner Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) punktuell zum Primat der »schönen Seele« zurück. Hier formuliert er im produktionsästhetischen Kontext von Darlegungen zur »Satyre« die folgende Gegenüberstellung (FA 8, 743): »Aber nur dem schönen Herzen ist es verliehen, unabhängig von dem Gegenstand seines Wirkens, ein vollendetes Bild von sich selbst abzuprägen. Der erhabene Charakter kann sich nur in einzelnen Siegen über den Widerstand der Sinne, nur in gewissen Momenten des Schwunges und einer augenblicklichen Anstrengung kund tun; in der schönen Seele hingegen wirkt das Ideal als Natur, also gleichförmig, und kann mithin auch in einem Zustand der Ruhe sich zeigen.«

Schillers Konzepte des Pathetischen und des Erhabenen, so wie er sie in den Schriften Über das Pathetische und Über das Erhabene entfaltet, zeigen übrigens aufschlussreiche Affinitäten zur Ethik der Stoiker, deren Maxime der Affektbewältigung durch Vernunft und Willenskraft Schiller nachweislich bereits seit seiner Jugend genau kannte: Schon früh wurde Schiller nämlich durch die Maximen der stoischen Philosophie geprägt, mit der ihn sein Lehrer Jacob Friedrich Abel in der Hohen Karlsschule vertraut machte. Dabei spielte das 93 Vergleichende Analysen zum Tragisch-Erhabenen in der Dramentheorie Schillers und Schopenhauers sowie zur Philosophie des Tragischen bei Schopenhauer und Nietzsche bietet Barbara Neymeyr: Ethische Aspekte einer Ästhetik des TragischErhabenen. Zur Dramentheorie Schillers und Schopenhauers. In: Die Ethik Arthur Schopenhauers im Ausgang vom Deutschen Idealismus (Fichte / Schelling). Hrsg. von Lore Hühn. Würzburg 2006 (Studien zur Phänomenologie und praktischen Phi­ losophie Bd. 1). S. 265–280. – Barbara Neymeyr: Das Tragische – Quietiv oder Sti­ mulans des Lebens? Nietzsche contra Schopenhauer. In: Die Philosophie des Tragi­ schen: Schopenhauer – Schelling – Nietzsche. Hrsg. von Lore Hühn und Philipp Schwab. Berlin/Boston 2011. S. 369–391.

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stoische Ethos der Selbstdisziplin, Seelenstärke, Affektbewältigung, Tapferkeit, Weisheit und Geistesruhe (unter Rekurs auf Cicero und Seneca) eine besondere Rolle.94 Auf der Basis seiner umfassenden Kenntnis dieser ethischen Tradition konnte Schiller das stoische Ethos für seine dramentheo­ retischen Reflexionen ebenso als Denkmodell nutzen wie für seine Dramenpraxis. In seiner Schrift Über das Pathetische beruft sich Schiller sogar ausdrücklich auf die stoische Ethik, in der das Postulat der Seelenstärke und Affektabwehr95 durch ›virtus‹ und ›constantia‹ zentrale Bedeutung hat. Denn hier betont er zunächst die Erhaben­ heit des »vom Schicksal unabhängige[n] Charakter[s]«, um dann fortzufahren: »Ein tapferer Geist, im Kampf mit der Widerwärtig­ keit, sagt Seneka [sic], ist ein anziehendes Schauspiel selbst für die Götter« (FA 8, 440). Auf paradigmatische Weise inszeniert Schiller die Programmatik der stoischen Philosophie in seinem klassischen Trauerspiel Maria Stuart, und zwar in der inneren Entwicklung der Protagonistin zu einer Haltung der Würde gemäß dem stoischen Ethos der ›constantia‹ und ›tranquillitas animi‹, das Schiller in diesem Drama facettenreich entfaltet und hier zugleich mit der Ästhetik des Erhabenen verbindet.96 Zu Abels Rezeption der stoischen Philosophie vgl. den instruktiven Aufsatz von Wolfgang Riedel: Influxus physicus und Seelenstärke. Empirische Psychologie und moralische Erzählung in der deutschen Spätaufklärung und bei Jacob Friedrich Abel. In: Anthropologie und Literatur um 1800. Hrsg. von Jürgen Barkhoff und Eda Sagarra. München 1992. S. 24–52, hier S. 50. – Zu den (für die Genese von Schillers intellek­ tuellem Profil sehr aufschlussreichen) Themen von Lehrplänen und Jahresprüfungen an der Hohen Karlsschule vgl. Wolfgang Riedel: Jacob Friedrich Abel. Eine Quellene­ dition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773–1782). Mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar und Bibliographie hrsg. von Wolfgang Riedel. Würzburg 1995. S. 394, 445. 95 Nietzsche reagiert übrigens ambivalent auf das (von Schiller goutierte) stoische Ethos der ›virtus‹, ›constantia‹ und ›tranquillitas animi‹: Einerseits schätzt er den »Zwang« (auch des »Stoicismus«) als intellektuelles Entwicklungsstimulans (vgl. KSA 5, S. 61, 108–109) und formuliert sogar den identifikatorischen Appell: »bleiben wir hart, wir letzten Stoiker!« (KSA 5, S. 162). Andererseits jedoch assoziiert er mit dem stoischen Heroismus schädliche Exzesse der Selbstdisziplinierung, die Gefährdung emotionaler Erlebnisintensität und eine maskenhafte Selbstinszenierung (vgl. z.B. KSA 3, S. 543–544; KSA 5, S. 22, 118; KSA 1, S. 506). Vgl. dazu Barbara Neymeyr: »Selbst-Tyrannei« und »Bildsäulenkälte«. Nietzsches kritische Auseinandersetzung mit der stoischen Moral. In: Nietzsche-Studien 38 (2009), S. 65–92. 96 Vgl. dazu den erstmaligen Nachweis zum Einfluss der stoischen Philosophie auf das Ethos heroischer Souveränität in Schillers Drama Maria Stuart von Barbara Ney­ 94

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IV. Die Konkurrenz von Anmut und Würde in Schillers Moralästhetik

Ein solches philosophisches Ethos, das den Idealen der Stoiker entspricht, begünstigt in der ästhetischen Reflexion Schillers die partiellen Präferenzen zugunsten der Würde. So entsteht das bereits beschriebene Konkurrenzverhältnis zwischen Anmut und Würde. Vergleicht man also die unterschiedlichen Akzentsetzungen in Schil­ lers theoretischen Schriften, so lässt sich Folgendes feststellen: Eine jeweils themenspezifische Interessenlenkung führt offenkundig dazu, dass Schiller die Kategorien seiner ästhetischen Wertung und die Strategien seiner Argumentation im Bereich von Dramenpoetik, Moralästhetik und Kulturanthropologie jeweils seinen wechselnden Intentionen anpasst. Und darin liegen zugleich auch die Gründe für erstaunliche Inkonsistenzen in Schillers theoretischen Konzepten.

meyr: Pathos und Ataraxie. Zum stoischen Ethos in Schillers ästhetischen Schriften und in seinem Drama Maria Stuart. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 52 (2008), S. 262–288. [Open Access] (Koopmann würdigt diesen Aufsatz nach­ drücklich in seinem Forschungsbericht: Vgl. Helmut Koopmann: Schiller-Forschung seit 1998. In: Schiller-Handbuch. Hrsg. von Helmut Koopmann. 2., aktualisierte Aufl. Stuttgart 2011. S. 992–1076, hier S. 1070.)

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V. Kants dezidierte Replik auf Schillers Kritik

Übrigens hat Kant zu Schillers Kritik an seiner Pflichtethik auch selbst Stellung genommen: Dem Wunsch des Herausgebers der Berliner Monatsschrift folgend97, widmet er sich nämlich 1794 in der 2. Auflage seiner (1793 erstmals publizierten) Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft in einer längeren Anmerkung der »mit Meisterhand verfaßten Abhandlung« von Herrn »Prof. Schiller […] über Anmuth und Würde in der Moral«, thematisiert dessen Missbil­ ligung moralischer »Verbindlichkeit, als ob sie eine kartäuserartige Gemüthsstimmung bei sich führe«, um dann erstaunlich konziliant festzustellen, er selbst könne, »da wir in den wichtigsten Principien einig sind, auch in diesem keine Uneinigkeit statuiren« (AA 6, 23). – Gleichwohl exponiert Kant hier anschließend sofort mit Nachdruck die fundamentalen Differenzen, indem er sich von Schillers Postulat der Anmut in moralphilosophischem Kontext explizit distanziert: »Ich gestehe gern: daß ich dem Pflichtbegriffe gerade um seiner Würde willen keine Anmuth beigesellen kann. Denn er enthält unbedingte Nöthigung, womit Anmuth in geradem Widerspruch steht« (AA 6, 23).

Angesichts der Entschiedenheit, mit der sich Kant hier von Schillers Alternativentwurf zu seiner Pflichtethik abgrenzt, sollte man die konzilianten Formulierungen, die er in seiner Reaktion auf Schillers Kritik zunächst wählt, nicht überbewerten und sie vor allem nicht vorschnell als Zugeständnis in der Sache missverstehen.98 Diese Details nennt Violetta L. Waibel: Friedrich Schiller, ein kongenialer Leser Kants. In: Umwege. Annäherungen an Immanuel Kant in Wien, in Österreich und in Osteuropa. Hrsg. von Violetta L. Waibel. Göttingen 2015. S. 279–302, hier S. 284, 294. 98 Daher betont auch Jörg Robert, dass Kant die »Differenz« zu Schiller in dieser Fußnote seiner Religionsschrift »noch bekräftigte« (Jörg Robert: Vor der Klassik. Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption. Berlin/Boston 2011. S. 423; analog: S. 26). Schillers »Synthesenbedürfnis« betrachtet Robert jedoch nicht als »Ausdruck konzeptioneller Schwäche«, sondern sieht es stattdessen von »dem 97

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V. Kants dezidierte Replik auf Schillers Kritik

Zwar scheint Kant prima vista der Position Schillers einen Schritt entgegenzukommen, wenn er die möglicherweise »anmuthigen Fol­ gen« der »Tugend« zum Thema macht, die er durch »die Begleitung der Grazien« als »wohlthätig« betrachtet (AA 6, 23). Aber diese Perspektive impliziert bei genauerer Betrachtung keineswegs eine Aufweichung oder gar Preisgabe der klaren moralphilosophischen Position seiner Pflichtethik. Denn Kant setzt bei seiner metaphori­ schen Bezugnahme auf die antike Mythologie zugleich als selbstver­ ständlich voraus, dass sich diese Grazien »in ehrerbietiger Entfernung halten«, wenn »von Pflicht allein die Rede ist« (AA 6, 23). Bezeichnenderweise findet sich bereits in Schillers Schrift Über Anmut und Würde – über die abstrakte Vorstellung der ›Grazie‹ hinaus – gleichfalls das Bild der mythologischen Grazien. Nicht nur die Begriffe ›Anmut‹ und ›Grazie‹ richtet Schiller in seinem Alterna­ tivkonzept kritisch gegen Kants Pflichtethik; vielmehr rekurriert er darüber hinaus auch auf die Grazien im Sinne der antiken Mythologie, indem er erklärt: »In der Kantischen Moralphilosophie ist die Idee der Pflicht mit einer Härte vorgetragen, die alle Grazien davon zurück­ schreckt« und leicht dazu verführen könnte, »auf dem Wege einer finstern und mönchischen Asketik die moralische Vollkommenheit zu suchen« (FA 8, 367). Dass Schillers Vorbehalt nicht berechtigt ist, zeigt bereits eine Passage in Kants Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), in der Kant selbst energisch das Vorurteil zurück­ weist, seine Pflichtethik evoziere eine »kartäuserartige Gemüthsstim­ mung« (AA 6, 23). Und vier Jahre später setzt Kant die entschiedene Abgrenzung von derartigen Vorurteilen gegen seine Pflichtethik auch in der Schrift Die Metaphysik der Sitten (1797) fort, wenn er einerseits »das jederzeit fröhliche Herz in der Idee des tugendhaften Epikurs« exponiert, andererseits aber die »Mönchsascetik« problematisiert, »welche aus abergläubischer Furcht, oder geheucheltem Abscheu an Impuls« motiviert, »die Aporien der Kantischen Ästhetik – und der Aufklärungsäs­ thetik insgesamt – zu überwinden« (ebd., S. 422). Die gravierenden systematischen Probleme, die Schillers Moralästhetik als Kritik an der Kantischen Pflichtethik invol­ viert, bleiben dabei außerhalb von Roberts Fokus. Er verfolgt in seiner Monographie andere Interessen: Denn seines Erachtens bedarf »Schillers Selbstwahrnehmung als Kantianer« insofern der Revision, als man dieses Selbstbild vorschnell bestätigt habe, »ohne die älteren Sedimente seiner Kunstphilosophie zu beachten, die sich etwa bei Hegel als anschlussfähig erweisen werden« (ebd., S. 27): nämlich die »älteren Tradi­ tionen der Aufklärungsphilosophie« (ebd., S. 26).

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sich selbst mit Selbstpeinigung und Fleischeskreuzigung zu Werke geht« und insofern gerade »nicht auf Tugend« abzielt (AA 6, 485). Statt durch Bereuen mit dem Ziel der Besserung »moralisch« ausge­ richtet zu sein, kann eine derartige »Mönchsascetik« laut Kant – ganz im Gegenteil – sogar einen »geheimen Haß gegen das Tugendgebot« implizieren (AA 6, 485). Später kommt Kant in seiner Schrift Anthropologie in pragmati­ scher Hinsicht (1798) nochmals auf dieses Thema zu sprechen. Hier beendet er den »Ersten Theil« mit einer markanten Schlusspassage, in der er seine Position prägnant formuliert (AA 7, 282): »Der Purism des Cynikers und die Fleischestödtung des Anachoreten […] sind verzerrte Gestalten der Tugend und für diese nicht einladend; sondern, von den Grazien verlassen, können sie auf Humanität nicht Anspruch machen.«

Angesichts dieser ethischen Positionen, die Kant selbst mit Nachdruck artikuliert, erscheint die Ansicht Schillers von Grund auf verfehlt, die »Härte«, mit der Kant in seiner »Moralphilosophie« die »Idee der Pflicht« propagiere, schrecke nicht nur »alle Grazien« ab, son­ dern könne auch leicht dazu animieren, mithilfe »einer finstern und mönchischen Asketik die moralische Vollkommenheit« anzustreben (FA 8, 367). – Diese Frontstellung gegen den angeblich so lebensfer­ nen Rigorismus der Kantischen Pflichtethik, die Schiller in seiner Schrift Über Anmut und Würde auf der Basis seiner Fehleinschätzung artikuliert, bildet die Grundlage für seinen eigenen Gegenentwurf, in dem er der »schönen Seele« eine Harmonie von »Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung« als Charakteristikum zuschreibt, um dann definitorisch zu erklären: »Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung« (FA 8, 371). Trotz seiner vordergründig konzilianten Reaktion auf Schillers Kritik legt Kant in der systematischen Konsequenz seiner Gesin­ nungsethik großen Wert darauf, Schillers ›Grazie(n)‹ im Geltungsbe­ reich des Pflichtgebots auf Distanz zu halten. Dabei grenzt er sich zwar moderat im Ton, aber energisch in der Sache von Schiller ab, indem er die moralische Maxime kompromisslos an das Pflichtprinzip bindet und ›Grazie‹ allenfalls als Begleiterscheinung oder Folge moralischen Handelns zu akzeptieren bereit ist. – Der diplomatische Gestus, den Kant 1794 in der 2. Auflage seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft bei der Replik auf Schiller zunächst wählt, ändert auf der Sachebene also gar nichts an seinem – systematisch

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fundierten – Vorbehalt gegen Schillers Alternativkonzept der ›Grazie‹ als Ausdruck einer ›schönen Seele‹ mit »Neigung zu der Pflicht« (FA 8, 366). Allein im Bereich von möglichen »anmuthigen Folgen« der »Tugend« (AA 6, 23) scheinen die Auffassungen von Kant und Schiller zu konvergieren. Hinsichtlich der für moralisches Handeln maßgeblichen Gesinnung, die für die Pflichtethik konstitutive Bedeu­ tung hat, wehrt Kant Schillers Konzept der Anmut jedoch mit guten Gründen kategorisch ab. Aussagekräftig ist die folgende Textpassage in der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hier nutzt Kant mit humoristischem Unterton übrigens ebenfalls mythologische Konstellationen, um im Hinblick darauf dann aber mit kompromissloser Klarheit für den Primat des Pflichtprinzips als Triebfeder moralischen Handelns zu argumentieren (AA 6, 23): »Aber die Tugend, d. i. die fest gegründete Gesinnung seine Pflicht genau zu erfüllen, ist in ihren Folgen auch wohlthätig, mehr wie Alles, was Natur oder Kunst in der Welt leisten mag; und das herrliche Bild der Menschheit, in dieser ihrer Gestalt aufgestellt, verstattet gar wohl die Begleitung der Grazien, die aber, wenn noch von Pflicht allein die Rede ist, sich in ehrerbietiger Entfernung halten. Wird aber auf die anmuthigen Folgen gesehen, welche die Tugend, wenn sie überall Eingang fände, in der Welt verbreiten würde, so zieht alsdann die mora­ lisch-gerichtete Vernunft die Sinnlichkeit (durch die Einbildungskraft) mit ins Spiel. Nur nach bezwungenen Ungeheuern wird Hercules Mus­ aget, vor welcher Arbeit jene guten Schwestern zurück beben. Diese Begleiterinnen der Venus Urania sind Buhlschwestern im Gefolge der Venus Dione, sobald sie sich ins Geschäft der Pflichtbestimmung einmischen und die Triebfedern dazu hergeben wollen.«

Gemäß der antiken Mythologie gilt eigentlich vor allem Apollon als ›Musagetes‹ (Musenführer); später erhielt der Held Herakles eben­ falls diesen Beinamen, der ihm über körperliche Kraft hinaus auch geistige Qualitäten attestiert. Diese mythologischen Vorstellungen ergänzt Kant im vorliegenden Kontext mit humoristischem Unterton. Indem er hier nämlich auch auf »Venus Urania« und »Venus Dione« rekurriert (AA 6, 23), bringt er zusätzlich noch einen traditionsreichen Kontrast ins Spiel: Denn schon in Platons Symposion wird zwischen

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der himmlischen Aphrodite Urania und der gemeinen Allerweltsgöt­ tin Aphrodite Dione unterschieden.99 In seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der blo­ ßen Vernunft wendet sich Kant übrigens noch mit einem weiteren Argument gegen moralästhetische Konzepte wie Schillers Ideal der »Charakterschönheit« (FA 8, 373) oder sein Konzept der ›Anmut‹ und der instinktartigen Moralität einer »schöne[n] Handlung« (FA 8, 295–296): Denn anders als Schiller sieht Kant mit der »Achtung« vor der »Majestät des Gesetzes« in ethischem Kontext nicht »Anmuth«, sondern »ein Gefühl des Erhabenen unserer eigenen Bestimmung erweckt, was uns mehr hinreißt als alles Schöne« (AA 6, 23). Vergleicht man rückblickend die moralphilosophischen Posi­ tionen Kants und Schillers, so zeichnen sich fundamentale Differen­ zen ab.100 – Schiller übersah den eigentlichen Grund von Kants »rigoristischer Bestimmtheit« (AA 6, 25), die den einschränkenden Rahmenbedingungen eines Sinnenwesens Rechnung trägt: Da der Mensch nämlich Moralität in der Auseinandersetzung mit den (durch seine Physis bedingten) mächtigen Trieben und Neigungen erst errin­ gen muss, betont Kant hinsichtlich dieser Konstellation auch die möglichen Konfliktsituationen und erblickt insofern die »Tugend, d. i. moralische Gesinnung im Kampfe« (AA 5, 84). Um die »Reinigkeit« des Sittengesetzes (AA 4, 390) auch in solchen Fällen zu sichern und dabei zugleich die kategoriale Differenz zwischen ›Tugend‹ und ›Heiligkeit‹ zu berücksichtigen, hält Kant diese Perspektive auf menschliche Moralität offenbar für unerlässlich. So erklärt sich der Vergleich der je spezifischen Rahmenbedingungen bei menschlichen und »übermenschlichen« Wesen in Kants Metaphy­ sik der Sitten: Ihm kommt hier nämlich die spezifische Funktion zu, die conditio humana kontrastiv zu profilieren, also im Gegensatz zum Sonderstatus eines »heiligen (übermenschlichen) Wesen[s]«, in Im 8. Kapitel von Platons Symposion findet sich die Unterscheidung zwischen himmlischer und irdischer Liebe in der Rede des Pausanias: vgl. Platon: Symposion 180c-181a. – Als Textbasis fungiert hier die folgende Edition: Platon: Sämtliche Werke. In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Nume­ rierung hrsg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck. Bd. 2: Menon, Hippias I, Euthydemos, Menexenos, Kratylos, Lysis, Symposion. Hamburg 1959. 100 Umso erstaunlicher erscheint daher die These von Waibel, Schiller sei »ein kon­ genialer Leser Kants«: Diese These exponiert sie sogar – besonders markant – schon im Titel ihres Aufsatzes: Violetta L. Waibel: Friedrich Schiller, ein kongenialer Leser Kants. In: Umwege. Annäherungen an Immanuel Kant in Wien, in Österreich und in Osteuropa. Hrsg. von Violetta L. Waibel. Göttingen 2015. S. 279–302, hier S. 279. 99

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dem »kein hindernder Antrieb dem Gesetze seines Willens entgegen wirkt; das also alles dem Gesetz gemäß gerne thut« (AA 6, 405). Während sich Schopenhauer – wie schon gezeigt – dadurch provoziert sah, dass Kant »Moral nicht für Menschen als Menschen, sondern für alle vernünftige[n] Wesen als solche« konzipiert habe101, entwickelte zuvor bereits Schiller – in Abgrenzung von Kant – seine radikale Definition von »Tugend« als »Neigung zu der Pflicht« (FA 8, 366). Eigentlich entspricht dieses moralphilosophische Konzept aber viel eher der imaginären Situation von »übermenschlichen« Wesen im Sinne Kants als den spezifischen Rahmenbedingungen der conditio humana. Allerdings formulieren Schiller, Schopenhauer und Nietzsche analoge Vorbehalte gegen den angeblichen Rigorismus der Kan­ tischen Pflichtethik, die gleichermaßen auf gravierenden Missver­ ständnissen beruhen: Bereits Schiller übersah, dass Kant keineswegs nur neigungswidrige Handlungen ›aus Pflicht‹ als moralisch definiert, sondern Handlungen ›aus Pflicht‹, die ›ohne Neigung‹ oder sogar ›gemäß der Neigung‹ erfolgen, ebenfalls als moralisch betrachtet. Da auch Schopenhauer und Nietzsche diese Fehleinschätzung Schillers teilen, setzen sie – wie im Kapitel II. gezeigt – analog zu Schiller – irrtümlich voraus, dass die Kantische Ethik grundsätzlich eine Opposition von Pflicht und Neigung impliziere. Ansichten dieser Art lassen sich aber durch gegenläufige Aus­ sagen in mehreren Schriften Kants eindeutig widerlegen. In der »Ethische[n] Methodenlehre« seiner Schrift Die Metaphysik der Sitten weist Kant sogar auf »Regeln der Übung in der Tugend« hin, die darauf zielen, »wackeren und fröhlichen Gemüths« beim Befolgen von »Pflichten zu sein« (AA 6, 484). Dabei besteht die »ethische Gymnastik« laut Kant »nur in der Bekämpfung der Naturtriebe«, welche die »Moralität« gefährden, wobei deren Bewältigung den Menschen »im Bewußtsein seiner wiedererworbenen Freiheit fröhlich macht« (AA 6, 485). In diesem Zusammenhang grenzt sich Kant zugleich energisch von einer »Mönchsascetik« ab, »welche aus aber­ gläubischer Furcht, oder geheucheltem Abscheu an sich selbst mit Selbstpeinigung und Fleischeskreuzigung zu Werke geht« und dabei »auch nicht auf Tugend, sondern auf schwärmerische Entsündigung« abzielt (AA 6, 485). Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 657. Vgl. ebd. auch S. 658.

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Zu Unrecht also attestiert Schiller der »Idee der Pflicht« in »der Kantischen Moralphilosophie« eine »Härte«, die Anlass dazu geben kann, mit »einer finstern und mönchischen Asketik« nach »Vollkom­ menheit zu suchen« (FA 8, 367). Offenbar verkennt er mit diesem Verdikt in seiner Schrift Über Anmut und Würde, wie dezidiert Kant gerade in der Ablehnung solcher Mentalitäten sogar mit ihm überein­ stimmt. Ja, mehr noch: Schiller sieht dem Moralgesetz durch Kant sogar »eine Rigidität beigelegt«, welche »die kraftvolleste Äußerung moralischer Freiheit nur in eine rühmlichere Art von Knechtschaft verwandelt« (FA 8, 369): Womit aber hatten es die Kinder des Hauses verschuldet, daß er nur für die Knechte sorgte? Weil oft sehr unreine Neigungen den Namen der Tugend usurpieren, mußte darum auch der uneigennützige Affekt in der edelsten Brust verdächtig gemacht werden? […] Mußte schon durch die imperative Form des Moralgesetzes die Menschheit angeklagt und erniedriget werden, und das erhabenste Dokument ihrer Größe zugleich die Urkunde ihrer Gebrechlichkeit sein?« (FA 8, 368–369).

Irrtümlich meint im Anschluss an Schiller auch Schopenhauer, gemäß der Kantischen Pflichtethik »muß« eine moralische Hand­ lung »ungern und mit Selbstzwang geschehn«.102 Und eine analoge Fehleinschätzung lässt darüber hinaus auch die mit den Vorurteilen Schillers und Schopenhauers übereinstimmende Meinung Nietzsches erkennen, Kant verlange, »dass die Pflicht immer etwas lästig falle«, also »niemals Gewohnheit und Sitte werde«, so dass sich in sei­ ner Pflichtethik sogar »ein kleiner Rest von asketischer Grausam­ keit« manifestiere.103 Die Verdikte von Schiller, Schopenhauer und Nietzsche über die Kantische Pflichtethik setzen fälschlich voraus, dass moralische Handlungen ›aus Pflicht‹ im Sinne Kants prinzipiell im Konflikt mit Neigungen erfolgen müssen. Ignoriert wird dabei, dass moralisches Handeln gemäß Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten auch ›gemäß der Neigung‹ oder ›ohne Neigung‹ erfolgen kann (vgl. AA 4, 397–399). Außerdem ist dem Alternativkonzept Schillers zur Kantischen Pflichtethik entgegenzuhalten, dass gemäß der Praktischen Philoso­ phie Kants entweder das Pflichtprinzip der praktischen Vernunft oder die Neigungen der Triebsphäre das jeweils ausschlaggebende Movens 102 103

Schopenhauer: Kritik der Kantischen Philosophie. Lö I, S. 705. Nietzsche: Morgenröthe. KSA 3, S. 236.

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einer Handlung bilden, also nicht beide zugleich. Dadurch ist im Rahmen der Kantischen Ethik ein Synthesekonstrukt wie Schillers Definition der »Tugend« als »Neigung zu der Pflicht« (FA 8, 366) kategorisch ausgeschlossen. Da Schiller den Moralrigorismus Kants im Rahmen seiner Pflichtethik überschätzte, glaubte er selbst ein Eigenrecht der Neigung reklamieren zu müssen, handelte sich mit seinem Alternativkonzept zur Kantischen Pflichtethik jedoch gravierende systematische Schwie­ rigkeiten ein: Sie ließen ihn – als Konsequenz seines Gegenentwurfs – sogar in einen Moralrigorismus viel größeren Ausmaßes geraten, wie im Vorangegangenen das Kapitel III. bereits gezeigt hat. Hinzu kam noch die Problematik, dass ihm seine Vorbehalte gegen die Kantische Pflichtethik zugleich den Blick auf mehrere Inkohärenzen im eigenen Gegenentwurf verstellten. Außerdem ist zu betonen, dass Kant in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft – ganz entgegen den Suggestionen Schillers, Schopenhauers oder Nietzsches – selbst aus­ drücklich »das fröhliche Herz« empfiehlt: »Eine sklavische Gemüths­ stimmung«, die »ängstlich-gebeugt und niedergeschlagen« wirkt, »kann nie ohne einen verborgenen Haß des Gesetzes statt finden«, während »das fröhliche Herz in Befolgung seiner Pflicht […] ein Zei­ chen der Ächtheit tugendhafter Gesinnung« ist, die dazu führt, dass »das Gute auch lieb gewonnen« wird (AA 6, 24). Diese Feststellung Kants lässt erkennen, dass die Kritik am vermeintlich freudlos-düste­ ren oder kartäuserhaft-asketischen Moralrigorismus der Kantischen Pflichtethik auf einem fundamentalen Missverständnis basiert.104 Man könnte allerdings auf die Idee kommen, Kant sei vielleicht gerade durch die Kritik in Schillers Schrift Über Anmut und Würde für ein mögliches rigoristisches Missverständnis seiner eigenen Pflicht­ ethik sensibilisiert worden und habe deshalb fortan moderatere Aus­ sagen gewählt. – Zwar erschienen Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und seine Kritik der praktischen Vernunft (1788) schon 104 Günther Patzig konstatiert im Zusammenhang mit der Kant-Kritik in Schillers Distichen, Kant meine »nicht, unser Respekt gebühre nur dem, der gleichsam zähne­ knirschend seine Pflicht gegenüber seinen Mitmenschen erfüllt. Worauf es nach Kant allein ankommen kann, ist die Frage, ob die Hilfeleistung […] auch erfolgt wäre, wenn die Neigung nicht bestanden hätte« (Günther Patzig: Der kategorische Imperativ in der Ethik-Diskussion der Gegenwart. In: ders.: Tatsachen, Normen, Sätze. Aufsätze und Vorträge. Stuttgart 1980. S. 155–177, hier S. 169). – Das ist sachlich zutreffend und prägnant formuliert.

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mehrere Jahre vor Schillers Schrift Über Anmut und Würde (1793). Aber immerhin bot Kant die 2. Auflage seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, die er 1793 erstmals publiziert hatte, bereits 1794 die Gelegenheit, auf Schillers Vorbehalte gegen die Pflichtethik mit seiner Replik zu reagieren. Zwar scheint für eine mögliche Hypothese, dass Kant erst durch Schillers Kritik das Risiko eines rigoristischen Missverständnisses seiner Pflichtethik erkannt haben könnte, auf den ersten Blick die Tatsache zu sprechen, dass Kant seine Vorbehalte gegen Schillers Alternativkonzept in seiner Replik so moderat und höflich formuliert und sie zugleich in einen auffällig konzilianten Kontext gestellt hat. – Aber dennoch sollte man einer solchen Hypothese, so naheliegend sie prima vista auch erscheinen mag, kein großes Gewicht beimessen. Denn bei umfassenderer Kant-Lektüre kann man erkennen, dass sich moderate Aussagen Kants im Kontext seiner Pflichtethik schon etliche Jahre vor Schillers Schrift Über Anmut und Würde belegen lassen. So ist Kants Plädoyer für »das fröhliche Herz«, das er in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft als Indiz für die Echtheit »tugendhafter Gesinnung« ansieht (AA 6, 24), zu dieser Zeit in seinem Œuvre kein Novum. Vielmehr hebt Kant das »fröhliche Herz« schon 1788 in seiner Kritik der praktischen Vernunft hervor (AA 5, 115), also fünf Jahre vor der Kant-Kritik in Schillers Schrift Über Anmut und Würde (1793). Mit Nachdruck kritisiert Kant in seiner Kritik der praktischen Vernunft eine vorschnelle Verbindung von »Glückseligkeit mit der Tugend«105, um in diesem Kontext dann auf Epikur und auf die Stoiker106 einzugehen. Hier wendet sich Kant implizit wohl auch 105 Diesbezüglich teilt Schopenhauer übrigens die Position Kants. In seiner Preis­ schrift über die Grundlage der Moral eröffnet er den II. Teil, der das Fundament der Kantischen Ethik kritisiert, mit der nachdrücklichen Würdigung: »Kant hat in der Ethik das große Verdienst, sie von allem Eudaimonismos gereinigt zu haben. Die Ethik der Alten war Eudaimonik« (Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Lö III, S. 642). 106 In seiner Schrift Die Metaphysik der Sitten (1797) konstatiert Kant: »Die wahre Stärke der Tugend ist das Gemüth in Ruhe« (AA 6, 409). »Der Affekt« hingegen »gehört immer zur Sinnlichkeit« (ebd.). Zu Kants Affinität zum stoischen Tugend­ konzept der Seelenstärke und Apatheia (trotz seiner Kritik am antiken Eudaimonis­ mus – auch der Stoiker) vgl. die instruktive Studie von Christoph Horn: Kant und die Stoiker. In: Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. Hrsg. von Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt und Bernhard Zimmermann. Zwei Bände. Berlin / New York 2008.

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gegen weit verbreitete, populäre Vorurteile, die Epikur und die epi­ kureische Philosophie einseitig auf die Lust-Fixierung eines kruden Hedonismus festzulegen versuchen – und dabei ignorieren, dass Epikur selbst ›Eudaimonie‹ keineswegs so einseitig definierte, wie seine Gegner behaupteten. Vielmehr betrachtete Epikur als ›Glück‹ (erheblich moderater) einen Zustand, der durch vernünftiges, edles, gerechtes Verhalten im Rahmen einer selbstgenügsamen, einfachen, schmerzfreien Existenz im Kreise Gleichgesinnter entsteht, zugleich aber auch sinnliche Genüsse in gemäßigter Form sehr wohl mit einschließt.107 – Ganz in diesem Sinne betont Kant in seiner Kritik der praktischen Vernunft (AA 5, 115): »Epikur […] rechnete die uneigennützigste Ausübung des Guten mit zu den Genußarten der innigsten Freude, und die Genügsamkeit und Bändigung der Neigungen, so wie sie immer der strengste Moralphilo­ soph fördern mag, gehörte mit zu seinem Plane eines Vergnügens (er verstand darunter das stets fröhliche Herz); wobei er von den Stoikern vornehmlich nur darin abwich, daß er in diesem Vergnügen den Bewegungsgrund setzte, welches die letztern, und zwar mit Recht, ver­ weigerten.«

Bd. 2: 1081–1103, hier S. 1086–1088. – Schillers Orientierung am stoischen Ethos der Tapferkeit, Seelenstärke und Affektabwehr zeigt z.B. das Seneca-Zitat in seiner Schrift Über das Pathetische: Hier betont Schiller die ›virtus‹ der ›constantia‹, die den »vom Schicksal unabhängige[n] Charakter« auszeichne: »Ein tapferer Geist, im Kampf mit der Widerwärtigkeit, sagt Seneka [sic], ist ein anziehendes Schauspiel selbst für die Götter« (FA 8, 440). 107 Der Gegensatz zwischen epikureischen und stoischen Lehren, der sich – trotz produktiver Interferenzen (etwa bei Seneca) – schon in der Antike ausgebildet hatte, verschärfte sich unter dem Einfluss christlicher Askese und Sinnenfeindlichkeit erheb­ lich und führte zu forcierten Vorurteilen gegen den Epikureismus, als hätte Epikur mit ›Lust‹ eine schrankenlose Genusssucht mit Völlerei und sexuellen Exzessen propa­ giert. (Bereits in der Antike reflektierte übrigens Horaz die gängigen Vorurteile, indem er sich selbstironisch als ›ein Schweinchen aus der Herde Epikurs‹ titulierte.) Ganz entscheidende Motive für die christlichen Ressentiments gegen Epikur lagen aller­ dings darin, dass er religiöse Traditionen wie Jenseitsglauben und Götterfurcht ebenso ablehnte wie die Vorstellung von einer unsterblichen Seele. Vgl. dazu Jochen Schmidt: Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus. In: Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. Hrsg. von Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt und Bernhard Zimmermann. Zwei Bände. Berlin/New York 2008. Bd. 1: S. 3–133, hier S. 26–33.

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Dabei lautet Kants Quintessenz folgendermaßen (AA 5, 116): »Die moralische Gesinnung ist mit einem Bewußtsein der Bestim­ mung des Willens unmittelbar durchs Gesetz nothwendig verbunden. Nun ist das Bewußtsein einer Bestimmung des Begehrungsvermögens immer der Grund eines Wohlgefallens an der Handlung, die dadurch hervorgebracht wird; aber diese Lust, dieses Wohlgefallen an sich selbst, ist nicht der Bestimmungsgrund der Handlung, sondern die Bestimmung des Willens unmittelbar, blos durch die Vernunft, ist der Grund des Gefühls der Lust, und jene bleibt eine reine praktische, nicht ästhetische Bestimmung des Begehrungsvermögens.«

Im näheren Kontext dieser Textpassage warnt Kant sogar nachdrück­ lich davor, »durch unächte Hochpreisungen dieses moralischen Bestimmungs­ grundes als Triebfeder, indem man ihm Gefühle besonderer Freuden als Gründe (die doch nur Folgen sind) unterlegt, die eigentliche, ächte Triebfeder, das Gesetz selbst, [...] herabzusetzen« (AA 5, 117).

Entscheidend ist hier die von Kant betonte Differenz zwischen den eigentlichen Motiven und den bloßen Folgen der jeweiligen Handlung: Wäre nämlich die Intention auf »das fröhliche Herz« die eigentliche Triebfeder moralischen Handelns, so verlöre es durch diesen egozen­ trischen Zweck zugleich den Status der Moralität und wäre stattdessen bloß noch legal – ähnlich wie das Verhalten eines Kaufmanns, der Ehrlichkeit primär aus Eigeninteresse praktiziert, weil er dadurch die Treue seiner Kunden fördern will, um von deren Kauflust auch künftig profitieren zu können. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nutzt Kant den Fall des ehrlichen Kaufmanns, um Moralität exemplarisch von bloßer Legalität abzugrenzen (AA 4, 397). Indem Kant wiederholt klar zwischen Handlungsmotiven und Handlungsfolgen differenziert, betont er einen Unterschied von ele­ mentarer Bedeutung. Und seine ethische Standortbestimmung, wie sie aus den oben zitierten Aussagen der Kritik der praktischen Vernunft hervorgeht, eignet sich sowohl zur Abgrenzung von eudaimonisti­ schen Positionen in der antiken Philosophie, die Kant zu Recht kritisiert, als auch zur Abwehr von Schillers Synthesekonzept der »Tugend« als einer »Neigung zu der Pflicht« (FA 8, 366). Interessanterweise macht schon Kants Grundlegung zur Meta­ physik der Sitten (1785), die acht Jahre vor der Kant-Kritik in Schil­ lers Schrift Über Anmut und Würde (1793) erschien, evident, dass Schillers späterer Rigorismus-Vorwurf im Hinblick auf die Kantische

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Pflichtethik nicht berechtigt ist. Denn bereits in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten bezieht Kant die Gefühlssphäre durchaus in seine moralphilosophischen Reflexionen mit ein, indem er die Lust zur Pflichterfüllung folgendermaßen auf ein Vernunftvermögen zurückführt (AA 4, 460): »Um das zu wollen, wozu die Vernunft allein dem sinnlich-afficirten vernünftigen Wesen das Sollen vorschreibt, dazu gehört freilich ein Vermögen der Vernunft, ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht einzuflößen, mithin eine Causalität derselben, die Sinnlichkeit ihren Principien gemäß zu bestimmen.«

Und in der Kritik der praktischen Vernunft (1788), die fünf Jahre vor Schillers Schrift Über Anmut und Würde erschien, konstatiert Kant, dass »die öftere Ausübung« der Willensbestimmung gemäß dem Moralgesetz »subjectiv zuletzt ein Gefühl der Zufriedenheit mit sich selbst wirken könne«, die »allein das moralische Gefühl genannt zu werden verdient«; dieses »moralische Gefühl« zu »cultiviren«, gehört laut Kant auch »selbst zur Pflicht« (AA 5, 38). Auch diese markanten Aussagen Kants scheinen Schiller entgangen zu sein. Mit den Prämissen der Pflichtethik sind die zuletzt zitierten Aussagen aus Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA 4, 460) und seiner Kritik der praktischen Vernunft (AA 5, 38) übrigens problemlos kompatibel. Denn hier steht ja nicht die Motivation einer Handlung zur Debatte, sondern nur deren Auswirkung auf das Selbstverhältnis des Subjekts, auf seine Mentalität und Befindlichkeit. Einige Jahre nach dem Erscheinen von Schillers Schrift Über Anmut und Würde betont Kant in seiner Abhandlung Die Metaphysik der Sitten (1797), »als ein moralisches Wesen« habe »jeder Mensch« ein »moralisches Gefühl« bereits »ursprünglich in sich«; und »alles Bewußtsein der Verbindlichkeit legt dieses Gefühl zum Grunde, um sich der Nöthigung, die im Pflichtbegriffe liegt, bewußt zu werden« (AA 6, 399). Nach Kants Überzeugung gilt es, dieses moralische Gefühl »zu cultiviren und selbst durch die Bewunderung seines uner­ forschlichen Ursprungs zu verstärken«, indem man zeigt, »wie es abgesondert von allem pathologischen Reize und in seiner Reinigkeit, durch bloße Vernunftvorstellung, eben am stärksten erregt wird« (AA 6, 399–400). Vom Gestus eines unerbittlich harten Moralrigorismus, der emo­ tionale Dispositionen des Menschen geradezu strategisch missachtet, sind solche Perspektiven Kants weit entfernt. Entsprechendes gilt für

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»das fröhliche Herz«, das Kant in der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft sogar als Signum der Echtheit »tugend­ hafter Gesinnung« exponiert (AA 6, 24) und nachdrücklich empfiehlt. Bereits fünf Jahre vor seiner Religionsschrift betont Kant in der Kritik der praktischen Vernunft »das stets fröhliche Herz« (AA 5, 115). Völlig verfehlt ist also das – von Kant mit Nachdruck zurückge­ wiesene – Vorurteil, mit seiner Pflichtethik sei »eine kartäuserartige Gemüthsstimmung« (AA 6, 23) oder gar eine »Mönchsascetik« mit »Selbstpeinigung und Fleischeskreuzigung« verbunden (AA 6, 485). – Gleichwohl tendieren Schiller, Schopenhauer und Nietzsche zu solchen Unterstellungen: Schiller sieht in Kants »Moralphilosophie« die »Idee der Pflicht mit einer Härte vorgetragen«, die dazu verführen könnte, »auf dem Wege einer finstern und mönchischen Asketik die moralische Vollkommenheit zu suchen« (FA 8, 367). Schopenhauer glaubt mit dem Diktum, die moralische »Tat muß ungern und mit Selbstzwang geschehn«108, die Grundtendenz der Kantischen Pflicht­ ethik zu erfassen, und Nietzsche attestiert ihr einen kleinen »Rest von asketischer Grausamkeit.«109 Mit guten Gründen bezieht Kant noch in nachgelassenen Refle­ xionen implizit die Gegenposition zu Synthesekonzepten wie dem einer »Neigung zu der Pflicht«, die Schiller in seiner Schrift Über Anmut und Würde apodiktisch zum Charakteristikum von »Tugend« schlechthin erklärt (FA 8, 366). So hält es Kant zwar für möglich, »daß wir pflichtmäßige Handlungen mit Lust tun«, aber nicht, »daß wir sie mit Lust aus Pflicht tun, welches sich widerspricht, folglich auch nicht als zufolge einer Triebfeder der Sinnenlust, die den Mangel des Gehorsams gegen das Pflichtgesetz ergänzt«.110 Die Prämisse dieser Aussage bildet für Kant die Unmöglich­ keit einer Doppelmotivation: Daher können moralische Handlungen ›aus Pflicht‹ zwar ›gemäß der Neigung‹ erfolgen, keineswegs aber gleichzeitig ›aus Pflicht‹ und ›aus Neigung‹. Und Handlungen ›aus Neigung‹ geschehen bestenfalls ›gemäß der Pflicht‹: nämlich im Fall legalen Handelns. – Wenn Kant selbst im Zusammenhang mit mora­ lischem Handeln über die »Lust« des handelnden Subjekts und dessen Schopenhauer: Kritik der Kantischen Philosophie. Lö I, S. 704–705. Nietzsche: Morgenröthe. KSA 3, S. 236. 110 Lose Blätter aus Kants Nachlaß 1889–1895, C 1 (zitiert nach Rudolf Eisler: Kant Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftli­ chem Nachlaß. Hildesheim/Zürich/New York 1984. 9. unveränderter Nachdruck der Ausgabe Berlin 1930. S. 417, VII). 108

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»Wohlgefallen an sich selbst« reflektiert, dann ist damit bloß eine Folge gemeint, aber »nicht der Bestimmungsgrund der Handlung« (AA 5, 116). Trotz der im Ton zunächst konziliant wirkenden Replik auf Schil­ lers Kritik, die Kant 1794 nachträglich in die 2. Auflage seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft integriert hat, bleiben die grundlegenden Differenzen zwischen der Kantischen Pflichtethik und der Moralästhetik Schillers uneingeschränkt beste­ hen.

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VI. Die Renaissance der antiken ›Kalokagathia‹ in moralästhetischen Konzepten von Schiller, Hölderlin, Shaftesbury und in Hölderlins Roman Hyperion

Grundtendenzen aus Schillers Schrift Über Anmut und Würde (1793) wirken auch in Kallias, oder über die Schönheit (1793) und in den zwei Jahre später erschienenen Briefen Über die ästhetische Erzie­ hung des Menschen (1795) weiter111, in denen Schiller seine Reflexio­ nen zugleich kulturanthropologisch grundiert: Hier weitet sich der gedankliche Horizont durch die Vermittlung individueller und gesell­ schaftlicher Dimensionen, da Schiller in diesen Briefen Überlegungen zur Kulturgeschichte mit ästhetischen, moralischen und politischen Aspekten verbindet, um sie auf ein utopisches Bildungsideal hin zu perspektivieren. Die Auffassung, die ›schöne Seele‹ handle aufgrund ihrer habitu­ ellen »Neigung zu der Pflicht« (FA 8, 366) »moralisch schön« (FA 8, 378), die Schiller in seiner Schrift Über Anmut und Würde vertritt, begründet er in Kallias, oder über die Schönheit folgendermaßen: »Also wäre eine moralische Handlung alsdann erst eine schöne Hand­ lung, wenn sie aussieht wie eine, sich von selbst ergebende, Wirkung der Natur« (FA 8, 295–296) – als agiere dabei der »Instinkt« (FA 8, 295).112 Und Schillers Conclusio lautet in diesem Zusammenhang so: 111 Punktuell thematisiert Schiller ›Anmut‹ und ›Würde‹ auch in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen: So attestiert er der »Juno Ludovisi«, von der übrigens Goethe in Weimar einen Gipsabdruck besaß, aus ihrem »herrlichen Antlitz« spreche »weder Anmut noch […] Würde«, sondern »beides zugleich« (FA 8, 615). Und sein Konzept des ›ästhetischen Staates‹ sieht Schiller in einem Menschen realisiert, der es nicht nötig hat, »seine Würde wegzuwerfen, um Anmut zu zeigen« (FA 8, 676). – Die systematischen Probleme, die mit Schillers Versuch verbunden sind, Anmut und Würde zu synthetisieren, wurden bereits im Kapitel IV. analysiert. 112 Jörg Robert scheint diese Sicht tendenziell positiv zu bewerten, wenn er schreibt: »In Ueber Anmut und Würde greift Schiller Kant als Vertreter einer ›finstern und mönchischen Ascetik‹ an, die jede Hoffnung auf eine naturhaft-instinktive Moralität

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»Mit einem Worte: eine freie Handlung ist eine schöne Handlung wenn die Autonomie des Gemüts und Autonomie in der Erscheinung koinzidieren. / Aus diesem Grunde ist das Maximum der Charakter­ vollkommenheit eines Menschen moralische Schönheit, denn sie tritt nur alsdann ein, wenn ihm die Pflicht zur Natur geworden ist« (FA 8, 296).

In der Skizze Über das Gesetz der Freiheit, die Hölderlin vermutlich spätestens im Herbst 1794 verfasst hat113, findet sich übrigens eine interessante Formulierung, die eine Affinität zu Schillers Aussage über die Instinktähnlichkeit einer ›schönen Handlung‹ aufweist: Im Spannungsfeld von »Natur« und »Freiheit« reflektiert Hölderlin hier nämlich über »eine natürliche Unschuld, man möchte sagen eine Moralität des Instinkts« (KA 2, 496). Angesichts dieser Einschätzung erhält ein Brief, den Hölderlin »etwa Mitte April 1794«114 an seinen Freund Neuffer richtete, eine symptomatische Aussagekraft. Denn hier reagiert Hölderlin geradezu emphatisch auf Schillers Schrift Über Anmut und Würde (KA 3, 132–133): »Meine letzte Lektüre ist Schillers Abhandlung über Anmut und Würde gewesen. Ich erinnere mich nicht etwas gelesen zu haben, wo das beste aus dem Gedankenreiche, und dem Gebiete der Empfindung und Fantasie so in Eines verschmolzen gewesen wäre. Wenn nur dieser hohe Geist noch einige Dezenne unter uns bliebe!«

Hölderlins Sympathie für die Synthese-Versuche Schillers könnte durchaus auch dessen Konzept einer »Neigung zu der Pflicht« (FA 8, 366) mit einschließen und damit zugleich die Vorstellung von »moralische[r] Schönheit« bei den Handlungen dessen, dem »die ausschloss« (Jörg Robert: Vor der Klassik. Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption. Berlin/Boston 2011. S. 423). 113 So Schmidt in seinem Hölderlin-Kommentar: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden [=KA]. Hrsg. von Jochen Schmidt. Bd. 2: Hyperion, Empedokles, Aufsätze, Übersetzungen. Hrsg. von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Katharina Grätz. Frankfurt a.M. 1994 [=KA 2]. Im Folgenden werden Belege aus diesem Hölderlin-Band mit der vorangestellten Sigle KA 2 zitiert. – KA 2, 1227. 114 Diese hypothetische Datierung findet sich ebenfalls in Schmidts Hölderlin-Kom­ mentar: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden [=KA]. Hrsg. von Jochen Schmidt. Bd. 3: Die Briefe, Briefe an Hölderlin, Dokumente. Hrsg. von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Wolfgang Behschnitt. Frankfurt a.M. 1992 [=KA 3]. Im Folgenden werden Belege aus diesem Hölderlin-Band mit der vorangestellten Sigle KA 3 zitiert. – KA 3, 809.

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Pflicht zur Natur geworden ist« (FA 8, 296). – Obwohl Hölderlins Diktion »Moralität des Instinkts« (KA 2, 496) zunächst diese Hypo­ these nahelegt, scheint er sich doch zumindest punktuell eher der Position der Kantischen Pflichtethik als der Moralästhetik Schillers zu nähern, wenn er seine eigene Formulierung »Moralität des Instinkts« (KA 2, 496) kurz darauf implizit mit der Feststellung revidiert: »Die Moralität kann […] niemals der Natur anvertraut werden«; denn sonst wäre »die Legalität, die durch bloße Natur hervorgebracht werden könnte«, etwas »sehr unsicheres« (KA 2, 497). Im bisherigen Argumentationsgang habe ich bereits gezeigt, auf welche Weise Schiller den unbedingten Geltungsanspruch des Pflichtprinzips gemäß der Kantischen Ethik zu relativieren versucht, indem er selbst die ›schöne Handlung‹ zwar auf einen Akt der Freiheit zurückführt, sie aber zugleich der Natursphäre zuordnet, so dass die Neigungen der Sinnlichkeit erheblich aufgewertet werden. So erklärt Schiller in seiner Schrift Über Anmut und Würde dezidiert: »Erst alsdann, wenn sie aus seiner gesamten Menschheit als die verei­ nigte Wirkung beider Prinzipien, hervorquillt, wenn sie ihm zur Natur geworden ist, ist seine sittliche Denkart geborgen, denn so lange der sittliche Geist noch Gewalt anwendet, so muß der Naturtrieb ihm noch Macht entgegenzusetzen haben. Der bloß niedergeworfene Feind kann wieder aufstehen, aber der versöhnte ist wahrhaft überwunden« (FA 8, 367).

Allerdings unterläuft Schiller mit seinem Konzept – wie im Kapitel III. gezeigt – unversehens eine Radikalisierung des moralischen Anspruchs. Entgegen dem (in der Forschungsliteratur so weit ver­ breiteten) Eindruck, er propagiere im Vergleich mit der Kantischen Pflichtethik ein moderateres, liberaleres und daher plausibleres Kon­ zept, verschärft Schiller den Anspruch stattdessen erheblich, indem er genuine Moralität und sogar »Charaktervollkommenheit« (FA 8, 296) allein durch das Ethos der ›schönen Seele‹ gewährleistet sieht, bei der das Handeln »aus Neigung zu der Pflicht« hervorgehe (FA 8, 366) und sich dabei bereits zum verlässlichen Habitus stabilisiert habe. Wie der von ihm sehr bewunderte Schiller begibt sich Hölderlin ebenfalls ins Terrain der philosophischen Ästhetik. Dabei reflektiert er auch über die Relation zwischen Kant und Schiller, wenn er am 10. Oktober 1794 in einem Brief an seinen Freund Neuffer sinniert, er könne ihm vielleicht

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»einen Aufsatz über die ästhetischen Ideen schicken; weil er als ein Kommentar über den Phädrus des Plato gelten kann […]. Im Grunde soll er eine Analyse des Schönen und Erhabenen enthalten, nach welcher die Kantische vereinfacht, und von der andern Seite vielseitiger wird, wie es schon Schiller zum Teil in s. Schrift über Anmut und Würde getan hat, der aber doch auch einen Schritt weniger über die Kantische Grenzlinie gewagt hat, als er nach meiner Meinung hätte wagen sollen. Lächle nicht! Ich kann irren; aber ich habe geprüft, und lange und mit Anstrengung geprüft« (KA 3, 157).

Dieser Brief ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich – nicht nur, weil er signalisiert, dass auch Hölderlin mit akribischem Engagement über Aspekte der Ästhetik nachdenkt. Denn erstaunlicherweise gibt dieser Brief zugleich zu erkennen, dass Hölderlin den Anspruch Schillers auf eine Transzendierung der Kantischen Position sogar noch durch größere Radikalität überbieten will. Darüber hinaus stellt Hölderlin einen Bezug zu Platons Schrift Phaidros her: Das erscheint insofern signifikant, als er mit der Nennung Platons hier möglicher­ weise implizit bereits Perspektiven auf das antike Konzept der ›Kalo­ kagathia‹ nahelegt, wenngleich von »ästhetischen Ideen« (KA 3, 157) in Platons Phaidros vorzugsweise im Kontext der Eros-Thematik die Rede ist. Schiller und (in noch höherem Maße) Hölderlin sind durch die facettenreiche Wirkungsgeschichte der ›Kalokagathia‹ inspiriert, also durch das bereits in der Antike entwickelte Konzept, das Schönes und Gutes als idealtypische Einheit versteht. Vor dem Hintergrund dieser Tradition, die sich im 18. Jahrhundert kulturhistorisch als besonders wirkungsmächtig erwies und vor allem in Deutschland zahlreiche Autoren beeinflusste, wird auch das Spannungsverhältnis zwischen Schiller und Kant auf seine ideengeschichtlichen Wurzeln hin transparent: Offenkundig ist Schillers Moralästhetik, die auf ein synthetisches Harmonie-Konzept zielt, um der sinnlich-moralischen Doppelnatur des Menschen Rechnung zu tragen, vom antiken Ideal der ›Kalokagathia‹ geprägt. Und in der Einheit von Ethik und Ästhetik, die bei Schiller im Ideal der »schönen Seele« kulminiert, soll auch der Moralität eine sinnlich-ästhetische Dimension zukommen. Allerdings ergeben sich dadurch spezifische Spannungsverhält­ nisse für den argumentativen Duktus der Moralästhetik in Schillers Schriften. Und diese haben – wie bereits gezeigt – gravierende systematische Probleme zur Folge: Denn Schiller entfernt sich mit seiner Utopie der »schönen Seele« genau in dem Maße von der

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Kantischen Pflichtethik, wie er seine Moralästhetik der antiken ›Kalo­ kagathia‹ annähert. Bekanntlich war Schiller in vielfältiger Hinsicht durch die Antike geprägt und trug durch seine eigenen Werke auch selbst zur AntikeRezeption in späteren Epochen bei.115 Schon Schillers lyrisches Früh­ werk lässt eine intensive Rezeption der Antike erkennen: in alle­ gorischen Figurationen und mythologischen Vorstellungen ebenso wie im Rückgriff auf antike Versmaße. Zudem wirkten Schillers Kenntnis der griechischen Tragiker und der Poetik des Aristoteles in seine Dramen hinein. Auf Plutarch und auf die Geschichte der römischen Antike nahm Schiller in historischen Schriften Bezug. Bereits seit seiner Jugend war er durch die Lektüre antiker Auto­ ren und durch Harmonie-Ideale geprägt, zu denen im Bereich der Kunst auch die Besichtigung antiker Skulpturen im Mannheimer Antikensaal beitrug. Darüber hinaus rekurrieren Balladen Schillers (wie Der Ring des Polykrates und Die Kraniche des Ibykus) auf antike Stoffe. Charakteristische Gegensätze zwischen Antike und Moderne reflektiert Schiller unter dem Einfluss der ›Querelle des anciens et des modernes‹ in seinen ästhetischen Schriften, etwa im Essay Über naive und sentimentalische Dichtung, aber auch im Rahmen seines lyrischen Œuvres: etwa in Idyllen (wie Die Götter Griechenlandes) oder in Elegien (wie Nänie).116 Und Schiller klassisches Drama Maria Stuart ist ebenfalls maßgeblich von antiken Traditionen geprägt.117 115 Wilhelm von Humboldt betont: Schiller »hat den Sinn des Alterthums in sich aufgenommen« und »bewegt sich darin mit Freiheit«, so dass der »antike Geist« auch in Schillers Dichtungen präsent ist (Wilhelm von Humboldt: Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung [1830]. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Bd. 2: Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. Die Vasken. 4. Aufl. Stuttgart 1986. S. 357–394, hier S. 364). – Viel später konstatiert Volker Riedel: »Entscheidenden Anteil an der Entwicklung einer neuen Kultur und eines neuen Antikebildes […] hatte Friedrich Schiller« (Volker Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar 2000. S. 178). 116 Zum Spektrum der Aspekte von Schillers Antike-Rezeption vgl. Volker Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur (ebd.), S. 178–187. Riedel bietet einen konzentrierten Überblick zu Schillers Antike-Rezeption in verschiedenen Schaffens­ phasen (mit zahlreichen Hinweise auf Werkkontexte). 117 Schon die strenge Tektonik von Schillers paradigmatisch klassischem Drama Maria Stuart ist von der griechischen Tragödie geprägt. Schiller selbst sprach explizit von einer »Euripideischen Methode« (Schillers Werke. Nationalausgabe Bd. 30, S. 45). – Zum essentiellen Einfluss der stoischen Philosophie auf die Dimension des Tragisch-Erhabenen in Schillers Drama Maria Stuart vgl. den Nachweis durch Barbara

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Um zu zeigen, inwiefern Schillers Moralästhetik und sein Ideal der ›schönen Seele‹ den Traditionen der antikischen ›Kalokagathia‹118 folgen und sich damit zugleich von der Kantischen Pflichtethik ent­ fernen, bedarf es nun zunächst einer komprimierten Darstellung dieser aus der antiken Philosophie stammenden Denkrichtungen und Vermittlungskonzepte. Bereits seit Homer gilt die auf dem griechischen ›kalos kai agathos‹ (καλὸς καὶ ἀγαθός: schön und gut) basierende ›Kalokagathia‹ (καλοκἀγαθία) als Prädikat des Guten und Edlen, Normgemäßen und Wertvollen. Für Platon hat die durch das Ideal der ›Kalokagathia‹ geprägte Tugend eine zentrale Bedeutung, wenn er in seiner Schrift Politeia über die Einheit des ›Guten und Schönen‹ reflektiert.119 Die ästhetischen Dimensionen des ›Kalokaga­ thia‹-Konzepts schließen Prinzipien der Symmetrie, Proportion und Harmonie mit ein und sind zugleich mit der ethischen Dimension vermittelt, und zwar im Ideal ethisch-ästhetischer Vollkommenheit. Durch die spätere Transformation des ›Kalokagathia‹-Begriffs in einen primär ästhetisch-poetologisch ausgerichteten Terminus traten seine ethisch-politischen Aspekte zusehends in den Hintergrund. Von der Antike aus prolongierte sich das ästhetisch-ethische Konzept der ›Kalokagathia‹ in die Neuzeit und fand dabei verschie­ dentlich auch in populäre Moral-Vorstellungen Eingang. Durch die Rezeption Shaftesburys, der die ›Kalokagathia‹ im Anschluss an antike Traditionen zu restituieren versuchte, gewannen das ›Kaloka­ gathia‹-Konzept und die mit ihm verbundene Idee der ›schönen Seele‹ großen Einfluss auf kulturelle Diskurse der Epoche. Die Vorstellung sittlicher Schönheit wurde im 18. Jahrhundert im Zusammenhang mit Neymeyr: Pathos und Ataraxie. Zum stoischen Ethos in Schillers ästhetischen Schrif­ ten und in seinem Drama Maria Stuart. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesell­ schaft 52 (2008), S. 262–288. 118 Mit der knappen Skizze zu Charakteristika der ›Kalokagathia‹ orientiere ich mich im Folgenden am ›Kalokagathia‹-Artikel von R. Bubner / W. Grosse: Kalokagathia. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 4. Basel 1976. Sp. 681–684. 119 Vgl. Platon: Politeia 505b: Hier wird im Abschnitt zur ›Idee des Guten‹ erklärt, es hülfe nichts, »alles zu verstehen ohne das Gute, Schöne«. Und wenig später findet sich in Platons Politeia die Überzeugung, »daß Gerechtes und Schönes […] auch gut ist« (Politeia 506a). Im Zusammenhang mit Vorstellungen von »Harmonie« wird dann über »die Auffindung des Guten und Schönen« reflektiert (Politeia 531c). – Als Textbasis fungiert die folgende Edition: Platon: Sämtliche Werke. In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung hrsg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck. Bd. 3: Phaidon, Politeia. Hamburg 1958.

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dem Anspruch auf eine harmonische Entfaltung angeborener Anla­ gen nicht allein auf den Bildungsprozess des Individuums bezogen, sondern galt darüber hinaus auch als wichtiges Gestaltungsprinzip für die Gesellschaft, und zwar durch das Ideal ethisch-ästhetischer Vollkommenheit, das sich am griechischen Erziehungsideal der ›Kalo­ kagathia‹ orientierte. In der umfangreichen Wirkungsgeschichte der ›Kalokagathia‹ und der Idee der ›schönen Seele‹120 sind im 18. Jahrhundert zahlreiche Autoren hervorgetreten, etwa Wieland, Rousseau, Herder, Goethe, Schiller und Hölderlin. Bekanntlich rezipierte Schiller noch vor seiner Kant-Lektüre frühere ideengeschichtliche Traditionen der Anthropo­ logie, Ethik und Ästhetik121, darunter auch die englische moral-sensePhilosophie. Im weiten Feld der vorkantischen Moralphilosophie und Ästhetik haben das Ethos der ›Kalokagathia‹ und das Ideal der ›schönen Seele‹ eine besondere Bedeutung. Übrigens war die ›schöne Seele‹ in zeitgenössischen Diskursen schon längst zum Modebegriff avanciert, als Schiller in der Schrift Über Anmut und Würde dann seine Charakterisierung der ›schönen Seele‹ durch »Neigung zu der Pflicht« formulierte (FA 8, 366) – als vermeintliche Alternative zur Kantischen Pflichtethik. 120 Zur kulturellen Tradition der ›schönen Seele‹ vgl. die differenzierte Darstellung von Marie Wokalek: Die schöne Seele als Denkfigur. Zur Semantik von Gewissen und Geschmack bei Rousseau, Wieland, Schiller, Goethe. Göttingen 2011. – Wokaleks Erkenntnisinteresse betrifft aber nicht die Funktion von Schillers Moralästhetik als Kritik an Kants Pflichtethik. Vielmehr scheint sie Schillers Vorbehalte sogar zu teilen, wenn sie erklärt: Laut Schiller »überredet« die »schöne Seele« die »sinnliche Empfin­ dung« dazu, »die Pflichthandlung zu wollen, anstatt durch ›Erschütterung‹ […] wie in Kants Vernunftgesetz zur Pflicht zu zwingen« (ebd., S. 238). Wokalek meint: »In Schillers Augen ist Kants kategorischer Imperativ ein Verrat an der gemischten Natur des Menschen« (S. 234). Und sie fährt fort: »Gegenüber der imperativen Form, die Schiller an Kants Pflichtethik kritisiert, hat das rhetorische Verfahren des Vor-AugenStellens des anthropologischen Ideals ›schöne Seele‹ vielmehr den Vorteil, daß es die Mittel zur Beseitigung des anthropologischen Mangels auf Seiten des Rezipienten gleich mitliefert. Die rhetorische Evidenz der schönen Seele hat eine deskriptive, eine präskriptive und eine bewegende Funktion. Die schöne Seele stellt das Ideal des sitt­ lichen Charakters unmittelbar einleuchtend vor Augen« (S. 235). Auch diese Ein­ schätzungen erwecken den Eindruck, dass Wokalek tendenziell Schillers Kant-Kritik teilt. 121 Vgl. Carsten Zelle: Von der Ästhetik des Geschmacks zur Ästhetik des Schönen. In: Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760–1820. Epoche im Überblick. Hrsg. von Horst Albert Glaser und György M. Vajda. Amsterdam/Philadelphia 2001. S. 371–397. – Zelle hält den Fragment-Charakter von Schillers Schrift Kallias, oder über die Schönheit für ein Indiz des Scheiterns (vgl. ebd., S. 374).

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Für die Vermittlungskonzepte, die im 18. Jahrhundert auf harmo­ nische Synthesen ethischer und ästhetischer Dimensionen zielten, hatten die Impulse, die von Shaftesburys Moralphilosophie ausgin­ gen, große Bedeutung. Auch Schillers Begriff der ›Anmut‹ ist durch Konzepte von Shaftesbury beeinflusst122, dessen Schriften Schiller durch Wieland kennenlernte.123 – Und nur wenige Jahre, nachdem Schiller in seiner Schrift Über Anmut und Würde (1793) sein Konzept der ›schönen Seele‹ formuliert hatte, trug das sechste Buch von Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) den Titel »Bekenntnisse einer schönen Seele«, der mithin ebenfalls diesen Modebegriff der damaligen Zeit exponiert. In der facettenreichen Rezeptionsgeschichte der ›Kalokagathia‹ kommt Shaftesbury (1671–1713) ein hoher Stellenwert zu. Denn Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury (so sein komplet­ ter Name), gilt als bedeutender Repräsentant jener Denkrichtung, die Schönes und Gutes amalgamieren wollte. Auf der Suche nach den Fundamenten von Ethik und Ästhetik setzte der von liberalen Kon­ zepten der frühen Aufklärung angeregte, humanistischen Prinzipien folgende und daher kritisch auf religiösen Dogmatismus reagierende Shaftesbury voraus, dass eine harmonische Entfaltung individueller Anlagen und sozialer Systeme durch den angeborenen ›moral sense‹ möglich sei. Diese Auffassung bestimmt auch Shaftesburys dreibän­ diges Hauptwerk Characteristicks [sic] of Men, Manners, Opinions, Times (1711).

Wilkinson und Willoughby befürworten den (aus der Kritik an Kants Pflichtethik resultierenden) Versuch Schillers, »Kants Freiheit des Geistes«, die (wie sie meinen) »nur durch Selbstverleugnung erreicht werden kann, mit Shaftesburys Freiheit der ganzen Psyche in Einklang zu bringen«; und sie halten diese Freiheit allein dann für erreichbar, »wenn Pflicht mit Neigung glücklich zusammenfällt« – also im Sinne von Schillers Konzept der ›Anmut‹ (Elizabeth M. Wilkinson/L.A. Willoughby: Schillers Ästhetische Erziehung des Menschen. Eine Einführung. München 1977. S. 32). 123 Das betont Diana Schilling: Über Anmut und Würde (1793). In: Schiller-Hand­ buch: Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Matthias Luserke-Jaqui. Stuttgart/Weimar 2011. S. 388–398, hier S. 391, 392. – Schilling weist übrigens auch auf persönlich motivierte Vorbehalte Goethes gegen Schillers Schrift Über Anmut und Würde hin: »Gewiße [sic] harte Stellen« habe Goethe hier sogar negativ auf sich selbst bezogen und damals (vor seiner Freundschaft mit Schiller) noch »die ungeheure Kluft zwischen unsern Denkweisen« hervorgehoben (zitiert nach Schilling: ebd., S. 397). 122

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Shaftesbury erblickt im Streben nach Moralität und Schönheit, die er als essentielle Einheit betrachtet124, ein Spezifikum des Men­ schen und setzt daher eine gemeinsame Wurzel von Ethik und Ästhe­ tik als Fundament künstlerischer Produktion und sogar als Basis der Weltordnung voraus. Sein erstes Werk An Inquiry concerning Virtue, or Merit (1698) bietet eine ethische Untersuchung, die Affekte, Tugend und Bedingungen unmoralischen Verhaltens thematisiert und dabei unabhängig von religiösen Normen das objektiv Gute in den Fokus rückt.125 In seinem späteren Werk The Moralists (1709), das als philosophische Diskussion in Briefform gestaltet ist, reflektiert Shaftesbury den Naturstatus des Menschen als eines ästhetisch-ethi­ schen Wesens, das sich durch Humanität in einer als kohärent und zweckmäßig gedachten Welt sozial zu bewähren vermag. Shaftesburys Konzept des ›moral sense‹ geht vom empirischen Phänomen der Sinneswahrnehmung aus und setzt dabei eine funda­ mentale Einheit von Ethik und Ästhetik voraus: Gutes wie Schönes werde intuitiv erfasst und könne den Menschen zudem auf analoge Weise affektiv berühren und faszinieren. Die genuin ästhetische Kategorie des ›Schönen‹ erscheint bei Shaftesbury im Ideal ›morali­ scher Schönheit‹ mithin zugleich ethisch transformiert.126 Sein Syn­ thesekonzept begründet Shaftesbury damit, dass eine harmonische Ordnung des Ganzen, die in stimmigem Einklang alle Komponenten zusammenwirken lasse, nicht nur für Natur und Kunst, sondern auch für Ethik und Ästhetik maßgeblich sei: Sie integriere das Indivi­ duum in die Einheit eines übergeordneten Kosmos, der Natur, Kunst und Moral harmonisch vermittle. Als Spiegel der naturgemäßen Ordnung, die eine universelle Schönheit aufweise, könne ästhetische Produktivität auch ohne normative Vorgaben zu moralischer Bildung Zur Relevanz der Vermittlung von Ethik und Ästhetik in den Konzepten von Shaftesbury vgl. aus der neueren Forschung: Barbara Schmidt-Haberkamp: Die Kunst der Kritik. Zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik bei Shaftesbury. München 2000. Angelica Baum: Selbstgefühl und reflektierte Neigung. Ästhetik und Ethik bei Shaftesbury. Stuttgart/Bad Cannstatt 2001. 125 Vgl. Lawrence E. Klein: Shaftesbury and the culture of politeness. Cambridge 1994. S. 48–59. 126 Zu Shaftesburys Konzepten vgl. ausführlicher Friedrich A. Uehlein: Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury: Lehre. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Helmut Holzhey und Vilem Mudroch. Bd. 1. Basel 2004. S. 62–84. Vgl. auch Michael B. Gill: The British Moralists on Human Nature and the Birth of Secular Ethics. Cambridge 2006. S. 109– 112. 124

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und Kultivierung des Gemüts beitragen und dem freien Individuum dadurch zu einem gelingenden Leben verhelfen.127 Im Hinblick auf die antike Provenienz von Shaftesburys Syn­ these-Konzepten ist es bezeichnend, dass er die Kunst der griechi­ schen Antike und der Renaissance als kulturelle Höhepunkte betrach­ tet, und zwar aufgrund einer idealen Vermittlung von moralischem Ethos und ästhetischer Produktivität. – Laut Shaftesbury fördert eine von Vorurteilen befreite autonome Urteilskraft den ästhetischen Geschmack wie den ›moral taste‹, den er – über subjektive Präferen­ zen hinaus – auch auf objektive Schönheitswerte bezogen sieht. Wer kollektive Vorurteile überwinde und theoretische Reflexion mit ästhetischer Geschmacksbildung verbinde, könne zugleich jene höhere Schönheit würdigen, die der Tugend inhärent sei.128 Insofern setzt Shaftesbury einen essentiellen Zusammenhang von Ethik und Ästhetik voraus, den er zugleich mit dem Prinzip der Autonomie und dem Harmonie-Ideal zusammenzudenken sucht. In der vorkantischen Tradition der englischen Moralphilosophie propagiert nach dem Earl of Shaftesbury auch Francis Hutcheson (1694–1746) eine Philosophie des ›moral sense‹, den er analog zum Schönheitssinn gleichfalls für eine angeborene Naturanlage hält, aber eher dem Gemüt des Menschen als seiner Vernunft zuordnet. Allerdings teilt Hutcheson nicht die aufklärerische Religionsskepsis Shaftesburys.129 Laut Hutcheson empfindet der Mensch Tugend und Laster durch seinen moralischen Sinn (als einen angeborenen ›inne­ ren Sinn‹), der diesbezüglich zugleich Lust oder Schmerz evoziere. Mit diesem Konzept antizipierte Hutcheson, der übrigens auch David Hume und Adam Smith beeinflusste, bereits Tendenzen des späte­ ren Utilitarismus. Wie bedeutsam die ›Ideen‹ des ›Schönen‹ und der ›Tugend‹ – im Anschluss an Shaftesbury – auch für Hutchesons Reflexionen waren, zeigt schon der Titel seiner Schrift An Inquiry into the Origin of Our Ideas of Beauty and Virtue (1725). Vor seinem Hauptwerk A System of Moral Philosophy, das 1755 postum publiziert wurde, entfaltete Vgl. dazu Fritz-Peter Hager: Aufklärung, Platonismus und Bildung bei Shaftes­ bury. Bern u.a. 1993. S. 75–77. 128 Vgl. Wolfgang H. Schrader: Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklä­ rung. Hamburg 1984. S. 32–35. Vgl. auch Isabel Rivers: Reason, Grace, and Senti­ ment. Bd. 2. Cambridge 2000. S. 143–147. 129 Vgl. dazu Henning Jensen: Motivation and the Moral Sense in Francis Hutcheson’s Ethical Theory. Den Haag 1971. S. 35–39. 127

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Hutcheson seine ›moral-sense-Philosophie‹ bereits in seiner Schrift An Essay on the Nature and Conduct of the Passions and Affections, with Illustrations upon the Moral Sense (1728). Rationalistischen Konzepten in der Ethik begegnet Hutcheson – als Vertreter der ›moral-sense-Philosophie‹ – allerdings mit Skepsis. Weil Kant die Inkommensurabilität derartiger Prämissen und Grundkonzepte mit seiner eigenen Moralphilosophie klar erkannte, grenzte er sich von der ›moral-sense‹-Philosophie im Sinne von Shaftesbury oder Hutcheson entschieden ab. Denn er hielt den aprio­ rischen Anspruch der eigenen Ethik nicht für kompatibel mit deren empirischer Orientierung, weil ihm die Prinzipien der englischen ›moral-sense‹-Philosophie nicht als universalisierbar erschienen.130 Bereits in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten rechnete Kant – unter Rekurs auf »Hutcheson« – das »Princip des moralischen Gefühls zu dem der Glückseligkeit«, »weil ein jedes empirische[s] Interesse durch die Annehmlichkeit« einen »Beitrag zum Wohlbefin­ den verspricht« (AA 4, 442). Später exponierte er in der Kritik der praktischen Vernunft das systematische Überblicksschema »Praktische materiale Bestimmungsgründe im Princip der Sittlichkeit«: In diesem Kontext subsumiert Kant das Konzept des »moralischen Gefühls (nach Hutcheson)« unter die subjektiven inneren Bestimmungsgründe (AA 5, 40). Außerhalb der systematischen Philosophie Kants jedoch ent­ falteten ästhetisch-ethische Syntheseversuche – im Anschluss an Shaftesbury oder Hutcheson – vor allem im 18. Jahrhundert eine enorme Wirkung auf die Literatur sowie auf ideengeschichtliche und kulturhistorische Diskurse der Epoche. Zur internationalen Wir­ kungsgeschichte der ›Kalokagathia‹ und der ›schönen Seele‹, in der Shaftesbury eine besondere Rolle spielte, gehören zahlreiche Auto­ ren. Wieland nahm Shaftesburys Konzept des ›moral sense‹ auch zum Anlass, in seinem eigenen klassischen Bildungsideal den ästhetischen Sinn mit moralischem Ethos zusammenzudenken und diese Einheit Höffe betont zu Recht die Unvereinbarkeit der Konzepte von Kant und Hutcheson, denn letzterer wolle »einer empirisch-sinnlichen Faktizität einen streng allgemein­ gültigen Charakter zusprechen, was Kant schon aus erkenntnistheoretischen Gründen für unmöglich hält« (Otfried Höffe: Kants Kritik der praktischen Vernunft. Eine Phi­ losophie der Freiheit. München 2012. S. 191). Und Schiller mache »Anleihen bei der britischen moral sense-Philosophie, die empirisch kontaminiert ist und die Kant genau deshalb zugunsten seiner apriorischen Moral der reinen praktischen Vernunft über­ winden will« (ebd., S. 187). 130

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zugleich mit dem volkspädagogischen Anspruch einer kulturellen Elite zu verbinden. Bereits Shaftesburys Konzepte sind – wie im Vorangegangenen dargelegt – nachhaltig durch das antike Ideal der ›Kalokagathia‹ geprägt. Schiller griff mit seinem Konzept der ›schönen Seele‹ auf Shaftesbury, Wieland und andere Autoren zurück, die ›Kalokaga­ thia‹-Ideale propagieren. Allerdings entgingen Schiller dabei die gra­ vierenden systematischen Probleme, die solche Synthese-Entwürfe für seine eigene Auseinandersetzung mit Kant zur Folge hatten. In seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen charakterisiert Schiller die »Schönheit« als »einzig mögliche[n] Ausdruck der Freiheit in der Erscheinung« (FA 8, 646), die zugleich einen Zugang zur »Welt der Ideen« eröffne (FA 8, 657). Auch im Hinblick auf Shaftesburys geistige Provenienz aus der Tradition des Neuplatonismus131 erscheint diese Fokussierung auf die ›Ideen‹ symptomatisch. Im Zusammenhang mit Schillers idealistischen Syntheseversu­ chen, die von Shaftesbury beeinflusst sind, erscheinen zugleich seine kulturanthropologischen Begründungen relevant. Denn in seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen schreibt Schiller der »Schönheit« insofern eine essentielle Vermittlungsfunktion zu, als »der sinnliche Mensch« durch sie »zum Denken geleitet« und »der geistige Mensch« durch sie »der Sinnen­ welt wiedergegeben« werde (FA 8, 622). – Vor dem Hintergrund dieses auf eine produktive Komplementarität zielenden Vermittlungs­ konzepts betrachtet Schiller die Kulturgeschichte mit Skepsis: Denn seines Erachtens hat der gesamte Prozess der menschlichen Zivilisa­ tion »nicht ein einziges Beispiel« dafür zu bieten, dass ein hohes Maß »ästhetischer Kultur bei einem Volke mit politischer Freiheit, und bürgerlicher Tugend, daß schöne Sitten mit guten Sitten« zugleich präsent gewesen wären (FA 8, 590). Diesem defizitären Status quo hält Schiller sein idealistisches Telos einer ›Kalokagathia‹ entgegen und weist dabei der ästhetischen Dimension sogar die entscheidende Mittlerrolle zu. Denn er sieht »die Vereinbarkeit beider Naturen« des Menschen sowie die Chance, »einen Übergang von der sinnlichen Abhängigkeit zu der moralischen 131 In diesem Sinne erklärt Höffe, als »erster großer Vertreter« der »britischen Moral­ philosophie vor Kant« stamme Shaftesbury, »von dem übrigens Schiller beeinflußt ist«, »bezeichnenderweise aus der Cambridge-Schule des Neuplatonismus« (Höffe: Kants Kritik der praktischen Vernunft (ebd.). S. 190).

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Freiheit zu finden«, gerade durch »die Schönheit« gesteigert: Schillers Überzeugung zufolge vermag sie nämlich die Kompatibilität beider Bereiche zu gewährleisten (FA 8, 659). In seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen äußert sich Schiller im Rückblick auf die Kulturgeschichte folgendermaßen zum »schönen Erwachen der Geis­ teskräfte« in der griechischen Kultur der Antike: »Damals […] hatten die Sinne und der Geist noch kein strenge geschiedenes Eigentum« (FA 8, 570). Und die Aufgabe des modernen Zivilisationsmenschen erblickt er darin, die verlorene »Totalität in unsrer Natur […] durch eine höhere Kunst wieder herzustellen« (FA 8, 578). Individuellen Dispositionen schreibt Schiller in diesem Zusammenhang eine wich­ tige Funktion auch für die gesellschaftliche Entwicklung zu: Denn seiner Ansicht nach soll die »Verbesserung im politischen« Bereich von der »Veredlung des Charakters ausgehen« (FA 8, 582–583). Zu derartigen Überlegungen gelangt er durch sein Totalitätsideal: Laut Schiller kann gerade »die Schönheit« eine essentielle »Harmonie« hervorbringen, indem sie »den Menschen zu einem in sich selbst vollendeten Ganzen macht« (FA 8, 620). Sowohl Schillers Schrift Über die ästhetische Erziehung des Men­ schen in einer Reihe von Briefen (1795) als auch Hölderlins Roman Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (1797–1799), der nur wenige Jahre später entstand, sind von einem universellen HarmonieAnspruch getragen: Das synthetische Denkmodell der ›Kalokagathia‹ als idealistisches Telos für Individuum und Gesellschaft verbinden beide Autoren dabei mit dem Konzept einer ästhetischen Erziehung zur Humanität. Dass Hölderlin eine ausgeprägte Affinität zu diesem traditions­ reichen Denkansatz hatte, geht schon aus einem Brief an seinen philosophischen Mentor Immanuel Niethammer hervor, dem er am 24.2.1796 mitteilte, er plane philosophische Erörterungen unter dem Titel »Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen«, mit denen er einen fundamentalen »Widerstreit verschwinden zu machen« beabsichtige: »den Widerstreit zwischen dem Subjekt und dem Objekt, zwischen unserem Selbst und der Welt, ja auch zwischen Vernunft und Offenba­ rung, – theoretisch, in intellektualer Anschauung, ohne daß unsere praktische Vernunft zu Hilfe kommen müßte. Wir bedürfen dafür ästhetischen Sinn« (KA 3, 225).

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Und diese Überlegung teilte Hölderlin in komprimierter Form auch Schiller selbst brieflich mit.132 – Schon mit dem Titelentwurf »Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen« signalisiert Hölderlin hier die von ihm beabsichtigte Nähe zu Schillers Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In der Zeitphase zwischen 1794 und 1801 lassen Hölderlins Briefe an Schiller133 wiederholt eine geradezu devote Bewunderung und Verehrung134 erkennen, etwa wenn Hölderlin am 23.7.1795 schreibt: »Ich war immer in Versuchung, Sie zu sehn, und sah Sie immer nur, um zu fühlen, daß ich Ihnen nichts sein konnte«, wobei Hölderlin das eigene »Streben, ihm recht viel zu sein«, zugleich mit der Intention rechtfertigt, sich »dem Guten und Schönen und Wahren« zu nähern (KA 3, 197). Am 20.11.1796 gesteht er Schiller: »Ihr gänzlich Verstummen gegen mich macht mich wirklich blöde […]. Sagen Sie mir ein freundlich Wort, und Sie sollen sehen, wie ich verwandelt bin« (KA 3, 245, 246). Und in dem Brief, dem er »den ersten Band meines Hyperions« beilegt, gesteht er Schiller am 20.6.1797 sogar (KA 3, 264): »von Ihnen dependier’ ich unüberwindlich; und weil ich fühle, wie viel ein Wort von Ihnen über mich entscheidet, such’ ich manchmal, Sie zu vergessen, um während einer Arbeit nicht ängstig zu werden. Denn ich bin gewiß, daß gerade diese Ängstigkeit und Befangenheit der Tod der Kunst ist«.

Vgl. Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. KA 3, 203–204. – Fred Lönker betont, Schillers »entscheidende These« weise schon »auf die Philosophie Hölderlins« und auf die Systementwürfe »Schellings und Hegels« voraus (Fred Lönker: Ästhetik und Moral: Über Anmut und Würde. In: Schiller. Werk-Interpretationen. Hrsg. von Günter Saße. Heidelberg 2005 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 216). S. 199–219, hier S. 205). 133 Vgl. Hölderlins Briefe an Schiller in KA 3, 127–129, 197–198, 203–204, 245–246, 264–266, 272–274, 297–298, 370–372, 393–395, 452–455. 134 Exemplarische Briefstellen dokumentieren, dass Hölderlin seinem Vorbild Schil­ ler in tiefer Verehrung ergeben war. Im Hinblick auf den geradezu devoten Gestus in Hölderlins Briefen betont Koopmann sogar, Schiller habe auf Hölderlin »einen fast magischen Einfluß« gehabt, den »auch der ans Subalterne grenzende Stil seiner Briefe« an ihn zeige (Helmut Koopmann: Schiller und die Folgen. Stuttgart 2016. S. 98, 99). Schiller selbst hingegen habe Hölderlin als »so subjectivisch, so überspannt, so ein­ seitig« wahrgenommen (ebd., S. 98). Koopmanns Fazit lautet: »Hölderlin war für ihn ein Exzentriker, fast schon ein Kranker« (ebd., S. 100). 132

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Hölderlins Brief an Schiller vom 30.6.1798 signalisiert allerdings auch innere Ambivalenzen, in denen zugleich sein Ringen um Unab­ hängigkeit evident wird (KA 3, 297–298): »So sehr ich von mancher Seite niedergedrückt bin […], so kann ich es doch nicht über mich gewinnen, mich aus Furcht des Tadels von dem Manne zu entfernen, dessen einzigen Geist ich so tief fühle, und dessen Macht mir längst vielleicht den Mut genommen hätte, wenn es nicht eben so große Lust wäre, als es Schmerz ist, Sie zu kennen. […] Deswegen darf ich Ihnen wohl gestehen, daß ich zuweilen in geheimem Kampfe mit Ihrem Genius bin, um meine Freiheit gegen ihn zu retten […]. Aber nie kann ich mich ganz aus Ihrer Sphäre entfernen; ich würde mir solch einen Abfall schwerlich vergeben.«

Wenn Hölderlin am 23.7.1795 und am 4.9.1795 in Briefen an Schiller einerseits vom eigenen Streben nach »dem Guten und Schönen und Wahren« spricht (KA 3, 197), andererseits »die Vereinigung des Subjekts und Objekts in einem absoluten – Ich oder wie man es nennen will – zwar ästhetisch, in der intellektualen Anschauung, theoretisch aber nur durch eine unendliche Annäherung möglich« glaubt (KA 3, 203), dann spannt er einen Denkhorizont auf, der sehr unterschiedliche idealistische Konzepte in spannungsreiche Korrela­ tionen bringt: Den abstrakten Kategorien des Idealismus von Fichte und Schelling steht in Hölderlins Denken das antike Ideal der ›Kalo­ kagathia‹ gegenüber, das bereits in Platons Dialogen hervortritt und seit Plotin im Neuplatonismus weiterwirkt. Und über die antiken Tra­ ditionen hinaus greift Hölderlin mit seiner Vorstellung ästhetischer Erziehung auch auf Rousseaus Zivilisationskritik und auf sein Ideal einer naturgemäßen ganzheitlichen Erziehung zurück, dessen Grund­ tendenz zugleich dem pädagogischen Ethos Schillers entsprach.135 Vergleicht man die Konzepte Schillers und Hölderlins, so lässt sich allerdings feststellen, dass die Orientierung am antiken Ideal der ›Kalokagathia‹ bei Hölderlin noch markanter hervortritt als bei Schiller. Eine zentrale Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang Hölderlins zweibändigem Roman Hyperion oder Der Eremit in Grie­ chenland (1797–1799) zu. Dieser Roman ist von unterschiedlichen

Vgl. dazu Hölderlins Brief vom 2.9.1795 an Ebel, in dem er sich zugleich auch kritisch mit Rousseau auseinandersetzt und seine eigene Einstellung zur Natur-Kul­ tur-Relation in der Erziehung expliziert (vgl. KA 3, 198–203). Darüber hinaus wirkten idealistische Impulse von Fichte und Schelling in Hölderlins Reflexionen hinein. 135

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Traditionen der antiken Philosophie (Heraklit, Platon, Stoa), aber auch von Gedanken Schillers inspiriert. Durch die intensiven »Seelengespräche« (KA 2, 79) der Figuren Hyperion und Diotima hat Hölderlin seinem Roman markante Affi­ nitäten zu Platons Dialog Symposion eingeschrieben. Hier schildert Platons Figur Sokrates ein Gespräch mit der weisen Diotima, die ihn mit maieutischer Dialogführung in die Mysterien des Eros eingeweiht und ihn dabei zugleich über die Stufenfolge der Erkenntnis belehrt habe: Beschrieben wird in Platons Symposion der Weg vom erotischen Streben nach Leibesschönheit und deren Erkenntnis über die Seelen­ schönheit zur Schönheit von Handlungen, Sitten und Gesetzen und schließlich bis zur Erkenntnis des Schönen selbst und der ewigen Idee des Schönen, die als das Eine Urbildhafte wahre Vollkommenheit offenbare.136 Der antike Philosoph »Plato« (KA 2, 19) wird in Hölder­ lin Hyperion sogar explizit genannt. Als »Schönheit« bezeichnet der Protagonist in Hölderlins Roman den »Namen des, das Eins ist und Alles« (KA 2, 62). Dabei bildet die von Heraklit stammende Vorstellung der Alleinheit den ideenge­ schichtlichen Hintergrund: Eins und Alles – Hen kai pan (Ἓν καὶ Πᾶν)137. Sie wirkte später in den Neuplatonismus und Pantheismus hinein. Auf diesen Gedankenkomplex nimmt Hölderlins Roman

Vgl. dazu die zentralen Passagen in Platons Symposion (199c-212b). Diotimas Eroslehre umfasst in Platons Symposion den größten Komplex (201d-212b) innerhalb der Rede des Sokrates (198b-212c). – Die Stellennachweise folgen hier der in der Pla­ ton-Forschung etablierten Stephanus-Nummerierung. – Im 3. Jahrhundert. n. Chr. griff Plotin in seinen Abhandlungen Über das Schöne und Über den Eros auf den Grundgedanken von Platons Symposion zurück: auf die Sublimierung vom Sinnlichen zum Geistigen durch einen stufenweisen Aufstieg von der Schönheit der Einzelphä­ nomene bis zum Schönen an sich. Während bei Platon aber die erkenntnishafte Schau der Ideen und eine geistig-intellektuelle Ausrichtung dominierten, wendete Plotin den Platonischen Ansatz ins Seelenhaft-Innerliche einer mystischen Einheit von Schau­ endem und Geschautem. Plotin fungierte als wichtige Vermittlungsinstanz in der enorm weit ausgreifenden Wirkungsgeschichte von Platons Symposion, zu der außer Hölderlins Hyperion auch Thomas Manns Décadence-Novelle Der Tod in Venedig und Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften gehören. (Zu dieser facettenreichen Dis­ kurstradition vgl. Barbara Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epo­ chenroman Der Mann ohne Eigenschaften. Heidelberg 2005 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 218). S. 330–353.). 137 Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels. 11. Aufl., hrsg. von Walther Kranz. Bd. 1. Zürich/Berlin 1964. 161, Fragment 50. Vgl. auch Fragment 10. 136

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Hyperion auch dort Bezug, wo »das ungeheure Streben, Alles zu sein«, thematisiert wird (KA 2, 25). Die mythologische Eros-Genealogie, die Platon in seiner Schrift Symposion für die philosophische Argumentation nutzt, hat eben­ falls in Hölderlins Roman Hyperion Eingang gefunden. In Platons Symposion wird Eros als der Sohn des Poros (Findigkeit) und der Penia (Armut) charakterisiert138, um essentielle Voraussetzungen erotischen Strebens evident zu machen. Hölderlin rekurriert in sei­ nem Roman auf diese ideengeschichtliche Tradition, wenn er den Protagonisten Hyperion überlegen lässt: »Das macht uns arm […], daß die Liebe in uns […] nicht erstirbt« (KA 2, 24). In Platons Sympo­ sion bildet die Vorstellung des Eros, dessen Streben aus Bedürftigkeit, also aus Mangel (mithin ›Armut‹) hervorgeht, die Grundlage für das Eros-Konzept des Sokrates, das in der Lehre vom Stufenweg der Erkenntnis des Schönen kulminiert.139 Für seinen Roman Hyperion hat Hölderlin aus Platons Symposion außer der idealistischen Grundkonzeption und ihrer ästhetischen Überformung auch den Namen für seine Diotima-Figur adaptiert, die als Repräsentantin idealer Schönheit zur wichtigsten Gesprächspart­ nerin des Protagonisten Hyperion avanciert. Als er in Gefahr ist, sich mit ihr eskapistisch in der selbstgenügsamen Liebes-Zweisamkeit einer »seligen Insel« einzurichten (KA 2, 98), empfiehlt sie ihm, in seinem persönlichen Idealzustand nicht lediglich passiv zu verharren, sondern ihn zu transzendieren, um durch das von ihm erkannte »Gleichgewicht der schönen Menschheit« die Welt wie »Apoll« und

In Platons Symposion erscheint Eros als Sohn der Penia, also der Armut bzw. Dürftigkeit (vgl. Symposion 203b-c), der allerdings durch seinen Vater Poros zugleich ein rüstiger, tapferer, kecker Jäger ist und mit List sinnreich dem Guten und Schönen nachstellt (vgl. Symposion 203c-e): Daher ist Eros weder arm noch reich und hält die Mitte zwischen Weisheit und Unverstand (vgl. Symposion 203e). Zur Bedürftigkeit als Voraussetzung erotischen Begehrens mit dem Ziel einer Zeugung im Schönen (im Streben nach Unsterblichkeit) vgl. Symposion 200a-207a. 139 Vgl. Platons Symposion (199c-212b). – Auf Gedankengänge aus Platons Dialogen Phaidros und Symposion rekurriert Thomas Manns Künstlernovelle Der Tod in Vene­ dig: Hier werden markante Anspielungen auf den idealistischen Erkenntnisweg gemäß Platons Eros-Lehre in das vierte Kapitel der Novelle integriert, und zwar durch Bil­ dungsreminiszenzen, die für den homophilen Protagonisten Gustav von Aschenbach eine apologetische Funktion haben (vgl. Thomas Mann: Der Tod in Venedig. In: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt a.M. 1990. Bd. VIII: Erzählungen. Fiorenza. Dichtungen. S. 444–525, hier S. 491–492). 138

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»Jupiter« zu »erleuchten« und zu »beleben«, so dass sie »edler« und »glücklicher« werden könne (KA 2, 99). Die antike Provenienz von Hölderlins Diotima-Figur ist hier nicht nur an ihrem Namen, sondern auch an ihrem Harmonie-Ideal zu erkennen. Im Sinne eines idealistischen Sendungsbewusstseins versucht Diotima ihrem Geliebten Hyperion wichtige Impulse für seinen Entwicklungsprozess zu vermitteln: Weil sie ihn »zu höhern Dingen geboren« sieht (KA 2, 98), will sie ihn dazu animieren, als Dichter zum »Erzieher unsers Volkes« zu werden, und formuliert die Zukunftsprognose: »du wirst ein großer Mensch sein, hoff ich« (KA 2, 100). In diesem Telos konvergieren vielfältige Denkimpulse aus der philosophischen Tradition. Dabei greift Hölderlin konzep­ tionell sowohl auf den Platonismus als auch auf den Pantheismus zurück. Während Entwicklungsweg und Bildungsgang Hyperions strukturbildend als ein Fortschreiten zum platonischen Ideal konzi­ piert sind, in dem alle Dichotomien transzendiert werden, grundiert der Pantheismus den Roman als weltanschauliche Essenz: Aus dieser Doppelstruktur resultiert die komplexe narrative Konzeption von Hölderlins Hyperion.140 Zugleich eröffnet der fundamentale idealis­ tische Anspruch in Hölderlins Roman eine über das Individuum hinausweisende gesellschaftliche Dimension. Sie entspricht im Grundansatz der poetisch-politischen Vermitt­ lung eines pädagogischen Ethos gemäß Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Bereits 1791 betonte Schiller in seiner (anonym publizierten) Rezension Über Bürgers Gedichte, das »Idealschöne« verdanke sich der »Freiheit des Geistes« (FA 8, 985): Sie ermögliche es den Dichtern, ihre »Individualität« zu »veredeln, zur reinsten herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern« (FA 8, 974) und »selbst ein Muster für das Jahrhundert [zu] erschaffen« (FA 8, 973). Auch hier wird die Sphäre des Individuums transzendiert und auf einen übergreifenden soziokulturellen Horizont hin geöffnet. Im Rahmen einer solchen paradigmatischen Ästhetik künstleri­ scher Sublimierung und idealistischer Steigerung attestiert Schiller »der Volksdichtung« einen »sehr hohen Rang« (FA 8, 984) allein unter der Bedingung, dass der Dichter, »eingeweiht in die Mysterien des Schönen, Edeln und Wahren, zu dem Volke bildend herniedersteigt«, und zwar im Vollbewusstsein der Differenz, sofern er »auch in der Vgl. dazu bereits die Analyse von Lawrence Ryan: Hölderlins Hyperion. Exzentri­ sche Bahn und Dichterberuf. Stuttgart 1965. 140

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vertrautesten Gemeinschaft« mit dem Volk »nie seine himmlische Abkunft« verleugnet (FA 8, 978). Der – sogar bis ins Numinose reichenden – idealistischen Eso­ terik Schillers, gegen die politisch engagierte Autoren wie Georg Büchner später heftig revoltierten141, entspricht in der Grundtendenz die poetische Berufung der Hyperion-Figur: Insofern dominiert in Hölderlins Roman eine ähnliche idealistische Esoterik wie in Schil­ lers Rezension Über Bürgers Gedichte. Denn im Roman Hyperion prognostiziert Diotima dem Protagonisten: »Priester sollst du sein der göttlichen Natur, und die dichterischen Tage keimen dir schon« (KA 2, 163). Für den idealistischen Horizont seines Romans Hyperion greift Hölderlin sowohl auf moralästhetische Harmonie-Konzepte Schillers als auch auf die Platonische Eros-Philosophie zurück. Bis zum Ende seiner mentalen Entwicklung transzendiert Hyperion alles bloß Indi­ viduelle, also auch die konkrete Person seiner Geliebten Diotima, und vermag dadurch schließlich in die Sphäre des Idealen aufzusteigen. Zwar repräsentiert Diotima für ihn eine harmonisch-ideale Existenz, indem sie das sinnenhaft als Schönheit in Erscheinung tretende Voll­ kommene verkörpert, mithin zugleich das antike Ideal der ›Kalokaga­ thia‹. Doch muss Hyperion seine Geliebte im Zuge seiner eigenen Entwicklung verlieren, um die Welt der realen Einzelphänomene transzendieren142 und dadurch seiner Aufgabe als Dichter gerecht werden zu können.

141 Dieser esoterisch verklärte Idealismus von Schillers Wirkungsästhetik, der sich am antiken ›Kalokagathia‹-Konzept orientiert, evozierte seit dem Vormärz sehr kri­ tische Resonanz: etwa bei Georg Büchner, der sich vom Idealismus Schillers entschie­ den abgrenzte: Büchner vertrat sogar genau die Gegenposition, indem er emphatisch für einen Realismus ohne idealistische Verklärung plädierte. In diesem Sinne lässt er auch den Protagonisten seiner Erzählung Lenz (1835) gegen eine idealistische Pro­ grammatik protestieren: zugunsten authentischer Darstellung der Wirklichkeit mit sozialkritischem Engagement. Zur Idealismus-Realismus-Kontroverse (Aristoteles, Winckelmann, Schiller versus Goethe, Lenz und Büchner) vgl. Barbara Neymeyr: Intertextuelle Transformationen: Goethes Werther, Büchners Lenz und Hauptmanns Apostel als produktives Spannungsfeld. Heidelberg 2012 (Beiträge zur neueren Lite­ raturgeschichte, Bd. 300). S. 198–220. 142 In diesem Sinne verstand Hölderlin den Namen ›Hyperion‹, der bei den Griechen ein Beiname des Sonnengottes war, etymologisch als ›der Darüberhingehende‹. Über­ trägt man diese (nicht zutreffende) Bedeutung ins Lateinische, dann könnte man von ›dem Transzendierenden‹ sprechen: so der Kommentar von Schmidt (KA 2, S. 942). Gemäß der antiken Mythologie ist Hyperion der Sohn des Himmels (also des Uranos)

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Bereits in früheren Passagen seines Romans lässt Hölderlin die Figuren Alabanda und Hyperion nach »Schönem und Wahrem« fragen (KA 2, 36). Und mit Schillers Perspektive auf den exklusiven Zugang der Dichter zu den »Mysterien des Schönen, Edeln und Wahren« (FA 8, 978) korrespondiert der Idealismus Hölderlins, wenn er am 23.7.1795 in einem Brief an Schiller seinen eigenen »Wunsch« bekennt, »dem Guten und Schönen und Wahren, sei es unerreichbar oder erreichbar, sich mit seinem Individuum zu nähern« (KA 3, 197). – Weit entfernt sind solche Ideale natürlich von den konzisen Differenzierungen zwischen dem Guten, Schönen, Angenehmen und Nützlichen, die Kant in seiner Kritik der Urtheilskraft entfaltet (AA 5, 203–219). Im 20. Jahrhundert nimmt Robert Musil in seinem Epochenro­ man Der Mann ohne Eigenschaften (1930/1932) dann höchst satirisch auf den idealistischen Topos vom ›Guten, Schönen und Wahren‹ Bezug: Musil präsentiert den antikisierenden Idealismus seiner Dio­ tima-Figur Hermine Tuzzi, die er als Karikatur einer ›schönen Seele‹ inszeniert, mit ironisch-subversivem Gestus und schreibt dem Roman zudem noch weitere aufschlussreiche Antike-Reminiszenzen ein.143 – Als Medium kulturkritischer Zeitdiagnose unter den Bedingungen einer krisenhaften Moderne repräsentiert der ›Kalokagathia‹-Topos in Musils Roman nur noch obsolete Formen des Idealismus. Trotz der satirischen Perspektiven auf die Idee des ›Guten, Wahren und Schönen‹144 verbindet Musils epochales Werk Der Mann ohne Eigen­ und der Erde (also der Gaia). Hierzu und zur Problematik der Namensetymologie vgl. Schmidts Kommentar (KA 2, S. 965–966). 143 Zu Musils Satire auf den Platonischen Idealismus im Roman Der Mann ohne Eigenschaften und zur antikisch stilisierten Diotima-Figur vgl. Barbara Neymeyr: Antikisierte Moderne – modernisierte Antike. Zur Idealismus-Problematik in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. In: »… auf klassischem Boden begeistert«. Antike-Rezeption in der deutschen Literatur. Festschrift für Jochen Schmidt zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Olaf Hildebrand und Thomas Pittrof. Freiburg i. Br. 2004. S. 401–417. – Barbara Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochen­ roman Der Mann ohne Eigenschaften. Heidelberg 2005 (Beiträge zur neueren Litera­ turgeschichte, Bd. 218). S. 330–353. Zur Idealismus-Thematik in Musils Roman ins­ gesamt vgl. ebd. S. 315–410, hier auch das Kapitel »Essayismus als moderner Sokratismus: Ulrich als Skeptiker und radikaler Idealist« (S. 390–410). Trotz seines ironischen Gestus ist Ulrich auch ernsthaft von der Frage Platons nach dem ›rechten Leben‹ umgetrieben. 144 Ironische Bezugnahmen auf den Enthusiasmus für ›das Wahre, Gute und Schöne‹ zielen in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften auf die prätentiösen Phrasen der Figuren Diotima und Bonadea (vgl. Robert Musil: Gesammelte Werke. Hrsg. von

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schaften die Frage Platons nach dem ›rechten Leben‹, die auch für Hölderlins Hyperion eine zentrale Bedeutung hat, allerdings in posi­ tivem Sinne mit der Mentalität des oft so ironisch auftretenden Pro­ tagonisten Ulrich. Und sogar in der Gegenwartsliteratur finden sich Reminiszenzen an den antiken Topos des Guten, Schönen und Wah­ ren, etwa im Titel von Sibylle Lewitscharoffs Buch Vom Guten, Wahren und Schönen: Frankfurter und Zürcher Poetikvorlesungen (2012). Das pädagogische Ethos, das Schiller in seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen mit Aspekten der Kulturgeschichte vermittelt, ist in Hölderlins emp­ findsamem Briefroman noch durch weitere Korrespondenzen mit dem Bewusstseinsprozess Hyperions verbunden. Nicht zufällig spielt dessen Handlung in Griechenland. Explizit ist im Roman Hyperion von den »guten kindischen Griechen« (KA 2, 99) sowie von der »Geistesschönheit der Athener« und ihrem »Sinn für Freiheit« die Rede (KA 2, 91). Wenn Hölderlin seine Diotima-Figur enthusiastisch durch »hei­ lige Einfalt« und eine für sie essentielle Naturnähe charakterisiert (KA 2, 86), dann treten dabei auch Affinitäten zu Rousseaus Naturideal und zum Konzept des ›Naiven‹ gemäß Schillers Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung hervor. Während Hölderlins Roman ein solches Griechentum als naturhaft-ursprüngliche Existenz inszeniert und durch idealistische Transformation zugleich mit dem zeitgenös­ sischen Kulturdiskurs verbindet, erscheinen die Deutschen aus der Perspektive der Hauptfigur Hyperion als negatives Gegenmodell zu den Griechen. Denn durch ihre Mentalität, die er als »dumpf und harmonielos« empfindet, repräsentieren die Deutschen für ihn die »Unnatur«: Sie erscheinen ihm »zerrißner« als andere Völker, ja geradezu »zerstückelt« (KA 2, 168–169). Diese Vorstellung des Protagonisten in Hölderlins Roman reprä­ sentiert Aspekte der zeitgenössischen Zivilisationskritik und scheint zugleich von Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen geprägt zu sein. Bereits Schiller hebt nämlich die geistigsinnliche Natur-Einheit der antiken Griechen hervor (vgl. FA 8, 570– 578), um unter dem Einfluss von Rousseaus Naturideologie und Adolf Frisé. Zwei Bände. Reinbek bei Hamburg 1978. Bd. I: Der Mann ohne Eigen­ schaften [=MoE]: vgl. ebd. z.B. S. 42, 447, 879). Hier verkommt das Platonische Ethos zur bloßen idealistischen Attitüde, und zwar im Rahmen von Selbststilisierungen, die Musils Roman – gerade bei diesen beiden Figuren – im Medium der Ironie auch auf erotische Substrukturen hin transparent macht.

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Kulturkritik dann deren urwüchsige Harmonie mit der naturwidrigen Zerrissenheit des modernen Zivilisationsmenschen zu kontrastieren. Seiner Darstellung zufolge ergaben sich im Zuge fortschreitender Ausdifferenzierung des Denkens als notwendiger Basis für die zivi­ lisatorische Entwicklung zugleich durch die »Kultur selbst« auch negative Konsequenzen. Denn die im Kulturprozess unvermeidliche Spezialisierung schlug der »neuern Menschheit« laut Schiller durch Selbstentfremdung eine »Wunde« (FA 8, 572). Den phylogenetischen Bewusstseinsprozess bewertet Schiller mithin ambivalent. Denn er sieht ihn von einem »Antagonism[us] der Kräfte« bestimmt, der im Prozess der Zivilisation einerseits zwar als »das große Instrument der Kultur« fungierte (FA 8, 576), andererseits aber auch die innere Zerrissenheit des modernen Men­ schen hervorrief.145 Während die Spezialisierung der Kräfte für das Individuum Einseitigkeit, also den Verlust integraler Ganzheit zur Folge hatte, fungierte sie für die Menschengattung als ein wichtiges Entwicklungsstimulans (vgl. FA 8, 576–577). Angesichts der Probleme, die sich als unvermeidliche Konse­ quenzen im Zuge der Spezialisierung und Partikularisierung der modernen Zivilisation ergeben, zielt die idealistische Intention Schil­ lers darauf, »diese Totalität in unsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wieder herzustellen« (FA 8, 578). Unter den Rahmenbedingungen moderner Entfremdung vermag der Mensch laut Schiller nicht die »Harmonie seines Wesens« zu entwickeln, weil er sich bloß noch »als Bruchstück« statt als ganze Persönlichkeit ausbilden kann (FA 8, 573). Vor diesem Hintergrund fungiert das Ideal ästhetischer Erziehung bei Schiller als Kompen­ sationsmedium für Zivilisationsschäden und zugleich auch als ein zukunftsweisendes Therapeutikum. Später schließt Nietzsche an kulturkritische Perspektiven Schil­ lers an: In seiner Schrift Schopenhauer als Erzieher (1874), der dritten seiner vier Unzeitgemässen Betrachtungen, wird die schon von Schiller diagnostizierte Problematik ebenfalls zur Negativfolie eines idealisti­ schen Harmonieanspruchs. Nachdem bereits Schiller die Wiederher­ 145 Andere Akzente setzt später Sigmund Freud mit seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930), die auf psychoanalytischer Basis eine differenzierte Zivilisationskri­ tik entfaltet, als eine der wirkungsmächtigsten kulturtheoretischen Schriften des 20. Jahrhunderts gilt, vielfältige Einflüsse auf andere Theoretiker ausübte und auch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule inspirierte.

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stellung der »Totalität in unsrer Natur« postuliert hat (FA 8, 578), entwirft Nietzsche in analogem Sinne das Ideal »harmonische[r] Ganzheit«; dabei imaginiert er »den vielstimmigen Zusammenklang in Einer Natur«, die »der Erzieher« ermögliche, der imstande sei, »alle vorhandenen Kräfte« des Individuums »in ein harmonisches Verhältniss« zu bringen und dadurch als »Befreier« eine positive Entwicklung zu stimulieren: Denn auf diese Weise trage er dazu bei, dass der Schüler seine Persönlichkeit als integrale Ganzheit ausbilden könne.146 Stärker als Schiller in den Briefen Über die ästhetische Erzie­ hung des Menschen rückt Nietzsche in diesen Passagen seiner Schrift Schopenhauer als Erzieher zwar die Situation des unverwechselbaren Einzelnen in den Fokus. Aber auch er entfaltet Kulturkritik, indem er im Hinblick auf das Individuum die Aspekte kultureller Depravation bis zur »Barbarei« reflektiert.147 Und »dem edelsten Bildungskampfe Goethe’s, Schiller’s und Winckelmann’s« spricht Nietzsche besondere Qualitäten gerade bei der positiven Rezeption der griechischen Kul­ tur zu.148 Zugleich ergeben sich aufschlussreiche thematische Kontinuitä­ ten für die Verbindung von Individualität mit Freiheit als Selbstbe­ stimmung. In diesem Sinne sieht Schiller das Zentrum Kantischer Philosophie im Autonomie-Konzept: »Es ist gewiß von keinem Sterblichen Menschen kein größeres Wort noch ausgesprochen worden, als dieses Kantische, was zugleich der Innhalt [sic] seiner ganzen Philosophie ist: Bestimme dich aus dir selbst«.149

146 Nietzsche: Schopenhauer als Erzieher. KSA 1, S. 342, 341. Vgl. philosophiege­ schichtliche und kulturhistorische Kontextualisierungen im Werkkommentar [Open Access] von Barbara Neymeyr: Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrach­ tungen. III. Schopenhauer als Erzieher. IV. Richard Wagner in Bayreuth. Berlin/Boston 2020 (Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, Bd. 1/4). S. 1–286. – Zu Schiller vgl. ebd. z.B. S. 68–69, 401–402, 433–434, 481, 564 (sowie weitere Belege via Register). Zu den Schopenhauer-Reminiszenzen in Nietz­ sches Schrift Schopenhauer als Erzieher vgl. ebd. z.B. S. 55–70. Der Kommentar eruiert auch die Affinitäten der Persönlichkeits- und Bildungskonzepte Nietzsches zum Humanitätsdenken der Weimarer Klassik (etwa bei Herder und Goethe). 147 Nietzsche: Schopenhauer als Erzieher. KSA 1, S. 366. 148 Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. KSA 1, S. 129. 149 Diese Aussage findet sich in einem Brief, den Schiller am 18./19.2.1793 an seinen Freund Körner richtete (Schillers Werke. Nationalausgabe Bd. 26, S. 191).

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Später betont Nietzsche in seiner Schrift Schopenhauer als Erzieher die Notwendigkeit, »nach eignem Maass und Gesetz zu leben«, und verbindet sie sogar imperativisch mit dem Anspruch auf authentische Individualität: »sei du selbst!«150 Mit diesem Postulat charakterisiert er zugleich die Leistung des ›unzeitgemäßen‹ Menschen, der »frei und ganz er selbst zu sein« vermöge.151 Implizit zitiert Nietzsche damit den zwar erkenntnistheoretisch, nicht aber moralphilosophisch an Kant orientierten Schopenhauer, den er selbst in der Frühphase seines Schaffens noch emphatisch als seinen eigenen »Erzieher« apostro­ phierte.152 In den Aphorismen zur Lebensweisheit (1851) konstatiert nämlich bereits Schopenhauer: »Ganz er selbst sein darf jeder nur, solange er allein ist: wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit […]«.153 Im Anspruch auf eine autonome Individualität konvergieren also Auffassungen von Kant, Schiller, Schopenhauer und Nietzsche. Aller­ dings zeichnen sich hier auch Differenzen ab, da Schiller und Nietz­ sche diese Konzepte auf unterschiedliche Weise kulturkritisch kon­ textualisieren. In der Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen diagnostiziert Schiller negative Folgen des Zivilisa­ tionsprozesses. Um sie zu kompensieren, entwirft er hier das Telos einer harmonischen Vermittlung von Sinnlichkeit und Vernunft als genuine Aufgabe der Kultur. In diesem Fokus stimmt die Zielsetzung seiner Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen mit der Intention seiner Schrift Über Anmut und Würde überein. Im 23. Brief avanciert das Konzept ästhetischer Erziehung sogar zum essentiellen Vermittlungsmedium, wenn Schiller feststellt: »es gibt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht« (FA 8, 643). Eine singuläre Bedeu­ tung schreibt Schiller dabei der »ästhetische[n] Gemütsstimmung« zu, weil sie »die Selbsttätigkeit der Vernunft schon auf dem Felde der Sinnlichkeit eröffnet« (FA 8, 644).

Nietzsche: Schopenhauer als Erzieher. KSA 1, S. 339, 338. Nietzsche: Schopenhauer als Erzieher. KSA 1, S. 362. Darin kann man durchaus schon eine Antizipation von Nietzsches Konzept des ›freien Geistes‹ sehen, zumal er auch in Schopenhauer als Erzieher bereits explizit von »Freien im Geiste« spricht (KSA 1, S. 354). 152 Nietzsche: Schopenhauer als Erzieher. KSA 1, S. 341, 350. 153 Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit. Lö IV, S. 501. 150 151

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Diese kulturhistorischen Dimensionen, die Schiller in seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen entfaltet, hier tendenziell aber stärker an Kants Autono­ mie-Postulat anzuschließen scheint, korrespondieren durchaus mit wesentlichen Aspekten von Hölderlins Roman Hyperion. Denn im Sinne eines klassischen Bildungsideals zielt Hölderlins idealistischer Entwurf ebenfalls auf eine harmonische Ganzheitlichkeit und rekur­ riert dabei zugleich in mehrfacher Hinsicht auf ideengeschichtliche Traditionen seit der Antike. Ein ähnliches Grundkonzept wie Schillers Briefe Über die ästhe­ tische Erziehung des Menschen weist Hölderlins Roman insofern auf, als er mit dem nur Fragmentarischen das Ideal eines ganzheitlichen Lebens kontrastiert. So stellt Diotima in ihrem Vermächtnis an Hype­ rion dem bloßen ›Stückwerk‹ »das Leben der Natur« gegenüber, »das höher ist« (KA 2, 162). Und zuvor bereits lässt Hölderlin den Ersten Band seines Romans Hyperion mit der Prognose enden: »Es wird nur Eine Schönheit sein; und Menschheit und Natur wird sich vereinen in Eine allumfassende Gottheit« (KA 2, 101). Hier kommen mit dem idealistischen Motiv des Numinosen allerdings zugleich auch spekulative Ideen ins Spiel, die zusätzlich noch auf andere ideengeschichtliche Traditionen und Diskurse ver­ weisen. Die in Hölderlins Roman Hyperion bedeutsame Utopie einer pantheistischen Totalität schließt nämlich an philosophische Kon­ zepte der Antike an, um sie im Roman poetisch zu transformieren. – Bereits im zweiten Brief an seinen Freund Bellarmin artikuliert der Protagonist Hyperion in dreimaliger Apostrophe emphatisch seine Sehnsucht nach Verschmelzung mit dem Kosmos: »Eines zu sein mit Allem« (KA 2, 16). Wenn er dabei die Natur zum »Leben der Gottheit« sakralisiert (KA 2, 16), dann greift er mit diesem pantheistischen Denkmodell auf Traditionen zurück, die an die Naturphilosophie Heraklits anschließen, indem sie dessen Auffassung folgen, dass »Alles Eins« ist – Hen kai pan (Ἓν καὶ Πᾶν).154 154 Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels. 11. Aufl., hrsg. von Walther Kranz. Bd. 1. Zürich/Berlin 1964. 161, Fragment 50. (Vgl. außerdem Fragment 10.) – Unter Rückgriff auf Heraklit ist auch in Hölderlins Roman Hyperion pantheistisch von der ›göttlichen‹ oder ›heiligen‹ Natur die Rede: Vgl. dazu Jochen Schmidt: Stoischer Pantheismus als Medium des Säkularisierungsprozesses und als Psychotherapeutikum um 1800: Hölderlins Hyperion. In: Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. Hrsg. von Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt und Bernhard

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Das monistische Weltbild Heraklits, der im Prozess des Werdens und der Verwandlung alle Gegensätze durch die Einheit eines Prinzips überwölbt sieht, wirkte auch in die pantheistische Naturphilosophie der Stoiker hinein, wie sie bereits von Zenon und Kleanthes vertreten wurde. Im Hinblick auf Hölderlins Hyperion sind allerdings vor allem die Konzepte der von Panaitios und Poseidonios repräsentierten mitt­ leren Stoa relevant, die durch Schriften von Cicero und Marc Aurel tradiert wurden. So verstand Poseidonios die Welt als einen harmoni­ schen Allzusammenhang und sah in diesem Kosmos alle Organismen durch eine naturphilosophisch fundierte Beziehung der ›Sympatheia‹ miteinander verbunden: Gerade das Aufgehobensein in diesem uni­ versellen Lebenszusammenhang ermögliche dem Individuum eine Haltung der Gelassenheit und Seelenruhe (tranquillitas animi), also ein Ethos der Unerschütterlichkeit, der Ataraxia (ἀταραξία): im Bewusstsein eigener Zugehörigkeit zur kosmischen Ganzheit. Hölderlin rezipierte die Lehren der mittleren Stoa, die sich vom Primat der Vernunftorientierung und Affektbändigung bei der älteren Stoa deutlich unterscheiden, über Marc Aurels kanonische Schrift An sich selbst (Τὰ εἰς ἑαυτόν: Ta eis heautón), die an das ›Sympatheia‹Ideal der mittleren Stoa anschließt.155 Diese pantheistische Naturphi­ losophie setzte sich bis in Spinozas Konzept ›deus sive natura‹ fort, das als immanentes Denkmodell traditionelle Transzendenz-Vorstel­ lungen zu überwinden suchte, im 18. Jahrhundert eine umfassende Wirkungsgeschichte entfaltete und beispielsweise auch von Goethe adaptiert wurde: etwa für das pantheistische Naturverständnis der Protagonisten im Roman Die Leiden des jungen Werthers und im Drama Faust I. In Hölderlins Hyperion prägen sich Vorstellungsbilder einer vergöttlichten Allnatur im Sinne pantheistischer Denkmodelle mit geradezu leitmotivischer Intensität aus. Grundstrukturen naturphilo­ sophischer Konzepte, die in der ideengeschichtlichen Tradition seit der Antike von Heraklit, Panaitios, Poseidonios, Marc Aurel und Spi­ Zimmermann. Zwei Bände. Berlin/New York 2008. Bd. 2: S. 927–950, hier beson­ ders S. 929–931. 155 Zum stoischen ›Sympatheia‹-Ideal und dessen Rezeption in Hölderlins Hyperion (unter Rekurs auf Rousseau) vgl. Schmidt: Stoischer Pantheismus als Medium des Säkularisierungsprozesses (ebd.), S. 928–940: auch zur Vermittlung der Konzepte von Panaitios und Poseidonios durch Cicero und Marc Aurel. – Hinsichtlich der sto­ isch-pantheistischen Einflüsse auf Hölderlins Roman Hyperion schließt meine knappe Darstellung an die luzide Untersuchung von Schmidt an.

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noza überliefert sind, lässt Hölderlin im Bewusstseinsprozess seiner Hyperion-Figur weiterwirken. Schon die Imago universeller Einheit in der Anfangspassage des Romans erscheint in dieser Hinsicht als symptomatisch (KA 2, 16): »Eines zu sein mit Allem, das ist Leben der Gottheit, das ist der Himmel des Menschen. / Eines zu sein mit Allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden, das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe […]. / Eines zu sein mit Allem, was lebt! Mit diesem Worte legt die Tugend den zürnenden Harnisch, der Geist des Menschen den Zepter weg, und alle Gedanken schwinden vor dem Bilde der ewigeinigen Welt […], und Unzertrennlichkeit und ewige Jugend beseliget, verschönert die Welt«.

Kurz nach dieser dreimaligen emphatischen Apostrophe pantheisti­ scher Natureinheit (»Eines zu sein mit Allem«) folgt in Hölderlins Roman eine pantheistische Naturekstase des Protagonisten Hype­ rion. In der motivischen und syntaktischen Gestaltung lässt diese Textpassage übrigens auffallende Affinitäten zur enthusiastischen Selbstentgrenzung von Goethes Werther-Figur erkennen. Wie Goe­ thes Roman Die Leiden des jungen Werthers (1774/1787) ist auch Hölderlins Roman Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (1797– 1799) nachhaltig von der Epoche der Empfindsamkeit geprägt. Beide Briefromane spiegeln den pantheistischen Naturenthusi­ asmus der Hauptfigur sogar durch ein weit ausgreifendes hypotakti­ sches Polysyndeton aus Wenn-Sätzen, das den Gestus der pantheis­ tischen Entgrenzung sprachlich konsequent abbildet. Die markante syntaktische Strukturanalogie lässt vermuten, dass Hölderlin dieses sprachliche Gestaltungsprinzip aus Goethes berühmtem WertherRoman adaptiert hat. Exemplarisch sei die Darstellung des pantheis­ tischen Naturenthusiasmus im Brief vom 10. Mai in Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers zitiert156: »Wenn das liebe Thal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsterniß meines Waldes ruht, 156 Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. In: ders: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Hrsg. von Friedmar Apel u. a. I. Abteilung: Sämtliche Werke. Bd. 8: Die Leiden des jungen Werthers. Die Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen. In Zusammenarbeit mit Christoph Brecht hrsg. von Waltraud Wiethölter. Frankfurt a. M. 1994. S. 9–267 [= Paralleldruck der Fassungen von 1774 und 1787], hier S. 15.

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und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligthum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege […]; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen […] näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Allliebenden, […] wenn’s dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten; dann sehne ich mich oft und denke: ach könntest du das wieder ausdrücken […], was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes!«

Mit der extremen syntaktischen Expansion dieser Wenn-Hypotaxe in Goethes Werther-Roman157 korrespondiert die folgende Passage aus Hölderlins Hyperion. Auf analoge Weise spiegelt die Syntax mehrerer Textpartien auch hier den Entgrenzungsgestus, der sich mit den pantheistischen Naturgefühlen des Protagonisten verbindet (KA 2, 18): »Und wenn ich oft dalag unter den Blumen und am zärtlichen Früh­ lingslichte mich sonnte, und hinaufsah in’s heitre Blau […], wenn ich unter den Ulmen und Weiden […] saß, nach einem erquickenden Regen, wenn die Zweige noch bebten von den Berührungen des Himmels […], oder wenn der Abendstern voll friedlichen Geistes heraufkam […] und ich so sah, wie das Leben […] in ewiger müheloser Ordnung durch den Äther sich fortbewegte, und die Ruhe der Welt mich umgab und erfreute […] – hast du mich lieb, guter Vater im Himmel! fragt’ ich dann leise, und fühlte seine Antwort so sicher und selig am Herzen«.

Wie Goethes Werther-Figur vermag auch Hölderlins Protagonist Hyperion dieses pantheistische Ausnahmeerlebnis nicht zu stabili­ sieren. Zwar sieht er den »Gipfel« der »Freuden« darin, »Eines zu sein mit Allem« – »in seliger Selbstvergessenheit« (KA 2, 16). Doch schon wenig später muss Hyperion selbstkritisch feststellen, dass die ekstatische Empfindung universeller Einheit durch Rückkehr »ins All der Natur« über den intensiv erlebten Augenblick nicht hinausreicht (KA 2, 16): 157 Zu den pantheistischen Naturekstasen von Goethes Werther-Figur vgl. Barbara Neymeyr: Intertextuelle Transformationen: Goethes Werther, Büchners Lenz und Hauptmanns Apostel als produktives Spannungsfeld. Heidelberg 2012 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 300). S. 57–129, hier vor allem S. 58–74, 108–129. Natur wird in Goethes Roman pantheistisch als Projektionsfeld von Werthers Tendenz zu emotionaler Selbstentgrenzung inszeniert.

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»Auf dieser Höhe steh ich oft, mein Bellarmin! Aber ein Moment des Besinnens wirft mich herab. Ich denke nach und finde mich, wie ich zuvor war, allein, mit allen Schmerzen der Sterblichkeit, und meines Herzens Asyl, die ewigeinige Welt, ist hin; die Natur verschließt die Arme, und ich stehe, wie ein Fremdling, vor ihr, und verstehe sie nicht«.

Dieser Absturz verrät eine exzentrische Erlebnisdynamik Hyperions, der – gleichfalls in Analogie zu Goethes Werther – unausgeglichen immer wieder zwischen konträren Zuständen changiert. Im Unter­ schied zu Werther, der am Ende verzweifelt Suizid begeht, nähert sich Hölderlins Protagonist allerdings im Bewusstsein kosmischer Alleinheit dem Ideal der ›Sympatheia‹ an, durchläuft also letztlich eine positive Entwicklung. Zu Beginn des Romans jedoch unterscheidet sich das Bewusst­ sein Hyperions zunächst grundlegend von der Mentalität seiner Geliebten Diotima, die Hölderlins Roman als antikische Vorbildfigur modelliert. Sie erscheint hier als »die schöne Seele«, die sich durch »genialische Ruhe« in »glänzender Begeisterung« auszeichnet (KA 2, 109–110).158 Wenn Diotima kurz zuvor ihrerseits Hyperion als »schöne Seele« betrachtet (KA 2, 108), dann betont sie eine essen­ tielle Übereinstimmung: Während Diotima dieses Ideal allerdings selbst bereits verkörpert und damit zugleich die ›Kalokagathia‹ reprä­ sentiert, die der Roman als Telos für Individuum und Gesellschaft entwirft, muss Hyperion dieses Ideal in seinem Leben noch verwirkli­ chen. Insofern zielt Hölderlins Roman auf eine ästhetische Erziehung zur Humanität und schließt damit auch an die idealistischen Konzepte an, die Schiller in seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen entfaltet. Für den Protagonisten Hyperion exemplifiziert Diotima als vorbildliche ideale Existenz von vornherein jene naturhafte Allharmonie, die er selbst erst nach einem langen Reifungsprozess mit leidvollen Erfahrungen zu erreichen ver­ mag. In einer früheren Werkphase erläutert Hölderlin selbst unter dem Titel Fragment von Hyperion die poetische Gesamtkonzeption seines Romans, indem er »zwei Ideale unseres Daseins« einander gegenüberstellt: »einen Zustand der höchsten Einfalt«, und zwar 158 Mehr als 130 Jahre später ironisiert Robert Musils Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften Konzepte dieser Art: An der antikisch stilisierten Diotima-Figur werden hier Elemente der Platonischen Philosophie und das Denkmodell der ›schönen Seele‹ karikiert, und zwar im Medium kritischer Kulturdiagnose, die auf obsolete Formen des Idealismus zielt.

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als Harmonie »durch die bloße Organisation der Natur, ohne unser Zutun«, und »einen Zustand der höchsten Bildung« aufgrund der »Organisation, die wir uns selbst zu geben im Stande sind« (KA 2, 177). Hier bringt Hölderlin die Vorstellung von Autonomie als Selbst­ gesetzgebung ins Spiel. Sie erinnert zwar im Grundansatz an den Kantischen Freiheitsbegriff, lässt eine größere Affinität aber zum gedanklichen Gestus in Schillers Schrift Kallias, oder über die Schön­ heit erkennen: Hier charakterisiert Schiller »eine freie Handlung« dann als »schöne Handlung«, »wenn die Autonomie des Gemüts und Autonomie in der Erscheinung koinzidieren« (FA 8, 296). Wenn Hölderlin in seinem konzeptionellen Entwurf Fragment von Hyperion die »exzentrische Bahn« einer solchen Entwicklung betont (KA 2, 177), dann exponiert er damit die spezifische Dynamik der Selbstver­ wirklichung, die er dem Bewusstseinsprozess seines Protagonisten Hyperion einschreibt. Ausgehend von der Naturphilosophie Heraklits und analog zu Konzepten der mittleren Stoa, die im Vertrauen auf kosmische Har­ monie eine universell vermittelnde ›Sympatheia‹ im Lebenszusam­ menhang propagierte, hat Hölderlin in seinem Roman Hyperion ein naturphilosophisch grundiertes Harmonie-Ideal entworfen, dessen Ursprünge bis in die Philosophie Heraklits zurückreichen. Explizit beruft sich der Protagonist sogar selbst auf das »große Wort, das εν διαφερον εαυτῳ (das Eine in sich selber unterschiedne) des Heraklit« als »das Wesen der Schönheit, und ehe das gefunden war, gabs keine Philosophie« (KA 2, 92). Naturphilosophie und Ästhetik bilden hier eine essentielle Einheit. Auf dieses Konzept greift Hölderlins Hyperion-Figur implizit auch in der markanten Schlusspassage des Romans zurück, in der »die Dissonanzen der Welt« harmonisch in eine universelle kosmische Ordnung integriert werden: »Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder […] ewiges, glühendes Leben ist Alles« (KA 2, 175).159 Diese Aussagen bilden gewissermaßen eine Quintessenz aus den spannungsreichen Erfahrungen, die Hyperion im Laufe seines Bildungsprozesses durchlaufen hat. Dabei scheint der Begriff ›Streit‹ auf das Philosophem vom ›Krieg‹ als ›Vater aller Dinge‹ anzuspielen, das Heraklit zugeschrieben Zum Diskurs zwischen Schiller und Hölderlin über das Telos einer ›Vereinigung des Getrennten‹ (sowie zu dessen philosophischen Implikationen) vgl. Schmidts Hölderlin-Kommentar (KA 3, 841–843). 159

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wurde. Und die Vorstellung »ewiges, glühendes Leben« korrespon­ diert mit Heraklits Idee des Kosmos als materieller Ausformung des Weltfeuers, die sich in der Vorstellung der ›Ekpyrosis‹ (ἐκπύρωσις)160 gemäß der stoischen Naturphilosophie prolongiert. Auf Heraklits Feuerlehre bezieht sich das in Hölderlins Roman Hyperion mehrfach mit Diotima korrelierte Motiv des Äthers.161 Und die Imago »ewiges, glühendes Leben ist Alles« (KA 2, 175) verbindet sich auch mit der Vorstellung kontinuierlicher Metamorphosen in der Natur, die Heraklits Prinzip ›Panta rhei‹ (πάντα ῥεῖ) zum Ausdruck bringt: ›alles fließt‹. Die Idee permanenter Verwandlung162 prägt das Naturverständ­ nis von Hölderlins Hyperion-Figur maßgeblich: »alle Verwandlun­ gen der reinen Natur« gehören »mit zu ihrer Schöne (KA 2, 115). Im Romanverlauf vollzieht auch Hyperion selbst in diesem Sinne Metamorphosen, und zwar durch seinen von Diotima geförderten Reifungsprozess gemäß stoischer ›Sympatheia‹ und universeller Har­ monie, die Hölderlins Werk als philosophischer Subtext bestimmen. Der stoischen Ethik zufolge lassen sich auch Leid und Tod in die alles überwölbende Ordnung kosmischer Harmonie integrieren, nämlich als Verwandlungen der Natur in der pantheistischen Einheit aller Gegensätze: im »All der Natur« (KA 2, 16). Dass sich monistische Konzepte dieser Art allerdings in mehr­ facher Hinsicht weit vom philosophischen Dualismus Kantischer Provenienz entfernen, ist evident. Insofern tragen die ideengeschicht­ lichen Traditionen, auf die Schiller und Hölderlin mit ihren antiki­ sierenden ›Kalokagathia‹-Konzepten und Harmonie-Idealen zurück­ greifen, wesentlich zu der Problematik bei, in die Schiller mit seinem Zur Ekpyrosis vgl. die rezeptionsgeschichtliche Studie von Jochen Schmidt: Stoi­ sche Naturphilosophie und ihre Psychologisierung: Feuer als Prinzip des Schaffens und Zerstörens von der Antike bis zu Goethe und Hölderlin. In: Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. Hrsg. von Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt und Bernhard Zimmermann. Zwei Bände. Berlin/New York 2008. Bd. 1: S. 215–227. 161 Vgl. in Hölderlins Hyperion exemplarisch die folgenden Belege: »Zart, wie der Aether«, erscheint Diotima (KA 2, 114). Betont werden ihr »ätherisch Auge« (KA 2, 82), ihre »Aetheraugen« (KA 2, 134, 112) und die Liebe zum »Aether« (KA 2, 174). 162 Zur Bedeutung solcher ›Verwandlung‹ in der pantheistisch geprägten Trostphilo­ sophie Marc Aurels vgl. Jochen Schmidt: Stoischer Pantheismus als Medium des Säkularisierungsprozesses und als Psychotherapeutikum um 1800: Hölderlins Hype­ rion. In: Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik (ebd.). Bd. 2: S. 927–950, hier S. 939–941. 160

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VI. Die Renaissance der antiken ›Kalokagathia‹

Gegenentwurf zur Kantischen Ethik gerät. Aus diesem Grund war es notwendig, die systematische Analyse von Schillers Kritik an Kants Pflichtethik im Vergleich mit seiner eigenen (als vermeintlich bessere Alternative präsentierten) Moralästhetik durch eine umfassende kul­ turhistorische Horizontbildung zu ergänzen. Denn nur dadurch las­ sen sich auch die konzeptionellen Voraussetzungen evident machen, auf deren Basis die Moralästhetik Schillers mit zentralen Prämissen Kants nicht kompatibel sein kann.

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VII. Ausklang: Hölderlins Musik-Metaphorik als Ausdruck antikisierender ›Sympatheia‹ und Universalharmonie

Wenn Hyperion innerhalb der »Dissonanzen der Welt« die Möglich­ keit der »Versöhnung« imaginiert (KA 2, 175), dann verweist diese Metaphorik auf den Bereich der Musik. Sie generiert in Hölderlins Roman ein facettenreiches Motivgeflecht und eignet sich auf geradezu ideale Weise dazu, den Zusammenhang von Verwandlung und Har­ monie zu veranschaulichen. Konsequenterweise bringt Hölderlins Roman Hyperion die »Dissonanzen« in ein Spannungsverhältnis zum musikalischen »Einklang«. So erscheint dem Protagonisten »diese Welt« als »Einklang freier Wesen«, die »Ein vollstimmig Leben« bil­ den und in ihm produktiv zusammenwirken: als Bestandteil »göttli­ cher Natur«, die er mit »Freiheit« assoziiert (KA 2, 155). Vom Autono­ mie-Konzept gemäß der Kantischen Moralphilosophie unterscheidet sich dieser Freiheitsgestus des Protagonisten in Hölderlins Roman Hyperion allerdings grundlegend. Eher finden sich hier Affinitäten zu den Synthese-Vorstellungen, die Schiller in seinen ästhetischen Schriften präsentiert. Die Musikmetaphorik entfaltet sich in Hölderlins Hyperion auch in einem gedanklich noch weiter ausgreifenden Bildkomplex, und zwar aus der Perspektive Diotimas. Sie imaginiert in ihrem Abschiedsbrief an Hyperion anlässlich ihres bevorstehenden Todes ihren Übergang in den universellen Kosmos der Natur: »ich hab es gefühlt, das Leben der Natur, das höher ist, […] – wenn ich auch zur Pflanze würde, wäre denn der Schade so groß? – Ich werde sein« (KA 2, 162). Und sie fährt fort: »Wir sterben, um zu leben. / Ich werde sein; ich frage nicht, was ich werde. Zu sein, zu leben, das ist genug […]; und darum ist sich alles gleich, was nur ein Leben ist, in der göttlichen Welt […]. Es leben umeinander die Naturen, wie Liebende; sie haben alles gemein, Geist, Freude und ewige Jugend. / […] Wir stellen im Wechsel das Vollendete

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VII. Ausklang: Hölderlins Musik-Metaphorik als Ausdruck der ›Sympatheia‹

dar; in wandelnde Melodien teilen wir die großen Akkorde der Freude« (KA 2, 162–163).

Hier sieht sich Diotima durch den ewigen Prozess des Werdens und Vergehens auch selbst in eine kosmische Ganzheit integriert, und zwar analog zu einer musikalischen Melodie, die im Wechsel von Dissonanz und Konsonanz eine Universalharmonie zu stiften vermag und dabei alles Disparate transzendiert. Das Feld musikalischer Metaphern ist in Hölderlins Hyperion weitgespannt. Zahlreiche Textbeispiele verbinden den idealistischen Gestus der Entgrenzung ebenfalls mit einer einheitsstiftenden Utopie und schreiben ihr zugleich eine fundamentale Bedeutung für die Mentalität des Protagonisten zu: Schon die »Vorrede« des Romans hebt die »Auflösung der Dissonanzen« im »elegischen Charakter« Hyperions hervor (KA 2, 13). Später ist von »den ewigen Grundtö­ nen« im »Wesen« der Liebenden und ihrer »großen Harmonie« die Rede (KA 2, 38): »wir und alle Wesen schwebten, selig vereint, wie ein Chor von tausend unzertrennlichen Tönen, durch den unendlichen Aether« (KA 2, 84). Außerdem betont Hyperion Diotimas Intuition für »jeden Wohlklang, jeden Mißlaut in der Tiefe meines Wesens« (KA 2, 71), lauscht auf den »wunderbaren unendlichen Wohllaut in mir« (KA 2, 57), erinnert sich an die »Seelentöne« von Diotimas »Gesang« (KA 2, 65) und möchte sich mit der Geliebten »vereinen in Einen Himmelsgesang« (KA 2, 63). Zum »Schellenklange der Welt« fühlt Hyperion den Gegensatz »in meines Herzens liebsten Melodien« (KA 2, 34). Außerdem kon­ trastiert er den »schreienden Mißlaut« mit »reinen Melodien« (KA 2, 46) und sinniert über des »Herzens Melodie« (KA 2, 61), die »ungesuchten Töne« des »Geistes« (KA 2, 66), den »Wohllaut« der Natur (KA 2, 174) und »die heiligern Akkorde« (KA 2, 134). In Todesahnungen kündigt Diotima bereits ihr »Schwanenlied« an (KA 2, 158). Und schon in einer früheren Textpassage fragt sich Hyperion: »Wie war denn ich? war ich nicht wie ein zerrissen Saitenspiel? Ein wenig tönt ich noch, aber es waren Todestöne. Ich hatte mir ein düster Schwanenlied gesungen« (KA 2, 61). Überdies ist in Hölderlins Roman von den »leisen Melodien« im »Saitenspiel« Diotimas die Rede (KA 2, 52). Eine Grundierung durch die stoische Lehre von einer essentiellen Wesenssympathie lässt die Schlusspassage von Hölderlins Hyperion erkennen, in der letztlich der »Wohllaut« der »Natur« dominiert (KA 2, 174). Erinnert sei auch an die symptomatische Perspektive: »Wir

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VII. Ausklang: Hölderlins Musik-Metaphorik als Ausdruck der ›Sympatheia‹

stellen im Wechsel das Vollendete dar; in wandelnde Melodien teilen wir die großen Akkorde der Freude« (KA 2, 163). Zuvor hat Hyperion schon zu Beginn des Zweiten Buchs von Hölderlins Roman beim Blick über die Weite des Meeres folgendermaßen philosophisch meditiert (KA 2, 56): »ich […] überdenke mein Leben, sein Steigen und Sinken, seine Seligkeit und seine Trauer und meine Vergangenheit lautet mir oft, wie ein Saitenspiel, wo der Meister alle Töne durchläuft, und Streit und Einklang mit verborgener Ordnung untereinanderwirft.«

Später richtet sich Hyperions »Hoffnung« darauf, »daß solche große[n] Töne und größere einst wiederkehren müssen in der Sym­ phonie des Weltlaufs« (KA 2, 73). Und wenn Hölderlins Protagonist »das ungeheure Streben, Alles zu sein« (KA 2, 25), exponiert, dann rückt auch dadurch »das εν διαφερον εαυτῳ (das Eine in sich selber unterschiedne) des Heraklit« in den Fokus (KA 2, 92), das sich in Hölderlins Roman stimmig mit musikalischen Metaphern verbindet und im Einklang vielfältiger Töne eine idealistisch ausgerichtete Naturharmonie repräsentiert. Übrigens sind Hölderlins Tübinger Hymnen ebenfalls vom Ideal pantheistischer Universalharmonie grundiert. Sie schließen an Hera­ klits Konzept der Alleinheit an, das sich auch im Neuplatonismus prolongierte: Eins und Alles – Hen kai pan (Ἓν καὶ Πᾶν).163 Zugleich entwirft Hölderlin allerdings ein idealisiertes Griechenland-Bild164, das mit republikanischen Freiheitsidealen überformt ist, auf zeitge­ nössische Kulturdiskurse rekurriert und auch seine Winckelmann-, Goethe- und Schiller-Rezeption erkennen lässt. Insofern konvergie­ ren sehr unterschiedliche ideengeschichtliche Strömungen in den synkretistischen Konzepten Hölderlins. Beispielsweise erscheint die Naturharmonie in Hölderlins Hymne an die Göttin der Harmonie pantheistisch sakralisiert; zugleich wird sie hier mit der Platonischen Eros-Philosophie sowie mit dem stoischen Ideal der ›virtus‹ und einem antikisierenden Humanitäts­ konzept verbunden, zu dem auch die bis ins Kosmische entgrenzte Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels. 11. Aufl., hrsg. von Walther Kranz. Bd. 1. Zürich/Berlin 1964. 161, Fragment 50. Vgl. auch Fragment 10. 164 Vgl. dazu allgemein die Überblicksdarstellung von Jochen Schmidt: Griechenland als Ideal und Utopie bei Winckelmann, Goethe und Hölderlin. In: Hölderlin-Jahrbuch 1992–1993, S. 94–110. 163

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Idee einer sympathetischen Gemeinschaft gehört.165 Und die Harmo­ nie-Ideale in Hölderlins Hyperion, die auf seine Rezeption antiker Philosophie verweisen, verbinden sich zugleich mit der Vorstellung eines musikalischen Einklangs, sofern im Roman vom »Wohllaut« der »Natur« (KA 2, 174) und von der »Symphonie des Weltlaufs« (KA 2, 73) die Rede ist. Von der Musik-Metaphorik in Hölderlins Hyperion ausgehend, die philosophische Harmonie-Ideale der Antike poetisch spiegelt, bietet sich abschließend nochmals ein Brückenschlag zu Hölderlins großem Vorbild Schiller an. Denn die Imago einer kosmischen Allhar­ monie bestimmt auch Schillers berühmte Ode An die Freude (1785). Sie erschien in der Zeitschrift Thalia als Gedicht mit ursprünglich neun (später acht) Strophen aus jeweils acht Versen, die mit den aus vier Versen bestehenden Chor-Partien alternieren. – Beethoven nutzte Schillers Ode (FA 1, 192–194; 321–324) selektiv als poetische Ausgangsbasis für den vokalen Part im Finalsatz seiner Neunten Sinfonie (d-Moll, op. 125). Das Hauptthema dieses vierten Satzes fungiert seit 1985 übrigens als die offizielle ›Europahymne‹.166 Bereits Schiller steigert die Imago einer universellen ›Sym­ patheia‹, deren Grundkonzept sowohl philosophischen Denkmodel­ len der Antike als auch späteren pantheistischen und pietistischen Traditionen entspricht, in seiner Ode An die Freude bis zum enthusias­ tischen Aufschwung in kosmische Dimensionen. Markant exponiert Schiller hier nicht zufällig das Ideal der »Simpathie« (FA 1, 192, 322). – Und Beethoven nutzt die vier für den Gehalt zentralen Anfangsverse aus Schillers Ode im Finalsatz seiner Neunten Sinfonie für mehrere Refrain-Partien, indem er sie hier jeweils vollständig zu Beginn der zweiten, sechsten und achten Strophe zitiert. Für den Beginn der Schlussstrophen verwendet Beethoven nur noch die beiden Anfangs­ verse Schillers: zuerst als Zitat, dann in verkürzter Form.

165 Den Anspruch auf ›Harmonie‹ exponiert Schiller auch im Gedicht Die Künstler. Nach einer Evokation antiker Mythologie folgt hier eine emphatische Apostrophe, die eine Ausrichtung auf die universelle ›Harmonie‹ mit einschließt: »Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, / Bewahret sie! / Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben! / Der Dichtung heilige Magie / Dient einem weisen Weltenplane, / Still lenke sie zum Ozeane / Der großen Harmonie!« (FA 1, 165, 170). 166 Begründet wird die Wahl dieser ›Europahymne‹ durch die von allen geteilten Werte sowie durch »die Einheit in der Vielfalt« (vgl. dazu die offizielle Website der Europäischen Union).

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Aus Schillers Ode An die Freude zitiere ich nun abschließend die berühmten Anfangsverse der ersten Strophe, ergänze sie aber um den (von Beethoven nicht verwendeten) Beginn der vierten Strophe. Denn gerade hier spiegelt der Gedankengang die wirkungsmächtige kulturhistorische Tradition, an der Schiller und Hölderlin auf ihre je spezifische Weise partizipierten: durch Anspielung auf die Idee einer universellen ›Sympatheia‹ (FA 1, 192, 321, 322)167, die den Horizont der antiken Philosophie eröffnet: »Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elisium, Wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum. […] Was den großen Ring bewohnet Huldige der Simpathie! […]«

Hinsichtlich der Vertonung von Schillers Ode An die Freude in Beethovens Neunter Sinfonie reflektiert Nietzsche die Gattungsdifferenzen zwischen Lyrik und Musik 1871 in einem Nachlass-Notat (NL 1871, 12 [1]), und zwar mit wirkungsästhetischem Akzent: »Daß dem dithyrambischen Welterlösungsjubel dieser Musik das Schiller­ sche Gedicht ›an die Freude‹ gänzlich incongruent ist, ja wie blasses Mondlicht von jenem Flammenmeere überfluthet wird, wer möchte mir dieses allersicherste Gefühl rauben? Ja wer möchte mir überhaupt streitig machen können, daß jenes Gefühl beim Anhören dieser Musik nur deshalb nicht zum schreienden Ausdruck kommt, weil wir, durch die Musik für Bild und Wort völlig depotenzirt, bereits gar nichts von dem Gedichte Schiller’s hören? Aller jener edle Schwung, ja die Erhabenheit der Schiller­ schen Verse wirkt schon neben der wahrhaft naiv-unschuldigen Volksmelodie der Freude störend, beunruhigend, selbst roh und beleidigend: nur daß man sie nicht hört, bei der immer volleren Entfaltung des Chorgesanges und der Orchestermassen, hält jene Empfindung der Incongruenz von uns fern« (KSA 7, S. 366–367). 167

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Literaturverzeichnis

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II. Forschungsliteratur

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